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bes Polarmenſchen
Die zweite Thule⸗ Expedition
1916-18
Mit 76 bunten
einfarbigen Abbildungen
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2. Leipzig / F. A. Brockhaus / 1922
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8
—
Vorwort
von Admiral Sir Lewis Beaumont.
gr der Heimat des Polarmenſchen“ iſt der Bericht Knud Ras-
” muſſens über ſeine letzte Expedition an die dem Pol zunächſt⸗
liegenden Geſtade Nordgrönlands. Seit dem Jahre 1910, als er
in der Nordſternbai für ſeine Tätigkeit die erſte Grundlage und
auch eine Handelsſtation unter dem Namen Thule ſchuf, hat ſich
Rasmuſſen wiederholt in tätigſter Weiſe mit der Erforſchung Nord-
grönlands beſchäftigt. Er unternahm Schlittenreiſen über das
Inlandeis nach der Nordoſt- und Nordküſte Grönlands; ſie brachten
wertvolle Ergebniſſe, durch die mancherlei geographiſche Fragen
geklärt und die Entdeckungen früherer Forſchungsreiſenden auf der
Oſt⸗ und Weſtſeite endgültig miteinander verknüpft wurden.
Knud Rasmuſſen kann mit Recht ein beſonders hervorragender
und außergewöhnlicher Erforſcher dieſer Gebiete genannt werden.
Er iſt in Grönland geboren und lebte dort in ſeiner Jugendzeit.
Sein Leben unter den Grönländern und Eskimos, ſeine vollendete
Kenntnis ihrer Sprache, ſeine Bewunderung ihres Weſens, ihres
Mutes und ihrer Treue und ſein inniger Wunſch, der Geſchicht—
ſchreiber ihres Urſprungs, ihrer Überlieferung und ihrer künftigen
Entwicklung zu ſein, haben ihn in weitem Maß mit der Begeiſte⸗
rung des Forſchers erfüllt und ihm den Glauben beigebracht, daß
es möglich ſei, mit kärglichen Mitteln und beſchränkten Hilfs—
quellen das Werk zum Abſchluß zu bringen, das von vorher—
gegangenen, viel reicher ausgeſtatteten Expeditionen begonnen
worden war. Aber dieſe Vorteile wären ohne Nutzen geweſen, wenn
nicht Knud Rasmuſſen die perſönliche Eignung zum Forſcher
beſäße. Jede Seite ſeines Reiſeberichts zeigt ſeine hohe Befähigung
und Überlegung, ſeine Geſchicklichkeit und Verwegenheit als Führer,
glänzenden Mut und große Ausdauer, die ihn über eine Zeit der
IV : 5 Vorwort.
ſtärkſten Prüfung und höchſten . inen
haben. Seine feſte Haltung und ſein Beiſpiel waren es, die er
Expedition auf der Rückreiſe vom Tode retteten. 2
Den Leſern, die mit der natürlichen Beſchaffenheit der un⸗
geheueren, als Grönland bekannten Landmaſſe nicht vertraut ſind,
wird es dienlich ſein, zu erfahren, daß die Bewohner des größeren
Südteils als Grönländer, die im Norden der Melvillebucht als
Polareskimos oder arktiſche Hochländer bezeichnet werden. Zwiſchen
beiden bildet das Inlandeis eine Barre, ſo daß die Verbindung
zwiſchen ihnen nur zu Schiff erfolgen kann.
Der Polarmenſch iſt uns bisher nie ſo eingehend geſchildert
worden, mit einem ſo wahren und warmen Verſtändnis ſeines
Lebens und ſeines Weſens, als Rasmuſſen es in ſeinem Buche tut.
Er ſpricht als einer von ihnen, der ihr Leben lebte, ihre Erfah⸗
rungen teilte und deren Volk er ſich eng angeſchloſſen hat. Darum
iſt es kein Wunder, daß nie vorher ein Forſcher ſo unbeſchränkt
und in folder Ergebenheit Dienſte von den Polarmenſchen emp⸗
fing, als es Rasmuſſen beſchieden war. Es iſt notwendig, auf
dieſen Punkt beſonders hinzuweiſen, da Rasmuſſen in ſeinem Be⸗
richt ihn voll Beſcheidenheit als ganz natürlich anſieht und keinerlei
Nachdruck darauf legt. Frühere Expeditionen nach dieſen Gegen⸗
den nahmen wohl ein oder zwei Eskimos als Jäger und Hunde⸗
treiber mit; ſie machten ihre Erfahrungen mit arktiſchem Leben unter
großen Koſten — und zeitigten doch nur geringe Ergebniſſe.
Peary, der ſich 24 Jahre lang geduldig und zielbewußt bemühte,
die Geheimniſſe des Polarbeckens zu enthüllen, gelangte Schritt
für Schritt zur Kenntnis des Charakters der Eskimos, ihrer Be⸗
fähigung zur Jagd und ihres wundervollen Inſtinkts bei Reiſen.
Aber Rasmuſſen ift der einzige, der eine bedeutende und erfolg⸗
reiche Expedition ganz nach Eskimoart ausgerüſtet und geführt hat
und ſie auf der langen, abenteuerreichen Reiſe mit Hilfe der
Jagd nach Eskimoart erhalten hat. Nur die Verbindung euro⸗
päiſcher Führereigenſchaft mit Fähigkeiten und Lebensbedingungen
der Eingeborenen machte eine ſo weitausgedehnte Forſchungsreiſe
überhaupt möglich.
Das Intereſſe an dem Reiſebericht iſt groß, und der Titerartiibl
Reiz der Schilderungen ebenſo wie die unparteiiſche Verteilung von
Licht und Schatten, die ſich durch den ganzen Bericht zieht, ſorgen
Borwort. V
dafür, daß dies Intereſſe nicht gemindert wird. Es iſt das Kenn⸗
zepichen eines Führers, daß er ſeine Abteilung bei guter Laune er⸗
halt; es ilt die Pflicht des Geſchichtſchreibers, zu zeigen, wem Ver⸗
antwortung und Entſchluß in ſchwierigen Lagen zufielen. Mit
Recht iſt das Unternehmen ein großes Wagnis genannt worden,
aber Rasmuſſen, vom Geiſte des wahren Forſchers erfüllt, ſagt:
die Gefahr, die man auf ſolchen Expeditionen läuft, ſtand
mir klar vor Augen. Aber wenn man ſich auf eine Reiſe begibt,
beſchäftigen ſich die Gedanken niemals mit den möglichen Ge-
8 fahren. Jeder Polarreiſende kennt das Riſiko, wenn er ſein Heim
verläßt, um den Fuß auf unbekannte Ufer zu ſetzen. So war es
auch bei uns der Fall. Alle meine Kameraden begrüßten meine
Pläne voll Begeiſterung, und jeder von ihnen war einzig und
allein erfüllt von dem einen Gedanken an den ſicheren Erfolg.“
In dieſem Geiſte zogen fie hinaus.
ee Die Arbeit, die feine Vorgänger auf dem Gebiet der ark—
tiſchen Forſchungsreiſen geleiſtet haben, würdigt Nasmuſſen in
Be beſonders hochherziger Weiſe. Er zeigt, daß er ihre Schwierig⸗
keiten kannte, obwohl dieſe nicht die ſeinen waren, und
was jeine Vorgänger erreichten, erkennt er bereitwillig an und
bewundert es. Diejenigen von ihnen, die heute noch leben, haben
ihrerſeits die Freude, ohne Zögern zu ſagen: Was Rasmuſſen und
ſeine Gefährten zur Kenntnis des Polargebiets beigetragen haben
durch ihre genaue Aufnahme der Küſtenländer, der Fauna, Flora
und des geologiſchen Baues des nordweſtlichen Teils von Grön—
lland, ſowie deren Verknüpfung mit den Entdeckungen an der
- Dftküfte, ſetzt den Arbeiten derer die Krone auf, die ſich vor ihm
im ſelben Arbeitsfeld abgemüht haben, und ſeine glänzende Tat
ſtellt ihn für alle Zeiten in die vorderſte Reihe der Polarforſcher.
Inhalt.
Seite
Vorwort von Admiral Sir Lewis Beaumont III
11 ᷣ ⁵ D ¼ ¼ .,.. er 1
Erſtes Kapitel. Leben und Geſchichte der Polareskimo s. 9
Zweites Kapitel. Von Thule zum Humboldtgletſ cher. 42
Drittes Kapitel. Vom Waſhingtonland nach Hall⸗Landʒqße 89
Viertes Kapitel. Von Kap Sumner bis Dragon Point 115
Fünftes Kapitel. Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord nach dem Nordenſkiöldſjord 130
Sechſtes Kapitel. Das Lager am Eulenneſ tt. 166
Siebentes Kapitel. Kap Salor bis zu Lockwoods Stein mall 180
Achtes Kapitel. Vom De⸗Long⸗Fjord bis Kap Saloe r 200
Neuntes Kapitel. Über ſchmelzendes Eis nach dem Sommerial. . . . 220
Zehntes Kapitel. Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord zum St.⸗George⸗Fjord. 237
Elftes Kapitel. Die Rückreiſe über das Inlandeis. 269
Zwölftes Kapitel. Auf dem Wege nach Entſaa rr 303
Dreizehntes Kapitel. Der Wettlauf mit dem Tod 324
Vierzehntes Kapitel. Ein Gedenkblatt . . . 2... 2.2 nn. 337
Fünfzehntes Kapitel. Heim nach Thule 352
JJ%%%0%0%0000000000 ᷣͤ ͤᷣ⁰y æt BEES Se DER ERE. 360
Textabbildungen.
