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Neueste Aulnalime
STEFAN ZWEIG
ROMAIN ROLLAND
DER MANN UND DAS WERK
MIT SECHS BILDNISSEN UND
DREI SCHRIFTWIEDERGABEN
1921
LITERARISCHE ANSTALT
RÜTTEN & LOENING
FRANKFURT AM MAIN
Alle Rechtii hibesondere das der Ül^rsetrung, torbdMilteix
Copyright 1920 Literarische Anstalt ^
Rüt'.en & Loeningf, Frankfurt a. M
Spamersche Bnchdruckerei in Leipzig
Dieses Buch will nicht nur Darstellung eines europäischen
Werkes sein, sondern vor allem Bekenntnis zu einem Menschen^
der mir und manchem das stärkste moralische Erlebnis unserer
Weltwende war. Gedacht Am Geiste seiner heroischen Biographien,
die Größe eines Künstlers immer am Maße seiner Menschlichkeit
und in der notwendigen Wirkung auf die sittliche Erhebung auf-‘
zeigen — gedacht in diesem Geiste, ist es geschrieben am dem
Gefühl der Dankbarkeit, mitten in unserer verlorenen Zeit das
Wunder einer solchen reinen Existenz erlebt zu haben. Ich widme
es im Gedenken der Einsamkeit jener Tat den wenigen, die in der
Stunde der Feuerprobe Romain Rolland und unserer heiligen
Heimat Europa treu geblieben sind*
jfBei Behandlung einer mannig-
faltig vor schreitenden Lebensge-
schichte kommen wir, um gewisse
Ereignisse faßlich und lesbar ^u
machen, in den Fall, einiges, was
in der Zeit sich verschlingt, not-
wendig zu trennen, anderes, was nur
durch eine Folge begriffen werden
kann, in sich selbst zusnmmen-
zuziehen und so das Ganze in Teile
zusammenzustellen, die man sinnig
überschauend beurteilen und sich
manches zueignen mag,**
Goethe ( Wahrheit und Dichtung)
Lcbensbildnis
„Dtfs Herzens Woge schäumte nicht
so schön empor und würde Geiste
wenn nicht der alte stumme Fels,
das Schicksal, ihr entgegenstünde,**
Hölderlin
Kunstwerk eines Lebens
Von deöi Leben, das hier erzählt werden soll, stehen die
ersten fünfzig Jahre ganz im Schatten einsam und namenlos
erhobenen Werkes, die Jahre danach im Weltbrandleidenschaft-
Ucher europäisclier Diskussion. Kaum hat ein Künstler unserer
Zeit unbekannter, unbelohntjgr, abseitiger gewiikt als Romain
Rolland bis kurz vor dem apokalyptischen Jahr und gewiß
keiner seitdem umstrittener: die Idee seiner Existenz wird
eigentlich erst sichtbar im Augenblick, da sich alles feind-
lich verbündet, sie zu vernichten.
Aber dies ist des Schicksals Neigung, gerade den Großen ihr
Leben in tragischen Formen zu gestalten. An den Stärksten
erprobt es seine stärksten Kräfte, stellt steil den Widersinn
der Geschehnisse gegen ihre Pläne, durch wirkt ihre Jahre mit
geheimnisvollen Allegorien, hemmt ihre Wege, um sie im rech-
ten zu bestärken. Es spielt mit ihnen, aber erhabenes Spiel:
denn Erlebnis ist immer Gewinn. Den letzten Gewaltigen dieser
Erde, Wagner, Nietzsche, Dostojewski, Tolstoi, Strindberg,
ihnen allen hat das Schicksal zu ihren eigenen Kunstwerken
noch jenes dramatischen Lebens gegeben.
Auch das Leben Romain Rollands versagt sich solcher
Frage nicht. Es ist im doppelten Sinn heroisch, denn erst
spät, von der Höhe der Vollendung gesehen, offenbart sich das
Sinnvolle seines Baues. Langsam ist hier ein Werk gebildet,
weil gegen große Gefahr, spät enthüllt, weil spät vollendet,
Tief eingesenkt in den festen Grund des Wissens, dunkle Qua-
dern einsamer Jahre als Fundament, trägt reiner Guß alles
Menschlichen, im siebenfachen Feuer der Prüfimg gehärtet,
die erhobene Gestalt. Aber dank solchen Wurzeins in der Tiefe,
der Wucht seiner moralischen Schwerkraft, kann gerade dies
Werk dann unerschüttert bleiben im Weltensturme Europas,
ZI
und indei die andern Standbilder, zu denen wir aufblickten,
stürzen und sich neigen mit der wankenden Erde, steht es frei,
dessus de la fneUe*\ über dem Getümmel der Meinungen,
ein Wahrzeichen für alle freien Seelen, ein tröstender Aufblick
im Tumult der 2Jeit.
Kindheit
Romain Rolland ist in einem Kriegsjahr, dem Jahr von
Sadowa, am 29. Januar 1866 geboren. Clamecy, schon die
Vaterstadt eines anderen Dichters, Claude Ti 1 Hers (des Autors
von „Mon onde Benjamin**), hat er zur Heimat, ein sonst un-
berühmtes Städtchen im Burgundischen, uralt und still ge-
worden mit den Jahren, leise lebendig in behaglicher Heiter-
keit. Die Familie Rolland ist dort altbürgerlich und angesehen,
der Vater zahlt als Notar zu den Honoratioren der Stadt, die
Mutter, fromm und ernst, lebt seit dem tragischen und nie
ganz verwundenen Verlust eines Töchterchens einzig der Er-
ziehung zweier Kinder, des zarten Knaben und seiner jüngeren
Schwester. Sturmlose, abgekühlte Atmosphäre geistiger Bürger-
lichkeit umschließt den täglichen Lebenskreis ; aber im Blute der
Eltern begegnen einander noch nicht versöhnt uralte Gegen-
sätze französischer Vergangenheit. Väterlicherseits sindRollands
Ahnen Kämpfer des Konvents, Fanatiker der Revolution, die
sie mit ihrem Blute besiegelt haben; mütterlicherseits erbt
er Jansenis tengeist, Forschersinn von Port- Royal; von beiden
also gleiche Gläubigkeit zu gegensätzlichen Idealen. Und
dieser jahrhundertealte urfranzösische Zwiespalt der Glaubens-
liebe und der Freiheitsideen, der Religion und der Revolution,
blüht später fruchtbar in dem Künstler auf.
Von seiner ersten Kindheit, die im Schatten der Niederlage
von 1870 wächst, hat Rolland einiges in „Antoinette“ ange-
deutet: das stille Leben in der stillen Stadt. Sie wohnen in
einem alten Hause am Ufer eines müde gewordenen Kanals;
nicht aus dieser engen Welt aber kommen die ersten Ent-
zückungen des trotz seiner körperlichen Zartheit so leiden-
schaftlichen Kindes. Aus unbekannter Feme, unfaßbarer
Vergangenheit, hebt ihn gewaltiger Aufschwung, früh entdeckt
er sich, Sprache über den Sprachen, die erste große Botschaft
der Seele: die Musik. Seine sorgliche Mutter unterrichtet ihn
am Klavier, aus den Tönen baut sich unendliche Welt des
Gefühls, früh schon die Grenzen der Nationen überwachsend.
Denn indes der Schüler die verstandesklare Sphäre der fran-
zösischen Klassiker neugierig und verlockt betritt, schwingt
^ deutsche Musik in seine junge Seele. Er selbst hat es am
schönsten erzählt, wie diese Botschaft zu ihm kam. „Es gab
bei uns alte Hefte mit deutscher Musik. Deutscher? Wußte
ich, was das Wort sagen wollte? In meiner Gegend hatte
man, glaube ich, nie einen Menschen aus diesem Lande
gesehen . . . Ich öffnete die alten Hefte, buchstabierte sie
tastend auf dem Klavier . . . und diese kleinen Wasseradern,
diese Bächlein von Musik, die mein Herz netzten, sogen sich
ein, schienen in mir zu verschwinden wie das Regen wasser,
das die gute Erde getrunken hat. Liebesseligkeit, Schmerzen,
Wünsche, Träume von Mozart und Beethoven, ihr seid mir
Fleisch geworden, ich habe euch mir einverleibt, ihr seid mein,
ihr seid ich . . . Was haben sie mir Gutes getan I Wenn ich als
Kind krank war und zu sterben fürchtete, so wachte irgendeine
Melodie von Mozart an meinem Kissen wie eine Geliebte . . .
Später in den Krisen des Zweifels und der Zernichtung hat
eine Melodie von Beethoven (ich weiß sie noch gut) in mir
die Funken des ewigen Lebens wieder erweckt . . , In jedem
Augenblick, wenn ich den Geist und das Herz verdorrt fühlte,
habe ich mein Klavier nahe und bade in Musik.“
13
So früh lAbt in dem Kinde die Kommunion mit der wort*
losen Sprache der ganzen Menschheit an: schon ist die Enge der
Stadt, der Provinz, der Nation und der Zeiten durch das ver-
stehende Gefühl überwunden. Die Musik ist sein erstes Gebet
a n^jg dämonischen Mächte des Lebens, täglich in andern For-
men wiederholt, und heute noch, nach einem halben Jahrhundert,
sind die Wochen, sind die Tage selten, da er nicht Zwiesprachd*
hält mit Beethovens Musik. Und auch der andere Heilige
seiner Kindheit, Shakespeare, kommt aus der Ferne: mit seiner
ersten Liebe ist der unbewußte Knabe schon jenseits der Na-
tionen. In der alten Bibliothek, zwischen dem Gerümpel eines
Dachstuhls, hat er die Lieferungen seiner Werke entdeckt, die
sein Großvater als Student in Paris — es war die Zeit des junge^^
Victor Hugo und der Shakespearemanie — gekauft hatte und
seitdem verstauben ließ. Ein Band verblichener Gravüren,
Galerie desFemmes de Shakespeare'", lockt mit fremd seltsamen,
lieblichen Gesichtem und den zauberischen Namen Perdita,
Imogen, Mirando die Neugier des Kindes. Aber bald entdeckt
er sich lesend die Dramen selbst, wagt sich, für immer verloren,
in das Dickicht der Geschehnisse und Gestalten. Stundenlang
sitzt er in der Stille des einsamen Schuppens, wo nur manchmal
unten aus dem Stalle der Hufschlag der Pferde oder vom
Kanal vor dem Fenster das Rasseln einer Schiffskette herauf-
tönt, sitzt, alles vergessend und selbst vergessen, in einem
großen Fauteuil mit dem geliebten Buche, das wie jenes
Prosperos alle Geister des Weltalls ihm dienstbar gemacht.
Vor sich hat er in weitem Kreise Stühle mit unsichtbaren
Zuhörern gestellt: sie sind ihm ein Wall seiner geistigen Welt
gegen die wirkliche Welt.
Wie immer beginnt hier ein großes Leben mit großen Träu-
men. Am Gewaltigsten, an Shakespeare und Beethoven, ent-
zündet sich seine erste Begeisterung, und dieser leidenschaftlich
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erhobene Blick zur Größe empor ist dem Jüngling, isÄem Mann
von dem Kinde vererbt geblieben. Wer solchen Ruf gespürt,
kann schwer in engem Kreise sich begrenzen. Schon weiß die
kleinstädtische Schule den aufstrebenden Knaben nichts mehr
tu lehren. Den Liebling allein nach der Großstadt zu lässig
können sich die Eltern nicht entschließen» so bringen sie m
heroischer Entsagung lieber die eigene geruhige Existenz zum
Opfer. Der Vater gibt seine eirkrägliche unabhängige Stellung
als Notar, die ihn zum Mittelpunkt des Städtchens machte,
auf und wird einer von den unzähligen Angestellten einer Bank
in Paris: das altvertraute Haus, die patriarchische Existenz,
alles opfern sie auf, um des Knaben Studienjahre und Aufstieg
iiBuParis begleiten zu können. Eine ganze Familie blickt einzig
auf den Knaben; und so lernt er schon früh, was andere erst
den Mannesjahren abgewinnen: Verantwortlichkeit.
Schuljahre
Der Knabe ist noch zu jung, um die Magie von Paris zu er-
fassen: fremd und fast feindlich mutet den Verträumten diese
lärmende und brutale Wirklichkeit an ; irgendein Grauen, einen
geheimnisvollen Schauer vor dem Sinnlosen und Seelenlosen
der großen Städte, ein unerklärliches Mißtrauen, daß hier alles
nicht ganz wahr und nicht ganz echt sei, trägt er von diesen
Stunden noch weit mit in sein Leben. Die Eltern schicken ihn
in das LyeSe Louis le Grand, das altberühmte Gymnasium im
Herzen von Paris: viele der Besten, der Berühmtesten Frank-
reichs sind unter den kleinen Jungen gewesen, die man dort
mittags, summend wie ein Bienenschwarm, aus der großen
Wabe des Wissens herausdrängen sah. Er wird dort in die
klassische, französisch-nationale Bildung eingeführt, um ein
„fron pmoquei Comdim*' zu werden, aber seine wirklichen
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Erlebnisse sind außerhalb dieser logischen Poesie oder poeti-
schen Logik, seine Begeisterungen glühen längst in lebendiger
Dichtung uid in der Musik. Aber dort auf der Schulbank
findet er seinen ersten Kameraden.
Seltsames Spiel des Zufalls: auch dieses Freundes Namen hat
zwanzig Jahre Schweigen benötigt zu seinem Ruhm, und die
beiden — die größten Dichter des Frankreich von heute — , die
dort gemeinsam die Schwelle der Schule betreten, treten fast
gleichzeitig nach zwei Jahrzehnten in den weiten europäischen
Ruhm. Paul Claudel, der Dichter der ,, Annonce faite d Marie'*,
ist jener Gefährte. In Glaube und Geist hat dies Vierteljahr-
hundert ihre Ideen und Werke weit entfremdet, des einen
Weg führt in die mystische Kathedrale der katholischen Ver-
gangenheit, der des andern über Frankreich hinaus einem freien
Europa entgegen. Damals aber gingen sie täglich ihren Schul-
w^eg zusammen und tauschten in unendlichen Gesprächen,
gegenseitig sich befeuernd, ihre frühe Belesenheit und jugend-
liche Begeisterung aus. Das Sternbild ihres Himmels war
Richard Wagner, der damals über die französische Jugend
zauberische Macht gewann: immer hat nur der universale
weltschöpferische Mensch, nie der Kunstdichter auf Rolland
Einfluß gehabt.
Die Schuljahre sind schnell verflogen, schnell und ohne viel
Freude. Zu plötzlich war der Übergang aus der romantischen
Heimat in das allzu wirkliche, allzu lebendige Paris, von dem der
zarte Knabe vorläufig nur die Härte der Abwehr, die Gleich-
gültigkeit und den rasenden, wirbelnden, mitreißenden Rhyth-
mus fast ängstlich fühlt. Das Jünglingsalter wird für ihn zu
schwerer, beinahe tragischer Krise, deren Widerschein man in
mancher Episode des jungen Johann Christof nachleuchten
sehen kann. Er sehnt sich nach Anteil, nach Wärme, nach
Aufschwung, und wieder bleibt ihm Erlöserin „die holde
i6
ICunst iö $0 vid |^:auen Stunden^*. &ine Beglüdptigen sind
^ wie schön ist dies in „Antoinette"' geschildert — die
seltenen Sonntagsstnnden in den populären Konzerten, wo die
ewige Welle der Musik sein zitterndes Knabenherz aufhebt.
Auch Shakespeare hat nichts verloren von seiner Gewalt,
seit er seine Dramen auf der Bühne schauernd und ekstatisch
gesehen, im Gegenteil, ganz gibt der Knabe ihm seine Seele
hin: „Er überfiel mich, und ich v/arf mich ihm wie eine Blüte
hin, zur selben Zeit überflutete mich gleich einer Ebene der
Geist der Musik, Beethoven und Berlioz noch mehr als Wagner.
Ich mußte es büßen. Unter diesen überströmenden Blüten
war ich ein oder zwei Jahre wie ertrunken, gleichsam eine
Erde, die sich vollsaugt bis zu ihrem Verderben. Zweimal
wurde ich bei der Aufnahmeprüfung in die icole Normale dank
der eifersüchtigen Gesellschaft Shakespeares und der Musik,
die mich erfüllten, zurückgewiesen." Einen dritten Meister
entdeckt er sich später, einen Befreier seines Glaubens, Spinoza,
den er an einem einsamen Abend in der Schule liest und dessen
mildes geistiges Licht nun für immer seine Seele erhellt. Immer
sind die Größten der Menschheit ihm Vorbilder und Gefährten.
Hinter der Schule gabelt sich der Weg ins Leben zwischen
Neigung und Pflicht, Rollands glühendster Wunsch wäre,
Künstler zu sein im Sinne Wagners, Musiker und Dichter zu-
gleich, Schöpfer des heroischen Musikdramas. Schon schweben
ihm einige Tondichtungen vor, deren Themen er im nationalen
Gegensatz zu Wagner dem französischen Legendenkreis entneh-
men will und von denen er eines, das Mysterium des Saint Louis,
später bloß im schwingenden Worte gestaltet hat. Aber die
Eltern widerstreben dem zu frühen Wunsche, sie fordern prak-
tische Betätigung und schlagen die „£cole Polytechnique'* , die
Technik vor. Endlich wird zwischen Pflicht und Neigung
ein glücklicher Ausgleich geschaffen, man wählt das Studium
^ Zweig, Romain Rdlaad
17
der Geisteswissenschaften, die „£cole Normale*^ in die Rolland
1886 nach schJießHch glänzend bestandener Prüfung aufgenom-
men wird und die durch ihren besonderen Geist und die histo-
rische Form ihrer Geselligkeit seinem Denken und Schicksal
entscheidende Prägung gibt.
£cole Normale
Zwischen Feldern und freien Wiesen burgundischen Landes
hat Rolland seine Kindheit verlebt, die erste Jugend der G^mx-
nasiumsjahre in den brausenden Straßen von Paris: die Studien-
jahre schließen ihn noch enger ein, gleichsam in luftleeren
Raum, in das Internat der ticole Normale, Um jede Ablenkung
zu vermeiden, werden die Schüler dort abgesperrt gegen die
Welt, ferngchalten vom wirklichen Leben, um das historische
besser zu begreifen. Ähnlich wie im Priesterseminar, das
Renan so wundervoll in seinen Souvenirs d'enfance et de jeu-
^ nesse** beschrieben hat, die jungen Theologen und in St. Cyr
/'V
y^die zukünftigen Offiziere, so wird ein besonderer Ge|jgf al-
stab des Geistes herangezogen, die ,,Normaliens*\ die zukünf-
tigen Lehrer zukünftiger Generationen. Traditioneller Geist
und bewährte Methode vererben sich in fnichtbarer Inzucht,
die besten Schüler sind bestimmt, an der selben Stelle als Lehrer
wieder zu wirken. Es ist eine harte Schule, die unermüdlichen
Fleiß fordert, weil sie sich Disziplinierung des Intellekts zum
Ziele setzt, aber eben durch die angestrebte Universalität der
Bildung gibt sie Freiheit in der Ordnung und vermeidet die
gerade in Deutschland so gefährliche methodische Speziali^
sierung. Nicht durch Zufall sind gerade die umfassendsten
Geister Frankreichs, wie Renan, Jaur^s, Michelet, Monod und
Rolland, aus der £cole Normale hervorgegangen.
18
So sehr in diesen Jahren die Leidenschaft Rollands auf
Philosophie gerichtet ist — er studiert leidenschaftlich die Vor-
sokratiker und Spinoza — , so wählt er sich doch im zweiten
Jahre Geschichte und Geographie als Hauptfach. Sie bietet
ihm die meiste geistige Freiheit, indes die philosophische Sek-
tion das Bekenntnis zum offiziellen Schulidealismus, die lite-
rarische zum rhetorischen Ciceronianismus erfordert. Und
diese Wahl wird für seine Kunst Segnung und Entsclj|idung.
Hier lernt er zum erstenmal für seine spätere Dichtung die
Weltgeschichte als eine ewige Ebbe und Flut von Epochen zu
betrachten, für die gestern, heute und morgen eine einzige
lebendige Identität bedeuten. Er lernt Überblick und Ferne,
und jene seine eminente Fähigkeit, Historisches zu verleben-
digen und andererseits die Gegenwart als Biologe des Zeitor-
ganismus kulturell zu betrachten, dankt seine Jugend diesen
harten Jahren. Kein Dichter unserer Zeit hat auch nur an-
nähernd ein ähnlich solides Fundament von tatsächlichem und
methodischem Wissen auf allen Gebieten, und vielleicht ist im
gewissen Sinne sogar seine beispiellose Arbeitsfähigkeit, sein^' ^
däijjpnischer Fleiß ein ^lierntcs aus jenen Jahren der Klausuif|(^^^
Auch hier im Prytancum — das Leben Hollands ist reich ah
solchen mystischen Sinnspielcn — findet der Jüngling einen
Freund, und wiederum ist es einer der zukünftigen Geister
Frankreichs, wieder einer, der gleich Claudel und ihm selbst
erst nach einem Vierteljahrhundert in das Licht des großen
Ruhmes trat. Es wäre klein gedacht, dies bloß Zufall nennen
zu wollen, daß die drei großen Vertreter des Idealismus, der
neuen dichterischen Gläubigkeit in Frankreich, daß Paul
Claudel, Andr6 Suar^s, Charles Peguy gerade in ihren ent-
scheidenden Schuljahren die täglichen Kameraden Romain
Rollands gewesen sind und fast zu gleicher Stunde nach langen
Jahren des Dunkels Gewalt über ihre Nation gewannen. Hier
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war längst aus Gesprächen, aus geheimhisvöll ^ühenider
Gläubigkeit eine Sphäre gewoben, die* den Dunst der Zeit nicht
sogleich zu durchdringen vermochte: ohne daß jedem dUeser
Freunde da«^ Ziel deutlich geworden wäre — und in wie ver-
schiedener Richtung hat der Weg sie getrieben! — , wurde das
Elementare der Leidenschaft, der unerschütterliche Emst zu
großem Weltgefühl in ihnen doch gegenseitig bestärkt. Sie
fühlten die gemeinsame Berufung, durch Aufopferung des Le-
bens, durch Verzicht auf Erfolg und Ertrag, ihrer Nation in
Werk und Anruf die verlorene Gläubigkeit zurückzugeben ; und
jeder der vier Kameraden hat — Rolland, SuarSs, Claudel,
Peguy, jeder aus einer andern Windrichtung des Geistes —
ihr Erhebung gebracht.
Mit Suar^s verbindet ihn, so wie schon im Gymnasium mit
Claudel, die Liebe zur Musik, besonders jener Wagners, dann die
Leidenschaft für Shakespeare. „Diese Leidenschaft*', schrieb
er einmal, „war erstes Band unserer langen Freundschaft.
Suar& war damals noch ganz was er heute, nachdem er durch
die vielen Phasen seines reifen und vielfältigen Wesens gegangen,
wieder geworden ist — ein Renaissancemensch. Er hatte diese
Seele, diese stürmischen Leidenschaften, ja, er sah mit seinen
langen schwarzen Haaren, seinem blassen Gesicht und bren-
nenden Augen selbst wie ein Italiener, gemalt von Carpaccio
oder Ghirlandajo, aus. In einer der Schulaufgaben stimmte er
einen H5mnus auf Cesare Borgia an. Shakespeare war sein Gott,
wie er der meine war, und oft kämpften wir Seite an Seite für
,Wiir gegen unsere Professoren." Aber bald überflutet eine
andere Leidenschaft jene für den großen Engländer, die „tw-
vasion scythe**, die begeisterte und wieder durch ein ganzes
Leben weitergetragene Liebe zu Tolstoi. Diese jungen
Idealisten, abgestoßen von dem allzu täglichen Naturalismus
Zolas und Maupassants, Fanatiker, die nur zu einer großen
20
heroischen Uxnspannung des Lebens aufblidcten, sahen endlich
über eine Literatur des Selbstgenusses (wie Flaubert und Anatole
France) und der Unterhaltiuig eine Gestalt sich erheben, einen
Gottsucher, der sein ganzes Leben auftat und hingab. Ihm
strömten alle ihre Sympathien zu, „die Liebe zu Tolstoi vereinte
alle unsere Widersprüche. Jeder liebte ihn zweifellos aus ande-
ren Motiven, denn jeder fand in ihm nur sich selbst, aber für
uns alle war er ein Tor ins unendliche Weltall aufgetan, eine
Verkündigung des Lebens“. Wie immer seit den frühesten
Kinderjahren ist die Spannung Rollands einzig auf die äußer-
sten Werte eingestellt, auf den heroischen Menschen, den all-
menschlichen Künstler.
In Jahren der Arbeit türmt der Fleißige in der Nicole Normale
Buch auf Buch, Schrift auf Schrift: schon haben seine Lehrer,
Brunetiere und vor allem Gabriel Monod, seine große Be-
gabung für die historische Darstellung erkannt. Der Wissens-
zweig, den Jakob Burckhardt damals gewissermaßen erst er-
findet und benennt, die Kulturgeschichte, das geistige Ge-
samtbild der Epoche, fesselt ihn am meisten, und unter den
Zeiten ziehen ihn vor allem jene der Religionskriege an, in
denen sich — wie früh doch die Motive seines ganzen Schaffens
eigentlich klar sind I — das Geistige eines Glaubens mit dem
Heroismus der persönlichen Aufopferung durchdringt ; er ver-
faßt eine ganze Reihe von Studien und plant gleich ein
Riesenwerk, eine Kulturgeschichte des Hofes der Katharina
von Medici. Auch im Wissenschaftlichen hat der Beginner
schon jene Kühnheit zu äußersten Problemen: nach allen
Seiten spannt er sich, aus Philosophie, Biologie, Logik, Musik,
Kunstgeschichte, aus allen Bächen und Strömen des Geistigen
trinkt er gierig Fülle in sich. Aber die ungeheure Last des Ge-
lernten erdrückt ebensowenig den Dichter in ihm, als ein
Baum seine Wurzeln erdrückt. Der Dichter schreibt in weg*
21
gestohlenen Siunclen poetische und musikalische Versuche, die
er aber verschließt und für immer verschlossen hat. Und
ehe er, im Jahre iSHS, die £cole Normale verläßt, um dem
Leben als Erlahrung gegenüberzutreten, verfaßt er ein merk-
würdiges Dokument, gewissermaßen ein geistiges Testament,
ein moralisch philosophisches Bekenntnis „Credo quia verum'\
das auch heute noch nicht veröffentlicht ist, aber nach Aus-
sage eines Jugendfreundes schon das Wesentliche seiner freien
Weltanschauung zusammenfaßt. Im spinozistischen Geist ge-
schrieben, fußend nicht auf dem „Cogito ergo sum”, sondern
einem „Cogito ergo est*\ baut es die Welt auf und darüber
ihren Gott : für sich allein legt er Rechenschaft ab, um nun frei
zu sein voaldler metaphysischen Spekulation. Wie ein versie-
geltes Gelübde ti;ägt ^ dies Bekenntnis hinaus in den Kampf
und braucht hur sich selbst treu zu bleiben, um ihm treu zu
sein. Ein Fundament ist geschaffen und tief in die Erde ge-
senkt: nun kann der Bau beginnen.
Das sind seine Werke in jenen Lehrjahren. Aber über ihnen
schwebt noch ungewiß ein Traum, der Traum von einem
Roman, der Geschichte eines reinen Künstlers, der an der Welt
zerbricht. Es ist „Johann Christof“ ira Puppenstadium, erste
verwölkte Morgendämmerung des späten Werks. Aber noch
unendlich viel Schicksal, Begegnung und Prüfung ist vonnöten,
ehe sich die Gestalt, farbig und beschwingt, dem dunklen Zu-
stand der ersten Ahnung entringen mag.
Botschaft aus der Ferne
Die Schuljahre sind zu Ende. Und wieder erhebt sich die
alte Frage der Lebenswahl. So sehr ihn Wissenschaft bereichert
un#begeistert, den tiefsten Traum erfüllt sie dem jungen Künst-
ler noch nicht: mehr als je neigt seine Leidenschaft zu Dichtung
*
22
und Musik. Selbst aufzusteigen in die erhabene Reihe derer,
die mit ihrem Wort, ihrer Melodie die Seelen aufschließen, ein
Gestaltender, ein Tröstender zu werden, bleibt Rollands
brennende Sehnsucht. Aber das Leben scheint geordnetere
Formen zu verlangen. Disziplin statt Freiheit, Beruf statt
, Berufung. Unschlüssig steht der Zwciundzwanzigjährige am
Scheidewege des Lebens.
Da kommt Botschaft aus der Feme zu ihm, Botschaft von
der geliebtcsten Hand. Leo Tolstoi, in dem die ganze Generation
4en Führer verehrt, das Sinnbild gelebter Wahrheit, läßt in
diesem Jahre jene Broschüre erscheinen „Was sollen wir
tun?“, die das fürchterlichste Anathema über die Kunst aus«
spricht. Das Teuerste für Rolland zerschmcjjgrjker mit ver-
ächtlicher Hand: Beethoven, zu dem d|| Jür^Mg täglich aut»
blickt in klingendem Gebet, nennt er einen Vemlirer zur Sinn-
lichkeit, Shakespeare einen Dichter vierten Ranges, einen
Schädling. Die ganze moderne Kunst fegt er wie Spreu von der
Tenne, das Heiligste des Herzens verstößt er ihm in die Finster-
nis. Diese Broschüre, die ganz Europa erschreckte, mochten
Ältere mit leichtem Kopfschütteln ab wehren — in diesen jungen
Menschen aber, die Tolstoi als den Einzigen einer verlogenen
und mutlosen Zeit verehrten, wirkt sie wie ein Waldbrand des
Gewissens. Furchtbare Entscheidung zwischen Beethoven und
dem anderen Heiligen ihres Herzens ist ihnen zugemutet. „Die
Güte, Klarheit, die absolute Wahrhaftigkeit dieses Menschen
hatten ihn mir zum fehllosen Führer in der moralischen Anarchie
gemacht,“ schreibt Rolland von dieser Stunde, „aber gleich-
zeitig liebte ich seit meiner Kindheit leidenschaftlich die Kunst,
sie war, insbesondere die Musik, meine lebendige Nahrung^
ja, ich kann sogar sagen, daß die Musik meinem Leben so nötig
war wie das Brot.“ Und eben diese Musik verflucht Tolitoi,
sein geliebter Lehrer, der Menschen Menschlichster, als einen
,,pfi!chtiolen Gtnuß"', verhöhnt als Verführer lur Sinnlichkeit
den Ariel dier Seele, ^as tun? Das Herz des jungöh Menschen
krainpft sich zusammen: soll er dem Weisen von Jasnaja
Poljana folgen, sein Leben loslösen von jedem Willen zur Kunst,
soll er seiner innersten Neigung gehorchen, die alles Leben in
Musik und Wort verwandeln will? Einem muß er untreu wer-
den : entweder dem verehrtesten Künstler oder ihr seltet, der
Kunst, dem geliebtesten Menschen oder der geliebtesten Idee.
In diesem Zwiespalt entschließt sich der. junge Student, etwas
ganz Unsinniges zu tun. Er setzbsich eines Tages hin und richtet
aus seiner kleinen Mansarde einen Brief in die unendliche
rusrische Feme hinüber, einen Brief, in dem er Tolstoi die Ge-
wissensnot seines Zweifels schildert. Er schreibt ihm, wie Ver-
zweifelte zu ^tt beten, ohne Hoffnung auf das Wiinder einer
Antwort, nur aus dem brennei^l^en Bedürfnis der Konfession.
Wochen vergehen, Rolland hat längst die törichte Stunde
vergessen. Aber eines Abends, als er in sein Dachzimmer heim-
kehrt, findet er auf dem Tisch einen Brief oder vielmehr ein
kleines Paket. Es ist die Antwort Tolstois an den Unbekannten,
in französischer Sprache geschrieben, ein Brief von 38 Seiten,
eine ganze Abhandlung. Und dieser Brief vom 14. Oktober
1887 (der später als das 4. Heft der dritten Serie der dt
la Quinzaine von Peguy veröffentlicht wurde) beginnt mit den
liebenden Worten „Cher frhre**. Er spricht zuerst die tiefe Er-
schüttenmg des großen Mannes aus, dem der Schrei des Hilfe-
suchenden bis in das Herz gedrungen. „Ich habe Ihren Brief
empfangen, er hat mich im Herzen berührt. Ich habe ihn mit
Trtoen in den Augen gelesen." Dann versucht er dem Un-
bekannten seine Ideen über die Kunst zu entwickeln: daß nur
jene einen Wert habe, die Menschen verbinde, imd daß nur
jener Künstler zähle, der seiner Überzeugung ein Opfer bringt.
Nicht Liebe zur Kunst, sondern Liebe zur Menschheit sei die
V^usbedingung aller vrSimn Berufui^’ nur wer von ifit erfüllt
. sei»4ürfe&v>ffeii, jemals iii der Ku^st etwas Wertvolles zu leisten.
Diese Worte sind lebensentscheidend für die Zukunft Romain
Roliands geworden. Aber was den Beginnenden noch mehr er-
schüttert als die Lehre — die Tolstoi ja* noch oft und in deut-
licheren Formen ausgesprochen — ist das Geschehnis dermensch-
lichen Hilfsbereitschaft, nicht also so sehr das Wort, sondern
die Tat dieses gütigen Menschen. Daß der berühmteste Mann
seiner Zeit auf den Anruf eines Namenlosen, eines Unbe-
kannten, eines kleinen Studeiften in einer Pariser Gasse, sein
Tagewerk weggelegt und einen Tag oder zwei darauf verwandt
hatte, diesem unbekannten Bruder zu antworten und ihn zu
trösten, dies wird Rolland ein Erlebnis, ein tiefes und schöpferi-
sches Erlebnis. Damals hat er in Erinnerung eigener Not, in
Erinnerung der fremden Tröstung gelernt, jede Krise eines Ge-
wissens als etwas Heiliges zu betrachten, jede Hilfeleistung als
erste moralische Pflicht des Künstlers. Und von jener Stunde,
da er das Briefblatt löste, war in ihm der große Helfer, der brüder-
liche Berater erstanden. Sein ganzes Werk, seine menschliche
Autorität hat hier ihren Anbeginn. Nie hat er seitdem, auch in
der drückendsten Fülle eigener Arbeit im Gedenken an die
empfangene Tröstung, einem Anderen Hilfe in zwingender Ge-
wissensnot verweigert, aus dem Briefe Tolstois erwuchsen un-
zählige Roliands, Tröstung aus Tröstung weitwirkend über die
Zeit. Dichter zu sein, ist ihm von nun ab eine heilige Mission,
und er hat sie erfüllt im Namen seines Meisters. Selten hat die
Geschichte schöner als an diesem Beispiel bezeugt, daß in der
moralischen Welt wie in der irdischen nie ein Atom an Kraft
verloren geht. Die Stunde, die Tolstoi wegwarf an einen Un-
bekannten, ist auferstanden in tausend Briefen Roliands an
tausend Unbekannte, unendliche Saat weht heute durch die
Welt von diesem einzelnen hingestreuten Samenkorn der Güte.
25
Rom
Aus allen Fernen sprechen Stimmen auf den Unschlüssigen
ein : die französische Heimat, die deutsche Musik, die Mahnung
Tolstois, der feurige Anruf Shakespeares, Wille zur Kunst,
Zwang zu bürgerlicher Existenz. Da tritt zwischen ihn und die
rasche Entscheidung noch verzögernd der ewige Freiuid aller
Künstler: der Zufall.
Alljährlich verleiht die Ecole Normale ihren besten Schülern
zweijährige Stipendien zur Reise, den Archäologen nach
Griechenland, den Historikern nach Rom. Rolland strebt die
Berufung nicht an: zu ungeduldig drängt sein Wunsch, schon
im Wirklichen tätig zu wirken. Aber das Los sucht immer den,
der es sich nicht selber ersehnt. Zwei Kameraden haben Rom
ausgeschlagen, die Stelle ist vakant, so wird er gewählt, fast
wider seinen Willen. Rom, das ist für den noch Unbelehrten
tote Vergangenheit, in kalte Trünuner geschriebene Geschichte,
die er aus Schrift und Pergamenten entziffern soll. Eine Schul-
aufgabe, ein Pensum und nicht lebendiges Leben; ohne viel Er-
wartung pilgert er zur ewigen Stadt.
Sein Amt, seine Aufgabe wäre dort, in dem finstern Palazzo
Fartiese Dokumente zu sichten, Geschichte aus Registern
und Büchern zu klauben. Einen kurzen Tribut zahlt er diesem
Dienst und verlaßt in den Archiven des Vatikans eine Denkschrift
über den Nuntius Salviati und die Plünderung Roms. Aber
bald hat nur das Lebendige über ihn mehr Macht: die wunder-
bare Klarheit des Lichtes der Campagna, die alle Dinge in eine
selbstverständliche Harmonie auflöst und das Leben als leicht
und rein empfinden läßt, strömt nach innen ein. Zum ersten
Male wahrhaft frei, fühlt er sich zum ersten Male auch wahr-
haft jung, eine Trunkenheit des Lebens kommt über ihn, bald
ihn hinreißend in leidenschaftliche Gefühle und Abenteuer,
26
bald seine ziellosen Träume zu wahrhafter Schöpfung steigernd.
Unwiderstehlich wie bei so vielen erregt die linde Anmut dieser
Stadt künstlerische Neigung; aus den steinernen Denkmälern
der Renaissance hallt Ruf zur Größe dem Wandernden ent-
gegen, die Kunst, die man in Italien stärker denn irgendwo als
Sinn und heroisches Ziel der Menschheit empfindet, reißt ganz
den Schwankenden an sich. Vergessen sind für Monate die Thesen,
selig und frei schlendert Rolland durch die kleinen Städte
bis nach Sizilien hinab, vergessen ist auch Tolstoi: in dieser
Sphäre sinnlicher Erscheinung, im bunten Südland hat die Ent-
sagungslehre der russischen Steppe keine Macht. Aber der alte
Freund und Führer der Kindheit, Shakespeare, wird plötz-
lich wieder nah : ein Z3 klus von Vorstellungen Emesto Rossis
zeigt ihm plötzlich die Schönheit seiner dämonischen Leidenschaft
und weckt hinreißendes Verlangen, gleich Shakespeare Ge-
schichte in Gedicht zu verwandeln. Um ihn stehen täglich die
steinernen Zeugen vergangener großer Jahrhunderte: er ruft
sie auf. Der Dichter ist plötzlich wach in ihm. ln seliger Un-
treue zu seinem Berufe schafft er gleich eine ganze Reihe von
Dramen, schafft sie im Fluge, mit jener brennenden Ekstase,
die unverhoffte Beseligung immer im Künstler erweckt: die
ganze Renaissance soll wie Shakespeares England in den
Königsdramen erstehen ; und sorglos, noch heiß vom Rausche
der Verzückung, schreibt er eines nach dem andern, ohne um
ihr irdisch-theatralisches Schicksal besorgt zu sein. Keine
einzige jener romantischen Dichtungen erreicht die Bühne,
keine ist heute mehr zu finden oder öffentlich zu erlangen,
denn der reife Künstler hat sie verworfen und liebt in den ver-
blaßten Handschriften nur mehr die eigene schöne und gläubige
Jugend.
Aber das tiefste und weitreichendste Erlebnis jener römischen
Jahre ist eine menscliliche Begegnung, eine Freundschaft. Es
27
gehört ;.am Mystisch-Symbolischen der Biographie RoUands,
daß jede Epoche seiner Jugend ihn immer mit den wesentlich-
sten Menschen der Zeit verbindet, obwohl er eigentlich nie
Menschen suciit, im tiefsten ein Einsamer ist, der am liebsten
seinen Büchern lebt. Immer aber bringt ihn das Leben nach
dem geheimnisvollen Gesetze der Anziehung in heroische
Sphäre, immer wird er durch Beziehung den Gewaltigsten ver-
bunden. Shakespeare, Mozart, Beethoven sind die Sterne seiner
Kindheit ; in den Schuljahren findet er Suarfes, Claudel als Kame-
raden; in den Lehrjahren wird Renan ihm in einer Stunde, da
er kühn den großen Weisen besucht, zum Führer, Spinoza sein
religiöser Befreier, von ferne grüßt ihn brüderlich der Gruß
Tolstois. In Rom nun weist ihn eine Empfehlung Monods an
die edle Malvida von Meysenbug, deren Leben eine einzige
Rückschau ist in heroische Vergangenheit. Wagner, Nietzsche,
Mazzini, Hertzen, Kossuth war sie immer befreundet gewesen,
Nationen und Sprachen sind diesem freien Geiste keine Grenze,
den eine Revolution der Kunst oder der Politik nie erschreckte,
der, ,,ein Menschenmagnet*', unwiderstehlich große Naturen ver-
trauend an sich zog. Nun ist sie eine alte Frau, milde geworden
und klar, ohne Enttäuschung als ewige Idealistin dem Leben auf-
getan. Von der Höhe ihrer siebzig Jahre überschaut* sie weise
und verklärt verklungene Zeiten, Reichtum des Wissens und
der Erfahrung strömt von ihr dem Lernenden zu. In ihr findet
Rolland die gleiche sanfte Verklärtheit, die erhabene Ruhe nach
vieler Leidenschaft, die Italiens Landschaft ihm teuer macht,
und wie dort aus Steinen, Bildern und Monumenten die Ge-
waltigen der Renaissance, so wird ihm hier aus Gespräch und
mancher Vertrautheit das tragische Leben der Künstler unserer
Zeit bewußt. In Gerechtigkeit und Liebe lernt er hier in Rom
den Genius der Gegenwart erkennen, und dieser freie Geist
zeigt ihm, was unbewußt längst eigenes Gefühl vorahnte, daß es
28
eine Höhe des Erkeimens^und GenieBens gibt, wo Natidöefl ttnd
Sprachen gleichgültig werden vor der ewigen Sprache der Kunst.
Und auf einem Spaziergang auf dem Janikulus bricht plötzlich
in einer einzigen Vision das zukünftige europäische Werk in
ihm mächtig auf: der „Johann Christof'.
Wunderbar diese Freundschaft zwischen der siebzigjährigen
deutschen Frau und dem dreiundzwanzigjährigen Franzosen:
bald weiß keiner mehr von ihnen, wer dem andern zu tieferem
Dank verpflichtet ist: er, weil sie ihm in großer Gerechtigkeit
die großen Gestalten erweckt, sie, weil sie in diesem jungen
leidenschaftlichen Künstler neue Möglichkeiten der Größe sieht.
Ein und der gleiche Idealismus, der geprüfte und geläuterte
der Greisin, der ungestüme und fanatische des Jünglings, klin-
gen rein ineinander: jeden Tag kommt er zur verehrten Freim-
din in die via della polverieta und spielt ihr auf dem Klavier die
geliebten Meister vor; sie wieder führt ihn ein in den römischen
Kreis der Donna Laura Minghetti, wo er die intellektuelle
Elite Roms und des wirklichen Europa kennen lernt, und
lenkt mit sachter Hand seine Unruhe zu geistiger Freiheit.
Auf der Höhe des Lebens, im Aufsatz über die „Antigone Her-
nelle", bekennt Rolland, daß es zwei Frauen waren, seine
christliche Mutter und der freie Geist Malvida von Meysenbugs,
die ihm die volle Tiefe der Kunst und des Lebens im Gefühl
bewußt werden ließen. Sie aber schreibt in ihrem „Lebens-
abend", ein Vierteljahrhundert ehe RoUands Name in irgend-
einem Lande auch nur genannt wird, schon ein gläubiges
Bekenntnis seines zukünftigen Ruhmes. Mit Rührung liest
man heute dieses Jugendbild RoUands von der zitternden Grei-
senhand dieser freigeistigen, klaren Deutschen hingezeichnet:
„Aber nicht nur in musikalischer Hinsicht erwuchs mir aus der
Bekanntschaft mit diesem Jüngling hohe Freude. Es gibt ge-
wiß gerade im vorgerückten Alter keine edlere Befriedigung, als
29
in jnngett Seelen denselben Drang der Idealität, dasselbe Stre-
ben nach den höchsten Zielen, .dieselbe Verachtung alles Ge-
meinen und Trivialen, denselben Mut im Kampfe um die
Freiheit der Individualität zu finden . . . Zwei Jahre des
edelsten geistigen Verkehres wurden mir durch die Anwesenheit
dieses Jünglings zuteil . • . Wie schon erwähnt, war es nicht
nur die musikalische Begabung des jungen Freundes, welche
mir die so lange entbehrte Wohltat brachte, auch auf allen an-
deren Gebieten des geistigen Lebens fand ich ihn einheimisch
und zu voller Entwicklung strebend, so wie ich dagegen in der
beständigen Anregung die Jugend des Gedankens und die volle
Intensität des Interesses für alles Schöne und Poesicvolle in
mir wieder empfand. Auf diesem letzten Gebiete der Poesie
entdeckte ich denn auch allmählich die schöpferische Begabung
des Genannten, und zwar in überraschender Weise durch eine
dramatische Dichtung." In prophetischer Weise knüpft sie
an dieses Erstlingswerk die Verkündigung, daß von der sitt-
lichen Kraft dieses jungen Dichters vielleicht eine poetische
Regeneration der französischen Kunst ausgehen könne, und
in einem schön empfundenen, ein wenig sentimentalischen Ge-
dicht spricht sie ihre ganze Dankbarkeit für das Erlebnis dieser
zwei Jahre aus. Die freie Seele hat geschwisterlich den. euro-
päischen Bruder erkannt wie "der Meister in Jasnaja Poljana
seinen Schüler; zwanzig Jahre, ehe die Welt von ihm weiß,
rührt Rollands Leben so schon an heroische Gegenwart. Dem,
der das Große will, bleibt es nicht verborgen: Tod und Leben
senden ihm Bilder und Gestalten entgegen als Mahnung und
Beispiel, aus allen Ländern und Völkern Europas grüßen Stim-
men den, der einst für sie alle sprechen soll.
30
* Die Weihe
Die beiden Jahre in Italien, Jahre des freien Empfangens und
schöpferischen Genießens, gehen ^u Ende. Aus Paris ruft die
Schule, die Rolland als Schüler verlassen, ihn nun als Lehrer
zurück. Der Abschied ist schwer, und Malvida von Meysenbug,
die gütige greise Frau, findet ihm noch einen schönen symboli-
schen Abschluß. Sie lädt den jungen Freund ein, mit ihr nach
Bayreuth zu kommen, in die unmittelbarste Sphäre des Men-
schen, mit Tolstoi das Sternbild seiner Jugend war und den
er nun lebendiger fühlt aus ihrer beseelten Erinnerung. Rolland
wandert zu Fuß durch Umbrien, in Venedig treffen sie zu-
sammen, sehen den Palazzo, in dem der Meister starb, und fah-
ren dann nach Norden in sein Haus zu seinem Werk. „Damit
er*' — wie sic in ihrer seltsam pathetischen und doch irgendwie
ergreifenden Art sagt — „mit diesem erhabenen Eindruck die
Jahre in Italien und diese reiche Jünglingszeit beschließe und
denselben gleichsam als Weihe auf der Schwelle des Mannes-
alters mit seiner voraussichtlichen Arbeit und seinen wohl
nicht ausbleibcndcn Kämpfen und Täuschungen empfange.“
Nun ist Olivier in Johann Christofs Land. Gleich am Morgen
der Ankunft führt Malvida, noch ehe sie sich bei den Freunden
in Wahnfried anmcldeten, ihn in den Garten zu des Meisters
Grab. Rolland entblößt wie in einer Kirche das Haupt, schwei-
gend stehen sie lange im Gedenken an den heroischen Men-
schen, der dieser einen ein Freund, dem andern ein Führer war.
Und abends empfangen sie sein Vermächtnis, den Parsifal.
Dieses Werk, das geheimnisvoll wie auch die Stunden jener
Gegenwart mit der Geburt des Johann Christof verbunden ist,
wird eine Weihestunde für seine zukünftige Zeit. Dann ruft
ihn das Leben aus so großen Träumen. Ergreifend schildert die
Siebzigjährige diesen Abschied: „Durch die Güte meiner
jwh FranJcF^h zor^gehen mußte, um in die große Ge*
^^rbstiltigkeit als schäftendes Glied einzutreten. Es war mir
furchtbar leid um ihn, den Hochbegabten, daß er sich nicht frei
zu Jiöheren Sphären' heben und ganz in der Entfaltung künst-
lerischer Triebe vom Jüngling zum Manne reifen konnte. Aber
ich wußte auch, daß er dennoch am sausenden Webstuhl der
Zeit mithelfen würde, der Gottheit lebendiges Kleid zu wirken.
Die Tränen, die beim Schluß der Aufführung des Bassifal in
seinen Augen standen, verbürgten mir aufs neue die^ Annahme,
und so sah ich ihn scheiden mit innigem Danke für die poesie-
erfüllte Zeit, die mir seine Talente bereitet hatten, und mit
dem Segen, den das Alter der Jugend mitgibt in das Leben."
Eine reiche Zeit für sie beide endet in dieser Stünde, aber
nicht ihre schöne Freundschaft. Noch durch Jahre, bis zu
dem letzten ihres Lebens, schreibt Rolland ihr allwöchentlich,
imd in diesen Briefen, die er nach ihrem Tode zurückerhielt,
ist vielleicht die Biographie seiner eigenen Jugend vollkom-
mener gebildet, als je andere sie werden sagen können. Unend-
liches hat er gelernt in dieser Begegnung; Weite des Wissens
um das Wirkliche ist ihm nun gegeben, Zeitgefühl ohne Grenze,
und er, der nach Rom gegangen, um nur vergwgene Kunst
zu erfassen, fand dort das lebendige Deutschland und die Ge-
genwart der ewigen Helden. Der Dreiklang aus Dichtung,
Musik und Wissenschaft harmonisiert sich unbewußt mit dem
andern: Frankreich, Deutschland, Italien. Europäischer Geist
ist nun für immer der seine, und noch ehe der Dichter eine Zeile
geschrieben, lebt schon in seinem Blute der große Mythos des
Johann Christof.
Romain Rolland
Zur Zvit seines Eintritts in die Ecole Normale
Niclit %tu: di4 'iniißre Xime^
^chttiftg Ä^fes hat itt 4 ies^' l»idea^^ iü
<mt 9 BM^{ule||b^ g^otmeit: Huilich bei Goeth^M^
war Rolland nach Italien gegangen, MiisOcer deni Gegiiis nach,
Dichter ans Neigung, Historüa» ans Notwe^gkeit. AU*
mählich hatte sich do^ 'hi magischer Blndui^ die Musik der
Dichtung verschwistert: in jenen ersten Dramen
lyrisd» j^elodik in das Wort abermächtig ein,.gleich*eiti|^hatte
derii^rische Sinn das farbige Kolorit ^ßer Vergangenheit
hinter diesen beschwingten Worten als eine mächtige Kulisse
aufgestellt. Der Heimgekehrte vermag nun die dritte Bindimg
seiner Begabung und seines Berufes zu vollziehen, er wird nach
Erfcdg seiner These „Les origines du Maire tyrique moderne"
{Ristoire de l’Opdra enEurope avant Lully et Scadatti) Lehrer der
Musikgeschichte zuerst an der £cpk Normale, dann von 1003
an der Sorbonne; die „dtemelle flofktsim", die ewige Blüte der
Musik, als eine unendliche Folge durch die Zeiten zu schildern,
deren jede doch wieder ihre seelische Schwingung in den Ge-
staltungen verewigt, ist seine Aufgabe, und er zeigt -r- zum
Irstenmal sein Lieblingsthema entde^end — , wie die Nationen
in dieser scheinbar abstrakten S^äre zwar ihre Charaktere
aii||Säg^ aber doch immer die höhere, die zeitlose, die ip-
temationsde Einheit tm^wußt aufbauen. Fähigkeit des yei>
Stehens und des Verst^^te^ns ist ja der innerste K^m aetiiieir
menschlichen Wirksainl^t* bfe,^iai i^ilfau^ten Ele^^,
‘wird seine Leidenschaft nüttejlsam. 1 b ll£behdi||er^ Sinne
als.aU| vor ihm lehrt er seine V«a»en8clw#L;^ze%t im unsichtbar
il^ien^n der Musik, daß das Große in der niemai||
3 ZwiiiCi RosMio RoUaod
einer Zeit, einem Volke allein zngeteilt ist, sondern in ewiger
Wanderschaft über die Grenzen und Zeiten als heiliges Feuer
glüht, das ein Meister dem andern weiterreicht und das nie
verlöschen wird, solange noch der Atem der Begeisterung vom
Munde der Menschen ausgeht. Es gibt keinenÄiegensatz, kei-
nen Zwiespalt in der Kunst, „die Geschichte muß zum Gegen-
stand die lebendige Einheit des menschlichen Geistes haben,
darum ist sie gezwungen, die Bindung aller seiner Gedanken
auf rechtzuerh al ten“ .
Von jenen Vorträgen, die Romain Rolland in der „j£cole des
hautes Hudes sociales** und Aet Sorbonne hielt, erzählen Zuhörer
noch heute mit unverminderter Dankbarkeit. Historisch war
an jenen Vorträgen eigentlich nur der Gegenstand, wissenschaft-
lich bloß das Fundament. Rolland hat heute neben seinem
universalen Ruhm noch immer den fachlichen in der Musik-
forschung, das Manuskript von Luigi Rossis ,,Orfeo** entdeckt
und die erste Würdigung des vergessenen Francesco Provencale
gegeben zu haben, aber seine menschlich umfassende, wahr-
haft enzyklopädische Betrachtung machte jene Stunden über
„die Anfänge der Oper“ zu Freskobildern ganzer verschollener
Kulturen. Zwischen den Worten lierß er die Musik sprechen, gab
am Klavier kleine Proben, die längst verklungene Arien in dem-
selben Paris, wo sie vor dreihundert Jahren zum erstenmal
aufgeblüht waren, aus Staub und Pergament wieder silbern
auf wachen ließen. Damals begann in dem noch jungen Rol-
land jene unmittelbare Wirkung auf die Menschen, jene er-
läuternde, fühlende, erhebende, bildende und begeisternde
Kraft, die seitdem, durch sein dichterisches Weik immer fernere
Kreise erfassend, sich ins Unermeßliche gesteigert hat, iin Kern-
punkt aber ihrer Absicht treu geblieben ist: in allen Formen
der Geschichte und Gegenwart einer Menschheit das Große ihrer
Gestalten und die Einheit aller reinen Bemühung zu zeigen.
Selbstverständlich machte seine Leidenschaft für die Musik
nicht im Historischen halt. Nie ist Romain Rolland Fach-
mensch geworden, jede Vereinzelung widerstrebt seiner synthe-
tischen, seiner bindenden Natur. Für ihn ist alle Vergangenheit
nur VorbereÄung für die Gegenwart, das Gewesene nur Mög-
lichkeit gesteigerten Erfassens der Zukunft. Und an die ge-
lehrten Thesen und die Bände der „Musiciens d*autrefois** ,
„Händel" der ,,Histoire de VOpira en Europe avant Lully et Scar-
latti'* reihen sich die Aufsätze der ^.Musiciens d*aujoufd*hm*\ die
er als Vorkämpfer für alles Moderne und Unbekannte in der
,, Revue de Paris*' und ,, Revue de V Art dramatique” zuerst ver-
öffentlicht hatte. Das erste Porträt Hugo Wolfs in Frankreich,
das hinreißendste des jungen Richard Strauß und Debussys ist in
ihnen gezeichnet; unermüdlich blickt er nach allen Seiten, die
neuen schöpferischen Kräfte der europäischen Tonkunst zu ge-
wahren ; er reist zum Straßburger Musikfest, Gustav Mahler zu
hören, und nach Bonn zu den Beethovenfesttagen. Nichts bleibt
seiner leidenschaftlichen Wissensgier, seinem Gerechtigkeitssinn
fremd: von Katalonien bis Skandinavi«n lauscht er auf jede
neue Welle im unendlichen Meer der Musik, im Geist der Gegen-
wart nicht minder heimisch als in dem der Vergangenheit.
Lehrend in diesen Jahren, lernt er auch selbst vom Leben
viel. Neue Kreise tun sich ihm auf in demselben Paris, das er
bisher kaum anders als von dem Fenster der einsamen Studier-
stube gekannt. Seine Stellung an der Universität, seine Ver-
heiratung bringen den Einsamen, der bisher nur mit einzelnen
vertrauten Freunden und den fernen Heroen gelebt, in Be-
rührung mit der geistigen und mondänen Gesellschaft. Im
Hause seines Schwiegervaters, des berühmten Archäologen
Michel Breal, lernt er die Leuchten der Sorbonne kennen, in
den Salons das ganze Getümmel von Finanzmännern, Bürgern,
Beamten, alle Schichten der Stadt, durchwoben mit den in
3
35
Paris unvermeidlichen kosmopolitischen Elementen. Der
Romantiker Rollnnd wird in diesen Jahren unwillkürlich Be-
obachter, sein Idealismus gewinnt, ohne an Intensität zu ver-
lieren, kritische Kraft. Was er an Erfahrungen (oder besser
an Enttäuschungen) aus diesen Begegnungen in sich sammelt,
dieser ganze Schutt von Alltäglichkeit, wird später Zement
und Unterbau für die Pariser Welt in „Der Jahrmarkt“ („La
foire sur la place'*) und „Das Haus“ („Dans la maison**). Ge-
legentliche Reisen nach Deutschland, die Schweiz, Österreich,
das geliebte Italien bringen Vergleich und neues Wissen; immer
weiter spannt sich über dem Wissen der Geschichte der wachsen-
de Horizont der modernen Kultur. Der Heimgekehrte aus Euro-
pa hat sich Frankreich und Paris entdeckt, der Historiker die
wichtigste Epoche für den Lebendigen: die Gegenwart.
Kampljahre
Alles ist nun in dem Dreißigjährigen gespannte Kraft, ver-
haltene Leidenschaft zur Tat. In allen Zeichen und Bildern, in
der Vergangenheit und an den künstlerischen Gestalten der
Gegenwart hat sein begeisterter Sinn Größe gesehen: nun
drängt es ihn, sie zu erleben, sie zu gestalten.
Aber ein Wille zur Größe findet eine kleine Zeit. Als Rolland
beginnt, sind die Gewaltigen Frankreichs schon dahingegangen,
Victor Hugo, der unentwegte Rufer zum Idealismus, Flauheit,
der heroische Arbeiter, Renan, der Weise, sind tot, die Ge-
stirne des nachbarlichen Himmels, Richard Wagner und
Friedrich Nietzsche, sind gesunken oder verdunkelt. Die Kunst,
selbst die ernste eines Zola, eines Maupassant, dienen dem Täg-
lichen, schaffen nur Bildnis einer verderbten und verweich-
lichten Zeit. Die Politik ist kleinlich und vorsichtig, die Philo-
sophie schulmäßig und abstrakt geworden: nichts Gemeinsa-
36
mes bindet mehr die Nation, deren Glanbenskraft in der Nieder-
lage für Jahrzehnte erschüttert worden ist. Er will wagen, aber
die Welt will kein Wagnis. Er will kämpfen, aber die Welt will
Behaglichkeit. Er will Gemeinschaft, aber die Welt keine
andere als die des Genusses.
Da stürzt plötzlich ein Sturm über das Land. Die' untersten
Tiefen Frankreichs sind aufgewühlt, mit einem Male steht die
ganze Nation in Leidenschaft um ein geistiges, ein moralisches
Problem: und leidenschaftlich wie ein verwegener Schwimmer
stürzt sich Rolland als einer der Ersten in die aufgeregte Flut.
Über Nacht hat die Dreyfus-Affäre Frankreich in zwei Par-
teien zerrissen, es gibt da kein Abseitsstehen, keine kühle Be-
trachtung, die Besten faßt die Frage am stärksten, für zwei
Jahre ist die ganze Nation messerscharf in zwei Meinungen,
in Schuldig oder Unschuldig zerrissen, und dieser Schnitt geht
erbarmungslos — afn besten kann man es im „Johann Christof"
und den Memoiren Peguys nachlescn — mitten durch Familien,
trennt Brüder von Brüdern, Väter von Söhnen, Freunde von
Freunden. Wir von heute können kaum mehr verstehen, daß
die Angelegenheit eines wegen Spionage verdächtigten Artille-
riehauptmanns für ein ganzes Land zur Krise wurde, aber die
Leidenschaft wuchs über den Anlaß hinaus ins Geistige: eine
Frage des Gewissens war jedem Einzelnen gestellt, Entscheidung
zwischen V aterland und Gerechtigkeit, und mit explosive r Wucht
schmettert sie aus jedem Aufrichtigen die moralischen Kräfte
in den Kampf. Rolland war einer der ersten in jenem engen
Kreise, der von allem Anfang an für die Unschuld des Dreyfus
eintrat, und gerade die Aussichtslosigkeit jener allerersten Be-
mühungen war für ihn Anreiz des Gewissens; während Peguy
mehr von der mystischen Kraft des Problems ergriffen war,
von der er eine sittliche Reinigung seines Vaterlandes erhoffte,
während er agitatorisch in Broschüren mit Bemard Lazare die
37
Afföxe z:^m Flammen brachte, begeisterte Rolland das imma-
nente Problem der Gerechtigkeit. Mit einer dramatischen
Paraphrase „Die Wölfe“, die er unter dem Pseudonym St. Just
veröffentlichte und’ die in Gegenwart Zolas, Scheurer-Kestners,
Piquarts unter leidenschaftlicher Anteilnahme der Zuhörer
gespielt wurde, hob er das Problem aus der Zeit ins Ewige
hinaus. Und je mehr der Prozeß politisch wurde, seit sich die
Freimaurer, die Antiklerikalen, die Sozialisten seiner als
Sturmbock für ihre eigenen Absichten bedienten, je mehr der
tatsächliche Erfolg für die Idee sich kundgab, um so mehr zog
Rolland sich wieder zurück. Seine Leidenschaft gilt immer
nur dem Geistigen, dem Problem, dem ewig Aussichtslosen —
auch hier ist es sein Ruhm, einer der ersten und ein einsamer
Kämpfer in einem historischen Augenblick gewesen zu sein.
Gleichzeitig aber eröffnet er Schulter an Schulter mit Peguy
und dem alten im Kampf zurückgefundenen Jugendkameraden
Suar^s einen neuen Feldzug, aber keinen lauten, lärmenden,
sondern eine Kampagne, deren stiller verschwiegener Herois-
mus mehr einem Passionswege glich. Sie spüren schmerzhaft
die Korruption, die Verhurtheit, die Banalität und Käuflich-
keit der Literatur, die in Paris den Tag beherrscht: sie offen
zu bekämpfen wäre aussichtslos gewesen, denn diese Hydra
hat alle 2^itschriften in Händen, alle Journale sind ihr dienst-
bar. Nirgends ist ihre glatte, quallige, tausendarmige Wesenheit
tödlich zu treffen. Und so beschließen sie, ihr entgegenzuarbei-
ten, nicht mit den eigenen Mitteln, dem Lärm und der Betrieb-
samkeit, sondern mit dem moralischen Gegenbeispiel, der stillen
Aufopferung und beharrlichen Geduld. Fünfzehn Jahre lang
erscheint ihre Zeitschrift, die ,, Cahiers de la qamzaine** , die sie
selbst schreiben und verwalten. Kein Centime wird für Re-
klame verausgabt, kaum findet man bei irgendeinem Buch-
händler ein Heft, Studenten, ein paar Literaten, ein kleiner
38
enger Kreis sind die Leser, die allmählich erst eine Gemeinde
werden. ULv.r ein Jahrzehnt läßt Romain Rolland alle seine
Werke in diesen Heften erscheinen, den ganzen Johann Christof,
Beethoven, Michelangelo, die Dramen, ohne — der Fall ist
beispiellos in der neueren Literatur — einen Franken Honorar
zu erhalten (und seine finanziellen Verhältnisse waren damals
wahrhaftig keine rosigen). Aber nur um ihren Idealismus zu
erhärten, um ein moralisches Beispiel zu schaffen, verzichten
diese heroischen Menschen ein Jahrzehnt auf Besprechungen,
auf Verbreitung und Honorar, auf diese heilige Dreifaltigkeit
aller Literatengläubigkeit. Und als endlich die Zeit der Cahiers
gekommen war durch Rollands, durch Peguys, durch Suar^s*
späten Ruhm, da endet ihre Herausgabe, ein unvergängliches
Denkmal des französischen Idealismus und künstlerisch
menschlicher Kameradschaft.
Und noch ein drittes Mal versucht sich die geistige Leiden-
schaftlichkeit Rollands in einer Tat. Noch ein drittes Mal tritt
er für eine Lebensstunde in eine Gemeinschaft, um Lebendiges
im Lebendigen zu schaffen. Eine Gruppe junger Leute hat in
richtiger Erkenntnis des Unwertes und der Verderblichkeit des
französischen Boulevarddramas, dieser ewigen Ehebruchs-
akrobatik einer gelangweilten Bürgerlichkeit, versucht, das
Drama wieder dem Volke, dem Proletariat und damit einer
neuen Kraft zurückzugeben. In ungestümer Feurigkeit nimmt
Rolland die Bemühung auf, schreibt Aufsätze, Manifeste, ein
ganzes Buch, und vor allem, er verfaßt aus dem innersten Ge-
danken heraus selbst eine Reihe von Dramen im Geiste und zur
Verherrlichung der französischen Revolution. Jaur^s führt mit
einer Rede seinen Danton den französischen Arbeitern vor,
auch die andern werden gespielt, aber die Tagespresse, offenbar
in geheimer Witterung feindlicher Kraft, sucht sorglich die
Leidenschaft abzukühlen. Und wirklich, die andern Teilnehmer
39
erkalten im Eifer, und bald ist der schöne Elan der jugendlichen -
Gruppe gebrocher: Rolland bleibt allein zurück, reicher an
Erfahrung und Enttäuschung, aber nicht ärmer an Gläubigkeit.
Allen großen Bewegungen leidenschaftlich verbunden, war
Rolland doch immer innerlich frei geblieben. Er gibt seine
Kraft in die Bestrebungen der andern, ohne sich willenlos von
ihnen mitreißen zu lassen. Alles enttäuscht ihn, was er gemein-
sam mit andern schafft: das Gemeinsame wird immer trübe
durch das Unzulängliche aller Menschlichkeit. Der Dreyfus-
prozeß wird eine politische Affäre, das Thiatre du Peuple geht
zugrunde an Rivalitäten, seine Dramen, die dem Volke be-
stimmt waren, erlöschen an einem einzigen Theaterabend, seine
Ehe zerbricht — aber nichts kann seinen Idealismus zerbrechen.
Wenn das gegenwärtige Leben nicht durch den Geist zu be-
zwingen ist, so verliert er darum nicht den Glauben an den
Geist : aus Enttäuschung erweckt er sich die Bilder der Großen,
die die Trauer durch die Tätigkeit, das Leben durch die Kunst
besiegen. Er läßt das Theater, er läßt den Lehrstuhl, er tritt zu- ,
rück aus der Welt, um das Leben, das sich den reinen Taten
verweigert, in gestaltetem Bilde zu fassen. Enttäuschungen
sind für ihn nur Erfahrungen, und über eine kleine Zeit baut er
nun in zehn J ahren der Einsamkeit ein Werk, das wirklicher ist im
ethischen Sinne als die Wirklichkeit, und das den Glauben seiner
Generation in eine Tat verwandelt: den „Johann Christof".
Ein Jahrzehnt Stille
Einen Augenblick lang war der Name Romain Rollands
dem Pariser Publikum als der eines gelehrten Musikers, eines
hoffnungsvollen Dramatikers vertraut gewesen. Dann ist er
durch Jahre wieder verschollen, denn keine Stadt besitzt die
Fähigkeit des Vergessens so gründlich und meistert sie so
40
schonungslos wie Frankreichs Hauptstadt. Nie mehr wird der
Name des \bseitigen genannt, nie selbst in den Kreisen der
Dichter und Literaten, die doch die Wissenden um ihre eigenen
Werte sein sollten. Man blättere zur Probe nach in allen den
Revuen und Anthologien, in den Geschichten der Literatur:
nirgends wird man Rolland auch nur verzeichnet finden, der
damals schon ein Dutzend Dramen, die wundervollen Bio-
graphien und sechs Bände des „Johann Christof" veröffent-
licht hatte. Die , .Cahiers de la quinzaine** sind Geburtsstätte
und gleichzeitig Grab seiner Werke, er selbst ist ein Fremder in
der Stadt zur selben Zeit, da er ihre geistige Existenz so bildne-
risch und umfassend wie kein zweiter gestaltet. Längst ist das
vierzigste Lebensjahr überschritten, noch kennt er kein Honorar,
keinen Ruhm, noch bedeutet er keine Macht, keine Lebendig-
keit. Wie Charles Louis Philippe, wie Verhaeren, Claudel,
Suar^s, die Stärksten um die Wende des neunzehnten Jahr-
hunderts, ist er unwirksam, unbekannt auf der Höhe seines
Schaffens. Sein Leben ist lange das Schicksal, das er selbst so
hinreißend erzälilt: die Tragödie des französischen Idealismus.
Aber eben diese Stille ist notwendig zur Vorbereitung von
Werken solcher Konzentration. Das Gewaltige braucht immer
erst Einsamkeit, ehe es die Welt gewinnt. Nur jenseits des
Publikums, nur in heroischer Gleichgültigkeit gegen den Erfolg
wagt sich ein Mensch an ein so aussichtsloses Beginnen wie einen
Giganten-Roman in zehn Bänden, der sich überdies in einer
Zeit auflodemden Nationalismus gerade einen Deutschen zum
Helden nimmt. Nur in solcher Abseitigkeit kann sich eine
ähnliche Universalität des Wissens zum Werk entwickeln,
nur die ungestörte, vom Atem der l|enschen unberührte Stille
es ohne Hast in vorgedachter Fülle entfalten.
Ein Jahrzehnt ist Rolland der große Verschollene der fran-
zösischen Literatur. Ein Geheimnis umgibt ihn : es heißt Arbeit.
4 ^
Ein dunkler Puppenzustand von Unbekanntheit umschließt
jahrelang, jahrzehnielang seine einsame Mühe, der sich dann
beflügelt das kraftboschwingte Werk entringt. Viel Leiden ist
in diesen Jahren, viel Schweigen und viel Wissen um die
Welt, das Wissen eines Menschen, um den niemand weiß.
Bildnis
Zwei Zimmerchen, nußschalengroß, im Herzen von Paris,
knapp unter dem Dach: fünf Stockwerke hoch schraubt sich
die hölzerne Treppe. Unten donnert ganz leise wie ein fernes
Gewitter der Boulevard Montparnasse, Manchmal zittert auf
demTisch ein Glas, wenn unten der schwere „Motorbus“ vorüber-
drölint. Aber von den Fenstern geht der Blick über die niederen
Nachbarhäuser in einen alten Klostergarten, und im Frühling
weht ein weicher Duft von Blüten in die aufgetanen Fenster.
Kein Nachbar hier oben, keine Bedienung als die alte Concierge-
frau, die den Einsamen vor Gästen und Besuchern schützt.
Im Zimmer Bücher und Bücher. An den Wänden klettern
sie auf, den Boden überhäufen sie, bunte Blumen wuchern sie
über Fensterbrett, Sessel und Tisch, dazwischen Papiere ver-
streut, ein paar Gravüren an der Wand, Photographien von
Freunden und eine Büste Beethovens. Nah dem Fenster ein
kleiner Holztisch mit Feder und Papier, zwei Sessel, ein
kleiner Ofen. Nichts in der engen Zelle, was kostbar wäre,
nichts was weich zur Ruhe lüde oder zu gemächlicher Gesellig-
keit. Eine Studentenbude, ein kleiner Kerker der Arbeit.
Vor den Büchern er selbst, der milde Mönch dieser Zelle,
immer dunkel gekleidet jp. der Art eines Geistlichen, schmal,
hoch, zart, das Gesicht ein wenig blaß und gegilbt, wie das eines
Menschen, der selten im Freien lebt. Feine Falten unter den
Schläfen, man spürt einen Schaffenden, der viel wacht und wenig
42
schläft. Alles ist zart an seinem Wesen, das reine Profil, dessen
ernste Linie keine Photographie ganz wiedergibt, die schmalen
Hände, das Haar, das feinsilbern hinter die hohe Stirn tritt,
der Bart, der spärlich und sanft wie ein heller Schatten über der
dünnen Lippe liegt. Und alles ist leise an ihm, die Stimme, die
sich nur zögernd im Gespräche gibt, der Gang, der leicht vor-
geneigt, auch im Ruhenden noch unsichtbar die Linie der ge-
bückten Arbeit nachzeichnet, die Gesten, die sich immer bändi-
gen, der zögernde Schritt. Nichts Leiseres kann man sich denken
als seine Gegenwart. Und fast wäre man versucht, dieses
Sanfte seines Wesens für Schwäche zu halten oder eine große
Müdigkeit, wären nicht die Augen in diesem Antlitz, klar,
messerscharf vorblinkend unter dem leicht geröteten Lidrand
und dann wieder sanft sich vertiefend in Güte und Gefühl. In
ihrem Blau ist etwas von der Tiefe eines Wassers, das seine
Farbe nur von seiner Reinheit hat (und alle seine Bilder sind
darum arm, weil sie dies Auge nicht bilden, in dem sich seine
ganze Seele sammelt). Das ganze feine Antlitz ist von dem
Blick so belebt, wie der schwache enge Körper vom geheimnis-
vollen Feuer der Arbeit.
Diese Arbeit, die unendliche Arbeit dieses Menschen im Ge-
fängnis des Körpers, im Gefängnis des engen Raumes in all
jenen Jahren, wer kann sie ermessen I Die Bücher die ge-
schriebenen, sind nur ihr kleinstes Teil. Alles u-^faßt die
brennende Neugier dieses Einsamen, die Kulturen Her Spra-
chen, die Geschichte, Philosophie, Dichtung und Musik aller
Nationen. Mit allen Bestrebungen ist er in Verbindung, über
alles hat er Aufzeichnungen, Briefe und Notizen, er hält Zwie-
sprache mit sich und den andern, indessen die Feder vorwärts
gleitet. Mit seiner feinen aufrechten Schrift, die doch gleich-
zeitig mit Kraft die Buchstaben hinter sich wirft, hält er die
Gedanken fest, die ihm begegnen, die eigenen und die fremden.
43
Melodien ^fergangener und neuer Zeit, -die er in schmalen Heften
notiert, Auszüge aus Zeitschriften, Entwürfe, und sein ge-
sparter, gesajnmellcr Besitz an solchem selbst geschriebenen
geistigen Gut !st unermeßlich. Immer brennt die Flamme dieser
Arbeit. Selten gönnt er sich mehr als fünf Stunden Schlaf,
selten einen Spaziergang in den nahen Luxembourg, selten
kommt zu stillem Gespräch ein Freund die fünfmal gewundene
Treppe empor, und auch seine Reisen sind meist Suche und
Forschung. Ausruhen heißt für ihn eine Arbeit tauschen "für
eine andere, Briefe gegen Bücher, Philosophie gegen Dichtung.
Sein Alleinsein ist tätige Gemeinsamkeit mit der Welt, und freie
Stunden sind einzig jene kleinen Feste inmitten des langen Tages,
wenn er in der Dämmerung auf dem Klavier Zwiesprache hält
mit den großen Geistern der Musik, Melodien holend aus andern
Welten in diesen kleinen Raum, der selbst wieder eine Welt des
schaffenden Geistes ist.
Der Ruhm
1910. Ein Automobil saust die Champs Elysies entlang, seinen
eigenen späten Warnruf überrennend. Ein Schrei — und der
Unbedachte, der gerade die Straße überquerte, liegt unter den
Rädern. Blutend, mit gebrochenen Gliedern hebt man den
Überfahrenen aüf und rettet ihm mühsam den Rest des Lebens.
Nichts sagt so sehr das Geheimnisvolle im Ruhme Romain
Rollands aus als der Gedanke, wie wenig noch damals sein Ver-
lust für die literarische Welt bedeutet hätte. Eine kleine Notiz
in den Zeitungen, daß der Musiklehrer an der Sorbonne, Pro-
fessor Rolland, einem Unfall zum Opfer geworden sei. Viel-
leicht hätte auch einer oder der andere sich daran erinnert, daß
ein Mann dieses Namens vor fünfzehn Jahren hoffnungsvolle
Dramen und musikalische Schriften verfaßt habe imd in ganz
44
Paris, der Dreimillionenstadt, hätte kaum eine Handvoli
Menschen dem verlorenen Dichter gewußt. So mystisch
unbekannt war Romain Rolland zwei Jahre vor seinem euro-
päischen Ruhm, so liamenlos noch aju einer Zeit, als das Werk,
das ihn zum Führer unserer Generation gemacht, im wesent-
lichen geschaffen war: das Dutzend Dramen, die Biographien
der Heroen und die ersten acht Bände des *, Johann Christof“.
Wunderbar das Geheimnis des Ruhms, wunderbar seine ewige
Vielfalt. Jeder Ruhm hat seine eigene Form, unabhängig vom
Menschen, dem er zufällt, und doch ihm zugehörig als sein
Schicksal. Es gibt einen weisen Ruhm und einen törichten,
einen gerechten und einen ungerechten, einen kurzatmigen,
leichtfertigen, der wie ein Feuerwerk verprasselt. einen lang-
samen. schwerblütigen, der erst zögernd dem Werke liachfolgt,
und es gibt einen infernalischen, boshaften, der immer zu spät
kommt und sich von Leichen nährt.
Zwischen Rolland und dem Ruhm ist ein geheimnisvolles
Verhältnis. Von Jugend an lockt ihn die große Magie, und so
sehr ist schon der Jüngling bezaubert von dem Gedanken jenes
einzig wirklichen Ruhmes, der moralische Macht und sittliche
Autorität bedeutet, daß er stolz und sicher die kleinen Gelegen-
heiten des Klüngels und der Kameraderie verschmäht. Er
kennt das Geheimnis und die Gefahr, die menschliche Ver-
suchung der Macht, er weiß, daß man durch Geschäftigkeit
nur seinen kalten Schatten fängt, nie das feurig wärmende
Licht. Keinen Schritt ist er ihm darum entgegengegangen, nie
hat er die Hand nach ihm ausgestreckt, so nahe er ihm mehr-
mals im Leben schon war. ja, er hat den nahenden sogar eigen-
willig zurückgestoßen durch das grimmige Pamphlet seiner
,JFoire sur la Place*\ djp ihm für immer die Gunst der Pariser
Piesse nahm. Was er von seinem Johann Christof sagt, gilt
ganz seiner eigenen Leidenschaft: „Le sacUs Wiiait pas son
45
son öut Statt la toi*\ „Nicht der Erfolg; der Glaube war
sein Ziel/*
Und der Ruhm liebt diesen Menschen, der ihn von ferne
liebt, ohne sich ihm anzudrängen, er zögert lang, denn er will
das Werk nicht stören, will eine lange Scholle der Dunkelheit*
um den Keim lassen, daß ^r reife in Leiden und Geduld. In
zwei andern Welten wachsen sie beide heran, das Werk und der
Ruhm, und warten der Begegnung. Kristallinisch bildet sich
eine kleine Gemeinde seit dem „Beethoven“, die still dann mit
Johann Christof sein Leben entlang geht. Die Getreuen von
den ,, Cahiers de la quinzaine** werben neue Freunde. Ohne
Mithilfe der Presse, einzig durch die unsichtbare Wirkung der
werbenden Sympathie wachsen die Auflagen, im Auslande er-
scheinen Übersetzungen. Der ausgezeichnete schweizer Schrift-
steller Paul Scippcl gibt endlich 1912 in umfassender Darstellung
die erste Biographie. Lange hat Rolland schon Liebe um sich,
ehe die Zeitungen seinen Namen drucken, und der Preis der Aka-
demie für das vollendete Werk ist dann nur gleichsam der Fan-
farenstoß , der die Armeen seiner Getreuen zur Heerschau sammelt.
Mit einemmal bricht die Welle der Worte über ihn herein, knapp
vor seinem fünfzigsten Jahr. 1912 ist er noch unbekannt, 1914
ein Weltruhm. Mit einem Schrei der Überraschung erkennt
eine Generation ihren Führer.
Es ist mystischer Sinn in diesem Ruhm Romain Rollands, wie
in jedem Geschehnis seines Lebens. Er kommt spät zu dem Ver-
gessenen, den er in bitteren Jahren der Sorge und materiellen
Not allein gelassen. Aber er kommt noch zur rechten Stunde,
er kommt vor dem Krieg. Wie ein Schwert gibt er sich ihm in
die Hand. In entscheidendem Augenblick schenkt er ihm
Macht und Stimme, damit er für Europa spreche, er h^t ihn
hoch, damit er sichtbar sei im Getümmel. Er kommt rechtzeitig,
dieser Ruhm, denn er kommt, als durch Leiden und Wissen
46
Romain Rolland reif ist zu seinem höchsten Sinne, zu europäi-
scher Vera «twortliclikeit und die Welt des Mutigen bedarf, der
gegen sie selbst ihre ewige Sendung, die Brüderlichkeit, ver-
künde.
Ausklang in die Zeit
So erhebt sich dieses Leben aus dem Dunkel in die Zeit: still
bewegt, aber immer von den stärksten Kräften, scheinbar ab-
seitig, aber wie kein anderes mit dem unheilvoll wachsenden
Schicksal Europas verbunden. Von seiner Erfüllung aus ge-
sehen, ist alles Hemmende, die vielen Jahre des unbekannten,
des vergeblichen Ringens, notwendig darin, jede Begegnung
symbolisch: wie ein Kunstwerk baut es sich auf in einer weisen
Ordnung von Wille und Zufall. Und es hieße klein vom Schick-
sal denken, betrachtete man es bloß als Spiel, daß dieser Un-
bekannte gerade in den Jahren zu einer öffentlichen moralischen
Macht geworden war, da wie nie ein Anwalt des geistigen Rech-
tes uns allen vonnöten war.
Mit diesem Jahre 1914 verlischt die private Existenz Romain
Rollands: sein Leben gehört nicht mehr ihm, sondern der Welt,
seine Biographie wird Zeitgeschichte, sie läßt sich nicht mehr
"ablösen von seiner öffentlichen Tat. Aus seiner Werkstatt ist
der Einsame zum Werk in die Welt geschleudert: er, den bisher
niemand gekannt hat, lebt bei offenen Türen und Fenstern,
jeder Aufsatz, jeder Brief wird Manifest, wie ein heroisches
Schauspiel baut seine persönliche Existenz sich auf. Von der
Stunde ab, da seine teuerste Idee, die Einheit Europas, sich
selbst zu vernichten droht, tritt er aus der Stille seiner Ver-
borgenheit ins Licht, er wird Element der Zeit, unpersön-
liche Gewalt, ein Kapitel in der Geschichte des europäischen
Geistes : und so wenig man Tolstois Leben trennen darf von seiner
47
so wenig käm iiiati Jl^
'Menschen seiner Wirkung abzi^g^?aizen ^rarsndira. Seit
1914 ist Rohiain Rolland ganz .eioes mit seiner Idee tmd ihrem
Kampf. Er ist nicht nuihr Schriftsteller, Dichter, Künstler,
nicht mehr Eigenwesen. Er ist die Stimme Europas in seiner
tiefsten Qual. Er ist das Gewissen der Welt.
48
Dramatisches Beginnen
4 Zweig, Romelo Roiland
„Söf'n Ziel war nicht der Erfolge sein
Ziel war der Glaube.*'
Rolland^ Johann Christofe
Viertes Buch: Empörung
Das Werk und die Zeit
Man kann das Werk Romain Rollands nicht verstehen ohne
die Zeit, aus der es geboren ist. Denn hier wächst eine Leiden-
schaft aus der Müdigkeit eines ganzen Landes, ein Glaube aus
der Enttäuschung eines gedemütigten Volkes. D6r Schatten
von 1870 liegt über der Jugend dieses Dichters, und es bedeutet
Sinn und Größe seines ganzen Werkes, daß es von dem einen
Kriege zu dem andern eine Brücke des Geistes spannt. Bewölk-
tem Himmel, blutiger Erde ist es entrungen und greift hinüber
in den neuen Kampf und den neuen Geist.
Aus Dunkelheit wächst es auf. Denn ein Land, das einen
Krieg verlor, ist wie ein Mensch, der seinen Gott verloren hat.
Fanatische Ekstase bricht plötzlich hin in sinnlose Erschöpfung,
ein Brand, der in Millionen lohte, stürzt ein in Asche und
Schlacke. Es ist eine plötzliche Entwertung aller Werte : die
Begeisterung ist sinnlos geworden, der Tod zwecklos, die
Taten, die noch gestern als heldisch galten, eine Narrheit, das
Vertrauen eine Enttäuschung, der Glaube an sich selbst ein
armer Wahn, Alle Kraft zur Gemeinsamkeit sinkt hin, jeder
steht für sich allein, wirft Schuld von sich ab und dem Nächsten
zu, denkt bloß an Gewinn, an Nutzen und Vorteil, und eine
unendliche Müdigkeit löst den hochgespannten Aufschwung ab.
Es gibt nichts, was die moralische Kraft der Masse so sehr ver-
nichtet, wie eine Niederlage, nichts was zunächst dermaßen die
gcinze geistige Haltung eines Volkes entwürdigt und schwächt.
So ist dies Frankreich nach 1870 ein seelisch-müdes, ein
führerloses Land. Seine besten Dichter können ihm nicht hel-
fen, sie taimieln einige Zeit hin wie betäubt vom Keulenschlag
des Geschehens, dann raffen sie sich auf und schreiten den alten
Weg weiter in die Literatur hinein, verkriechen sich noch tiefer
in das Abseits vom Schicksal ihrer Nation. Die Vierzigjährigen
4 '
51
vermag auch eine nationale Katastrophe nicht zu verwandeln:
Zola, Flaubert, Anatole France, Maupassant, sie brauchen ihre
ganze Kraft, um sich selbst aufrecht zu erhalten. Aber sie
können nicht ihre Nation stützen, sie sind skeptisch geworden
im Erlebnis, sie sind nicht mehr gläubig genug, um ihrem Volk
einen neuen Glauben zu geben.
Die jungen Dichter aber, die Zwanzigjährigen, sie, die
nicht mehr die Katastrophe selbst wissend erlebt haben,
die nicht den wirklichen Kampf, sondern nur sein geistiges
Leichenfeld gesehen, die verwüstete, zerstörte Seele ihres
Volkes, sie können sich nicht abfinden mit dieser Müdig-
keit. Eine wirkliche Jugend kann nicht leben ohne einen
Glauben, kann nicht atmen in der moralischen Dumpfheit
einer hoffnungslosen Welt. Leben und Schaffen bedeutet
für sie Vertrauen entzünden, jenes mystisch brennende Ver-
trauen, das unzerstörbar aus jeder neuen Jugend, jeder auf-
steigenden Generation glüht, und käme sie voFbei an den
Gräbern ihrer Väter. Dieser Generation wird die Niederlage
ein Urerlebnis, das brennendste Existenzproblem ihrer Kunst.
Denn sie fühlen, daß sie nichts sind, wenn sie nicht vermögen,
dieses Frankreich, das mit aufgerissener Flanke blutend aus
dem Kampf wankt, wieder zu stützen, wenn sie nicht die
Mission erfüllen, diesem skeptischen resignierten Volke eine
neue Gläubigkeit zu geben. Ihr unverbrauchtes Gefühl sieht
hier eine Aufgabe, ihre Leidenschaft ein Ziel. Es ist kein Zufall,
daß immer in den geschlagenen Völkern bei den Besten ein
neuer Idealismus sich aufringt, daß die Jugend solcher Völker
nur ein Ziel kennt für ihr ganzes Leben: ihrer Nation eine
Tröstung zu geben, ihr die Niederlage wegzunehmen.
Wie aber ein besiegtes Volk trösten, wie ihm die Niederlage
von der Seele nehmen? Der Dichter muß eine Dialektik der
Niederlage schaffen, irgend einen Ausweg finden für den Geist
52
aus seiner Müdigkeit, einen Wahn oder sogar eine Lüge.
Zweifach ist die Tröstung dieser jungen Dichter. Die einen
deuten auf die Zukunft hin und sagen, Haß zwischen den
Zähnen: „Diesmal sind wir besiegt worden, das nächste Mal
werden wir siegen.“ Das ist das Argument der Nationalisten,
und es ist kein Zufall, daß ihre Führer, Maurice Barrös, Paul
Claudel, Peguy, Altersgenossen Romain Hollands gewesen
sind. Dreißig Jahre haben sie den beleidigten Stolz der fran-
zösischen Nation heiß gehämmert mit Worten und Versen, bis
er eine Waffe wurde, um den verhaßten Feind in das Herz zu
treffen. Dreißig Jahre haben sie an nichts erinnert als an die
Niederlage und den zukünftigen Sieg, immer wieder die alte
Wunde, wenn sie vernarben wollte, aufgerissen, immer wieder
die Jugend, wenn sie sich versöhnen wollte, aufgerüttelt mit der
fanatischen Mahnung. Von Hand zu Hand haben sie diese
unerbittliche Fackel der Revanche weitergereicht, immer bereit,
sie in das Pulverfaß Europas zu schleudern.
Der andere Idealismus aber, der stillere und lange unbe-
kannte, der Hollands, sucht anderen Glauben und anderen Trost
für die Niederlage zu geben. Er deutet nicht auf die Zukunft hin,
sondern hinaus in die Ewigkeit. Er verheißt keinen neuen Sieg,
er entwertet nur die Niederlage. Für diese Dichter, die Schüler
Tolstois sind, ist die Macht kein Argiiment für den Geist, der
äußere Erfolg kein Wertmaß für die Seele. Für sie siegt der
Einzelne nicht, wenn seine Generäle auch hundert Provinzen
erobern, und er wird nicht besiegt, wenn die Armee auch
tausend Kanonen verliert: der Einzelne siegt immer nur, wenn
er frei ist von jedem Wahn und jeder Ungerechtigkeit seines
Volkes. Immer versuchen diese Einsamen Frankreich zu be-
wegen, seine Niederlage zwar nicht zu vergessen, aber sie zu
verwandeln in eine moralische Größe, den geistigen Wert zu
erkennen, die geistige Saat, die eben auf den blutigen Schlacht-
53
'feldern gewachsen ist. „Gesegnet sei die Niederlage,** ruft
Olivier im „Johann Christof**, der Wortführer jener französi-
schen Jugend, seinem deutschen Freunde entgegen, „gesegnet
der Zusammenbruch. Wir werden ihn nicht verleugnen, wir
sind seine Kinder. In der Niederlage, mein lieber Christof, habt
ihr uns wieder zusammengeschmiedet. Das Gute, das ihr uns
ohne zu wollen zugefügt habt, ist größer als das Böse. Ihr habt
unseren Idealismus entflammt, die Glut unserer Wissenschaft
und unseres Glaubens neu belebt. Euch schulden wir das
Wiedererwachen unseres Rassegewissens. Stelle dir die kleinen
Franzosen vor, wie sie in Trauerhäusern, im Schatten der
Niederlage geboren wurden, ernährt mit jenen trüben Gedan-
ken, erzogen für eine blutige, unvermeidliche und vielleicht
nutzlose Rache, denn das erste, was ihnen, so klein sie noch
waren, immer zum Bewußtsein gebracht wurde, war: es gibt
keine Gerechtigkeit auf dieser Welt, die Übermacht zermalmt
das Recht. Solche Offenbarungen drücken die Seele eines
Kindes für immer zu Boden oder reißen sie zur Größe empor.**
Und er sagt dann weiter: „Die Niederlage verwandelt die Elite
eines Volkes, alles Reine und Starke stellt sic abseits, macht sie
reiner, stärker, noch stärker, aber sie drängt die anderen schnel-
ler dem Untergang entgegen. Dadurch trennt sie den großen
Haufen des Volkes von der Elite, die ihren Weg weiter fort-
setzt.**
In dieser Elite, die Frankreich mit der Welt versöhnt, sieht
Rolland die zukünftige Aufgabe seiner Nation, und im letzten
sind die dreißig Jahre seines Werkes nichts anderes als ein' ein-
ziger Versuch, einen neuen Krieg zu verhindern, um nicht
nochmals den entsetzlichen Zwiespalt von Sieg und Niederlage
zu erneuern. Kein Volk soll in seinem Sinne mehr siegen durch
Gewalt, sondern alle durch Einheit, durch die Idee der Brüder-
lichkeit Europas.
54
So strömen aus gleichem Ursprung, aus der dunklen Quelle
der Niederlage zwei verschiedene’ Wellen des Idealismus dem
französischen Volke zu. Ein unsichtbarer Kampf um die Seele
der neuen Generation formt sich in Wort und Buch. Die Wirk-
lichkeit hat für Maurice Barras entschieden. Das Jahr 1914
hat die Ideen Romain Rollands besiegt. Die Niederlage ist
nicht nur das Erlebnis seiner Jugend, sie ist auch der tragische
Sinn seiner Mannesjahre geworden. Aber von je war es seine
Kraft, aus den Niederlagen die stärksten Werke zu schaffen,
aus Resignationen neue Erhebungen, aus Enttäuschungen
leidenschaftliche Gläubigkeit.
Wille zur Größe
Früh weiß er schon um sein Amt. Der Held eines seiner
ersten Werke, der Girondist Hugot im „ Triomphe de la Raison**,
verrät seinen glühendsten Glauben im begeisterten Ausruf
„Unsere erste Pflicht ist: groß sein und die Größe auf Erden
verteidigen*'.
Dieser Wille zur Größe ist im Gkiheimnis jeder eigenen Größe.
Was Romain Rolland, den Bcginner von damals und den Kämp-
fer jener dreißig Jahre, von den andern unterscheidet, ist, daß
er in der Kunst nie etwas Einzelnes, etwas Literarisches oder
Gelegentliches schafft. Immer ist seine Anstrengung auf das
höchste moralische Maß gerichtet, immer auf ewige Formen,
immer empor zum Monumentalen : das Fresko, das Gesamtbild,
die epische Umfassung ist sein Ziel; die größten Vorbilder sind
sein Beispiel, die großen Helden der Jahrhunderte, nicht die
literarischen Kollegen. Gewaltsam reißt er den Blick von
Paris, von der zeitgenössischen (ihm zu geringen) Bewegung
weg; Tolstoi, der einzig Schaffende im Sinne jener Großen, wird
ihm Lehrer und Meister. Shakespeares Königsdramen, Tol-
55
stois „Krieg und Frieden*', Goethes Universalität, Balzacs
Fülle, Wagners promethidischer Kunstwille, dieser heroischen
Welt fühlt sich seine schaffende Sehnsucht trotz aller Demut
näher verwandt, als der auf das Tägliche des Erfolges gerichte-
ten Bemühung seiner Zeitgenossen.
Er durchforscht ihr Leben, um Mur zu finden an ihrem
Mute, er studiert ihre Werke, um die seinen an ihrem Maß zu
erheben über das bloß Tägliche, das nur Relative. Fast re-
ligiös wird sein Fanatismus für das Absolute: er denkt — ohne
sich ihnen zu vergleichen — immer an die Unerreichbaren, an
die aus der Ewigkeit in unseren Tag niedergestürzten Meteore;
er träumt von einer Sixtina, von Symphonien, von den Königs-
dramen, von „Krieg und Frieden“, nicht von einer neuen
,, Madame Bovary“ oder von Novellen Maupassants. Das Zeit-
lose ist seine wahre Welt, das Gestirn, zu dem sein schaffender
Wille demütig und doch leidenschaftlich aufsieht. Nur Victor
Hugo und Balzac von den neueren Franzosen haben diese
heilige Anspannung zum Monumentalen gehabt : von den
Deutschen keiner seit Richard Wagner, von den Engländern
keiner seit Byron.
Solchen Willen zum Außerordentlichen kann Begabung und
Fleiß allein nicht verwirklichen: immer muß irgend eine
moralische Kraft der Hebel sein, um einen geistigen Kosmos
aus den Angeln zu heben. Und diese moralische Kraft Rollands
ist ein in der ganzen neueren Literatur unvergleichlicher Mut.
Was seine Stellung im Kriege erst sichtbar der Welt offenbart
hat, den einsamen Heroismus, sich mit seiner Gesinnung einer
ganzen Zeit allein entgegenzustellen, das hatte im Unsichtbaren
seine anonyme Leistung schon ein Vierteljahrhundert vorher
den Wissenden bekundet. Man wird nicht plötzlich ein Held
aus einer gemäclüichen und konzilianten Natur: Mut will
wie jede seelische Kraft in Prüfungen gestählt und gefestigt
56
sein« Und von der ganzen neuen Generation war Rolland längst
der Mutigste äurch seine Bemühung um das Gewaltige. Et
träumt nicht nur wie Schüler von Iliaden Und Pentalogien: er
schafft sie auch einsam, mit der Kühnheit vergangener Jahr-
hunderte, in imsere hastige Welt hinein. Noch spielt kein
Theater seine Stücke, noch druckt kein Verleger seine Bücher,
und dennoch beginnt er einen Dramenzyklus, so umfangreich
wie die Tragödien Shakespeares. Noch hat er kein Publikum,
keinen Namen und beginnt das Monstrum eines Romans, eine
zehnbändige Lebensgeschichte, und wählt als Helden inmitten
einer nationalistischen Epoche gerade einen Deutschen. Er
verdirbt es sich von vornherein mit den Theatern, indem er sie
in einem Manifest t,Le thiatre du peupW der. Banalität, der
Geschäftlichkeit beschuldigt, er verdirbt es sich bewußt mit
der Kritik, indem er in der „Foire sur la place'* das Jahrmarkts-
treiben des Pariser Journalismus, der französischen Kunst-
mache mit einer Schärfe anprangert, wie sie seit den „///w-
sions perdues** des damals schon weltberühmten Balzac kein
Autor jenseits des Rheins gewagt hatte. Ohne in seiner äußeren
Existenz gesichert zu sein, ohne mächtige Gefährten, ohne Zeit-
schrift, ohne Verleger, ohne Theater will er den Geist der Ge-
neration reformieren, einzig durch den Willen und die Tat.
Er schafft statt zu nahem Ziel inuner ins Zukünftige hinein mit
jener religiösen Macht des Glaubens an das Große, wie die
Baumeister des Mittelalters nur zu Gottes Ehre ihre Kathedra-
len über die eitlen Städte bauten, ohne zu rechnen, ob die Voll-
endung ihr eigenes Leben nicht überwachsen würde. Dieser
Mut, der wieder Kraft trinkt aus dem religiösen Element seiner
Natur, ist sein einziger Helfer. Und das Wort Wilhelms von
Oranien, das vor „Aert", einem seiner ersten Werke steht,
„Ich bedarf des Beifalls nicht, um zu hoffen, und nicht des
Erfolges, um auszuharren'', ist das walire Leitwort seines Lebens.
57
Die Schaffenskreise '
Dieser Wille znr Größe prägt sich unwillkürlich in den Formen
aus: nie oder fast nie in seinem Werke versucht sich Rolland
an etwas Einzelnem, Isoliertem, Abgelöstem, nie an Episoden
des Herzens oder der Geschichte. Seine schöpferische Phan-
tasie locken nur die elementaren Erscheinungen, die großen
,,courants de foi*\ die Ströme des Glaubens, wo plötzlich eine
Idee mit mystischer Gewalt die Millionen Einzelner zusammen-
schließt, wo ein Land, eine Zeit, eine Generation sich wie ein
Feuerbrand entfachen. An den großen Fanalen der Mensch-
heit — ob sie nun geniale Naturen seien oder geniale
Epochen, Beethoven oder die Renaissance, Tolstoi oder die
' Revolution, Michelangelo oder die Kreuzzüge — entzündet er
seine dichterische Flamme. Um aber solche weitverbreitete
tief im Dämonischen wurzelnde, doch ganze Zeiträume über-
schattende Phänomene künstlerisch zu bewältigen, bedarf es
mehr als jugendlichen An Sprunges und kurzatmiger Gymna-
siastenleidenschaft : soll ein solcher geistiger Zustand wahrhaft
bildhaft werden, so bedarf er breiter Formen; Kulturgeschichte
beseelter und heroisch bewegter Epochen läßt sich nicht in
flüchtigen Skizzen zeichnen, sie bedarf einer sorgfältigen Unter-
malung und vor allem monumentaler Architektur: weite Räume
für die Fülle der Erscheinungen und gleichsam auf gestufte
Terrassen für die geistige Überschau.
Darum braucht Rolland in allen seinen Werken so viel
Raum; denn er will jeder Zeit (wie jedem einzelnen) gerecht
sein. Nie ein Segment, einen bloß zufälligen Ausschnitt geben,
sondern immer den ganzen Kreis des Geschehens. Nicht
Episoden aus der Revolution, sondern die ganze französische
Revolution, nicht die Lebensgeschichte eines modernen Musi-
kers Johann Christof Krafft, sondern die Geschichte unserer
5 «
europäischen Generation. Er will nicht nur die Zentralkraft
einer Epoche darstellen, sondern immer auch ihre hundert-
fachen Gegenkräfte, nicht nur den Stoß, sondern auch, den
Widerstand; und er will gegen einen jeden gerecht sein. Breite
ist für Rolland mehr eine moralische Notwendigkeit als eine
künstlerische: in der Leidenschaft gerecht zu sein, jeder Idee
ihren Sprecher im Parlament seines Werkes zy, geben, muß er
vielstimmige Chorwerke schreiben. . Um die Revolution dar-
zustellen in allen ihren Formen, in Aufstieg, Trübung, Politi-
sierung, Abstieg und Sturz, plant er einen Zyklus von zehn
Dramen ; für die Renaissance fast ebensoviel ; für den Johann
Christof dreitausend Seiten ; denn ihm, dem Gerechten, ist die
Zwischenform, die Spielart ebenso wichtig im Sinne der reinen
Wahrheit als der markante Typps. Er kennt die Gefahr der
Typisierung: was wäre uns der Johann Christof, stünde ihm
nur der eine Olivier als Franzose entgegen, wären nicht im Guten
und Bösen in zahllosen Variationen immer die Nebenfiguren
um die symbolische Dominante gruppiert? Der wahrhaft Ob-
jektive muß viele Zeugen vor die Schranken rufen, um ein ge-
rechtes Urteil zu geben, er braucht die ganze Fülle der Tatsachen,
Darum — und nur aus diesem moralischen Gefühl der Gerechtig-
keit gegen das Große — braucht Rolland die breiten Formen, und
es ist selbstverständlich, daß der Kreis, der alles umschließt,
der Zyklus die seinem Schaffen wesentlichste Form ist. Jedes
einzelne Werk in diesen Zyklen, so abgeschlossen es anmutet, ist
doch nur immer Segment, das seinen tiefsten Sinn erst durch die
Beziehung auf den Mittelpunkt hat, den moralischen Schwer-
punkt der Gerechtigkeit, für die alle Ideen, Taten und Worte gleich
nah und fern dem Zentrum des Allmenschlichen sind. Der Kreis,
der Zyklus, der alle Fülle restlos umschließt, harmonisch die
Gegensätze bändigt, dies Symbol sinnvoller Gerechtigkeit, ist
Rollands, des ewigen Musikers, liebste und fast einzige Form.
59
Fünf solcher Schrifenskreise umfängt während dreißig
Jahren das Werk Romain Rollands. Nicht immer vollendet er
diese allzuweit gespannten Kreise. Der erste Schaffenskreis,
ein Zyklus von Dramen, der in shakespearischem Geiste die
Renaissance als eine Gesamtheit, in der Art Gobineaus, be-
zwingen wollte, fällt zerstückt aus den jugendlichen Händen:
selbst die einzelnen Dramen hat Rolland als unfertig verworfen.
Der zweite Zyklus sind die ..Ttagidies de laFoi**, der dritte das
„Thiatre de la Revolution**, beide unvollendet; aber schon hier
sind die Fragmente von ehernem Guß. Der vierte Zyklus, die
,,Vie des hommes illustres**, ein Biographienkreis wie ein Fries
um den Tempel des unsichtbaren Gottes geplant, bleibt gleich-
falls Stückwerk. Erst die zehn Bände des „Johann Christof**
runden ganz den Erdkreis einer Generation, Größe und Ge-
rechtigkeit in erträumter Harmonie vereinend.
Über diesen fünf Schaffenskreisen aber schwebt noch un-
sichtbar ein anderer. Späteren erst in Anfang und Ende, Ur-
sprung und Wiederkehr deutlich erkennbar: die harmonische
Bindung einer vielfältigen Existenz zu erhobenem universellen
Lebenskreis im Sinne Goethes, wo gleichfalls Leben und
Dichtung, Wort und Brief, Zeugnis und Tat selbst Kunstwerk
werden. Doch dieser Kreis ist noch schwingend und glühend
in Gestaltung und Entfaltung, und noch fühlen wir seine Le-
benswärme wirkend in unserer irdischen Welt.
Der unbekannte Dramenkreis
(1890—1895)
Der Zwanzigjährige, zum erstenmal den Mauern des Pariser
Seminars entronnen, vom Genius der Musik imd der hinreißen-
den Dramatik Shakespeares befeuert, fühlt in Italien zum
erstenmal die Welt als Freiheit, als lebendige Materie, die den
60
Gestalter ruft. Aus Dokumenten und Schemen hat er Ge-
schichte geleint: nun blickt sie ihn an mit lebendigen Augen
aus den Statuen und Gestalten, wie eine Bühne rücken die ita-
lienischen Städte, die Jahrhunderte zusammen vor dem leiden-
schaftlichen Blick. Nur das Wort fehlt ihnen noch, diesen er-
habenen Erinnerungen, und schon wäre Geschichte Dichtung,
Vergangenheit eine gestaltete Tragödie. Wie heilige Trunken-
heit überflügeln ihn diese ersten Stunden; als Dichter, nicht als
Historiker erlebt er das heilige Rom, das ewige Florenz.
Hier ist — so fühlt seine junge Begeisterung — die Größe,
nach der er sich dumpf gesehnt hat, oder hier ist sie gewesen,
in den Tagen der Renaissance, da diese Dome zwischen den
blutigsten Schlachten wuchsen, da Michelangelo, Raphael die
Wände eines Vatikans schmückten, dessen Päpste nicht minder
gewaltig waren als ihre Meister, da aus jahrhundertalter
Verschüttung mit den antiken Statuen auch der heroische Geist
des Griechentums in einem neuen Europa aufstand. Beschwö-
rend ruft der Wille die trotzigen übermenschlichen Gestalten
vor den Blick: und plötzlich ist wieder der alte Freund seiner
Jugend in ihm wach, Shakespeare. Eine Reihe von Vorstellun-
gen Emesto Rossis zeigt ihm auf der Bühne gleichsam zum ersten-
mal seine dramatische Gewalt; nicht wie in der engen Dach-
stube zu Clamecy lockt ihn nun schwärmerische Neigung zu den
märchenhaft milden Frauengestalten, sondern die dämonische
Wildheit der starken Naturen, die durchbohrende Wahrheit
der Menschenerkenntnis, der gewitterhafte Tumult der Seele.
Er erlebt Shakespeare so neu, so innerlich (man kennt ja in
Frankreich Shakespeare kaum vom Theater und nur kärglich
durch die Prosaübersetzungen), wie ihn hundert Jahre vorher
der fast gleichaltrige Goethe erlebt, als er trunken seinen
Hymnus zum Shakespearetag schreibt. Und diese Begeisterung
verwandelt sich stürmisch zu gestaltendem Drang: in einem
Zuge sclireibt der Befreite eine Reihe von Dramen aus der klassi-
schen Vergangenheit, schreibt sie, wie einst die Deutschen
des Sturm und Drangs ihre kraftgenialischen Entwürfe.
Es ist eine ganze Reihe von Dramen, die der Begeisterte da-
mals vulkanisch aus sich schleudert, und die zuerst durch den
Widerstand der Zeit, später dann durch die eigene kritische
Erkenntnis unveröffentlicht geblieben sind. ,,Orsino** (1890 zu
Rom geschrieben) heißt das erste ; bald folgt ihm in der halkyoni-
*
sehen Landschaft Siziliens ein ,,Empedocles*\ unbeeinflußt von
dem grandiosen Entwurf Hölderlins, von dem Rolland erst
durch Malvida von Meysenbug erfährt, dann ,,Gli Baglioni*'
(beide 1891). Die Rückkehr nach Paris bedeutet keine
Unterbrechung, die angefachte dramatische Flamme lodert
weiter in einem ,,Caligula** und einer „Niobe'* (1892), von der
Hochzeitsreise nach dem geliebten Italien bringt er 1893 ein
neues Renaissance-Drama „Le Siege de Mantoue" zurück, das
einzige, das er noch heute anerkennt, von dem ihm aber ver-
hängnisvollerweise das Manuskript durch einen abenteuerlichen
Zufall abhanden gekommen ist. Dann erst wendet sich die
Neigung heimatlichen Stoffen zu, er schafft die „Tragidies de
la Foi‘\ den „Saint Louis” (1893), eine „Jeanne de Pierne”
{1894), die gleichfalls nie erschienen ist, den „Aert” (1895), mit
dem er zum erstenmal die Bühne erreicht, und dann, in rascher
Folge die vier aufgeführten Dramen des „Theatre de la Re-
volution” (1896 — 1902), die „Montespan” (1900) und „Les
trois Amoureuses” (1900).
Vor seinem eigentlichen Werke steht also schon eine fast
anonyme Leistung von zwölf Dramen, so umfangreich wie die
ganze dramatische Produktion eines Schiller, Kleist oder Hebbel,
Dramen, von denen wiederum keines der ersten acht zunächst
nur die ephemere Form einer Aufführung oder Drucklegung
erreicht. Bloß Malvida von Meysenbug, die Vertraute und
62
Wissende, bezeugt öffentlich im „Lebensabend einer Idealistin'*
ihren künstlei' sehen Wert, sonst klingt nicht ein Wort in
die lebendige Welt.
Ein einziges von ihnen allen ist einmal an klassischer Stelle
vom ersten Schauspieler Frankreichs gelesen worden, aber die
Erinnerung ist eine schmerzliche. Gabriel Monod, längst aus
dem Lehrer ein Freund Rollands geworden, hatte, durch
den Enthusiasmus Malvida von Meysenbugs aufmerksam ge-
madht, drei Stücke Rollands dem großen Mounet-Sully über-
geben, der für sie eine wunderbare Leidenschaft entfaltet. Er
reicht sie der Comedie Frangaise ein, kämpft im Lesekomitee
verzweifelt für den Unbekannten, dessen Bedeutung er, der
Komödiant, stärker fühlt als die Literaten. Aber der
die ,,Baglioni” werden mitleidslos verworfen, einzig die ,, Niobe*'
gelangt zur Vorlesung im ,,Comite des Lectures". Die Stunde wird
ein dramatischer Augenblick im Leben Rollands: zum ersten
Male ist er dem Ruhm ganz nahe. Mounet-Sully liest selbst mit
seiner sonoren Meisterschaft das Werk des Unbekannten vor,
Rolland darf anwesend sein. Zwei Stunden und dann zwei Mi-
nuten halten sein Schicksal. Aber noch will das Schicksal nicht
seinen Namen der Welt geben: das Werk wird verworfen und
sinkt ins Namenlose zurück. Nicht einmal die kleine Gnade des
Druckes wird ihm zuteil, und von dem Dutzend dramatischer
Werke, das der nicht zu Entmutigende im nächsten Jahrzehnt
schafft, überschreitet nicht ein einziges die dem Jüngling schon
halb zugänglich gemachte Schwelle der Nationalbühne.
Nicht mehr als die Namen wissen wir von diesen ersten
Werken, nichts von ihrem Wert. Aber wir fühlen in den späte-
ren, daß hier offenbar ein erster Brand sich versprühte, die all-
zuhitzige Flamme verloderte, und wenn die dann scheinbar
ersten Dramen, die im Druck erschienen, so reif und gebunden
anmuten, so lebt ihre Ruhe von der Leidenschaft der un-
63
geboreo ■ hingeopferten, ihre Ordnung von der heroisphen
Fanatik der unbekannten. Jede wahre Schöpfung kommt aus
dem dunklen Humus verworfener Schöpfungen. Und wie keines
blüht Romain Hollands Werk aus solchem großen Versieht.
Die Tragödien des Glaubens.
( 5 ^. Louis, Aert 1895 — 1898)
Als zwanzig Jahre nach ihrem ersten Erscheinen Romain
Rollanc^ seine verschollenen Jugenddramen unter dem Titel
„Les Tragidies de la FoV* 1913 wieder herausgibt, erinnert er
in seiner Vorrede an die tragische Düsterkeit der Zeit, in der
sie entstanden sind. „Wir waren damals,'* sagt er, „viel weiter
vom Ziele und viel vereinsamter." Es war diesen, „weniger
robusten aber nicht minder gläubigen Brüdern Johann Christofs
und Oliviers" schwerer, ihren Glauben zu verteidigen, ihren
Idealismus hochzuhalten, als der neuen Jugend, die in einem
erstarkten Frankreich, einem freieren Europa lebt. Noch liegt
der Schatten der Niederlage damals über dem Land und sie
müssen selbst, alle diese Helden französischen Geistes, kämpfen
gegen den Dämon der Rasse, den Zweifel, gegen das Schicksal
ihrer Nation, die Müdigkeit des Besiegten. Es ist der Schrei
einer kleinen Zeit nach verschollener Größe, ohne Echo von den
Bühnen, ohne Resonanz aus dem Volke, ein verlorener Schrei
nur in den Himmel hinein, Gläubigkeit zum Glauben des ewigen
Lebens.
Diese Glut des Glaubens ist das Geschwisterliche dieses zeit-
lich und gedanklich so weitverschiedenen Dramenkreises.
Romain Rolland will jene geheimnisvollen Ströme dlBs Glaubens
die „courants de foV* zeigen, wo eine Begeisterung wie ein Wald-
brand das ganze Volk, die ganze Nation ergreift, wo ein Ge^
danke plötzlich von Seele zu Seele springt, Tausende mitreißt
64
in den Stumi eines Wahns; wo die Windstille der Seelen plötz-
lich umspringt zu heroischem Tumult, wo das Wort, der Glaube,
die Idee — immer aber ein Unsichtbares, Unerreichbares —
die ganze schwere Welt beschwingt und emporreißt zu den
Sternen. Welcher Idee entgegen diese Seelen brennen, ist gleich-
gültig, ob wie Ludwig der Fromme für das heilige Grab und
Christi Reich, ob wie Aert für das A^aterland, die Girondisten
für die Freiheit, unterscheidet sie im tiefsten nicht : Rollands
Idealismus ist ein Idealismus ohne bestimmte Ideale, das Ziel ist
ihm immer nur Vorwand, das Wesentliche die Gläubigkeit, die
wundertätige, die ein Volk versammelt zimi Kreuzzug ins Mor-
genland, die Tausende aufruft zum Tode für die Nation, opfer-
willig die Führer sich unter die Guillotine werfen läßt. „Toute
la vie est dans Vessor** — „im Aufschwung ist das wahre Leben'*,
wie Verhaeren sagt : nur was aus Begeisterung um Glauben ge-
schaffen wird, ist schön. Daß alle diese ersten, diese zu früh
gekommenen Helden, ihr Ziel nicht erreichen, daß Ludwig der
Fromme stirbt, ohne Jerusalem zu schauen, Aert vor der
Knechtschaft in die ewige Freiheit des Todes flüchtet, die
Girondisten zermalmt werden von den Fäusten des Pöbels,
bedeutet nicht Entmutigung: denn sie alle siegen mit der Seele
über eine kleine Zeit. Sie haben den wahren Glauben, den
Glauben ohne Hoffnung auf Verwirklichung in dieser Welt;
sie sind Fahnenträger gleichen Ideals durch andere Jahrhunderte
gegen immer andern Sturm der Zeit, ob sie das Kreuz tragen
oder das Schwert, die phrygische Mütze oder das verschlossene
Visier. Sie haben eine gleiche Begeisterung: die für das Un-
sichtbare, und haben einen gleichen Feind: die Feigheit, die
Kleinmütigkeit, die Ärmlichkeit, die Müdigkeit der schlaffen
Zeit. In einem antiheroischen Augenblick zeigen sie das ewige
und allzeitige Heldentum des reinen Willens, den Triumph des
Geistes, der Zeit und Stunde besiegt, wenn er nur gläubig ist.
5 Zweig, Romain Rolland
65
Diesen bingesunkenen Brüdem im Glauben neue zu er-
wecken in seiner Zeit, den Idealismus, der unaufhaltsam aus
der unausbleiblichen Saat einer jeden Jugend qjiillt, auf zum
Geist zu erheben und nicht zur brutalen Gewalt, war Sinn, war
das große Ziel jener ersten Dramen Rollands : schon ist in ihnen
das ganze moralische Geheimnis seines zukünftigen Werkes —
durch Begeisterung die Welt zu ändern. ,,Tout est bien, qui
exalte la vie,** Alles ist gut, was das Leben erhebt. Dieses Be-
kenntnis Oliviers ist auch das seine. Nur durch Glut wird das
Lebendige erschaffen, nur durch Glaube der Geist Gestalter der
Welt: es gibt keine Niederlage, die der Wille nicht überwindet,
keine Trauer, die eine freie Seele nicht überfliegt. Wer das
Unerreichbare will, ist stärker als das Schicksal, und selbst sein
Untergang im Irdischen noch Triumph über sein Los: denn
an der Tragödie seines Heldentums entfacht sich neue Begeiste-
rung, -die die hinstürzende Fahne aufhebt und weiter trägt durch
die Zeiten.
St. Louis
{1894)
Dieser Mythos vom König Ludwig dem Frommen ist kein
Drama, sondern mehr ein Weihespiel, geboren aus dem Geiste
der Musik, eine Transposition der Wagnerischen Ideen, heimat-
liche Legende im Kunstwerk zu verklären. Ursprünglich von
Rolland für Musik gedacht (er hat selbst eine Introduktion
dazu komponiert, die er wie alle seine musikalischen Versuche
nie veröffentlichte), löst sich später das musikalische Element
in den Lyrismus des Worts. Von der Leidenschaftlichkeit
Shakespearischer Szenen ist in diesem sanften Lebensbilde
nichts mehr. Es ist eine heroische Heiligenlegende in Bühnen-
bildern, und man muß dabei an jenes Wort Flauberts im Julian
66
dem Gastfreien denken: „geschrieben, wie sie auf den gemalten
Kirchenfenstem unserer Heimat steht/' Es hat nur zarte
Farben, die der Fresken Puvis de Chavannes im Pantheon, der
auch eine französische Heilige, St. Genevieve, wie sie über Paris
wacht, malt, und das milde Mondlicht über ihrer Gestalt ist
das gleiche, das hier einen Heiligenschein von Güte um das
Haupt des frömmsten Königs von Frankreich webt.
Parsif almusik klingt leise durch das Werk und etwas von Par-
sifal ist selbst in diesem Herrscher, der nicht durch Mitleid,
sondern durch Güte wissend wird und sich selbst zum Rulime das
schönste Wort sagt: ,,Pouy comprendre les autres, il ne faut
qu'aimer*' — „Um die Menschen zu verstehen, muß man nur
lieben können". Er hat nichts als Milde, aber davon so viel,
daß die Stärksten schwach werden vor ihm; er hat nichts als
seinen Glauben, aber dieser Glaube baut Berge der Tat. Nicht
zum Siege kann und will er sein Volk führen, aber er trägt es
über sich selbst hinaus, über die eigene Schwere und das schein-
bar sinnlose Abenteuer der Kreuzfahrt in den Glauben und
schenkt damit der ganzen Nation jene Größe, die immer aus der
Aufopferung erwächst. In „St. Louis" zeigt Rolland zum
erstenmal seinen liebsten Typus: den besiegten Sieger. Nirgends
erreicht er sein Ziel, dibti „plus)^üest 6er asipar les choses, plus
il semhle les dominer davantage** — „je mehr er von den Dingen
erdrückt ist, um so mehr scheint er sie zu beherrschen". Und wenn
er wie Moses das verheißene Land nicht mehr schauen darf und
ihm das Schicksal auferlegt scheint ,,de ncmrir vaincu'\ besiegt
zu sterben, so jauchzen über seinem letzten Seufzer die Soldaten
schon zur ersehnten Stadt. Er weiß es, daß im Kampf um das
Aussichtslose die irdische Welt keine Siege gibt, aber „t7 est
beau hUter pour Vimpossible quand Vimpossible est Dieu*‘ —
„es ist schön, um das Unmögliche zu ringen, wenn das Un-
mögliche Gott ist". Dem Besiegten in solchem Kampf bleibt
5
67
doch der höchste Tnoinph: er hat die schlaffen Seelen zu einer
Tat erhoben, deren ^rlück ihm selbst versagt ist, aus seinem
Glauben hat er die Gläubigkeit geschaffen, aus seinem Geiste
den ewigen Geist.
Dieses erste öffentliche Werk Rollands atmet christlichen
Geist. Monsalvatsch spannt seine rauschenden Hallen übereinen
frommen Choral. Daß die Demut die Kraft, der Glaube die
Welt, die Güte den Haß besiegt, diesen ewigen Gedanken, der
vom Urchristentum bis zum Meister von Jasnaja Poljana in
unzähligen Worten und Werken sich vergeistigt hat, formt
Rolland im ersten Werke noch in einer Heiligenlegende. Aber
in den späteren zeigt er dann freier und befreit, daß die Kraft
des Glaubens an kein oder an jedes Bekenntnis gebunden ist ;
die symbolische Welt, die hier noch romantisch den eigenen
Idealismus umkleidet, wird unsere Stunde und unser Tag und
reift die Erkenntnis, daß von Ludwig dem Frommen und der
Kreuzzugzeit nur ein Schritt ist zu unserer eigenen Seele, „wenn
sie groß sein will und die Größe auf Erden verteidigen**.
Acrt
(1895)
„Aert“, ein Jahr nach „St. Louis“ geschrieben, ist deutlicher
als der fromme Mythos in seiner Absicht, der gedrückten Nation
ihren Glauben und ihren Idealismus zurückzugeben. „St.Louis*'
war die heroische Legende, die sanfte Erinnerung an einstige
Größe; „Aert** ist die Tragödie der Besiegten, der starke leiden-
schaftliche Aufruf zum Erwachen. Schon die szenischen Be-
merkungen, die das Werk einbegleiten, sagen die Absicht nackt
und klar: ,, Entstanden aus den politischen und moralischen
Erniedrigungen der letzten Jahre, stellt es in einem Phantasie-
Holland die dritte Republik dar, ein Volk, das von der Nieder-
68
läge zerbrochen und, was noch ärger ist, von ihr erniedrigt ist.
Vor sich eine Zukunft langsamer Dekadenz, deren Vorgefühl
die verbrauchte Kraft gänzlich auflöst.*'
In dieses Milieu dichtet Rolland seinen Aert, den jungen
Prinzen, den Erben der großen Vergangenheit. Vergeblich
sucht man durch Immoralität, durch Versuchung, durch List,
durch Zweifel den Glauben an die Größe in dem Gefangenen zu
zerbrechen, die einzige Macht, die noch den schwachen dekaden-
ten Körper, diese blasse leidende Seele aufrecht erhält. Mit
Luxus, mit Leichtsinn, mit Lüge bemüht sich eine heuchlerische
Umgebung, ihn von der hohen Berufung, tätiger Erbe großer
Vergangenheit zu sein, abzulenken, er bleibt unerschütterlich.
Sein Lehrer, Maitre Trojanus, ein vorgeborner Anatole France,
in dem alle Eigenschaften, Güte, Tatkraft, Skepsis, Weisheit,
nur laue Grade erreichen, möchte einen Marc Aurel aus dem
Feurigen machen, einen Kontemplativen, einen Verzichtenden,
aber stolz erwidert der Knabe: „Ich ehre die Ideen, doch ich
glaube, es gibt etwas, das höher steht als sie: die moralische
Größe.“ Er verbrennt in einem lauen Zeitalter nach der Tat.
Aber die Tat ist Gewalt, der Kampf ist Blut. Die zarte Seele
will den Frieden, der moralische Wille begehrt das Recht. Ein
Hamlet ist in diesem Knaben und ein St. Just, ein Zögernder
und ein Fanatiker. Ein blasser Bruder Oliviers, der schon um
alle Werte weiß, glüht er noch ins Ungewisse seine knabenhafte
Leidenschaft : aber cs ist reine Flamme, die sich im Wort und
Willen verzehrt. Nicht er ruft die Tat, die Tat faßt ihn. Und
sie reißt den Schwachen mit sich in die Tiefe, wo cs keinen
andern Ausweg gibt als den Tod. Aus der Erniedrigung findet
er noch eine letzte Rettung zur moralischen Größe, seine eigene
Tat, die er für alle vollbringt. Umstellt von den höhnischen
Siegern, die ihm ihr „Zu spät“ zurufen, antwortet er stolz:
,, nicht, um frei zu sein“ und stürzt sich aus diesem Leben.
Eö ist ( in tragisches Symbol, dieses romantische, allzu pro-
blematische Stück, in seiner Haltung ein wenig erinnernd an
ein anderes knabenhaft schönes Stück eines später aufsteigenden
Dichters, an die „Offiziere“ des Fritz von Unruh, worin auch
(He Qual gezwungener Untätigkeit, niedergehaltenen Helden-
willens vorerst nur das kriegerische Ziel als Befreiimg sieht. Wie
jenes spiegelt Aert gerade in seinem Aufschrei die Dumpfheit
der andern, die stagnierende schwüle Luft einer glaubenslosen
Zeit. Inmitten eines grauen Materialismus, in den Jahren der
Triumphe Zolas und Mirl^beaus hißt es einsam die Fahne des
Traums über einem gedemütigten Land.
Die Erneuerung des französischen Theaters
Mit der gläubigsten Seele hat der junge Dichter seine ersten
dramatischen Aufrufe zum Heroismus geschaffen, eingedenk
von Schillers Wort, daß glückliche Epochen der reinen Schön-
heit sich hingeben können, schwache aber das Beispiel ver-
gangenen Heldentums bedürfen. Er hatte einen Ruf zur Größe
an seine Nation gesandt — sie gibt keine Antwort. Und un-
erschütterlich in der Überzeugung von dem Sinn, von der Not-
wendigkeit dieses Aufschwungs, sucht Rolland nun die Ursache
dieses Mißverstehens, und er findet sie, mit Recht, nicht in
seinem Werk, sondern im Widerstand der Zeit. Tolstoi hat
ihm in seinen Büchern und in jenem wundervollen Briefe als
erster die Unfruchtbarkeit, die Sterilität der bürgerlichen
Kunst gewiesen, die in ihrer sinnlichsten Ausdrucksform, im
Theater, mehr als irgendwo den Zusammenhang mit den
ethischen und ekstatischen Kräften des Lebens verloren hat.
Ein Klüngel eifriger und betriebsamer Stückeschreiber hat die
Pariser Theater besetzt, die Probleme, die sie darstellen, sind
Varianten des Ehebruches, kleine erotische Konflikte, niemals
eine ethische allmenschliche Angelegenheit. Das Publikmn der
Theater, von den Zeitungen übel beraten imd in seiner seelischen
Trägheit bestärkt, will sich nicht aufraffen, sondern sich aus-
ruhen, sich vergnügen, sich amüsieren. Das Theater ist alles,
nur keine „moralische Anstalt'^ wie sie Schiller gefordert und
d'Alembert verteidigt hat. Kein Atem von Leidenschaft geht von
dieser spielerischen Kunst in die Tiefe der Nation, nur oben
wird vom leichten Wind Wellenschaum aufgesprüht: eine
unendliche Kluft spannt sich von dieser geistreich-sinnlichen
Unterhaltung zu den wahren schöpferischen und empfänglichen
Kräften der Nation.
Rolland erkennt, von Tolstoi belehrt, von jungen leiden-
schaftlichen Freunden begleitet, die moralische Gefahr dieses
Zustandes, er erkennt, daß jede dramatische Kunst, die sich
von dem heiligen Kern einer Nation, vom Volke, absondert, im
letzten Sinne wertlos und verderblich ist. Unbewußt hatte er
schon in seinem „Aert" verkündet, was er nun programmatisch
sagt, daß im Volke am ehesten Verständnis für die wahrhaft
heroischen Probleme zu finden sei: der schlichte Handwerker
Claes ist dort der einzige in der Umgebung des gefangenen
Prinzen, der sich nicht mit der lauen Ergebung abfindet, son-
dern dessen Herz von aller Schmach seines Vaterlandes brennt.
Schon sind in den andern Kunstformen die ungeheuren Kräfte
(Jer Volkstiefe bewußt geworden, Zola und die Naturalisten
haben die tragische Schönheit des Proletariats sich zu eigen
gemacht, Millet, Meunier haben den proletarischen Menschen
zum Bildwerk erhoben, der Sozialismus die religiöse Macht des
kollektiven Bewußtseins entbunden — nur das Theater, die
unmittelbarste Wirkung der Kunst auf den einfachen Menschen,
hat sich in der Bourgeoisie isoliert und den ungeheuren Möglich-
keiten der Blutemeuerung verschlossen. Es treibt unentwegt
geistige Inzucht sexueller Probleme, es hat den sozialen Ge-
71
danken, den elementarsten der neuen Zeit, über seinen kleinen
erotischen Spielen vergessen und ist in Gefahr zu verdorren,
weil seine Wurzeln nicht mehr ins ewige Erdreich der Nation
hinabdrängen. Und Rolland erkennt: die dramatische Kunst
kann von ihrer Blutleere nur am Volke genesen, der französische
Feminismus des l'heaters nur wieder sich ermännlichen ►durch
einen lebendigen Kontakt mit der Millionenmasse. ^fSeul la
s^vc populaire peut lui rendre la vie et la sante,” Das Theater
darf, wenn es national sein will, nicht nur Luxusprodukt der
oberen Zehnt ausende sein: es muß die moralische Nahrung der
Masse werden und selbst produktiv die Fruchtbarkeit der
Volksseele beeinflussen.
Dem Volke ein solches Theater zu geben, ist nun das Werk
seiner nächsten Jahre. Ein paar junge Menschen ohne Kon-
nexionen, ohne Autorität, durch nichts stark als durch die
Leidenschaft und Ehrlichkeit ihrer Jugend, versuchen inmitten
der ungeheuren Gleichgültigkeit der Stadt und gegen die geheime
Feindlichkeit der Presse diese große Idee zu verwirklichen. In
ihrer , .Revue dramatique”. veröffentlichen sie Manifeste, suchen
sie Schauspieler, Bühnen, Helfer, sie schreiben Stücke, ver-
sammeln Komitees, sie verfassen Sonderschrciben an die Minister
— mit dem ganzen fanatischen Idealismus der Aussichtslosen
arbeiten diese Wenigen, ohne daß die Stadt, die Welt, ihre Be-
mühungen ahnt, an der Aussöhnung des klaffenden Kontrastes
zwischen bürgerlichem Theater und der Nation. Rolland wird
ihr Führer. Sein Manifest ,.Le Theatre du peupW und sein
..Thcatre de la Revolution” sind ein dauerndes Denkmal jener
Bemühung, zeitlich mit einer Niederlage endend, aber wie alle
seine Niederlagen menschlich und künstlerisch zu einem
moralischen Triumph gestaltet.
7 ^
Appell an das Volk
„Die alte Zeit ist abgetan, die neue Zeit fängt an.“ Mit die-
sem Worte Schillers eröffnet Rolland seinen Appell in der Revue
dramatique im Jahre 1900. Zwiefach ist der Ruf: an die Dichter
und an das Volk, daß sie sich zu einer neuen Einheit finden, zuni
Theater des Volkes. Die Bühne, die Stücke sollen ganz dem
Volke gehören, nicht das Volk soll sich ändern (denn seine
Kräfte sind ewig und unabänderlich), sondern die Kunst. Der
Zusammenhang soll in der schöpferischen Tiefe sich vollziehen,
es darf keine gelegentliche Berührung, sondern muß eine Durch-
dringung, eine schöpferische Begattung sein. Das Volk braucht
seine eigene Kunst, sein eigenes Theater: es muß in Tolstois
Sinne der letzte Prüfstein aller Werte sein. Seine starke,
mystische, seine ewig religiöse Kraft der Begeisterung muß
zu einer bejahenden und bestärkenden erhoben werden, die
Kunst, die im Bürgertum siech und blutlos geworden ist, an
seiner Stärke gesunden.