Aufriß und Grundriß des Winterhaufes eines Polareskimos 28
Eine von Hayes’ phantaſtiſchen Bärenjagdeennnnnnn˖nnd 55
Dies fährt quer durch Eisberge 2... ne ee 55
— %, ee ee ne
Fleiſchkönig Majag. Zeichnung von Harald Molle. 63
Seltſame Weſen tauchen aus dem Dunkel aur. 71
Durchſchnitt durch eine Fuchsturmfalle. Nach der Zeichnung eines Eskimos 81
Unſer Führer Tornge. Zeichnung von Harald Moltfe . ee 82
Lemming, an einer Polarweide knappernd. Zeichnung von E. Ditlevſen . 162
emig Zeichnung von E. Ditlevſe n 162
Polarfuchs mit einem erbeuteten Lemming. Zeichnung von E. Ditlevſen „ 163
Lemming, Futter eintragend. Zeichnung von E. Ditlevſen 165
Ajako mit ſeinem Seehund. Zeichnung von Knud Kyhnn 186
Der Bootsmann in friſch erlegtes Wild gekleidet. Zeichnung von Knud Kyhn 187
Landſchaft beim Jewell⸗Inlet. Zeichnung von Harald Moltke nach Skizze von Koch 191
Abbildungen. VII
Fat Seite
Setting: , .. .. un. neun. 198
Blick auf die Eliſoninſel. Zeichnung von Lauge Koch 215
Lemminge, vom Polarfuchs überraſcht. Zeichnung von Knud Kyhn. .. 216
Hermelin auf der Haſenjagd. Zeichnung von Knud Kyh,?nn 217
Flußdelta beim MeMillantal. Zeichnung v. Harald Moltke nach Skizze v. Koch 223
Das Sommertal. Zeichnung von Harald Moltke nach Skizze von Koch. . 231
Gletſcherabſchluß des Sommertals. Zeichnung v. Harald Moltke n. Skizze v. Koch 235
Raubmöwe mit Jungem. Zeichnung von E. Ditlevſen 249
Die Gegend, in der Hendrik vermißt wurde. Zeichnung von Harald Moltke
. p ne 251
Nyeboeland vom Inlandeis aus. Zeichnung v. Harald Moltke nach Skizze v. Koch 279
Hunde mit Handſchuhen als Stiefel. Zeichnung von Harald Moltke. 285
Die Abſtiegſtelle. Zeichnung von Harald Moltke nach Skizze von Koch.. 299
Eein Menſch! Schau, dort ift ein Menig! Zeichnung von Harald Moltke. 311
Männer, Frauen, Kinder eilten heraus. Zeichnung von Harald Moltke. . 317
Der Ort, an dem Koch die Hilfsſchlitten traf. Zeichnung von Harald Moltke
JJ ß ĩĩ SAS NERE SEE 335
| Einſchaltbilder.
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J%%ͤ pn ²² m ̃̃ my dd. re , ĩ ĩ REN 16
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Der Teufelsdaumen an der Küſte ſüdlich von Thule. ......... 32
Das Expeditionsſchiff „Danmark“ im Hafen von Thule 33
ider Sorbiiernbai aue 88 48
f dd,, ĩ ĩ ͤ ( ĩ ĩͤ ĩ ( A
Bunte Tafel. Schneehüttenlager am Eisberg. Von Harald Moltfʒte . 56
Polareskimos in Fuchspelzkleidern )) ( 64
— ee re 65
Bunte Tafel. Küſtenberge des Inglefieldlandes. * Achton Friis. 80
Ein junger bärtiger Seehund als Beute 96
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Frohe Jugend und verſonnenes Alte 144
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Bunte Tafel. Schneeeule beim Schutze des brütenden Weibchens gegen
ea Ryan 2... ĩð ͤ ĩð nn... 168
Kap Eonftitution . n VVV 176
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VIII Abbildungen. .
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Dit drei ien Noſchussheenanm.n. 192
Raft in der Mündung des Viktoriafjo rde. 193
Ajako bei Beaumonts Steinmalllc. 208
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„ d nt . ER ERRNE
Landſchaft bei Kap Ramfay . ©... .. % ET „
nach Moſchusoche nnd” 8 241
Über den Sherard⸗Osborne⸗Fiord ee. „
ber feifee ee en PE SEERE 257
Aufbruch zur Moſchusochſenjagd im Mac Millantalll. 272
Plötzlicher Angriff eines Moſchusochſen auf einen Hundʒd .. 273
Dr. Thorild Wulff auf dem Wege durch das Waſſer. 288
Durch Schmelzwaſſerſeen, die mit dünnem Eis überzogen ſind . . 2 280
Ein geduldiges Opfer des Photographen 304
Die Moſchusochſen nähern ſich langſam und furcht los 305
Steilrandiges Land hält uns aufn „
Am Rande des Abgrundes der Teufelsſchluchhh te. „
Die Teufelsſchluc t e ar 336
Das Haus der Crockerland⸗Expedition in Eta hh 3867
Bunte Tafel. Kolonie Holſtensborg in Südgrönland. Von Chriſtine
Deſchman]]]m]mn]nmd ee ET E AREO RESEN 344
Karten. 5
Der Schauplatz der II. Thule⸗Expeditin¶ . » .. 2.2 2... en
Von Thule zum Humboldigletiher -. . .. TE 2 22 2 nn. 4383
Vom Humboldtgletſcher zur Newmanbaait:t:᷑ :e: 91
Von Kap Sumner bis Dragon Poinrt 3 116
Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord bis zum De⸗Long⸗Fjorrd 147
Das Gebiet des De⸗Long⸗ Fjorde 2 mr een 203
Die Nordküſte von Grönland mit dem Independencefjord und dem Peary⸗
kanal vor und nach der II. Thule⸗ Expedition 271
Der eg zun Ent.. 8 304
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Weill DS RE SE ASS AS ER SS SE SRRRRER 367
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Einleitung.
m Jahre 1910 gründete ich in der Nordſternbai in Nordgrön⸗
land eine arktiſche Station, von der aus ich die Gebiete er⸗
forſchen konnte, die bisher noch nicht genau genug unterſucht
worden waren. Das erſte von dieſer Station aus erzielte Er⸗
gebnis war die erſte Thule⸗Expedition. Die verſchiedenen Expe⸗
ditionen, die in der Folge von dieſer Station als Stützpunkt aus⸗
| gingen, benannte ih nad) Thule, dem Namen der Station.
Auf der erſten Thule⸗Expedition im Jahre 1912 war der
Reiſeweg quer über das grönländiſche Inlandeis, vom Clements⸗
Markham⸗Gletſcher an der Mündung des Inglefieldgolfs an der
Weſtküſte Grönlands zum Danmarkfjord auf der Oſtküſte, geführt
worden. Wir erzwangen uns den Weg durch den Independence⸗
fjord in das Grönland mit Pearyland verbindende Landgebiet,
und durch unſere Kartenaufnahmen ſtellten wir feſt, daß der
Kanal nicht vorhanden war, den Peary glaubte zwiſchen dem In⸗
dependencefjord auf der Nordoſtſeite und dem Nordenſkiöld⸗Einlaß
auf der Nordweſtſeite entdeckt zu haben.
Infolge der langen Reiſe, die mehr als 1000 Kilometer weit
quer über das Inlandeis führte, und infolge der Umſtände, die in
der Nähe des Danmarkfjords das Vordringen erſchwerten, gelang es
uns nicht ganz, von dem kürzlich entdeckten Adam⸗Biering⸗Land bis
in die Nachbarſchaft des Nordenſkiöld⸗Einlaſſes und des Sherard⸗
Osborne⸗Fjords vorzuſtoßen. Zu der Zeit, als die Entſcheidung
über den Antritt des Rückmarſches getroffen wurde, hatten wir
mehr als vier Monate auf andauernden, ſehr anſtrengenden
Reiſen durch unbekannte Gebiete verbracht. Sowohl für uns als
auch für die Hunde hielten wir es für notwendig, die Heimreiſe
über das Inlandeis nach meiner Station Thule an der Nordſtern⸗
bai zu verſuchen und die Erforſchung der noch unbekannten Teile
Grönlands auf die Zeit zu verſchieben, wenn die Arbeit mit neuer
Kraft wieder aufgenommen werden konnte.
Rasmuſſen. 1
2 Einleitung.
Im Winter 1914 war der erſte Verſuch gemacht worden, unſere
Pläne auszuführen. Peter Freuchen, der Kartograph meiner
erſten Thule⸗Expedition, war der Leiter. Bei dem Aufſtieg auf
das Inlandeis fiel er aber in eine Gletſcherſpalte, und er mußte
infolgedeſſen zurückkehren, und ſpäter konnte er nicht mehr teil⸗
nehmen, da ſein Theodolit für die kartographiſchen Aufnahmen
durch den Fall zerſtört worden war.
Da dieſe Expedition beſtändig als eine nichterfüllte Forderung
meiner arktiſchen Station erſchien und da ſie aus verſchiedenen
Gründen erledigt werden mußte, bevor ich meine ethnographiſche
Reiſe zu den nordamerikaniſchen Eskimos antrat, die mehrere
Jahre dauern ſollte, entſchloß ich mich, die Reiſe im Jahre 1916
durchzuführen.
Als die Hauptaufgabe dieſer Thule⸗Expedition galt, die
letzten noch unbekannten Gebiete der Nordküſte Grönlands auf der
Strecke zwiſchen dem St.⸗George⸗Fjord und dem De⸗Long⸗Fiord
zu erforſchen und kartographiſch aufzunehmen. Wir wollen uns
dabei vor allem bemühen, in das Land zwiſchen dem Norden⸗
ſkiöld⸗Einlaß und dem Independencefjord einzudringen. '
Die Erforſchung der Gebiete, die wir bereiſen wollen, wird
neben den länderkundlichen Ergebniſſen ſehr intereſſante volks⸗
kundliche Probleme bieten. So iſt es z. B. für die Theorie der
Eskimowanderungen von Bedeutung, feſtzuſtellen, ob in den ge⸗
nannten mächtigen Fjorden Winterhäuſer der Eskimos zu finden
ſind. Bekanntlich wurden auf Pearyland zwar Zeltringe, aber nie
Winterhäuſer gefunden. Die Nordgrenze des Winterhauſes liegt
an der Oſtküſte Nordgrönlands bei der Sophus⸗Müller⸗Spitze
und an der Eskimoſpitze, auf Amdrup⸗ und Holmland, während
ſie an der Weſtküſte ſich in der Nähe des Humboldtgletſchers und
des Hazenſees auf Grantland befindet. Aus dieſem Grund iſt zur
gründlichen Kenntnis der Eskimowanderungen die Unterſuchung
der großen Fjorde der grönländiſchen Nordküſte erforderlich.
Von den geologiſchen Aufgaben, mit denen die Expedition
zu tun haben wird, will ich nur die eine erwähnen: Während ganz
Weſt⸗ und Oſtgrönland im letzten Jahrhundert geologiſch durchforſcht
worden iſt, blieben das verbindende Glied zwiſchen der Oſt⸗ und
Weſtküſte, die Strecke zwiſchen dem Sherard-Osborne⸗Fiord und
Pearyland, ſowie deſſen unbekannte Fjorde unerforſcht. Bevor
: Einleitung. 3
; dieſe Gebiete nicht unterſucht worden ſind, iſt es unmöglich,
ein vollſtändiges Bild von Grönlands Aufbau zu geben. Und da
die Küſten und Fjorde hier oben am Nordende Grönlands noch
J auf die kartographiſche Aufnahme warten, kann der Schlußſtein
der geologiſchen Erforſchung erſt durch die Bereiſung jener Ge⸗
biete gelegt werden.
Neben der hier entwickelten Aufgabe ſind auf der ganzen Reiſe
> ſorgfältige meteorologiſche Tagebücher zu führen und botaniſche
und zoologiſche Sammlungen anzulegen.
Wie die erſte Thule⸗Expedition, wird auch dieſe Reiſe ganz
2 Eau Eskimoart eingerichtet, jo daß wir uns durch Jagd ernähren
können, während wir gleichzeitig unſere wiſſenſchaftlichen Aufgaben
verfolgen.
g 5 Die Koſten werden durch meine Station in Thule gedeckt, die
Aunter der Aufſicht eines Komitees ſteht, das ſich zuſammenſetzt
aus den Herren
et Ingenieur M. Ib Nyeboe, Vorſitzender,
Großhändler Chr. Erichſen,
Lektor Chr. Rasmuſſen.
OB Die von der Station aus zu leiſtende wiſſenſchaftliche Arbeit
er hat es wünſchenswert gemacht, daß wir mit den Männern der
SER Wiſſenſchaft in engere Beziehungen traten. Es wurde daher ein
. wiſſenſchaftliches Komitee gebildet; es beſtand aus den Herren
Profeſſor Dr. H. Jungerſen,
. Kapitän J. P. Koch,
55 Profeſſor O. B. Böggild,
BUSTE Profeſſor H. P. Steensby,
Muſeumsinſpektor Dr. C. H. Oſtenfeld.
Anfänglich hatte ich die Abſicht, die Reiſe mit nur einem Ge⸗
fährten auszuführen, mit dem däniſchen Geologen Lauge Koch.
Wir verließen Kopenhagen am 1. April 1916 und kamen Mitte
8 en nach Thule. Anhaltende Stürme und ungewöhnlich ſchwie⸗
rige Reiſeverhältniſſe zwangen uns aber, die Reiſe bis zum Früh⸗
jahr 1917 zu verſchieben. Inzwiſchen lief im Sommer das alte
Expeditionsſchiff „Danmark“ meine Station Thule an, auf dem
Wege nach Etah, wo fie die amerikaniſche Crockerland⸗Expedition
5 en wollte, die mehrere Winter dort zugebracht hatte. An
4 Einleitung,
Bord der „Danmark“ war ein ſchwediſcher Gelehrter, Dr. Tho⸗
rild Wulff, deſſen Arbeitsfeld anfänglich nur die Gegenden
um den Smithſund und um die Melvillebucht umfaßte. Als aber
Dr. Wulff davon hörte, daß wir unſere Expedition auf das nächſte
Jahr verſchoben hatten, meldete er ſich voll Begeiſterung als Teil⸗
nehmer an der Schlittenreiſe im Frühjahr an.
Sein Ruf als Botaniker und ſeine eingehende Kenntnis der
arktiſchen Pflanzenwelt empfahlen, ihn als Mitglied in die ge⸗
plante Expedition aufzunehmen, die in Gebiete führen ſollte, in
denen Fachleute noch nicht tätig geweſen waren.
Die Expedition blieb den Winter über in meiner Station
Thule und übte ſich fleißig auf Schlittenfahrten, die bis Etah im
Norden und Uperniwik im Süden führten. Es hieße nur die Er⸗
fahrungen anderer Expeditionen wiederholen, wenn ich unſere
Exkurſionen beſchreiben wollte, die wir von Oktober bis Februar
ausführten, während wir auf das Wiedererſcheinen der Sonne
warteten.
Da nicht von allen Leſern meines Buches genügende Reit;
niſſe über die Polareskimos anzunehmen find, will ich den Verſuch
machen, eine kurze Schilderung des Volkes zu geben, deſſen
Mittel und Wege zur Erhaltung des Lebens und deſſen Reiſe⸗
technik die Grundlage waren, auf der ſich unſere große Reiſe auf⸗
baute.
Mit gelegentlichen Unterbrechungen lebte ich unter dieſem Volk,
den arktiſchen Hochländern, ſeit 1903, und ich habe gelernt, ſie ebenſo
hoch zu ſchätzen als ich ihre große Geſchicklichkeit bewundere, das
Leben in dieſen rauhen Gebieten zu führen. Zunächſt wird es aber
angemeſſen ſein, einen 1 über meine Expedition und deren
Plan zu geben.
Die wiſſenſchaftliche Ausrüstung der Expedition war denkbar
einfach, wie es auf einer langen Schlittenreiſe erforderlich iſt. Wir
führten mit uns einen Theodoliten, drei Aneroidbarometer, ein
Siedebarometer für Höhenbeſtimmungen, ein Maximum⸗ und ein
Minimumthermometer, verſchiedene Weingeiſt⸗ und Quedjilber-
thermometer, einen Windmeſſer und ein Hygrometer. Dr. Wulff
ſchließlich brachte alles Nötige zum Einlegen und Trocknen der
Pflanzen mit.
Während der Vorbereitungen zu dieſer Reiſe, deren Ernſt
Einleitung. 5
keiner von uns unterſchätzte, arbeitete ich einen ſchriftlichen
Vertrag aus, der am 14. Februar von allen Teilnehmern unter⸗
ſchrieben wurde. Nur der nachſtehende Teil wird hier intereſſieren,
der übrige Inhalt, der ſich auf die Reiſewege und Reiſeanordnun⸗
gen bezieht, war ſelbſtverſtändlich.
„Obwohl ich voll überzeugt bin von der Schwierigkeit, eine
Expedition vor ihrem Abmarſch in Abteilungen zu gliedern, habe
ich es doch für notwendig erachtet, dieſe Gliederung vorzunehmen.
Sie, meine Kameraden, erhalten dadurch einen feſten Punkt, von
dem Sie bei der Planung der verſchiedenen Expeditionsarbeiten
ausgehen können.
„Die Expedition beſteht aus:
Dr. Thorild Wulff, Botaniker und Biologe,
Lauge Koch, Geologe und Kartograph,
Hendrik Olſen, einem früheren Teilnehmer an der
Danmark⸗Expedition,
Ajako,
Naſaitſordluarſuk, genannt der Bootsmann,
Inukitſog, genannt Harrigan,
und aus mir als Ethnograph und Leiter der Expedition.
„In einer früher vorgelegten Arbeitsüberſicht ſind alle bevor⸗
ſtehenden Aufgaben niedergelegt.
„Für alle Anordnungen für Reiſen und Reiſewege bin ich
als Leiter ganz allein zuſtändig. Ich will Ihnen aber in der Tat
in Ihrem beſondern Tätigkeitsbereich alle jene Freiheiten zu⸗
geſtehen, die die Umſtände erlauben, und Sie ſollen, jo oft Ihre
Arbeit es verlangt, von der Jagd befreit ſein.
„Von vornherein will ich mit Nachdruck darauf hinweiſen, daß es
während der Dauer der Expedition Anterſchiede zwiſchen Ihnen
und der Stellung der Eskimos nicht geben darf. Die Eskimos find
Mitglieder der Expedition, mit den gleichen Rechten und Pflichten
wie die wiſſenſchaftlichen Teilnehmer, und niemand außer dem
Expeditionsleiter darf über ſie verfügen.“
Veerſchiedene große und reichausgeſtattete Expeditionen waren
ſchon in den Gebieten, die wir aufſuchen wollen. Aber keiner von
ihnen war es geglückt, eine gründliche Kenntnis des Landes heim⸗
zubringen, obwohl gerade dort der Schlüſſel liegen müßte für
6 Einleitung.
manche Probleme, die ſich auf die See und Geſchichte eg
Grönlands beziehen.