Dazu ist notwendig, daß das Volk nicht nur gelegentliches
Publikum sei, flüchtig begönnert von freundlichen Unter-
nehmern und Schauspielern. Die Volksvorstellungen der großen
Theater, wie sie seit jenem Dekret Napoleons in Paris üblich
sind, genügen nicht. Für Rolland sind jene Versuche, daß sich
die Comidie Frangaise ab und zu herabläßt, die pathetischen
Hofdichtcr Corneille oder Racine für die Arbeiter zu spielen,
wertlos: das Volk will nicht Kaviar, sondern gesunde bekömm-
liche Kost, es bedarf zur Nahrung seines unzerstörbaren
Idealismus eine eigene Kunst, ein eigenes Haus, und vor allem
eigene Werke, die seinem Fühlen, seiner Geistigkeit gemäß sind.
Es darf sich nicht als Gast und als Geduldeter fremder Ge-
dankenwelt fühlen, es muß in dieser Kunst sich selbst, seine
eigene Kraft erkennen.
73
4
Gemäßer schon scheinen ihm die Versuche^ die einzelne, wie
Maurice Pottecher, in Bussang mit dem tfTheatre du 'feuple'*
gemacht haben, in dem sie vor kleinem Publikum leichtfaßliche
Stücke spielen. Aber diese Versuche gelten nur einem kleinen
Kreis: die Kluft in der Dreimillionenstadt zwischen der Schau-
bühne und der wirklichen Bevölkerung bleibt xmausgefüllt, die
zwanzig oder dreißig Volksdarbietungen kommen dort besten-
falls einem verschwindenden Teil der Bevölkerung zugute,
und sie bedeuten vor allem keine seelische Bindung!^ keinen
moralischen Aufschwung. Die Kunst ist ohne dauernde Ein-
wirkimg auf die Masse, die Masse wiederum ohne Einwirkung
auf die dramatische Kunst, die — indes sich Zola, Chafles
Louis Philippe, Maupassant längst an dem proletarischen
Idealismus befruchtet haben — steril und volksfremd ge-
blieben ist.
Ein eigenes Theater also dem Volke! Was aber dem Volke
bieten in diesem seinem Haus? Im Flug durchblättert Rolland
die Weltliteratur. Das Resultat ist niederschmetternd. Was ist
dem Arbeiter der Klassiker der französischen Bühne ? Corneille
und Racine mit ihrem gebundenen Pathos sind ihm fremd, die
Feinheiten Molieres kaum verständlich. Die klassische Tragödie,
die griechisch-antike, würde ihn langweilen, die romantische
Hugos seinen gesunden Wirklichkeitsinstinkt abstoßen. Shake-
speare, er der allmenschliche, wäre ihnen näher, aber cs täte
not, seine Stücke erst zu adaptieren und damit zu fälschen,
Schiller in den „Räubern“ und dem „Wilhelm Teil“ hat durch
den hinreißenden Idealismus noch am meisten Enthusiasmus
zu erwarten, aber er, wie Kleist im , »Prinzen von Homburg“,
sind gerade dem Pariser Arbeiter national irgendwie entlegen
Tolstois , »Macht der Finsternis“ und Hauptmanns , »Weber“
hätten den Vorteil der Verständlichkeit, hier aber liegt zuviel
Drückendes im Stofflichen der Werke, die, gut angetan, das
74
%
Gewissen der Schuldigen zu erschüttern, bei dem Volke nur
ein Gefühl der Bedrückung statt der Befreiung schaffen wür-
den. Anzengruber, der rechte Volksdichter, ist zu sehr aufs
Wienerische beschränkt, Wagner, dessen Meistersinger Rolland
ein Höhepimkt allverständlicher erhebender Künste scheinen,
ohne Musik nicht repräsentativ.
Soweit der Blick ins Vergangene geht, er findet keine Ant-
wort auf seine sehnsüchtige Frage. Aber Rolland ist nicht einer
von denen, die sich entmutigen lassen, immer schöpft er aus
•Enttäuschungen Kraft. Hat das Volk keine Bühnenstücke für
sein Theater, so ist es Pflicht, heilige Pflicht, sie der neuen
G^ieration zu schaffen. Und in einem jubelnden Appell endet
das Manifest ,,Tout est ä dire! Tout est ä faire! A VceuvreV
Im Anfang war die Tat.
Das Programm
Was für Stücke fordert das Volk? „Gute'' Stücke in dem
Sinne, wie Tolstoi von „guten" Büchern sprach, Dramen, die
allverständlich sind und doch nicht banal, die den Geist der
Gläubigkeit erwecken, ohne ihn zu verfälschen, die nicht die
Sinnlichkeit, die Schaulust, sondern die starken ideellen In-
stinkte der Masse aufrufen. Nicht kleine Konflikte dürfen sie
behandeln, sondern müssen den Geist der antiken Feste, den
Menschen im Kampf mit den Mächten, mit dem heroischen
Schicksal zeigen. „Fort mit den komplizierten Psycho-
logien, den feinen Spötteleien, den dunklen Symbolismen, der
Kunst des Salons und des Alkovens" — das Volk braucht
monumentale Kunst. So sehr es Wahrheit will, darf es doch
nicht dem Naturalismus ausgeliefert werden; denn sieht es
sich, sein eigenes Elend, so wird die Kunst nicht Begeisterung
erwecken, die heilige, sondern nur Zorn, die brutale Seelenkraft.
75
SoU es den nächsten Tag heiterer, gefestigter, zuversichtlicher an
die Arbeit gehen, sc bedarf es eines Tonikums, diese Abende
müssen eine Quelle der Energie sein, aber es ist gleichzeitig
ihre Aufgabe, die Intelligenz zu schärfen. Wohl sollen sie dem
Volke das Volk zeigen, aber nicht in der proletarischen Dumpf-
heit seiner engen Stuben, sondern in den Höhepunkten der
Vergangenheit. Das Theater des Volkes muß, so folgert Rol-
land darum (vielfach Schillers Ideen verwertend), ein histori-
sches sein : das Volk muß sich nicht nur sehen lernen, sondern
auch bewundern in seiner eigenen Vergangenheit. Die Leiden-
schaft zur Größe — das Urmotiv Rollands — muß in ilim
erweckt werden. In seinem Leiden muß es die Freude an sich
selbst wieder lernen.
Wunderbar erhebt nun der dichterische Historiker den Sinn
der Geschichte zum Hymnus. Heilig sind die Kräfte der Ver-
gangenheit um der seelischen Kraft willen, die in jeder großen
Bewegung ruht. „Es liegt für die Vernunft etwas Verletzendes
darin, welchen ungebührlichen Platz die Anekdote, das Neben-
bei, die Staubkörner der Geschichte auf Kosten der lebendigen
Seele eingenommen haben. Die Kraft der Vergangenheit muß
erweckt, der Wille zur Tat gestählt werden.*' Die Generation
von heute hat Größe zu lernen von ihren Vätern und Ahnen.
,,Dic Geschichte kann lehren, aus sich selbst herauszutreten,
in der Seele der andern zu lesen. Man findet sicli selbst im Ver-
gangenen in einer Mischung gleicher Charaktere und verschie-
dener Züge, mit Fehlem und Lastern, die man vermeiden kann.
Aber eben indem sie das Veränderliche zeigt, lehrt sie das
Dauerhafte wesentlicher erkennen."
Was aber haben die französischen Dramatiker bis jetzt aus
der Vergangenheit dem Volke gerettet? fragt Rolland weiter.
Die burleske Gestalt Cyranos, die parfümierte des Herzogs
von Reichstadt, die erfundene der Madame Sans-Gcnc! ,,Tout
76
est ä fairel Tont est ä direV" Alles ist noch Brachland für die
Kirnst. „Die nationale Epopöe ist ganz neu für Frankreich.
Unsere Dramatiker haben das Drama des französischen Volkes
vernachlässigt, das vielleicht seit Rom das heroischste der Welt
ist. Das Herz Europas schlug in seinen Königen, seinen Den-
kern, seinen Revolutionären. Und so groß dieses Volk auch auf
allen Gebieten des Geistes sein mag, am größten war es vor
allem in der Tat. Die Tat war seine erhabenste Schöpfung, sein
Gedicht, sein Theater, sein Epos. Es erfüllte, was andere
träumten. Es schrieb keine Iliade, aber es lebte ein Dutzend.
Seine Helden schufen mehr Erhabenes als seine Dichter. Kein
Shakespeare hat ihre Taten gedichtet, aber Danton auf dem
Schafott hat Shakespeare gelebt. Die Existenz Frankreichs
hat die höchsten Gipfel des Glücks, die tiefsten Tiefen des Un-
glücks berührt. Es ist eine wunderbare Comedie humaine, eine
Summe von Dramen, jede seiner Epochen ein anderes Ge-
dicht.*' Diese Vergangenheit muß erweckt werden, das histo-
rische Drama Frankreichs seinem Volke geschaffen werden.
,,Der Geist, der sich über die Jahrhunderte erhebt, erhebt sich
für Jahrhunderte. Um starke Seelen zu zeugen, nähren wir sie
mit den Kräften der Welt.“
„Der Welt,“ — so fährt Rolland fort, und mit einem Mal
flutet der französische Hymnus in den europäischen über —
„denn die Nation ist zu wenig.“ Schon vor hundertzwanzig
Jahren sagte der freie Schiller: „Ich schreibe als Weltbürger.
Früh schon habe ich mein Vaterland mit der Menschheit ge-
tauscht.“ Und Goethes Wort: „Nationalliteratur will nicht
mehr viel sagen, die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit,“
begeistert ihn zum Aufruf: „Verwirklichen wir seine Prophe-
zeihung! Führen wir die Franzosen zu ihrer Nationalgeschichte
als einer Quelle der Volkskunst, aber hüten wir uns, die histo-
rische Legende der andern Nationen auszuschließen. Mag es
77
unsere erste Pflicht sein, die Schätze* die wir ererbten, zur Gel-
tung zu bringen, so sollen doch die großen Taten aller Rassen
Platz in unserm The ater haben. Wie Cloots und Thomas Paine
zu Mitgliedern des Convents erhoben wurden, so seien die
Helden der Welt wie Schiller, Klopstock, Washington, Priestley,
Bentham, Pestalozzi, Kosciusko die unsem ! Erheben wir in
Paris die Epopöe des europäischen Volkes.*'
So wird dies Manifest Rollands zum ersten Appell an Europa,
das Theater weit überflutend, einsam erhoben und ungehört.
Versagt sich auch noch die Tat, das Bekenntnis ist geschaffen,
unzerstörbar und unverlierbar. Zum erstenmal spricht Johann
Christof in die Zeit.
Der Schöpfer
Die Aufgabe ist gestellt. Wer soll sie vollbringen? Romain
Rolland antwortet durch die Tat. Der heroische Mensch in
ihm scheut keine Niederlage, der jugendliche keine Schwierig-
keit. Eine Epopöe des französischen Volkes will gestaltet sein;
er zögert nicht, in das Schweigen und die Gleichgültigkeit einer
Millionenstadt hinein das Werk zu bauen. Immer ist bei ihm
der Impetus mehr ein moralischer als ein künstlerischer, immer
fühlt er die Verantwortung einer Nation in sich. Und nur ein
solch produktiver, ein heroischer Idealismus, nicht der bloß
theoretische, kann Idealismus zeugen.
Das Thema ist leicht gefunden. Rolland sucht dort die
Aufgabe, wo die Väter und Ahnen sie gefordert haben, im
größten Augenblicke des französischen Volkes: in der Re-
volution. Am 2. Floreal 1794 hatte der Wohlfahrtsausschuß
die Dichter aufgerufen, „die hauptsächlichsten Geschehnisse
der französischen Revolution zu verherrlichen, republikanische
Dramen zu verfassen, der Vergangenheit die großen Epochen
78
der französische Erneuerung zu überliefern, der Geschichte den
erhabenen Charakter zu weisen, wie er den Annalen eines
großen Volkes ziemt, das gegen den Ansturm aller Tyrannen
Europas seine Freiheit erkämpft.“ Er hatte am i. Messidor
vom jungÄi Dichter verlangt, „er möge mit kühnem Schritt
die ganze Größe der Aufgabe umfassen, die gefälligen und aus-
getretenen Wege der Mittelmäßigkeit meiden“. Die damals
jene Dekrete unterschrieben, Danton, Robespierre, Camot,
Couthon, sie sind inzwischen selbst ihrer Nation Gestalten ge-
worden, Denkmäler der Straße, Heroen und Legenden. Wo
die Nähe der dichterischen Beseelung Schranken zog, ist jetzt
Raum für die Phantasie, ist die Geschichte fern genug, um
Tragödie zu werden. Aus jenen Dokumenten geht der Ruf an
den Dichter, an den Historiker Rolland: aber er rauscht auch
wieder aus dem eigenen ererbten Blut. Ein Großvater seines
Vaters, Boniard, hatte selbst als „Apostel der Freiheit“ an den
Kämpfen teilgenommen, und sein Tagebuch schildert die Er-
stürmung der Bastille; ein anderer Verwandter wurde ein
halbes Jahrhundert später in Clamecy bei einem Aufstand
gegen den Staatsstreich durch Messerstiche getötet: der fa-
natische Revolutionär hat Ahnen in seiner Seele, ebenso wie
der religiöse Mensch. Hundert Jahre nach 1792, im Rausche
der Erinnerung, schafft er^^die großen Gestalten jener Ver-
gangenheit aus einem reinen dichterischen Enthusiasmus neu.
Noch ist das Theater nicht erstanden, dem er die „französische
Iliade“ geben will, noch vertraut ihm niemand in der Literatur,
noch fehlen die Schauspieler, die Führer, die Zuschauer. Nichts
ist lebendig von all dem, als sein Glaube und sein Wille. Und
aus dem Glauben allein beginnt er das Werk: „Le Thiatre de la
Revolution^*
79
Die Tragödie der Revolution
(1898 — 1902)
Als Dekalogie, als Folge von zehn zeitlich gebundenen Dra-
men, etwa im Sinne der shakespeareschen Königsdramen, hatte
Romain Rolland diese „Ilias des französischen Volkes*' für das
zukünftige Theater des Volkes geplant. „Ich wollte", sagte er
in der späteren Vorrede, „in der Gesamtheit dieses Werkes
gleichsam das Schauspiel einer Konvulsion der Natur geben, ein
soziales Ungewitter vom Augenblicke, wo die ersten Wogen
sich aus der Tiefe des Ozeans erheben, bis zu jenem andern, da
sie zurückzukehren scheinen und die Ruhe sich langsam wieder
über das ewige Meer breitet." Kein Beiwerk, keine anekdotisch-
spielerische Nüance sollte diesen gewaltsamen Rhythmus des
Elementaren mildem, ,, meine Hauptbemühung war, das Ge-
schehnis so weit als möglich von jeder romantischei||R[ntrige zu
reinigen, die nur belastet und verkleinert. Ich wollte vor allem
jene großen politischen und sozialen Interessen, für die eine
Menschheit seit einem Jahrhundert kämpft, beleuchten".
War der Geist Schillers in diesen Gedanken (wie. ja überhaupt
Schiller dem idealistischen Stil dieses Volkstheaters am nächsten
steht), so dachte Rolland hier an einen Don Carlos ohne Eboli-
Episoden, einen Wallenstein ohne die Thekla-Sentimentalitäten.
Nur die Größe der Geschichte wollte er einem Volke zeigen,
nicht die Anekdoten seiner Helden.
Dramatisch als Zyklus war das gigantische Werk gleichzeitig
musikalisch gedacht, als Symphonie, als eine Eroica. Ein
Präludium sollte es einleiten, ein Schäferspiel, im Stil der
Fetes Galantes. Trianon, die Sorglosigkeit des ancien regime,
gepuderte Damen mit Schönheitspflästerchen, lyrische Ka-
valiere, die tändeln und plaudern. Das Gewitter zieht heran,
sie ahnen es nicht. Noch einmal lächelt die galante Zeit, noch
80
keinmal glänzt die sterbende Sonne des großen Königs über dem
welken goldenen Laub der Gärten von Versailles.
Der ,,14 Juillet** ist dann der eigentliche Einsatz, die Fanfare.
Rasch steigt die Welle auf. „Danton** ist die entscheidende
Krise: im Siege beginnt schon die moralische Niederlage, der
Bruderkampf. Ein „Rohespierre** sollte den Abstieg einleiten,
„Le Triomphe de la Raison** zeigt die Zersetzung der Revolution
in der Provinz, „Les Loups** in den Armeen. Zwischen den he-
roischen Dramen war als Entspannung ein Liebesdrama ge-
dacht, das Schicksal Louvets, des Girondisten, der, um seine
Geliebte in Paris zu besuchen, sein Versteck in der Gascogne
verläßt und als einziger der Katastrophe seiner Freunde ent-
geht, die hin geschlachtet oder auf der Flucht von den Wölfen
zerrissen werden. Den Figuren Marats, St. Justs, Adam Lux',
die nur episodisch in den geschriebenen Dramen angedeutet
sind, war in^en andern größerer Raum zugedacht, und gewiß
hätte sich auch die Gestalt Bonapartes über die sterbende Re-
volution erhoben.
Musikalisch-lyrisch einklingend sollte dies symphonische
Werk in einem kleinen Nachspiel verklingen. Im Exil, in der
Schweiz, in der Nähe von Solothurn, finden sich die Schiff-
brüchigen Frankreichs nach dem großen Sturm zusammen,
Royalisten, Königsmörder, Girondisten, und die feindlichen
Brüder vereinigen ihre Erinnerungen, eine kleine Liebes-
episode ihrer Kinder sänftigt zur Idylle, was als Weltsturm
Europa durchschüttert. Von diesem gewaltigen Werke sind
nur Fragmente ausgestaltet, die vier Dramen ,„Le 14 Juillet**,
„Danton**, „Les Loups**, „Le Triomphe de la Raison**. Dann gab
Romain Rolland den Plan, dem das Volk wie die Literatur
und das Theater fremd geblieben war, auf. Mehr als ein Jahr-
zehnt sind diese Tragödien vergessen gewesen, und vielleicht
weckt heute die erwachende Neigung der Zeit, die in dem
6 Zweig, Romaio RolUnd
8l
propheti chen Eilde einer Welt-Konvulsion sich selbst erkennt,
in ihm die Neigung, das so groß Begonnene zu vollenden.
Der Vierzehnte Juli
In diesem zeitlich ersten der vier vollendeten Revolutions-
dramen ist die Revolution noch ganz Naturelemcnt. Nicht ein
bewußter Gedanke hat sie geformt, nicht Führer haben sie
geleitet: in einem blind treffenden Blitz aus schwüler Atmo-
sphäre löst sich plötzlich die ungeheure Spannung eines
Volkes. Er schlägt in die Bastille, und der Feuerschein
erhellt die Seele der ganzen Nation. Dieses Stück hat keine
Helden: der Held ist die Masse selbst. „Die Individuen
verschwinden im Ozean des Volkes*', sagt Rolland in der
Vorrede. ,,Um einen Sturm darzustcllcn, tut es nicht not,
jede einzelne Welle nachzuzcichncn, man muß das ent-
fesselte Meer malen. Die peinliche Genauigkeit im Detail ist
weniger wesentlich als die leidenschaftliche Wahrheit des
Ganzen . . . Der Verfasser hat hier mehr die moralische als die
anekdotische Wahrheit gesucht.“ Tatsächlich ist in dem Werke
alles Aufschwall und Bewegung, die einzelnen Figuren gleiten
wie im Kinematographen blitzartig vorüber, das Ungeheure
der Erstürmung der Bastille geschieht nicht aus einem bewußten
Akt, aus der Vernunft, sondern aus einem Rausch, einem
Taumel, einer Ekstase.
Darum ist der „Vierzehnte Juli“ kein Drama und will es
auch eigentlich gar nicht sein. Was Rolland bewußt oder un-
bewußt vorschwebte, war eines jener fHes populaires, wie sie
der Convent gefordert hatte, ein Volksfest mit Musik und
Tanz, ein Epinikion, ein Siegesspiel; und sein Werk ist auch
nicht für künstliche Kulissen gedacht, eher als Freiluft drama.
Symphonisch aufgestuft, endet es in Jubelchören, für die der
Dichter ganz bestimmte Forderungen an den Komponisten
stellt. „Die Musik muß gleichsam der Grund des Freskos sein/'
sagt er, „sie muß den heroischen Sinn dieses Festes verdeut-
lichen und Pausen decken,* wie sie eine Statistenmenge nie voll-
ständig ausfüllen kann, die trotz allen Lärmens unweiger-
lich die Illusion der Lebendigkeit zerstört. Diese Musik
müßte sich an jener Beethovens inspirieren, die, stärker als
jede andere, den Enthusiasmus der Revolution spiegelt. Vor
allem müßte sie aus einer leidenschaftlichen Gläubigkeit ent-
stehen. Keiner wird hier etwas Großes schaffen, wenn nicht
die Seele des Volkes und die brennende Leidenschaft, die sich
hier darstellt, in ihm selber lebt."
Was Rolland mit diesem Werke will, ist Ekstase. Nicht
dramatische Erregung, sondern im Gegenteil : Überwindung des
Theaters, restlose Vereinigung des Volkes mit seinem Bilde.
Wenn sich in der letzten Szene die Worte an das Publikum
wenden und die Erstürmer der Bastille die Hörer zum ewigen
Sieg über die Bedrückung zur Brüderlichkeit auf rufen, so muß
diese Idee in ihnen nicht wiederklingen, sondern aus ihrem eige-
nen Herzen brechen. Der Schrei „Tous frdres** — „Seien wir
alle Brüder", muß ein Doppelchoral werden von Sprechern und
Zuschauern, die selbst von der heiligen Welle, dem , .courant de
foV* ergriffen, mitrauschen sollen in der Flut des Jubels. Aus
eigener Vergangenheit soll der Funke überspringen in die Her-
zen von heute: der Rausch soll sic heiß machen und zum
Flammen bringen. Wohl bewußt, daß das Wort allein solche
Wirkung nicht erreicht, fordert darum Rolland als höhere
Magie die Musik, die ewige Göttin der reinen Ekstase.
Jene erträumte Menge war ihm nicht gegeben, auch der
Musiker, der annähernd seine Forderungen erfüllte, Doyen,
erst nach zwanzig Jahren. Und die Darstellung im Thcatre
Gemier am 21. März 1902 verklang als verlorener Ruf: nie ist
0*
B3
er zum Volke gedrungen, dem er so leidenschaftlich ehtgegeu^ :
gesandt war. Ohne Echo, fast ärmlich leise, ist dieser Hymnus
der Freude im Maschinengewülil der Millionenstadt verhallt,
die vergaß, daß es ihre Väter waren, die diese Taten schufen,
und daß es ein Bruder ihrer Menschlichkeit war, der sie ihnen
ins Gedächtnis rief.
Danton
(1900)
In ,, Danton** ist ein entscheidender Augenblick der Revolu-
tion gezeigt, die Wasserscheide des Aufstieges und des Nieder-
gangs, die Eklipse. Was die Masse als elementare Kraft ge-
schaffen hat, nutzen jetzt die einzelnen Menschen, die Führer,
ehrgeizig zu ihren Ideen aus. Jede geistige Bewegung und ins-
besondere jede Revolution und Reformation kennt diesen tra-
gischen Augenblick des Sieges, wo die Macht an die Menschen
fällt, das Moralisch-Einheitliche in politische Strebung zer-
splittert, die Masse, die in kurzer Aufwallung ihre Freiheit ver-
wirklicht hat, nun unbewußt den Führern dieser Freiheit, den
Einzelinteressen ihrer Demagogen wieder hörig wird. Es ist
der unvermeidliche Augenblick des äußeren Erfolges einer
jeden geistigen Bewegung, da die Edlen sich enttäuscht ab-
sondem, die Ehrgeizigen, die Rücksichtslosen trimnphieren,
und die Idealisten still abseits gehen. Rolland hat in jenen
Tagen der Dreyfus- Affäre Ähnliches im Menschlichen gespiegelt
gesehen. Wie dort in Wirklichkeit, ist er auch in der Dichtung
mit den Besiegten, mit jenen, denen die Idee alles war und der
Erfolg nichts; denn er weiß, die Kraft einer Idee ist immer in
ihrer Nichterfüllung.
Danton ist also nicht mehr das Drama der Revolution, son-
dern das der großen Revolutionäre: die mystische Macht
kristallisiert sich zu menschlichen Charakteren. Geschlossen-
heit wird Widerstreit, schon beginnt im Rausch des S'eges, in
der Schwüle des Blutdunstes der neue Kampf der Prätorianer
um das erstürmte Reich. Kampf der Ideen, Kampf der Per-
sönlichkeiten, Kampf der Temperamente, der Herkunft: seit
die dura necessitas, die Gefahr, nicht mehr die Genossen‘bindet,
erkennen sie ihre Fremdheit. Die Krise der Revolution bricht
aus, eben in der Sekunde des Triumphes. Die feindlichen
Armeen sind geschlagen, die Royalisten, die Girondisten zer-
schmettert: nun hebt sich im Convent Stirn gegen Stirn.
Prachtvoll sind die Charaktere gezeichnet. Danton, der gute
Riese, vollblütig, warm, menschlich, ein Orkan in seiner Leiden-
schaft, aber nicht kampfvwütig. Er hat die Revolution geträumt
als eine große Freude der Menschheit und sieht sie als eine neue
Tyrannei. Ihn ekelt das Blut und er verabscheut die Schläch-
terei der Guillotine wie Christus die Inquisition als Sinn seiner
Lehre verabscheut hätte. Die Menschen ekeln ihn. „Je suis
soül des hommes. Je les vomis** — „Ich bin vollgetrunken mit
Menschheit, ich speie sie aus“. Er sehnt sich nach Natur,
nach vemunftlosem, naturhaftem Leben. Seine Leidenschaft
ist mit der Gefahr zu Ende, er liebt die Frauen, das Volk, das
Glück und ist glücklich, geliebt zu sein. Die Revolution hat
er aus seinem Temperamente , geschaffen, aus menschlichem
Trieb zur Freiheit und Gerechtigkeit: atmosphärisch liebt ihn
darum das Volk, es spürt den gleichen Instinkt, der die Seinen
zur Bastille stürmen ließ, die gleiche Sorglosigkeit, den gleichen
Saft. Robespierre ist ihnen fremd, sein Stil zu kalt, zu advoka-
torisch, aber sein dogmatischer Fanatismus, sein durchaus nicht
unedler Ehrgeiz wird eine furchtbare Kraft, die nach vor-
wärts treibt, indes die heitere Lebensfreude Dantons schon
ruht. Während jener täglich mehr den Ekel vor der Politik
spürt, bohrt sich die kalte konzentrierte Leidenschaft Robes-
pieiies immer tiefer zum Zentrum der Macht: wie sein Freund,
der Fanatiker der T igend, der grausame Apostel der Gerechtig-
keit, der rön ische oder calvinistische Starrkopf St. Just, sieht
er nur mehr die Theorie, die Gesetze, die Dogmen der neuen
Religion, nicht mehr die Menschen. Er will nicht im Sinne
Dantons eine glückliche freie Menschheit, sondern eine tugend-
hafte in der Gebundenheit geistiger Ideen. Und der Zusammen-
stoß Dantons und Robespierres auf dem höchsten Gipfel des
Sieges ist im letzten der der Freiheit und des Gesetzes, des
lebendigen Lebens und des starren Begriffes. Danton stürzt ab,
er ist zu lässig, zu sorglos, zu menschlich in der Verteidigung,
aber schon spürt man : er reißt seinen Gegner nach sich in den
gleichen Abgrund.
In dieser Tragödie ist Rolland ganz Dramatiker geworden.
Der Lyrismus schmilzt ab, das Pathos zergeht im Feuer der
Geschehnisse, der Konflikt entsteht aus der Entfaltung mensch-
licher Energie, aus dem Widerstreit von Gesinnungen und Per-
sönlichkeiten. Die Masse, die im „Vierzehnten Juli“ Haupt-
person war, ist in dieser neuen Phase der Revolution wieder
zum Zuschauer degradiert. Nicht der Instinkt, der heroische
des Volkes, sondern der Geist, der herrische und ungewisse
der Intellektuellen, meistert die Stunde. Hatte Rolland im
„Vierzehnten Juli“ seiner Nation die Größe der Kraft gezeigt,
so schildert er ihr hier die Gefahr rascher Passivität, die
ewige Gefahr jedes Sieges. In diesem Sinne ist auch der „Dan-
ton“ ein Aufruf zur Tat, ein Elixier der Energie, und so hat es
auch Jaures gedeutet, der — Danton älmlich in der Wucht des
Wortes — in der im Theatre Civique am 20. Dezemt>er 1900
vom Cercle des Escholiers veranstalteten Wiederholung zu
Gunsten der Arbeiter dies Werk den Parisern in einer Rede
einleitete, die am nächsten Tage vergessen war, wie alle Ver-
suche Rollands und alle seine ersten Werke.
86
Der Triumph der Vernunft
(1899)
„Le Triomphe de la Raison“ ist nur ein Ausschnitt aus dem
gewaltigen Fresko. Aber es lebt vom zentralen Problem der
Rollandschen Geistesrichtung: hier ist zum erstenmal die
Dialektik der Niederlage voll entfaltet, jenes leidenschaftliche
Bekenntnis für die Besiegten, jene Umwertung des realen
Unterliegens im geistigen Triumph, die — aus der Kindheit
anklingend und von allen Erlebnissen Resonanz gewinnend —
den Kern seines moralischen Gefühls bildet. Die Girondisten
sind geschlagen, in einer Festung verteidigen sie sich gegen die
Sansculotten: die Royalisten, die Engländer wollen sie retten.
Ihr Ideal, die Freiheit des Geistes, des Vaterlandes, ist von der
Revolution zerstört, Franzosen sind ihre Feinde. Aber auch
die Royalisten sind ihre Feinde, die Engländer Feinde des
Vaterlandes. Das Problem des Gewissens ist mächtig gestellt:
die Idee verraten oder das Vaterland verraten. Bürger des
Geistes sein oder Bürger des Vaterlandes, sich selber treu oder
der Nation — die Entscheidung ist furchtbar. Und sie gehen
in den Tod, weil sie wissen, daß ihr Ideal unsterblich ist, daß
alle Freiheit eines Volkes nur Widerglanz jener innem Freiheit
ist, die kein Feind bezwingen kann.
Hier wird zum erstenmal die Feindschaft gegen den Sieg
proklamiert. Stolz sagt Faber: „Wir haben unseren Glauben
vor der Erniedrigung des Sieges gerettet, dessen erstes Opfer
der Sieger ist. Aus unserer Niederlage blüht er nur reifer und
heilige» auf.*' Und Lux, der deutsche Revolutionär, verkündet
das Evangelium der innem Freiheit: „Jeder Sieg ist schlecht
und jede Niederlage ist gut, sofern sie aus freiem Willen stammt,
Hugot erklärt: ,,Ich bin meinem Siege voraus, und das ist mein
Sieg.“ Die Edlen, die untergehen, wissen, daß sie einsam sind
«7
sie zählen nicht anf den Erfolg, sie verzweifeln an der Menge, sie
wissen, daß das Volk nie Freiheit im höheren Sinne verstehen
kann, daß es die Besten verkennt. „Jede Elite beunruhigt sie,
weil sie das Licht trägt. Möge das Licht sie versengen 1*' Nur
die Idee ist ihre Heimat am Ende, nur die Freiheit ihre Sphäre,
die Zukunft ihre Welt. Sie haben das Vaterland von den
Despoten gerettet, nun müssen sie es noch einmal verteidigen
gegen die Canaille, gegen die Herrsch- und Rachsucht des Pö-
bels, der die Freiheit ebensowenig achtet. Mit Absicht sind die
harten Nationalisten, die alles von einem Menschen für das
Vaterland fordern, die Überzeugung, die Freiheit, die Vernunft,
mit Absicht sind diese Monomanen des Vaterlandsgedankens in
plebejischer Gestalt in dem Sansculotten Haubourdin dar-
gestellt, der nur „Verräter" kennt oder „Patrioten", der die
Welt zerreißt in seinem Glauben und Verbrechen. Die Kraft
und diese brutale Einseitigkeit ist freilich die siegreiche; aber
sie, die ein Volk gegen eine Welt von Feinden errettet, ist gleich-
zeitig auch die Kraft, die seine feinste Blüte zerstört.
Ein Hymnus auf den freien Menschen, auf den Helden des
Gewissens (den einzigen, den Rolland als Helden anerkennt)
ist hier begonnen. Was in „Aert" thematisch angedeutet war,
beginnt sich nun geistig zu gestalten. Und Adam Lux, der
Mainzer Klubist, der in heiliger Begeisterung nach Frankreich
flieht, um hier für die Freiheit zu leben (und den die Freiheit
auf die Guillotine führt), dieser erste Blutzeuge seines Idealis-
mus, ist der erste Bote aus Johann Christofs Land. Der Kampf
des freien Menschen um sein ewiges Vaterland jenseits des
heimischen hat begonnen, jener Kampf, in dem der Besiegte
immer der Sieger und der Einsame der Stärkste ist.
88
Die Wölfe
(1898)
In „Triomphe de la Raison" war dem Menschen des Gewissens
die entscheidende Frage gestellt: das Vaterland oder die Frei-
heit, die Interessen der Nation oder die des üb^ationalen
Geistes. Die „Wölfe" sind eine Variation der Frage : sie heißt
hier „das Vaterland oder die Gerechtigkeit".
Schon im „Danton" ist das Problem angeschlagen. Robes-
pierre beschließt mit den Seinen die Hinrichtung Dantons und
fordert, daß er sofort verhaftet und verurteilt werde. St. Just,
leidenschaftlichster Feind Dantons, widerstrebt nicht der An-
klage, er fordert nur, daß sie im Rahmen des Gesetzes erfolge.
Nun weiß Robespierre, daß ein Zögern den Sieg Dantons be-
deute, er verlangt den Bruch des Gesetzes: ihm ist das Vater-
land mehr als das Gesetz. „Vaincre ä tout prixl", „Siegen um
jeden Preis!" ruft der eine; der andere: „Es ist gleichgültig, ob
ein einzelner Mensch rechtlich verurteilt wird, wenn nur das
Vaterland gerettet ist“ ; und St. Just beugt sich diesem Argu-
ment, er opfert die Ehre der Notwendigkeit, das Gesetz dem
Vaterland.
In den „Wölfen" ist nun die Kehrseite der Tragödie ge-
staltet : ein Mensch, der lieber sich opfert als das Gesetz, der des
gleichen Glaubens ist wie Faber in „Triomphe de la Raison",
„daß eine einzige Ungerechtigkeit die ganze Welt ungerecht
mache“, ein Mensch, dem es wie Hugot, dem andern Helden
des „Triomphe de la Raison", gleichgültig scheint, „ob die Ge-
rechtigkeit siegt oder besiegt wird, der nur nicht duldet, daß sie
resigniert". Teulier, der Gelehrte, weiß, daß sein Feind d'Oyron
zu Unrecht des Verrates beschuldigt ist: er verteidigt ihn, ob-
wohl er sich bewußt ist, daß er ihn nicht retten kann und nur
sich selbst zerstört, gegen den patriotischen Furor der Re-
volutionssoldateska, dem einzig der Sieg ein Argument 4st.
,,Fiat justitia, pc^eat mundus'\ den alten Wahrspruch nimmt
er mit aller Gefahr auf sich, er verleugnet lieber das Leben,
als den Geist, „Jede Seele, die einmal die Wahrheit gesehem
und sie zu leugnen versucht, mordet sich selbst.“ Aber die an-
dern sind stärker, der Erfolg der Waffen ist mit ihnen. „Möge
mein Name beschmutzt sein, wenn nur das Vaterland gerettet
ist“, antwortet ihm Quesnel. Der Patriotismus, der Massen-
glaube triumphiert über den Heroismus des Gewissens, den
Glauben an die unsichtbare Gerechtigkeit.
Diese Tragödie eines zeitlosen Konfliktes, der in Zeiten des
Krieges und der Vaterlandsgefahr jeden einzelnen Menschen
in seiner doppelten Eigenschaft als freies moralisches Wesen
und gehorsamen Staatsbürger fast notwendig befällt, war mitten
aus einem zeitlichen Erlebnis geschrieben. In den „Wölfen“
hatte Rolland die Dreyfus-Affäre meisterhaft transponiert,
in der jedem die Frage auferlegt war, was ihm wichtiger
sei, die Gerechtigkeit oder die nationale Sache. Dreyfus
der Jude ist in der Revolutionstragödie Aristokrat, Mitglied
einer beargwöhnten, gehaßten sozialen Schicht ; Teulier, der den
Kampf für ihn führt, Piquart, seine Feinde der französische
Generalstab, der lieber die einmal begangene Ungerechtigkeit
verewigen, als den Ruhm und das Vertrauen der Armee be-
schmutzen lassen will, ln ein enges, aber prachtvoll bildkräftiges
Symbol war mit dieser militärischen Tragödie das ganze Ge-
schehnis zusammengedrängt, das Frankreich vom Präsidenten-
zimmer bis in die letzte Arbeiterwohnung erregte, und der
Abend der Aufführung des Stückes im Theater de VOeuyre am
i8. Mai wurde unaufhaltsam eine politische Demonstration.
Zola, Scheurer-Kestner, Peguy, Piquart, die Verteidiger des
Unschuldigen, die Hauptakteure des weltberühmten Prozesses
waren für zwei Stunden Zuschauer der dramatischen Symboli-
qo
sietung ihres eigenen Werkes. Ganz aus der Hitze der Politik
hatte Rolland — der unter dem Namen St. Just das Schauspiel
veröffentlichte — den geistigen Gehalt, die moralische Essenz
jenes Prozesses gewonnen, der tatsächlich im höheren Sinn ein
Reinigungsprozeß der ganzen französischen Nation geworden
war. Zum erstenmal war er aus der Geschichte in die Aktualität
getreten, aber nur um — wie immer seitdem — das Ewige
aus dem Zeitlichen zu retten, die Freiheit der Gesinnung gegen
die Psychose der Masse zu verteidigen, Anwalt jenes Heroismus,
der keine andere Instanz anerkennt, weder Vaterland noch Sieg,
weder Erfolg noch Gefahr: immer nur die eine, die höchste, sein
Gewissen.
Der vergebliche Ruf
Vergebens war der Ruf nach dem Volke geblieben. Ver-
gebens das Werk. Keines der Dramen erkämpft sich mehr als
einige Abende, die meisten sind schon am nächsten Morgen be-
graben von der Feindseligkeit der Kritik, der Gleichgültigkeit
der Menge. Vergebens auch der Kampf der Freunde um das
y^Theatre du peuple*\ Das Ministerium, an das sie verhängnis-
vollerweise zur Schaffung einer Pariser Volksbühne appelliert
haben, läßt die leidenschaftliche Bemühung verknöchern, Herr
Adrin Bernheim wird auf eine Informationsreise nach Berlin
gesandt, er referiert, man referiert weiter, man berät, man
deliberiert, schließlich erstickt der schöne Versuch irgendwo
in den Akten. Auf den Boulevards triumphieren weiter Rostand
und Bernstein, das Volk drängt in die Kinos, der große Aufruf
zum Idealismus verhallt ungehört.
Wem nun das gewaltige Werk vollenden, welcher Nation,
wenn die eigene schweigt? Das „Theatre de la Revolution**
bleibt Torso. Ein ,,Robespierre‘*, das geistige Gegenstück zum
.01
„Danton'*, in breiten Zügen schon gestaltet, formt sich nicht
zu Ende, die anderiJ Segmente des großen Schaffenskreises
sinken in sich zusammen. Stöße von Studien, Notizen, ver-
streute Blätter, beschriebene Hefte, papiemer Schutt sind die
Trümmer eines Baues, der das französische Volk in einem
Pantheon des Geistes zu heroischer Erhebung versammeln, ein
wahrhaft französisches Theater schaffen wollte. Rolland mag
in solcher Stunde gefühlt haben wie Goethe, da er in wehmütiger
Rückerinnerung seiner dramatischen Träume zu Eckermann
sagt: „Ich hatte wirklich einmal den Wahn, als sei es möglich,
ein deutsches Theater zu bilden, ja, ich hatte den Wahn, als
könne ich selbst dazu beitragen und als könne ich zu einem
solchen Bau einige Grundstücke legen . . . Allein es regte sich
nicht und rührte sich nicht und blieb alles wie zuvor. Hätte
ich Wirkung gemacht und Beifall gefunden, so würde ich ein
ganzes Dutzend Stücke wie die Iphigenie und den Tasso ge-
schrieben haben. An Stoff war kein Mangel. Allein, wie ge-
sagt, es fehlten die Schauspieler, um dergleichen mit Geist und
Leben darzustellen, und es fehlte das Publikum, dergleichen
mit Empfindung zu hören imd aufzunehmen.“
Der Ruf ist verklungen. „Es regte sich nicht und rührte
sich nicht und alles blieb wie ziivor.“ Aber auch Rolland bleibt
derselbe, der ewige Beginner von Werk zu Werk, über das Hin-
gesunkene ohne Klage aufsteigend, neuerem und höherem Ziel
entgegen, um im Sinne von Rilkes schönem Wort „der Be-
siegte von immer Größerem zu sein“.
Die Zeit wird kommen
(1902)
Nur einmal noch verlockt (ein wenig geglücktes Werk dieser .
Jahre „La Montespan** fügt sich nicht in die Reihe seiner
92
großen Bemühung) die Zeit Romain Rolland zu dramatischer
Auseinandersetzung. Noch einmal wie im Dreyfusprbzeß sucht
er politischem Geschehnis die moralische Essenz zu entpressen,
ein Erlebnis der Zeit in einen Konflikt des Gewissens zu er-
heben. Der Burenkrieg ist nur sein Vorwand, wie die Revolu-
tion für seine Dramen nur ein seelischer Schauplatz war: in
Wahrheit spielt diese Tragödie vor ewiger Instanz, der einzigen,
die Rolland anerkennt, dem Gewissen. Dem Ge\Ässen des
Einzelnen und der Welt.
„Le temps viendra** ist die dritte, die eindringlichste Variation
des früh schon angeschlagenen Zwiespalts von Überzeugung und
Pflicht, Staatsbürgertum und Menschlichkeit, des nationalen
und des freien Menschen. Ein Kriegsdrama des Gewisse» im
Kriege der andern. Im „Triomphe de la Raison** hieß die Frage,
„die Freiheit oder das Vaterland*', in „L^s Loups** ,,die Gerech-
tigkeit oder das Vaterland". Hier ist sie nun im höchsten Sinne
gestellt, ,,das Gewissen, die ewige Wahrheit oder das Vater-
land". Die Hauptgestalt (nicht der Held) ist Clifford, der
Führer der Invasionsarmee. Er führt Krieg, einen ungerechten
Krieg (welcher Krieg ist gerecht?), aber er führt ihn mit seinem
strategischen Wissen, nicht, mit seinem Herzen. Wem be-
wußt wurde, „wieviel Abgelebtes schon im Kriege ist", der
weiß, daß man Krieg nicht wahrhaft führen kann ohne Haß,
und ist schon zu reif, um hassen zu können. Er weiß, man
kann nicht kämpfen ohne Lüge, nicht töten ohne die Mensch-
lichkeit zu verletzen, kein militärisches Recht schaffen, wo
das Ziel ein Unrecht ist. Ein eherner Kreis des Widerspruchs
kettet ihn ein. „Obeir ä ma patrie} Obeir ä ma conscienceV* —
„Soll ich meinem Vaterland gehorchen oder meinem Gewissen ?"
Man kann nicht siegen, ohne Unrecht zu tun imd darf nicht
Feldherr sein ohne den Willen zum Sieg. Er muß ihr dienen
und verachtet sie, die Gewalt, die seine Pflicht ist. Er kann
93
nicht Mensch bleiben ohne zu denken und kann nicht Soldat
bleiben mit seiner Menschlichkeit. Vergeblich sucht er Milde-
rungen im Brutalen seiner Aufgabe, vergeblich Güte inmitten
der Blutbefehle und weiß doch selbst, „es gibt Abstufungen
im Verbrechen, aber es bleibt ein Verbrechen**. Rings um
diesen tragisch leidenden Menschen, der schließlich nicht sich,
sondern den das Schicksal bezwingt, sind die andern
Figuren in pathetischer Klarheit gestellt, der Zyniker, der
nur den nackten Vorteil des Landes sucht, der passionierte
militärische Sportsman, die dumpfen Gehorcher, der senti-
mentale Ästhet, der die Augen für alles Peinliche zudrückt
und die Tragödie der andern als Schauspiel erlebt: und
hinter ihnen allen der Geist der Lüge unserer Menschheit,
die Zivilisation, das geschickte Wort, das jedes Verbrechen ent-
schuldigt und seine Fabriken über Gräber baut. Ihr gilt die
Anklage, die auf dem ersten Blatte steht und das Politische ins
Allmenschliche erhebt: ,, Dieses Drama verurteilt nicht eine
einzelne Nation, sondern Europa."
Der wahre Held dieses Dramas aber ist nicht der Sieger von
Südafrika, der General Clifford, sondern der freie Mensch, der
italienische Freiwillige, ein Weltbürger, der in den Kampf ge-
zogen war, um die Freiheit zu verteidigen, und der schottische
Bauer, der das Gewehr weglegt und sagt: „Ich töte nicht mehr."
Die beiden, die kein anderes Vaterland haben als das Gewissen,
keine andere Heimat als ihr Mensch tum. Die kein Schicksal
anerkennen als jenes, das der freie Mensch sich schafft. Mit
ihnen, den Besiegten, ist Rolland (immer ist er bei den freiwillig
Besiegten), und aus seiner Seele bricht der Schrei: „Ma patrie
est partout ou la lihert'e est menacie/' „Meine Heimat ist überall,
wo die Freiheit bedroht ist." Aert, der heilige Ludwig, Hugot,
die Girondisten, Teulier, der Märtyrer der „Wölfe", sie sind
alle Brüder seiner Seele, Kinder seines Glaubens, daß der Ein-
94
zelne in seinem Willen immer stärker ist als die 55eit. Und im-
mer höher und immer freier schwingt dieser Glaube sich auf. In
den früheren Dramen sprach er noch zu Frankreich, dies letzte
Schauspiel ist schon Aufschwung, sein Bekenntnis zum Welt-
bürgertum.
Der Dramatiker
Die unleugbare und schon historische Tatsache, daß hier
ein dramatisches Schaffen, äußerlich so umfangreich wie das
Shakespeares, Schillers oder Hebbels, ein Werk von stellenweise
hinreißender bühnenmäßiger Kraft (wie es die Aufführungen
Rollaiidscher Dramen in Deutschland jetzt erwiesen haben)
durch zwanzig Jahre völlig erfolglos und sogar unbemerkt
blieb, deutet auf tiefere als bloß zufällige Ursachen. Zwischen
einem Werk und seiner Wirkung waltet immer die geheimnis-
volle Atmosphäre des Zeitlichen, bald mit gesteigerter Ge-
schwindigkeit das Schicksal des Werkes hinreißend, daß es
wie ein Funke ins Pulverfaß gehäufte Empfindung aufsprengt,
bald mit vielfältigem Hemmnis den Fortlauf verhindernd: nie
spiegelt darum ein Werk allein eine Epoche, sondern einzig das
Werk in Gemeinsamkeit mit seiner Wirkung.
Irgend etwas im tiefsten Wesen der Stücke Romain Rollands
muß also der Epoche widerstrebt haben, und tatsächlich sind
seine Stücke in einem bewußten und fast feindseligen Gegensatz
zur herrschenden literarischen Mode entstanden. Der Na-
turalismus, die Darstellung der Wirklichkeit, beherrscht die
2^it und bedrückt sie zugleich, denn er führt bewußt zurück
in das Enge, das Kleine, das Alltägliche des Lebens. Rolland
aber will das Große, die Dynamik der ewigen Ideen hoch über
den schwankenden Tatsachen, erbegehrt Aufschwung, beflügelte
Freiheit des Gefühls, aufspringende Energie, er ist Romantiker
95
und Idealist: nicht die Mächte des Lebens, die Armut, die Ge-
walt, die Leidenschaft, scheinen ihm das Darstellungswürdige,
sondern immer der Geist, der sie überwindet, die Idee, die den
Tag mit Ewigkeit überhöht. Suchen die andern das Tägliche
mit der äußersten Wahrhaftigkeit darzustellen, so er das
Seltene, das Sublime, das Heroische, das Kom Ewigkeit, das
aus den Himmeln in die irdische Saat fällt. Ihn lockt nicht das
Leben wie es ist, sondern das Leben, wie der Geist und der Wille
es sich aus ihrer Freiheit selbst gestalten.
Nie hat Rolland verschwiegen, wer im letzten Sinn Pate
dieser seiner Tragödien gewesen ist. Shakespeare war nur der
feurige Dornbusch, die erste Botschaft, er war der Befeuernde,
der Anreizende, der Unerreichbare: ihm dankt er bloß den
Elan, die Glut, stellenweise auch die dialektische Kraft. Aber
für die geistige Form bleibt er einem andern Meister verbunden,
der als Dramatiker noch heute ein fast Unbekannter ist, Ernest
Renan, dem Dichter der ,,Drames fhüosophiques**, von denen
besonders die ,,Ahesse de Jouarre** und ,,Le Pretre de Naemi**
auf den jungen Dichter entscheidende Wirkung geübt haben.
Die Art, geistige Probleme statt im Aufsatz oder in der platoni-
schen Form des Dialogs lieber in dramatischer Transkription aus-
zuarbeiten, die tief innen ruhende Gerechtigkeit und gleich-
zeitig die immer hoch den Konflikt überschwebende Klarheit,
das ist Erbe Renans (der noch den jungen Studenten gütig
und belehrend empfing). Nur ist der ein wenig ironischen und
selbst maliziösen Skepsis des großen Weisen, für dessen über-
legenes Gefühl alles Tun der Menschen ein ewig erneuerter
Wahn blieb, ein ganz neues Element beigemengt, die Feurigkeit
eines noch ungebrochenen Idealismus. Seltsames Widerspiel:
der Gläubigste aller borgt vom Meister des vorsichtigen Zwei-
fels die künstlerische Form. Und sofort wird, was bei Renan
retardierend, äbspannend wirkte, tatkräftig und begeisternd:
96
während jene/ die Legenden entblättert, selbst die heiligsten,
um einer weisen, aber auch lauen Wahrheit willen, sucht Rol-
land durch sein revolutionäres Temperament eine neue Legende
zu schaffen, ein anderes Heldentum, ein neues Pathos des
Gewissens.
Dieses ideologische Gerüst ist in allen Dramen Hollands
immer unverkennbar geblieben: keine Bewegtheit des Szeni-
schen, keine Farbigkeit des kulturellen Bildes kann darüber
hinwegtäuschen, daß nicht vom Gefühle aus und nicht vom
Menschen, sondern vom Geiste und von Ideen aus hier eine
Problematik der Geschehnisse in Bewegung gesetzt wird, ja
selbst die historischen Figuren, wie Robespierre, Danton,
St. Just, Desmoulins, sind mehr Formulierungen als Charaktere.
Aber dennoch ist es nicht die Art des Dramatischen, sondern
die Art seiner Probleme, die solange seine Bühnenwerke der
Zeit entfremdet hat. Auch Ibsen (der damals die Weltbühne
erobert) ist ein Theoretiker und sogar viel mehr, unendlich viel
mehr Kalkulator und Mathematiker; er und ebenso Strindberg
wollen nicht nur Gleichungen der elementaren Kräfte aufstellen,
sondern ihre Formulierungen noch beweisen. Sie gehen weit hinaus
in ihrer Vergeistigung über Rolland, indem sie Ideen bewußt
propagieren wollen, indes Rolland sie nur in der Fülle ihres
Widerspruchs sich entfalten läßt: Jene wollen zu sich über-
zeugen, Rolland nur durch die jeder Idee innewohnende
vSchwungkraft die Menschen erheben; jene zielen auf bestimmte
Wirkung der Bühne, Rolland auf eine allgemeine: auf Enthu-
siasmus. Für Ibsen ebenso wie für die französische Dramatik
bleibt im Sinne bürgerlicher Welt der Konflikt zwischen Mann
und Frau noch immer der Drehpunkt, für Strindberg der Mythos
der Polarität im Geschlecht; die Lüge, gegen die sie kämpfen,
ist eine konventionelle, eine Gesellschaftslüge. Deshalb auch
das Interesse, das unser Theater — als geistige Arena der bürger-
7 Zweig, Romain Rolland
97
liehen Sphäre — selbst der mathematischen Nüchternheit
Ibsens, der grausaiaen Analytik Strindbergs und wie erst den
zahllosen Explosionstechnikem entgegenbrachte: denn dies
Theater war immer noch Welt von ihrer Welt.
Die Problematik der Stücke Rollands war aber von allem
Anfang an verurteilt, bei einem bürgerlichen Publikum Gleich-
gültigkeit zu finden, weil sie eine politische, eine ideelle, eine
heroische, eine revolutionäre Problematik war. Sein über-
strömendes Gefühl überflutet die kleinen Spannungen des
Geschlechts; das Theater Romain Rollands ist — und das
bleibt immer tödlich bei modernem Publikum — ein un-
erotisches. Er prägt einen neuen Typus, das politische Drama
im Sinne jenes Wortes Napoleons zu Goethe in Erfurt, da er ihm
sagte: „La politique, voilä la fataliti moderne*' — „Die Politik,
das ist unser Schicksal von heute.'" Der Tragiker stellt den Men-
schen immer gegen Mächte und läßt ihn groß werden durch
seinen Widerstand. Dem antiken Drama offenbarten sich diese
Mächte noch als Mythen; Zorn der Götter, Mißgunst der
Dämonen, finstere Orakelsprüche. Gegen sie hob Oedipus das
geblendete Haupt, Prometheus die angeschmiedete Faust,
Philoktet die fiebernde Brust. Dem modernen Menschen ist
die unentrinnbare Macht der Staat, die Politik, das Massen-
schicksal, gegen das der einzelne mit gespreizten Händen wehr-
los steht, die großen geistigen Gewitterstürze, die „courants de
foi*\ die das Leben des Individuums mitleidslos fortreißen.
Ebenso gewalttätig und unerbittlich spielt das Weltgeschick
mit unserer Existenz; der Krieg ist stärkstes Symbol solcher
Suggestivkraft der menschlich-seelischen Materie über den
Einzelnen, und darum spielen alle Dramen Rollands im Kriege.
Aber die Griechen erkannten die Götter immer erst in ihrem
Zorn, und imsere finstere Gottheit Vaterland, blutdürstig wie
jene, wir erkennen, wir fühlen sie erst im Kriege. Ohne Schick-
sal denkt der Mensch selten an die Mächte, er vergißt und ver-
achtet sie erst, die dunkel harren, um jählings ihre Kraft an
uns zu proben. Darum waren einer lauen, einer friedlichen Zeit
solche Tragödien fremd, die prophetisch ahnend im Spiel schon
geistige Kräfte gegeneinander stellten, die zwei Jahrzehnte
später erst in der blutigen Arena Europas aufeinanderprallen.
Man bedenke, man erinnere sich: was konnten einem Boulevard-
publikum von Paris, gewohnt an Ehebruchsgeometrie, jene
Fragen sein, ob es wesentlich sei, dem Vaterland zu dienen
oder der Gerechtigkeit, ob man im Kriege dem Gewissen ge-
horchen müsse oder dem Befehl ? Gedankenspiele eines Müßigen
bestenfalls, abseits von der Wirklichkeit, „Hekubas Schicksal",
indes es doch Kassandras Wamungsruf war. Rollands Dramen
sind — das ist ihre Tragik und ihre Größe — dem Erlebnis
um eine Generation voraus: für keine aber scheinen sie mehr
geschrieben als für die unsere, der sie das Geistige der politi-
schen Begebenheiten in großen Symbolen zu deuten vermögen.
Der Aufstieg einer Revolution, das Zerprasseln ihrer geballten
Kraft in einzelne Gestalten, die Peripetie von Leidenschaft
zur Brutalität und ins,, selbstmörderische Chaos, wie bei
Kerenski, Lenin, Liebknecht, ist das nicht a priori in
seinen Stücken gestaltet, und die Beklemmimgen Aerts, die
Konflikte der Girondisten, die auch gegen zwei Fronten
standen, haben wir sie seitdem nicht alle mit dem letzten
Nerv unseres Wesens erlebt? Welche Frage war uns seit
1914 wichtiger als der Konflikt der weltbürgerlichen freien
Menschen mit dem Massenwahn seiner Heimatsbrüder, und wo
war irgendwo im Umkreis der letzten Jahrzelinte ein dramati-
sches Werk, das sie so menschlich vor unserm beunruhigten
Bewußtsein auftat als diese verschollenen Tragödien, die zuerst
im--Dunkel der Unberühmtheit lagen und dann verschattet
vom Ruhm ihres nachgeborenen Bruders Johann Christof?
7*
99
Dies scheinbar abseitige dramatische Werk zielte noch aus
Friedensstunde zum Zentrum unserer zukünftigen noch un-
gestalteten Bewußtseinssphäre. Und der Stein, den die Bau-
leute der Bühne damals achtlos verworfen haben, ist vielleicht
das Fundament eines zukünftigen, großgesinnten, zeitgenössi-
schen und doch heroischen Theaters, jenes Theaters des freien
europäischen Brudervolkes, dem es aus schaffender Seele
eines Unbekannten früh und einsam entgegengeträumt war.
100
Die heroischen Biographien
f, Durch die Beschäftigung mit ge-
schicktlichen Untersuchungen nehmen
wir nur das Andenken der besten und
anerkanntesten Charaktere in unsere
Seele auf, und dies befähigt uns, alles
Schlechte, Unsittliche und Gemeine, das
uns der unumgängliche Verkehr mit
unserer UmweU entgegenstellt, aufs ent-
schiedenste abzuweisen und nur den
Vorbildern die versöhnte und befriedete
Welt unserer Gedanken entgegenzu-
kehren,**
Plutarch, Vergleichende Lebensbe-
schreibungen, Vorrede zum Timoleou
Ex profundis
Die Begeisterung als höchste Macht des Einzelnen, als schöp-
ferische Seele eines jeden Volkes hatte der Zwanzigjährige,
der Dreißigjährige in seinen ersten Werken feiern wollen;
denn für Rolland ist nur jener ein wahrhaft Lebendiger, der in
Ideen flammt, eine Nation nur beseelt, Wfenn sie sich zusammen-
schließt in einem glühenden Augenblick des Glaubens. Und zu
diesem Glauben seine müde, besiegte, willenskranke Zeit auf-
zureißen, war der gestaltende Traum seiner Jugend. Der
Zwanzigjälirige, der Dreißigjährige will durch Begeisterung die
Welt erlösen.
Vergeblicher Wille, vergebliche Tat. Zehn Jahre, fünfzehn
Jahre — o wie leicht nmdet die Lippe die Zahl, wie schwer
erträgt sie das Herz ! — sind nutzlos vertan. In Enttäuschung
versickern die heißen Wellen seiner Leidenschaft. Das „Theatre
du feuple** stürzt ein, der Dreyfusprozeß verschlammt in
Politik, die Dramen verprassein als Papier, „nichts rührte sich,
nichts regte sich,*' die Freunde verlaufen sich, und indes seine
Altersgenossen schon Ruhm umglänzt, bleibt Rolland noch
immer der Anfänger, der Beginner, ja, fast möchte man sagen,
er wird um so vergessener, je mehr er schafft. Nichts ist ver-
wirklicht von seinen Zielen, lau und schläfrig rollt das öffent-
liche Leben weiter. Die Welt will Vorteil und Gewinn, statt
eines Glaubens imd geistiger Gewalt.
Auch innen stürzt sein Leben. Eine Ehe, rein und gläubig
begonnen, zerbricht: Rolland .erlebt in jenen Jahren eine
Tragödie, deren Grausamkeit sein Werk (das einzig der Er-
hebung gilt) für immer verschweigt. Im tiefsten verwimdet.
schiffbrüchig in allen Versuchen, zieht sich der Dreißigjährige
ganz in die Einsamkeit zurück. Sein kleines mönchisches Zim-
mer ist nun seine Weit, die Arbeit seine Tröstung. Und einsam
103
kämpft er jetzt deu Kampf um den Glauben seiner Jugend, aucb
als der Zurückgestjßene unentwegt der Helfende und allem
Verbundene.
In dieser seiner Einsamkeit durchblättert er die Bücher der
Zeiten. Und da der Mensch in allen Stimmen zutiefst immer
seine eigene hört, findet er überall nur Schmerz. Überall nur
Einsamkeit. Er durchforscht das Leben der Künstler und sieht,
„je mehr man eindringt in die Existenzen der großen Schaffen-
den, um so mehr wird man betroffen von der Fülle des Unglücks,
das ihr Leben umschließt. Nicht nur daß sie den gewöhnlichen
Prüfungen und Enttäuschungen unterworfen waren, die ihre
erhöhte Empfindlichkeit viel härter treffen mußten, ihr Genie,
das ihnen vor ihren Zeitgenossen einen Vorsprung von zwanzig,
fünfzig, ja oft mehreren hundert Jahren und damit eine Wüste
um sie schuf, verurteilte sie zu verzweifelten Anstrengungen,
wobei sie kaum leben, geschweige denn siegen konnten.'*
Also auch die Gewaltigen der Menschheit, zu denen die Nach-
welt mit Ehrfurcht aufblickt, sie, die ewige Tröster fremder
Einsamkeit waren, ,,pauvres vaincus, les vainqueurs du monde'\
auch sie, „die Sieger der Welt, arme Besiegte**. Eine xmend-
liehe Kette alltäglicher, sinnloser Qualen bindet durch die Jahr-
hunderte ihre Schicksale zu tragischer Einheit, nie sind, wie
schon Tolstoi in jenem Briefe ihm zeigte, „die wahren Künstler
zufriedene satte Genießer*', sondern jeder ein Lazarus, leidend
an ariderem Gebrest. Je mehr Größe in den Gestalten, um so
mehr Schmerz. Und wiederum; je mehr Schmerz um so mehr
Größe in ilmen.
Und da erkennt Rolland: es gibt noch eine andere Größe,
eine tiefere, als jene der Tat, die er immer im Werke erhoben:
die Größe des Leidens. Undenkbar ein Rolland, der einer Er-
kenntnis und selbst der schmerzlichsten, nicht einen neuen
Glauben entwindet und aus Enttäuschung Begeisterung er-
104
weckt. Als Leidender grüßt er alle Leidenden der Erde, statt
der Gemeinschaft der Begeisterung will er nun eine Brüder-
schaft aller Einsamen dieser Erde errichten, indem er ihnen
den Sinn und die Größe alles Leidens zeigt. Auch hier, in
dieser neuen Sphäre, der tiefsten des Schicksals, Sucht er
Bindung durch großes Beispiel. .,Das Leben ist hart, ist ein
täglicher Kampf für all jene, die sich nicht mit der Mittelmäßig-
keit im Seelischen abfinden können, ein meist trauriger Kampf
ohne Größe, ohne Glück, gekämpft in Einsamkeit und Schwei-
gen. Bedrückt durch die Armut, die bitteren häuslichen Sorgen,
durch zermalmende und sonnenlose Aufgaben, in denen man
zwecklos seine Kräfte vergeudet, freudlos, hoffnungslos sind
die meisten voneinander getrennt und haben nicht einmal den
Trost, ihren Brüdern im Unglück die Hand reichen zu können.**
Diese Brücke von Menschen zu Menschen, von Leid zu Leid
will Rolland nun erbauen, will den Namenlosen jene zeigen, in
denen der persönliche Schmerz Gewinn ward für die Millionen
nach ihm und — um mit Carlyle zu sprechen — „die göttliche
Verwandtschaft sichtbar machen, die zu allen Zeiten einen großen
Mann mit den andern Menschen verbindet.'* Die Millionen
Einsamkeiten haben eine Gemeinsamkeit : die großen Mär-
tyrer des Leidens, die auf der Folterbank des Schicksals
doch den Glauben an das Leben nie abschworen, die eben durch
ihr Leiden das Leben für alle bezeugten. „Sie sollen nicht all-
zusehr klagen, die unglücklich sind,** hebt er seinen Hymnus an,
„denn die Besten der Menschheit sind mit ihnen ! Erstarken wir
an ihrer Kraft und fühlen wir Schwäche, so ruhen wir an ihren
Knien. Sie werden uns trösten. Von diesen Seelen strömt ein hei-
liger Sturz ernster Kraft und machtvoller Güte. Ohne daß wir ihre
Werke befragen müßten und ihre Stimme hören, aus ihren Blicken,
aus ihrer Existenz wüßten wir schon, daß das Leben nie größer,
nie fruchtbarer ist — nie glücklicher — als im Schmerz.**
105
Und so schreibt Rolland, sich selbst zur Erhebung, den un-
bekannten Brüdern im Leiden zur Tröstung, die „heroischen
Biographien“.
Die Heldehr dfö-^eidens
Wie seine Revolutionsdramen, eröffnet Rolland auch den
neuen Scbaffenskreis mit einem Manifest, einem neuen Aufruf
zur Größe. Sein „Beethoven“ trägt das Vorwort wie eine
Fahne voraus. „Die Luft ist drückend um uns. Das alte
Europa erstickt in einer schwülen und unreinen Atmosphäre.
Ein Materialismus ohne Größe drückt auf die Gedanken . . .
die Welt siecht hin in ihrem klugen und feilen Egoismus. Die
Welt erstickt, öffnen wir die Fenster! Lassen wir die freie
Luft ein. Atmen wir die Seele der Helden.“
Wen nennt Rolland nun einen Helden? Nicht mehr jene, die
Massen führen und aufrühren, Kriege siegreich beenden, Re-
volutionen entzünden, nicht mehr die Männer der Tat und des
todzeugenden Gedankens. Er hat die Nichtigkeit aller Gemein-
samkeit erkannt, hat unbewußt in seinen Dramen die Tragödie
der Idee dargestellt, die nicht verteilt werden kann unter dife
Menschen wie Brot, sondern die sich in Hirn und Blut jedes
Einzelnen sofort zu anderer Form, oft zu ihrem Widerspiel
verwandelt. Walire Größe ist für ihn nur Einsamkeit, der
Kampf des Einzelnen mit dem Unsichtbaren. „Nicht jene nenne
ich Helden, die durch Ideen oder durch Macht triumphiert
haben. Helden nenne ich nur jene, die groß waren durch ihr
Herz. Wie einer von den Größten (Tolstoi) gesagt hat: ich
erkenne kein anderes Zeichen der Überlegenheit als die Güte.