Die Erklärung liegt darin: Die Entfernungen zwiſchen bin ein-
zelnen Arbeitsfeldern find rieſig; die Bodenbeſchaffenheit iſt Schlecht,
und in den Fjorden iſt der Schnee bodenlos. Aus dieſem Grund haben
diejenigen Forſcher, die mit einer ſogenannten guten Ausrüſtung
für die Reiſe verſehen waren, nicht vorwärtskommen können.
Ihre ſchweren Gepäcklaſten erlaubten ihnen keine freie Bewegung,
und ſie zogen es daher ſtets vor, den Reiſeweg in einiger Ent⸗
fernung vom Land auf dem eigentlichen Polareis fortzuſetzen;
denn dort war ein ſicheres Vorwärtskommen möglich.
Mit andern Worten: Die reiche, gute Ausſtattung, die ſonſt
ſtets als ein entſchiedener Vorteil angeſehen werden mußte, iſt
hier eine Belaſtung, die es dem Forſcher nicht erlaubt, ſo raſch
vorwärtszukommen, als es die für die Reiſe günſtige Jahreszeit
verlangt.
Diejenigen, die es unternehmen, die Karte von Grönland
zum Abſchluß zu bringen, müſſen daher mit der gewöhnlichen
Praxis der Expeditionen vollſtändig brechen und müſſen ſich ganz
auf die Jagd verlaſſen. Nur dadurch können die Schlitten leicht
gemacht werden und können ihren Weg in die tiefen Fjorde hinein SAR
durch den Schnee erzwingen.
Fur uns gab es darum keine Wahl. Die Aufgaben, die in
uns geſtellt hatten, waren alle ſchwierig und bedeutend, und ſo⸗ 2
lange ſie nicht erfüllt waren, konnte man die Erforſchung Grön⸗
lands nicht als abgeſchloſſen anſehen. 7
Dieſe Arbeit lag auf dem Wege der internationalen Aare:
forſchung, die bisher nur von den großen Nationen in die Hand
genommen war. Es war uns darum zu tun, daß däniſche Forſcher
ſie abſchloſſen, da in den verfloſſenen 200 Jahren die Führung
in der Erforſchung unſerer fen Kolonie in der Hand von Dänen
gelegen hatte.
Die Umriſſe für unſere Arbeit waren von unſern Vorgängern
gezogen, und wir wußten von vornherein, daß wir irgendwelche
große geographiſche Überraſchungen nicht zu erwarten hatten. Nur
die Krumen von der Tafel der früheren reichen Expeditionen
ſollten wir ſammeln. Unſere Rolle war darum in etwas der
vergleichbar, die der kleine Polarfuchs ſpielt, der überall an den
S
Warmn 55
Einleitung. 7
Küſten der Arktis den Fußtapfen des mächtigen Eisbären folgt,
in der Hoffnung, etwas Gutes möchte auch für ihn übrigbleiben.
Und doch war unſere Aufgabe keineswegs undankbar, denn
uns war es beſchieden, die Steine zu heben, die andere hatten
liegen laſſen!
Die Strecke, die wir von unſerm Stützpunkt in Thule bis zum
Sherard-Osborne- Fjord zurückzulegen hatten, maß 1000 Kilo⸗
meter. Unjere Vorgänger, deren Schiffe in der Lady⸗Franklin⸗
Bai und bei Kap Sheridan überwinterten, hatten nur 300 Kilo-
maeeter zu marſchieren. Für die angegebene Entfernung hatten wir ge⸗
mnmuügend Proviant mit, aber dann mußte die Jagd die Nahrung liefern.
Die Erfahrungen, die ich 1912 auf der erſten Thule⸗Expedition
gewonnen hatte, gaben mir das Recht, einen ſolchen Plan als
wohlbegründet anzuſehen. Vor allem rechnete ich auf die Moſchus⸗
2 ogchſenjagd, die man in den ausgedehnten Landſtrecken erwarten
sæ durfte, die auf den amerikaniſchen Karten rund um die Fjorde
und an ihrem Innenende erſcheinen. Außerdem gab es auch See-
hunde. Die Polareskimos, die auf den Expeditionen Pearys die
Fiaiordmündungen überſchritten hatten, berichteten mir, das Eis
ſei hier von folder Beſchaffenheit, daß man im Juni und
JaJuli mit Sicherheit auf Seehunde rechnen dürfe; Atemlöcher ſeien
nicht ſelten beobachtet worden. Dieſe Mitteilungen in Verbindung
mit meinen eigenen Erfahrungen aus dem Independencefjord,
wo wir in einer ähnlichen geographiſchen Lage viele Seehunde
gefunden hatten, veranlaßten mich ſchließlich zu meinem Entſchluß.
Die Gefahr, die man auf ſolchen Jagdexpeditionen läuft,
tand mir klar vor Augen. Aber wenn man ſich auf eine Reiſe
begibt, beſchäftigen ſich die Gedanken niemals mit den möglichen
Geefahren. Jeder Polarreiſende kennt das Riſiko, wenn er ſein
Heim verläßt, um den Fuß auf unbekannte Ufer zu ſetzen. So
war es auch bei uns der Fall. Alle meine Kameraden begrüßten
meine Pläne voll Begeiſterung, und jeder von ihnen war einzig
É und allein erfüllt von dem einen Gedanken an den ſicheren Erfolg.
Knud Nas muſſen.
DE
K-FAREWELL| 49°
— — |
Der Schauplatz der II. Thule Expedition.
Er ſtes Kapitel.
Leben und Geſchichte der Polareskimos.
Die erſte Entdeckung.
5 m nördlichſten von allen Erdenbewohnern leben die Polar⸗
: A eskimos, deren geniale und einfache Jagdmethoden ihr rauhes
und kahles Land in eine von den Weltoaſen verwandelt haben,
wo wirklich glückliche Menſchen hauſen.
Der erſte hiſtoriſche Bericht, den wir von ihrem Land haben,
ſtammt aus dem Jahr 1616, als es von Baffin entdeckt wurde.
Baffin ſah jedoch dort keine Menſchen, und erſt im Jahr 1818
kam James Roß in Verbindung mit einem Eskimovolk, von dem
man bisher nie etwas gehört hatte. 5
Noch jetzt lebt in dem Stamm eine dunkle Erinnerung an die
Prophezeiung einer Frau namens Möwe, die vorausgeſagt hatte,
vom Meer her werde ein großes Boot mit hohen Maſten erſcheinen.
Und ganz richtig, an einem Sommertag, als das Wintereis eben
aufgebrochen war und das ſteile Kap Vork nur durch einen
ſchmalen Eisſtreifen vom Meer getrennt dalag, kam ein Schiff
und legte an der Eiskante an. Es war ein Wunder von Scharf⸗
ſinn, eine ganze Inſel aus Holz, die fig mit Flügeln über das
Meer hin bewegte und viele Häuſer und Räume in der Tiefe
hatte, die mit lärmenden Menſchen erfüllt waren. Kleine Boote
hingen an den Seiten, und als dieſe mit Männern beſetzt ins
Waſſer gelaſſen wurden und das Schiff umgaben, ſah es aus, als
habe das Ungeheuer lebendige Junge geboren.
Dieſer Beſuch erweckte zunächſt große Angſt und Entſetzen, aber
dann viel Freude. Man wollte nicht glauben, daß die weißen
Männer richtige Menſchen wären. Man nahm vielmehr an, es
ſeien Geiſter der Luft, die zu den „Inuits“ herabgeſchwebt waren.
Das Schiff blieb nur kurze Zeit liegen, dann ſtach es wieder in
10 Erſtes Kapitel.
See; ſeine weißen Flügel glänzten in der Sonne, und bald war es
wieder am Horizont verſchwunden.
Roß' Erſcheinen bei den freundlichen, unvorbereiteten Eslimos :
war wohlgeeignet, Aufſehen zu erregen, und ich will deshalb die
obige phantaſievolle Schilderung durch einen kurzen Bericht aus
dem Reiſebericht der Expedition ergänzen.
Es wird erzählt, man habe, während das Schiff an der Eis
kante lag, plötzlich zum großen Erſtaunen aller an Bord Befind⸗
lichen draußen auf dem Eis menſchenähnliche Geſchöpfe erblickt;
ſie waren in Tierfelle gekleidet, trugen langes ſchwarzes Haar
und liefen unter merkwürdigen Bewegungen neben ihren Hunde⸗
ſchlitten her. Sie waren dem Schiff ſchon ganz nahegekommen,
als plötzlich ein Manöver mit den großen weißen Segeln vor⸗
genommen wurde; dies hatte zur Folge, daß ſie augenblicklich
kehrtmachten und, anſcheinend von Schrecken gepackt, nach dem
Lande flüchteten.
Nun vergingen ein paar Tage, in denen man vom Schiff aus
alle erdenklichen Anſtrengungen machte, um mit den Eskimos in
Verbindung zu kommen; aber ohne Erfolg. In ſeiner Verzweif⸗
lung darüber ließ Roß ſchließlich auf einem Eisberg mitten zwiſchen
Küſte und Schiff eine hohe Stange mit einer Flagge errichten,
auf die Sonne und Mond gemalt waren über einer Hand, die
eine Heidepflanze hielt. An die Stange wurde außerdem ein
Beutel mit Geſchenken gehängt.
Leider fiel dieſe Liſt nicht auf guten Boden. Waren die Es⸗
kimos vorher ſchon ängſtlich geweſen, ſo gerieten ſie nun ganz in
Schrecken über dieſe geheimnisvolle Stange mit der flatternden
Fahne, hinter der ſie irgendeine gefährliche Kriegsliſt vermuteten.
Neugierig umkreiſten ſie ſie einige Zeit, aber als ſie ſich die merk⸗
würdigen Zeichen und die freundlich vorgeſtreckte Hand genügend
angeſehen hatten, verſchwanden ſie wieder eiligſt nach dem Land.
Da dieſer Verſuch mißglückt war, heißte man am großen Maſt
des Schiffes eine weiße Flagge, und gleichzeitig wurde der unter
der Mannſchaft befindliche Grönländer Sachäus mit einer kleinen
weißen Flagge in der Hand aufs Eis hinausgeſchickt. Die Es⸗
kimos ſchienen jedoch kein Verſtändnis für die freundlichen Ab⸗
ſichten dieſer Maßnahmen zu beſitzen, und man würde möglicher⸗
weiſe noch andere ſchlaue Experimente gemacht haben, die ſie nur
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d eee eee .
2 2 7 iz 8 N . be.
Leben und Geſchichte der Polareskimos. i 11
noch mehr verwirrt und erſchreckt hätten, wenn ſich nicht Sachäus
als Herr der Lage gezeigt und Roß um die Erlaubnis gebeten
hätte, allein und unbewaffnet zu ſeinen Stammesgenoſſen zu gehen.
Auf dieſe Weiſe gelang es endlich, die Verbindung herzuſtellen.
Die große Begegnung zwiſchen den Polareskimos und dem
ar Südgrönländer fand an einer großen Rinne im Eis ſtatt, fo daß
zwiſchen beiden für alle Fälle ein natürliches Hindernis lag.
Nicht ohne Mühe konnte Sachäus ihnen klarmachen, daß es
friedliche Leute ſeien, die zu ihnen kämen. Die Eskimos waren
Er gerade dabei einzuwilligen, ihm an Bord zu folgen, da zeigte ſich
Roß in feinem Eifer, mit den merkwürdigen Menſchen zuſammen⸗
zutreffen, plötzlich in voller Offiziersgala auf dem Eiſe. Dieſe
pPhantaſtiſche Erſcheinung eines Menſchen hätte die Eskimos bei-
nahe wieder verſcheucht. Aber da die Freundſchaft mit Sachäus
nun einmal eingeleitet war, und nachdem man den erſtaunten
Wilden erklärt hatte, die merkwürdige Tracht ſei nur ein
äußerliches Zeichen dafür, daß der große Mann der Herr über
Se alle die weißen Männer ſei, ließen fie ſich beruhigen und kamen
an Bord.
Es gereicht den Eskimos in hohem Grad zum Ruhm, daß ſie
ſich trotz all des Unverſtändlichen, das fie ſahen, doch an Bord
und in die Kajüte des Chefs hineinlocken ließen, und daß ſie auf
die vielen Fragen, die an ſie gerichtet wurden, kluge und würdige
Antworten gaben, die Sachäus verdolmetſchte. Man mag ſich
vorſtellen, welchen Eindruck es auf ſie gemacht haben muß, als
man, vermutlich um fie zu amüſieren, ein grunzendes ſchottiſches
Schwein auf Deck losließ, auf dieſe Menſchen, die nur gewöhnt
waren, es mit wilden Tieren zu tun zu haben! Oder als
man eine Taſchenſpielervorſtellung vor ihnen veranſtaltete und
ſſie ſich in einem Hohlſpiegel betrachten ließ.
Roß faßt ſeine Eindrücke in den beachtenswerten Worten zu⸗
ſammen, daß ſie alle mit Liebe voneinander und von ihrer
kg = Familie ſprechen und daß fie im ganzen ein glückliches Leben
zu führen ſcheinen, ohne Kenntnis von Krankheit und Krieg.
= * *
* Ex
Schon als Kind hatte ich in Grönland von den Polar⸗
eskimos viel gehört, aber meiſt waren es uralte Sagen von wilden
Menſchenfreſſern und gefährlichen Jägern, die hoch oben in der
12 Erftes Kapitel,
Heimat des Nordwindes „ganz am Ende der Welt" wohnten,
wo immer Nacht herrſcht und wo kein Sommer das Eis des
Meeres zum Schmelzen bringt.
„Dieſe Menſchen muß ich kennenlernen“, war mein Ent⸗
ſchluß als zwölfjähriger Knabe, und dieſer Entſchluß, von dem
ich mich auch ſpäter nicht losmachen konnte, hat dazu geführt,
daß ich nach wiederholtem Aufenthalt unter ihnen, ſozuſagen
als einer der ihren, als Freund und Jagdkamerad, in ihren Stamm
aufgenommen worden bin.
Es gibt keinen Jäger unter ihnen, mit dem ich nicht zuſammen
gejagt hätte, und wohl kaum ein Kind, das ich nicht dem Namen
nach kennte; denn der Stamm zählt kaum mehr als 250 Köpfe.
Eskimos als Nordpolfahrer.
Dieſe Menſchen, die keine bleibende Stätte haben, ſondern
wie ihr Jagdwild auf Zügen und Wanderungen leben, ſind die
geborenen Polarfahrer. Von Kindheit an werden ſie in einer
unbarmherzigen Kälte abgehärtet, und das Beſchaffen der
Nahrung ſetzt ſie faſt täglich den gewaltigſten körperlichen An⸗
ſtrengungen und plötzlichen Gefahren aus, die die Geiſtesgegen⸗
wart ſchärfen und die Todesverachtung zu einer Selbſtverſtänd⸗
lichkeit machen; dies alles bewirkt, daß ſie als unübertreffliche
Begleiter auf Polarreiſen zu betrachten ſind.
Dieſe Erfahrung machten Kane, Hayes, Hall, Nares, Peary,
die Crockerland⸗Expedition und nicht zuletzt ich ſelbſt, und bei all
den Expeditionen der letzten 75 Jahre, die durch die oben ge⸗
nannten Namen gekennzeichnet ſind und deren Ziel die Erforſchung
und die Aufnahme der nördlichſten Teile unſerer Erde war, find
die Eskimos in verſchiedener Weiſe beteiligt geweſen und haben
ihren Einſatz gegeben, der nicht unterſchätzt werden darf.
Im folgenden werde ich namentlich bei Peary verweilen,
weil ſeine arktiſchen Reiſen einen Abſchnitt in der Geſchichte der
Polareskimos darſtellen.
Es iſt nicht wenig, was die Eskimos Peary ſchulden, aber
auf der andern Seite würde ohne die Hilfe dieſer Eskimos Pearys
Name wahrſcheinlich einen ganz andern Klang haben als heute.
Denn ſie haben ihn auf allen ſeinen Reiſen begleitet, ſie haben
Haus, Land und Familie verlaſſen und ihre ganze Exiſtenz für
— —
Leben und Geſchichte der Polareskimos. 13
die Verwirklichung der phantaſtiſchen Reiſepläne eines fremden
Mannes eingeſetzt.
Dieſer Einſatz des Lebens für die Löſung von Aufgaben,
worin ſie ſelbſt oft nur ein Kennzeichen der vielen ſonderbaren
Ideen der weißen Männer ſahen, zeigt zur Genüge, welchen Über-
fluß an Todesverachtung, welchen Uberſchuß an Mut die Eskimos
beſitzen, wenn ſie erſt einem Mann ihren Beiſtand zugeſagt haben.
Das ſind keine Leute, die den Kopf hängen laſſen und davon⸗
laufen, wenn ſie Gefahren und der ewigen Hoffnungsloſigkeit der
Eispreſſungen begegnen.
Die Eskimos ſind ein Wandervolk, das immer nach Ver⸗
änderung und Überraſchungen trachtet; ſie ſind ein Volk, das liebt
herumzuſtreifen, neue Jagdgebiete, neue Möglichkeiten und „ver⸗
borgene Dinge“ zu ſuchen.
Sie ſind geboren mit der Neigung und dem Wiſſensdurſt des
Entdeckers und ſie beſitzen alle die Eigenſchaften, deren der For⸗
ſcher unter dieſem Himmelsſtrich bedarf.
Sobald eine Eskimofamilie neues Land in Beſitz genommen
hat, kennt ſie in erſtaunlich kurzer Zeit alles Land auf Meilen
in der Runde, Wege, Richtwege, Ebenen, Berge, ja alle die ver⸗
ſchiedenen Naturumſtände, die ein Jäger kennen muß, um ſeine
Beute zu ſuchen und zu finden. Sie ſtudieren das Inlandeis und
finden bequeme Aufſtiege und Schlittenwege nach andern Küſten
und andere Möglichkeiten, und das Meer umſchließt für ſie bald
keine Geheimniſſe mehr in all den Fragen, die die Wanderungen
der Seetiere und deren Lieblingsaufenthalt betreffen.
Der Jäger liebt es überhaupt, vom Alten fortzukommen und
in die volle aufregende Spannung zu geraten, die mit dem Jagen
und Suchen unter fremden Verhältniſſen verbunden iſt. Er ver⸗
ſteht dieſe Eigenſchaften und Neigungen auch bei andern zu
ſchätzen.
Ich vergeſſe niemals die freudige Überraſchung, die es unter
den Jägern des Stammes erregte, als ich im Frühjahr 1907
mit Oſarqag bei ihnen angefahren kam und erzählte, ich ſei auf
dem Wege nach Ellesmereland. Ich hätte noch nie einen Mo⸗
ſchusochſen geſehen, und nun habe mich das Verlangen gepackt,
Moſchusochſenfleiſch zu koſten. Ihrer Meinung nach muß näm⸗
lich hinter jeder Handlung eines Menſchen ein vernünftiger Grund
14 Erſtes Kapitel.
ſtecken. — Oh, wie ſie mich da verſtanden! Sie wußten, daß 2 |
„zwei Sonnen“ her war, jeit ich mein Land und meine Heimat
verlaſſen hatte, und daß ich noch immer mit demſelben Ziel vor
Augen unterwegs war. Das flößte ihnen Achtung ein. Ich war
froh und gerührt, als der alte Geiſterbeſchwörer Maſaitſiag mich
willkommen hieß und ſeiner Freude Ausdruck gab, daß ich in
meinem Land meine alten Jagdkameraden nicht vergeſſen habe.