Wo der Charakter nicht groß ist, gibt es keinen großen Men-
schen, weder einen großen Künstler, noch einen großen Mann
der Tat, es gibt nur Götzen für die Menge, hinstürzend mit der
I06
Zeit ... Es handelt sich nicht daruiri, groß zn scheinen, sondern
es za sein."
Held also ist, der nicht um das Einzelne des Lebens kämpft, um
einen Erfolg, sondern um das Ganze, um das Leben selbst. Wer
dem Kampf ausweicht aus Furcht vor der Einsamkeit, ist ein Un-
terliegender ; wer dem Leiden ausweicht und sich mit künstlicher
Verschönerung über die Tragik alles Irdischen hinwegtäuschen
will, ein Lügner. Nur der Wahrhaftige kennt das wahre
Heldentum. „Ich hasse", ruft er ingrimmig aus, „den feigen
Idealismus, der die Augen abwendet von den Traurigkeiten des
Lebens und den Schwächen der Seele. Gerade einem Volke,
das für die trügerischen Illusionen klingender Worte allzu
empfänglich ist, muß man es laut sagen : die heroische Lüge ist
eine Feigheit. Es gibt nur einen Heroismus auf Erden und der
besteht darin, das Leben zu erkennen — und es dennoch zu
lieben."
Das Leiden ist nicht das Ziel des großen Menschen. Aber
es ist seine Probe, der notwendige Filter aller Reinheit, „das
schnellste Tier, das zur Vollkommenheit trägt," wie Meister
Eckehart sagt. So wie die Kunst des Leidens Prüfstein ist — „erst
im Leiden erkennt man die Kunst wie alles andere recht, erst
da wird man jener gewahr, die Jahrhunderte überdauern und
stärker als der Tod sind" — so wird dem Großen das Erleiden
des Lebens zur Erkenntnis, die Erkenntnis wieder gestaltet
sich zu liebesfähiger Kraft. Aber nicht das Leiden selbst
schafft schon die Größe: erst die große, die bejahende Über-
windung des Leidens. Wer unter der Not des Irdischen zu-
sammenbricht, und noch mehr jener, der ihr ausweicht, bleibt
der unfehlbar Besiegte, und in seine medelsten Kimstwerk wird
der Sprung bei diesem Sturze sichtbar werden : nur wer aus der
Tiefe aufsteigt, bringt Botschaft in die Höhen des Geistes,
nur durch die Purgatorien des Lebens geht der Weg in die
Paradiese. Diesen Weg muß jeder allein finden, aber wer ihn
aufrecht schreitet, ist ein Führer und hebt die andern in seine
Welt. „Die großen Seelen sind wie die hohen Gipfel. Der
Sturm peitscht sie, Wolken hüllen sie ein; aber man atmet dort
stärker als sonstwo. Die Luft hat dort eine Reinheit, die das
Herz von seinen Flecken reinigt ; und wenn die Wolken weichen,
beherrscht man das Menschengeschlecht."
Diesen hohen Blick nach oben will Rolland die Leidenden
lehren, die noch im Dunkel ihrer Qual sind. Er will ihnen die
Höhe zeigen, wo das Leiden elementar und das Ringen heroisch
wird. ,,Sursum corda”, ,, Empor die Herzen", hebt der Hymnus
an und endet vor den erhabenen Bildern des gestaltenden
Schmerzes als des Lebens Lobgesang.
Beethoven
Beethoven, der Meister der Meister, ist die erste Figur in
dem Heroenfries des unsichtbaren Tempels. Von frühester
Stunde, seitdem die geliebte Mutter ihn die Finger im Zauber-
wald der Tasten wandern lehrte, war Beethoven Romain
Rollands Meister gewesen, Mahner und Tröster zugleich. Und
nie ist er ihm, so sehr sich seine Neigung über manche Liebe der
Kindheit erhob, fremd geworden: ,,in den Krisen des Zweifels
und der Zemichtung, die ich als Jüngling durchmachte, hat
eine Melodie von Beethoven — die ich noch gut weiß — in mir
den Funken des ewigen Lebens wieder erweckt". Allmälilich er-
wacht in dem ehrfürchtigen Schüler die Neigung, den Göttlichen
auch in seiner irdischen Existenz zu kennen; Rolland reist nach
Wien, sieht dort in dem Schwarzspanierhause (dem seither
demolierten) die Stube, wo im Gewitter der Gewaltige hin-
gegangen, er reist nach Mainz zum Beethovenfestspiel (1901)
und tritt in Bonn in die niedere Dachkammer, die den Erlöser
108
der Sprache über den Sprachen gebar; erschüttert empfindet
er da und dort, aus welcher Enge der äußeren Existenz sich hier
das Ewige entrungen. In Briefen und Dokumenten tut sich
die grausame Geschichte des Alltags auf, aus dem der große
Ertaubte in die Musik der inneren, der unendlichen Sphäre ge-
flüchtet: schauernd begreift er die Größe des „tragischen
Dionysos" in unserer nüchternen, harten, eckigen Welt.
Über jenen Beethoventag in Bonn schreibt Rolland einen
Aufsatz für die „Revue de Paris'* — „Les fetes de Beethoven".
Aber er spürt, wie seine eigene Begeisterung den Anlaß zer-
sprengt, sie will frei fluten als Hymnus, nicht sich eindämmen
lassen durch kritische Betrachtung. Nicht den Musikern noch
einmal den Musiker erklären, sondern den heroischen Menschen
der ganzen Menschheit — das scheint ihm notwendig. Beet-
hoven den Helden zu zeigen, der an das Ende eines unend-
lichen Leidens den höchsten Hymnus der Menschheit stellt,
das gottselige Jauchzen der neunten Symphonie.
„Teurer Beethoven", so hebt der Begeisterte an. „Genug . . .
andere haben seine Künstlergröße schon gepriesen, aber er ist
viel mehr als der erste aller Musiker. Er ist die heroischeste Kraft
der modernen Kunst, der größte und beste Freund all jener, die
leiden und kämpfen. Wenn wir traurig sind über das Leiden
der Welt, ist er es, der zu uns kommt, gleichsam als setzte er
sich an das Klavier einer trauernden Mutter und tröstete die
Weinende wortlos im Liede der entsagenden Klage. Und wenn
wir müde werden des ewigen nutzlosen Kampfes gegen das
Mittelmaß in Laster und Tugend, welche unsagbare Wohltat
ist es dann, sich in diesem Ozean des Willens und der Gläubig-
keit wieder rein zu baden. Eine Übertragung von Lebensmut,
ein Glück des Kampfes geht von ihm aus, die Trunkenheit eines
Gewissens, das in sich selbst den Gott fühlt. Welcher Sieg ist
diesem gleich, welche Schlacht Bonapartes, welche Sonne von
109
Austerlitz können >ich mit dem Ruhm dieser übermenschlichen
Anstrengung, diesem leuchtendsten Triumph des Geistes auf
Erden messen, den ein Unglücklicher, ein Armer, ein Kranker,
ein Einsamer, der Mensch gewordene Schmerz, dem das Leben
die Freude verweigert, selbst als Freude erschafft, um sie der
Welt zu geben. Er hämmert sie aus seinem Unglück, wie er
selbst sagte in seinem stolzen Wort, das sein Ixben zusam-
menschließt und die Devise jeder heroischen Seele ist: Durch
Leiden Freude.**
So spricht Rolland zu den Unbekannten. Und am Ende
läßt er den Meister selbst aus seinem Leben sprechen : er schlägt
das Heiligenstädter Testament auf, wo der Schamvolle einer
späteren Welt anvertraut, was er der gegenwärtigen zu ver-
schweigen bemüht war, seinen tiefsten Schmerz. Er offenbart
das Glaubensbekenntnis des erhabenen Glaubenslosen, er zeigt
in Briefen die Güte, die sich hinter einer künstlichen Rauheit
vergebens zu verbergen mühte.’ Nie war das Menschliche in
Beethoven vordem der neuen Generation so nahe geworden, nie
so sieghaft der Heroismus dieser einsamen Existenz Zahllosen
zur Anfeuerung geworden, wie in dem kleinen Buch, das zum
Größten der Menschheit, zum Enthusiasmus, gerade die Ver-
lassensten aufrief.
Und geheimnisvoll: die angerufenen Brüder des Leidens
scheinen, da und dort in die Welt verstreut, die Botschaft ver-
nommen zu haben. Es wird kein literarischer Erfolg, dieses
Buch, die Zeitungen schweigen es tot, die Literatur geht daran
vorbei, aber Menschen, unbekannte fremde Menschen sind da-
von beglückt, sie geben es weiter von Hand zu Hand, eine
mystische Dankbarkeit vereint zum ersten Male Gläubige um
den Namen Rollands. Die Unglücklichen haben ein feines Ohr
für die Tröstungen, imd so sehr ein oberflächlicher Optimismus
sie beleidigt, so sehr sind sie empfindsam für die leidenschaft-
iio
liehe Güte des Mitgefühls in diesen Worten, Seit der Veröffent-
lichung seines „B^^thoven" hat Romain Rolland zwar noch
keinen Erfolg, aber er hat mehr — er hat ein Publikum, eine
Gefolgschaft-, die nun treu seinem Werke folgt und die ersten
Schritte des Johann Christof in den Ruhm begleitet. Dieser
sein erster Erfolg ist gleichzeitig auch der erste Erfolg der
,, Cahiers de la Quinzaine'*; die verborgene Zeitschrift wandert
plötzlich von Hand zu Hand, zum ersten Male ist sie genötigt,
eine zweite Auflage zu drucken, und Charles Peguy schildert
ergreifend, wie das Erscheinen dieses Heftes, das die letzten
Stunden Bemard Lazares tröstete (auch eines großen und
namenlosen Unglücklichen), „eine sittliche Offenbarung" war.
Zum erstenmal hat der Idealismus Romain Rollands Macht
über die Menschen gewonnen.
Ein erster Sieg über die Einsamkeit ist errungen: unsichtbare
Brüder fühlt Rolland im Dunkel, sie harren auf sein Wort.
Nur die Leidenden wollen um das Leiden wissen (und wie viele
sind ihrer !) ; ihnen will er nun andere Gestalten zeigen, gleich groß
in anderm Schmerz, gleich groß in anderer Überwindung. Aus
der Ferne der Zeiten blicken ihn ernst die Gestalten der Ge-
waltigen an : ehrfürchtig naht er ihnen und tritt in ihr Leben.
Michelangelo
Beethoven ist für Rolland die reinste Gestalt des Leid-
bezwingers. Zur Fülle geboren, scheint er berufen, die Schön-
heit des Lebens zu verkünden : da zerbricht das Schicksal dem
Körper das edelste Organ der Musik, wirft den Mitteilsamen in
den Kerker der Taubheit. Aber der Geist erfindet sich neue
Sprache, aus der Finsternis holt er sich das Licht, anderen
dichtet er den Hymnus an die Freude, den sein zerschlagenes
Ohr selbst nicht vernimmt. Doch nur eine von den vielen For-
ITT
men des Leidens iie körperliche, die hier das Heldentum
des Willens bewältigt, „das Leid aber ist unendlich, es nimmt
alle Formen an. Bald wird es durch die blinde Willkür des Ge-
schickes bedingt: Unglück, Siechtum, Ungerechtigkeit des
Schicksals, bald hat es seinen tiefsten Grund im eigenen Wesen.
Dann ist es nicht weniger beklagenswert, nicht weniger ver-
hängnisvoll, denn man wählt nicht seine Natur, man hat das
Leben nicht so begehrt, nicht verlangt, zu sein, was man ge-
worden ist."
Dies ist nun die Tragödie Michelangelos, den das Unglück
nicht inmitten des Lebens überfällt, sondern dem es eingeboren
ist, der den Wurm, den nagenden des Mißmuts, von der ersten
Stunde an im Herzen trägt und dem er durch die achtzig Jahre
seines Lebens mitwächst, bis das zerfressene Herz stille steht.
Melancholie ist die schwarze Tönimg all seines Gefühls: nie
klingt rein — wie so oft aus Beethoven — der goldene Ruf
der Freude aus seiner Brust. Aber seine Größe ist: dies Leiden
auf sich zu nehmen wie ein Kreuz, ein anderer Christus mit der
Last seines Schicksals zum täglichen Golgatha der Arbeit zu
gehen, müde zu sein, ewig müde des Lebens, und doch nicht
müde zu werden des Werks, selbst ein Sisyphus, der ewige
Wälzer des Steins. Allen Zorn und alle Bitternis in den geduldigen
Stein zum Kunstwerk zu hämmern. Für Rolland ist Michel-
angelo der Genius einer großen und entschwundenen Welt:
der Christ, der unfreudige Dulder, indes Beethoven der Heide
ist, der große Pan im Walde der Musik. In seinem Leiden ist
auch Schuld, Schuld im Sinile der Schwäche, Schuld jener
Verdammten Dantes im ersten Höllenkreise, die ,, eigen williger
Traurigkeit sich hingeben", er ist bemitleidenswert als Mensch,
aber doch wie ein Gemütskranker, weil Widerspruch eines
,, heldenhaften Genies und eines Willens, der nicht heldenhaft
war". Beethoven ist Held als Künstler und noch mehr als
112
Mensch, Michelangelo nur als Künstler. Als Mensch ist er der
Besiegte, ungeliebt, weil nicht selbst der Liebe aufgetan, un-
befriedigt, weil ohne Verlangen nach Freude: er ist der satur-
nische Mensch, unter dunklem Sternbild geboren, aber seinen
eigenen Trübsinn nicht bekämpfend, sondern selbstgenießerisch
nährend. Er spielt mit seinem Gram: „La mia allegrezza e la
malinconia'* — „Die Melancholie ist meine Freude" — und be-
kennt selbst, „daß tausend Freuden nicht eine Qual wert seien".
Wie durch einen finstern Stollen hämmert er sich mit dem Stein-
beil von einem Ende seines Lebens bis zum andern einen un-
endlichen Gang zum Licht. Und dieser Weg ist seine Größe : er
führt uns alle näher in die Ewigkeit.
Rolland hat selbst gefühlt, daß dieses Leben Michelangelos
ein großes Heldentum umschließt, aber keine unmittelbare
Tröstung den Leidenden zu bringen vermag, weil hier ein Man-
gel nicht selbst mit dem Schicksal fertig wird, sondern noch
einen Mittler jenseits des Lebens braucht — Gott, „die ewige
Ausflucht all derer, denen es nicht gelingt, in unserer Welt zu
leben, ein Glauben, der nichts anderes ist, als mangelnder Glaube
an das Leben, an die Zukunft, an sich selbst, ein Mangel an Mut,
ein Mangel an Freude. Wir wissen, auf wie viel Trümmern er
aufgebaut ist, dieser schmerzende Sieg." Er bewundert hier ein
Werk und eine erhabene Melancholie, aber mit einem leisen
Mitleid, nicht mit der rauschenden Inbrunst wie den Triumph
Beethovens. Der Freigläubige, der auch in der Religion nur
eine Form der Menschenhilfe imd Erhebung sieht, wendet
sich ab von dem menschenfeindlichen Lebensverzicht, der im
Christentum des großen Florentiners liegt. Michelangelo gilt
nur als Beispiel dafür, wieviel Schmerz eine irdische Existenz
zu ertragen vermag: aber die dimkle Schale der Schicksals-
wage bleibt lastend auf seiner Seele liegen, es fehlt ihr das
Gegengewicht der hellen Schale, die Freude, die allein das
8 Zweig, Romain Rolland
1X3
Leben wieder zur EinheS macht. Sein Vorbild zeigt Größe,
aber warnende Größe. Wer solchen Schmerz in solchem Werk
besiegt, ist zwar Sieger, aber doch nur ein halber Sieger:
denn es genügt nicht, das Leben zu ertragen, man muß es —
höchstes Heldentum — „erkennen und dennoch lieben".
Tolstoi
Die Biographien Beethovens und Michelangelos waren aus
einem Überschwang des Lebens gestaltet, Aufrufe zum Herois-
mus, Hymnen der Kraft. Die Biographie Tolstois, Jahre da-
nach geschrieben, ist dunkler getönt, ein Requiem, eine Nänie, ein
Totengesang. Selbst war Rolland schon dem Schicksal nahe ge-
wesen, als das Automobil ihn hinschmetterte: der Genesende
grüßt in der Todesbotschaft des geliebtesten Meisters großen
Sinn und erhabene Mahnung.
Das Bild Tolstois deutet Rolland in seinem Buche als eine
dritte Form des heroischen Leidens. Beethoven fällt das
Schicksal mitten im Leben an durch ein Gebrest, Michelangelo
ist das Verhängnis angeboren: Tolstoi schafft es sich selbst
aus freiem bewußtem Willen. Alles Äußerliche des Glücks ver-
bürgt ihm Genuß: er ist gesund, reich, unabhängig, berühmt,
er hat Haus und Hof, Weib und Kinder. Aber der Heroismus
des Sorglosen ist, daß er sich selbst die Sorge schafft, den Zwei-
fel um das rechte Leben. Der Peiniger Tolstois ist das Ge-
wissen, sein Dämon der furchtbar unerbittliche Wille nach Wahr-
heit. Die Sorglosigkeit, das niedrige Ziel, das kleine Glück der
unwahren Menschen, stößt er gewaltsam von sich, er bohrt
sich wie ein Fakir die Dornen des Zweifels in die Brust, und
mitten in der Qual segnet er den Zweifel: „Man muß Gott
danken, unzufrieden mit sich zu sein. Der Zwiespalt des Lebens
mit der Form, die es erreichen sollte, ist das wahrhafte Zeichen
TT4
des wahren Lebens, die Vorbedingung alles Guten. Schlecht ist
nur die Zufriedenheit mit sich selbst.*'
Gerade diese scheinbare Zerspaltenheit ist für Rolland der
wahre Tolstoi, so wie der kämpfende Mensch für ihn immer der
einzig wahrhaft lebendige ist. Während Michelangelo über dem
irdischen noch ein göttliches Leben zu erblicken vermeint,
sieht Tolstoi ein wahrhaftiges hinter dem zuj^illigen, und um
dieses, das wahrhaftige, zu erreichen, zerstört er seinen Frieden.
Der berühmteste Künstler Europas wirft die Kunst weg, wie
ein Ritter sein Schwert, um barhaupt den Büßerweg zu gehen,
er zerreißt das Band seiner Familie, untcrwühlt seine Tage und
Nächte mit fanatischer Frage. Bis zur letzten Stunde schafft
er sich Unfrieden, um Frieden zu haben mit seinem Gewissen,
ein Kämpfer für das Unsichtbare, das mehr ausdrückt als die
Worte Glück, Freude und Gott zu sagen vermögen, ein Kämpfer
für jene letzte Wahrheit, die er mit keinem teilen kann als mit
sich selbst.
Auch dieser heldenhafte Kampf spielt wie jener Beethovens
und 'Michelangelos in entsetzlicher Einsamkeit, gleichsam im
luftleeren Raum. Seine Frau, seine Kinder, seine Freunde,
seine Feinde — niemand versteht ihn, alle halten ihn für einen
Don Quichote, weil sie den Gegner nicht sehen, mit dem er
ringt, und der ja er selbst ist. Keiner kann ihn trösten, keiner
ihm helfen, und um mit sich zu sterben, muß er flüchten in
eisiger Wintemacht aus seinem reichen Haus und wie ein Bett-
ler sterben an der Landstraße. Immer in dieser höchsten
Sphäre, zu der die Menschheit sehnend aufblickt, weht Frost-
luft bitterster Einsamkeit. Denn gerade jene, die für alle
schaffen, sind mit sich allein, jeder ein Heiland am Kreuz,
jeder leidend für einen andern Glauben und doch für die ganze
Menschheit.
115
Die unvollendeten Biographien
Schon auf dem Außenblatt der ersten, der Beethoven-
biogfaphie, war eine ganze Reihe heroischer Heldenstandbilder
angekündigt: eine Lebensgeschichte des großen Revolutionärs
Mazzini, für die Rolland durch Jahre mit Hilfe der gemeinsamen
Freundin Malvida von Meysenbug die Dokumente bereits ge-
sammelt hatte, eine Darstellung des Heldengenerals Hoche,
des kühnen Utopisten Thomas Paine. Der ursprüngliche Plan
umfaßte einen noch viel weiteren Stemenkreis geistiger Größe,
manche Gestalt war schon in der Seele geformt, vor allem
wollte Rolland in reiferen Jahren einmal die ihm so teure ruhe-
volle Welt Goethes im Bilde seines Wesens zeichnen, wollte
Shakespeare danken für das Erlebnis seiner Jugend und der
gütigen, allzu wenig menschlich bekannten Malvida von
Meysenbug für eine entscheidende Freundschaft.
Alle diese ,,vies des hommes illustres*' sind ungestaltet ge-
blieben (nur mehr wissenschaftliche Werke, wie jenes über ,, Hän-
del", „Millet" und die kleinen Studien Hugo Wolf, Berlioz,
fördern die nächsten Jahre). Auch der dritte hochgespannte
Schaffenskreis zerbricht, wieder endet große Bemühung als
Fragment: nur ist es diesmal nicht Ungunst der Zeit, Gleich-
gültigkeit der Menschen, die Rolland von dem begonnenen
Wege zurückweichen läßt, sondern eine tiefmenschliche mo-
ralische Erkenntnis. Der Historiker hat erkannt, daß seine
tiefste Kraft, die Wahrheit, nicht vereinbar sei mit dem Willen,
Enthusiasmus zu schaffen: in dem einzigen Falle Beethoven
war es möglich gewesen, wahr zu bleiben und doch Tröstung
zu geben, weil hier aus erhobener Musik selbst die Seele zur
Freude emporgeläutert wird. Bei Michelangelo war schon eine
gewisse Gewaltsamkeit vonnöten, um diesen, einer eingeborene^
Traurigkeit verfallenen, unter Steinen selbst zum Marmor
il6
versteinernden Menschen, als einen Sieger über die Welt zu
deuten, auch Tolstoi verkündet mehr das wahre als das reiche,
das rauschende, das lebenswerte Leben. Als er aber Mazzinis
Geschick naclibildet, wird Rolland gewahr, da er die greisen-
hafte Verbitterung des vergessenen Patrioten mitfühlend
durchforscht, daß er entweder fälschen müsse, um aus diesem
Fanatiker ein V^orbild zu formen, oder den Menschen den
Glauben an einen Helden nehmen. Es gibt, so erkennt er,
Wahrheiten, die man aus Liebe zur Menschheit verbergen muß,
und plötzlich erlebt er selbst den Konflikt, der das tragische
Dilemma Tolstois war, „den furchtbaren Zwiespalt seiner un-
erbittlichen Augen, die das ganze Grauen der Wirklichkeit
durchschauten, und seines leidenschaftlichen Herzens, das ihn
immer verschleiern und die Liebe sich bewahren wollte. Wir
alle haben diesen tragischen Kampf erlebt. Wie oti waren wir
in der Alternative, etwas nicht sehen zu wollen oder zu ver-
werfen — wie oft fühlt sich ein Künstler von Angst befallen,
wenn er diese oder jene W^ahrhuit hinschrciben soll. Denn die-
selbe gesunde imd männliche V ahrheit, die einem so natürlich
ist wie die Luft, die man atmet, ist — man bemerkt es mit Ent-
setzen — für manche Brust, die durch Gewöhnung oder bloß
Güte zu schwach ist, einfach imerträglich. Was soll man nun
tun ? Diese tödliche Wahrheit verschweigen, oder sie schonungs-
los aussprechen ? Unablässig steht man diesem Dilemma gegen-
über, die Wahrheit oder die Liebe."
Das ist nun Hollands niederdrückende Erkenntnis inmitten
seines Werks : man kann nicht Geschichte der großen Menschen
schreiben zugleich als Historiker im Sinne der Wahrheit und als
Menschenfreund im Sinne der Erhebung und Vollendung. Denn
ist selbst das, was wir Geschichte nennen, Wahrheit? Ist sie
nicht auch in jedem Lande eine Legende, eine nationale Kon-
vention, ist jede Gestalt nicht schon durch Absichten zweck-
halt geläutert, gcu idert oder gemindert im Sinne oiner Moral?
Zum erstenmal wird sich Roll^d des ungeheuren Relativismus,
der Unübertragbarkeit aller Begriffe bewußt. „Es ist so schwer,
eine Persönlichkeit darzustellen. Jeder Mensch ist ein Rätsel,
nicht nur für die andern, sondern auch für sich selbst,
und es liegt eine große Anmaßung darin, jemanden kennen
zu wollen, der sich nicht einmal selbst kennt, dennoch aber
kann man sich nicht verwehren zu urteilen, es ist eine Not-
wendigkeit des Lebens. Keiner von denen, die wir zu kennen
vorgeben, keiner unserer Freunde, keiner jener, die wir
lieben, ist so, wie wir ihn sehen — oft ist er in nichts dem
Bilde gleich, das wir von ihm haben. Wir wandern inmitten
der Phantome unseres Herzens. Und doch : man muß urteilen, *
man muß schaffen.^*
Gerechtigkeit gegen sich selbst, Gerechtigkeit gegen die
teuren Namen, Ehrfurcht vor der Wahrheit, Mitleid mit den
Menschen, hemmt mitten im Wege seinen Schritt. Rolland läßt
die , »heroischen Biographien“: lieber will er schweigen, als
jenem „feigen Idealismus“ zur Beute werden, der verschönt,
um nicht zu verneinen. Er hält inne am Wege, den er für un-
gangbar erkannt, aber er vergißt nicht das Ziel, „die Größe
auf Erden zu verteidigen“. Die Menschheit braucht hohe Bild-
nisse, einen Mythos vom Helden, um an sich selbst zu glauben.
Und da dic' Geschieiite nur durch Verschönerung den Trost
solcher Bilder schenkt, sucht Rolland die Helden nun in
einer neuen, einer höheren Wahrheit: in der Kunst. Selbst
erschafft er nun Gestalten aus dem Blut unserer Gegenwart,
in hundert Formen zeigt er das tägliche Heldentum unserer
Welt und inmitten dieser Kämpfe den großen Sieger des
Lebeiisglaubens : seinen — unsern Johann Christof.
Ii8
Johann Christof
fyEs ist zum Er staunen y wie sich der
epische und philosophische Gehalt in
demselben drängte Was innerhalb der
Form liegt, macht ein so schönes Ganze,
und nach außen berührt sie das Un-
endliche, die Kunst und das Lehen, In
der Tat kann man von diesem Roman
sagen, er ist nirgends beschränkt als
durch ästhetische Form und wo die Form
darin aufhört, da hängt er mit dem
Unendlichen zusammen. Ich möchte
ihn einer schönen Insel vergleichen, die
zwischen zwei Meeren liegt
Schiller an Goethe über „Wilhelm
Meister*', 19, Oktober 1796
Sanctus Christopherus
Auf dem letzten Blatte seines großen Werkes erzählt Romain
Rolland die Legende vom heiligen Christophorus. Man weiß:
der Fährmann am Ufer ward nachts geweckt von einem Kinde,
daß er es über den Fluß trage. Lächelnd nimmt der gute Riese
die leichte Last. Aber da er den Strom durchschreitet, wird sie
seinen Schultern schwer und schwerer, schon meint er hinsinken
zu müssen unter dem immer mächtigeren Gewicht, aber noch
einmal rafft er seine ganze Kraft. Und am Ufer im Morgenlicht
zu Boden keuchend, erkennt Christophorus, der Träger des
Christ, daß er den Sinn der Welt auf seinen Schultern ge-
tragen.
Diese schwere lange Nacht der Mühe, Rolland hat sie selbst
gekannt. Da er die Last dieses Schicksals, die Last dieses Werks
auf seine Schultern nahm, meinte er, ein Leben zu erzählen,
aber im Schreiten ward das anfänglich Leichte schwer: das
ganze Schicksal seiner Generation, den Sinn unserer ganzen
Welt, die Botschaft der Liebe, das Urgeheimnis der Schöpfung
trug er dahin. Wir, die wir ihn schreiten sahen, einsam durch
die Nacht des Unbekanntseins, ohne Helfer, ohne Zuruf, ohne
freundlich winkendes Licht, wir meinten, er müsse erliegen. Und
die Ungläubigen verfolgten ihn vom eigenen Ufer mit Hohn
und Gelächter. Aber er schritt daliin, die zehn Jahre, indes der
Strom des Lebens immer leidenschaftlicher um ihn schwoll,
»
und kämpfte sich dem unbekannten Ufer der Vollendung ent-
gegen. Mit gebeugtem Rücken, aber strahlenden Blicks hat
er es erreicht. 0 lange, schwere Nacht der Mühe, die er einsam
ging! 0 liebe Last, die er den Spätem brachte, von unserem
Ufer aus aii das noch imbetretene der neuen Welt! Nun ist
sie geborgen. Als der gute Fährmann aufblickte, schien die
Nacht vorbei, das Dunkel entschwunden. Feurige Röte stand
am Himmel des Ostens, und schon meinte er freudig, es wäre
der Morgen des neuen Tages, dem er dies Sinnbild des ver-
gangenen entgegenget ragen.
Aber es war nur die Blutwolke des Krieges, die Flamme
des brennenden Europa, die da tagte und die den Geist der ver-
gangenen Welt verzehrte. Nichts blieb vom heiligen Erbe
unseres Wesens als dies Vermächtnis, das hier gläubige Kraft
vom Ufer des Einstigen stark herübergerettet hat in unsere
neuverwirrte Welt. Der Brand ist gesunken, wieder ist es
Nacht geworden. Aber Dank dir, Fährmann, Dank dir, from-
mer Wanderer, für deinen Weg durch die Dunkelheit, Dank für
deine Mühe: Sie hat einer Welt Botschaft der Hoffnung ge-
bracht, für uns alle bist du dahingeschritten durch die schwarze
Nacht; denn die Flamme des Hasses wird doch einmal löschen,
das Dunkel der Fremdheit doch einmal fallen zwischen den Völ-
kern, Er wird doch kommen, der neue Tag!
Vernichtung und Auferstehung-
Romain Rolland ist nun im vierzigsten Jahre, und sein
Leben ist ein Trümmerfeld. Die Banner seines Glaubens, die
Manifeste an das französische Volk und die Menschheit sind
zerfetzt von den Stürmen der Wirklichkeit, die Stücke für das
Theater begraben an einem einzigen Abend. Die Bildnisse
der Heroen, die erzen ragen sollten in unendlicher Reihe von
*
einem bis zmn andern Ende der Zeit, stehen verlassen, drei als
einsame Torsi, die andern in Skizzen zersplittert und vorzeitig
zerstört.
Aber noch brennt die heilige Glut in seinem Herzen. Mit
heldenhaftem Entschluß wirft er die geschaffenen Gestalten
wieder in die feurige Esse der Brust zurück, löst das Gestaltete
auf zu neuen Formen. Gerechtigkeit hat ihm verwehrt, im Be-
122
stehenden den großen Trostbringer seiner Zeit aufzuzeigen, so
beschließt er aus schöpferischer Machtvollkommenheit des
Geistes, selbst einen Genius des Geistes zu schaffen, der alles
vereint, was alle Großen aller Zeiten gelitten, einen Helden, der
nicht einer Nation gehört, sondern allen Völkern. Und statt
der historischen Wahrheit sucht er nun höheren Einklang von
Wahrheit und Dichtung in neuer Gestaltung: er schafft den
Mythos eines Menschen, er dichtet mitten in unsere Zeit die
Legende eines Genies.
Und wunderbar: alles Verlorene ist mit einem Male wieder
wach. Die versunkenen Träume der Schulzeit, der Künstler-
traum des Knaben von einem großen Künstler, der sich gegen
die Welt wirft, die Vision am Janiculus vom reinen Toren in
unserer Zeit, sie rauschen auf aus seinem Herzen. Die begrabe-
nen Gestalten seiner Dramen, Aert, die Girondisten, erstehen
in neuer Verwandlung, die Standbilder Beethovens, Michel-
angelos, Tolstois treten aus historischer Starre in unseren Tag.
Die Enttäuschungen sind Erfahrungen geworden, die Prüfungen
Erhebungen: und aus dem scheinbaren Ende wird der wahre
Beginn, das Werk seiner Werke, der ,, Johann Christof**.
Ursprung des Werkes
Johann Christof schreitet schon von ferne auf seinen Dichter
zu. Das erstemal begegnet er ihm — ein flüchtiger Knaben träum
— in der i^cole Normale, Da plant der junge Rolland einen
Roman zu schreiben, die Geschichte eines reinen Künstlers,
der an der Welt zerbricht. Noch ist nichts deutlich in den Kon-
turen, nichts bewußt im Willen, als daß sein Held ein Künstler
sein soll, ein Musiker, den die Zeit nicht versteht. Und der
Plan zerrinnt mit vielen andern Plänen, der Traum zerstiebt
mit vielen andern Träumen der Jugend.
123
Aber er kehrt ’v^deder in Rom, da der Dichter in Rolland, der
lange durch Klausur und Wissenschaft gehemmte, elementar
ausbricht. Malvida von Meysenbug hat ihm an den hellen
römischen Abenden viel erzählt von den tragischen Kämpfen
ihrer großen Freunde Wagner und Nietzsche, und Rolland er-
kennt, wie allgegenwärtig uns die Gewaltigen sind, verborgen
nur durch den Lärm und Staub der Stunde. Unwillkürlich
einen sich die tragischen Erlebnisse der nahen Heroen mit dem
erträumten Bilde, und im Parsifal, dem reinen Toren, durch
Mitleid wir-^end, erkennt er das Sinnbild des Künstlers, der in
die Welt zieht, nur von tiefer Ahnung geführt, und der sie durch
Erfahrung erkennt. Und an einem Abend auf einem Spazier-
gang am Janiculus blitzt plötzlich die deutliche Vision Johann
Christofs in ihm auf: ein Musiker reinen Herzens, ein Deutscher,
der aus seinem Lande in die Länder zieht und sich seinen Gott
im Leben findet, ein freier irdischer Mensch, unerschütterlich
im Glauben an alles Große und selbst an sie, die ihn verstößt:
an die Menschheit. Schon dämmern die Umrisse der Gestalt,
schon klärt sich dem Künstler das Bild.
Und Jahre wieder der Mühe nach den seligen Jahren der
römischen Freiheit, mit täglich gewälzten Steinen de^ Berufes
das innerlich begonnene Bild zerdrückend. Rolland lebt 2^iten
der Tat: er hat keine Zeit für seine Träume. Da weckt neues
Erlebnis die schlummernden auf. Im Beethovenhause in Bonn
sieht er in niederer Kammer die kümmerliche Jugend des Mei-
sters, aus Büchern und Dokumenten die heroische Tragödie
seines Lebens. Und mit einem Male versinnlicht sich die Traum-
gestalt: sein Held soll ein Beethoven redivivus sein, ein neu-
erstandener, mitten in unsere Welt erträumter, ein Deutscher,
ein Einsamer, ein Kämpfer — aber ein Sieger. Wo der lebens-
unkundige Knabe noch Niederlage sah, weil er vermeinte, Miß-
erfolg sei schon Besiegtsein, ahnt der Gereifte den wahren He-
124
tplsmüs: „das Leben erkennen — und es dennoch lieben^*, ln
grandiosem Umschwung eröffnet sich neuer Horizont hinter
dem lang geliebten Bilde : das Morgenrot des ewigen Sieges im
irdischen Kampf. Jetzt ist Johann Christofs Gestalt innerlich
vollendet.
• Rolland kennt nun seinen Helden. Aber er muß noch seinen
Widerpart, seinen Gegenspieler, seinen ewigen Feind schildern
lernen: das Leben, die Wirkliclikeit. Wer einen Kampf dar-
stellen will in Gerechtigkeit, muß auch den Gegner kennen.
Und er lernt ihn kennen in diesen Jahren in den eigenen
Enttäuschungen, den eigenen Erfahmngen, in der Welt der
Literatur, in der Verlogenheit der Gesellschaft, der Gleich-
gültigkeit der Menge: durch alle Fegefeuer seiner Pariser Jahre
muß er hindurch, ehe er beginnen kann zu schildern. Der
Zwanzigjährige hätte nur um sich gewußt, nur den heroischen
Willen zur Reinheit schildern können: der Dreißigjährige kann
auch den Widerstand gestalten. Alles, was er erlebt hat an
Hoffnung und Enttäuschung, stürzt nun in das rauschende
Strombett dieser Existenz: die vielen kleinen Notizen, seit
Jahren zufällig und absichtslos, tagebuchartig gehäuft, ordnen
sich magisch dem werdenden Werke ein, Bitternis verklärt sich
zu Erkenntnis, und der knabenhafte Künstlertraum wird zum
Lebensbuch.
Im Jahre 1895 ist der Plan in großen Linien gestaltet. Gleich-
sam präludierend beginnt Rolland mit einigen Szenen aus der
Jugend Johann Christofs; in der Schweiz, in einem verborgenen
kleinen Dörfchen sind um 1897 die ersten Kapitel geschrieben,
in denen die Musik gewissermaßen von selbst erwacht. Dann —
so sicher imd klar ist in seiner Seele der Plan schon vorgezeichnet
— schafft er wieder einige Kapitel aus dem fünften und neunten
Bande: ganz als Musiker gestaltend gibt sich Rolland aus seiner
Stimmung einzelnen Themen hin, die der wissende Künstler
125
dann harmonisch in die große Symphonie verwebt. Die Ordnung
kommt von innen, nicht von außen: nicht in strenger Reihen-
folge, sondern im scheinbaren Zufall der Neigung formt er die
Kapitel, die oft von der Landschaft musikalisch beseelt, oft
von äußerem Geschehnis getönt sind (etwa, wie Seippel es schön
schildert, jene Flucht Johann Christofs in den Wald von der
Todesfahrt des so sehr geliebten Leo Tolstoi). In ganz Europa
ist, symbolisch genug, dies europäische Werk geschrieben:
die ersten Takte im Schweizerdorfe, „Jugendzeit" in Zürich
und am Zugersee, vieles in Paris, vieles in Italien, „Antoinette"
in Oxford, und das Werk am 26. Juni 1912 nach fast fünfzehn-
jähriger Arbeit in Baveno vollendet.
Im Februar 1902 erscheint der erste Band „L*Aube" in den
,, Cahiers de la Quinzaine**, am 20. Oktober 1912 das letzte der
siebzehn Hefte, für die Rolland — ein einziger Fall in der Roman-
litcratur — nicht einen Centime Honorar erhalten hatte. Beim
Erscheinen des fünften Heftes, der „Foire sur la Place", erst
fand sich ein Verleger, Ollendorff, für den Roman, der dann
rasch aus einem jahrelangen Schweigen auf stieg. Noch vor
seiner Beendigung folgten einander bald die englischen, spani-
schen, deutschen Ausgaben, die erläuternde Biographie Seippels.
So krönte der große Romanpreis der Akademie im Jahre 1913
schon einen gestalteten Ruhm, Im fünfzigsten Jahre seines
Lebens steht Rolland endlich im Licht, sein Bote Johann
Christof ist der Lebendigste der Lebendigen geworden und um-
wandert die Welt.
Das Werk ohne Formel
Was ist nun dieser sein Johann Christof? Ein Roman? Dies
Buch, das weit ist wie die Welt, ein orhis pictus unserer Gene-
ration, versagt sich einem einzelnen umfassenden Wort. Rol-
126
land hat einmal gesagt: „Jedes Werk, das sich von einer Defini-
tion ganz umschließen läßt, ist ein totes Werk*', und wie sehr
gilt diese Abweisung dem Versuch, hier das Lebendigste in
die fünf Buchstaben eines Wortes zu sperren. Der Johann
Christof ist ein Versuch zum Ganzen, ein universelles, ein
enzyklopädisches Buch, nicht ein bloß erzählerisches, eines, in
dem alle Probleme immer wieder zum Zentralproblem des
Ganzen, des Alls zurückstreben. Es gibt Einblick in die Seele
und Ausblick in die Zeit, ist Bild einer ganzen Generation und
gleichzeitig imaginäre Biographie eines Einzelnen, „Quer-
schnitt durch unsere Gesellschaft'*, wie es Grautoff genannt
hat, und religiöses Bekenntnis eines Einsamen, cs ist Kritik
(aber produktive) der Wirklichkeit und Schöpferanalyse des
Unbewußten, eine Symphonie in Worten und ein Freskobild
der zeitgenössischen Ideen. Es ist eine Ode an die Einsamkeit
und eine Eroika der großen europäischen Gemeinsamkeit —
jede Definition faßt nur einen Teil und keine das Ganze.
Denn im Literarischen läßt sich nicht begrenzen, was eine
moralische, eine sittliche Tat ist, und Rollands bildnerische
Kräfte greifen immer unmittelbar in den Innern Menschen
hinein: sein Idealismus ist eine glaubensstärkende Kraft, ein
Tonikum der Vitalität. Sein Johann Christof ist ein Versuch
der Gerechtigkeit: das Leben zu erkennen. Und ein Versuch
des Glaubens: das Leben zu lieben. Und beides schließt sich
zusammen in seiner moralischen Forderung (der einzigen, die
er je dem freien Menschen gestellt hat): „Das Leben erkennen
und es dennoch lieben".
Was dies Buch sein will, sagt sein eigener Held, als er
die Abseitigkeit, die in tausend Teile zersprengte Kunst seiner
Zeit betrachtet. „Das Europa von heute hatte kein gemein-
sames Buch mehr, nicht ein Gedicht, ein Gebet, eine Tat des
Glaubens, die ihnen allen gehörte. Und dies ist eine Schmach,
127
die alte Klbistl^^ Zeit niederschmetteli^^ilte. Nicht
einer, der für alle geschrieben, für alle gedacht hat/' Diese
Schmach wollte Rolland tilgen, er wollte für alle schreiben,
nicht bloß für sein Vaterland, sondern für alle Nationen,
nicht nur für die Künstler und Literaten, ,sondem*'^n jenen,
die um das Leben und die Zeit zu wissen begehren, ein Bild
des Lebens inmitten ihrer eigenen Gegenwart schenken. Jo-
hann Christof sagt selbst den gan^n Willen seines Schöpfers:
„Zeige den Alltagsmenschen das Leben des Alltags: es ist
tiefer und weiter als das Meer. Der Geringste von uns trägt
in sich eine Unendlichkeit . . . Schildere das einfache Leben
eines dieser schlichten Menschen . . ., scliildere es einfach, wie
es abläuft. Kümmere dich nicht um das Wort, um die künst-
lichen Versuche, in denen die Kraft der Dichter von heute
sich erschöpft. Du sprichst zu allen, so sprich ihre Sprache . . .
Sei ganz .in dem, was du schaffst, denke, was du denkst, fühle,
was du fühlst. Der Rhythmus deines Herzens trage dein Wort:
StU ist Seele/'
Ein Lebensbuch, kein Kunstbuch sollte der Johann Chri-
stof sein, und ist es geworden, ein Buch, das auf das Ganze des
Menschlichen geht, denn ^fVart est la vic domptee” — „die
Kunst ist das gebändigte Leben". Es stellt nicht, wie die
meisten Werke der Zeit, das erotische Problem in den Mittel-
punkt, weder dieses, noch überhaupt eines: er sucht alle
Probleme, die an das Wesenhafte rühren, von innen heraus,
„aus dem Spektrum eines Einzelnen", wie Grautoff sagt, zu
erfassen. Die Zentrierung ist innen in dem einzelnen Menschen,
Wie er das Leben sieht, oder besser: wie er es sehen lernt, das
ist das Urmotiv des Romans. Man mag ihn deshalb einen Er-
ziehungsroman nennen im Sinne des Wilhelm Meister. Der
Erziehungsroman will in l^hr- und Wanderjahren zeigen, wie
ein Mensch das fremde Leben erlernt und damit das eigene be-
128
Romain Rolland
Zur Zeit des Beginns des „Johann Christof“
w^tigt, wie er durcb Erfahrungen die angelernten, ^eifach
irrigen Begriffe über alle Dinge in Anschauung verwandelt,
die'^IBll sich aus einem äußeren Sein in ein inneres Erlebnis
uip^tzt. Wie er wissend wird aus einem bloß Neugierigen,
gerecht aus einem bloß Leidenschaftlichen.
Aber dieser Erziehungsroman ist gleichzeitig ein historischer
Roman, eine ^.Comedie humaine'* im Sinne Balzacs, eine
,,Histoire contemporaine** im Sinne Anatole France' und wie
jene letztere auch in mancher Beziehung ein politischer Roman.
Nur daß Rolland in seiner viel ausgreifenderen Art nicht bloß
die Geschichte seiner Generation darstellt, die historische,
sondern auch die Kulturgeschichte seiner Epoche, also alle
Ausstrahlungen des einheitlichen 2Jeitgefühls in ie Formen,
Dichtung wie Sozialismus, Musik und Kunst, Frauenfrage imd
Rassenprobleme. Als ganzer Mensch umfaßt sein Christof
alles Menschliche im geistigen Kosmos: er weicht keiner Frage
aus, ringt mit allen Widerständen; er lebt universell, jenseits
der Grenzen der Nationen, Berufe und Konfessionen und um-
spannt deshalb den ganzen Horizont seiner Welt.
Der historische Roman ist aber gleichzeitig wieder ein
Künstlerroman, ein Roman der Musik. Sein Held ist nicht
ein Spaziergänger, wie die Helden Goethes, Novalis', Stendhals,
sondern ein Schöpfer, \md ähnlich wie im „Grünen Heinrich“
Gottfried Kellers ist sein Weg ins äußere Leben gleichzeitig der
Weg zu seiner inneren Welt, zur Kunst, zur Vollendung. Die
Geburt der Musik, das Werden des Genies, ist hier ganz per-
sönlich und doch typisch dargestellt: nicht nur Analys^e der
Welt soll in den Erfahrungen gegeben sein, sondern das Myste-
rium der Schöpfung, das Urgeheimnis des Lebens.
Mit diesem Leben baut aber dieser Roman gleichzeitig eine
Weltanschauung und wird damit ein philosophischer, ein reli-
giöser Roman. Um das Ganze des Lebens kämpfen, heißt für
9 Zweig, Romain Rolland
129
Rolland um seinen Sinn und Ursprung ringen, um den Gott,
den eigenen, den persönlichen Gott. Der Rhythmus dieser
Existenz sucht eine letzte Harmonie zwischen sich und dem
Rhythmus des Seins, und aus dem irdischen Gefäß strömt im
rauschenden Hymnus die Idee ins Unendliche zurück.
Solche Fülle war vorbildlos: nur in einem einzigen Werke, in
Tolstois „Krieg imd Frieden'*, hatte Rolland ähnliche Vereini-
gung historischen Weltbildes, innerer Reinigung imd religiöser
Ekstase gefunden, jene leidenschaftliche Verantwortlichkeit
zur Wahrheit, und er verändert das hohe Maß nur, indem er
aus der Ferne des Krieges seine Tragödie mitten in die Gegen-
wart stellt und seinem Helden den Heroismus, nicht den der
Waffe, sondern den des unsichtbaren Kampfes der Kunst gibt.
Hier wie immer war der menschlichste aller Künstler sein Vor-
bild — der Künstler, dem die Kunst nicht Endzweck war,
sondern nur Durchgang zu ethischer Wirkung, imd im Sinne
Tolstois will sein Johann Christof kein literarisches Werk sein,
sondern eine Tat. Und darum fügt sich Johann Christof, die
heroische Symphonie, nirgends in die bequemen Begriffe der
Formulierung. Dieses Buch ist außerhalb alles Gewohnten und
doch mitten in der Zeit. Es ist jenseits der Literatur und doch
ihre stärkste Manifestation. Es ist oft nicht mehr Kunst und
gibt doch ihre reinste Anschauung. Es ist keiu Buch, sondern
eine Botschaft, keine Geschichte und doch unsere Zeit Es ist
mehr als ein Werk: es ist das täglich Wunderbare eines Men-
schen, der sich als Wahrheit erlebt und damit das ganze Leben.
Geheimnis der Gestalten
Der Roman selbst hat keine Vorbilder in der Literatur,
wohl aber seine Gestalten in der Wirklichkeit. Der Historiker
in Rolland zögert nicht, einzelne Charakterzüge seiner Helden
130
Biographien großer Männer zu entnehmen, manchmal auch
die Porträts den Zeitgenossen anzunähem: in einem ganz
eigenartigen, von ihm erst erfundenen Prozeß bindet er the-
matisch Erfundenes mit geschichtlich Verbürgtem, kombiniert
einzelne Eigenarten zu neuer Synthese. Seine Charakterzeich-
nung ist oft mehr Bindung als Erfindung, er paraphrasiert als
Musiker — immer ist sein Schöpfungsprozeß im letzten ein
musikalischer — thematisch leichte Anklänge, ohne sie aber
vollkommen nachzubilden. Oft meint man wie in einem
Schlüsselroman schon eine Gestalt an besonderen Merkzeichen
zu erkennen, da gleitet sie über in andere Gestalt : und so ist
aus hundert Elementen jede Figur als neues gebildet.
Johann Christof selbst scheint vorerst Beethoven zu sein —
Seippel hat ausgezeichnet die Beethoven-Studie eine ,,j>reface*\
eine Vorrede des Johann Christof genannt — und tatsächlich
sind die ersten Bände ganz nach dem Bilde des großen Meisters
geformt. Aber bald erkennt man, daß im Johann Christof
mehr versucht ist: die Quintessenz aller großen Musiker.
Alle Gestalten der Musikgeschichte sind gleichsam summiert,
und aus dieser Summe ist die Wurzel gezogen. Beethoven, der
Größte, ist nur der Urklang darin. In seiner Heimat, am Rhein,
wächst Johann Christof auf, auch seine Ahnen stammen aus
flandrischem Geschlecht, auch seine Mutter ist Bäuerin, sein
Vater ein Trunkenbold — nebenbei finden sich in dieser Gestalt
manche Wesenszüge Friedemann Bachs, des Sohnes Johann
Sebastian Bachs. Auch der Brief, den man dem kleinen
Beethoven redivivus an den Fürsten in die Feder zwingt, ist
ganz nach dem historischen Dokument gebildet, und die Epi-
sode des Unterrichtes bei Frau von Kerich erinnert an Frau
von Breuning, aber schon früh spielt manche Reminiszenz,
wie die Szene im Schloß, in Mozarts Jugend hinüber, und das
kleine Abenteuer des Johann Wolfgang mit Fräulein Canna-
9* I3T
bich ist hier hinübertransponiert zu Johann Christof. Je mehr
er heranv^ächst, um so mehr entfernt er sich vom Beethoven-
Bilde: rein äußerlich gemahnt er bald mehr an Gluck und
Händel, von dem Rolland an anderer Stelle die „kraftvolle
Brutalität, die jeder fürchtete*', schildert, und Wort auf Wort
paßt auf Johann Christof die Charakterprägung „Er war frei
und reizbar und konnte sich nie an die Regeln der Gesell-
schaft gewöhnen. Alle Dinge nannte er geradeaus beim Na-
men und ärgerte zwanzigmal im Tag alle, die ihm nahe kamen."
Einen großen Einfluß hat dann Wagners Biographie: die
Flucht aus der Revolte nach Paris — wie Nietzsche sagt „aus
der Tiefe seiner Instinkte“ — , die jämmerlichen Arbeiten bei
kleinen Verlegern, die Miseren des äußeren Lebens, all das ist
oft fast wörtlich Wagners Novelle „Ein deutscher Musiker
in Paris" in Johann Christofs Leben übernommen.
Entscheidend aber wird die eben erschienene Hugo Wolf-
Biographie Ernst Decseys auf die Umgestaltung der Haupt-
figur, auf die fast gewaltsame Loslösung vom Beethoven-Bilde.
Hier sind nicht nur einzelne Motive übernommen — der Haß
gegen Brahms, der Besuch bei Hassler (Wagner), die Musik-
kritik im „Marsyas" (Wiener Salonblatt), die tragische Farce
der verunglückten Penthesileaouverture und jener unvergeß-
liche Besuch bei dem fernen Verehrer (Professor Schulz-Emil-
Kaufmann) — , sondern hier ist von innen heraus der Charakter,
die musikalische Schaffensfoim Hugo Wolfs in die Seele Jo-
hann Christofs eingesenkt. Die dämonische, die vulkanische
Art der Produktion, die oft in elementaren Ausbrüchen mit
Melodien die Welt überströmt, vier Lieder an einem Tage in
die Ewigkeit werfend, dann plötzlich auf Monate versiegt, der
brüske Übergang von der Seligkeit des Schaffens in die fin-
stere brütende Untätigkeit — diese tragische Form des Genies
dankt Johann Christof dem Bilde Hugo Wolfs. Bleibt sein
132
körperliches Leben in die wuchtigeren Formen Handels, Beetho-
vens, Glucks gebannt, so nähert sich sein geistiger Typus mehr
dem nervösen, krampfigen, sprunghaften des großen Lieddich-
ters (nur daß Johann Christof noch dazu die selige Heiterkeit,
die kindliche Freude eines Schubert in manchen hellen Stunden
gegeben ist). Und hier ist sein Zwieklang: Johann Christof ist
der alte Musiker, der klassische Typus und der moderne in
einem, dem selbst manche Züge Gustav Mahlers und Cesar*
Franks nicht fremd sind. Er ist nicht ein Musiker, Gestalt
einer Generation, sondern die Sublimierung der ganzen Musik.
Aber auch von Nicht-Musikern sind Elemente in Johann
Christofs Gestalt verwoben : aus Goethes „Dichtung und Wahr-
heit" die Begegnung mit der französischen Schauspieltruppe,
aus Tolstois Todesstunde jene Flucht in den Wald (wo auch
zuerst im Bilde eines Umnachteten schattenhaft Nietzsches
Antlitz für eine Sekunde hervorglänzt). Grazia ist thematisch
die Unsterblich-Geliebte ; Antoinette; in Anklang an eine nalie
Gestalt, die rührende Schwester Renans, Henriette; in der
Schauspielerin Marguerite Oudon erinnern Züge an das Schick-
sal der Düse, andere an die schauspielerische Art der Suzanne
Despres. In Emanuel wiederum vermengen sich Elemente
aus dem Wesen Charles Louis Philippes und Charles Peguys
mit Erfundenem, in leisen Andeutungen sieht man die Figuren
Debussys, Verhaerens, Moreas im Hintergrund der Handlung
sich erheben. Und in den Charaktertypen des Abgeordneten
Roussin, des Kritikers Levy-Coeurs, des Zeitungsunternehmers
Gomache, des Musikalienhändlers Hecht haben sich beim Er-
scheinen der ,,Foire sur la place** manche getroffen gefühlt,
die gar nicht gemeint w'aren, so kraftvoll typisch sind die
Porträts einer niederen Wirklichkeit entnommen, die in ihrer
unablässigen Wiederholung des Mittelmaßes ebenso ewig ist,
wie die seltenen, die reinen Gestalten.
Ein edles Bild r ber, das Oliviers, scheint nicht der Welt
entnommen, sondern ganz ersonnen, und eben dieses fühlen
wir als das Lebendigste, wir, die wir es erkennen, weil es in
vielen Zügen ein Selbstporträt ist, nicht so sehr des Schicksals
als der menschlichen Wesenheit Romain Rollands. Wie die
alten Maler hat er unmerklich sich selbst in leichter Verhüllung
mitten in die historische Szenerie gestellt: es ist sein eigenes
Antlitz, das zarte, schmächtige, feine, leicht vorgebeugte, seine
Energie, diese ganz nach innen gewandte, in reinstem Idealis-
mus sich verzehrende, sein Enthusiasmus diese klare Gerech-
tigkeit, die für sich, aber nie für die Sache resigniert. Freilich
im Roman läßt dieser Sanfte, der Schüler Tolstois und Renans,
dem geliebten Freunde die Tat und schwindet hin, ein Symbol
einer vergangenen Welt. Johann Christof war nur ein Traum,
die Sehnsucht des Sanften nach der Kraft: und diesen Traum
seiner Jugend hat Olivier-Rolland selbst gestaltet, indes er
sein eigenes Bild hinlöschte von der Tafel des Lebens.
Heroische Symphonie
Fülle der Gestalten und Geschehnisse, drängende Vielfalt
der Gegensätze, sie eint nur ein Element: die Musik. Und Mu-
. sik ist in Johann Christof nicht nur Inhalt, sondern auch Form.
Nirgendwo kann man diesen Roman — nur die Einfachheit
wählt immer dieses Wort — an eine epische Tradition an-
schließen, weder an jene Balzacs, Zolas und Flauberts, die Ge-
sellschaft chemisch in die Elemente auflösen will, noch an
jene Goethes, Gottfried Kellers und Stendhals, die eine Kri-
stallisation der Seele versucht. Rolland ist kein Erzäliler
und auch nicht das, was man einen Dichter nennt : er ist Mu-
siker und verwebt alles in Harmonie. Im letzten ist Johann
Christof eine Symphonie, aus dem gleichen Geist der Musik
gej^oren, aiis dem Nietzsche die antike Tragödie entstehen läßt:
ihre Gesetze sind nicht die des Erzählens, des Vortrages, sondern
die des gebändigten Gefühls. Er ist Musiker und nicht Epiker.
Rolland hat auch gar nicht das als Erzähler, was man einen
Stil nennt. Er schreibt nicht ein klassisches Französisch, er
hat keine stabile Architektonik des Satzes, keinen bestimmten
Rhythmus, kein Kolorit des Wortes, keine persönliche
Diktion. Er ist unpersönlich, weil er nicht den Stoff formt,
sondern von ihm geformt wird. Er hat nur eine geniale
Anpassungsfähigkeit an den Rhythmus des Geschehnisses, die
Stimmung der Situation : er ist Resonanz, Widerschwingen des
Gefühls. In der ersten Zeile ist schon immer der Anschlag wie
in einem Gedicht: dann trägt der Rhythmus die Szene weiter
und daher auch die kurzen knappen Episoden, die oft selbst
wie Lieder sind, jedes von anderer Melodie getragen, und die
rasch wieder verlöschen, anderer Stimmung, anderem Gefühl
das Wort gebend. Es gibt kleine Präludien im Johann Christof,
die reine Liedkunst sind, zarte Arabesken und Capriccios,
Toninseln inmitten des rauschenden Meeres; dann wieder
Stimmungen, finster wie Balladen, Noctumos voll dämonischer
Wucht und Traurigkeit. Wo Rolland aus musikalischer In-
spiration schafft, zählt er unter die größten Künstler der
Sprache. Daneben gibt es freilich wieder Stellen, wo der Histo-
riker, der Zeitkritiker spricht: da löscht plötzlich jener Glanz
aus, sie wirken wie kalte Rezitative in einem musikalischen
Drama, die notwendig sind, um die Handlung zu binden, und
die das ergriffene Gefühl doch gerne auslösen möchte, so sehr
sie dem Geiste Anregung bieten. Der uralte Zwist zwischen
dem Musiker und dem Historiker ist in diesem Werke noch
zu spüren.
Aber doch nur aus dem Geist der Musik kann man die Archi-
tektonik des Johann Christof begreifen. So plastisch auch alle
Figuren herausgearbeitet sind, so wirken sie doch nur thematisch
in das flutende Element des tönenden Lebens verwoben: das
Wesentliche ist immer der Rhythmus, der von ihnen ausgeht
und der am stärksten aus Johann Christof, dem Meister der
Musik, strömt. Und man versteht den Bau, die innere archi-
tektonische Idee des Werkes nicht, w^enn man die bloß äußer-
liche Einteilung des französischen Originals in zehn Bände be-
trachtet, die eine rein buchhändlerische ist. Die wesentlichen
Cäsuren sind jene zwischen den kleinen Abschnitten, von denen
jeder in einer andern sprachlichen Tonart geschrieben ist.
Und nur ein Musiker, ein erlesener Musiker, dem die Sympho-
nien der Meister vertraut sind, könnte im einzelnen nachweisen,
wie hier ein episches Heldengedicht ganz als symphonisches
Werk, als Eroica gebaut ist, wie hier die Form des umfassend-
sten Tongebildes transponiert ist in die Welt des Worts.
Man erinnere sich nur an den wundervollen choralischen
Einsatz: das Rauschen des Rheins. Eine Urkraft spürt man,
Strom des Lebens, das von Ewigkeit zu Ewigkeit rauscht.
Dann löst sich leise eine kleine Melodie los: das Kind Johann
Christof ist geboren, geboren aus der großen Musik des Alls,
um in sie weiterzurauschen, die unendliche, wo jede Welle sich
wandernd verliert. Dramatisch treten die ersten Gestalten
heran, leise verklingt der mystische Choral: es beginnt das
irdische Drama einer Kindheit. Allmählich füllt sich der
Raum mit Menschen, mit Melodien, Gegenstimmen antworten
der zaghaften seinen, bis dann wie Dur und Moll die kraftvolle
Männerstimme Johann Christofs, die zartere Oliviers den
Mittelsatz beherrschen. Alle Formen des Lebens und der Mu-
sik entfalten sich dazwischen in Harmonien und Dissonanzen:
jene tragischen Ausbrüche Beethovenscher Melancholie, die
geistvollen Fugen über die Themen der Kunst, dörperische
Tanzszenen (wie die im „Brennenden Dornbusch**), Hymnen
136
an das Unendliche und Lieder an die Natur, rein wie jene
Schuberts. Wunderbar ist alles ineinander gebunden, wunder-
bar löst sich wieder der stürmende Schwall. Leise verklingt
der dramatische Tumult, die letzten Dissonanzen lösen sich
in die große Harmonie. Und im letzten Bilde kehrt (begleitet
von unsichtbaren Chören) die Melodie des Anfangs zurück ; der
rauschende Strom wandert zurück ins unendliche Meer.
So endet die Eroika Johann Christofs im Choral an die un-
endlichen Mächte des Lebens, im ewigen Element. Und dies
ewige Element wollte Rolland in der Form nachbilden, die
dem Unendlichen im Irdischen am nächsten ist: in der zeit-
losesten, freiesten, vaterlandslosesten, in der ewigen Kunst, in
der Musik. Sie ist Form und Inhalt des Werkes zugleich, Kern
und Schale in einem, nach Goethes Worten von der Natur:
und die Natur ist immer das wahrste Gesetz aller Gesetze für
die Kunst.
Das Mysterium der Schöpfung
Johann Christof ist kein Künstlerroman, sondern ein Lebens-
buch geworden, weil Rolland den schöpferischen Menschen
darin nicht gattungsmäßig absondert von dem ungenialen,
sondern im Künstler vielmehr den menschlichsten der Men-
schen sieht. In seinem Sinne ist das wahre Leben so identisch
mit Produktion wie im Sinne Goethes mit Tätigkeit. Wer sich
selbst verschließt, wer keinen Überschuß seines Wesens hat,
wer nicht ausströmt, überströmt, sich ergießt, wer nicht über
den Rand des Selbst einen Teil seiner vitalen Kraft der Zu-
kunft, der Unendlichkeit entgegenschleudert, der ist zwar
noch Mensch, aber kein wahrhaft lebendiger. Es gibt ein
Sterben vor dem Tode und ein Leben über das eigene Leben
hinaus: nicht der Tod bedeutet die wirkliche Grenze gegen das
137
Nichts, sonJem das Erlöschen der Wirkung. Nur Schaffen
ist Leben, „Es gibt nur eine Freude: die des Schaffens, alle
andern sind Schatten, die weltfremd über die Erde schweben.
Alle Lust ist Schöpfungslust, die der Liebe, die des Genies, die
der Tat. Alle entstammen sie einer Glut; ob man in der Sphäre
des Leibes oder des Geistes schafft, immer ist es Flucht aus
dem Gefängnis des Körpers, Sturz in den Lebenssturm, Gott-
werdung. Schaffen heißt den Tod töten".
’ Schöpftmg ist also Sinn des Lebens und das Geheimnis des
Lebens, Kern der Kerne. Wenn darum Rolland fast inimer
Künstler zu Helden wählt, so tut er es nicht aus dem Hochmut
der Romantiker, die gerne den melancholischen Genius gegen
die dumpfe Menge stellen, sondern um den Urproblemen näher
zu kommen: im Kunstwerk wird über Zeiten und Raum das
ewige Wunder der Zeugung aus dem Nichts (oder dem All) ja
gleichzeitig sinnlich am sichtbarsten und geistig am geheimnis-
vollsten. Für ihn ist die Kunstschöpfung das Problem der Pro-
bleme, weil der wahre Künstler der menschlichste der Menschen
ist. Und überall bohrt er sich hinab in die dunklen Labyrinthe
der Schöpfer, um der Ursekunde ganz nahe zu sein, der bren-
nenden Sekunde der geistigen Empfängnis, der schmerzhaften
Geburt: er belauscht Michelangelo, wie er seinen Schmerz zu
Stein ballt, Beethoven, wie er ausbricht in Melodie, Tolstoi,
wie er horcht auf den Herzschlag des Zweifels in seiner gepreß-
ten Brust. Jedem erscheint der Jakobsengel in anderer Ge-
stalt, aber gleich brennt allen die Kraft der Ekstase dem Gottes-
kampf entgegen: und diesen Urtyp des Künstlers, das Urele-
ment des Schöpferischen zu finden (wie Goethe die Urpflanze
suchte), ist eigentlich seine einheitliche Bemühung durch alle
Jahre. Er will den Schöpfer zeigen, die Schöpfung, weil er
weiß, daß in diesem Mysterium schon Wurzel und Blüte des
ganzen Lebensgeheimnisses ist.
13 «
Die Geburt der Kunst in der Menschheit hatte der Histo-
riker geschildert: nun naht sich der Dichter dem gleichen
Problem in verwandelter Form^ der Geburt der Kunst in einem
Menschen. Die „Histoire de VOp^a avant Lvlly*' und die
„Musiciens i*autrefoi$** hatten gezeigt, wie die Musik „die un-
endliche Blüte durch die Zeiten" zu knospen beginnt, wie sie
sich gleichsam auf andern Ästen der Völker und Epochen in
neuen Formen zu entfalten beginnt. Aber auch da schon war,
wie um jeden Anfang, Dunkel und Geheimnis, und in jedem
Menschen (der ja immer den Weg der ganzen Menschheit in
symbolischer Verkürzung wiederholen muß) beginnt das
Schöpferische als Mysterium. Rolland weiß, daß Wissen nie
die Urgeheimnisse entblättern kann, er hat nicht den Köhler-
glauben der Monisten, die mit Urgasen und andern Worten
die Schöpfung als mechanische Wirkung banalisieren. Er
weiß, daß Natur keusch ist und in ihren geheimsten Stunden
der Zeugung sich nicht belauschen läßt, daß kein geschliffenes
Glas die Sekunde fängt, wo sich Kristall an Kristall setzt und
die Blüte aus der Knospe springt. Nichts birgt die Natur
eifersüchtiger als ihre tiefste Magie: die ewige Zeugung, das
Geheimnis der Unendlichkeit.
So ist die Schöpfung, weil sie das Leben des Lebens ist, für
Rolland eine mystische Macht, weit hinausreichend über Willen
und Bewußtsein des Menschen. In jeder Seele lebt neben der per-
sönlichen, der bewußten, ein fremder Gast: „Es gibt eine ver-
borgene Seele, blinde Mächte, Dämonen, die jeder verschlossen
in sich trägt. Unsere ganze Bemühung seit Anfang der Mensch-
heit bestand darin, diesem inneren Meer die Dämme imserer
Vermmft und der Religionen entgegenzubauen. Aber wenn
9
ein Sturm kommt (und die reichsten Seelen sind diesen Stür-
men am meisten ausgesetzt) und diese Dämme eihstürzen,
werden die Dämonen frei". Nicht aus dem WiUen, sondern
139
gegen den Willen uL : iströmen aus dem Unbewußten, aus einem
Überwillen, heiße Wogen die Seele, und diesen „Dualismus der
Seele imd ihres Dämons'" kann Vernunft, kann Klarheit nicht
überwinden. Aus den Tiefen des Blutes, oft von Vätern und
Urvätern her überkommt cs den Schaffenden: nicht durch Tür
und Fenster seines wachen Wesens dringen die Mächte ein,
sondern wie Geister durch die Atmosphäre seines Seins. Plötz-
lich fällt der Künstler einem geistigen Rausch zum Opfer, dem
vom Willen unabhängigen Willen, „dem unaussprechlichen
Rätsel der Welt und des Lebens", wie Goethe das Dämonische
nennt. Als ein Gewitter bricht der Gott in ihn ein, als Abgrund
tut er sich vor ihm auf, äbime*\ in den er sich sinnlos
stürzt. Im Sinne Rollands hat kein wahrer Künstler die Kunst,
sondern die Kunst hat den Künstler. Sie ist der Jäger und er
das Wild, sie der Sieger und er der immer wieder selig Besiegte.
Der Schöpfer ist also immer schon vor der Schöpfung: das
Genie ist prädestiniert. In den Gängen des Blutes bereitet, in-
des die Sinne noch schlafen, schon die fremde Macht dem Kinde
die große Magie, und wunderbar hat Rolland dies geschildert,
wie des kleinen Johann Christof Seele schon gefüllt ist mit Mu-
sik, noch ehe er den ersten Ton vernommen hat. Der geheim-
nisvolle Dämon ist in die Kinderbrust gesperrt und wartet nur
auf ein Zeichen, um sich zu regen. Geschwisterliches zu er-
kennen. Und wie das Kind an der Hand des Großvaters in die
Kirche tritt und von der Orgel Musik ihm entgegenstürzt, da
reckt sich in seiner Brust grüßend der Genius den Werken der
fernen Brüder entgegen: das Kind jauchzt auf. Und wieder,
wie am Wagen die Schellen der Pferde melodisch klingen,
spannt sich in unbewußter Brüderschaft das Herz, verwandtes
Element erkennend. Und dann kommt der Augenblick der
Begegnung — eine der schönsten Stellen des Bi^phes und die
vielleicht schönste über die Musik — , wo der kleine Johann
140
Christof mühsam auf den Sessel klettert, sich vor den schwarzen
Zauberkasten des Klaviers setzt und zum erstenmal seine
Finger in das unendliche Dickicht der Harmonien und Disso-
nanzen tappen, wo jeder angeschlagene Ton wie Ja und Nein
auf die unbewußten Fragen der fremden Stimme in ihm ant-
wortet. Bald lernt er nun selbst die Töne erwecken, bald sie*
zu gestalten: erst suchten ihn die Melodien, jetzt sucht er sie.
Und die Seele, die dürstend nach Musik sie lange gierig einge-
trunken, strömt nun schaffend über den Rand ihres Wesens
in die Welt.
Dieser eingeborene Dämon des Künstlers wächst mit dem
Kinde, reift mit dem Manne, altert mit dem Greise : ein Vampyr,
nährt er sich von jedem Erlebnis, trinkt von seinen Freuden
und Leiden, allmählich saugt er alles Leben in sich, daß dem
Schöpferischen selbst nichts mehr bleibt als der ewige Durst
und die Qual des Schaffens. Im Sinne Rollands will der Künst-
ler gar nicht schaffen, er muß schaffen. Produktion ist für ihn
nicht (wie Nordau und ähnliche einfältig meinten) eine Wuche-
rung, eine Abnormität des Lebens, sondern die einzige wahre
Gesundheit: Unproduktivität ist Krankheit. Nie ist schöner
die Qual der fehlenden Inspiration geschildert worden als im
Johann Christof: wie ausgedörrtes Land, glühend im Sonnen-
brand, ist die Seele, und ihre Not ist ärger als Tod. Kein Wind-
hauch, der Kühlung bringt, alles verdorrt, die Freude, die
Kraft, schlaff hängt der Wille nieder. Und plötzlich ein Sturm
aus jenem schwarzen Himmel des Herzens, der Donner der
nahenden Gewalt, der zündende Blitz der Inspiration: mit
einemmal strömt es aus jjnendlichen Quellen, die Seele selbst
mitreißend in ewiger Lust : der Künstler ist die Welt geworden,
Gott, der Schöpfer aller Elemente. Was ihm begegnet, reißt er
mit in diesep brausenden Schwall „tout lui est pretexte ä sa
fecondite intarrisahle'* — „alles wird ihm Vorwand für seine
unerschöpfliche Fruchtbarkeit'*. Er verwandelt das gai^
Leben in Kunst und wie Johann Christof selbst sein Sterben
in eine Symphonie, seinen Tod
Um das Gar. ^e des Lebens ztTfössen, liat Rolland sein tiefstes
Geheimnis, die Schöpfung, zu schildern versucht: das All in
seinem Ursprung, die Kunst in einem Künstler. Zwischen
Schaffen und Leben, das die Schwächeren so ängstlich zu schei-
den sich bemühen, hat er eine Bindung gegeben in vorbildlicher
Gestalt, denn Johann Christof ist gleichzeitig das wirkende
Genie und der leidende Meijsch, leidend durch Schaffen und
schaffend durch Leiden. Sein erträumter Genius wird, eben
weil er ein Schöpfer ist, der Lebendigste der Lebendigen,
Johann Christof
Oie Kunst hat viele Formen: aber ihre höchste ist immer die,
die der Natur in Gesetz und Erscheinung am innigsten ver-
wandt ist. Das wahre Genie wirkt elementar, wirkt naturhaft,
es ist weit wie die Welt und vielfältig wie die Menschheit. Es
schafft aus Fülle, nicht aus Schwäche. Und darum ist seine
ewige Wirkung, daß es wieder Stärke schafft, die Natur ver-
herrlicht und das Leben über sein zeitliches Maß ins Unendliche
steigert.
Als solches Genie ist Johann Christof gedacht. Schon sein
Name ist Symbol. Er heißt nicht nur Johann Christof Krafft,
er ist selbst die Kraft, die ungebrochene, von bäuerlicher Erde
genährte Kraft, die vom Schicksal ins Leben geschleudert wird
wie ein Projektil, das alle Widerstände gewaltsam zersprengt.
Unablässig scheint nun diese Kraft der Natur mit dem Leben
im Streit, solange man den Begriff des Lebens mit dem Seien-
den, dem Ruhenden, dem Bestehenden, dem schon Vorhande-
nen identifiziert. Im Sinne RoUands aber ist Leben nicht das
142
Rl^nde, sondern der Kampf gegrä das Ruhende, es ist Schöp-
fung, Erschaffung, der ewige Auftrieb gegen die Schwerkraft
des „ewig Gestrigen". Und gerade das Genie, der Bote des
Neuen, muß notwendigerweise der Kämpfer unter den Künst-
lern sein. Neben ihm stehen die anderen Künstler in fried-
licherem Tun, die Schauenden, die weisen Betrachter des Ge-
wordenen, die Vollender des Gesehenen, die gelassenen Ordner
der Resultate. Sie, die Erben, haben die Stille, er, der Ahnherr,
den Sturm. Er muß das Leben erst in Kunstwerk verwandeln,
er darf es nicht als Kunstwerk genießen, er muß sich alles erst
schaffen, seine Form, seine Tradition, sein Ideal, seine Wahr-
heit, seinen Gott. Nichts ist für ihn fertig, ewig muß er be-
ginnen. Das Leben grüßt ihn nicht als warmes Haus, in dem
er es sich wohnlich machen kann; ihm ist es bloß Material für
einen neuen Bau, in dem andere, spätere dereinst wohnen
werden. Darum ist ihm keine Ruhe verstattet. „Gehe hin ohne
zu rasten," sagt ihm sein Gott, „man muß ewig kämpfen."
Und er, der Getreue des großen Befehls, geht von seinen Kna-
benjahren bis in die Stunde des Todes diesen Weg, unablässig
im Kampf, das glühende Schwert des Willens in der Faust.
Manchmal ist er müde und schreit auf mit Hiob: „Muß denn
der Mensch ewig in Streit sein auf Erden und sind nicht seine
Tage immerdar wie die eines Tagelöhners?" Aber aufstehend
aus seinen Mattigkeiten, erkennt er, „daß man nur dann sehr
lebendig ist, wenn man nicht fragt, wozu man lebt, sondern
nur lebt, um zu leben". Er weiß, daß die Mühe auch schon der
Preis ist, und sagt in wunderbar erleuchteter Stunde das schönste
Wort seines Schicksals: „Ich suche nicht den Frieden, ich suche
das Leben."
Kampf aber meint Gewalt. Und Johann Christof ist trotz
aller angeborenen Güte ein Gewalttätiger. Etwas Barbarisches,
.etwas Elementares ist in ihm, etwas von der Wucht eines Stur-
143
mcs oder eines Sturzbaciies, der, nicht eigenem WiU&n, smß&m
unbewußten Gesetzen der Natur gehorchend, in die Niedeirääi-
gen des Lebens stürzt. Schon äußerlich drückt sein Wesen
Kampfkraft aus; Johann Christof ist groß, wuchtig, fast unge-
schlacht, er hat schwere Hände, muskelige Arme, ein volles
rotes Blut, das sich in Leidenschaft leicht aufwühlt und ihn zu
gewitterhaften Ausbrüchen reizt. In seinem schweren, unger
lenken, aber unermüdlichen Schritt ist die schwere Kraft seiner
mütterlichen Bauem-Ahnen, und diese Elementarkraft gibt
ihm Sicherheit in den schwersten Krisen seines Lebens. „Wohl
dem, den eine starke Rasse in den Mißständen des Lebens auf-
recht hält, die Füße des Vaters und Großvaters tragen den er-
mattenden Sohn weiter, das Wachstum kräftiger Ahnen er-
hebt die zerbrochene Seele.'" Widerstand gegen eine schwere
Gegenwart gibt solche körperliche Kraft, aber auch noch mehr:
Vertrauen in die Zukunft, einen gesunden unbeugsamen Opti-
mismus, ein unerschütterliches Siegesbewußtsein. ,,Ich habe
noch Jahrhunderte vor mir," jauchzt er einmal auf in einer
Stunde der Enttäuschung, ,,es lebe das Leben, cs lebe die
Freude!" Von der deutschen Rasse hat er dies Siegfriedsver-
trauen ins Gelingen: darum fordert er gewaltsam zum Kampf
heraus. Er weiß, ,,Le gmic veut Vohstacle, Vdbstaclc fait le genie'\
— ,,Das Genie will das Hemmnis, das Hemmnis schafft das
Genie."
Gewalt aber ist immer selbstwillig. Der junge Johann Chri-
stof, solange seine Kraft noch nicht geistig geläutert, noch
nicht sittlich gezähmt ist, sieht nur sich. Er ist ungerecht gegen
die andern, taub und blind gegen jeden Einspruch, gleichgültig
gegen Gefallen und Mißfallen. Wie ein Holzfäller stürmt er
durch den Wald, schlägt nach rechts und links mit der Axt,
nur um Licht und Raum zu haben für sich. Er schmäht die
deutsche Kunst, ohne sie zu verstehen, er verachtet die fran-
144
■ iü^ÄTerhär^Ädlrt'äre
beit Starken Jugend**, die mit dem Baccalaureus sagt:
Welt, sie war nicht, eh' ich sie erschuf." Seine Kraft tobt
si^ Hus in Rauflust, denn nur im Kampfe fühlt er sich selbst,
lüblf^er das unendlich geliebte Leben.
/^päeser Kampf Johann Christofs wird nicht schwächer mit
•^i^ahren. Denn so stark seine Kraft ist, so groß ist auch sein
ifll^schick. Johann Christof kennt seinen Gegner nicht: er
das Leben schwer, und eben daß er es so langsam er-
ä^Pfet, Stück um Stück, jedes besprengt mit Blut und Tränen
ifäfes Zorns, macht den Roman so erschütternd und so pädago-
jglsch. Nichts fällt ihm leicht, nichts fällt ihm in die Hände.
®«-ist „tumb** wie Parsifal, naiv, gutgläubig, ein wenig laut
.,.^d provinzlerisch: statt sich abzuschleifen und glatt zu wer-
den an den Mühlsteinen der Gesellschaft, zerstößt er sich die
vKuochen. Er ist ein intuitives Genie, aber kein Psychologe,
j antizipiert nichts, sondern muß alles erleiden, um es zu wis-
sen. ,,Er hatte nicht den Raubvogelblick der Franzosen und
Juden, der das allerkleinste Fetzchen von Objekten erfaßt
; und zerfasert. Wie ein Schwamm sog er sich schweigsam mit
' allem voll. Erst nach Stunden, oft tagelang später merkte er,
-daß er alles in sich eingefangen hatte.** Für ihn gibt es nichts
j; Jiußerliches: er muß jede Erkenntnis erst in Blut umsetzen,
: ^ichsam verdauen: er wechselt nicht Ideen und Begriffe wie
'Banknoten gegen andere ein, sondern speit das Falsche, all die
'^ügen und banalen Vorstellungen, die ihm die Jugend aufge-
' ^drängt hat, nach langer Übelkeit aus: dann erst kann er
wieder neue Nahrung zu sich nehmen. Ehe er Frankreich er-
kennt, muß er erst alle seine Masken, eine nach der andern.
abgerissen haben, und ehe er zu Grazia, der „Unsterblich-Ge-
lie'bten**, gelangt, muß er durch niedere Abenteuer gegangen sein.
Üud muß, ehe er sich und seinen Gott findet, sein ganzes Leben ge-
10
i g , Romain Rolland
145
lebt haben! erst am anderen ^fer erkennt Christophorus, daß
seine Bürde eine Botschaft war.
Aber er weiß, ,,es ist gut zu leiden, wenn man stark ist'*,
und liebt sein Hindernis. „Alles Große ist gut, und höchster
Schmerz grenzt an Befreiung. Was niederschlägt, zu Boden
preßt, die Seele unheilbar zerstört, ist nur das Mittelmaß des
Schmerzes und der Freude." Allmählich lernt er seinen ein-
zigen Feind erkennen, sein eigenes Ungestüm; er lernt, ge-
recht zu sein, er beginnt sich und die Welt zu verstehen. Der
Leidenschaftliche wird klar; er begreift, daß die Feindlichkeit
nicht ihm gilt, sondern der Macht der Ewigen, die ihn treibt,
er lernt seine Feinde lieben, weil sie ihm zu sich selbst geholfen
haben und zu gleichem Ziele gehen auf anderem Wege. Die
Lehrjahre sind zu Ende, und — wie Schiller so schön in jenem
Briefe an Goethe sagt — „Lehrjahre sind ein Verhältnisbegriff,
sie fordern ihr Korrelatum, die Meisterschaft, und zwar muß
die Idee von der letzten jene erst erklären und begründen".
Der alternde Johann Christof beginnt klar zu sehen: in allen
Verwandlungen ist er allmählich er selbst geworden, alle Vor-
urteile sind von ihm abgefallen, er ist „frei von jedem Glau-
ben, jedem Wahn, frei von den Vorurteilen der Völker und
Nationen", und eben deshalb befähigt, der große Gläubige
an das Leben zu sein. Er ist frei und doch fromm, seit er
den Sinn seines Weges spürt. Und „transfigure par la foi** —
„verwandelt durch den Glauben" — erhöht sich sein einst so
naiver, lärmender Optimismus, der ausrief : „Was ist das Leben ?
Eine Tragödie. Hurra!", in eine milde Weisheit, die alles um-
faßt. ,,Gott dienen und ihn lieben, heißt dem Leben dienen
und es lieben" ist sein freigeistiges Bekenntnis. Es spürt neue
Generationen hinter sich aufsteigen und grüßt in ihnen, die
ihn befeinden, das ewige Leben. Er sieht seinen Ruhm sich
wölben wie einen Dom und fühlt ihn ganz ferne von sich. Er
146
ist Führer gewogen, der ein zielloser Stürmer war, aber sein
eigenes Ziel wird ihm erst klar, da in klingender Woge der Tod
ihn umrauscht und er einströmt in die große Musik, in den
ewigen Frieden.
Was diesen Kampf Johann Christofs so heroisch groß macht,
ist, daß er einzig um das Größte geht, um das Lebensganze.
Alles muß dieser ringende Mensch sich selbst erbauen: seine
Kunst, seine Freiheit, seinen Glauben, seinen Gott, seine Wahr-
heit. Er muß sich freikämpfen von allem, was ihn die andern
gelehrt, von jeder Gemeinschaft der Kunst, der Nationen,
Rassen und Konfessionen: nie ringt seine Leidenschaft um ein
Einzelnes, um Erfolg oder Vergnügen (,,»7 n*y a aucun y apport
entre la passion et le plaisir** — „es gibt keine Gemeinschaft zwi-
schen der Leidenschaft und dem Vergnügen'*). Und was diesen
Kampf so tragisch macht, ist seine Einsamkeit. Nur für sich
müht er sich um die Wahrheit, weil er weiß, daß jeder Mensch
seine eigene Wahrheit hat, und wenn er dennoch den Menschen
ein Helfer wird, so ist er es nicht durch Worte, sondern durch
sein Wesen, das durch kraftvolle Güte so wunderbar bindend
wirkt. Wer an ihn rührt — die ersonnenen Menschen im Buche
ebenso wie die wirklichen Menschen, die das Buch lesen — ,
wird von seinem Wesen gesteigert, denn die Macht, durch die
er siegt, ist eben dasselbe Leben selbst, das uns allen zugeteilt
ist. Und indem wir ihn lieben, lieben wir gläubig die Welt.
Olivier
Johann Christof ist Bildnis des Künstlers: aber jede Form
und jede Formel der Kunst und des Künstlers muß notwendig
einseitig sein. So stellt ihm Rolland in der Mitte des Weges —
f^nel mezzo del cammin*^ — den Gegenspieler entgegen, den
Franzosen dem Deutschen, den Heros des Gedankens dem
Io*
147
Heroen der Tat. Johann Christof und Olivier sind Komple«
mentärfiguren, sie ziehen notwendig einander an aus dem
tiefen Gesetz der Polarität, „sie waren sehr verschieden von
einander, liebten sich aber um dieser Verschiedenheit willen,
weil sie von gleicher Art waren“ — von der edelsten. Olivier
ist so sehr Essenz des geistigen Frankreichs, wie Johann Chri-
stof Schößling der besten deutschen Kraft, sie sind Ideale, ge-^
meinsam zu einem höchsten gestaltet. Wie Dur und Moll
ineinander klingend, wandeln sie, härter und zarter, das
Thema der Kunst und des Lebens in den wunderbarsten Varia-
tionen ab.
Äußerlich freilich sind die Kontraste sehr ausgesprochen,
schon körperlich und sozial. Olivier ist zart, blaß, kränklich,
er stammt nicht wie Christof von der Scholle des Volkes,
sondern aus einem müden alten Bürgertum, seine Seele hat
bei aller Feurigkeit aristokratische Lebensangst vor dem Ge-
meinen. Seine Vitalität kommt nicht wie bei seinem robusten
Kameraden aus Überkraft, aus Muskeln und Blut, sondern
aus Nerven imd Hirn, aus Wille imd Leidenschaft. Er ist
mehr rezeptiv als produktiv. „Er war Efeu und mußte sich
anranken, eine weibliche Seele, die immer lieben und geliebt
werden mußte.“ Zur Kunst flüchtet er gleichsam vor der
Wirklichkeit, indes sich Johann Christof in sie stürzt, um in
ihr das Leben noch vervielfacht zu finden; im Sinne Schillers
ist Olivier der sentimentale Künstler gegen das naive Genie
seines deutschen Bruders. Er ist Schönheit einer Kultur,
Symbol für „/a vaste culture et le ginie psychologique de la
France**) Johann Christof ist der Prachtwuchs einer Natur,
Olivier das Schauen, sein Freund die Tat: in ihm spiegelt alles
zurück, indes das Genie sich in die Welt leuchtet, „Er über-
trägt alle Kräfte, die er der Tat entzog, auf das Denken“, er
produziert Ideen, Christof Vitalität, er ydll nicht die Welt ver-
148
bessern, sondern sich selbst. Ihm genügt es, jn sich den ewigen
Kampf der Verantwortung auszutragen, dem Spiel der Zeiten
sieht er gelassen zu, mit dem schmerzlich skeptischen Lächeln
seines Lehrers Renan, der die unabwendbare Wiederkehr alles
Schlechten im voraus kennt, den ewigen Sieg des Unrechten
und Unechten. Und darum liebt er nur die Menschheit, die
eine Idee ist, und nicht die Menschen, ihre unzulängliche Reali-
sation.
Als ein Schwacher, ein Furchtsamer, ein Tatloser erscheint
er dem ersten Blick, und so sieht ihn zuerst auch, fast zornig,
sein Freund. „Kannst du denn nicht hassen?“ fährt ihn der
Gewalttätige an. „Nein,“ erwidert Olivier lächelnd, „ich
hasse den Haß. Es widert mich an, mit Leuten zu kämpfen,
die ich verachte.“ Er paktiert nicht mit der Wirklichkeit,
seine Stärke ist Einsamkeit. „Ich gehöre nicht zum Heere der
Gewalt, ich gehöre zum Heere des Geistes.“ Keine Niederlage
kann ihn erschrecken, kein Sieg ihn überzeugen: er weiß, daß
Gewalt die Welt regiert, aber er erkennt sie nicht an. Johann
Christof rennt mit seinem germanischen, urheidnischen Zorn
gegen die Widerstände an und zertritt sie: Olivier weiß, daß
morgen das zertretene Unkraut wieder wächst. Er geht vor-
über ohne Zorn, im Sinne Goethes denkend
Übers Niederträchtige
Keiner sich beklage,
Denn es ist das Mächtige,
Was man dir auch sage.
Er will nicht den Kampf, und wenn er ihm ausweicht, so
hemmt ihn nicht Furcht vor der Niederlage, sondern Gleich-
gültigkeit gegen den Sieg. Die Verachtung alles Ungerechten
beugt sich keinem Erfolg, er verweigert sich dem Cäsar um
Christi willen, denn dieser freie Geist birgt in tiefster Seele
149
reinstes Christentun* : „Ich liefe Gefahr, meine Seelenruhe
zu verlieren, ui.d daran liegt mir mehr als am Siege. Ich
will nicht hassen. Ich will selbst meinen Feinden Gerechtig-
keit widerfahren lassen. Inmitten aller Leidenschaften will ich
mir die Klarheit des Blickes erhalten, um alles verstehen zu
können und alles zu lieben/*
Und Johann Christp^, erjkennt bald den Bruder seines Geistes:
er fühlt, daß dieser Heroismus* des Gedankens nicht geringer
ist, als der Heroismus der Tat, Oliviers idealistischer Anarchis-
mus nicht minder kühn als seine elementare Revolte. Und in
diesem scheinbar Schwachen ehrt er eine eherne Seele. Nichts
kann Olivier beugen, nichts seinen klaren Geist verwirren.
Nie wird ihm Überzahl zum Argument: „Er besaß eine Selb-
ständigkeit des Urteils, die nichts erschüttern konnte. Wenn
er etwas liebte, so liebte er es gegen die ganze Welt.*' Gerech-
tigkeit ist der einzige Pol, zu dem die Nadel seines Willens un-
beirrbar zeigt, der einzige Fanatismus dieser klaren Seele,
Wie sein schwächerer Vorgänger Aert hat er „faim de justice**,
Hunger nach Gerechtigkeit, und jede Ungerechtigkeit, auch
die längst vergangener Zeiten, bedrückt ihn als Störung der
Weltordnung. Darum ist er bei keiner Partei, sondern der
ewige Anwalt aller Unglücklichen und Unterdrückten, „immer
bei den Besiegten", er will nicht sozial der Masse, sondern den
einzelnen Seelen helfen, indes Johann Christof der ganzen
Menschheit alle Paradiese der Kunst und der Freiheit erobern
möchte. Olivier aber weiß, es gibt nur eine wahre Freiheit:
die innere, die man sich selbst und nur sich selbst erobern kann.
Der Wahnsinn der Massen, ihr ewiger Klassen- und Nationen-
streit um die Macht, ist ihm schmerzlich aber fremd. Und als
einziger von aßen, während selbst Johann Christof abreisen
will und kämpfen, als der Krieg zwischen Deutschland und
Frankreich auszubrechen droht, als alle in ihrer Überzeugung
150
stürzen und hinschwanken, bleibt er aufrecht. „Ich liebe mein
Vaterland,“ sagt er zu dem Bruder aus anderem Land, „ich
liebe es wie du das deine. Aber kann ich um seinetwillen meine
Seele töten, mein Gewissen verraten? Das hieße mein Vater-
land selbst verraten. Ich gehöre zum Heere des Geistes, nicht
zum Heere der Gewalt.“ Aber die Gewalt, die brutale, nimmt
ihre Rache am Gewaltlosen, sie zertritt ihn stumpfsinnig und
roh in banalem Zufall. Nur seine Idee, sein wahrel Leben
überlebt ihn, einer ganzen späteren Generation den mystischen
Idealismus seines Glaubens erneuernd.
Als ein wunderbarer Anwalt des Gewissens antwortet hier der
Gewaltlose dem Gewaltsamen, der Genius des Geistes dem Genius
der Tat, Zutiefst eins in der Liebe zur Kunst, in der Leiden-
schaft der Freiheit, im Bedürfnis sittlicher Reinheit, sind die
beiden Helden, jeder gleichzeitig „fromm und frei“ in anderm
Sinne, Brüder in jener letzten Sphäre, die Rolland so schön
„die Musik der Seele“ nennt: in der Güte. Nur daß Christofs
Güte eine des Instinktes ist, elementarer also und von Rück-
fällen in den Haß leidenschaftlich unterbrochen, die Oliviers
eine wissende Güte, eine weise, die nur manchmal ironische
Skepsis überleuchtet. Aber eben durch diese zwiefältige, diese
komplementäre Form reinen Urtriebes fühlen sie sich mäch-
tig angezogen: Christofs gläubige Robustheit lehrt den ein-
samen Olivier wieder die Freude zum Leben, Christof aber
lernt von Olivier Gerechtigkeit. Der Weise wird erhoben durch
den Starken, der Starke geläutert durch die Klarheit — ein
Symbol sollte diese gegenseitige Beglückung sein für die beiden
Völker, eine geistige Freundschaft, die hier in zwei Individuen
geprägt war, zu einem Seelcnbund der Brudemationen zu er-
heben, die „beiden Schwingen des Abendlandes“ zu verbinden,
daß sich frei in ihnen der europäische Geist aufschwinge über
die blutige Vergangenheit.
Grazda
Johann Christof ist die schöpferische Tat, Olivier der schöp-
ferische Gedanke: eine dritte Form erst schließt den Kreis der
Existenz, Grazia, das schöpferische Sein, das nur in Schönheit
und Klarheit leben muß, um sich zu erfüllen. Wie früher, sagt
auch hier der Name symbolisch alles: der Kraft des Mannes,
dem Johann Christof Krafft, begegnet im Abendrot Grazia,
die ruhige Schönheit d^ Frau, und hilft dem Ungeduldigen
zum Einklang, zur letzten Harmonie.
Bisher hat Johann Christof nur zweierlei gehabt, Kampfge-
fährten und Kampfesfeinde auf seinem weiten Wege nach dem
Frieden. In Grazia begegnet er zum erstenmal dem nicht ge-
spannten, nicht aufgereizten, nicht erregten Menschen, der
klaren Harmonie, die er unbewußt in seiner Musik seit Jahren
sucht. Grazia ist kein brennender Mensch, an dem er sich ent-
zündet, das Feuer ihrer innern Sinnlichkeit ist längst schon ge-
dämpft durch eine leise Lebensmüdigkeit, eine süße Trägheit,
aber auch in ihr schwingt jene „Musik der Seele'*, die große
Güte, die ihm Menschen erst brüderlich macht. Sie treibt ihn
nicht weiter fort — er ist ja schon so weit gestürmt, weiß leuch-
tet das Haar an seinen Schläfen — sie zeigt ihm nur die "Ruhe,
„das Lächeln des lateinischen Himmels“, in dem seine wieder
aufstrebende Unruhe sich endlich leise wie eine Wolke, die
gegen Abend hinzieht, verliert. Die wilde Zärtlichkeit, die
wie ein Krampf ihn durchschütterte, das Liebesbedürfnis, das
elementar im „feurigen Dornbusch“ aufloderte und seine ganze
Existenz zu vernichten drohte, hier ist es geklärt in der „über-
sinnlichen Ehe“ mit Grazia, der „unsterblichen Geliebten“;
irgendein Glanz griechischer Welt zerteilt die Nebel seines
deutschen Wesens. An Olivier wird Johann Christof klar, an
Grazia milde: Olivier hat ihn mit der Welt versöhnt, Grazia
mit sich selbst, Olivier war Virgil, der ihn geleitete durch die
152
Fegefeuer des Irdischen, sie wird die Beatrice, aufdeutend in
die Himmel der großen Harmonie: Nie ward der europäische
Dreiklang in edleren Symbolen erfaßt, die deutsche dumpfe
Wildheit, die französische Klarheit, die milde Schönheit itali-
schen Geistes. In diesem Dreiklang löst sich seine Lebensmelo-
die. Johann Christof ist nun Bürger der ganzen Welt, heimisch
in allen Gefühlen, Ländern tmd Sprachen, und er kanii ein-
gehen in die letzte Einheit alles Lebens: in den Tod.
Es ist eine der stillsten Gestalten des Buches: Grazia, „Za
linda'*\ kaum fühlt man sie durch die erregten Welten schrei-
ten, aber ihr Lächeln, ihr sanftes Mona Lisa-Lächeln strömt
wie ein transparentes Licht in den beseelten Raum. Ohne sie
fehlte dem Werke wie dem Menschen jene große Magie des
„Ewig Weiblichen“, die Einkehr zum letzten Geheimnis. Und
wie sie schwindet, bleibt noch “ein Glanz von ihr zurück, dies
Buch des Überschwanges und des Kampfes mit leiser lyrischer
Wehmut süß erfüllend und auflösend in eine neue Schönheit : in
den Frieden.
Johann Christof und die Menschen
Trotz aller innigen Beziehungen aber ist Johann Christofs,
ist des Künstlers Weg unter den Menschen im letzten Ein-
samkeit. Er geht nur auf sich selbst zu, immer auf sich selbst,
immer tiefer in das Labyrinth seines Wesens hinein; das Blut
von Ahnen und Urahnen treibt ihn fort aus einer Unendlichkeit
verworrenen Ursprungs der anderen Unendlichkeit der Schöp-
fung entgegen. Die Menschen auf seinem Wege sind im letzten
Sinne bloß Schatten und Winke, Meilensteine des Erlebens,
Stufen des Anstieges, Stufen des Abstiegs, Episoden, Erfahrun-
gen. Aber was ist Erkenntnis denn anders als eine Summe von
Erfahrungen, ein Leben denn anders als eine Summe von Be-
153
gegnungen? Die Menschen sind nicht Johann Christofs Schick*
sal, aber sie sind Material, das er in Schöpfung verwandelt.
Sie sind Element des Unendlichen, dem er sich verschwistert
fühlt, und da er das Ganze des Lebens will, muß er auch sein
bitteres Teil mitnehmen, die Menschheit.
So helfen ihm alle: seine Freunde viel und seine Feinde noch
mehr, denn sie mehren seine Vitalität, sie reizen seine Kraft.
Sie fördern das Werk (und was ist der wahre Künstler anders
als das werdende Werk?), gerade wenn sie ihn hemmen wollen,
und^in der großen Symphonie seiner Leidenschaft sind sie die
hellen und dunklen Stimmen, die unlösbar verwoben sind in
den rauschenden Rhythmus. Manches einzelne Thema läßt er
lässig fallen, manches nimmt er auf. Da ist inmitten der Kind-
heit Gottfried, der gütige Alte, der irgendwo herkommt aus
dem Geiste Tolstois. Flüchtig taucht er auf, immer nur für
eine Nacht, das Bündel auf den Schultern, ewiger Ahasver,
aber gütig froh, nie sich auflehnend, nie klagend, der Mensch,
der gebückt, aber in edler Beharrlichkeit seinen Weg zu Gott
geht. Er rührt Christofs Leben nur an: aber die flüchtige Be-
rührung genügt schon, um den Schöpferischen in Schwingung
zu setzen. Oder da ist Kassier, der Komponist. Nur ein Blitz-
bild zeigt Johann Christof sein Antlitz im Beginne seines
Werkes, aber in dieser Sekunde erkennt er die ganze Gefahr
ihm gleich zu werden durch Lässigkeit des Herzens, und er
strafft sich auf. Winke, Rufe, Zeichen, Stimmgabeln des Ge-
fühls sind ihm die Menschen. Jeder treibt ihn, der eine mit
Liebe, der andere mit Haß, der alte Schulz hilft ihm durch
sein Verständnis in einer Sekunde der Verzweiflung, der Hoch-
mut der Frau von Kerich, die Torheit der Kleinstädter, jagt
ihn in andere Verzweiflung, in die Flucht, die seine Rettung
wird. Gift und Arznei sind einander furchtbar ähnlich. Aber
nichts bleibt für den schöpferischen Menschen sinnlos, weil
154
er allem den Sinn für sich aufprägt, im Werke strömend leben-
dig macht, was sein Leben rücksteuemd hemmen will. Das
Leiden ist ihm notig für das Wissen. Immer holt er aus der
Trauer, aus der tiefsten Erschütterung seine tiefste Kraft: und
mit Absicht stellt Rolland die schönsten der imaginären Werke
Johann Christofs in die Zeit seiner tiefsten seelischen Erschütte-
rung, in die Tage nach dem Tode Oliviers, und jene anderen
nach dem Hingang der „unsterblichen Geliebten**. Wider-
stand und Qual, die Feinde des Menschen, sind die Freunde
des Künstlers: so ist ihm jeder, der ihm begegnet, Förderung,
Nahrung, Erkenntnis. Gerade für seine tiefste schöpferische
Einsamkeit braucht er die Menschen.
Freilich, er weiß es lange nicht, und er beurteilt die Menschen
anfangs falsch, weil er sie durch sein Temperament sieht,
nicht durch Erkenntnis. Erst fühlt Johann Christof alle Men-
schen mit seinem überströmendea Enthusiasmus; er meint,
daß sie alle aufrichtig seien und gutmütig wie er, der sein Wort
achtlos auf der Lippe trägt. Und sofort nach den ersten Ent-
täuschungen sieht er sie wieder falsch durch Erbitterung und
verschanzt sich in Mißtrauen. Aber zwischen Überschätzung
und Mißachtung bildet sich allmählich das richtige Maß. Von
Olivier zur Gerechtigkeit erhoben, von Grazia zur Milde ge-
lenkt, weise werdend am gelebten Leben, versteht er nicht bloß
sich selbst mehr, sondern auch seine Feinde. Ganz am Ende
des Werkes steht eine kleine Szene, eine unbedeutsame wie es
scheint: Johann Christof begegnet seinem ältesten Feinde
L6vy-Coeur und reicht ihm spontan die Hand. In dieser Ver-
söhnung ist mehr als das Mitleid eines Augenblicks: hier ist
der Sinn der langen Wanderung, die große Erkenntnis, die —
in leichter Veränderung seines alten Spruches vom wahren
Heldentum — sein letztes Bekenntnis wird: „Die Menschen
kennen und sie dennoch lieben".
155
Johann Christof und die Nationen
Mit Leidenschaft und Vorgefühl sieht der junge Ungestüme
die Menschen und versteht darum ihie Wesenheit nicht: mit
Leidenschaft und Vorgefühl sieht er auch erst die Menschen-
familien, die Völker. Es bleibt ja notwendiges Verhängnis, daß
wir zuerst — und viele ihr Leben lang — das eigene Land nur
von innen kennen, das fremde nur von außen: erst wenn wir
das eigene auch von außen kennen, das fremde von innen, in
der Brust seiner eingeborenen Kinder, dann erst können wir
europäisch sehen, können die verschiedenen Länder begreifen als
ein notwendiges Nebeneinander, als eine Ergänzung. Johann
Christof ist nun der Kämpfer um das Ganze des Lebens: des-
halb ist sein Weg auch der des Nationalmcnschen zum Welt-
bürger, zur „europäischen Seele“.
Johann Christofs Anbeginn ist freilich wie immer Vorurteil.
Erst überschätzt er Frankreich: er hat seine eingelemte Vor-
stellung von den künstlerisch frohen, freien Franzosen und
faßt sein Deutschland als Beschränktheit. Der erste Blick in
Paris wieder enttäuscht ihn: er findet nur Lüge, Lärm und Be-
trug. Erst allmählich entdeckt er, daß die Seele einer Nation
nicht außen liegt wie ein Pflasterstein am Wege, sondern daß
man sie aufgraben muß in ihren Menschen unter einer tiefen
Schicht von Schein imd Lüge. Bald gewöhnt er sich ab, zu
sagen „die“ Franzosen, „die“ Italiener, „die“ Juden, „die“
Deutschen und ihre Eigenschaft wie Etiketten auf ein vorge-
stanztes Urteil zu kleben. Jedes Volk hat sein eigenes Maß,
mit dem es gemessen sein will, jedes seine Form, seine Sitte,
seine Fehler, seine Lüge, wie es sein Klima hat, seine Geschichte,
seinen Himmel, seine Rasse, \md es läßt sich nicht durch Be-
griff und Wort fassen. Ein Land muß wie jedes Erlebnis von
innen aufgebaut werden, Worte bilden nur ein Kartenhaus.
156
i,bie Wahrheit ist bei allen. Völkern gleich, aber jedes Volk hat
seine Lüge, die es seinen Idealismus nennt. Jedes Wesen atmet
ihn ein von der Wiege bis zum Tod, er wird ihm zur Lebens-
notwendigkeit. Nur einige Genies können sich in heroischen
Kämpfen befreien, während derer sie allein sind im freien Welt-
all ihrer Gedanken." Erst muß man sich frei machen von jedem
Vorurteil, um frei urteilen zu können. Es gibt keine andere
Formel, gibt keine psychologischen Rezepte: man muß ein-
strömen wie bei jeder Schöpfung in die Materie, sich hingeben
in Vertrauen. Es gibt nur eine Wissenschaft, von den Völkern
sowohl wie von den Menschen : die des Herzens und nicht die
der Bücher. Nur solches Erkennen von Seele zu Seele bindet
die Völker: was sie trennt ist das ewige Mißverstehen, daß sie
einzig ihren Glauben für richtig halten, ihr Wesen für das einzig
gemäße, daß sie den Hochmut haben, die einzig richtigen zu
sein. Einzig der Nationalismus, das kollektive Selbstgefühl,
die „große europäische Hochmutspest", die schon Nietzsche
„die Krankheit des Jahrhunderts" nennt, entfremdet gewaltsam
die Nationen von den Nationen. Wie Bäume im Walde, Stamm
an Stamm, wollen sie jeder für sich stehen, indes sich in der Tiefe
die Wurzeln und in der Höhe die Kronen berühren. Das Volk,
die Tiefe, das Proletariat, fühlt keinen Gegensatz, weil es all-
menschlich fühlt — erstaunt erkennt Johann Christof an Sidonie,
dem bretonischen Dienstmädchen, „wie sehr sich die anständigen
Menschen in Frankreich und Deutschland gleichen". Und die
besten wieder, die Höhe, die Elite, Olivier, Grazia, sie leben
längst in jener reinen Sphäre Goethes, „wo man das Schicksal
fremder Nationen wie sein eigenes empfindet". Die Gemein-
samkeit ist eine Wahrheit, der Haß eine Lüge der Völker, Gerech-
tigkeit ist die einzig wahre Bindung zwischen Menschen und Na-
tionen: „Wir sind alle, alle Völker, .Schuldner einer des andern.
Tun wir also Schuld und Pflicht zusammen." Von allenNationen
157
hat JohaxiÄ Chfistof gdiiteh/ von allen ward ^^iasöhenkt,
allen ward er enttäuscht, von allen gesegnet. Immer reiner erkennt
er ihr Bildnis. Am Ende der Wanderschaft sind sie dem Weltr
bürger nur Heimat der Seele, und der Musiker in ihm träumt
von erhabenem Werk, von der großen europäischen Symphonie,
wo alle Stimmen der Völker sich aus Dissonanzen lösen und
steigern in die letzte, die höchste Harmonie der Menschheit.
Das Bildnis Frankreichs
Das Bildnis Frankreichs in dem großen Roman ist deshalb
bedeutungsvoll, weil hier ein Land in doppelter Optik gesehen
ist : von außen und von innen, aus der Perspektive eines Deut-
schen und mit den Augen eines Franzosen, und weil Christofs
Urteil nicht nur ein Sehen, sondern ein Sehen-Lernen bedeutet.
In allem und jedem ist der Gedankenweg des Deutschen ab-
sichtlich typisch gedacht. In seiner kleinen Heimatstadt hat
er noch keine Franzosen gesehen, und sein nur von Begriffen
genährtes Gefühl ist das einer jovialen, ein wenig herablassen-
den Sympathie. „Die Franzosen sind gute Kerle, aber schlapp“,
das ist ungefähr sein deutsches Vorgefühl: marklose Künstler,
schlechte Soldaten, verlogene Politiker, kokottenhafte Weiber,
aber gescheit, amüsant und freigeistig. Et^as in ihm sehnt
sich dumpf aus der deutschen Ordnung und Nüchternheit
dieser demokratischen Freiheit entgegen. Di^rste Begegnung
mit einer französischen Schauspielerin, Corinna, irgend einer
Wahlverwandten von Goethes Philine, scheint das leicht-
fertige Urteil zu bestätigen, aber schon bei der zweiten Be-
gegnung mit Antoinette spürt er ein anderes Frankreich.
„Sie sind so ernst“, staunt er das stille, schweigsame Mädchen
an, das sich hier in der Fremde mit Stundengeben in protzigen
Parvenüfämilien plagt. Ihr Wesen will sich durchaus nicht
158
yii«
w leichtfertig, übermütig uisd
Zum erstenmal stellt ihm Frankreich das „Rätsel seiner döpi^
pelten Natur" dar, und dieser erste Anruf aus der Ferne wird
geheimnisvolle Lockung; er spürt die imeiidlicUe Vielfalt frem-
den Wesens, und wie Gluck, wie Wagner, wie Meyerbeer, wie
Offenbach flüchtet er hinüber aus der Enge der deutschen Pro-
vinz in die Traumheimat der wahren Weltkunst, nach Paris.
Das erste Gefühl bei der Ankunft ist Unordnung, und dieser
Eindruck verläßt ihn nicht mehr. Er ist der erste, und letzte,
der stärkste, gegen den sich der Deutsche in ihm immer wieder
wehrt, daß hier eine starke Kraft durch Mangel an Disziplin
zersplittert wird. Sein erster Führer auf dem Jahrmarkt ist
einer lener falschen „echten Pariser", also einer jener Leute,
die sich pariserischer gebärden als alle Pariser, ein eingewan-
derter deutscher Jude, Sylvain Kohn, der sich hier Hamilton
nennt, und in dessen Händen alle Fäden des Kunstbetriebes zu-
sammenlaufen. Er zeigt ihm die Maler, die Musiker, die Poli-
tiker, die Journalisten — enttäuscht wendet sich Johann Chri-
stof ab. Er spürt in ihren Werken nur einen unangenehmen
„Odor di femina*\ eine parfümierte, überladene, stickige Luft.
Er sieht das Lob, die Pomade über die Stirnen der Einfäl-
tigen triefen, hört nur Geschrei und Anpreisung und Lärm,
ohne ein wirkliches Werk zu sehen. Einiges freilich scheint
ihm Kunst, aber es ist eine zarte, überfeinerte, dekadente Kunst,
einzig aus Geschmack, nie aus Kraft gestaltet, innerlich brüchig
durch Ironie, überklug, überfeinert, eine hellenistische, eine
alexandrinische Literatur und Musik, Atem eines schon ster-
benden Volkes, schwüle Blüte einer welkenden Kultur. Nur ein
Ende sieht er und keinen Anfang, und der Deutsche in ihm
hört schon das „Rollen der Kanonen, das dieses schwache
Griechenland zerschmettern wird".
159
Er lernt gi»te, er lernt schlechte Menschen kennen, eiiÖe ■
dumme, stumpfe und beseelte, aber nicht einen einzigen in
diesen Gesellschaften und Salons von Paris, der ihm Zutrauöi
ZU Frankreich gibt. Der erste Bote kommt aus einer Feme: es
ist Sidonie, das bäurische Dienstmädchen, das ihn während
seiner Krankheit pflegt. Hier erkennt er mit einem Male, wie
ruhig und unerschütterlich, wie fruchtbar und stark die Erde
ist, der Humus, aus dem alle diese fremden eingepflanzten
Pariser Blumen ihre Kraft saugen: das Volk, das starke kno-
chige, ernste, französische Volk, das seine Erde bebaut und
sich um den Jahrmarktsbudenlärm nicht kümmert, das die
Revolutionen gemacht hat mit seinem Zorn und die Napo-
leonischen Kriege mit seiner Begeisterung. Von diesem Augen-
blick an fühlt er, daß es ein wirkliches Frankreich geben müsse,
<
das er nicht kennt, und einmal in einem Gespräch fragt er
Sylvain Kohn: „Wo ist denn Frankreich hier?" Stolz antwortet
Sylvain Kohn: „Frankreich, das sind wirl“ Johann Christof
lächelt bitter, er weiß, daß er es lange suchen muß, denn sie
haben es gut versteckt.
Da endlich kommt jene Begegnung, die für ihn Schicksals-
wende und Erkenntnis ist, er lernt Olivier, den Bruder Antoi-
nettes kennen, den wahren Franzosen. Und wie Dante, von
Virgil belehrt, durch immer neue Kreise des Erkennens wandert,
so entdeckt er, geführt von seiner „seelenkundigen Intelligenz",
mit Staunen, daß hinter diesem Vorhang von Lärm, hinter
diesen schreienden Fassaden eine Elite in der Stille arbeitet.
Er sieht das Werk von Dichtem, deren Namen nie genannt
werden in den Tageszeitungen, sieht das Volk, die vielen stillen,
anständigen Menschen, die abgesondert von dem Getümmel
ihr Werk tun, jeder für sich. Er erkennt den neuen Idealismus
eines Frankreich, das an der Niederlage seelisch stark geworden
ist. Zorn und Erbitterung ist sein erstes Gefühl bei dieser Ent-
i6o
dieckung. „Ich verstehe euch nicht/* schreit er den sanften
Olivier an, „ihr lebt in dem schönsten Land, seid wundervoll
begabt, habt den menschlichsten Sinn und wißt damit nichts
anzufangen. Ihr laßt euch von einer Handvoll Lumpen be-
herrschen und mit Füßen treten. Steht doch auf, tut euch zu-
sammen, fegt euer Haus reinl" Der erste, der natürlichste
Gedanke des Deutschen ist Organisation, der Zusammen-
schluß der guten Elemente, der erste Gedanke des Starken der
Kampf. Aber gerade die Besten in Frankreich beharren
darauf, abseits zu bleiben: irgendeine geheimnisvolle Klarheit
einerseits, eine leichte Resignation andererseits, jener Tropfen
Pessimismus in der Klugheit, den Renan am sinnfälligsten
ausdrückt, schreckt sie vom Kampf zurück. Sie wollen nicht
handeln^ und das allerschwerste ist, sie zu veranlassen, ge-
meinsam zu handeln: „sie sind zu klug, sie sehen den Rück-
schlag vor dem Kampf', sie haben nicht den deutschen Opti-
mismus, und darum bleiben sie alle isoliert und einsam, die
einen aus Vorsicht, die anderen aus Stolz. Irgend jetwas von
einem ,, Stubenhockergeist'* ist in ihnen, und Johann Christof
sieht es am besten im eigenen Haus. In jedem Stockwerk
wohnen anständige Leute, die sich wundervoll miteinander
verständigen könnten, aber sie schließen sich gegeneinander
ab. Zwanzig Jahre gehen sie auf den Treppen aneinander vor-
über, ohne sich zu kennen oder sich umeinander zu kümmern,
und so ahnen sich die besten unter den Künstlern nicht.
Da erkennt nun plötzlich Johann Christof in Vorteil und Ge-
fahr den wesentlichen Gedanken des französischen Volkes: die
Freiheit. Jeder will frei sein, keiner sich binden. Sie verschwen-
den unerhörte Quantitäten von Kraft, indem sie, jeder für sich,
den ganzen Zeitkampf auskämpfen, aber sie lassen sich nicht
organisieren, nicht zusammenspannen. Wird ihre Tatkraft
auch von ihrer Vernunft gelähmt, so bleibt sie doch frei in
i6i
II Zweig, Romain Rolland
ihren Gedanken, und . a bleiben sie einerseits befähigt, alles
Revolutionäre mit der religiösen Inbrunst des Einsamen zu
durchdringen, andererseits ihren Glauben immer wieder revo-
lutionär zu erneuern. Diese ihre Konsequenz ist ihre Rettung,
denn sie bewahrt sie vor der Ordnung, die sie starr macht,
vor der Mechanisierung, die vereinheitlicht. Johann Chri-
stof begreift, daß die lärmende Jahrmarktsbude nur da ist, um
die Gleichgültigen anzulocken xmd den wahrhaft Tätigen ihre
schöpferische Einsamkeit zu lassen. Er sieht, daß dieser Lärm
als Anfeuerung zur Arbeit für das französische Temperament
Bedürfnis ist, daß die scheinbare Inkonsequenz in den Ge-
danken eine rhythmische Form beständiger Erneuerung ist.
Sein erster Eindruck war, wie der so vieler Deutscher, die
Franzosen seien fertig. Nach zwanzig Jahren erkennt er, daß
er richtig gesehen und sie immer fertig waren, um immer neu
anzufangen, daß in diesem scheinbar widerspruchsvollen Geist
eine geheimnisvolle Ordnung waltet, eine andere wie im deut-
schen Wesen, und eine andere Freiheit. Und der Weltbürger,
der keiner Nation mehr die Prägung seiner eigenen auf zwingen
möchte, sieht lächelnd und froh die ewige Verschiedenheit der
Rassen, aus denen sich, wie aus den sieben Eöfrben des Spek-
trums, das Licht der Welt, die wundervolle Vielfalt des ewig
Gemeinsamen, der ganzen Menschheit zusammenfügt.
Das Bildnis Deutschlands
Auch Deutschlands Bild ist in diesem Romane doppelt ge-
sehen: und umgekehrt wie Frankreich mit den Augen eines
Deutschen imd aus der Perspektive eines Franzosen, zuerst
von innen aus der Heimat, dann von außen aus der Ferne.
Und ebenso wie in Frankreich sind hier zwei Welten unsicht-
bar übereinander geschichtet, eine laute und eine leise, eine
162
falsche und eine wahre Kultur, das alte Deutschland, das sein
Heldentum im Geistigen, seine Tiefe in der Wahrheit suchte,
und das Neue, das berauscht ist von seiner Kraft und die große
Vernunft, die in philosophischer Fonrnmg einst die Welt ver-
ändert, nun mißbraucht zu einer praktischen und geschäft-
lichen Tüchtigkeit. Nicht, daß der deutsche Idealismus er-
loschen wäre, der Glaube an eine reinere, schönere, von den
Mischformen des Irdischen befreite Welt — im Gegenteil,
seine Gefahr ist, daß er sich zu sehr verbreitet hat, allgemein
und flach geworden ist. Das große deutsche Gottvertrauen hat
sich praktisch gemacht und verirdischt in nationalen Zu-
kunftsgedanken, sentimental in der Kunst und veräußerlicht
im billigen Optimismus Kaiser Wilhelms. Dieselbe Niederlage,
die Fr^kreichs Idealismus vergeistigte, hat als Sieg den deut-
schen materialisiert. „Was hat das siegreiche Deutschland
der Welt gebracht?'* fragt Christof einmal und entgegnet sich
selber: „Das Blitzen der Bajonette, eine Tatkraft ohne Groß-
herzigkeit, einen brutalen Wirklichkeitssinn, Gewalt mit Gier
nach Vorteil vereinigt: Mars als Geschäftsreisenden.“ Mit
Schmerz erkennt Christof, daß Deutschland an seinem Siege
verdorben ist, mit wahrhaftem Schmerz — denn „man steht
seinem eigenen Lande anspruchsvoller gegenüber als einem
anderen imd leidet tiefer unter seiner Schwäche** — und der
ewige Revolutionär haßt das Lärmende dieses Selbstgefühls,
den militärischen Hochmut, den brutalen Kastengeist. Und
im Zusammenstoß mit dem militärischen Deutschland, im
Konflikt mit dem Sergeanten auf dem Tanzplatz des elsässi-
schen Dorfes, bricht elementar der Haß des Künstlers, des
Freiheitsmenschen gegen die Disziplin, gegen die Brutalisierung
des Gedankens heraus. Er muß fliehen aus Deutschland, weil
er hier nicht genug Freiheit fühlt.
Aber gerade von Frankreich aus beginnt er wieder die Größe
u* 163
Deutschlands zu erkennen — „in einer fremden Umgebung
war er freieren Geistes“, dieses Wort gilt von ihm und von jedem
— gerade an dei Unordnung der Franzosen, an ihrer skeptischen
Resignation lernt er die deutsche Tatkraft schätzen und das
Lebenskräftige seines Optimismus, den hier das alte Volk der
Träumer dem Volk des Geistes entgegensetzt. Freilich, er
täuscht sich nicht darüber, daß dieser neudeutsche Optimismus
nicht immer echt ist, und der Idealismus entartet zu einem
gewaltsamen Willen, zu idealisieren. Er sieht es an seiner
Jugendgeliebten, der banalen Provinzfrau, die in ihrem Mann
einen Übermenschen vergöttert und von ihm als Inbegriff der
Tugend gefeiert wird, sieht es in dem reinsten Deutschen, dem
er begegnet, dem alten Musikprofessor Peter Schulz, diesem
zärtlichen Symbol der musikalischen Vergangenheit, sieht
selbst in den großen Meistern, daß — Curtius zitiert ausge-
zeichnet das wundervolle Goethewort — „in den Deutschen
das Ideelle gleich sentimental wird“. Und seine leidenschaft-
liche Wahrhaftigkeit, die unerbittlich geworden ist an der
französischen Klarheit, wehrt sich gegen diesen unklaren
Idealismus, der Kompromisse schließt zwischen dem Wahren
und dem Gewollten, der die Macht rechtfertigt mit Kultur, den
Sieg mit der Kraft, und er setzt ihm stolz den eigenen Optimis-
mus entgegen, der das Leben „erkennt und dennoch liebt“
und zur Tragödie sein brausendes Hurra ruft. In Frankreich
fühlt er die Fehler Frankreichs, in Deutschland die Deutsch-
lands, und er liebt beide Länder eben um ihres Gegensatzes
willen. Jedes leidet an schlechter Verteilung seiner Werte: in
Frankreich ist die Freiheit zu allgemein, zu sehr verbreitet
und schafft das Chaos, indes die Einzelnen, die Elite, ihren
Idealismus rein bewahren; in Deutschland wiederum ist der
Idealismus zu breit in die Masse gednmgen, hat sich versüß-
licht zu Sentimentalität, verwässert zu einem merkantilen
164
Optimismus, während nur eine ganz kleine Elite in Einsana-
keit sich ihre volle Freiheit erhalten hat. Beide leiden sie an
der Überspannung des Gegensatzes, des Nationalismus, der,
wie Nietzsche sagt, „in Frankreich den Charakter, in Deutsch-
land den Geist und Geschmack verdorben hat*'. Könnten die
beiden Völker in Annäherung und Durchdringung einander
finden, so würden sie beglückt Christofs eigenes Erlebnis er-
fahren, der, „je reicher er war an germanischen Träumen, um
so mehr der lateinischen Klarheit bedurfte". Olivier und
Christof, der Bund der Freundschaft, träumen von einer Ver-
ewigung ihres Gefühls im heimatlichen Volke, und über eine
finstere Stunde des Bruderzwistes der Nationen ruft der Fran-
zose dem Deutschen das heute noch unerfüllte Wort entgegen :
,, Hier* unsere Händel Trotz aller Lügen und allem Haß wird
man uns nicht trennen. Wir haben einander zur Größe
unseres Geistes, unserer Rasse nötig. Wir sind die beiden
Schwingen des Okzidents. Wenn die eine zerbricht, ist auch
der Flug der anderen zerstört. Möge der Krieg kommen. Er
wird unsere verschlungenen Hände nicht lösen, wird den
Aufschwung unserer Bruderseelen nicht hemmen."
Das Bildnis Italiens
Als ein Alternder, ein Müdgewordener, lernt Christof dann
das dritte Land der zukünftigen europäischen Einheit kennen,
Italien. Nie hat es ihn gelockt. Auch hier hält ihn, wie seiner-
zeit von Frankreich, jene verhängnisvolle, vorurteilhafte For-
mulierung zurück, mit der sich die Nationen so gerne gegen-
seitig herabsetzen, um ihr eigenes Wesen durch Herabminderung
der andern als einzig richtiges zu empfinden. Aber nur eine
Stundein Italien, und schon sind seine Vorurteile hingeschwun-
den in einer dämonischen Trunkenheit: das Feuer jenes nie
gekannten Lichtes der italienischen Landschaft fällt über ihn
hin, durchdringt und formt seinen Körper und befähigt ihn
gleichsam atmosphärisch zum Genießen. Einen neuen Rh 3 ^h-
mus des Lebens spürt er mit einemmal, nicht soviel stürmische
Kraft wie in Deutschland, nicht soviel nervöse Beweglichkeit
wie in Frankreich, aber diese „Jahrhunderte alte Kultur
und Zivilisation'' betäubt mit ihrer Süße den Barbaren. Der
bisher aus der Gegenwart inuner nur in die Zukimft blickte,
er spürt mit einemmal den ungeheuren Reiz der Vergangen-
heit. Während die Deutschen ihre Form noch suchen, die
Franzosen die ihre in ununterbrochenem Wechsel wieder-
liolen und erneuern, lockt ihn hier ein Volk, das seine Tradi-
tion schon klar und gebildet in sich trägt und das nur seiner
Vergangenheit, seiner Landschaft treu sein muß, um die sub-
tilste Blüte seines Wesens zu erfüllen: die Schönheit.
Freilich sein Lebenselement vermißt Christof hier: den
Kampf. Über allem Leben liegt hier ein leiser Schlaf, eine süße
Müdigkeit, die verweichlicht und gefährdet. ,,Rom atmet den
Tod, es hat zu viele Gräber." Das Feuer, das Mazzini undiG^«}^
baldi entfachten und in dessen Glut das einige JÜ®ßen ge-
hämmert wurde, lodert zwar noch in einzelnen »Seelen, auch
hier gibt es einen Idealismus, aber er ist anders wie" der deutsche,
anders wie der französische, er ist noch nicht auf das Welt-
bürgerliche bezogen, sondern ganz im Nationalen befangen,
„der italienische Idealismus bezieht alles auf sich, auf seine
Wünsche, auf seine Rasse und ihren Ruhm". In der wind-
stillen phäakischen Luft lodert seine Flamme nicht so hoch,
um Europa zu erhellen, aber sie brennt rein und schön in diesen
jungen Seelen, die bereit sind für jede Leidenschaft, aber nur
noch nicht den Augenblick gefunden haben, sie zu entflammen.
Und wie Johann Christof Italien zu lieben beginnt, beginnt
er auch schon sich vor dieser Liebe zu fürchten. Er spürt.
t66
daß auch dieses Land ihm notwendig war, um.in seiner Musik
wie hr seinem Leben das Ungestüm der Sinnlichkeit zu einer
reinen Harmonie zu verklären, er begreift wie notwendig diese
südliche Welt für die nordische ist, und sieht erst im Drei-
klang das Wesen jeder Stimme erfüllt. Es ist hier weniger
Wahn und mehr Wirklichkeit, aber sie ist zu schön: sie lockt
zum Genuß, sie tötet die Tat. Wie für Deutschland sein
eigener Idealismus Gefahr wird, weil er sich allzusehr ver-
breitet und im Mittelmenschen zur Lüge wird, wie Frank-
reich seine Freiheit verhängnisvoll wird, weil sie den einzelnen
absperrt in seine Idee von Unabhängigkeit und ihn der Ge-
meinschaft entfremdet, so ist für Italien die eigene Schönheit
Gefahr, weil sie allzu lässig macht, allzu nachgiebig und allzu
zufriedftn. Jeder Nation ist (wie jedem Menschen) immer das
Persönlichste ihres Wesens, gerade also das, was die andern am
meisten belebt und fördert, verhängnisvoll, und darum scheint
es im Sinne der Rettung eines jeden Volkes und eines jeden
Menschen, sich möglichst viel Gegensätzlichem zu verbinden,
um sich dem höchsten Ideale nahe zu bringen : das Volk der
europäischen Einheit, der Mensch der Universalität. Und so
träumt auch hier in Italien wie in Frankreich und in Deutsch-
land der alternde Johann Christof denselben Traum, den der
zweiundzwanzigjährige Rolland zum ersten Male von der
Höhe des Janikulus in sich gestaltet fühlte: den Traum der
europäischen S5miphonie, den bisher nur der Dichter in seinem
Werke für alle Nationen erfüllte, den die Nationen aber
selbst noch nicht verwirklicht haben.
Die Vaterlandslosen
Inmitten der drei gegensätzlichen Nationen, von denen sich
Christof bald angezogen, bald abgestoßen fühlt, begegnet er
167
überall einem einheitlichen Element, den Nationen angepaßt
und doch nicht gp nz darin verloren: den Juden. „Merkst du/*
sagt er einmal zu Olivier, „daß wir es immer mit Juden zu
tun haben, einzig und allein mit Juden? Man könnte meinen,
wir zögen sie an, überall sind sie auf unserem Wege, als Feinde
und als Verbündete." Wirklich, überall begegnet er ihnen.
In seiner Heimatstadt sind die reichen jüdischen Snobs um
den „Dionysos** (freilich zu eigensüchtigen Zwecken) seine
ersten Förderer, der kleine Sylvain Kohn sein Pariser Mentor,
L6vy“Coeur sein erbittertster Feind, Weill und Mooch seine
hilfreichsten Freunde: ebenso stoßen Olivier und Antoinette
in Freundschaft und Feindschaft immer auf Juden. An jedem
Kreuzweg des Künstlers sind sie als Wegzeiger zum Rechten
wie zum Schlechten gestellt. ^
Christofs erstes Gefühl ist Widerstand. Ohne daß sich seine
freie Natur in irgendein Gemeinschaftsgefühl des Hasses ein-
engen ließe, hat er doch die von seiner frommen Mutter schon
übernommene Abneigxmg und persönlich ein Mißtrauen, daß
die allzu Nüchternen wirklich um sein Werk und Wesen
wüßten. Aber immer muß er es wieder erfahren, daß sie die
einzigen sind, die sich um sein Werk, um das Neuartige wenig-
stens bemühen.
Olivier, der Klarere von beiden, gibt ihm die Erklärung:
er zeigt ihm, daß hier die Traditionslosen unbewußt die Weg-
macher jedes Neuen sind, die Vaterlandslosen die besten
Helfer gegen den Nationalismus. „Die Juden sind bei uns
fast die einzigen, mit denen ein freier Mann etwas Neuartiges,
etwas Lebendiges besprechen kann. Die anderen sitzen in der
Vergangenheit, in toten Dingen fest. Verhängnisvollerweise
besteht diese Vergangenheit für die Juden überhaupt nicht
oder sie ist zumindest nicht die gleiche wie für uns. Mit ihnen
können wir über das Heute sprechen, mit unseren Stammes-
l68
genossen nur von gestern . . . Ich sage nicht, daß mir immer
sympathisch ist, was sie machen, oft ist es mir sogar wider-
wärtig. Aber zumindest leben sie und wissen die Lebendigen
zu verstehen . . . Die Juden sind im heutigen Europa die
zähesten Agenten alles Guten und alles Bösen. Sie befördern
unbewußt das Samenkorn des Gedankens. Hast du unter
ihnen nicht deine schlimmsten Feinde und deine ersten
Freunde gefunden?"
Und Christof gibt ihm recht. „Es ist wahr, sie haben mich
ermutigt, unterstützt, mir Worte gesagt, die den Kämpfenden
belebten, weil sie mir zeigten, daß ich verstanden war. Aller-
dings sind mir von jenen Freunden wenige verblieben: ihre
Freundschaft ist nur ein Strohfeuer gewesen. Gleichviel!
Solch vorüberwehender Schein ist viel wert in der Nacht.
Du hast recht: seien wir nicht undankbar."