Dann erklärte er, daß alle jungen Jäger des Stammes wetteifern
würden, mir das Land zu zeigen, das ich noch nicht kannte, und
die Tiere, die ich noch nicht erlegt hätte. — Es geſchah, wie er
verſprochen hatte. Zwei der beſten Männer des Stammes er⸗
klärten ſofort, ſie würden mit mir gehen. Da gab es keine Be⸗
denklichkeiten, und keine Vorbereitung war notwendig; ein Eskimo
iſt immer für eine weite Reiſe gerüſtet. Schon am nächſten Mor⸗
gen begannen wir die 2000 Kilometer lange Schlittenreiſe, jagten
mehrere Monate lang zuſammen und erlebten die merkwürdigſten
Dinge. Wir reiſten miteinander wie gute Kameraden. Von einer
Bezahlung für die lange Zeit, die ſie zuſammen mit mir weit weg
von ihren Familien verbrachten, war nicht die Rede. Nein, dies
war ja nur ein Abſchnitt in ihrem Leben, und um alles in der
Welt wollten ſie nicht meine bezahlten Diener ſein.
So war es auch mit ihrer Teilnahme an Pearys Reiſen, ſo
lange ſie ſich in Gegenden bewegten, wo Land war. Intereſſant
iſt es deshalb zu ſehen, welchen Standpunkt ſie einnahmen, ſobald
die eigentlichen Nordpolreiſen begannen. — Auf den erſten Expe⸗
ditionen willigten ſie nämlich mit Freuden ein, nach Norden zu
ziehen, weil ſie meinten, die Reiſe könnte den Erfolg haben, daß
man neue Menſchen, unbekannte Jagdfelder oder doch zum Auf⸗
enthalt geeignetes Land fände. Aber ſpäter, als man ihnen klar⸗
machte, daß alle die lebensgefährlichen Anſtrengungen nur einem
geographiſchen Punkte galten, einem Ort weit draußen in dem
öden Preßeis, wo es weder Menſchen noch Wild noch Land gab,
da erſchienen ihnen die Strapazen unendlich zwecklos, und ihre
Teilnahme bekam jetzt ganz neue Beweggründe. Zum Teil war es
der Reſpekt vor Peary; man hat mir oft erzählt, daß er „ſeine
Fragen ſtellte, mit einem ſo ſtarken Willen, ſeinen Wunſch zu
erreichen, daß es unmöglich war, nein zu ſagen“; zum Teil war
es natürlich auch der Wunſch, ſich Büchſen, Holz und Meſſer als
Lehen und Geſchichte der Polareskimos. 15
Entgelt für die Teilnahme zu erwerben. Aber ihr perſönliches
A E Intereſſe für die Löſung der Aufgabe, ihr privater Ehrgeiz, vor⸗
wuärtszukommen, war jetzt ganz ausgeſchaltet. Zwanzig Jahre
hindurch hatte Peary das Gebiet der Polareskimos als Baſis
ſeiner Expeditionen benutzt, und während dieſes knappen Menſchen⸗
alters haben dieſe Eskimos den Sprung von der Steinzeit zur
Gegenwart mit ihrer techniſchen Kultur gemacht.
Als Peary zum erſtenmal hier herauf kam, war der Stamm in
= der Hauptſache noch völlig unberührt. Gewehre kannte man faſt
gar nicht, die vornehmſte Waffe zu Land war der Bogen, zur
i See die Harpune. Lange bevor Peary ſeine letzte Reiſe abſchloß,
hatten alle Fangleute die modernſten Hinterladerwaffen unſerer
® Zeit. Die alten Meſſer, die aus Stücken Meteorſtein beſtanden, die
Fe mühſam in Renntierhaut oder Narwalzähne eingefaßt waren,
waren durch den feinſten Stahl erſetzt, und ihre Schlitten, die
früher aus Walfiſchknochen verfertigt waren, die man mit großer
Kunſtfertigkeit zu Kufen zuſammengebunden hatte, beſtanden jetzt
aus feinſtem Eſchen⸗ und Eichenholz.
Sicherlich gab es lange vor Pearys Ankunft einen lebhaften
Tauſchhandel mit den ſchottiſchen Walfängern, aber etwas wie
eeine Büchſe war doch eine große Seltenheit. Der Handel mit
den Walfängern ſcheint überhaupt mehr vom Zufall abhängig
geweſen zu ſein, und man muß daher zugeſtehen, daß Peary den
Stamm auf ſeine jetzige Stufe im Gebiet des Erwerbslebens ge⸗
hoben hat. Vor der Einführung der modernen Waffen war es
ſelbſtverſtändlich, daß die Polareskimos den Launen der ver⸗
ſchiedenen Jahre im allerhöchſten Grade unterworfen waren.
Ihre eigenen primitiven Waffen waren ſchöne, zweckmäßige Er-
findungen, aber ihr Gebrauch war eine Kunſt, und wenn Wetter⸗
unnd Eisverhältniſſe oder der Zug der Jagdtiere ungünſtig aus-
fielen, ſo geſchah es daher nicht ſelten, daß ſchlimme Winter kamen,
in denen es ſchwer fiel, ſich durchzuſchlagen. Peary führte den
Verſtand des weißen Mannes in ihr Erwerbsleben ein, und
damit geſchah ſelbſtverſtändlich ein ganz außergewöhnlicher Fort⸗
ſchritt in ihrem materiellen Daſein.
Aber die Eskimos vergaßen nicht, Peary zu vergelten, was fie
glaubten, ihm ſchuldig zu ſein. Auf ſeinen beiden letzten Reiſen
nach dem Nordpol folgten ihm nicht weniger als 70 bis 80
16 Erſtes Kapitel.
Eskimos, Männer, Frauen und Kinder, ſowie mehrere hundert
Hunde auf der „Rooſevelt“ nach der Nordſpitze von Grantland;
es waren die beſten jungen Männer des Stammes. Kann man ſich
im Grunde vorſtellen, daß ein Volk ein ernſteres und umfang⸗
reicheres Opfer für die wiſſenſchaftliche Forſchung bringt als hier,
wo es ihr alle ſeine beſten Kräfte zur Verfügung ſtellte?
Aber Peary beſaß auch ſelbſt Eigenſchaften, die es ihm er⸗
möglichten, ein ſolches Abkommen mit ſeinen Helfern zu treffen.
Seine große perſönliche Ausdauer, ſeine oft erprobte Furchtloſig⸗
keit, ſeine Begabung, Jahr für Jahr ſolche Anordnungen zu
treffen, daß ein guter Ausgang geſichert war, erregte die vorbe⸗
haltloſe Bewunderung der Eskimos. Mit einem Mann wie Peary
etwas zu wagen, erſchien ihnen als Spaß, mit dem großen Peary
mit ſeinem ſtarken Willen, dem mächtigen Herrn mit dem uner⸗
ſchöpflichen Reichtum, mit Piulerſſuag, der beim Stamm ſicher
einſt einen Sagenkreis um ſich bilden wird.
Bei meinem Verkehr mit den Polareskimos habe ich oft Ge⸗
legenheit gehabt, ſie von ihm erzählen zu hören, und immer ſind
ſie bei ihren Berichten voll Anerkennung und Stolz, daß ſie mit
ihm geweſen ſind, wenn man auch oft das Gefühl hat, daß der
Reſpekt vor ihm größer war als die Liebe. Ich will hier einen
kleinen Zug wiedergeben, den mir der junge Odag erzählte, der
an allen Nordpolreiſen Pearys teilgenommen hatte.
Es war im Jahr 1906, dem Jahr, als Peary 87° 14 er⸗
reichte und einen vorläufigen Rekord für den nördlichſten
Punkt aufſtellte. Sechs Eskimos begleiteten ihn; dieſe hatten
ihm ſchon mehrere Tage zugeſetzt, fie müßten jetzt umkehren,
wenn ſie nicht alle auf dem Rückweg verhungern wollten.
Aber Peary blieb hartnäckig dabei, ſie müßten noch einige Zeit
aushalten. Sie hatten viel Mißgeſchick gehabt. Offenes Waſſer
hatte fie aufgehalten, fürchterliche Schneeſtürme in beißender
Kälte hatten alles Vorwärtskommen verboten; aber ſo oft das
Wetter ſich nur ein wenig beſſerte, war Peary, wie Odag erzählte,
ſofort aus der Schneehütte herausgeeilt und hatte ſich auf den
Weg nach Norden gemacht, immer nach Norden durch das be⸗
rüchtigte Preßeis ſich durchſchlagend, den Weg für die Schlitten
und die erſchöpften Hunde bahnend, die von den Eskimos ge⸗
trieben nachkamen. Peary war ununterbrochen unterwegs, lang⸗
Rasmuſſen.
Eskimos auf Beſuch.
Schlittenfähre bei Aperniwik.