Und er ordnet sie ein, die Vaterlandslosen, in sein Bild der
Vaterländer. Nicht, daß er die Fehler der Juden verkennt:
er sieht wohl, daß sie kein produktives Element im höchsten
Sinne für die europäische Kultur bedeuten, daß ihr tiefstes
Wesen Analyse und Zersetzung ist. Aber eben das Zersetzende
erscheint ihm wichtig, weil sie die Traditionen — den Erb-
feind alles Neuen — unterminieren, weil ihre Vaterlandslosig-
keit die Stechfliege ist, die den „ruppigen Homviehnationalis-
mus" aus seinen geistigen Grenzen treibt: ihre Zersetzung ist
Sprengmittel des schon Abgestorbenen, des „ewig Gestrigen"
und befördert neuen Geist, den sie selbst nicht zu schaffen
vermögen. Die Vaterlandslosen sind die besten Helfer des
zukünftigen „guten Europäers". In vielem fühlt sich Christof
von ihnen abgestoßen, der Lebensgläubige von ihrer Skepsis,
der Heitere von ihrer Ironie, der Mann der unsichtbaren Ziele
von ihrem Materialismus, aber der Starke spürt in ihnen den
starken Willen, der Lebendige die Lebendigen, den „Gärungs-
169
Stoff der Tat, den Saocrteig des Lebens". Der Heimatlose
sieht sich von den Vaterlandslosen iii manchem am tiefsten,
immer aber am raschesten verstanden, der freie Weltbürger
versteht wiederum ihre letzte Tragik, das Losgelöstsein von
allem, selbst von sich selbst. Er sieht, daß sie als Mittel wert-
voll sind, obwohl sie selbst kein Ziel bedeuten, daß sie, wie
alle Nationen und Rassen, gebunden werden müssen durch
einen Gegensatz, daß diese „hypernervösen, aufgeregten
Wesen eines Gesetzes bedürfen, das sie bindet. Die Juden
sind wie die Weiber, ausgezeichnet, wenn man sie am Zügel
hält, aber beider Herrschaft wäre unerträglich". So wenig
wie der französische, der deutsche Geist dürfte der ihre zum
Gesetz werden: aber er will die Juden nicht anders, als sie
sind. Jede Rasse ist notwendig durch das Prononzierte ihres
Wesens zur Bereicherung irdischer Vielfalt und damit zur
Steigerung des Lebens. Alles hat — der alternde Christof
schließt ja Frieden mit der Welt — seinen bestimmten Sinn
im Ganzen und in der großen Harmonie jeder einzelne starke
Ton seinen Wert. Was einzeln sich befeindet, hilft das Ganze
binden, auch das Niederreißende ist notwendig für den neuen
Bau, der analytische Geist die Vorbedingung des synthetischen.
Und so grüßt er die Vaterlandslosen in den Vaterländern als
Helfer zum Werke des neuen allmenschlichen Vaterlandes,
er nimmt sie auf in den europäischen Traum, dessen fernem
rauschendem Rhythmus sein freies Blut sehnsüchtig ent-
gegenschwingt.
Die Generationen
Hürde und Hürde also um die ganze Menschenherde, und
sie alle muß der wirklich Lebendige zerbrechen, um frei zu
sein; Hürde des Vaterlands, das ihn abschließt von den anderen
170
Völkern, Hürde der Sprache, die sein Denken einzwängt.
Hürde der Religion, die ihn unverstehend macht für anderen
Glauben, Hürde des eigenen Wesens, das mit Vorurteil und
falsch Gelerntem den Weg in die Wirklichkeit sperrt. Furcht-
bare Absonderung: die Völker verstehen einander iiicht, die
Rassen, die Konfessionen, die einzelnen Menschen verstehen
einander nicht, weil sie alle abgesondert sind, jeder erlebt nur
Teil des Lebens, Teil der Wahrheit, Teil der Wirklichkeit,
und jeder hält sein Stück für die Wahrheit.
Der freie Mensch aber — „frei vom Wahn des Vaterlandes,
des Glaubens und der Rasse'* — selbst er, der allen Kerkern
entronnen zu sein meint, entflieht einem letzten Kreise nicht:
er ist in seine Zeit gebunden, an seine Generation gefesselt,
denn Generationen sind die Stufen des Aufstiegs d^ Mensch-
heit, jedes Geschlecht baut die ihren an die früheren an, es
gibt da kein Voraus und Zurück, jede hat ihre Gesetze, ihre
Form, ihre Sitten, ihren inneren Gehalt. Und das Tragische
dieser unentrinnbaren Gemeinschaft ist, daß nicht eine Gene-
ration an die andere friedlich anschließt, ihre Resultate aus-
baut, sondern daß sie — ganz wie die Menschen, ganz wie die
Nationen — von feindlichen Vorurteilen gegen die nachbar-
lichen erfüllt ist. Auch hier ist Kampf und Mißtrauen ewiges
Gesetz; immer verwirft die nächste Generation, was die gegen-
wärtige getan, erst die dritte oder vierte findet wieder zu den
anderen zurück; alle Entwicklung ist eben im Sinne Goethes
Spirale, gesteigerte Wiederkehr, die in immer engeren Kreisen
aufwärts steigend an die gleichen Punkte zurückläuft. Und
darum ist der Kampf ein ewiger zwischen Geschlecht und Ge-
schlecht.
Jede Generation ist notwendigerweise ungerecht gegen die
frühere. „Die Generationen, die einander folgen, empfinden
immer lebhafter das, was sie trennt, als das, was sie eint. Sie
fühlen die Notwendigkeit, die Wichtigkeit ihrer Existenz zu
betonen, sei es auch um den Preis einer Ungerechtigkeit oder
einer Lüge gegen sich selbst.*" So wie die Menschen haben sie
„ein Alter, wo man ungerecht sein muß, um leben zu können**,
sie müssen ihren Inhalt am Ideen, Formen und Kultur ge-
waltsam ausleben und können ebensowenig schonungsvoll sein
gegen die späteren, wie die früheren gegen sie. Hier waltet
das ewige Naturgesetz des Waldes, wo die jungen Bäume den
alten die Erde wegtrinken und sie entwurzeln, die Lebenden
über die Leichen der Toten schreiten : die Generationen kämp-
fen, und jeder einzelne Mensch kämpft unbewußt (so sehr er
sich auch im Gegensatz zu ihr empfinden möge) für seine Zeit.
Der junge Johann Christof, selbst er der Einsame, war, ohne
es zu wissen, mit seiner Revolte gegen seine Zeit Repräsentant
einer Gemeinsamkeit gewesen: in ihm hatte seine Generation
gekämpft gegen die absterbende, war ungerecht gewesen in
seiner Ungerechtigkeit, jung mit seiner Jugend, leidenschaft-
lich mit seiner Leidenschaft. Und er ist gealtert mit ihr: un-
abwendbar sieht er schon neue Wellen sich über ihn heben und
sein Werk stürzen. Rings um ihn sind, die mit ihm Revo-
lutionäre waren, Konservative geworden und kämpfen gegen
die neue Jugend, wie sie als Jugend gegen die Alten gekämpft
hatten: nur die Kämpfer wechseln, der Kampf bleibt derselbe.
Johann Christof aber lächelt und blickt freundlich auf die
Neuen; denn er liebt das Leben mehr als sicli selbst. Ver-
gebens sucht sein Freund Emanuel ihn zu bewegen, sich zu
verteidigen und moralisch eine Generation zu verurteilen, die
alles für nichtig erklärt, was sie mit der Aufopferung einer
ganzen Existenz als wahr erkannten. Christof aber fragt:
„Was ist wahr? Es geht nicht an, die Sittlichkeit einer Gene-
ration mit dem Maßstab der früheren zu messen**; und als
der andere ihn mit dem gefährlichen Argumente drängt:
„Wozu haben wii dann ein Maß für das Leben gesucht, wenn
wir es nicht zum Gesetz erheben sollen?'*, deutet er groß auf
das Ewige des Ablaufs: „Sie haben von uns gelernt, sie sind
undankbar: das ist die Ordnung der Dinge. Aber durch unsere
Anstrengung bereichert, gehen sie weiter als wir, sie verwirk-
lichen, wa3 wir versucht haben. Falls noch etwas von Jugend
in uns steckt, laß uns von ihnen lernen und uns zu verjüngen
suchen. Und können wir*s nicht mehr, sind wir zu alt, so laß
uns wenigstens uns noch daran erfreuen."
Generationen müssen wachsen und absterben wie die Men-
schen : alles Irdische ist an Natur gebunden, und der große
Gläubige, der freie Fromme beugt sich dem Gesetz. Aber er
verkennt nicht (und das ist eine der tiefsten kulturhistorischen
Erkenntnisse dieses Buches), daß auch dieser Ablauf, dieser
Wechsel der Werte seine eigene zeitliche Rhythmik hat.
Früher umfaßte eine Epoche, ein Stil, ein Glaube, eine Welt-
anschauung ein Jahrhundert, jetzt nicht einmal mehr ein
Menschenleben, kaum eine Dekade. Der Kampf ist hitziger,
ungeduldiger, nervöser geworden, die Menschheit verbraucht
mehr und verdaut rascher Ideen. „Die Entwicklung des
europäischen Gedankens ging mit immer hastigerem Schritt
vorwärts, man hätte meinen können, daß sie mit den tech-
nischen Motoren immer geschwinder würde . . . Der Vorrat
an Vorurteil und Hoffnung, der einst genügt hatte, zwanzig
Jahre die Menschheit zu ernähren, ist in fünf Jahren ver-
braucht, die geistigen Generationen galoppieren eine hinter der
anderen und oft übereinander fort." Und die Rhythmik dieser
geistigen Verwandlung ist die eigentliche Epopöe dieses Romans.
Wie Johann Christof von Paris nach Deutschland zurück-
kehrt, erkennt er Deutschland kaum wieder, wie er von Italien
Paris aufsucht, nicht mehr Paris: es ist da und dort noch die
alte „foire sur la place", der alte Jahrmarkt, aber man handelt
173
andere Werte darauf, «andere Glauben und andere Ideen mit
dem gleichen Geschrei. Zwischen Olivier und seinem Sohn
Georg liegt eine geistige Welt: was jenem das Teuerste war,
ist seines Sohnes Verachtung. Zwanzig Jahre sind eine Kluft.
Das fühlt Christof, und das fühlt sein Dichter mit ihm. Das
Leben will ewig neue Formen, es läßt sich nicht dämmen in
Gedanken, nicht einschließen in Philosophien und Religionen:
immer sprengt es eigenwillig den Begriff. Jede Generation
versteht nur sich selbst, ihr Wort ist immer nur ein Vermächt-
nis an unbekannte Erben, die es dann auslegen und erfüllen
in ihrem eigenen Sinne. Die Wahrheit gehört einzig bloß dem,
der sie für sich erobert, jedem Menschen, jedem Geschlecht.
ffVeritet II n*y a pas de verite. II n*y a que des hommes, qui
peinent pour la chercher, Respectez-vous les uns les auire^J' ,,Es
gibt keine Wahrheit, es gibt nur Menschen, die sie mühevoll
suchen. Es gibt kein freies Volk und keine Freiheit: es
gibt nur freie Menschen.*' Ihr Leben ist die einzige Lehre
für die andern. Und als ein Vermächtnis seiner tragischen
und einsamen Generation gibt Rolland darum sein großes
Bild einer freien Seele, „den freien Seelen aller Zeiten und
Völker, die leiden, die kämpfen und die siegen werden", mit
den Worten: „Ich habe die Tragödie einer Generation ge-
schrieben, die im Schwinden begriffen ist. Ich habe nichts
von ihren Lastern und ihren Tugenden zu verheimlichen ge-
sucht, nichts von der auf ihr lastenden Traurigkeit, ihrem
wirren Hochmut, ihrem heldenhaften Bestreben im Ertragen
des Leides, das eine übermenschliche Aufgabe ihnen erdrückend
aufgebürdet hat, ein ganzes Stück Welt neu zu schaffen:
eine Moral, eine Ästhetik, einen Glauben, eine neue Mensch-
heit. — So sind wir gewesen.
Ihr Menschen von heute, ihr jungen Menschen, mm ist die
Reihe an euchl Schreitet über unsere Leiber hinweg und tretet
174
in die vorderste Reihe. Seid größer und glücklicher als wir.
Ich selbst nehme Abschied von dem, was meine Seele war; ich
werfe sie hinter mich wie eine leere Hülle. Das Leben ist eine
Folge von Toden und Auferstehungen. Laß uns sterben,
Christof, auf daß wir wieder geboren werden."
Der letzte Blick
Johann Christof ist am anderen Ufer, er hat den Strom des
Lebens durchschritten, umrauscht von großer Musik. Schon
scheint das Erbe geborgen, der Sinn der Welt, den er auf den
Schultern durch Sturm und Flut getragen : der Glaube an das
Leben.
Noch einmal sieht er hinüber zu den Menschen, hinüber
in das verlassene Land. Fremd ist ihm alles geworden, er
versteht die Neuen nicht mehr, die dort sich mühen und quälen
in leidenschaftlichem Wahn. Er sieht ein neues Geschlecht,
anders jung als das seine, kraftvoller, brutaler, unduldsamer,
von anderem Heroismus beseelt als die früheren. Sie haben
am Sport ihren Körper gekräftigt, in Flügen ihre Kühnheit
gereift, „sie sind stolz auf ihre Muskeln und ihre breite Brust",
sie sind stolz auf ihr Vaterland, stolz auf ihre Religion, auf ihre
Kultur, auf alles Gemeinsame, das sie selbst zu sein scheinen,
und aus jedem Stolz schmieden sie eine Waffe. Sie haben „mehr
Verlangen, zu handeln als zu verstehen", sie wollen ihre
Kraft zeigen und versuchen. Mit Schrecken erkennt der
Sterbende: diese Generation, die selbst den Krieg nicht mehr
gekannt, will den Krieg.
Schauernd blickt er um sich: „Die Feuersbrunst, die im
Walde Europas glomm, begann aufzuflammen. Wenn man sie
auch hier unterdrückte, etwas weiter fort entzündete sie sich
wieder; mit Rauchwirbeln und Fimkenregen sprang sie von
175
einem Punkt zum anderen und brannte das dürre Buschwerk
nieder. Im Orient fanden ak Vorspiel zu dem großen Kriege
der Nationen^ bereits Vorpostengefechte statt. Europa, das
gestern noch zweiflerisch und apathisch wie ein toter Wald
dalag, wurde eine Beute des Feuers. Die Sehnsucht nach
Kampf brannte in allen Seelen. In jedem Augenblick konnte
der Krieg ausbrechen. Man erstickte ihn. Er lebte wieder auf.
Der geringste Vorwand bot ihm Nahrung. Die Welt fühlte
sich von einem Zufall abhängig, der das Gemetzel entfesseln
würde. Sie wartete. Auf den Friedliebenden lastete das Gefühl
der Notwendigkeit. Und die Ideologen, die sich hinter dem
massigen Schatten Proudhons verschanzten, feierten im Kriege
den höchsten Adelstitel des Menschen . . .
Damit also mußte die körperliche und seelische Wiederauf-
erstehung der Rassen des Okzidents enden ! Zu solchen Schläch-
tereien rissen die Strömungen leidenschaftlichen Tatendranges
und Glaubens sie hin! Nur ein napoleonisches Genie hätte
diesem blinden Dahinrasen ein vorgefaßtes und erwähltes Ziel
setzen können. Aber ein Genie der Tat gab es in Europa nir-
gends. Man hätte meinen können, die Welt habe unter den
Unbedeutendsten die Auswahl getroffen, damit sie sie regieren.
Die Kraft des menschlichen Geistes lag anderwärts."
Und da gedenkt Christof der einsamen Nachtwache in ver;*?
gangener Zeit, da das angstvolle Antlitz Oliviers neben ihm
war. Damals hatte sich nur eine Gewitterwolke am Himmel
gezeigt, jetzt bedeckten ihre Schatten ganz Europa. Vergebens
also der Ruf nach Einheit, vergebens der Weg durch das
Dunkel. Mit tragischer Gebärde blickt der Seher in die Zeit
zurück und sieht in der Feme die apokalyptischen Reiter, die
Boten des Bruderkrieges.
Aber neben dem Sterbenden lächelt wissend das Kind: das
ewige Leben.
176
Romain Rolland
Wälirend der Jahre des ,, Johann Christof*'
Intermezzo scherzoso
Meister Breugnon“)
Zweig, Romain RöUand
y^Breugnon, mauvais gargon, tu riSf
n*as tu pas honte? — Que veux tu,
mon ami, je suis, ce que je suis.
Rite ne m'empbche pas de souffriy;
mais souffrir n'emp?chera jamais un
hon Frangais de rire. Et qu*tl rie
ou larmoie, il jaut d*dbord, qu'il
voie^\
Rolland ^ Colas Breugnon
Die Überraschung
Zum erstenmal hat dieses bewegte Leben Rast. Der
große zehnbändige Johann-Christof-Roman ist vollendet, das
europäische Werk getan : zum erstenmal lebt Romain Rolland
außerhalb seines Werkes, frei für neues Wort, neue Gestalten,
neues Werk. Sein Schüler Johann Christof ist in die Welt ge-
gangen — als „der lebendigste Mensch, den wir kannten",
wie Ellen Key sagte — , er sammelt Freunde um sich, eine
stille und immer wachsende Gemeinde, aber was er Verendet,
ist für Rolland schon Vergangenheit. Und er sucht einen neuen
Boten für neue Botschaft.
Wieder ist Romain Rolland in der Schweiz, dem geliebten
Land zwischen den drei geliebten Ländern, das so vielen seinen
Werken günstig gewesen und wo das Werk seiner Werke, der
Johann Christof, begonnen und an dessen Grenze es beendet
war. Heiterer, stiller Sommer schenkt ihm gute Rast: sein
Wille ist ein wenig entspannt; das Wesentliche ist ja getan,
lässig spielt er mit verschiedenen Plänen, schon häufen sich
die Notizen für einen neuen Roman, für ein Drama aus der
geistigen und kulturellen Sphäre Johann Christofs.
Wie so oft bei Romain Rolland, zögert die Hand zwischen
den Plänen. Da plötzlich, wie einst vor fünfundzwanzig Jahren
auf der Terrasse des Janikulus die Vision des Johann Christof,
überfällt ihn jetzt inmitten einiger schlaflosen Nächte eine
fremde und doch vertraute Gestalt, ein Landsmann aus Vor-
väterzeit und stößt alle Pläne mit seiner breiten Gegenwart
um. Kurz vorher war Rolland nach Jahren wieder in seiner
Heimat, in Clamecy gewesen, seine eigene Kindheit war im
Anblick der alten Stadt aufgewacht, unbewußt hat das Gefühl
der Heimat in ihm zu wirken begonnen und fordert Von ihrem
Kinde, das die Feme geschildert, nun selbst Gestaltung. Er,
12 *
179
der mit aller Ki aft und Leidenschaft sich aus dem Franzosen
zum Europäer emporgerungen und dieses Bekenntnis abge-
legt vor der Welt, fühlt nun wieder rechte Lust, für sich selbst
auf eine schöpferische Stunde ganz Franzose, ganz Burgunder
und Nivemeser zu sein. Der Musiker, der in seiner Symphonie
alle Stimmen vereinigt, die stärksten Spannungen des Gefühls,
sehnt sich nach einem ganz neuen Rhythmus, nach einer Ent-
spannung in die Heiterkeit. Ein Scherzo zu schreiben, ein
leichtes freies Werk nach den verantwortungsvollen zehn Jah-
ren, wo er „die Rüstung des Johann Christof um die Seele ge-
tragen", die immer enger ihm gegen das Herz drückt, scheint
ihm nun Wollust; ein Werk ganz jenseits von Politik, von
Moral, von Zeitgeschichte, göttlich verantwortungslos, eine
Flucht aus der 2 ^it. ,
Über Nacht fällt der neue Gedanke über ihn her; am nächsten
Tage hat er schon in froher Flucht die alten Pläne verlassen,
der Rhythmus perlt in tänzerischem Fluß. Und so schreibt zu
seinem eigene^ freudigen Erstaunen in den wenigen Monaten des
Sommers 1913 Romain Rolland seinen heiteren Roman „Colas
Breugnon" („Meister Breugnon"), das französische Intermezzo
der europäischen Symphonie.
Der Bruder aus Burgund
Ein ganz fremder Geselle aus seiner Heimat und dem eigenen
Blut, so glaubt zuerst Rolland, habe ihn da überfallen; wie ein
Meteor sei dies Buch aus dem heitern französischen Himmel
plötzlich in seine geistige Welt gestürzt. Tatsächlich: die
Melodie ist anders, anders die Rhythmik, die Tonart, die Zeit.
Aber hört man genauer in diesen Menschen hinein, so bedeutet
im letzten auch dies ergötzliche Buch keine Abweichung,
sondern nur eine archaisierende Variation von Romain Rol-
180
lands Leitmotiv des Lebensglaubens; Colas Breugnon der
Biedermann aus Burgund, der tapfere Holzschneider, Trinker,
Lustigmacher, Farceur, dieser schnurrige Bohnenkönig ist
trotz Stulpenstiefel und Halskrause ein ferner Bruder Johann
Christofs über Jahrhunderte hinweg, so wie Prinz Aert und
König Ludwig zarte Vorahnen und Brüder Oliviers gewesen
waren.
Hier wie immer ist das gleiche Motiv unterstes- Fundament
des Romans: wie ein ^Mensch, wie ein schöpferischer Mensch
(andere zählen bei Rolland nicht im höchsten Sinn) mit dem
Leben und vor allem mit der Tragik des eigenen Lebens fertig
wird. Auch das Buch von Colas Breugnon ist ein Künstler-
roman wie der Johann Christof, nur ist hier ein neuer Typus des
Künst!ers gestaltet, der im Johann Christof nicht mehr mög-
lich war, weil er schon unserer Zeit entschwunden ist. Colas
Breugnon soll den imdämonischen Künstler darstellen, der
nur Künstler ist durch Treue, Fleiß und Leidenschaft, der
aus dem Handwerk, aus dem täglichen bürgerlichen Beruf
erwächst und den nur seine Menschlichkeit, sein Emst und
seine biedere Reinheit zur hohen Kunst erheben. In ihm hat
Rolland an alle namenlosen Künstler gedacht, „die in den Kathe-
dralen Frankreichs anonym die Steinfiguren schufen und die
Portale, die kostbaren Schlösser, die schmiedeeisernen Gewinde,
an all die Unbekannten und Namenlosen, die nicht ihre Eitel-
keit und ihren Namen mit in den Stein hämmerten, aber
irgend etwas anderes in ihr Werk fügten, das heute selten ge-
worden ist: die reine Freude am Schaffen. Schon einmal, im
Johann Christof, hatte Romain Rolland zu einem kleinen Hymnus
auf das bürgerliche Leben der alten Meister angesetzt, die ganz
aufgingen in ihrer Kirnst und einem stillen Bürgerberufe, und
von fern auf die bescheidene Gestalt, das enge Leben Sebastian
Bachs und der Seinen gedeutet. Schon dort hatte er auf
die tthumbles vies h^otques** hingewiesen, auf die unschein-
baren Helden des Alltags, die namenlos und ungekannt Sieger
bleiben über das unendliche Schicksal. Und einen solchen will
er hier erschaffen, damit in den vielen Bildern des Künstlers,
Michelangelo, Beethoven, Tolstoi und Händel und all den
ersonnenen Gestalten nicht auch jener fehle, der in Freude
schafft; der nicht den Dämon in sich trägt, aber einen Genius der
Rechtlichkeit und sinnlicher Harmonie, der nicht daran denkt,
die Welt zu erlösen, sich tief in die Probleme der Leidenschaft
und des Geistes einzuwühlen, sondern der einzig nur seinem
Handwerk jenes Höchste an Reinheit entringt, das Vollendung
ist und damit das Ewige. Dem modernen Nervenkünstler
ist der sinnlich-natürliche Handwerkskünstler entgegengesetzt,
Hephaistos, der göttliche Schmied, dem pythischen Apollo
und Dionysos. Der Kreis solch eines Zweckkünstlers bleibt
naturgemäß ein enger, aber wesenhaft ist immer nur: daß
ein Mensch seine Sphäre ausfüllt.
Doch Colas Breugnon wäre kein Künstler Rollands, wenn
nicht auch er mitten in den Kampf des Lebens gestellt wäre
und nicht auch an ihm gezeigt würde, wie der wahrhaft freie
Mensch immer stärker ist als sein Schicksal. Auch dieser kleine
muntere Bürger hat sein gerüttelt Maß an menschlicher Tragik.
Sein Haus verbrennt mit allen seinen Werken, die er in dreißig
Jahren geschaffen, seine Frau stirbt, der Krieg verheert das
Land, Neid und Bosheit verstümmeln seine letzten Kunst-
werke, und schließlich wirft ihn noch Krankheit in irgendeinen
Winkel. Nichts bleibt ihm als „die Seelen, die er geschaffen",
seine Kinder, sein Lehrjunge und ein Freund gegen seine
Peiniger, das Alter, die Armut, die Gicht. Aber dieser bur-
gundische Bauernsohn hat eine Kraft gegen das Schicksal,
die nicht geringer ist als der elementare deutsche Optimismus
Johann Christofs und der unerschütterliche geistige Glaube
182
Oliviers; er hat seine freie Heiterkeit. „Leiden hindert mich
niemals zu lachen und Lachen hindert mich nie, gleichzeitig
zu weinen", sagt er einmal; ein Epikuräer, ein Schlemmer,
ein Trinker, ein Faulenzer im Genuß, wird dieser heimliche
Held ein Stoiker, ein Bedürfnisloser im Unglück. „Je weniger
ich habe, desto mehr bin ich", scherzt er hinter seinem ver-
brannten Haus. Hat der burgundische Handwerker auch
kürzeren Wuchs als sein Bruder von jenseits des Rheins, so
steht er doch ebenso fest wie jener auf der geliebten Erde, und
während sich Christofs Dämon austobt in Gewittern des Zorns
und der Ekstase, hat Breugnon seinen gallischen Spott, seine
helle gesunde Klarheit gegen das Schicksal. Uber Tod und
Unglück hilft ihm die Laune hinweg, die wissende große Heiter-
keit, die ja auch eine — und nicht geringe — andere Form der
seelischen Freiheit ist.
Freiheit aber ist immer der letzte Sinn von Hollands Helden»
Er will immer nur als Beispiel den Menschen zeigen, der sich
wehrt gegen das Schicksal, gegen Gott, der sich nicht unter-
kriegen läßt, von keiner Gewalt des Lebens. Hier hat es ihn
gelüstet, diesen Kampf sich nicht in der dämonischen drama-
tischen Sphäre abspielen zu lassen, sondern im Bürgerlichen,
das Rolland in seinem Gerechtigkeitssinn ebenso hoch stellt
wie die Welt der Genies oder der Straße. Gerade im kleinen
Bild zeigt er die Größe. Mag es komisch wirken, wie der ver-
lassene Alte sich wehrt, ins Haus seiner eigenen Tochter zu
ziehen, oder wie er prahlerisch den Gleichgültigen spielt. beim
Brand seines Hauses, mn nicht das Mitleid der Menschen an-
nehmen zu müssen — auch in diesen tragikomischen Szenen
ist ein Beispiel gegeben und kaum geringer als im Johann
Christof, daß der innerlich tinerschütterliche Mensch Herr
seines Schicksals und damit Herr des ganzen Lebens bleibt.
Colas Breugnon ist vor allem der freie Mensch, dann erst
183
Franzose, cTänn Bürger; er liebt seinen König, aber nur solange,
als er ihm seine Freiheit läßt; er liebt seine Frau, aber tut doch
was er will; er sitzt bei einem Priester und geht doch nicht in
die Kirche, er vergöttert seine Kinder, aber wehrt sich doch
aus Leibeskräften, bei ihnen zu wohnen. Er ist gut Freund
mit allen und keinem untertan, freier als der König selbst,
und das gibt ihm jenen Humor, den nur eben der freie Mensch
findet, dem die ganze Erde gehört. Bei allen Völkern und zu
allen Zeiten ist der nur lebendig, der stärker ist als sein Schick-
sal, der frei durch das Netz der Menschen und Dinge im großen
Strom des Lebens schwimmt. „Was ist das Leben? eine Tra-
gödie 1 Hurra!“ sagt der ernste Rheinländer Christof, und sein
Bruder Colas aus Burgund, dem Weinland, antwortet: „Das
Schwere ist der Kampf, aber der Kampf ist das Vergnügen.“
Über die Jahrhunderte und Sprachen blicken sich die beiden
mit wissenden Augen an: man spürt, freie Menschen verstehen
einander zu allen Zeiten und in allen Nationen.
Gauloiserie
Als Intermezzo hatte sich Rolland den Colas Breugnon
gedacht, als behagliche Arbeit, um gewissermaßen einmal das
Vergnügen auszukosten, unverantwortlich zu schaffen. Aber
es gibt kein Unverantwortliches in der Kunst. Was man
schwer anfaßt, wird oft schlecht, und das Leichteste das
Schönste.
Künstlerisch ist Colas Breugnon vielleicht Roll^ds ge-
lungenstes Werk. Eben weil es aus einem Gusse ist und, hin-
fließend in einem einzigen Rhythmus, sich nirgends an Pro-
blemen staut. Der Johann Cristof war ein Buch der Verant-
wortung und des Gleichgewichtes. Jede Erscheinung der Zeit
184
wollte darin besprochen werden, forderte von allen Seit€h
gesehen zu sein in Spiel und Widerspiel, jedes Land machte
seinen Anspruch auf Gerechtigkeit. Das Enzyklopädische, das
gewollt Vollständige des Weltbildes zwang notwendig manches
gewaltsam hinein, was nicht musikalisch zu bewältigen war.
Dieser Roman aber ist ganz auf einen Ton gestimmt, ganz
aus einem einzigen Rhythmus gestaltet, wie eine Stimmgabel
schwingt der erste Satz, und von ihm aus geht es durch das
ganze Buch in der gleichen heiteren Melodie, für die der Dichter
hier eine besonders glückliche Form gefxmden hat, eine Prosa,
die Dichtung ist, ohne zum Vers zu werden, die reimend
ineinandergleitet ohne sich in Zeilen zu teilen. Von Paul
Fort hat Rolland vielleicht den Grundton übernommen, aber
was dort in den „französischen Balladen“ rundreimhaft sich
zu Kanzonen formt, ist hier durch ein ganzes Buch taktiert
und sprachlich auf das glücklichste mit Altfranzösischem im
Geiste Rabelais' durchwürzt.
Hier, wo Rolland Franzose sein will, geht er gleich auf den
Kern des Franzosentums, auf den gallischen Geist, auf die
„Gauloiserie“ und gewinnt ihr musikalisch diese neue Nuance
ab, die unvergleichbar ist mit allen bekannten Formen. Zum
erstenmal ist hier ein ganzer Roman so wie Balzacs „Contes
drölatiques“ archaisierend erzählt, aber das Schnörkelige,
Krause der Diktion immer musikalisch durchwebt: Der „Tod
der Alten“ oder „Das abgebrannte Haus“ sind wie Balladen,
so geschlossen tuid bildhaft. Ihre innige und beseelte Rh5rthmik
löst die Heiterkeit der anderen Bilder ab, ohne sie aber innerlich
zu brechen: leicht wie Wolken gleiten die Stimmungen vor-
über, und der Horizont der Zeit lächelt selbst unter den finster-
sten dieser Wolken fruchtbar hell herein. Nie war Rolland
dem reinen Dichter in sich näher als in diesem Werke, wo er
ganz Franzose ist, und was ihm Spiel und Laune schien, zeigt
t85
am sinnlichsten den lebendigen Quell seiner Kraft: seinen
französischen Geist gelöst in ewiges Element, in die Musik.
Die vergebliche Botschaft
Johann Christof war der wissende Abschied von einer Gene-
ration. Colas Breugnon ist ein anderer Abschied, ein unbe-
wußter: von dem alten, sorglosen, heiteren Frankreich. Den
Späteren seines Blutes wollte dieser ,ybourguigmn saW zeigen,
wie man das Leben mit dem Salz des Spottes durchwürzen und
doch freudig genießen kann: allen Reichtum seiner geliebten
Heimat hatte er darin ausgebreitet und seinen schönsten:
die Freude am Leben.
Sorglose Welt: sie wollte auch der Dichter für eipe er-
wecken, die sich in Not und unseliger Feindschaft verzehrte.
Ein Ruf zum Leben über Jahrhunderte hinweg, sollte aus
Frankreich dem Deutschen Johann Christof antworten, auch
hier zwei Stimmen sich lösend in die hohe Harmonie Beetho-
vens, den Ruf an die Freude. Im Herbst 1913 waren die
Blätter wie goldene Garben geschichtet. Bald war das Buch
gedruckt, im nahen Sommer 1914 sollte es erscheinen.
Aber der Sommer 1914 hatte blutige Saat. Die Kanonen,
die Johann Christofs Warnungsruf überdonnerten, zerschmet-
terten auch den Ruf zur Freude, das Lachen Meister Breugnons.
186
Das Gewissen Europas
„Wer über sich Werte fühlt ^ die er
hundertmal höher nimmt als das
Wohl des ^Vaterlands*, der GeselU
schüft, der Bluts- und Rassenver-
wandtschaft — Werte, die jenseits
der Vaterländer und Rassen stehen,
also internationale Werte — , der
würde zum Heuchler, wenn er den
Patrioten spielen wollte» Es ist eine
Niederung von Mensch zu Mensch,
welche den nationalen Haß aushält
{oder gar bewundert und verherr-
licht)»*^
Nietzsche, Vorreden-Material
im Nachlaß
„La vocaiion ne peut ötre conntte et
prouvie que par le sacrifice que fait
le savant et Vartiste de son repos,
de son bien-itre pour suivre sa vo-
cation.**
Brief Leo Tolstois an Rolland
4. Oktober 1887
Der Hüter des Erbes
Der zweite August 1914 reißt Europa in Stücke. Und mit
der Welt bricht auch der Glaube, den die Brüder im Geiste,
Johann Christof und Olivier, mit ihrem Leben erbaut, zu-
sammen. Ein großes Erbe liegt verwaist. Voll Haß scharren
in allen Ländern die Kärrner des Krieges mit zornigen Spaten-
schlägen den einst heiligen Gedanken der menschlichen Brüder-
schaft wie einen Leichnam zu den Millionen Toten.
Romain Rolland ist in dieser Stunde vor eine Verantwortung
ohnegleichen gestellt. Er hat die Probleme geistig gestaltet:
nun kehrt das Ersonnene zurück als furchtbare Wirklichkeit.
Der Glaube an Europa, den er Johann Christof zu hüten ge-
geben, |st unbeschützt: er hat keinen Sprecher mehr, imd nie
war es notwendiger, seine Fahne gegen den Sturm zu tragen.
Und der Dichter weiß, jede Wahrheit ist nur eine halbe Wahr-
heit, solange sie im Wort gefangen bleibt. Der wahre Gedanke
lebt erst in der Tat, ein Glaube erst als Bekenntnis.
In Johann Christof hatte Romain Rolland alles im voraus ge-
sagt zu dieser unvermeidlichen Stunde; aber doch, um das Be-
kenntnis wahr zu machen, muß er jetzt noch etwas hinzufügen ;
sich selbst. Er muß tun, was sein Johann Christof für Oliviers
Sohn tat: die heilige Flamme hüten; er muß, was sein Held
prophetisch verkündigte, lebendig erstehen lassen durch die
Tat. Wie er es getan hat, ist ims allen unvergeßliches Beispiel
geistigen Heldentums geworden, ein Erlebnis, noch hinreißen-
der als das geschriebene Werk. Christof und Oliviers Gerech-
tigkeitswillen sahen wir in seiner Gestalt restlos gelebte tJber-
zeugung geworden, mit dem ganzen Gewicht seines Namens,
seines Ruhmes, seiner künstlerischen Kraft einen Menschen
aufrecht stehen wider Vaterland und Feme, den Blick ge-
radeaus erhoben in den Himmel des überzeitlichen Glaubens.
Daß dieses Behair .n auf der Überzeugung, dieses scheinbar
Selbstverständliche für eine 2 ^it des Wahns das Schwerste
war, hat Rolland nie verkannt. Aber — wie er an einen fran-
zösischen Freund in den Septembertagen 1914 schrieb: „Man
sucht sich nicht seine Pflicht aus, sie zwingt sich einem auf,
und die meine ist (mit Hilfe jener, die meine Gedanken teilen),
aus der Sintflut die letzten Überreste des europäischen Geistes
zu retten/' Er weiß, „die Menschheit verlangt, daß gerade
die, die sie lieben, ihr standhalten müssen und sogar gegen sie
kämpfen, wenn es not tut“.
Diesen Kampf im Kampfe der Völker haben wir durch fünf
Jahre heroisch gesteigert erlebt, das Wunder eines Nüchternen
gegen den Wahn der Millionen, des Freien gegen die Knecht-
schaft der öffentlichen Meinung, des Liebenden gegen df^n Haß,
des Europäers gegen die Vaterländer, des Gewissens gegen die
Welt. Und es war in dieser langen blutigen Nacht, da wir
manchmal in Verzweiflung über das Sinnlose der Natur zu
vergehen meinten, einzige Tröstung und Erhebung, zu er-
kennen, daß die stärksten Gewalten, die Städte zermalmen und
Reiche vernichten, doch ohnmächtig bleiben gegen einen ein-
zigen Menschen, wenn er den Willen T;nd die seelische Uner-
schrockenheit hat, frei zu sein ; denn die sich Sieger über Millionen
dünkten, konnten eines nicht meistern: das freie Gewissen.
Vergebens darum ihr Triumph, sie hätten den gekreuzigten
Gedanken Europas begraben. Der wahre Glaube schafft immer
das Wunder. Johann Christof hatte seinen Sarg gesprengt
und war auferstanden in der Gestalt seines Dichters.
Der Vorbereitete
Ka mindert nicht das moralische Verdienst Romain RoUands, es
entschuldigt nur vielleicht ein wenig die anderen, wenn man fest-
190
stellt, daß Rolland wie kein anderer Dichter der 2Seit innerlich
auf den Krieg und seine Probleme vorbereitet war. Blickt man
rückläufig heute in sein Werk, so wird man erstaunt gewahr,
daß es von allem Anbeginn wie eine ungeheure Pyramide in
vielen Jahren der Arbeit der einzigen Spitze entgegengebaut
ist — jener Spitze, in die dann der Blitz, vom Polaren ange-
zogen, einschlägt: der Krieg. Seit zwanzig Jahren kreist das
Denken, das Schaffen dieses Künstlers unablässig um das
Problem des Widerspruchs von Geist und Gewalt, Freiheit
und Vaterland, Sieg und Niederlage: in hundertfachen Varia-
tionen, dramatisch, episch, dialogisch, programmatisch, durch
Dutzende von Figuren hat er das Grundthema abgewandelt;
kaum bietet die Wirklichkeit ein Problem, das Christof und
Olivier^ Aärt und die Girondisten nicht in ihren Diskussionen
zumindest gestreift und gestaltet hätten. Geistig ist sein Werk
das wahre Manövrierfeld aller Motive des Krieges. Darum war
Rolland innerlich schon fertig, als die anderen anfingen, sich
mit den Geschehnissen auseinanderzusetzen. Der Historiker
hatte die ewige Wiederholung der typischen Begleiterschei-
nungen, der Psychologe die Massensuggestion und die Wir-
kung auf das Individuum festgestellt, der moralische Mensch,
der Weltbürger, längst sein Credo geschaffen: so war Hollands
geistiger Organismus gegen die Infektion des Massenwahns
und die Ansteckung der Lüge gewissermaßen immunisiert.
Aber es ist eben kein Zufall, welche Probleme sich der Künst-
ler stellt: es gibt keine „glückliche Stoff wähl" beim Drama-
tiker, der Musiker „findet" nicht eine reine Melodie, sondern
er hat sie in sich. Die Problematik erschafft den Künstler, nicht
der Künstler die Probleme, die Ahnung den Propheten, und
nicht der Prophet die Ahnung. Wahl ist beim Künstler immer
Bestimmung, Und der Mann, der das wesentliche Problem
einer ganzen Kultur, einer tragischen Epoche im voraus er-
kannt hatte, mußte naturgemäß in entscheidender Stunde
(obzwar sie es nicht ahnte) der Wesentliche für sie sein. Es
war sinnbildlich, daß gerade die Lehrer der Weisheit, die
systematischen Deuter, die Philosophen hüben und drüben,
Bergson ebenso wie Eucken und Ostwald versagten, weil sie
ihre ganze geistige Leidenschaft jahrzehntelang einzig an die
abstrakten Wahrheiten, die ,,verttes morUs*' gewandt hatten,
indes Rolland — als Systematiker ihnen unendlich unterlegen —
mit seiner .^intelligence du coeur*\ seiner Herzensklugheit, die
Erkenntnis der ,,verites vivafUes*\ der lebendigen Wahrheiten,
antizipierte. Jene hatten für die Wissenschaft gelebt und
waren darum kindlich oder knabenhaft vor den Wirklichkeiten,
indes Rolland, der immer nur für die atmende Menschheit ge-
dacht, in Bereitschaft war. Nur wer den europäischen Krieg
wissend als den Abgrund gesehen, dem die wilde Jagd der
letzten Jahrzehnte, jede Warnung überrasend, zustürmte,
nur der konnte seine Seele gewaltsam zurückreißen, im
Chor der Bacchanten mitzustürmen und trunken vom Chor
und den betäubenden Paukenschlägen, sich das blutige
Tigerfell umzuwerfen. Nur der konnte aufrecht stehen im
größten Sturm des Wahns, den die Weltgeschichte kennt.
So steht Rolland nicht erst in der Stunde des Krieges,
sondern von allem Anbeginn im Gegensatz zu den anderen
Dichtern und Künstlern der Zeit — daher auch die Einsam-
keit seiner ersten zwanzig Schaffensjahre. Daß dieser Gegen-
satz seiner Problematik sich aber nicht offen kundtat, sondern
erst im Kriege zur Kluft wurde, lag darin, daß die tiefe Distanz,
die Rolland von seinen geistigen Zeitgenossen scheidet, viel
weniger eine der Gesinnung als des Charakters war. Fast alle
Künstler erkannten ebenso wie er vor dem apokalyptischen
Jahr den europäischen Bruderkrieg als ein Verbrechen, eine
Schmach unserer Kultur, mit ganz wenigen Ausnahmen waren sie
192
Pazifisten oder meinten es zu sein. Denn Pazifismus heißt nicht
nur Friedensfreund sein, sondern Friedenstäter, „€lQrivo7ioiij5**
wie es im Evangelium heißt; Pazifismus meint Aktivität,
wirkenden Willen zum Frieden, nicht bloß Neigi.ng zur Ruhe
und Behaglichkeit. Er meint Kampf und fordert wie jeder
Kampf in der Stunde der Gefahr Aufopferung,' Heroismus.
Jene aber kannten nur einen sentimentalen Pazifismus, Frie-
densliebe im Frieden, sic waren Friedensfreunde, wie sie wohl
auch Freunde des sozialen Ausgleichs, der Menschenliebe, der
Abschaffung der Todesstrafe waren — Gläubige ohne Leiden-
schaft, die ihre Meinung lose trugen wie ein Kleid, um es in
der Stunde der Entscheidung dann gegen eine Kriegsmoral
auszutauschen und irgendeine nationale Uniform der Mei-
nung anzuziehen. Im tiefsten wußten sie ebenso wie Rolland
das Rechte, sie brachten es nur nicht bis zum Mut ihrer Mei-
nung, Goethes Wort an Eckermann verhängnisvoll bestätigend:
,, Mangel an Charakteren der einzelnen forschenden und schrei-
benden Individuen ist die Quelle alles Übels unserer neueren
Literatur".
Das Wissen um die Dinge hat also Rolland nicht allein ge-
habt — das teilte er mit manchem Intellektuellen, manchem
Politiker — , aber bei ihm verwandelt sich jede Erkenntnis in
religiöse Leidenschaft, jeder Glaube in Bekenntnis, jeder Ge-
danke in Tat. Daß er seiner Idee gerade dann treu geblieben,
als die Zeit sie verleugnete, daß er den europäischen Geist ver-
teidigte gegen alle die rasenden Heerhaufen der einstmals
europäischen und nun vaterländischen Intellektuellen, ist ein
Ruhm, der ihn einsam macht unter den anderen Dichtern.
Kämpfend wie immer seit seiner Jugend für das Unsichtbare
gegen die ganze wirkliche Welt, hat er neben das Heldentum
der Reiterattacken und der Schützengräben ein anderes, uns
höheres gestellt: den Heroismus des Geistes neben den Herois-
13 Zweig, Romaia RoUaad
193
mus des Blutes, und uns das wunderbare Erlebnis geschenkt,
inmitten des Wahns der trunken getriebenen Massen einen
freien wachen menschlichen Menschen zu sehen.
Das Asyl
Die Nachricht vom Kriegsausbruch trifft Romain Rolland in
Vevey, der kleinen altertümlichen Stadt am Genfer See. Wie
fast jeden Sommer, so hat er auch diesen in der Schweiz ver-
bracht, der Wahlheimat seiner wichtigsten und schönsten
Werke; hier, wo die Nationen einander brüderlich in einem
Staat umfassen, wo sein Johann Christof zum erstenmal den
Hymnus der europäischen Einheit verkündet, erfährt er die
Nachricht von der Weltkatastrophe.
Sein ganzes Leben erscheint ihm mit einemmal sinnlos:
umsonst also die Mahnung, umsonst die zwanzig Jahre leiden-
schaftlicher unbelohnter Arbeit. Was er seit frühester Kindheit
gefürchtet, was er den Helden seiner Seele, Olivier, 1898 auf-
schreien ließ als innerste Qual seines Lebens: ,,Ich fürchte
so sehr den Krieg, ich fürchte ihn schon lange. Er ist ein Alp-
druck für mich gewesen und hat meine Kindheit vergiftet,"'
das ist plötzlich aus dem prophetischen Angsttraum eines
Einzigen Wahrheit für hundert entsetzte Millionen Menschen
geworden. Daß er um die Unvermeidlichkeit dieser Stunde
prophetisch gewußt hat, mindert nicht seine Qual. Im Gegen-
teil, indes die anderen sich eilig betäuben mit dem Opium
der Pflichtmoral und den Haschischträumen des Sieges, blickt
er mit grausamer Nüchternheit in die Tiefe der Zukunft.
Sinnlos scheint ihm seine Vergangenheit, sinnlos das ganze
Leben. Er schreibt am 3, August 1914 in sein Tagebuch: „Ich
kann nicht weiter. Ich möchte tot sein. Denn es ist entsetz-
lich, inmitten einer wahnwitzigen Menschheit zu leben und
194
ohnmächtig dem Ztrsammenbruch der Zivilisation zuzusehen.
Dieser europäische Krieg ist die größte Katastrophe seit Jahr-
hunderten, der Einsturz unserer teuersten Hoffnungen auf
eine menschliche Brüderschaft/' Und einige Tage später, in
nur noch gesteigerter Verzweiflung: „Meine Qual ist eine
so aufgehäufte und gepreßte Summe von Qualen, daß ich nicht
mehr zu atmen vermag. Die Zerschmetterung Frankreichs,
das Schicksal meiner Freunde, ihr Tod, ihre Wunden. Das
Grauen vor all diesen Leiden, die herzzerreißende Anteilnahme
an den Millionen Unglücklichen. Ich fühle einen moralischen
Todeskampf beim Schauspiel dieser tollen Menschheit, die
ihre teuersten Schätze, ihre Kräfte, ihr Genie, die Glut hero-
ischer Aufopferung dem mörderischen und stupiden Götzen
des Krieges opfert. Oh, diese Leere von jedem göttlichen
Wort, jedem göttlichen Geist, jeder moralischen Führung,
die jenseits des Gemetzels die Gottesstadt aufrichten könnte.
Die Sinnlosigkeit meines ganzen Lebens vollendet sich jetzt.
Ich möchte einschlafen, um nicht wieder aufzuwachen."
Manchmal in dieser Qual will er hinüber nach Frankreich,
aber er weiß, daß er dort nutzlos wäre ; für militärischen Dienst
hat schon der schmale zarte Jüngling nie gezählt, der Fünfzig-
jährige noch viel weniger. Und einen Schein auch nur der
Kriegshilfe zu erwecken, widerstrebt seinem Gewissen, das,
erzogen in den Ideen Tolstois, sich gefestigt hat zu eigenen
klaren Überzeugungen. Er weiß, daß auch er Frankreich zu
verteidigen hat, aber in einem andern Sinn der Ehre als die
Kanoniere und die haßschreienden Intellektuellen. „Ein
großes Volk", sagt er später in der Einleitung seines Kriegs-
buches, „hat nicht nur seine Grenzen zu verteidigen, sondern
auch seine Vernunft, die es bewahren muß vor all den Hallu-
zinationen, Ungerechtigkeiten imd Torheiten, die der Krieg
mit sich bringt. Jedem sein Posten: den Soldaten die Erde
195
zu verteidigen, den Männern des Gedankens den Gedanken . . .
Der Geist ist nicht der geringste Teil eines Volksbesitzes/'
Noch ist er sich in diesen ersten Tagen der Qual und des Ent-
setzens nicht klar, ob und bei welchem Anlaß ihm das Wort
notwendig sein wird : aber er weiß schon, daß er es nur in einem
Sinne gebrauchen wird, im Sinne der geistigen Freiheit und
übernationalen Gerechtigkeit.
Gerechtigkeit aber braucht selber Freiheit des Blickes.
Nur hier, in neutralem Land konnte der Historiker der Zeit
alle Stimmen hören, alle Meinungen empfangen — nur hier
war Ausblick über den Pulverdampf, den Qualm der Lüge,
die Giftgase des Hasses : hier war Freiheit des Urteils und Frei-
heit der Aussprache. Vor einem Jahre hatte er in Johann
Christof die gefährliche Macht der Massensuggestioi^ gezeigt,
unter der in jedem Vaterland „die gefestigten Intelligenzen
ihre sichersten Überzeugungen hinschmelzen fühlten'' — ,
keiner wie er kannte so gut „die seelische Epidemie, den er-
habenen Wahnsinn des Kollektivgedankens". Eben deshalb
wollte er frei bleiben, sich nicht berauschen lassen von der
heiligen Trunkenheit der Massen und sich von niemand führen
lassen als von dem eigenen Gewissen. Er brauchte nur seine
Bücher aufzuschlagen, um darin die warnenden Worte seines
Olivier zu lesen: ,Jch liebe mein teures Frankreich; aber
kann ich um seinetwillen meine Seele töten, mein Gewissen
verraten? Das hieße mein Vaterland selbst verraten. Wie
könnte ich ohne Haß hassen? Oder ohne Lüge die Komödie
des Hasses spielen?" Und jenes andre unvergeßliche Be-
kenntnis: „Ich will nicht hassen. Ich will selbst meinen Fein-
den Gerechtigkeit widerfahren lassen. Inmitten aller Leiden-
schaften will ich mir die Klarheit des Blickes bewahren, um
alles verstehen und alles lieben zu können." Nur in der
Freiheit, nur in der Unabhängigkeit des Geistes dient der
Künstler seinem Volke, nur so seiner Zeit, nur so der Menschheit :
nur Treue gegen die Wahrheit ist Treue gegen das Vaterland.
Was der Zufall gewollt, bestätigt nun der bewußte Wille:
Romain Rolland bleibt in der Schweiz, im Herzpunkt Europas
fünf Jahre des Krieges, um seine Aufgabe zu erfüllen, „de
dire ce qui est juste et humain” zu sagen „was gerecht und
menschlich ist''. Hier, wo der Wind aus allen Ländern hin-
weht, die Stimme selbst wieder frei die Grenzen überfliegt,
keine Fessel das Wort bindet, dient er seiner unsichtbaren
Pflicht. Ganz nahe schäumt in unendlichen Blutwellen und
schmutzigen Wogen von Haß der Wahnsinn des Krieges an
die kleinen Kantone heran; doch auch im Stürme deutet
unerschütterlich die Magnetnadel eines menschlichen Ge-
wissens zum ewigen Pol alles Lebens zurück: zur Liebe.
Menschheitsdienst
Dem Vaterlande dienen, indem man der ganzen Menschheit
mit seinem Gewissen dient, den Kampf aufnehmen, indem
man das Leiden und seine tausendfältige Qual bekämpft, das
fühlt Rolland als Pflicht des Künstlers. Auch er verwirft das
Abseitsstehen. „Ein Künstler hat nicht das Recht, sich abseits
zu halten, solange er den andern noch helfen kann." Aber
diese Hilfe, dieser Anteil darf nicht darin bestehen, die Millionen
noch zu bestärken in ihrem mörderischen Hasse, sondern sie
zu verbinden, wo sie unsichtbar verbunden sind, in ihrem un-
endlichen Leiden. Und so tritt auch er in die Reihen der Mit-
wirkenden, aber nicht die Waffe in der Hand, sondern dem
Beispiel des großen Walt Whitman getreu, der im Kriege als
Pfleger dem Dienst der Unglücklichen^ sich hingegeben.
Kaum daß die ersten Schlachten geschlagen sind, gellen
schon die Schreie der Angst aus allen Ländern in die Schweiz
197
hinüber. Die Tausende, denen Botschaft von ihr^n Gättett;
Vätern und Söhnen auf den Schlachtfeldern fehlt, breiten ver-
zweifelt die Arme ins Leere : Hunderte, Tausende, Zehntausende
von Briefen und Telegrammen prasseln nieder in das kleine
Haus des Roten Kreuzes in Genf, die einzige intemationaljp
Bindungsstätte der Nationen. Wie Sturmvögel kamen die
ersten Anfragen nach Vermißten, dann wurde es selbst ein
Sturm, ein Meer: in dicken Säcken schleppten die Boten die
Tausende und Abertausende geschriebener Angstrufe herein.
Und nichts war solchem Dammbruch des irdischen Elends
bereitet: das Rote Kreuz hatte keine Räume, keine Organi-
sation, kein System und vor allem keine Helfer.
Einer der ersten, die damals sich gemeldet haben, Hilfe zu
bieten, war Romain Rolland. In dem kleinen hölzernen Ver-
schlag, mitten in dem rasch ausgeräumten Mus6e Rath, zwi-
schen hundert Mädchen, Studenten, Frauen, ist er, achtlos
für seine Zeit und seine eigene Arbeit, durch mehr als andert-
halb Jahre täglich sechs bis acht Stunden gesessen an der
Seite des Leiters, des wundervollen Dr. Ferriöre — dessen
hilfreiche Güte namenlosen Tausenden und Abertausenden
die Qual des Wartens verkürzt hat — hat Briefe registriert,
Briefe geschrieben, eine scheinbar geringfügige Kleinarbeit
getan. Aber wie wichtig war jedes Wort jedem einzelnen, der
im ungeheuren Weltall des Unglücks doch nur sein Staubkorn
Elend fühlte. Ungezählte bewahren heute, ohne es zu wissen,
Mitteilungen über ihre Brüder, Väter und Gatten von der
Hand des großen Dichters. Ein kleiner ungehobelter Schreib-
tisch mit einem nackten Holzsessel mitten im Gedränge einer
schmucklosen, mit Brettern aufgezimmerten Kajüte, neben
hämmernden Schreibmaschinen, drängenden, rufenden, eiligen,
fragenden Menschen — , das war Romain Rollands Kampf-
platz gegen das Elend des Krieges. Hier hat er versucht, was
dfe andern Intellektudleh dtürdi Haß jgegei^^^^
anderhetzten, durch gütige Sorge zu versöhnen, wenigstens;
einen Bruchteil der 'millionenfachen Qual zu lindem durch
gelegentliche Beruhigung und menschliche Tröstung. Er hat
eine führende Stellung im Roten Kreuz weder begehrt noch
innegehabt, sondern ganz wie die andern Namenlosen dort
die tägliche Arbeit der Nachrichtenvermittlung besorgt: un-
sichtbar war diese seine Tat und darum doppelt unvergeßbar.
Und als ihm dann der Nobelfriedenspreis zufiel, behielt er
davon keinen Franken, sondern gab ihn ganz hin zur Linde-
mng des europäischen Elends, damit das Wort die Tat und die
Tat das Wort bezeuge.
Ecce homo! ecce poeta!
Das Tribunal des Geistes
Der Vorbereitetste aller war Romain Rolland gewesen:
prophetisch schildern die letzten Kapitel des Johann Christof
schon den zukünftigen Massenwahn. Nicht einen Augenblick
hatte er sich der eitel-idealischen Hoffnung hingegeben, die
Tatsache (oder der Schein) unserer Kultur, unserer Humanität,
unserer durch zweitausend Jahre Christentum erhobenen
Menschlichkeit würde einen zukünftigen Krieg humaner
machen. Der Historiker wußte zu gut, daß schon in der ersten
Hitze der Kriegsleidenschaft der ganze dünne Firnis von Kultur
und Christentum bei allen Nationen abspringen und die nackte
Bestialität des Menschen erscheinen würde, den vergossenes
Blut immer wieder zum Tiere macht. Er verhehlte sich nicht,
daß dieser geheimnisvolle Blutdunst auch die zartesten, die
gütigsten, die wissendsten Seelen betäuben imd verwirren
kann: all dies, der Verrat der Freundschaft zwischen Freunden,
die plötzliche Soli(Jarität zwischen den entgegengesetzten
199
Charakteren vor dem Idol des Vaterlandes, das Hinschwinden
der Gewissensüberzeugung vor dem ersten Anhauch der Tat,
stand schon im Johann Christof mit Feuerlettern als ein
Menetekel hingeschrieben.
Aber doch: aucii dieser Wissendste aller hat die Wirklich-
keit unterschätzt. Mit Grauen sieht Rolland schon nach den
ersten Tagen, um ein wie Unendliches dieser Krieg mit seinen
Kampfmitteln, seiner materiellen und geistigen Bestialität,
seinen Dimensionen und seinen Leidenschaften alles Gewesene
und jede Ahnung übertrifft. Und vor allem, daß noch nie so
sinnlos der Haß der europäischen Völker (die doch seit tau-
send Jahren miteinander unablässig zusammen oder gegenein-
ander Krieg führen) aufeinander in Wort und Tat getobt hat
wie in diesem zwanzigsten Jahrhundert nach Christi Geburt.
Nie zuvor in der Geschichte der Menschheit hatte die Gehäs-
sigkeit so breite Schichten ergriffen, nie hatte sie bestialischer
unter den Intellektuellen gew^ütet, nie war aus so vielen
Brunnen und Röhren des Geistes, aus den Kanälen der Zei-
tungen, den Retorten der Gelehrten so viel öl ins Feuer ge-
gossen worden. Alle schlechten Instinkte haben sich gleich-
sam gesteigert an den Mülionenmassen : auch die freien Emp-
findungen, die Ideen militarisieren sich, die gräßliche maschi-
nelle Organisation der weithintreffenden Mordwaffen findet
widerliches Widerspiel in den Organisationen der nationalen
Telegraphenbureaus, die Lügen über alle Länder und Meere
in Funken hinspritzen. Zum erstenmal wird die Wissenschaft,
die Dichtung, die Kunst, die Philosophie dem Krieg ebenso
hörig gemacht wie die Technik; auf den Kanzeln und Kathe-
dern, in den Forschungssälen und Laboratorien, in den Redak-
tionen und Dichterstuben wird nach einem einzigen unsicht
baren System nur Haß erzeugt und verbreitet. Die apokalyp-
tische Ahnung des Sehers ist übertroffen.
200
Eine Sintflut von Haß und Blut, wie sie selbst diese alte,
mit Blut bis in die untersten Tiefen getränkte Erde Europas
nie gekannt hat, überschwemmt ein Land nach dem andern.
Und Romain Rolland gedenkt des tausendjährigen Mythus:
er weiß, man kann eine verlorene Welt, eine verworfene Gene-
ration nicht von ihrem eigenen Wahn erretten. Man kann
nicht mit einem Hauch menschlichen Mundes, mit nackten
irdischen Händen einen Wcltbrand auslöschen. Man kann
nur zu hindern suchen, daß andre öl in diese Flammen schütten,
diese Frevler zurückpeitschen mit Hohn und Verachtung.
Und man kann eine Arche bauen, um aus der Sintflut das
geistig Kostbarste der selbstmörderischen Generation einer
späteren zu übermitteln, sobald die Wogen des Hasses wieder
gesunken sind. Man kann ein 2^ichcn aufrichten über die Zeit,
an dem sich die Gläubigen erkennen, einen Tempel der Ein-
tracht inmitten der blutigen Felder der Völker und doch hoch
über ihnen.
Innerhalb der entsetzlichen Organisationen der General-
stäbe, der Technik, der Lüge, des Hasses träumt Rolland von
einer andern Organisation: von einer Gemeinschaft der freien
Geister Europas. Die führenden Dichter, Gelehrten, sie sollen
die Arche sein, die Bewahrer der Gerechtigkeit in diesen Tagen
des Unrechts und der Lüge. Während die Massen, betrogen
von den Worten, in blindem Hasse gegeneinander wüten, sie,
die einander nicht kennen, könnten die Künstler, die Dichter,
die Gelehrten Deutschlands, Frankreichs, Englands, sie, die
doch seit Jahrzehnten an gemeinsamen Entdeckungen, Fort-
schritten, Ideen schaffen, sich zusammentun zu einem Tribunal
des Geistes, das mit wissenschaftlichem Ernste alle Lügen
zwischen ihren Völkern ausroden und über ihre Nationen mit-
einander hohe Zwiesprache führen würdd. Denn daß sich die
großen Künstler, die Forscher, mit den Verbrechen des Krieges
201
nicht idcnl|ßzieren Vvürden, nicht ihre Gewissensfreiheit ver-
schanzen hinter einem bequemen ,,ngkt or wrang — my
country**, war Rollands tiefste Hoffnung. Seit hunderten von
Jahren schon hatten — mit wenigen Ausnahmen — die geistigen
Menschen das Widrige des Krieges erkannt. Aus dem mit
mongolischer Herrschgier ringenden China ruft vor fast tau-
send Jahren schon Li Tai Pe sein stolzes
„Verflucht der Krieg! Verflucht das Werk der Waffen!
Es hat der Weise nichts mit ihrem Wahn zu schaffen.*'
Und dieses „Es hat der Weise nichts mit ihrem Wahn zu schaf-
fen“ schwingt als unsichtbarer Kehrreim durch alle Äuße-
rungen der geistigen Menschen des europäischen Zeitalters.
In lateinisch geschriebenen Briefen — der Sprache, die ihre
übernationale Gemeinschaft S 5 nnbolisch bekundet — t;ß,uschen
die großen humanistischen Gelehrten mitten im Kriege ihrer
Länder Kümmernis und philosophische Tröstung über den
Mordwahn der Menschen aus; für die Deutschen des i8. Jahr-
hunderts spricht Herder am deutlichsten, als er sagt: „Vater-
länder gegen Vaterländer im Blutkampf ist der ärgste Bar-
barismus“; Goethe, Byron, Voltaire, Rousseau begegnen ein-
ander in einer Verachtung der sinnlosen Schlächtereien. So
müßten auch heute, meint Rolland, die führenden Intellek-
tuellen, die großen unbeirrbaren Forscher, die menschlichsten
unter den Dichtem, alle in einem gemeinsamen Jenseits vom
einzelnen Irrtum ihrer Nationen stehen. Auf allzu viele, die
sich so ganz von der Leidenschaft der Zeit loszulösen ver-
möchten, wagt er freilich nicht zu hoffen, aber geistige Dinge
erhalten ihr Gewicht nicht von der Zahl: ihr Gesetz ist nicht
das der Armeen. Auch hier gilt Goethes Wort: „Alles
Große imd Gescheite existiert nur in der Minorität. Es ist
nie daran zu denken, daß die Vernunft populär werde. Leiden-
schaften und Gefühle mögen populär werden, aber die Vernunft
202
witd immer nur ein Besitz einiger VorzügUcheif^ein/' Diese
Minorität kann aber durch Autorität zur spirituellen Macht
werden. Und vor allem, sie kann ein Böllwerk gegen die Lüge
sein. Kämen — etwa in der Schweiz — führende freie Men-
schen aller Nationen zusammen, und kämpften sie gemein-
sam gegen jede Ungerechtigkeit, auch die ihres eigenen Vater-
landes, so wäre endlich, der in allen Ländern gleich geknech-
teten und geknebelten Wahrheit ein Asyl, eine Freiheit geschaf-
fen, Europa hätte einen Fußbreit Heimat, die Menschheit einen
Fimken Hoffnung. In Rede und Gegenrede könnten hier die
Besten einer den andern aufklären, und diese wechselseitige
Erhellung vorurteilsfreier Männer wäre Licht über der Welt.
In diesem Sinn greift Rolland zum erstenmal zur Feder. Er
schrei]^t an den Dichter, den er in Deutschland um seiner Güte
und Menschlichkeit willen am meisten verehrt, ein offenes
Wort. Und zur gleichen Stunde an Deutschlands gehässigsten ,
Feind, an Emile Verhaeren. Beide Arme streckt er aus, zur
Rechten und zur Linken, um das Entfernteste zu vereinen und
wenigstens in dieser reinsten Sphäre des Geistes einen ersten
Versuch geistiger Auseinandersetzung zu schaffen, indessen
auf den Schlachtfeldern heiße Maschinengewehre die Jugend
Frankreichs, Deutschlands, Belgiens, Englands, Österreichs
und Rußlands in gleichem, knatterndem Takte hinmähen.
Die Zwiesprache mit Gerhart Hauptmann
Romain Rolland war Gerhart Hauptmann nie persönlich
begegnet. Er kannte seine Werke und liebte darin die leiden-
schaftliche Teilnahme an allem Menschlichen, die tiefe Güte,
die jede einzelne Gestalt wissend durchdringt. Einmal in
Berlin hatte er versucht ihn in seiner Wohnung aufzusuchen:
203
Gerhart Hauptmann war damals abwesend. Auch im ge-
schriebenen Wort waren sie einander fremd.
Doch wählt Rolland gerade Hauptmann zur Aussprache als
den repräsentativen Dichter Deutschlands, als den Schöpfer der
„Weber*' und weil Hauptmann sich in einem Aufsatz mit seiner
Verantwortung vor das kämpfende Deutschland gestellt hatte.
Er schreibt ihm am 29. August 1914, dem Tage, da das stupide
Telegramm des Wolff-Bureaus, eine tragische Wirklichkeit in
lächerlicher Abschreckungsabsicht übertreibend, meldete: „Die
an Kunstschätzen reiche Stadt Löwen ist vom Erdboden
vernichtet." Der Anlaß zu einem Ausbruch der Entrüstung
war gewiß gegeben, aber Rolland sucht sich zu bezwingen;
„Ich gehöre nicht, Gerhart Hauptmann", hebt er an, „zu
jenen Franzosen, die Deutschland als das Land der Barbaren
betrachten. Ich kenne die geistige und moralische Größe
Eurer kraftvollen Rasse. Ich weiß, was ich den Denkern des
alten Deutschland schulde, und gedenke auch zu dieser Stunde
des Wortes und Beispiels unseres Goethe — dehn er gehört
der ganzen Menschheit zu — , der allen Völkerhaß verabscheute
und seine Seele in jenen Höhen hielt, wo man das Glück und
Unglück anderer Völker wie sein eigenes empfindet." Und
er fährt fort mit einem Pathos des Selbstbewußtseins, das
zum erstenmal nun aus dem Werk dieses Bescheidensten klingt
und, seine Mission erkennend, die Stimme über die Zeit er-
hebt: „Ich habe mein ganzes Leben daran gearbeitet, den
Geist unserer beiden Nationen einander nahe zu bringen und
alle Gräuel dieses verfCichten Krieges, der sie gegeneinander
wirft, werden mich nie dazu bringen, meinen Geist von Haß
beflecken zu lassen."