Leben und Geſchichte der Polareskimos. 17
ſam gegen den Sturm ankämpfend, während die Schlitten hinter
ihm herkrochen. An einem Abend nach einem folden Tage war
es, als die Sehnſucht nach Land, nach Frau und Kindern und
nach der köſtlichen Jagdbeute weit unten im Süden die jungen
Jäger ſo mächtig ergriff, daß ſie in ihrer verzweifelten Fahrt
nach Norden nur noch Tod und Untergang ſahen. Sie hatten
nicht viel davon geſprochen, aber Odag meinte, ſie hätten einander
ſo ſeltſam angeſehen, und es ſei ihm aufgefallen, daß ſie ſich nicht
recht getrauten, das Wort Land auszuſprechen. Dann hatte er es
gt nicht länger aushalten können, und er war in die Schneehütte ge-
SE gangen, wo Peary lag und ſchlief, und hier hatte er geſagt:
ich komme, um mit dir wegen des Schicksals meiner
Kameraden zu ſprechen; denn jetzt bedeutet ein weiteres Vor⸗
dringen Tod für uns alle zuſammen, und ich weiß ja, daß du
nicht umkehren willſt. Schicke meine Kameraden zurück. Sie
werden mit Hilfe des Kompaſſes ſchon Land finden können. Dann
will ich mit dir zuſammen weiterreiſen, damit du nicht allein
e dolltt.“
Odag fuhr fort:
„Da blickte Peary mich ſo ſeltſam betrübt an, und es kam
in i mir vor, als ob zum erſtenmal, ſolange ich mit ihm gereilt war,
in ſeinen ſtrengen Augen ein gütiger Ausdruck läge, und indem
er mir auf die Schulter ſchlug zum Zeichen, daß er mich ver⸗
ſtſtanden habe, erwiderte er: Ich bin froh über deine Worte,
. Odag, aber es iſt nicht notwendig, morgen kehren wir um; denn
ſſieh, Odaa, auch ich will jetzt noch nicht ſterben, weil ich ein
andermal das Ziel erreichen will, das ich jetzt aufgeben muß.“
Dieſe kleine Epiſode ſcheint mir Pearn ebenſo zu charakteriſieren
wie den jungen Bärenjäger, der nicht davor zurückſchreckte, fein
Leben für die hohen Pläne feines Herrn zu opfern.
Übrigens hört man durchaus nicht nur ernſte Dinge von ihnen,
und nichts war unterhaltender für mich während der vielen Un-
f wettertage im Sommer und Winter, als den Berichten der
Eskimos von Not und Gefahr zu lauſchen, die jetzt in der
Erinnerung immer auf eitel Vergnügen hinausliefen. Å
„Ach ja, das war damals, als wir gezwungen waren, unjere
a Bunde weit vom Lande entfernt mitten auf dem Eis draußen roh
zu eſſen, während unſere gewaltigen Fleiſchvorräte zu sne an
Rasmuſſen.
18 Erſtes Kapitel.
unſern Wohnplätzen verfaulten.“ Derartige kleine Schlußbemer⸗
kungen ſchließen ihre ganze launige Selbſtironie ein; denn für
einen Eskimo wird es immer etwas ungeheuer Lächerliches ſein,
daß man ſich vom Land weg ins kalte Preßeis des Polarmeeres
hinauslocken läßt, nur um ſich vorwärtszuſchlagen, ſtändig den
Tod in der gewaltigen, weißen, alles Lebens baren Wüſte vor
Augen. i
Wie bezeichnend iſt es für den Freiluftgeiſt des Eskimos, für
ſeine Jägernatur und ſeinen unbeugſamen Ehrgeiz, daß ein Mann,
der ſeine Leiden bei den Strapazen einer Reiſe als etwas Sen⸗
ſationelles auffaßte, ſich unter ſeinen Landsleuten ſofort lächerlich
machen würde. Nein, hat man ſich einmal in das Zufallsſpiel
einer Reiſe begeben, ſo hat man alles, was ſich ereignet, als Mann
zu nehmen, das will ſagen, mit einem breiten Lächeln. Ich habe
alte Eskimos von lebensgefährlichen Lagen erzählen hören, und
die Zuhörer bogen ſich vor Lachen. :
Wir hochentwickelten Kulturmenſchen ſtoßen hier bei den
Naturvölkern, die wir ſonſt mit unſerer ganzen gnädigen Über⸗
legenheit beehren, auf eine rätſelhafte, humorvolle Todesver⸗
achtung, in der die Begriffe Gefahr und Komik beinahe zuſammen⸗
fallen. Man beachte zum Beiſpiel, wie ein paar Familien,
die bei der vorletzten Expedition Pearys an den großen Seen
bei Fort Conger zurückgeblieben waren, den langen Weg nach
Hauſe bis züm Kap⸗York⸗-Diſtrikt zurücklegten.
Mit Geſpannen von zwei und drei Hunden, ohne Reiſepro⸗
viant, brachten die Männer ihre Frauen und Kinder den faſt 1000
Kilometer langen Weg ſüdwärts erſt über den Kennedykanal nach
dem Land nördlich des Humboldtgletſchers, und dann an Glet⸗
ſchern und Land entlang, immer wie Raubtiere um ihre Nahrung
kämpfend. Ein paar Frauen hatten neugeborene Kinder im Ruck⸗
ſack, andere waren im vorgeſchrittenen Stadium der Schwanger⸗
ſchaft, wieder andere gebaren Kinder, während ſie Schritt für
Schritt auf dem gefährlichen, mühſamen Weg vorwärts wanderten,
die Schlitten ſtoßend und ziehend, bis zu ihren Wohnplätzen.
Und ſie kamen an, völlig unberührt von dem Kampf ums
Leben, überſprudelnd von guter Laune wie nie zuvor, ſtrotzend
von Geſundheit bis zum jüngſten Säugling.
Aber jeder, der die Karte anſieht, wird verſtehen, welche
Leben und Geſchichte der Polareskimos. 19
hervorragende Tat dieſe Familien vollbracht haben. Hier hat die
Jägerſchlauheit der Eskimoraſſe und ihre kräftige Konſtitution
einen ihrer ſchönſten Triumphe gefeiert. Es iſt dies ein Blatt
in der Geſchichte der Nordpolreiſen, das auch der kennen ſollte,
der den Nordpol nur vom Hörenjagen kennt.
Es war im Jahr 1907. Ich kam damals mit zwei Eskimos
von Ellesmereland her, als wir in der Nähe von Kap Inglefield
auf eine Schlittenſpur ſtießen. Wir waren nicht einen Augenblick im
Zweifel, daß fie von der Nachhut des großen Heeres Pearys
ſtammen mußte, das im Angriff auf den Nordpol war. Ihr
Schickſal war den ganzen Winter hindurch das Geſprächsthema
ihrer Stammesgenoſſen geweſen. Wir hatten zwei Spuren vor
uns; die eine rührte von einem Geſpann von vier Hunden her,
die andere von drei Hunden, und es war deutlich zu ſehen, daß
die Hunde ganz erſchöpft waren, denn keiner von den Reiſenden
hatte auf dem Schlitten ſitzen können. Wir ſtellten die Spuren
von zwei Männern und zwei Frauen feſt, und zwiſchen ihnen
LE ſahen wir winzig kleine Eindrücke von Kinderfüßen. Die Kinder
konnten höchſtens 5 oder 6 Jahre alt ſein. Die Spuren kamen vom
Humboldtgletſcher herunter und wieſen nach Etah hinab.
i „Sieh, die Kleinen haben den weiten, weiten Weg gehen
müſſen“, ſagte einer der Eskimos, als er die kleinen Spuren fab.
„Unſere Frauen gebären ſtarke Kinder!“ rief der andere,
indem er im Lauf die Spuren unterſuchte.
Wir beſchloſſen ſogleich, umzuwenden und zum Wohnplatz bei
Anoritog zu fahren, da doch die Möglichkeit beſtand, daß noch
mehr unterwegs und in der Nähe wären. Man konnte nicht
ahnen, was dieſe Menſchen durchgemacht hatten und in welcher
Verfaſſung ſie waren. In größter Spannung erreichten wir unſer
Ziel. Nein, keine Menſchenſeele. Wir kehrten alſo wieder um und
fuhren nach Etah, dort endlich trafen wir ſie: zwei Familien,
Odag mit Frau, einem kleinen fünfjährigen Sohn und einem
Säugling; Agpalinguag mit Frau, einer kleinen Tochter und
einem neugeborenen Kind.
Dieſe Polarfahrer ſahen alle aus wie Leute, die von einer
kleinen Vergnügungsreiſe kamen, wohlgenährt und ſtrahlend vor
Geſundheit. Die Frauen und die Kleinen kamen ganz ſicher eben
von einer Fußtour von etwa 1000 Kilometer, die Mütter
2 *
20 Erſtes Kapitel.
mit den kleinen Kindern auf dem Rücken, und alle waren ſie über
einen Monat eine Beute der Kälte und der fegenden Schneeſtürme
draußen auf dem Eis geweſen. Und wenn es irgendwo ſtürmt in
Grönland, dann iſt es unterhalb des Humboldtgletſchers; dort
herrſcht ein Wind, der beißen kann. Noch acht Familien waren
unterwegs. Zwei Schlitten waren etwas zurückgeblieben, weil die
Frauen, die mit waren, unterwegs Kinder bekommen hatten. und
dies alles erzählten ſie ruhig und ohne alle Aufregung.
Nie habe ich mich als Polarfahrer ſo klein gefühlt wie gegen⸗
über dieſen Frauen, die mit Säuglingen an der Bruſt Reiſen
unternahmen, die manch einem weißen Mann das Leben ge⸗
koſtet hätten.
Der Kampf um die Nahrung.