Aber nun wird Rolland leidenschaftlicher. Er klagt nicht
Deutschland des Krieges an — „der Krieg ist die Frucht der
Schwachheit und Dummheit der Völker" — , er läßt die Politik
beiseite, aber er protestiert gegen die Zerstörung der Kunst-
werke. Vehement ruft er Hauptmann entgegen: „Seid Ihr
die Enkel Goethes oder Attilas?", um ihn dann wieder ruhiger
zu beschwören, diesen Dingen keine geistige Rechtfertigung zu
geben. „Im Namen unseres Europa, zu dessen erlauchtetsten
Streitern Sie bis zu dieser Stunde gezählt haben, im Namen
der Zivilisation, im Namen der Ehre des deutschen Volkes
beschwöre ich Sie, Hauptmann, ich fordere Sie auf. Sie und die
geistige Elite Deutschlands, unter der ich manchen Freund
besitze, mit der äußersten Energie gegen ein Verbrechen zu
protestieren, das sonst auf Euch zurückficle." Rolland will,
daß, so wie er selbst, sich die Deutschen nicht mit den mili-
tärischen Tatsachen solidarisieren, nicht „den Krieg als ein
Fatuip hinnehmen". Er hofft auf einen Protest der Deutschen
— freilich ohne zu wissen, daß damals in Deutschland niemand
eine Ahnung von den politischen Vorgängen hatte oder haben
konnte, und daß ein solcher öffentlicher Protest öffentlich nicht
möglich war.
Noch leidenschaftlicher aber antwortet Gcrhart Hauptmann.
Statt, wie Rolland ihn beschworen, der deutschen militärischen
Abschreckungspolitik die Zustimmung zu verweigern, ver-
sucht er begeistert, sie moralisch zu rechtfertigen, und über-
steigert sich gefährlich in diesem Enthusiasmus. Für ihn gilt
die Maxime ,, Krieg ist Krieg" und, etwas voreilig, verteidigt
er das Recht des Siegers. „Der zur Ohnmacht Verurteilte greift
zu Beschimpfungen." Damit weist er die Zerstörung Löwens als
Unterstellung zurück und begründet „den friedlichen Durchzug"
deutscher Truppen durch Belgien als eine Lebensfrage Deutsch-
lands, verweist auf die Erklärungen des Generalstabes und als
höchste Autorität der Wahrheit auf „den Kaiser selbst".
Damit ist die Zwiesprache aus dem Geistigen ins Politische
geglitten. Rolland weist nun seinerseits erbittert diese Auf-
205
fassung Hauptmanns zurück, der die agressiven Theorien
Schlieffens moralisch mit seiner Autorität stützt, und wirft
ihm vor, sich „mit den Verbrechen der Machthaber zu soli-
darisieren*'. Statt sie zu einigen, entzweit die Zwiesprache
sie noch mehr. In Wirklichkeit sprechen sie beide aneinander
vorbei, denn „le difficile est d'agir sans passion**, „es ist
schwer ohne Leidenschaft zu handeln". Die Stunde ist noch
zu früh, in beiden noch die Leidenschaft zu groß, der Nerv
des Zeitlichen zu überreizt, als daß sie sich zueinander finden
könnten. Noch ist die Lüge stark in der Welt, zuviel Nebel
zwischen den Grenzen. Noch steigt die Flut, die unendliche
des Hasses und des Irrtums. Noch erkennen sich die Brüder
im Dunkel nicht.
Der Briefwechsel mit Verhaeren
Beinahe zur gleichen Stunde wie zu Gerhart Hauptmann,
dem Deutschen, spricht Rolland zu Emile Verhaeren, dem
Belgier, der aus einem begeisterten Europäer der erbittertste
Feind Deutschlands geworden ist. Daß er es nicht immer
gewesen, darf vielleicht keiner berufener bezeugen als ich selbst :
nie hatte Verhaeren im Frieden ein anderes Ideal gekannt
als das der Brüderlichkeit und des einigen Europas, nichts
mehr verabscheut als den Völkerhaß, und in der kurz vor dem
Kriege geschriebenen Vorrede zur Anthologie deutscher Dichter
von Henri Guilbeaux hat er von „der Glut der Völker" ge-
sprochen, die trotz jener, „die sie in den Kampf , gegenein-
ander treiben woUen, sich suchen und lieben**. Erst der Ein-
bruch Deutschlands in seine Heimat lehrt ihn zum ersten Male
das Gefühl des Hasses, und seine Dichtung, bisher Hymnus
der schöpferischen Kräfte, dient nun mit aller bewußten Leiden-
schaft der Feindseligkeit.
206
Rolland hatte an Verhaeren seinen Protest gegen die Zer-
störung von Löwen und die Beschießung der Kathedrale von
Reims gesandt. Verhaeren stimmt zu und schreibt „Traurig-
keit und Haß erfüllen mich. Dieses letzte Gefühl war mir
bislang fremd: nun lernte ich es kennen. Ich kann es nicht
aus mir treiben und glaube doch ein anständiger Mensch zu
sein, für den der Haß früher ein niedriges Gefühl war. Wie
liebe ich in dieser Stunde mein Vaterland oder vielmehr den
Aschenhaufen, zu dem es geworden ist“. Rolland antwortet
ihm sogleich: „Nein, hassen Sie nicht! Weder für Sie noch
für uns darf es den Haß geben. Wehren wir uns gegen den
Haß noch mehr als gegen unsere Feinde 1 Später werden Sie
sehen, daß diese Tragödie noch furchtbarer war als man es
wußte, Spange wir noch in ihr befangen waren. Auf allen Seiten
ist eine düstere Größe und über den Massen der Menschen ein
heiliges Delirium . . . Das europäische Drama hat einen solchen
Gipfel erreicht, daß es ungerecht wäre, dafür die Menschen
anzuklagen. Es ist ein Krampf der Natur . . . Bilden wir
eine Arche wie jene, die die Sintflut sahen, und retten wir
den Rest der Menschheit.“
Verhaeren aber weicht mit Respekt dieser Aufforderung aus.
Er bleibt bewußt bei seinem Haß, obzwar er ihn nicht liebt,
und in der Widmrmg an sich selbst in seinem bedauerlichen
Kriegsbuche, worin er sagt, da sein Gewissen durch den Haß,
in dem er lebe, sich gewissermaßen gemindert empfinde,
widme er dies Buch dem Manne, der er einst gewesen, sehnt
er sich nach jenem alten Gefühl des Allumfangens der Welt.
Vergebens wendet sich Rolland noch einmal an ihn in einem
wundervollen Brief: ,,Wie sehr müssen Sie, mein Gütiger und
Großer, gelitten haben, um dermaßen zu hassen. Aber ich
weiß, lange werden Sie es nicht vermögen, mein Freund, nein,
denn Seelen wie die Ihre würden in einer solchen Atmosphäre
207
tttnkoihmen, Öer Gerechtigkeit muß Genüge geleistet werden,
a|«r die Gerechtigkeit fordert nicht, daß man alle Menschen'^^
eines Volkes für die Verbrechen einiger hundert Individuen
verantwortlich macht. Und gebe es nur einen Gerechten in
ganz Israel, so sage ich Ihnen, daß Sie nicht das Recht hätten,
ganz Israel zu verurteilen. Denn auch Sie zweifeln nichfcdaran,
daß viele Seelen in Deutschland und Österreich, die unter-
drückt und geknebelt sind, leiden und ringen . . . Tausende
Unschuldiger werden überall den Verbrechen der Politik ge-
opfert I Napoleon hatte nicht so imrecht, als er sagte: „Die
Politik ist das moderne Fatum ! Niemals war das antike Schick-
sal grausamer. Verbinden wir uns nicht mit dem Schicksal,
Verhaeren ! Seien wir mit den Unterdrückten, mit allen Unter-
drückten. Sie gibt es überall. Ich kenne nur zwei Völker auf
Erden: jene die leiden, und jene, die das Leiden verursachen."
Aber Verhaeren bleibt starr in seinem Haß. Er antwortet:
„Wenn ich hasse, so ist dies darum, weil, was ich sah, fühlte,
hörte, fürchterlich ist . . . Ich gestehe, daß ich nicht gerecht
sein kann, da ich vor Traurigkeit und Zorn brenne. Ich stehe
nicht neben den Flammen, sondern inmitten der Glut und leide
und weine. Ich kann nicht anders." Er bleibt dem Hasse
treu, freilich auch Romain Rolland Oliviers „Haß gegen den
Haß" . Menschlich werden ihre Beziehungen weiterhin noch durch
Achtung gebunden, trotz des inneren Widerstreits, und selbst
als Verhaeren zu einem Hetzbuch die Vorrede schreibt, trennt
Rolland die Person von der Sache. Verhaeren weigert sich, „an
die Seite seines Irrtums zu treten", aber verleugnet nicht
seine Freundschaft für Rolland und betont sie um so mehr, als
es damals in Frankreich schon „als Gefahr galt, ihn zu lieben".
Auch hier sprechen zwei große Leidenschaften aneinander
vorbei. Auch hier war der Aufruf vergebens. Der Haß hat
die ganze Welt, selbst ihre edelsten Schöpfer und Gestalter.
208
Das' '
^?C^iede^ wie so oft im Lebens hat der
unerschütterliche Gläubige einen Brief zur Geiiieinsamkeit m
die Welt geworfen, wiederum vergebens. Die Dichter, die Ge-
lehrten, die Philosophen, die Künstler, alle stehen sie zu ihren.
Vaterländern, die Deutschen sprechen für Deutschland, die
Fjpnzosen für Frankreich, die Engländer für England, alle
rieh, keiner für alle. „Right or wrong — my country" ist
ihr einziger Wahlspruch. Jedes Land, jedes Volk hat begei-
sterte Sprecher, die auch die imsinnigste seiner Taten blind-
lings zu rechtfertigen bereit sind, die seine Irrtümer, seine Ver-
brechen hinter rasch konstruierten moralischen und meta-
physischen Notwriidigkeiten gehorsam verbergen — nur ein
Land,* das allen Gemeinsame, das Mutterland aller * Vater-
länder, das heilige Europa hat keinen Sprecher, keinen Ver-
treter. Nur eine Idee, die selbstverständlichste einer fchrist-
lichen Welt, bleibt ohne Anwalt, die Idee der Ideen, die der
Menschlichkeit.
In diesen Tagen mag Rolland aus vergangener Zeit die
Stunde wieder heilig bewußt geworden sein, da er wie eine
Botschaft für sein ganzes Leben jenen Brief Leo Tolstois
empfing. Tolstoi war der einzige gewesen, der in dem berühm-
ten Aufschrei „Ich kann nicht länger schweigen" inmitten
eines Krieges in seinem Vaterlande aufgestanden war und die
Rechte d^ Menschen gegen die Menschheit verteidigte, der
Protest erhoben hatte gegen ein Gebot, das Brüdern den Mord
der Brüder bef^. Nun war seine reine Stimme verklungen,
die Stelle, war leer, das Gewissen der Menschheit stumm. Und
Rolland empfindet das Schweigen, das entsetzliche Schweigen
des freien Geistes im Getümmel der Knechte furdtj^barer als
den' Donner der Kanonen. Die er zu Hüfe rief habelln ihn ver-
14 2weig, R^okain Rollaod
209
lassen. Die letzte Wahrheit, die des Gewissens, hat keine Ge-
meinsamkeit, niemand hilft ihm, für die Freiheit des euro-
päischen Geistes zu kämpfen, für die Wahrheit inmitten der
Lüge, für die Menschlichkeit gegen den wahnwitzigen Haß.
Er ist wieder allein mit seinem Glauben, mehr allein als in den
bittersten Jahren seiner Einsamkeit.
Aber Alleinsein hat für Rolland nie Resignation bedeutet.
Zuschauen, wie ein Unrecht tätig wirkt, ohne Einspruch zu
erheben, hat schon dem jungen Dichter so verbrecherisch ge-
schienen wie das Unrecht selbst. „Ceux qtn suhissent le mal
sonl aussi criminels que ceux qui le font” Und keiner so sehr
wie der Dichter scheint ihm die Verantwortung zu haben,
dem Gedanken das Wort zu geben und das Wort durch die
Tat zu verlebendigen. Die bloße Arabeske zur Zeitgeschichte
ZU schreiben ist zu wenig: erlebt der Dichter die Zeit
vom Mittelpunkt seines Seins, dann ist es seine Verpflich-
tung, für die Idee seines Seins zu wirken, die Idee lebendig
zu machen. ,,Die Elite des Geistes stellt eine Aristokratie dar,
die vorgibt, jene des Blutes zu ersetzen. Aber sie vergißt, daß
jene damit begann, ihre Privilegien mit dem Blute zu bezahlen.
Seit Jahrhunderten hören die Menschen viele Worte der Weis-
heit, aber selten sehen sie die Weisen sich aufopfern. Um die
anderen gläubig zu machen, muß man beweisen, daß man selbst
glaubt. Es genügt nicht, bloß Worte zu sprechen." Der Ruhm
ist nicht nur ein sanfter Lorbeerkranz, er ist auch ein Schwert.
Glaube verpflichtet: wer einen Johann Christof das Evan-
gelium eines freien Gewissens sprechen ließ, darf sich nicht
verleugnen, wenn die Welt ihm das Kreuz bereitet hat, er
muß das Apostolat auf sich nehmen und gegebenenfalls das
Märtyrertum. Und während fast alle Künstler der Zeit in
ihrer überreizten ,,passion d*abdiqu€r*\ in ihrer Leidenschaft,
die eigene Meinung wegzuwerfen und sich ganz in der Massen-
210
meinung willenlos aufzulösen, die Gewalt, die. Macht, den
Sieg nicht nur als den Herrn der Stunde bejubeln, sondern
sogar als Sinn der Kultur, als Lebenskraft der Welt, stellt sich
hier das unbestechliche Gewissen schroff gegen alle.
„Jede Gewalt ist mir verhaßt," schreibt Rolland in jenen
entscheidenden Zeiten an Jouve, „kann die Welt nicht ohne
Gewalt auskommen, so ist es meine Pflicht, nicht mit ihr zu
paktieren, sondern ein anderes, entgegengesetztes Prinzip dar-
zustellen, das jenes aufhebt. Jedem seine Rolle, jeder gehorche
seinem Gott." Nicht einen Augenblick ist er sich im unklaren,
wie groß der Kampf ist, den er aufnimmt, aber das Jugend-
wort klingt noch in seiner Brust: ,, Unsere erste Pflicht ist,
groß zu sein und die Größe auf Erden zu verteidigen."
Wiedq* wie damals, als er mit seinen Dramen einem Volke
den Glauben wiedergeben wollte, als er die Bilder der Heroen
über eine kleine Zeit erhob, als er in dem Werk eines schweigen-
den Jahrzehnts die Völker zur Liebe und zur Freiheit aufrief,
wieder beginnt er allein. Keine Partei ist um ihn, keine Zei-
tung, keine Macht zu seiner Verfügung. Er hat nichts als
seine Leidenschaft und jenen wunderbaren Mut, dem das
Aussichtslose nicht Abschreckung, sondern Anreiz ist. Allein
beginnt er den Kampf gegen den Wahnwitz von Millionen.
Und in diesem Augenblick lebt das europäische Gewissen
— mit Haß und Hohn verjagt aus allen Ländern und Herzen —
einzig in seiner Brust.
Die Manifeste
Zeitungsaufsätze sind die Form seines Kampfes: um der
Lüge und ihrem öffentlichen Ausdruck, der Phrase, entgegen-
zutreten, muß Rolland sie auf ihrem eigenen Kampfplatz auf-
suchen. Aber die Intensität der Ideen, die Freiheit ihrer Mei-
nung, die Autorität seines Namens mifcht diese Aufsätze zu
Manifesten, die Europa überfliegen und einen geistigen Wald-
brand entzünden. Wie elektrische Funken an unsichtbaren
Drähten laufen sie weiter, hier furchtbare Explosionen des
Hasses herbeiführend, dort hell hinableuchtend in die Tiefen
freier Gewissen, immer aber Wärme, Erregung in den polarsten
Formen der Entrüstung und Begeisterung erzeugend. Niemals
vielleicht haben Zeitungsaufsätze eine so gewitterhafte, zün-
dende und reinigende Wirkung gehabt wie diese zwei Dutzend
Aufrufe und Manifeste eines einzelnen freien, klaren Menschen
in einer geknechteten und verwirrten Zeit.
Künstlerisch zählen diese Aufsätze selbstverständlich nicht
gleich den überlegten, ausgefeilten, komponierten Werken.
Auf weiteste Kreise berechnet, eingeengt durch den pedanken
an die Zensur (denn es war Rolland vor allem wichtig, daß die
Aufsätze, die er im .Journal de Gen^ve** veröffentlichte, auch
in der Heimat gelesen würden), müssen sie die Gedanken zu-
gleich mit Bedacht und mit Eile entwickeln. Sie enthalten
wunderbare, unvergeßliche Schreie, sublime Stellen der Empö-
rung und Beschwörung, aber sie sind Produkte der Leidenschaft,
ungleich darum im Sprachlichen, oft auch gebunden an das
gelegentliche Geschehnis. Ihr Wert liegt weitaus im Morali-
schen : hierin sind sie eixie einzige und unvergleichliche Leistung.
Künstlerisch fügten sie dem Werke Hollands kaum mehr als
einen neuen Rhythmus an: ein gewisses Pathos des öffent-
lichen Sprechers, eine heroisch gehobene Rede, die bewußt zu
Tausendeti und Millionen spricht. Denn in diesen Aufsätzen
redet nicht ein einzelner, sondern das unsichtbare. Europa,
als dessen Kronzeuge und öffentlichen Verteidiger Romain
Rolland sich zum ersten Male fühlt.
Was sie in unsrer Welt damals bedeutet haben, wird das
eine spätere Generation, die sie nun gesammelt in den Bänden
212
„A^ dessus de la und „L« Precufseurs'\ liest, über-
haupt noch ermessen können? Man vermag eine Kraft nie
zu berechnen, ohne ihren Widerstand, eine Tat nie ohne ihr
Opfer. Um die moralische Bedeutung, den heroischen Charakter
dieser Manifeste würdigen zu köimen, muß man den (heute
kaum mehr faßlichen) Irrsinn des ersten Kriegs] ahres, die
geistige Epidemie ganz Europas, das intellektuelle Narrenhaus
sich vergegenwärtigen. Muß sich erinnern, daß Maximen, die
uns heute das Banalste scheinen, wie zum Beispiel, daß nicht
alle Menschen einer Nation für den Ausbruch eines Krieges
verantwortlich seien, als strafwürdige politische Verbrechen
galten, muß sich vergegenwärtigen, daß ein Buch wie dieses
heute uns selbstverständliche ,,Au dessus de la Melee** vom
Staatsawalt ein „niederträchtiges** genannt wurde, daß der
Autor verfemt war, die Aufsätze lange verboten gewesen
sind, während eine Schar von Pamphleten gegen dieses freie
Wort ungehindert ihren Weg nahm. Man muß sich zu diesen
Aufsätzen immer die Atmosphäre, das Schweigen der anderen
hinzudenken, um zu verstehen, daß sie so laut hallten, weil
sie in eine ungeheure geistige Leere hineingesprochen waren,
und wenn heute ihre Wahrheiten leicht als selbstverständlich
abgetan werden können, sich an das wundervolle Wort Schopen-
hauers erinnern, „der Wahrheit ist auf Erden nur ein kurzes
Siegesfest verstattet zwischen zwei langen Zeiträumen, in
denen sie als paradox verspottet oder als banal mißachtet
wird**. Heute mag (für einen flüchtigen Augenblick) der
Zeitpunkt gekommen sein, wo viele dieser Worte als banal
gelten werden, weil sie inzwischen von tausenden Nachschrei-
bem kleingemünzt wurden. Wir aber haben sie zu einer Zeit
gekannt, da jedes dieser Worte wie ein Peitschenschlag wirkte,
und die Empörung, die sie damals verursachten, bezeugt das
historische Maß ihrer Notwendigkeit. Nur die Wut der Gegner"
213
(heute noch erkenntlich in einer Flut von Broschüren) gibt
Ahnung von dem Heroismus dieses Mannes, der sich zum
erstenmal mit seiner freien Seele „über das Getümmel*' erhob.
Vergessen wir es nicht: ,,Dire ce qui est juste et h%imaifC\ zu
sagen, „was gerecht und menschlich ist", galt damals als das
Verbrechen der Verbrechen. Denn damals war die Mensch-
heit so toll vom ersten Blute, daß sie, wie Rolland einmal so
wundervoll sagte: ,,Jesum Christum, wenn er auferstanden
wäre, noch einmal gekreuzigt hätte, weil er sagte: Liebet
einander."
Über dem Getümmel
Am 22. September 1914 erscheint im „Journal de/ienhve'*
jener Aufsatz „Au dessus de la Müee'\ nach dem flüchtigen
Vorpostengcplänkel mit Gerhart Hauptmann die Kriegs-
ansage an den Haß, der entscheidende Hammerschlag zum
Bau der unsichtbaren europäischen Kirche inmitten des Krieges.
Das Titelwort ist seitdem Kampfruf und Hohnwort geworden :
aber mit diesem Aufsatz erhebt sich zum erstenmal im miß-
tönenden Gezänke der Parteien die klare Stimme der unbeirr-
baren Gerechtigkeit, Tausenden und immer neuen Tausenden
zum Trost.
Ein merkwürdiges verwölktes tragisches Pathos beseelt
diesen Aufsatz: geheimnisvolle Resonanz der Stunde, da Un-
zälilige und darunter nächste Freunde verbluten. Das Er-
schütterte und Erschütternde eines gewaltsamen Aufbruchs
des Herzens ist darin, ein losgerungener heroischer Entschluß,
mit dein Ganzen einer wirr gewordenen Welt sich auseinander-
zusetzen. In einem Hymnus an die kämpfende Jugend erhebt
sich der Rhythmus: „O, heroische Jugend der Welt! Mit wie
verschwenderischer Freude schüttet sie ihr Blut in die hungrige
214
Erde! Wie wundervolle Opfergarben mäht die Sonne dieses
herrlichen Sommers sie hin. Ihr alle, Jünglinge aller Völker, die
ein gemeinsames Ideal gegeneinander stellt . . . wie teuer seid
ihr mir, die ihr hingeht, um zu sterben. Ihr rächt die Jahre
des Skeptizismus, der genießerischen Schwächlichkeit, in der
wir aufwuchsen . . . Sieger oder Besiegte, Tote oder Lebende,
seid glücklich!''
Aber nach diesem Hymnus an die Gläubigen, die höchster
Pflicht zu dienen meinen, richtet Rolland die Frage an die
geistigen Führer aller Nationen: „Ihr, die ihr solche lebendigen
Schätze an Helden in Händen hattet, wofür verausgabt ihr
sie? Welches Ziel habt ihr der großherzigen Hingabe ihres
Opfermutes gegeben? Den gegenseitigen Mord, den euro-
päischen Krieg." Und er erhebt die Anklage, daß sich die
Führer nun mit ihrer Verantwortung feige hinter einem Götzen —
dem „Schicksal"! — verstecken und, nicht genug, diesen Krieg
nicht verhindert zu haben, ihn noch anfachen und vergiften.
Entsetzliches Bild! Alles stürzt hin in diesem Strome, in allen
Ländern, allen Nationen gleicher Jubel für das, was sie zer-
malmt. „Nicht nur die Leidenschaft der Rasse schleudert in
blinder Wut die Millionen Menschen gegeneinander . . . Die
Vernunft, die Religion, die Dichtung, die Wissenschaft, alle
Formen des Geistes haben sich mobilisiert und folgen in jedem
Staate den Armeen. Ohne Ausnahme verkündet mit voller
Überzeugung die Elite jedes Landes, daß die Sache gerade ihres
Volkes die Gottes, die der Freiheit und des menschlichen Fort-
schrittes sei." Mit leichtem Spott schildert er dann die gro-
tesken Zweikämpfe der Philosophen und Gelehrten, das Ver-
sagen der beiden großen Kollektivmächte, des Christentums
und des Sozialismus, um sich selbst entschlossen von diesem
Getümmel abzuwenden: „Die Vorstellung, daß die Vaterlands-
liebe notwendigerweise den Haß der andern Vaterländer und
21^
das Massaker jener bedinge, die sie verteidigen, diese Vor
Steilung hat für mich eine absurde Wildheit, einen neronischen
Dilettantismus, der mir widerstrebt bis in die letzten Tiefen
meines Wesens. Nein, die Liebe zu meinem Vaterlande fordert
nicht, daß ich die gläubigen und treuen Seelen, die das ilirige
lieben, hasse und hinmorde. Sie fordert, daß ich sie ehre und
mich mit ihnen zu unserem gemeinsamen Wolile vereine.*'
Und er fährt fort: „Zwischen uns Völkern des Abendlancfes
gab es keinen Grund zum Kriege. Abgesehen von einer Minder-
heit vergifteter Presse, die ein Interesse an der Aufzüchtung
dieses Hasses hat, hassen wir Brüder in Frankreich, England
und Deutschland einander nicht. Ich kenne sie und kenne uns.
Unsere Völker verlangen nichts als den Frieden und ihre Frei-
heit." Deshalb bedeutet es eine Schande für die Geistigen,
wenn sie bei Kriegsausbruch die Reinheit ihres Denkens be-
schmutzen. Es ist schändlich, den freien Geist als Knecht der
Leidenschaft einer kindlichen und absurden Rassenpolitik zu
sehen. Denn nie dürfen wir die Einheit in diesem Zwiste ver-
gessen, unser aller Vaterland. ,,Die Menschheit ist eine Sym-
phonie großer gemeinsamer Seelen. Wer nur imstande ist, sie
zu begreifen und sie zu lieben, wenn er zuvor einen Teil ihrer
Elemente zerstört, zeigt, daß er ein Barbar ist . . . Wir, die
europäische Elite, haben zwei Heimstätten, unser irdisches
Vaterland und die Stadt Gottes. In der einen sind wir zu Gast,
die andere müssen wir uns selbst erbauen ... Es ist unsere
Pflicht, den Wall um diese Stadt so weit und so hoch zu erbauen,
daß sie die Ungerechtigkeit und den Haß der Nationen über-
höht und die brüderlichen und freien Seelen der ganzen
Welt in sich versammeln karfn.“
Zu so hohen Idealen schwebt hier der Glaube auf wie eine
Möwe über die blutige Flut. Freilich, Rolland weiß selbst,
wie wenig diese Worte Hoffnung haben, das Getöse von dreißig
216
Millionen waffenl^Unrender Menschen zu übertönen. „Ich weiß,
daß diese Worte wenig Aussicht haben, gehört zu werden . . .
Aber ich spreche nicht, um zu überzeugen, sondern um mein
Gewissen zu erleichtern. Und ich weiß, daß ich zugleich das
von Tausenden andern erleichtere, die in allen Ländern nicht
zu sprechen wagen, oder zu sprechen verhindert sind.“ Wie
immer, ist er bei den Schwächeren, bei der Minderheit. Und
seine Stimme wird immer stärker, weil sie fühlt, daß sie für
unzählige Schweigende spricht.
Der Kampf gegen den Haß
Dieser Aufsatz „Au dessus de la Müce" war der erste Axtschlag
im wild* aufgewucherten Walde des Hasses: dröhnendes Echo
donnert von allen Seiten, es braust unwillig in den Blättern.
Aber der Entschlossene läßt nicht ab : er will in das ungeheuere
und gefährliche Dunkel eine Lichtung roden, durch die ein
paar Sonnenstrahlen der Vernunft in die stickige Atmosphäre
liereinschimmern können. Seine nächsten Aufsätze wollen
Klarheit schaffen, einen hellen, reinen, fruchtbaren Raum;
und vor allem wollen die schönen Aufsätze ,Jnter armacaritas*'
(30. Oktober 1914), Idoles** (4. Dezember 1914), „Notre
prochain, Tennemi“ (15. Mai 1915), nieurtre des elites''
(14. Juni 1915) den Schweigenden eine Stimme geben: „Helfen
wir den Opfern ! Freilich, viel vermögen wir nicht. Im ewigen
Kampfe zwischen dem Guten und dem Bösen sind die Aus-
sichten ungleich: man braucht ein Jahrhundert, um das auf-
zubauen, was ein Tag zerstört. Jedoch, die tolle Wut dauert
nur einen Tag und die geduldige Arbeit ist das tägliche Brot
aller Tage. Sie unterbricht sich selbst nicht in einer Stimde
des Weltunterganges.“
Nun hat der Dichter klar seine Aufgabe erkannt : den Krieg
217
zu bekämpfen wäre Sinnlos. Vernunft bleibt machtlos gegen
Elemente. Aber im Xri<"ge das zu bekämpfen, was die Leiden-
schaften der Menschen wissend dem Entsetzlichen hinzutun,
die geistige Vergiftung der Waffen, scheint ihm seine vor-
bestimmte Pflicht. Das Furchtbarste gerade dieses Krieges,
das, was ihn so von allen früheren unterscheidet, ist seine
bewußte Vergeistigung, der Versuch, ein Geschehnis, das ver-
gangene Zeiten einfach als naturhaftes Verhängnis wie Pest
und Seuche hinnehmen, heroisch in eine ,, große Zeit*' zu ver-
klären, der Gewalt eine Moral, der Vernichtung eine Ethik zu
unterstellen, einen Massenkampf der Völker gleichzeitig in
einen Massenhaß der Individuen zu steigern. Nicht den Krieg
also bekämpft Rolland (wie vielfach vermeint wurde), er be-
kämpft die Ideologie des Krieges, die künstliche Vergöttlichung
des ewig Bestialischen; und er bekämpft im einzelnen die träge,
leichtfertige Hingabe an eine kollektive und bloß für Kriegs-
dauer konstruierte Ethik, die Flucht Vor dem Gewissen in
die Massenlüge, die Suspendierung der inneren Freiheit auf
Kriegsdauer.
Nicht gegen die Massen, gegen die Völker wendet sich also
sein' Wort. Sie sind Unwissende, Belogene, arme Getriebene,
denen man durch Lüge den Haß verständlich gemacht hat
— ,,// est si commode de hair saus comprendre* — ,,es ist so be-
quem zu hassen, wenn man nicht versteht“. Alle Schuld liegt
bei den Treibern und bei den Fabrikanten der Lüge, bei den
Intellektuellen. Sie sind schuldig, und siebenfach schuldig,
weil sie, dank ihrer Bildung und ihrer Erfahrung, die Wahr-
heit wissen mußten und sie verleugnen, weil sie aus Schwäche
und vielfach aus Berechnung sich der banalen Meinung an-
geschlossen haben, statt kraft der ihnen gegebenen Autorität
die Meinung zu führen. Bewußt haben sie statt des einst ver-
tretenen Ideals der Menschlichkeit und Völkerointracht spar-
218
tanische und homerische Heldenidole rekonstruiert, die in
unsere Zeit so wenig passen, wie Lanzen und ^Rüstungen zwi^
sehen Maschinengewehre. Und vor allem, sie haben den Haß,
der allen Großen aller Zeiten eine verächtliche und niedere
Begleiterscheinung des Krieges war, den die Geistigen durch
Ekel, die Kämpfenden durch Ritterlichkeit von sich wiesen,
diesen Haß haben sie nicht nur mit allen Argumenten der
Logik, der Wissenschaft, der Dichtung verteidigt, sie haben ihn
sogar (mit Suspendierung der christlichen Evangelienworte)
zur sittlichen Pflicht erhoben und jeden, der sich gegen die
kollektive Gehässigkeit wehrte, zum Verräter am Vaterland
gestempelt. Gegen diese Feinde des freien Geistes hebt Rolland
sein Wort: „Nicht nur, daß sie nichts taten, um das wechsel-
seitige Mißverstehen zu vermindern und den Haß zu be-
grenzen, im Gegenteil: mit wenigen Ausnahmen haben sie alles
getan, ihn auszubreiten und zu vergiften. Zum großen Teil
war dieser Krieg ihr Krieg. Mit ihren mörderischen Ideologien
haben sie Tausende von Gehirnen verführt und in frevelhafter
Sicherheit ihrer Wahrheit, unbelehrbar in ihrem Stolze, Millionen
fremder Existenzen für die Phantome ihres Geistes in den
Tod getrieben.'* Schuldig ist nur der Wissende oder der, dem
die Möglichkeit gegeben war, wissend zu sein, der aber aus
Trägheit der Vernunft und des Herzens, aus falsclier Ruhm-
sucht oder Feigheit, aus Vorteilsgründen oder aus Schwäche
sich einer Lüge hingegeben hat.
Denn der Haß der Intellektuellen war eine Lüge. Wäre er
eine Wahrheit, eine Leidenschaft gewesen, so hätte er die
Schwätzer das Wort wegwerfen und eine Waffe ergreifen lassen
müssen. Haß und Liebe kann nur Menschen gelten, nicht Be-
griffen, nicht Ideen, deshalb war der Versuch, Haß zwischen
Millionen unbekannter Individuen zu säen und ihn ,, ver-
ewigen** zu wollen, ein Verbrechen gegen den Geist so sehr.
219
vie gegen das Blut. Deutschland zu verallgemeinern in einen
einzigen Gegenstand des Hasses, Treibende und Getriebene in
eine seelische Verfassung, war bewußte Fälschung. Es gab
nur eine Gemeinsamkeit: die der Wahrhaftigkeit und die der
Lügner, die der Menschen des Gewissens und die der Phrase.
Und so wie Rolland im Johann Christof das wahre Frankreich
vom falschen, das alte Deutschland vom neuen sonderte, um
die allmenschliche Gemeinsamkeit zu zeigen, so unternimmt
er mitten im Kriege den Versuch, die erschreckende Ähnlich-
keit der Kriegsvergifter in beiden Lagern an den Pranger zu
stellen und die heroische Einsamkeit der freien Naturen in
beiden Ländern zu feiern, um — gemäß jenem Worte Tol-
stois — der Pflicht des Dichters gerecht zu werden, der , »Bin-
dende zwischen den Menschen* ‘ zu sein. Die ,,cerveaux en-
chaines*\ die „gefesselten Gehirne** seiner Komödie Liluli,
tanzen in verschiedenen Uniformen hüben und drüben unter
der Peitsche des Negers Patriotismus den gleichen indianischen
Kriegstanz: die deutschen Professoren und die der Sorbonne
haben eine erschreckende Ähnlichkeit in ihren logischen Sprün-
gen und die Haßgesänge eine groteske Gleichheit des Rhythmus
und der Konstruktion.
Das Gemeinsame aber, das Rolland zeigen will, soll zugleich
eine Tröstung sein. Die Worte der mensclilichen Erhebung
sind freilich schwerer zu erspähen, als jene des Hasses, denn
die freie Meinung muß durch einen Knebel sprechen,
während die Lüge durch die Megaphone der Zeitungen
dröhnt. Mühsam muß man die Wahrheit imd die Wahr-
haftigen suchen, weil der Staat sie versteckt, aber die
beharrlich spürende Seele findet sie bei allen Völkern und
Nationen, An Beispielen, Büchern und Menschen, deutschen
wie französischen, beweist Rolland in diesen Aufsätzen, daß
hüben und drüben, sogar oder gerade in den Schützengräben,
Z20
ganz brüderliches Empfinden bei Tausenden und Abertausenden
herrscht. Er veröffentlicht Briefe deutscher Soldaten neben
denen französischer: sie sind in der gleichen menschlichen
Sprache geschrieben. Er erzählt von der Feindeshilfe der
Frauen und siche: es ist die gleiche Organisation des Herzens
inmitten der grausamen der Waffen. Er publiziert Gedichte
von hüben und drüben: sie vereinen sich im Gefühl. Wie er
einst in seinen „Biographien der Helden'' den Leidenden der
Welt zeigen wollte, daß sie „nicht allein seien, sondern die
Größten aller Zeiten mit ihnen", so sucht er denen, die inmitten
der Tollheit sich in manchen Stunden selbst für Ausgestoßene
halten, weil sie nichts von den gehässigen Empfindungen der
Zeitungen und Professoren in sich fühlen, ihre unbekannten
Brüdgr im Schweigen bekannt zu machen — wieder bemüht,
die unsichtbare Gemeinde der freien Seelen zu vereinen. „Das
gleiche Glück,'* schreibt er, „das wir in diesen zitternden
Märztagen beim Anblick der ersten aufschießenden Blumen
empfinden, ich fühle es auch, wenn ich die zarten und kraft-
vollen Blüten menschlichen Mitleids die Eiskruste des Hasses
Europas durchdringen fühle. Sie bezeugen, daß die Lebens-
wärme fortdauert und nichts sie zerstören kann." Uner-
schütterlich setzt er ttVhumhle pUerinage*\ die ,, demütige
Pilgerschaft" fort, bemüht, „unter den Ruinen die letzten
Herzen zu entdecken, die dem alten Ideal der menschlichen
Brüderschaft getreu blieben. Welche melancholische Freude,
sie zu entdecken und ihnen zu Hilfe zu kommen." Und um
dieses Trostes, um dieser Hoffnung willen gibt er sogar dem
Krieg, dem seit seiner frühesten Kindheit gefürchteten und
gehaßten, einen neuen Sinn: „Der Krieg hat den schmerzvollen
Vorteil gehabt, die Geister, die sich dem nationalen Hasse
verweigern, auf der ganzen Welt zu vereinigen. Er hat ihre
Kraft gestählt, zu einem ehernen Block, ihre Willen zusammen-
221
geschlossen. Wie doch jene sich täuschen, die meinen, die
Ideen der Brüderlichkeit seien erstickt . . . Ich zweifle nicht
im mindesten an der zukünftigen Einheit der europäischen
Gemeinschaft. Sic wird wahr werden. Und der Krieg von
heute ist nur ihre blutige Taufe.'' *
Samariter der Seelen, sucht er so die Verzagten mit Hoff-
nung, dem Brot des Lebens, zu trösten. Vielleicht über seine
eigenste innerste Meinung hinaus kündet er seine Zuversicht:
und nur wer den Hunger der Zahllosen, in den Kerker eines
Vaterlandes, hinter die Gitter der Zensur Gesperrten kannte,
wird ermessen, was ihnen diese Manifeste des Glaubens, dies
endlich vernommene Wort ohne Haß, diese Botschaft der
Brüderlichkeit damals bedeutet haben.
Die Gegner
Oaß in einer Zeit der Parteien keine Bestrebung undankbarer
sein werde, als die zur Unparteilichkeit, darüber gab sich
Rolland von allem Anbeginn keinem Zweifel hin. „Die Kämpfer
sind heute nur in einem einig: alle jene zu hassen, die sich wei-
gern, mitzuhassen. Wer nicht delirieren will wie die andern,
wird verdächtig. Und in diesen Zeiten, da die Justiz sich
nicht Zeit nimmt, Prozesse gründlich zu verfolgen, ist jeder
Verdächtige schon ein Verräter. Wer darauf besteht, inmitten
des Krieges den Frieden zwischen den Menschen zu ver-
teidigen, der muß wissen, daß er seinen Glauben, seinen Namen,
seine Ruhe, sein Ansehen und selbst seine Freundschaften aufs
Spiel setzt. Aber was wäre eine Überzeugung wert, für die
man nichts wagen wollte?" Rolland weiß also, daß der Platz
zwischen den Fronten der gefährlichste ist, er weiß, was ihn
erwartet, aber gerade die Gefahr stählt sein Gewissen. „Ist
es tatsächlich nötig, wie die Volksweisheit sagt, den Krieg im
222
Frieden vorzubereHen, so ist es nicht minder nötig, den Frieden
im Krieg vorzubereiten. Diese Aufgabe scheint mir jenen zu-
geteilt, die sich selbst außerhalb des Gefechtes befinden und
die durch ihr geistiges Leben nähere Verbindung mit dem
Weltganzen haben — diese kleine Laienkirche, die heute
besser als die andere ihren Glauben an die Einheit des mensch-
lichen Gedankens bewahrt hat und für die alle Menschen Söhne
desselben Vaters sind. Bringt es diese Überzeugung mit sich, daß
wir beschimpft werden, so sind die Beschimpfungen eine Ehre
für uns, die wir vor der Zukunft rechtfertigen werden.'*
Man sieht: Rolland war sich des Widerspruches im voraus
bewußt. Aber die Wut der Angriffe gegen ihn übertrifft in
erschreckender Weise alle Erwartungen. Die erste Welle
kommt aus Deutschland. Die Stelle im Briefe an Gerhart
Hauptmann: ,,Seid ihr Enkel Goethes oder Attilas?" und
einige andere finden zorniges Echo. Ein Dutzend Professoren
und literarische Schwätzer fühlen sich sofort bemüßigt, die
französische Anmaßung zu „züchtigen", und in der „Deutschen
Rundschau" enthüllt ein engstirniger Alldeutscher das große
Geheimnis, daß der Johann Christof unter der Heimtücke von
Neutralität der gefährlichste Angriff Frankreichs auf den
deutschen Geist gewesen sei.
Aber diesen Wutausbrüchen geben die französischen nichts
nach, sobald der Aufsatz dessus de la Melee** oder eigent-
lich bloß die Kunde davon bekannt geworden war. Denn fran-
zösische Blätter durften zunächst — wer versteht dies heute
noch? — dieses Manifest gar nicht abdrucken; die ersten
Fragmente lernte man aus den Angriffen kennen, die Rolland
als einen Verderber des Patriotismus an den Pranger stellten,
eine Aufgabe, vor der Professoren der Sorbonne und Historiker
von Ruf nicht zurückschreckten. Aus den einzelnen Angriffen
wurde bald eine systematische Kampagne, statt 2Jeitungs-
223
artikel erschienen Broschüren und schließlich sogar das dickS
Buch eines Hinterland*^ beiden mit tausend Beweisen, Photo-
graphien, Zitaten — ein ganzes Dossier, das seine Absicht
gar nicht verhehlte, Material für einen Prozeß zusammen-
zustellen. Die niedrigsten Verleumdungen werden nicht gespart,
wie die, Rolland sei während des Krieges dem deutschen Verein
„Neues Vaterland" beigetreten, er sei Mitarbeiter deutscher
Zeitungen, sein amerikanischer Verleger ein Agent des Kaisers,
eine Broschüre beschuldigt ihn der bewußten Fälschung von
Daten: und zwischen diesen offen ausgesprochenen Verleum-
dungen schimmern zwischen den Zeilen noch gefährlichere.
Alle Zeitungen, mit Ausnahme einiger kleiner radikaler Blätter,
schließen sich zusammen zu einem Boykott, keine Pariser
Zeitung wagt eine Berichtigung zu bringen, triumphierend
verkündet ein Professor: ,yCet auteur ne se lit flus en France*\
„dieser Autor wird in Frankreich nicht mehr gelesen^'. Ängst-
lich rücken die Kameraden von dem Verfemten ab, 'einer
seiner ältesten Jugendfreunde, der „ami de la premiere heure",
jener ,, Freund von der ersten Stunde", dem Rolland eines seiner
Werke gewidmet hatte, versagt in diesem entscheidenden Zeit-
punkt und läßt ein schon vorbereitetes, schon gedrucktes
Buch über Rolland ängstlich cinstampfen. Auch der Staat
zielt immer schärfer auf den Unerschrockenen hin: vergeblich
sendet er seine Agenten um „Material", und in einer Reihe
von „Defaitistenprozessen" visiert er deutlich Rolland, dessen
Buch der Tiger der Anklageprozesse, Leutnant Momet, öffent-
lich „abominable" nennt. Nur die Autorität seines Namens,
die Unantastbarkeit seines offenen Lebens, die Einsamkeit
seines Kampfes, die sich nie in unreine Gemeinschaft verstrickt,
machen den Angebern und Hetzern den wohlbereiteten Plan
zunichte, Rolland neben Abenteurern und kleinen Spionen auf
der Anklagebank zu sehen.
224
Mit einer gewissen Mühe — all dieser Irrsinn w^ar ja nur
in der überreizten Atmosphäre einer Katastrophenpolitik ver-
ständlich — vermag man heute aus jenen Broschüren, Büchern
und Pamphleten zu rekonstruieren, was das patriotische Ver-
brechen Rollands in der Mentalität jener Menschen damals
gewesen ist. Aus den eigenen Werken vermöchte auch das
phantasievollste Gehirn sich einen „Cas Rolland” , eine „Affäre"
nicht mehr zu erklären und am wenigsten den Fanatismus
der ganzen französischen Geistigkeit gegen diesen Einzigen,
der ruhig und verantwortungsvoll seine Gedanken entwickelte,
Aber dies war schon das erste Vergehen im Sinn jener
Patrioten, daß Rolland überhaupt öffentlich über die mora-
lischen Probleme des Krieges nachdachte. ,,On ne discute pas
la patrid\ ,,man spricht nicht über Dinge, die das Vaterland
angehen." Man schweigt, wenn man nicht mit der Masse
reden kann oder will, war ja das erste Axiom der Kriegsethik.
Pflicht ist, die Soldaten zur Leidenschaft, zum Haß anzu-
feuern, nicht zum Nachdenken. Eine Lüge, die Begeisterung
erzeugt, taugt im Kriege besser als die beste Wahrheit. Nach-
denkender Zweifel ist — ganz im Sinne der katholischen Kirche
— ein Verbrechen am unfehlbaren Dogma des Vaterlandes.
Die Tatsache allein also schon, daß Rolland über diese Dinge
der Zeit nachdenken will, statt die Thesen der Politik zu be-
jahen, ist keine ,,aüitude frangaise”, keine patriotisch-fran-
zösische Haltung und stempelt ihn zum ,,neutre”, zum Neu-
tralen. Und „neutre” war damals Reimwort auf
Das zweite Vergehen war, daß Rolland gerecht sein wollte
gegen alle Menschen der Menschheit, daß er nicht aufhörte,
auch in den Feinden noch Menschen zu sehen, daß er auch bei
ihnen zwischen Schuldigen und Unschuldigen unterschied, für
die deutschen Leidenden das gleiche Mitleid hatte wie für die
französischen und ihnen das Wort „Brüder" nicht versagte.
15 Zweig, Rain»io K< J!»nd
2?5
Das patridtische Dogma aber verlangte, daß man auf Kriegs-
dauer das Humanitätsgefühl abkurble wie einen Motor, die
Gerechtigkeit bis zum Sieg suspendiere wie die Worte des
Evangeliums: „Du sollst nicht töten", und pathetisch trägt
eine Broschüre gegen Rolland das Motto: .^Pendant une iguene
tout ce qu*on donne de Vamout ä rkumaniti, on le vole ä la patrie*\
„Alles, was man an Liebe während eines Krieges der Mensch-
heit gibt, stiehlt man dem Vaterlande", — ein Motto, das man
freilich auch umdrehen könnte im Hinblick auf die Menschheit.
Das dritte Vergehen — das staatsgefährlichste — für jene
Mentalität aber war, daß Rolland im militärischen Siege nicht
das Wunderelixier der Moral, des Geistes, der Gerechtigkeit
erblicken wollte, daß ihm ein nachgiebiger, ein unblutiger Friede,
der eine völlige Versöhnung, eine brüderliche Bindung der
europäischen Völker brächte, segensreicher schien als eine
blutige Bezwingung, die nur wieder Drachensaaten von Haß
und neuen Kriegen zeugte. Nun war in Frankreich — in
wunderbarem Parallelismus zum deutschen Wort von den
„Flaumachern" und dem „Schmachfrieden" — bei den Par-
teien, die den Krieg bis zur Vernichtung führen wollten, das
Schimpfwort „d^faitiste**, „Freund der Niederlage", für jedeii
erfunden worden, der einer vernünftigen Verständigung das
Wort redete. Und Rolland, der ein ganzes geistiges Leben
damit verbracht hatte, der rohen Gewalt höhere sittliche Gewalt
entgegenzusetzen, wurde als Vergifter der Kampfmoral, als der
„initiateur du defaitisme*\ „der Erfinder des Defaitismus",
gebrandmarkt. Als den letzten Vertreter des „sterbenden Re-
nanismus", als das Zentrum einer sittlichen Macht fühlte ihn
der Militarismus und suchte darum seinen Ideen gewaltsam
den Sinn zu unterstellen, als wünschte ein Franzose hier Frank-
reich die Niederlage. Doch sein Wort stand unbeirrt: „Ich
will, daß Frankreich geliebt werde, ich will, daß es siegreich
226
sei, aber nicht durch die Macht, nicht bloß durch das Recht
(auch das wäre noch zu hart), sondern durch die Überlegenheit
seines großdenkenden Herzens. Ich wünschte, daß es stark
genug sei, um ohne Haß zu kämpfen und selbst in jenen, die
es niederschlagen muß, noch seine Brüder zu sehen, die im
Irrtum sind und denen man, sobald sie unschädlich gemacht
sind, sein Mitleid bieten muß.“
Auch auf die verleumderischsten dieser Angriffe hat Rolland
nie geantwortet. Ruhig läßt er sich schmähen tmd verun-
glimpfen, er weiß, daß der Gedanke unantastbar und unverlier-
bar ist, als dessen Bote er sich fühlt. Menschen hat er nie be-
kämpft, nur Ideen. Und den feindlichen Ideen hatten längst
die eigenen Gestalten geantwortet: sein Olivier. der freie
Franzose, der nur den Haß haßte, sein Girondist Faber, der sein
Gewissen höher stellte als die Argumente des Patrioten, sein
Adam Lux, der seinen Gegner, den Fanatiker, mitleidig fragt:
,,N*est-tu fas fatigue de ta haine?** „Bist du nicht deinen Haß
schon müde?“, sein T^eulier — alle die großen Gestalten, in
denen sein Gewissen den Kampf der Zeit um zwei Jahrzehnte
vorausgekämpft hat. Daß er allein steht gegen fast die ganze
Nation, macht ihn nicht irre, er kennt Chamforts Wort: „Es
gibt Zeiten, da die öffentliche Meinung die schlechteste aller
Meinungen ist.“ Und gerade der maßlose Zorn, die hysterische,
schreiende und geifernde Wut seiner Gegner bestärkt das Ge-
lühl seiner Sicherheit, weil er in diesem Geschrei nach der Ge-
walt die innere Unsicherheit ihrer Argumente fühlt. Lächelnd
sieht er herab auf ihren kühstlich überhitzten Zorn und fragt
mit seinem Clerambault: „Euer Weg ist, sagt ihr, der bessere,
der einzig gute? Nun, so geht ihn und laßt mir den meinen.
Ich zwinge Weh nicht, mir Gefolgschaft zu leisten, ich zeige
nur, wohin ich gehe. Was regt euch daran so auf? Solltet ihr
am Ende fürchten, daß ich recht habe?“
Die Freunde
Eine Leere war nach den ersten Worten um den Mutigen
entstanden. Es bestand — wie Verhaeren so schön sagte —
„Gefahr, ihn zu lieben*', und die meisten scheuten die Gefahr,
Älteste Freunde, die von Jugend auf sein Werk und seinen
Charakter kannten, ließen ihn im Stich, leise rückten die
Vorsichtigen von ihm ab, die Zeitungen, die Verleger versagten
ihm die Gastlichkeit — keiner, oder fast keiner gerade der
ältesten Freunde wagte ihm offen zur Seite zu stehen. So
schien Rolland einen Augenblick allein. Aber — wie er
im Johann Christof sagt — „eine große Seele ist niemals
allein. So verlassen sie von allen Freunden sein mag, schließlich
schafft sie sich sie selbst und strahlt um sich einen Kreis jener
Liebe, deren sie selber voll ist".
Die Not, die Goldprobe der Gewissen, hat ihm Freunde
genommen, aber auch Freunde gegeben. Freilich, man hört
ihre Stimmen kaum im Gelärm der Gegner. Denn die Kriegs-
treiber haben alle öffentliche Macht in ihren Händen, sie
brüllen ihren Haß durch die Megaphone der Tageszeitungen,
die Freunde können nur behutsam ein paar abgedämpfte
Worte in kleinen Blättchen der Zensur abringen. Die Feinde
sind eine kompakte Masse, wie ein Schwall stürzen sie nieder
(um ebenso auch wieder in den Morast des Vergessens zu ver-
sickern), die Freunde kristallisieren sich langsam und ver-
borgen um seine Idee, aber sie dauern und werden immer
klarer an seinem Element, Die Feinde sind ein Rudel, ein
Regiment, blind hinstürmend auf eine Parole, die Freunde
eine Gemeinschaft, still wirkend und nur gebunden durch
Liebe.
Die Freunde in Paris haben das schwerste Los. Sie können
nur unsichtbar, gleichsam durch magische Zeichen sich ihm
228
verbinden: 'ie Hälfte ihrer Worte und die Hälfte der seinen
an sie verliert sich an der Grenze. Aus belagerter Festung
grüßen sie den Befreier, der ihre Ideen, ihre verschlossenen
und verbotenen, frei vor der Welt sagt, und sie können die
Ideen nur verteidigen, indem sie ihn selbst verteidigen. Amed6
Dunois, Fernand Depr&, Georges Pioch, Renaitour, Rouanet,
Jacques Mesnil, Gaston Thiesson, Marcel Martinet, Severine
haben mutig dem Verleumdeten in seinem Vaterlande zur
Seite gestanden, eine tapfere Frau, Marcelle Capy, hob die
Fahne und nannte ihr Buch „Unevoix de femme dans la melte**.
Durch die unendlichen Wogen des ßlutmceres getrennt,
blickten sie zu ihm wie zu einem fernen Leuchtfeuer auf
sicherem Felsen und deuteten ihren Brüdern das verheißungs-
volle J-icht.
In Genf aber bildete sich eine kleine Gruppe junger Dichter
um ihn, die seine Schüler waren und seine Freunde wurden,
die Kraft gewannen aus seiner Kraft. Der erste unter ihnen,
P. I, Jouve, der Dichter der pathetischen Versbände „Foms
etes des hommes** und ,, Danse des morts*\ glühend vor Zorn
und vor Extase der Güte, leidend bis in den letzten Nerv an
der Ungerechtigkeit der Welt, ein auferstandener Olivier,
paraphrasiert in Gedichten den Haß gegen die Gewalt. Ren6
Arcos, der gleich ihm den Krieg gesehen in seinem Schauer
und ihn haßte gleich seinem Freunde, klarer in seiner Um-
fassung des dramatischen Augenblicks, besonnener, aber rein
und gütig wie Jouve, erhebt das Bildnis Europas; Charles
Baudouin die ewige Güte; Frans Mascrcel, der belgische Holz-
schneider, gräbt in Platten seine allmenschliche Klage, gran-
dioser Bildner der Zeit, menschlicher in seinen gezeichneten
Protesten als alle Bücher und Bilder; Guilbeaux, der Fanatiker
des sozialen Umschwungs, Kampfhahn gegen jede Macht,
gründet eine Monatsschrift ,,Demain'\ die einzig wahre euro-
229
päis^e/ehe sie gaw im russischen Gedanken unterging; Jean
Debrit, in seiner „Feuille*\ kämpft gegen die Parteilichkjeit der
romanischen Presse iind gegen den Krieg. Claude de Maguet
begründet die ,, Tablettes**, die durch kühne Beiträge und die
Zeichnungen Masereels das lebendigste Blatt werden, das die
Schweiz gesehen. Eine kleine Insel der Unabhängigkeit ent-
steht, der alle Windrichtungen der Welt manchmal Grüße zu-
wehen aus der Feme: hier allein spürte man europäische Luft
inmitten des Blutdunstes.
Das Wunderbarste dieser Sphäre aber war, daß dank Rolland
auch die feindlichen Brüder von dieser geistigen (Gemeinschaft
nicht ausgeschlossen waren. Während sonst jeder, angesteckt
von der Hysterie des Massenhasses oder aus Furcht vor Ver-
dächtigungen, selbst seinen vormals brüderlichen Freun(^n*aus
Feindesland wie Pestkranken auswich, wenn er ihnen zufällig
auf der Gasse in neutralem Lande begegnete, während Ver-
wandte nicht wagten, einander brieflich nach Leben und
Sterben des eigenen Blutes zu fragen, hat Rolland nicht einen
Augenblick seine deutschen Freunde verleugnet. Im Gegen-
teil, er hat die Treuen unter ihnen nie mehr geliebt als in der
Zeit, da es gefährlich war, sie zu lieben, öffentlich hat er sich
zu ihnen bekannt, ihnen Hand und Brief geboten ; seine Worte
des Bekenntnisses zu ihnen werden dauern: „Ja, ich habe
deutsche Freunde wie ich französische, englische, italienische
Freunde aus allen Rassen habe. Sie sind mein Reichtum, ich
bin darauf stolz und ich bewahre ihn mir. Hat man das Glücl^
in der Welt loyalen Seelen begegnet zu sein, mit denen man
seine intimsten (Gedanken teilt, mit denen einen ein brüder-
liches Band verknüpft, so ist dieses Band heilig und gerade
die Stunde der Probe darf es nicht zerreißen. Wie feige wäre
der, der sich nicht zu ihnen bekennen würde, gehorsam dem
frechen Verlangen einer öffentlichen Meinung, die kein Recht
230
hat über Herz . . . Wie schmerzvdll, ja wie
solche Ffcundschaften in solchen Augenblicken sind, werden
später einmal Briefe zeigen. Aber gerade dank ihrer- konnten
wir uns gegen den Haß verteidigen, der noch mörderischer ist
als der Krieg, denn er ist eine Vergiftung seiner Wunden und
schädigt ebenso den Getroffenen wie jenen, der ihn entsendet."
Unendlich ist, was Rolland seinen Freunden und den zahl-
losen unsichtbaren Gefährten im Dunkel mit dieser seiner
mutigen und freien Haltung gegeben hat. Ein Beispiel all
jenen vorerst, die zwar gleicher Gesinnung waren, aber ver-
streut irgendwo im Dunkel, ^ die erst jenen Kristallisations-
punkt brauchten, um ihre Seelen zu formen und rein zu bilden.
Gerade für die noch nicht Selbstsichem bedeutete diese vor-
bildliche Existenz eine wunderbare Befeuerung durch die auf-
rechte Haltung, die jeden Jüngeren beschämte; alle waren wir
stärker, freier, wahrer, vorurteilsloser in seiner Nähe; das
Menschliche, geläutert von seiner Glut, schlug als Flamme empor,
und was uns band, war mehr als der Zufall gleicher Gesinnung, es
war eine leidenschaftliche Erhobenheit, manchmal gesteigert
zu einem Fanatismus der Verbrüderung. Daß wir gegen die
Meinung, gegen das Gesetz aller Staaten an einem Tisch saßen,
Wort imd Vertrauen arglos tauschten, daß unsere Kameradschaft
aufgetan war aller Verdächtigung, machfe^sie nur glühender,
und in manchen — unvergeßlichen — Stunden empfanden wir
in einer reinen Trunkenheit das unerhört Einzige unserer Freund-
schaft. Wir zwei Dutzend Menschen in der Schweiz, Franzosen,
Deutsche, Russen, Österreicher, Italiener, gehörten zu den ganz
wenigen unter den hundert Millionen, die sich hell und ohne Haß
ins Auge sahen, die innersten Gedanken tauschten, — wir, die
kleine Schar in seinem Schatten, waren damals Europa, unsere
Einheit — ein Staubkorn im Weltsturm — vielleicht das Samen-
korn künftiger Verbrüderungen. Wie stark, wie beglückt haben
231
wir das in manchen Stunden empfunden und wie dankbar vor
allem! Denn ohne ihn, ohne das Genie seiner Freundschaft,
das Bindende seiner hiatur, das mit zarter, wissender und
gütiger Hand uns verknüpfte, hätten wir nie die Freiheit, die
Sicherheit unseres Wesens gefunden. Jeder liebte ihn anders,
und alle verehrten ihn gleich: die Franzosen den reinsten
geistigen Ausdruck ihrer Heimat, wir den wunderbaren Gegen-
pol unserer besten Welt. In diesem Kreise der Menschen um
ihn war ein Gefühl der Gemeinschaft wie in jeder Gemeinde
einer beginnenden Religion; gerade die Feindschaft unserer
Nationen, das Bewußtsein der Gefahr, drängte uns in einen
Überschwang der Freundschaft, und das Vorbild des mutigsten
und freiesten Menschen befeuerte das Beste unserer Mensch-
lichkeit. In seiner Nähe fühlte man sich im Herzen des wahren
Europa: und wer ihm nahte und den Kern seines Wesens
berührte, hatte wie in der alten Sage neue Kraft für das Ringen
mit Herkules, dem antiken Symbol der brutalen Gewalt.
Die Briefe
Das Viole, das Hollands lebendige Nähe in jenen Tagen
seinen Freunden und weiterwirkend der europäischen Gemein-
schaft gab, war aber doch nur ein Teil seines Wesens: weit
über die persönliche Grenze hinaus wirkte seine verbindende,
fördernde, hilfstätige Leidenschaft. Wo immer eine Frage,
eine Angst, eine Not, eine Anregung an ihn sich wandte, fand
sie Antwort: in Hunderten und aber Hunderten von Briefen
hat Rolland in jener Zeit die Botschaft der Brüderlichkeit ver-
breitet und jenes Gelöbnis, das ihm die seelische Rettung durch
den Brief Leo Tolstois vor fünfundzwanzig JaJiren entrang,
wundervoll erfüllt. Nicht nur Johann Christof, der Gläubige,
auch Leo Tolstoi, der große Tröster, ersteht in seiner Gestalt.
2^2
Eine uuen>Jiche Last hat — unsichtbar für die Welt — in
diesen fünf Kriegsjahren der Einzelne auf sich genommen.
Denn wo immer in der Welt einer sich wehrte gegen die Zeit,
sich auflehnte gegen die Lüge, wo einer Rat brauchte in einer
Sache des Gewissens, wo er Hilfe wollte, an wen wandte er
sich? Wer war noch in Europa, dem das Vertrauen so ent-
gegenschwoll? Die unbekannten Freunde Johann Christofs, die
namenlosen Brüder Oliviers, irgendwo versteckt in einer Pro-
vinz, niemanden zur Seite, dem sie ihre Zweifel zuflüstern
durften, wem konnten sie sich anvertrauen als dem, der diese
Botschaft der Güte zuerst ilinen gebracht 1 Und sie brachten
ihre Bitten, Vorschläge, den Aufruhr ihres Gewissens: aus den
Schützengräben schrieben ihm die Soldaten, heimlich die
Müttej. Viele Briefe wagten den Namen nicht zu nennen, sie
wollten nur Zuruf sein und sich als Bürger jener unsichtbaren
„Republik der freien Seelen“ mitten zwischen den kämpfenden
Nationen bekennen. Und Rolland nahm die unendliche Mühe
auf sich, der Sammler und Verwalter all dieser Not und Klage
zu sein, der Beichtiger aller Bekenntnisse, der Tröster einer
Welt, die gegen sich selbst wütete. Wo nur irgendein Keim
einer europäischen, einer allmenschlichen Regung sich in den
Ländern rührte, hat er ihn zu erhalten gesucht; er war die
Wegkreuzung, an der alle diese Straßen des Elends zusammen-
liefcn. Gleichzeitig aber blieb er in ständiger Verbindung mit
den großen Repräsentanten des europäischen Glaubens, den
letzten Getreuen des freien Geistes in allen Ländern; er durch-
forschte alle Revuen und Zeitungen nach den Botschaften der
Versöhnung: keiner Bemühung hat er sich versagt. Woimmerein
Mann oder ein Werk sich damals der Idee der europäischen Ver-
söhnung widmete, ist Rollands tätige Hilfe ihm gewiß gewesen.
Diese Hunderte und Tausende von Briefen während der Kriegs-
zeit bedeuten ein moralisches Werk, dem keip Dichter unserer
Epoche ein gleiches zm Seite zu setzen hat Unzählige
same haben sie beglückt, Unsichere befestigt. Verzweifelte er-
hoben: nie war die Mission eines Dichters reiner erfüllt. Aber
auch künstlerisch scheinen mir diese Briefe, von denen manche
inzwischen veröffentlicht worden sind, das Reinste, Reifste,
was Rolland geschaffen, denn Tröstung ist ja der tiefste Sinn
seiner Kunst, und hier, wo er von Mensch zu Menschen sprach,
völlig hingegeben, hat er eine rhythmische Kraft, eine Glut
der Menschenliebe auf manchen Blättern, die den schönsten
Gedichten aller Zeiten sich ebenbürtig erweisen. Die zarte
seelische Schüchternheit, die ihn oft im Gespräche hemmt,
verwandelt sich in diesen Blättern zu aufgetanem Bekenntnis:
immer spricht hier der innerste freie Mensch zu den Menschen,
Güte erreicht in ihnen das Pathos einer Leidenschaft. Und was
hier flüchtig verstreut ward an Fremde und Ferne, ist das
Eigenste seines Wesens; wie sein Colas Breugnon kann er
sagen: „Dies ist mein schönstes Werk: die Seelen, die ich
gestaltet habe/'
Der Berater
In diesen Jahren kamen oft Menschen zu Rolland, meist
junge Menschen, und erbaten seinen Rat in Fragen des Ge-
wissens. Sie fragten, ob sie, da ihre Überzeugung gegen den
Krieg sei, den Dienst verweigern sollten im Sinne Tolstois und
der „conscientious objectors'\ oder im biblischen Sinn das Bö^
dulden, ob sie öffentlich gegen manches Unrecht ihres Vater-
landes Stellung nehmen oder schweigen sollten. Andere be-
gehrten geistige Entscheidungen in ihrer Gewissensnot: alle
aber meinten sie, daß hier ein Mann eine Maxime, eine feste
Norm des Verhaltens im Kriege besitze, ein moralisches
Wunderelixier, das er den andern abtreten würde.
234
Rolland batte auf aUe diese Fragen immer nnr eine Antwort:
Handelt nach eurem Gewissen. Sucht eure eigene Wahrheit
und verwirklicht sie. Es gibt keine fertige Wahrheit, keine
starre Formel, die einer dem andern weitergeben kann; Wahr-
heit ist etwas, was jeder nur aus sich nach seinem Ebenbilde
zu schaffen vermag und immer nur für sich allein. Es gibt
keine moralische Verhaltungsmaßregel als diese letzte, sich zu
erkennen und dieser eigenen Notwendigkeit — sei es auch gegen
die ganze Welt — treu zu sein. Der die Waffe wegwirft und
sich ins Gefängnis setzen läßt, hat recht, wenn er aus seinem
Wesen heraus, nicht aus Eitelkeit oder Nachahmung, so handelt.
Und der sie zum Schein nimmt und den Staat dann betrügt,
der, um die Idee zu fl|ppagieren, seine Freiheit rettet, hat
ebenso jrecht, wenn er bewußt aus seinem Wesen wirkt. Rolland
hat jedem recht gegeben, der seinen eigenen Glauben glaubte,
ebenso dem Patrioten, der für sein Vaterland sterben wollte,
wie dem Anarchisten, der sich frei machte von jedem staatlichen
Band: er hat keine andere Maxime als die des Glaubens an
den eigenen Glauben. Unwahr, falsch handelt in seinem Sinne
nur der, der sich von einer fremden Idee überwältigen läßt
und vom Rausch der Masse hingerissen wider seine Natur
tätig in Erscheinung tritt.
Es gibt nur eine Wahrheit, so sagt er allen, jene Wahrheit,
die ein Mensch in sich als seine persönliche erkennt: ailßerhalb
dieser Wahrheit ist jede andere Betrug an sich selbst. Und
gerade dieser scheinbare Egoismus dient der Menschheit. ,;Wer
nützlich für die andern sein will, muß vor allem frei bleiben.
Selbst die Liebe zählt nicht, wenn sie die eines Sklaven ist.'*
Tod fürs Vaterland ist wertlos, wenn der sich Opfernde nicht
an das Vaterland glaubt wie an einen Gott, Flucht vor dem
.Dienst eine Feigheit, wenn man nicht den Mut hat, sich als
Vaterlandslosen zu bekennen. Es gibt keine wahren Ideen als
235
die von innen erlebten, es gibt keine wertvollen Taten als die
aus voller Verantwortung des Denkens gestalteten. Wer der
Menschheit dienen will, darf nicht fremden Argumenten dienen:
nichts zählt als moralischer Akt, was aus Nachahmung oder
aus Zureden eines andern stammt, oder — wie in dieser Zeit
fast alles — aus der Hypnose eines Massenwahns. „Die erste
Pflicht ist, daß man sein eigenes Ich ist und bleibt bis zur Auf-
opferung und Hingabe seiner selbst.“
Freilich, Rolland verkennt nicht die Schwierigkeit, die
Seltenheit solcher freien Taten und zitiert Emersons Wort:
,, Nothing is more rare in any man, than an act of his own*\
,, Nichts ist seltener in jedem Menschen als eine Tat aus sich
selbst heraus.“ Aber war nicht gerade das unfreie, unwahre
Denken der Menschenmassen, die Trägheit ihres Gewissens
alles Unheils Anbeginn? Hätte wahrhaft ein Bruderkrieg in
Europa ausbrechen können, wenn jeder Bürger, jeder Bauer,
jeder Nünstler sein innefrstes Herz befragt hätte, ob die Minen
Marokkos und die Sümpfe Albaniens ein Wert für ihn seien,
ob er tatsächlich den Bruder in England oder in Italien so
verabscheue und hasse, wie es ihn die Zeitungen und gewerbs-
mäßigen Politiker glauben ließen? Nur die Herdennatur, das
Nachsprechen fremder Argumente, die blinde Begeisterung für
niemals wirklich gefühlte Gefühle konnten eine solche Kata-
strophe' möglich machen: und nur die Freiheit möglichst vieler
Menschen kann in Zukunft die Menschheit vor solcher Tra-
gödie erretten, nur die Nichtsolidarität der Gewissen. Denn
was jeder für sich als wahr und gut erkennt, ist w^ahr und gut
für die Menschheit. „Freie Seelen, starke Charaktere, — das
tut der Welt heute am meisten not, die zum Massenleben auf
allen möglichen ausgetretenen Bahnen zurückkehrt: leichen-
haftc Unterwerfung unter die Kirche, intoleranter Traditionajis-
mus der Vaterländer, despotischer Einheitswahn des Sozialis-
mus . . . Die Menschheit hat Menschen nötig, die zeigen, daß
gerade die, die sie lieben, ihr Kampf ansagen, wenn es nötig ist."
So lehnt Rolland ab, andern Menschen Autorität zu sein:
er fordert von jedem, daß er einzig sein Gewissen als Autorität
anerkenne. Wahrheit kann nicht erlernt, sie muß erlebt sein.
Wer aber klar denkt und aus dieser Klarheit frei handelt,
schafft Überzeugung, nicht durch Worte, sondern durch sein
Wesen. Und nur dadurch, daß Rolland am lichten Tage, auf
der Höhe seiner Einsamkeit zeigte, wie ein Mensch durch
Treue für das einmal für wahr Erkannte eine Idee für alle
Zeiten lebendig macht, hat er einer ganzen Generation geholfen.
Sein wahrer Rat war nicht das Wort, sondern die Tat, die
Reinheit und Sittlichkeit seiner vorbildlichen Existenz.
Einsamkeit
So ist dieses Leben mit der ganzen Welt verbunden und
tausendfältig wirksam, Wärme ausstrahlend und verbreitend:
aber wie einsam sind doch im Letzten diese fünf Jahre des
freiwilligen Exils! In einem kleinen Hotelzimmer in Ville-
neuve am Genfersee wohnt Rolland in tragischer Absonderung:
der schmale Raum ist irgendwie jenem in Paris ähnlich ge-
worden, auch hier Bücher, Broschüren übereinandergehäuft,
auch hier der kleine schlichte, hölzerne Tisch, auch hier ein
kleines Pianino, an dem er in Tönen von der Arbeit ruht. Und
an diesem Arbeitstisch vergeht sein Tag, oft auch die Nacht,
selten ist ein Spaziergang, selten ein Besuch, denn seine Freunde
sind von ihm abgeschlossen, selbst seine greisen Eltern, die ge-
liebte Schwester, können nur einmal im Jahr über die ver-
schlossene Grenze. Und das Furchtbarste dieser Einsamkeit:
sie ist Einsamkeit im gläsernen Haus. Von allen Seiten
wird der „große Heimatlose" bespäht und belauscht, „agents
237
provocateUfs** suchen ihn als Revolutionären und Gesinnungs»
genossen auf. Jeder Brief wird gelesen, ehe er in seine Hände
kommt, jedes Telephongespräch gemeldet, jeder Besuch über-
wacht: ein Gefangener unsichtbarer Mächte, wohnt Romain
Rolland im gläsernen Kerker.
Wird man es heute noch glauben: in den letzten zwei Jahren
des Krieges hat Rolland, auf dessen Wort eine Welt wartet,
keine Zeitung, um mehr darin zu veröffentlichen als einige
gelegentliche Revuen, keinen Verlag für seine Bücher. Die
Heimat verleugnet ihn, er ist der „Fuoruscüo** des Mittel-
alters, der aus den Mauern Verbannte, selbst der Schweiz — je
radikaler sich seine geistige Unabhängigkeit bekundet — nicht
mehr recht genehm: eine geheimnisvolle Acht scheint über
ihm zu schweben. Allmählich weichen die lauten i\ngriffe
einer neuen gefährlicheren Form der Gehässigkeit : ein finsteres "
Schweigen steht um seinen Namen, seine Werke. Immer mehr
der alten Gefährten haben sich zurückgezogen, manche der
neuen Freundschaften, besonders mit den Jüngeren, die ganz^
Politiker aus geistigen Naturen geworden sind, lockern sich:
es wird stiller und stiller, je lauter draußen die Welt dröhnt.
Keine Frau steht ihm helfend zur Seite, selbst seine besten
Genossen, die Bücher, sind ihm unerreichbar ferne, denn er
weiß: eine Stunde nur in Frankreich, und die Freiheit seines
Wortes wäre dahin. Die Heimat ist eine Mauer, das Asyl ein
gläsernes Haus! Und so wohnt er, der Heimatloseste der Hei-
matlosen, ganz „in der Luft“, wie sein geliebter BeethoVen
sagte, ganz in den Ideen, im unsichtbaren Europa, allem ver-
bunden und wie keiner allein. Und nichts zeigt »größer die
Kraft seiner lebendigen Güte, als daß er statt verbittert durch
die Erfahrungen, nur gläubiger in dieser schwersten Prüfung
geworden ist. Denn gerade die tiefste Einsamkeit unter den
Menschen ist die wahre Gemeinsamkeit mit der Menschheit.
238
Das Tagebuch
Ein einziger ist da, mit dem er täglich Zwiesprache hält:
sein Gewissen. Tag für Tag, vom ersten des Krieges ab,
schreibt Rolland seine Empfindungen, seine geheimsten Ge-
danken, die Botschaften aus der Ferne in ein Tagebuch:
selbst sein Schweigen ist noch leidenschaftliche Gegenrede mit
der Zeit. Band reiht sich in diesen Jahren an Band, sieben-
undzwanzig waren es schon zur Zeit des Kriegsendes, da er die
Schweiz verlassen wollte und zögerte, dies wichtigste, dies
vertrauteste Dokument seines Lebens über eine Grenze zu
nehmen, wo die Zensoren das Recht hätten, das Geheimste
seiner Empfindung zu lesen. Einzelnen Freunden hat er das
eine oder das andere Blatt gezeigt, das Ganze aber ist Ver-
mächtnis an eine spätere Zeit, die mit reinerem, mit leiden-
schahsloserem Blick die Tragödie der unseren überschauen
wird.
Was ihr damit gegeben sein wird, können wir heute nicht
ahnen, aber unser CJefühl sagt uns, daß es eine Seelengeschichte
der Epoche, eine Zeitgeschichte sein wird. Denn Rolland denkt am
besten, am freiesten im Schreiben: seine inspiriertesten Augen-
blicke sind die persönlichen, imd so wie vielleicht die Briefe in
ihrer Gesamtheit künstlerisch den veröffentlichten Aufsätzen
überlegen sind, wird hier sein historisches Lebensdokument
zweifellos die reinste dichterische Kommentierung des Krieges
sein. Nur diese spätere Zeit wird erkennen — was er selbst
am Beispiele Beethovens und den anderen Helden so hin-
reißend gezeigt — , mit welchem Preis eigener Enttäuschung
seine Botschaft der Zuversicht an die ganze Welt erkauft war, >
daß hier ein Idealismus, der Tausende erhob und den die
Überklugen als einen leichtfertigen und banalen oft zu be-
spötteln beliebten, aus den dimkelsten Klüften des Leidens
239
und der Seeleneinsamkeit nur durch den Heroismus eines
ringenden Gewissens erhoben war. Wir kennen nur die Tat.
seines Glaubens: in diesen Büchern aber ist der Blutpreis be-
schlossen, mit denen sie erkauft und täglich und täglich an
das immer wieder unerbittliche Leben bezahlt war.
„Precurscurs“" und „EiTipedoldes“
Fast gleichzeitig mit dem Kriege hatte Romain Rolland
seinen Feldzug gegen den Haß eröffnet. Mehr als ein Jahr
lang wirft er sein Wort gegen die gellenden Schreie der Wut
aus allen Ländern. Vergebens. Der Strom schwillt, gleichsam
genährt von immer neuem Blut der unschuldigen Opfer, ge-
waltiger an, weiter und weiter wütet er durch die neu ergriffe-
nen Länder. Und in diesem immer lauteren Getümmel ver-
stummt für eine Atempause die Stimme Hollands : er fühlt,
daß es Wahnwitz wäre, solchen Wahnw’itz zu überschreien.
Nach dem Erscheinen seines Buches ,,Au dessus de la MeUe"*
hat er sich von jeder öffentlichen Anteilnahme zurückgezogen.
Sein Wort ist gesagt, er hat Wind gesät und Sturm geerntet.
Er ist nicht müde zu wirken, nicht resigniert im Glauben,
aber er fühlt die Unsinnigkeit, zu einer Welt zu sprechen, die
nicht hören will. Ihm selber fehlt schon jener erhabene Wahn,
der ihn anfangs beseelte, der Glaube, daß die Menschheit Ver-
nunft wolle und die Wahrheit: seine klare Erkenntnis weiß
nun, daß die Menschen nichts mehr fürchten als die Wahrheit
selbst. So beginnt er, nach innen sich Rechenschaft zu geben
in einem großen Roman, einem Satvrspiel, in anderen dichteri-
schen Werken und der leidenschaftlichen Tätigkeit der Briefe.
Schon ist er ganz außerhalb des Getümmels. Aber nach einem
Jalire des Schweigens, da die blutige Flut immer höher an-
schwillt, die Lüge sich immer melir überhitzt, fühlt er die
240
Pflicht, von neuem wieder den Kampf zu eröffnen. ,,Man muß
das Wahre immer wiederholen,“ sagt Goethe zu Eckermann,
„weil auch der Irrtum um uns her immer wieder gepredigt
wird, und zwar nicht von den einzelnen, sondern von der
Masse.“ Es ist so viel Einsamkeit in der Welt, daß neue Bindung
not tut. Zahlreicher sind die Zeichen des Unwillens und der
Empörung in den einzelnen Ländern, zahlreicher auch die ein-
zelnen mutigen Menschen, die sich auflehnen gegen ein auf-
gez\vungenes Schicksal, und er fühlt die Pflicht, diese verstreu-
ten Menschen zu unterstützen und sie im Kampf, zu bestärken.
In dem ersten Aufsatz „La Route en lacets qui monte** erklärt
er sein Schweigen und seine neue Stellung. Er schreibt:
„Wenn ich seit einem Jahre Schweigen bewahrt habe, geschah
dies nicijt aus dem Grunde, daß der Glaube, den ich in ,Audes&u$
de la bekannte, erschüttert war (im Gegenteil, er ist
heute entschlossener als je), aber ich habe mich überzeugt von
der Unsinnigkeit, zu jemandem zu sprechen, der nicht hören
will. Einzig die Tatsachen werden jetzt mit ihrer tragischen
Offenkundigkeit sprechen. Sie allein vermögen die dicken
Mauern von Trotz, Hochmut und Lüge zu durchstoßen, mit
denen sich der Geist umgürtet, um die Klarheit nicht zu sehen.
Aber wir Brüder aller Nationen, Menschen, die ihre moralische
Freiheit, ihre Vernunft, ihren Glauben an die menschliche
Vernunft zu verteidigen wußten, wir Seelen, die nicht auf-
hörten inmitten des Schweigens, der Unterdrückung und des
Schmerzes zu hoffen, wir müssen zu Ende dieses Jahres Worte
der Zuneigung und des Trostes wechseln, wir müssen zeigen,
daß in dieser blutigen Nacht das Licht noch leuchtet, daß es
nie erloschen war und nie auslöschen wird. Im Antlitz des
Abgrundes von Elend, in den Europa jetzt hinabstürzt, muß
es die Sorge eines jeden Einzelnen, der eine Feder führt, sein,
nie das Leiden der Welt um ein neues Leiden zu vermehren.
Zweig, Romain Rolland
241
keiiien* neuen Giund eines Hasses dem schon brennenden
Strom noch hinzu zufügen. Zwei neue Aufgaben sind für die
selteneren freien Geister möglich ... die eine, zu versuchen,
das eigene Volk über seine Irrtümer zu belehren . . . Diese
Aufgabe ist aber nicht die meine, nicht diejenige, die ich mir
gestellt habe. Meine Aufgabe ist, den feindlichen Brüdern
Europas nicht das Böse, sondern das Gute, das sie haben,
zu zeigen, das, was sie auf eine weisere und liebevollere Mensch-
heit hoffen lassen kann/'
i -In den neuen Aufsätzen, die Rolland nun veröffentlicht —
meist in kleinen Revuen, denn die großen Zeitungen haben
sich ihm längst versagt — und die dann in den ,,PrUurseurs**
gesammelt sind, ist ein neuer Ton. Der Zorn ist einem großen
Mitleid gewichen; wie den Soldaten aller Armeen im^ dritten
Kriegs] ahr ist Rolland etwas von dem fanatischen Elan der
Leidenschaft gebrochen und durch ein stilleres, noch beharr-
licheres Beunßtsein der Pflicht ersetzt. Er ist vielleicht noch
vehementer, noch radikaler in seinen Anschauungen, aber
menschlich milder in seinen Betrachtungen; was er schreibt,
reicht nicht mehr in den Krieg hinein, sondern gleichsam über
ihn hinaus. Er deutet in die Ferne, überfliegt die Jahrhunderte
zu vergleichender Erkenntnis und sucht nun zum Trost einen
Sinn in dem Sinnlosen. Für ihn ist die Menschheit ganz im
Sinne der Goetheschen Idee in der ewigen Spirale des Aufstiegs
wo auf immer höherer Stufe zum alten Punkte die Stunde
wiederkehrt, unablässige Entwicklung mit unablässigem Rück-
fall. So versucht er zu zeigen, daß selbst diese tragische Stunde
vielleicht Vorbote einer neueren und schöneren ist.
Diese Aufsätze der „Precurseut^"* kämpfen nicht mehr
gegen Anschauungen und gegen den Krieg, sie zeigen nur die
Kämpfer für das andere Ideal in allen Ländern, jene „Pfad-
finder der europäischen Seele“, wie Nietzsche die Verkünder
242
der geistigen Einheit nannte. Auf die Massen zu hoffen, ist
zu spät. In dem Anruf an die „hingeschlachteten Völker" hat
er nur Mitleid für die Millionen, die willenlos fremden Zwecken
dienen und deren fromme Opfertat keinen anderen Sinn hat
als die Schönheit des heroischen Opfers. Seine Hoffnung wen-
det sich einzig zu den Eliten, zu den seltenen freien Menschen,
die die ganze Welt erlösen, in großen Bildern der Seele, in
denen spiegelnd alle Wahrheit erscheint, unwirksam freilich
für die Zeit, aber doch dauernd als Zeugnis ihrer Allgegenwart
in allen Zeiten. Diese Menschen vereint er im Bild, und den
meisterhaften Analysen fügen sich noch Schattenrisse ver-
gangener Zeiten ein, ein Porträt Tolstois, des Ahnherrn der
menschlichen Freiheit im Kriege, und seines alten Lieblings
aus dop Jugendjahren, des weisen Joniers Empedokles.
Der große Weise Griechenlands, dem er als Zwanzigjähriger
sein erstes Drama gewidmet, tröstet nun den gereiften Mann.
Rolland zeigt, daß vor dreitausend 'Jahren schon ein Dichter
innerhalb einer blutrünstigen Zeit erkannt hat, daß die Welt
,,in einem ewigen Umschwung vom Haß zur Liebe und von
der Liebe zum Haß" ist, daß es immer ein ganzes Zeitalter
des Kampfes und des Hasses gibt und ebenso unabänderlich
wie die Jahreszeiten dann neuen Aufschwung zu reineren
Zeiten. Mit einer großen Geste zeigt er, daß vom Sänger der
sizilianischen Musen bis zum heutigen Tage die Weisen immer
um die menschliche Wahrheit wußten und doch ohnmächtig
waren gegen den Wahn der Welt, daß aber die Wahrheit so
von Hand zu Hand in unendlicher Kette durch die Zeiten
gleitet und unverlierbar und unzerstörbar ist.
Und so leuchtet auch hier über der dunkelsten Resignation
seiner Jahre noch ein mildes Licht von Hoffnung, sichtbar
freilich nur den Erlesenen, die den Blick vom Zeitlichen ins
Unendliche zu heben wissen.
„Lilnli“ und „Pierre et Luce“
Der Ethiker, der Menschenfreund, der Europäer hatte in
diesen fünf Jahren zu den Völkern gesprochen, der Dichter
war scheinbar verstummt. Und es mochte manchem vielleicht
verwunderlich erscheinen, daß Rollands erstes dichterisches
Werk, das er noch vor dem Kriegsende vollendete, eine sar-
kastische, witzige Komödie „LiluU** war. Aber gerade diese
Heiterkeit entspringt den untersten Tiefen des Leidens: mit
der Ironie hat Rolland — um einen Ausdruck der Psycho-
analytiker zu übernehmen — den ohnmächtigen Schmerz
über die eigene Wehrlosigkeit gegen den Wahnsinn der Welt,
die Verzweiflung seiner zernichteten Seele gleichsam „abzu-
reagieren'* versucht. Vom Pol der gestauten Empörung
springt der Funke über ins Gelächter: auch hier, wie in allen
Werken Rollands, ist der eigentliche Wille, sich frei zu machen
von einer Empfindung. Schmerz wird Gelächter, Gelächter
wieder zu Bitterkeit aus einem kontrapunktischen Gefühl,
das eigene Ich gegen die Schwere der Zeit in Schwebe zu
halten. Wo der Zorn ohnmächtig ist, bleibt noch der Spott
lebendig; wie ein brennender Pfeil fliegt er über die dunkle
Welt.
„LiluW* ist das Satyrspiel einer ungeschriebenen Tragödie
oder vielmehr jener Tragödie, die Rolland nicht zu schreiben
brauchte, weil die Welt sie erlebte. Und es hat den Anschein,
als ob sie im Schreiben bitterer, sarkastischer, fast zynischer
geworden wäre als launiger Einfall beabsichtigte, daß die Zeit
selbst sie gleichsam salziger, brennender, mitleidsloser gestaltet,
als der Dichter sie gewollt. In ihrem Mittelpunkt stand jene
(zuerst im Sommer 1917) geschriebene Szene der beiden Freun-
de, die, von Liluli (LHIlusion), der spitzbübischen Göttin des
Wahns verführt, gegen ihren inneren Willen sich im Kampf
244
vernichten. x)as alte Symbol Oliviers und Johann Christofs
war in diesen beiden Märchenprinzen gestaltet, und ergreifen-
der Lyrismus schwang aus ihren brüderlichen Worten : Frank-
reich und Deutschland waren dies, die einander begegneten,
beide blind hinter einem Wahn hereilend, zwei Völker vor
dem Abgrund, über den sie längst die Brücke der Versöhnung
gespannt hatten. Aber die Zeit erlaubte nicht diesen reinen
Klang der lyrischen Trauer: immer schärfer, immer spitziger,
immer grotesker konstruierte sich im Schaffen die Komödie.
Alles, was Rolland vor sich sah, die Diplomatie, die Intellek-
tuellen. die Kriegsdichter (die hier in der lächerlichen Form
tanzender Derwische auf treten), die Wortpazifisten, die Idole
der Brüderlichkeit, der Freiheit, der Herrgott selbst verzerren
sich iljm durch die Tränen zu Fratzen und Karikaturen: mit
scharfen Plakatfarben, in grimmigem Riß des Zornes zeichnet er
die ganze wahnsinnige Welt. Alles ist gelöst, zersetzt in der
bitteren Lauge des Spottes, und d(m Spott selbst, das lose Lachen,
trifft schließlich der zornige Pritschenschlag. Denn Polichinell,
der Räsonneur des Stückes, der Vernünftige im Narrenzuge,
ist allzu vernünftig; sein Lachen ist feig, weil es die Tat ver-
steckt. Wie er der Wahrheit begegnet — der einzigen Gestalt
in diesem Werke, die in tragischer Schönheit, ernst und er-
schütternd, gestaltet ist — , der armen Gefesselten, wagt er nicht
ihr, die er liebt, zur Seite zu stehen. Selbst der Wissende
jener kläglichen Welt ist feige, und gegen ihn, den Erkennen-
den, der nicht bekennt, wendet sich in der stärksten Stelle
der Komödie die innere Leidenschaft Rollands. „Du weißt
zu lachen,'* ruft die Wahrheit, „weißt zu spotten, aber hinter
der Hand wie ein Schulbub, Wie deine Großväter, die großen
Policliineile, die Meister der freien Ironie und des Lachens,
wie Erasmus und Voltaire bist du vorsichtig, höc hst vorsich-
tig, dein großer Mund ist verschlossen über seinem Lächeln . . ,
245
Aber lacht nur, fkt Lacherl Zur Strafe könnt ihr wohl lachen
über die Lüge, die sich in euren Netzen längt, aber nie, nie
werdet ihr die Wahrheit haben . . . Ihr werdet allein sein mit
eurem Lachen im Leeren. Dann werdet ihr mich rufen, aber
ich werde euch nicht antworten, ich werde geknebelt sein . . .
Ah, wann kommt das große siegreiche Lachen, das mich mit
seinem Dröhnen befreit/*
Von diesem großen, siegreichen, hinreißenden Lachen
konnte Rolland in dieser Komödie nichts geben: aus zu viel
Bitternis ist sie entstanden. Sie hat nur tragische Ironie,
Notwehr gegen die eigene Ergriffenheit. Obwohl der Rhyth-
mus des Colas Breugnon mit seinen lose schwingenden Reimen
bewahrt ist und auch hier die t,raillene” , der kleine gutmütige
Spott, sich versucht — wie anders doch klang das Werk^us der
seligen Zeit der ,,douce France'' gegen diese Tragikomödie des
Chaos! Dort kam die Heiterkeit aus einer vollen, hier aus einer
übervollen, einer gepreßten Brust, dort war sie gutmütig,
die Jovialität eines breiten Lachens, hier ironisch, aus der
Bitterkeit gereizter Empfindung, aus gewaltsamer Irreverenz
gegen alles Seiende, Eine Welt, eine zerstörte, geschlagene,
vernichtete Welt voll edler Träume und gütiger Visionen starrt
zwischen dem alten Frankreich des Colas Breugnon und dem
neuen der Liluli. Vergebens setzt die Farce an zu immer
tolleren Kapriolen, vergebens springt und überspringt sich der
Witz; immer fällt die Schwere des Gefühls wieder schmerzhaft
zurück auf die blutige Erde. Und in keinem Werke, keinem
pathetischen Aufruf, keiner tragischen Beschwörung aus jener
Zeit fühle ich das persönliche Leiden Romain Hollands in jenen
Jahren so stark, wie hier in seinem bitteren Selbstzwang zur
Ironie, an dem spitzen und zersprungenen Lachen dieses Spieles.
Aber der Musiker in Romain Rolland läßt nie eine Empfin-
dung in Disharmonie ausklingen: selbst das grellste Gefülil des
246
Harrens löst ^ in lindere Harmonie. Und so stellt er, ein Jahr
später, neben die -bittere Farce des 2k)mes eine zarte Idylle
der Liebe, gleichsam in Aquarellfarben zärtlich hingetuscht,
* ■
seine entzückende Novelle ..Pierre et Luce"\ War in „Lütdi*^
der Wahn gezeigt, der die Welt verwirrt, so offenbart Rolland
hier einen andern, erhabeneren Wahn, der die Welt und die
Wirklichkeit überwindet. Zwei Menschen, Kinder fast noch,
spielen sorglos über dem Abgrund der Zeit: der Donner der
Kanonen, der Sturz der Lufttorpedos, die Not des Vaterlandes,
alles überhören diese zwei verliebten Träumer in ihrer Seligkeit.
Raum und Zeit schwinden hin in ihrem tnmkenen Gefühl,
Liebe fühlt in einem Menschen die Welt und ahnt nichts von
jener andern des Wahns und des Hasses: selbst der Tod wird
ihnen^ein Traum. Zu diesen beiden seligen Menschen, zu Pierre
und Luce, dem Knaben und dem Mädchen, flüchtet der Künst-
ler: und kaum hat je in einem seiner Werke der Dichter in
Rolland sich so rein ausgelebt wie in dieser Novelle. Der
Sarkasmus und die Bitterkeit sind von seinen Lippen ge-
wichen, mit lindem Lächeln verklärt er diese jugendliche Welt:
eine Strophe der Stille ist dieses Werk in seinem Kampfgedicht
wider die Zeit, ganz die innere Reinheit seines Wesens spiegelnd
und seinen Schmerz lindernd zu einem schönen Traum.
Clerambault
Ein Aufschrei, ein Stöhnen, ein schmerzhafter Spott war
die Tragikomödie .,Lihili** — ein heiter zärtlicher Traum über
den Tag hinaus die Idylle ..Pierre et Luce* \ beides nur episo-
disches Gefühl, gelegentliche Aussprache und Gestaltung. Aber
die ernste, stille, dauernde Auseinandersetzung des Dichters
mit der Zeit ist sein Roman „ClefambauU**, die „Geschichte eines
freien Gewissens“, die er in vier Jahren langsam zur Vollendung
Z47
gestaltet hat Nicht eine Autobiographie, sondern eine Tran-
skription seiner Ideen ist dieser Clerambault, wie Johann
Christof eine imaginäre Biographie und ein umfassendes Zeit-
bild zugleich. Hier war innerlich gesammelt, was sich in Mani-
fest und Brief zerstreute, hier die unterirdische, künstlerische
Bindung seiner in viele Formen gestalteten Wirksamkeit.
Durch vier Jahre, immer gehemmt durch die öffentliche
Tätigkeit und äußere Lebensumstände, hat Rolland hier sein
Werk aus der Tiefe des Schmerzes zur Höhe der Tröstung
emporgeführt; erst nach dem Kriege, in Paris im Sommer
1920, ist es vollendet.
Auch „Clerambault' ' ist ebensowenig wie der Johann Christof,
was man einen „Roman" nennt, er ist wie jener weniger
und unendlich viel mehr. „Clerambault" ist ein Entwicklungs-
roman, aber nicht der eines Menschen, sondern einer Idee:
der gleiche künstlerische Prozeß wie im Johann Christof ge-
staltet vor uns eine Weltanschauung nicht schon als etwas
Fertiges, Abgeschlossenes und Gegebenes. Stufe um Stufe aus
dem Irrtum und der Schwäche steigen wir mit einem Menschen
zur Klarheit empor. In gewissem Sinne ist es ein religiöses
Buch, die Geschichte einer Umkehr, einer Erleuchtung, die
moderne Hciligenlegende eines sehr einfachen bürgerlichen
Menschen, oder eigentlich, wie der Titel sagt, die Geschichte
eines Gewissens. Auch hier ist Freiheit der letzte Sinn, die
Einkehr in sich selbst, aber ins Heroische dadurch erhoben,
daß Erkenntnis Tat wird. Und die Szene der Tragödie ist ganz
innen in einem Menschen, im Unzugänglichsten seines Wesens,
wo er allein ist mit der Wahrheit. Darum fehlt auch diesem
Roman der Gegenspieler, der Olivier des Johann Christof,
ja selbst der eigentliche Gegenspieler jenes Werkes: das äußere
Leben. Der Gegenspieler Clerambaults, der Feind ist er selbst,
der alte, der frühere, der schwache Clerambault, den der neue,
der wissende, der wahre Mensch erst niederringen muß; sein
Heroismus spielt nicht gegen die sichtbare Welt wie jener
Johann Christofs, sondern im unsichtbaren Raum der Gedanken.
,, Roman meditation** hatte darum Rolland ursprünglich
den Roman genannt und ihm vorerst den Titel gegeben
,,Uun contre tous** — ,iDer Eine gegen Alle", in bewußter
Variation des Titels von LaBoetie Contr'tm**; doch Be-
denken vor Mißverständnissen ließen ihn von der ursprüng-
lichen Titclgebung abstehen. Im geistigen Charakter sollte
die künstlerische Anlage an eine längst vergessene Tradition
erinnern, die Meditationen der alten französischen Moralisten,
der Stoiker des XVI. Jahrhunderts, die mitten im Kriegswahn,
im belagerten Paris, die Klarheit ihrer Seele in platonischen
Dialogen zu steigern suchten. Aber nicht der Krieg selbst war
hier das Motiv — mit Elementen streitet der erhabene Geist
nicht — , sondern das geistige Begleitphänomen dieses Krieges,
das Rolland als ebenso tragisch empfindet wie den Untergang
von Millionen Menschen : der Untergang der freien Einzelseele
in der Sturzflut der Massenseele. Er wollte zeigen, welcher
Anstrengung ein freies Gewissen bedarf, um sich aus der Hürde
der Herdeninstinkte zu retten, er wollte die entsetzliche Knech-
tung der Einzelnen durch die rachsüchtige, eifersüchtig-heni-
sche Mentalität der Masse schildern, die furchtbare, die töd-
liche Anstrengung, um der Aufsaugung in die Gemeinschafts-
lüge zu entgehen. Er wollte zeigen, daß gerade das scheinbar
Einfachste in solchen Epochen überreizter Solidarität das
Schwierigste ist: der zu bleiben, der man in Wahrheit ist, und
nicht der zu werden, zu dem einen die Welt, das Vaterland oder
andere künstliche Gemeinschaften zu nivellieren begehren.
Mit Absicht hat Romain Rolland seinem Helden nicht —
wie etwa dem Johann Christof — heroisches Format gegeben.
Ag6nor Clerambault ist ein Unscheinbarer, ein braver, stiller
24g
Ifenschi ein stiller Dichter, dessen literarisches Werk
gerade noch eine dankbare Gegenwart durch seine Gefälligkeit
zu erfreuen vermöchte und ohne Belang für die Ewigkeit ist*
Er hat den konfusen Idealismus des Mitte^lmäßigen, besingt
den ewigen Frieden und die Versöhnung der Menschen, er
glaubt aus seiner lauen Güte an eine gütige Natur, die der
Menschheit wohl will und sie mit sanfter Hand einer schöneren
Zukunft entgegenführt. Das Leben quält ihn nicht mit Pro-
blemen, so rühmt er das Leben, und aus der stillen Behaglichkeit
einer bourgeoisen Existenz, zärtlich umgeben von einer gütig-
einfältigen Frau, einem Sohn und einer Tochter, besingt er,
ein Theokrit mit der Ehrenlegion, die erfreuliche Gegenwart
und die noch schönere Zukunft unseres alten Kosmos.
In dieses stille Vorstadthaus schlägt nun der züpdende
Blitz: die Kriegsnachricht. Clerambault fährt nach Paris:
und kaum berührt ihn die heiße Welle des Enthusiasmus, so
verdunsten schon alle Ideale der Völkerliebe und des ewigen
Friedens. Als Fanatiker kehrt er zurück, glühend vor Haß,
dampfend vor Phrase: unter dem ungeheuren Sturm beginnt
seine Leier zu klingen, Theokrit wird zum Pindar, zum Kriegs-
dichter. Wunderbar schildert nun Rolland — wie haben wir
alle dies erlebt — , wie Clerambault und alle mittelmäßigen
Naturen mit ihm, ohne es sich einzugestehen, das Entsetzliche
im Tiefsten als eine Wohltat empfinden. Er ist beschwingt,
er ist verjüngt, die Begeisterung der Massen reißt ihm den
längst eingesunkenen Enthusiasmus aus der Brust; er spürt
sich erhoben von der nationalen Welle, begeistert, geschwellt
vom Atem der Zeit. Und wie alle Mittelmäßigen feiert er in
diesen Tagen seine größten literarischen Triumphe: seine
Kriegslieder, gerade weil sie das Allgemeinempfinden so stark
ausdrücken, werden nationales Eigentum, Ruhm und Beifall'
rauschen dem stillen Menschen zu, und er fühlt sich (in einer
250
Zeit, wo Millionen zugrunde gehen) im tiefsten so wohl, so
wahr, so lebendig wie nie.
Daß sein Sohn Maxime begeistert in den Kampf zog, erhöht
nur seinen Stolz,, steigert sein Lebensgefühl. Und das erste,
als sein Sohn nach Monaten von der Front zurückkehrt, ist,
daß er ihm seine Kriegsekstasen vorliest. Aber seltsam — der
Sohn, die Augen noch heiß vom Gesehenen, wendet sich ab.
Er verwirft nicht die Hymnen, um den Vater nicht zu kränken.
Aber er schweigt. Und dieses Schweigen steht durch Tage
zwischen ihnen: vergeblich will der Vater es enträtseln. Stumm
fühlt er, daß sein Sohn ihm etwas verschweigt. Aber Scham
bindet sie alle beide. Am letzten Tage des Urlaubs rafft sich
der^Sohn auf und fragt: „Vater, bist du auch sicher . . .?",
doch^ie Frage bleibt ihm in der Kehle stecken. Schweigend
geht er zurück in die Wahrheit des Krieges.
Einige Tage später bricht eine neue Offensive los. Maxime
wird , »vermißt'*. Und bald weiß sein Vater: er ist tot. Mit
einemmal fühlt er seine letzten Worte hinter dem Schweigen,
das Unausgesprochene beginnt ihn zu quälen. Er schließt sich
ein in sein Zimmer: zum erstenmal ist er allein mit seinem Ge-
wissen. Er beginnt sich zu fragen nach der Wahrheit und wan-
dert die lange Nacht den langen Weg nach Damaskus mit
seiner Seele. Stück für Stück reißt er die Hüllen der Lüge von
sich los, mit denen er sich umgürtet, bis er nackt vor sich selber
steht. Tief in die Haut haben sich die Vorurteile gefressen,
blutend muß er sie losreißen, das Vorurteil des Vaterlands,
der Gemeinsamkeit, bis er erkennt: nur eines ist wahr, nur
eines ist heilig — das Leben. Ein Fieber des Suchens verzehrt
ihn und der ganze alte Mensch verzehrt sich in ihm: im
Morgengrauen ist er ein anderer. Er ist genesen.
Hier beginnt nun die eigentliche Tragödie, jener Kampf,
den Rolland immer als den einzig wesentlichen des Lebens,
ja als das Leben »elbst empfindet: das Ringen eines Menschen
um seine eigene, persönlich zugehörige Wahrheit. Cleram-
bault mach+ seine Seele frei von all dem, was durch den un-
geheuren Druck der Zeit gewaltsam in sie eingeströmt war,
aber nur die erste Stufe ist dies Wissen um die Wahrheit:
wer um sie weiß und sie verschweigt, wird schuldiger als der
Unbewußte in seinem Irrtum. Jede Erkenntnis bleibt wertlos,
solange sie nicht in Bekenntnis verwandelt wird, es genügt
nicht, wie Buddha, mit schweigender Lippe und starrem Auge
wissend und doch külil über den Wahn der Welt hinwegzu-
sollen: in tiefer Stunde gedenkt Clerambault jenes anderen
indischen Heiligen, des Bodhisatwa, der geschworen, erst dann
ins Abseits zu gehen, wenn er die Welt und die Menschen
von ihren Leiden erK»st habe. Und in dem Aiigenbli(;l^e, da
er beginnt den Menschm helfen zu wollen, beginnt auch sein
Kampf mit den Menschen.
Nun wird er plötzlich coniretous^\ der Eine gegen Alle,
aus den brüchigen, unsi ehern Menschen erwächst der Charakter,
der heroische Mensch. Er ist einsam wie Johann Christof,
einsamer sogar, denn jenen umrauscht noch Musik und in den
Ekstasen der Schöpfung steigeit sich dem Genie Wille und
Kraft. Der ungcniale Clerambault hat niemand als sich
selbst, seine Freunde verlassen ihn, seine Familie schämt sich
seiner, die öffentliche Meinung fällt über ihn her, die ganze
menschliche Masse stürzt sich gegen den Vorwitzigen, der
sich ihr frei entwinden will und frei bleiben von ihrem Wahn.
Das Werk, das er verteidigt, ist ein unsichtbares: seine Über-
zeugung. Je weiter er geht, umso kälter überfällt ihn Einsam-
keit, desto heißer umstrickt ihn Haß, bis er schließlich, ein
Märtyrer der Wahrheit, mit dem Leben seinen Glauben bezahlt.
Ein Roman aus der Zeit, eine Abrechnung mit dem Krieg
scheint diese ,, Geschichte eines freien Gewissens“ dem ersten
Blick zu se^n; aber wie der Johann Christof ist dies Lebensbild
unendlich melir : ein Kampf, nicht für oder wider ein Einzelnes
des Lebens, sondern ein Kampf um das Ganze des Lebens,
eine Abrechnung mit der Welt, wie sie nie ein Künstler restloser
vollzogen hat. Nur ist von der naiven stürmischen Gläubigkeit
Johann Christofs etwas dahin geschwunden, der lodernde
Enthusiasmus des Schöpfers ist gedämpft zur tragischen
Weisheit des Erkennenden. Johann Christof rief noch: „Das
Leben ist eine Tragödie. Hurra!“, hier fehlt jenes rauschende
aufspringende „Hurra“. Die Erkenntnis ist leidenschaftlicher
geworden, aber reiner, klarer, logischer, sie hat sich ver-
geistigt und verklärt. Denn gerade im Kriege ist Rollands
Glaube an die Menschheit als Masse tra/dsch erschüttert
word^. Noch ist der Lebensglaube in ihm stark und aufrecht,
aber er ist nicht mehr Menschheitsglaube. Rolland hat erkannt,
daß die Menschheit betrogen sein will, daß sie Freiheit zu
ersehnen nur vorgibt, in Wirklichkeit aber glücklich «ist, sich
von jeder geistigen Verantwortung zu lösen und sich in die
warme Knechtschaft eines Massenwahns zu flüchten. Er hat
erkannt, daß eine Lüge, die sie begeistert, ihr teurer ist als eine
Wahrheit, die sie ernüchtert; und Clerambault drückt sein
ganzes Gefühl der Resignation und Hingabe aus, wenn er sagt:
„Man kann den Menschen nicht helfen, man kann sie nur
lieben.“ Das Vertrauen für die Massen, die ,, leicht verführ-
baren“, ist einem tiefen Mitleid für die Menschheit gevnchen,
und wieder — zum wievielten Male! — wendet sich des ewig
Gläubigen ganze Begeisterung zu den großen Einsamen, die
für die M(‘nschl;cit leben und an ihr zugrunde gehen, zu den
Heroen jenseits der Zeiten und jenseits der Völker. Was Rolland
einst im Beethoven gezeigt, im Michelangelo und später im
Johann Christof, das erhebt nun die Gestalt seines Clerambault
zu der schönsten tragischen Form: daß er für alle wirkt, aus
der tiefsten Waliiiieit seiner Natur, notwendigerweise der
contre tous*\ der Eine gegen Alle sein muß. Aber man
braucht das Bildnis des wahren Menschen, um die Menschheit
zu lieben, man braucht den Helden, um daran glauben zu
können, daß der Kampf um das Leben einen Sinn und eine
Schönheit hat: nie hat ein Werk scheinbarer Resignation
darum reiner dem ewigen Idealismus seines Schöpfers gedient.
So fügt Rolland an die Gestalten seiner irdischen Kämpfer
noch die erhabenste, die irdisch-religiöse: die des Märtyrers
seiner Überzeugung. Aus bürgerlicher Welt, aus dem Mittel-
maß eines Menschen wächst diese Tragödie, und gerade dies
ist die wunderbare moralische Größe, die von diesem Buche
der Trauer ausgeht, die Tröstung, daß es jedem, und auch dem
einfachsten Menschen, nicht bloß dem Genius gestatj^.t sei,
stärker zu sein als die Welt wider ihn, wenn er seinen Willen
aufrecht hält, frei zu sein gegen alle und wahr gegen sich selbst.
Freiheit und Gerechtigkeit, die beiden Urkräfte, die Rolland
zum wirkenden Menschen seiner 2^it gemacht haben, erhebt
er in dem Bildnis dieses Menschen zur höchsten Lebendigkeit,
zur Lebendigkeit einer moralischen Tat, die weder die Welt
noch der Tod zu zerstören vermag.
Die letzte Mahnung
Fünf Jahre lang hatte Romain Rolland im Kampf gegen den
Wahnwitz der Zeit gestanden. Endlich bricht die feurige Kette
um den gefolterten Leib Europas. Der Krieg ist zu Ende,
der Waffenstillstand geschlossen. Die Menschen morden
einander nicht mehr, aber ihre tragische Leidenschaft, der
Haß, wütet weiter. Romain Rollands prophetische Erkenntnis
feiert einen düstern Triumph: sein Mißtrauen gegen die Sieger
in Dichtung und Warnung immer wieder bekundet, wird noch
254
Übertroffeti von einer rachsüchtigen Wirklichkeit: „Nichts
widersteht dem Waffensieg schwerer als ein selbstloses Mensch-
heitsideal, nichts ist schwieriger als im Triumph vornehm zu
bleiben" — furchtbar bewährt sich dies sein Wort an der Zeit.
Vergessen sind die schönen Worte vom „Sieg der Freiheit und des
Rechts", die Konferenz zu Versailles bereitet neue Vergewal-
tigung und neue Erniedrigung. Wo der einfältige Idealismus
das Ende aller Kriege gesehen, erkennt der wahre Idealis-
mus, der über die Menschen zu den Ideen blickt, neue Saat
neuen Hasses und neuer Gewalttat.
Noch einmal in letzter Stunde erhebt Rolland die Stimme
zu dem Menschen, der damals den Hoffenden als letzter Ver-
treter des Idealismus, als Anwalt einer absoluten Gerechtigkeit
galt„^ Woodrow Wilson, der, umjauchzt von der Erwartung
von Millionen, in Europa gelandet ist. Der Historiker weiß,
„daß die Weltgeschichte eigentlich nichts ist als eine Kette
von Beweisen, daß der Sieger jeweils übermütig wurde und
damit den Keim zu neuen Kriegen legte". Nie war, so fühlt er,
moralische statt militärischer, aufbauende statt zerstörender
Politik mehr vonnöten als nach dieser Weltkatastrophe, und
der Weltbürger, der den Krieg schon zu erretten suchte von
dem Stigma des Hasses, ringt jetzt um das Ethos des Friedens.
Zu dem Amerikaner spricht der Europäer hinüber in beschwing-
tem Anruf: „Sie allein, Herr Präsident, von allen, denen die
zweifelhafte Ehre zufiel, die Geschicke der Völker zu leiten,
besitzen universelle moralische Macht. Alles bringt Ihnen
Vertrauen entgegen; so erfüllen Sie diese pathetische Hoff-
nung! Fassen Sie die entgegengebreiteten Hände und ver-
einigen Sie sie . . . Fehlt dieser Vermittler, so werden die
lÄenschlichen Massen uneinig, ohne Gegengewicht unvermeid
lieh dem Exzeß anheimfallen, das Volk der blutigen Anarchie,
die Parteien der Ordnung blutiger Reaktion . . . Erbe Washing-
255
tons und Abraham Lincolns, führen Sie in Ihrer Hand nicht
die Sache eines Volkes, sondern aller Völlig. Berufen Sie die
Vertreter aller Völker. 2u einem Kongreß der Menschheit und
leiten Sie ihn mit der ganzen Autorität, die Ihnen die hohe morali-
sche Verantwortung und die mächtige Zukunft des gewaltigen
Amerika verbürgt. Sprechen Sie, sprechen Sie zu allen I Die
Welt dürstet nach einer Stimme, die die Grenzen der Nationen
ugd Klassen überschwingt . . . Möge Sie die Zukunft mit dem
Nainen des Versöhners grüßen können."
Prophetischer Anruf, aber wiederum verklungen in den
Schreien der Rache. Der „Bismarckfsmus" triumphiert, Wort
um Wort erfüllt sich die tragische Voraussage: unmenschlich
wird der Friede, wie der Krieg unmensclilich gewesen. Die
Humanität kann keine Heimstatt unter den Menschen finden.
Wo geistige Erneuerung Europas hätte anheben können,
wütet der alte verhängnisvolle Geist und: „es gibt keine
Sieger, es gibt nur Besiegte".
Das Manifest der Freiheit des Geistes
Immer wieder aber appelliert der Unerschütterliche, nach
allen Enttäuschungen im Irdischen, an die letzte Instanz,
an den Geist der Gemeinsamkeit. Am Tage der Unterzeich-
nung des Friedens veröffentlicht Romain Rolland ein Manifest
in der „Humanite” , Er selbst hat es verfaßt, Gesinnungs-
freunde aus allen Ländern setzen ihren Namen dazu: es will der
erste Grundstein des unsichtbaren Tempels in einer stür-
zenden Welt werden, das Refugium aller Enttäuschten. Mit
gewaltigem Griff faßt Rolland noch einmal die Vergangenheit
zusammen und hebt sie der Zukunft warnend entgegen: laut
und .klar spricht das Wort;
236
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LhI'w^^ i V^/ /(v.’^4;j I
%
„Uns, Kameraden in der Arbeit am Geiste, trennten seit
fünf Jahren Armeen, Zensur, Vorschriften und der Haß krieg-
führender Völker. Aber heute, da die Schranken zu fallen und
die Grenzen sich langsam wieder zu öffnen beginnen, wenden
wir Einsamen der Welt ims mit dem bittenden Ruf an Euch,
unsere einstige Genossenschaft wieder herzustellen — aber in
neuer Form — , sicherer und widerstandsfähige! als früher.
Der Krieg hatte Verwirrung in unsere Reihen getragen. Fast
alle Intellektuellen haben ihre Wissenschaft, ihre Kunst und
ihr ganzes Denken in den Dienst der kriegführenden Obrigkeit
gestellt. Wir klagen niemand an und wollen keinen Vorwurf er-
heben, zu gut kennen wir die Widerstandslosigkeit des Ein-
zelnen gegenüber der elementaren Kraft von Massen vor-
stelluii^^'ft : sic mußten alles hinwegschwemmen, da nichts
vorhanden war, an dem man sich hätte halten können. Für
die Zukunft jedoch könnten und sollten wir aus dem Geschehe-
nen lernen.
Dazu aber ist es gut, sich an den Zusammenbruch zu er-
innern, dep die fast restlose Abdankung der Intelligenz in der
ganzen Welt verschuldet hat. Die Denker und Dichter beugten
sich knechtisch vor dem Götzen des Tages und fügten dadurch
zu den Flammen, die Europa an Leib und Seele verbrannten,
unauslöschlichen giftigen Haß. Aus den Rüstkammern ihres
Wissens und ihrer Phantasie suchten sie alle die alten und auch
viele neue Gründe zum Haß, Gründe der Geschichte und Gründe
einer angeblichen Wissenschaft und Kunst. Mit Fleiß zer-
störten sie diesen Zusammenhang und die Liebe unter den
Menschen und machten dadurch auch die Welt der Ideen,
deren lebendige Verkörperung sie sein sollten, häßlich, schmut-
zig und gemein und schufen damit aus ihr — vielleicht ohne es
zu wollen — .ein Werkzeug der Leidenschaft. Sie haben für
selbstsüchtige, politische oder soziale Parteiinteressen gearbei-
<7 Zweig, Romain Rolland
257
tet, für einen Staat, für ein Vaterland oder für eine Klasse.
Und jetzt, da alle Völker, die in diesem Barbarenkampfe
gekämpft — Sieger sowohl als Besiegte — in Armut und tiefster
uneingestandener Schande ob ihrer Wahnsinnstat verzweifelt
und erniedrigt dastehen — jetzt scheint mit den Denkern
auch der in den Kampf gezerrte Gedanke zerschlagen.
AufI Befreien wir den Geist von diesen unreinen Kompro-
missen, von diesen niederziehenden Ketten, von dieser heim-
lichen Knechtschaft! Der Geist darf niemandes Diener sein,
wir aber müssen dem Geiste dienen, und keinen andern
Herrn erkennen wir an. Seine Fackel zu tragen sind wir ge-
boren, um sie wollen wir uns scharen, um sie die irrende Mensch-
heit zu scharen versuchen. Unsere Aufgabe und unsere Pflicht,
ist es, das unverrückbare Fanal aufzupflanzen uffd^n der
stürmenden Nacht auf den ewig ruhenden Polarstern hinzu-
weisen. Inmitten dieser Orgie von Hochmut und gegenseitiger
Verachtung wollen wir nicht wählen noch richten. Frei dienen
wir der freien Wahrheit, die, in sich grenzenlos, auch keine
äußeren Grenzen kennt, keine Vorurteile der Völker, keine
Sonderrechte einer Klasse. Gewiß, wir haben Freude an der
Menschheit und Liebe zu ihr! Für sie arbeiten wir, aber für
sie als Ganzes. Wir kennen nicht einzelne Völker, sondern nur
das Volk, das eine unmittelbare Volk, das leidet und kämpft,
fällt und sich wieder erhebt und dabei doch immer vorwärts
schreitet auf seinem schweren Wege in Blut und in Schweiß
— dieses Volk aller Menschen, die alle, alle unsere Brüder sind.
Nur bewußt werden müssen sich die Menschen dieser Bruder-
schaft; deshalb sollten wir Wissenden hoch über den blinden
Kämpfern die Brücke bauen zum Zeichen eines neuen Bundes,
im Namen des einen und doch mannigfaltigen ewigen und
freien Geistes.“
Hunderte und Aberhunderte haben diese Worte seitdem zu den
258
gemacht, aus allen Ländern haben sich die Besten zu
dieser Botschaft bekannt. Die unsichtbare europäische Repu-
blik des Geistes inmitten der Völker und Nationen ist errichtet:
das Allvaterland. Ihre Grenzen sind jedem offen, der sie zu
bewohnen begehrt, sie hat kein Gesetz als das der Brüderlich-
keit, keinen anderen Feind als den Haß und den Hochmut der
Nationen. Wer ihr unsichtbares Reich zur Heimat nimmt, ist
Weltbürger geworden. Erbe, nicht eines einzelnen Volkes,
sondern aller Völker, heimisch in allen Sprachen und Ländern,
in aller Vergangenheit und aller Zukunft.
Ausklang
Geheimnisvoller Wellenschlag dieses Lebens, immer sich
aufhebend in leidenschaftlicher Woge gegen die Zeit, immer
niederstürzend in den Abgrund der Enttäuschung, um doch
neu sich aufzuschwingen in vervielfachter Gläubigkeit I Wieder
— zum wievielten Male 1 — ist Romain Rolland der große Be-
siegte der Umwelt. Keine seiner Ideen, keiner seiner Wünsch(?,
seiner Träume hat sich verwirklicht : wieder hat Gewalt recht
behalten gegen den Geist, die Menschen gegen die Menschheit.
Aber nie war sein Kampf größer gewesen, nie seine Existenz
notwendiger, als in jenen Jahren, denn nur sein Apostolat hat
das Evangelium des gekreuzigten Europa gerettet' und mit
diesem Glauben einen anderen noch: den an den Dichter als
den geistigen Führer, den sittlichen Sprecher seiner Nation
und aller Nationen. Dieser eine Dichter hat uns vor der unaus-
löschlichen Schmach bewahrt, daß in unseren Tagen keine
einzige Stimme sich wider den Wahnwitz des Mords und des
Hasses erhoben hätte: ihm danken wir, daß das heilige Licht
der Brüderlichkeit im stärksten Sturme der Geschichte nicht
erloschen ist. Die Welt des Geistes kennt nicht den trügeri-
17*
259
sehen Begriff der Zahl, in ihren geheimnisvollen Maßen wiegt
der eine gegen alle mehr, als die Vielzahl gegen den einen.
Nie glüht eine Idee reiner als in dem einsamen Bekenner, und
an dem großen Beispiel dieses Dichters haben wir wieder in
dunkelster Stunde erkannt: ein einziger großer Mensch, der
menschlich bleibt, rettet immer und für alle den Glauben an
die Menschheit.
260
Bibliographie
I. Kritische Werke
Les Ortgines du ThSaire lyrique moderne. {Histoire de VOpira en Europe
avant Lully et Scarlatti.) Paris, Fontemoing, 1895 (vergriffen) 4
Cur ars picturae apud Italos XVI. saeculi decideril. Paris, Fontemoing,
1895 (vergriffen)
FranQois Milkt. London, Duckv/ortli 1902 (nur englisch erschienen)
Vie de Beethoven. (Vies des Hommcs lllustrcs.) Edition Cahiers de la
Quinzaine, 1903. Edition Hachetic, Paris 1908
Edition de luxe avec bois de J. R. Laiirens ct P. A. Laurens, Paris,
Edoard Pelletan, 1909
Le Thiatre du Peuple. Edition Cahiers de la Quinzainc, novembre 1903.
Edition Hacliette, Paris 1908. Jetzt: Ollendorff, Paris 1918
Paris als Musikstadi. Marquardt, Berlin 1905 (nur deutsch erschienen)
Michel- Ange. (Collection ,,1.08 maitres de TArt*'.) Librairie de TArt,
Paris 1905. Spätere Auflagen: Librairie Pion
Vie de Michel- Ange. (Vies des Honiiues lllustrcs.) Edition Cahiers de
Iji Q^iinzaine, Paris 1906. Edition Hacliette, Paris 190S
Musiciens d*Autrefois. Hacliette, Paris 1908. (i. L’Opera avant Tailly.
2. Le Premier op6ra jou6 ä Paris: TOrfeo de Luigi Rossi. 3. Notes
sur Lully. 4. Gluck. 5. Gr6try. 6. Mozart.)
Musiciens d* Aujourd* hui. Hacliette, Paris 1908. (i. Berlioz. 2. Wagner;
Siegfried, Tristan. 3. Sairit-Saens. 4. Vincent dTndy. 5. Richard
Strauß. 6, Hugo Wolf. 7. Don Lorenzo Perosi. 8. Musique fran-
9aise et musique allemande. 9. Pelleas et M61isande. 10. Le renouveau,
esquisse du mouvcnicnt musical ä Paris depuis 1870.)
Paul Dupin. Placpiette, Edition S. 1. M. 1908
Händel. Alcan, Paris 1910
Vic de Tolstoi. (Vies des Honimes lllustrcs.) Hacliette, Paris 19 ii
Vllumhk Vie Hhoiquc. Pens6es choisics avec introduction d’Alphons
Sech6. Edition Sansot, Paris 1918
EmpMoclc d'Agrigente. Edition Lo Carnicl, Gen^ve 1917. La maison
frangaise d'art ct dVjdilion, Paris 1918
Voyage musical au pays du pass^. Edouard Joseph, Paris 1919. Spätere
Ausgabe Hacliette, 1920
VEcole des Hautes Etudes Sociales. (1900 — 1910, Alcan, Paris 1910.
Chap. sur l’Ecole de Musique des PI. Ph S.)
II. Politische Schriften
Au-dessus de la MiUe. Ollendorff, Paris 1915
A la Civilisation. Nicht im Handel befindliche Schrift, ohne Verlcgcr-
angabe 1917
Les PrScurseurs. Edition de l’Humanit6, Paris 1919
Aux Peuples assassinds. Ollendorff, Paris 1920
261
III. Romane
Jean Christophs, i. L'Aube. 2. Le Matin. 3. L’Adolescent. 4. La
Revolte. (1904 — 1907)
Jean Christophe ä Paris, i. La Foire sur la Place, 2, Antoinette. 3. Dans
la Maison. (1908 — 1910)
La Fin du Voyage. J. Lcs Amis. 2. Le Buisson Ardent. 3. La nouvelle
Joiirn6e. (1910 — 1912)
Die erste komplette Ausgabe mit später unterdrückten Stücken
erschien in den Cahiers de la Quinzainc, die erste Gesamtausgabe
in Buchform bei Ollendorff, Paris.
Cotas Breugnon. Ollendorff, Paris 1920
Pierre et Luce. Edition Le Sablier, Gendve, 1920. Spätere Ausgaben
Ollendorff, Paris
Clerambault. Ollendorff, Paris 1920
IV. Vorreden
Stendhal ei la Musique. Pr6face ä la vie de Haydn dans Tddiüon compläte
des Oeuvres de Stendhal, Champion, Paris 1913 • «
Celles qui travaillent. Pr6face au livrc de Mme. Simone BodÄve, Ollen-
dorff, Paris 1913
Anthologie des Podtes contre la Guerre. Lc Sablier, Gendve 1920
V. Dramen
Saint Louis. Action dramatique en cinq actes. Revue de Paris, mars —
avril 1897
Aert. Trois actes. Edition de la Revue d'Art Dramatique, 1898
Les Loups. Trois actes. Edition Georges Bclais, 1898
Le Triomphe de la Raison. Trois actes. Edition de la Revue d*Art
Dramatique 1899
Danton. Trois actes. Edition de la Revue d*Art Dramatique 1900.
Cahiers de la Quinzaine, 1901
Le Quatorze Juillet. Action populairc, trois actes. Cahiers de la Quin-
zainc, 1902
Le Temps viendra. Trois actes. Cahiers de la Quinzaine, 1903
Les Trois Amoureuses. Trois actes. La Revue d’Art Dramatique, 1903
La Montespan. Drame en trois actes. Edition de la Revue d'Art Dra-
matique, 1904
Thiatre de la Revolution. (Les Loups, Danton, Le Quatorze Juillet.)
Hachette, 1909; jetzt bei Ollendorff
Les Tragödie s de la Foi. (Saint I^mis, ASrt, Le Triomphe de la Raison.)
Hachette, 1913; jetzt bei Ollendorff
Liluli. Le Sablier, Gendve 1919, mit Holzschnitten von Frans Masereel;
dann bei Ollendorff, Paris 1920
362
Deutsche Übersetzungen
1. Kritische Werke
Beethoven, Rascher & Co.) Zürich 1917
Das Leben Michelangelos. Herausgegeben von Wilh. Herzog. Kütten
& Loening) Frankfurt a. M. 1918
Michelangelo {Pion), Rascher & Co., Zürich 1919
Das Lehen Tolstois, Herausgegeben von Wilh. Herzog. Rütten & Loe*
ning, Frankfurt a. M. 1921
II. Politische Schriften
Den hingeschlachteten Völkern^ übersetzt von Stefan Zweig, Rascher
& Co., Zürich 1918
Au~dessus de la MiUe \ . . , «r t- w i. ne-
Les prScurseurs ) Rutten & Loemng, hrankfurt a. M.
IIL Romane
Johanet Christof. Drei Bände, Übertragung von Otto und Erna Grautoff.
Rütten & Loening, Frankfurt a. M. 1913 — 1918
Meister Breugnon. Übertragung von Erna Grautoff unter Mitwirkung
von Otto Grautoff. Rütten & Loening, Frankfurt a. M. 1919
Clerambault. Übertragung von Stefan Zweig, Rütten & Loening, Frank-
furt a. M. 1921
IV. Dramen
Die Wölfe. Herausgegeben von Wilh. Herzog, G. Müller, München 1914
Danton. Herausgegeben von Wilh. Herzog, G. Müller, München 1919
Die Zeit wird kommen. Übertragung von Stefan Zweig, „Die Zwölf
Bücher**, E. P. Tal & Co., Wien 1920
263
Inhaltsübersicht
Seite
LebensbilJnis 9
Kunstwerk eines Lebens ii
Kindheit 12
Schuljahre IS
Ecolc Normale i8
Botschaft aus der Ferne 22
Rom 26
Die Weihe 31
Lehrjahre 33
Kampfjahrc 36
Ein Jalu-zehnt Stille 40
Bildnis 42
Der Ruhm 44
Ausklang in die Zeit 47
Dramatisches Beginnen 49
Das Werk und die Zeit T . 51
Wille zur Größe 55
Die Schaffenskreise 58
]')er unbekannte Dramenkreis 6ü
Die Tragödien des Glaubens 64
St. Louis 66
Aßrt 68
Die Erneuerung dos französischen Theaters 70
Appell an das Volk 73
Das Pr<)gramiu 75
Der Schöpfer 78
Die Tragödie der Revolution 80
Der vierzehnte Juli 82
Danton 84
Der Triumph der Vernunft 87
Die Wölfe 89
Der vergebliche Ruf 91
Die Zeit wird kommen 92
Der Dramatiker 9$
Die heroischen Biographien loi
Ex profiindis . . . • 103
Die Helden des Leidens 106
Beethoven 108
Michelangelo iii
Tolstoi 1 14
Die unvollendeten Biographien 116
264
Johana Christof 119
Sanctus Christophorus 121
Vernichtung und Auferstehung 122
Ursprung des Werkes ' 123
Das Werk ohne Formel 126
Das Geheimnis der Gestalten 130
Heroische Symphonie 134
Das Mysterium der Schöpfung 137
Johann Christof 143
Olivier 147
Grazia 152
Johann Christof und die Menschen 153
Johann Christof und die Nationen 156
Das Bildnis Frankreichs 158
Das Bildnis Deutschlands 162
Das Bildnis Italiens 165
Die Vaterlandslosen 167
Die Generationen 170
Dfcr fetzte Blick 175
Intermezzo scherzoso („Meister Breugnon“) i 77
Die Überraschung i 79
Der Bruder aus Burgund 180
Gauloiserie 184
Die vergebliche Botschaft 186
Das Gewissen Europas 187
Der Hüter des Erbes 189
Der Vorbereitete 190
Das Asyl 194
Menschheitsdienst 197
Das Tribunal des Geistes 199
Die Zwiesprache mit Gcrhart Hauptmann 203
Der Briefwechsel mit Verhaeren 206
Das europäische Gewissen 209
Die Manifeste 211
Über dem Getümmel 214
Der Kampf gegen den Haß 217
Die Gegner 222
Die Freunde 228
Die Briefe 232
Der Berater 234
Einsamkeit 237
Das Tagebuch 239
„Pröcurseurs“ und „Empedokles“ 240
265
,,LiluU** und ^»Pierre et Luce“ 244
Clerambault 247
Die leUte Mahnung 254
Das Manifest der Freiheit des Geistes 256
Ausklang 259
Bibliographie 261
Porträts und Schriftwiedergaben
Romain Rolland (neueste Aufnahme) gegenüber Titel
Der Brief Tolstois an Rolland „ 24
Romain Rolland zur Zeit seines Eintritts in die
Ecole Normale 32
Die Mutter Romain Rollands „ 48
Romain Rolland zur Zeit des Beginns des
„Johann Christof“ „ 128
Romain Rollands Notenhandschrift „ 144
Romain Rolland während der Jahre des „Johann
Romain RoUand nach einer Zeichnung von Gra-
nit 1910 „ 208
Wiedergabe von Romain Rollands Handschrift . ,, 256
266
I 1
s s
i 1
I Von Romain Rolland |
i sindimVerlagRütten&Loening |
1 ir Frankfurt a. M. erschienen: |
i Johann Christof |
j Johann Christof in Paris |
Johann Christof am Ziel I
H s
1 Jeder Band geheftet M. 23. — , in Pappband M. 30. |
I Alle drei Bände in Halbleinen in einer Hülse M. iiS. |
I I
f Meister Breugnon f
f Ein fröhliches Buch |
I Geheftet M. 12. — , gebunden M. 18. — |
I in Halbleder etwa M. 40. — |
= * =
3 -
I Das Leben Michelangelos f
1 Mit 24 Bildertafcln |
I ln Pappband etwa M. 25. — , in Halbleinen etwaM. 30. — i
i In Vo r b e r e i t u n g : f
i Das Leben Tolstois 1
I Gebunden etwa M. 32. — |
Clerambault
Preis noch unbestimmt