Die rauhe Natur, die den Polareskimo in einen ruheloſen
Kampf ums Daſein hineinzwingt, lehrt ihn raſch, das Leben
von der praktiſchen Seite zu nehmen, mit anderen Worten:
Zum Leben brauche ich vor allem Nahrung! Und da er ſo glück⸗
lich geſtellt iſt, daß ſeine Form des Nahrungserwerbs, die Jagd,
zugleich ſeine größte Leidenſchaft iſt, ſo kann man mit Recht
ſagen, daß er ein glückliches Leben führt, zufrieden mit dem Los,
das ihm das Schickſal gab. Er wird mit den Eigenſchaften ge⸗
boren, die für ſeinen Erwerb erforderlich ſind, und die Fertigkeit
im Gebrauch der Geräte, die ihn ſpäter zum Meiſter machen,
erreicht er im Spiel, während er heranwächſt. Kommt dann der
Tag, da ſeine Kräfte ſich mit denen der Erwachſenen meſſen
können, dann nimmt er ſich ein Weib und tritt damit in die Reihe
der Jäger ein.
Der Schlitten und das Kajak ſind nun die Haupt
worauf ſein ganzer Erwerb ſich aufbaut. Aber während der
Schlitten bei jeder Art Fang zehn Monate im Jahre benutzt
wird, läßt das ſtrenge Klima des Landes die Verwendung des
Kajaks nur eine ganz kurze Zeit zu; denn der Sommer dauert
nicht länger als von Ende Juli bis in die erſten Tage des
September. |
Als Kajakruderer kann ſich der Polareskimo mit feinen füd-
grönländiſchen Stammesfreunden nicht meſſen. Sein Kajak iſt groß
Leben und Geſchichte der Polareskimos. 21
und plump und verträgt keinen Seegang, da ſeiner Ausrüſtung
der Ganz⸗ und der Halbpelz fehlt, der zur Bedeckung des Mann⸗
lochs dient, es kann alſo nicht bei jedem Wetter ohne Gefahr
zu ſinken ausfahren.
Das Meer iſt indeſſen in der Regel mit Eisſchollen erfüllt,
die den Wellengang dämpfen, und die Gelegenheit, in der Dünung
zu rudern, iſt nicht zu oft gegeben.
Die Hauptwaffe des Kajaks iſt die Harpune mit Fangleine
und Blaſe; was ihm an Seetüchtigkeit fehlt, wird durch die ver⸗
blüffende Geſchicklichkeit erſetzt, mit der es der Polareskimo ver⸗
ſteht, ſeiner Beute auf den Leib zu rücken, ſo daß er ſie ohne
Wurfholz mit Leichtigkeit aus größter Nähe harpuniert.
Die Tiere, die vom Kajak aus gejagt werden, ſind: Walroſſe,
Narwale, Weißwale, bärtige Seehunde und gewöhnliche Yiord-
ſeehunde.
Außer der Jagd auf Seetiere wird auch die Vogeljagd im
großen Stil betrieben; denn die ganze Küſte von Kap Melville
bis nach Etah hinauf iſt mit wenigen Unterbrechungen der Brut⸗
platz für Millionen von Krabbentauchern, die in ſo großen Maſſen
auftreten, daß ſie mit Leichtigkeit aus Verſtecken zwiſchen den
Steinen mit Keſchern gefangen werden können.
Der Krabbentaucher iſt ein kleiner Alk ungefähr von der Größe
eines Stars. Die Tiere halten ſich in der Regel auf Bergen auf,
die aufs Meer hinausgehen, und hier ſammeln ſie ſich in ungeheueren
ſchwimmenden Flotten, ſich tummelnd und nach kleinen Krabben
tauchend, die ihre Nahrung bilden. Ihre Brutplätze haben ſie
auf gleichmäßig anſteigenden Bergabhängen, wo ſie alle Stein⸗
haufen lebendig machen. Sie ſitzen hier in dichten Schwärmen
And bedecken das Geſtein. Ihr ſingendes Zirpen und fröhliches
Pfeifen ſammelt ſich zu einem einzigen, mächtigen Ton, der die
ganze Landſchaft zum Klingen bringt, und wenn dieſe Scharen
einmal auffliegen, fegen ſie über Land und Meer wie ein Un⸗
wetter.
| Dieſer kleine Vogel ſpielt eine große Rolle im Haushalt des
Eskimos; denn jeder, der ein wenig Energie beſitzt, kann ſich einen
Wintervorrat ſammeln, der für die ganze Polarnacht ausreicht.
Außerdem kann man aus den kleinen weichen Bälgen Unterkleider
anfertigen, die, auf dem bloßen Körper getragen, weich und warm ſind.
22 | Erftes Kapitel.
Außer den Krabbentaucherbergen gibt es drei große Alken⸗
berge, zwei an der Parker⸗Snow⸗Bai und einen an der Saunders⸗
inſel. Große Mengen von Alken, Möwen, Lummen und Sturm⸗
vögeln ſchwärmen hier auf den Leiſten in den ſteilen Abſtürzen,
und namentlich die fleiſchigen Alke werden hundertweiſe mit Netzen
gefangen und für die dunkle Zeit aufbewahrt (1. Oktober bis
1. Februar).
Schließlich liefert der Eidervogel in einzelnen Diſtrikten einen
willkommenen Beitrag zum Haushalt im Sommer und im Herbſt.
Der große Reichtum an Krabbentauchern, von dem die Rede
war, hat noch einen andern Nutzen. Dieſe Vögel locken viel Blau⸗
füchſe heran, die ſich an den Brutplätzen ihre Nahrung ſuchen,
nicht nur im Sommer, ſondern zum großen Teil auch im Winter;
denn der ſchlaue Fuchs denkt nicht allein an das Heute, ſondern
legt Depots für den Winter an, namentlich in der Legezeit und in
der Zeit, in der die Jungen noch nicht flügge ſind. Beim Be⸗
ſuch der Felſen ſieht man nicht ſelten einen Fuchs vorſichtig mit
Eiern im Maul daherkommen, und wenn man ihm folgt, ent⸗
deckt man recht bedeutende Lager, die er mit Moos und Torf⸗
ſtücken bedeckt.
Dieſe Füchſe wurden früher in verſchieden gebauten Fallen
gefangen; jetzt fängt man ſie in ſtählernen amerikaniſchen Fallen.
Nach dieſer Überſicht über die Ausſichten im Sommer will
ich auch kurz über die Winterjagd berichten.
Schon Ende September überziehen ſich Fjorde und Buchten
mit Eis, und im Oktober beginnt die Jagd auf dem Eis. Liegt
das Eis einige Zeit ſchneefrei, ſo wird auf dem Glatteis ein
reicher Seehundfang betrieben. Der Jäger bindet ein Stück Bären⸗
fell unter ſeine Füße und gleitet ſo ganz lautlos über das Eis, nur
hier und da bleibt er ſtehen, um zu lauſchen; denn er nähert ſich
den Seehunden ausſchließlich mit Hilfe des Gehörs. Wenn die
Seehunde heraufkommen, um Luft zu holen, puſten ſie Jo laut
durch das Luftloch im Eis, daß man es auf beträchtliche Ent⸗
fernung hört. Der Jäger geht nun dem Laut nach, indem er ſorg⸗
fältig darauf achtet, ſich nur zu bewegen, ſolange der Seehund
atmet. Sobald dieſer innehält, bleibt der Jäger ſofort ſtehen,
da der Seehund ihn ſonſt hören würde. Der Seehund hält ſich
in der Regel lange an ſeinem Luftloch auf, um ſoviel Luft wie
Leben und Geſchichte der Polareskimos. 23
möglich in ſeine Lungen aufzunehmen, ehe er wieder in die Tiefe
taucht. Dadurch bekommt der Jäger während des Atemholens
Zeit, dicht an das Luftloch heranzukommen. Der Seehund wird
mit großem Geſchick durch eine kleine Offnung harpuniert, die
nicht größer iſt, als daß die Spitze der Harpune gerade durch—
geht. Man begreift, daß der Jäger mit großer Sicherheit zielen
muß. So ſcharf ſind die Sinne des Eskimos, daß er ſelbſt nachts
in der Lage ilt, feine Beute aufzuſpüren und ſie im Mondſchein
zu töten.
Dieſe Weiſe, Fjordſeehunde und bärtige Seehunde zu fangen,
liefert nur kurze Zeit einen reichen Ertrag, gilt aber für eine der
unterhaltendſten Arten der Fängerei.
Bei Neueis werden an verſchiedenen Stellen Walroſſe ge⸗
fangen. Es iſt dabei gleichgültig, ob Schnee fällt oder nicht,
da dieſe großen Tiere nicht ſo feine Sinne haben wie die See⸗
hunde.
Im November iſt das Eis zwiſchen der Saunders⸗ und der
Wolſtenholme⸗Inſel nicht dicker, als daß das Walroß es mit
ſeinem Schädel durchſtoßen kann, wenn es bei ſeiner Suche nach
Muſcheln heraufkommt, um Atem zu holen. Die Eskimos
ſchleichen ſich dann heran, während es Luft ſchöpft, und ſobald es
harpuniert iſt, wird die Fangleine blitzſchnell im Eis feſtgemacht.
Jetzt iſt das Walroß gefeſſelt und es muß, ſo oft es Luft ſchöpfen
will, ſtets zum ſelben Luftloch zurückkehren; es wird dann mit
Lanzen getötet.
Im Herbſt ſind die Walroſſe fett und fleiſchig, und der Fang
gibt daher eine Ausbeute, die weſentlich mehr Ertrag bringt als
die kleinen Seehunde; das bedeutet etwas in einer Haushaltung,
wo der Erwerb zum größten Teil des Winters ſo gut wie
darniederliegt, und wo nicht bloß die Menſchen ſatt werden
ſollen, ſondern auch die Schlittenhunde, von denen ein einzelner
Mann bis zu zwanzig Stück beſitzt.
Die Jagd, die der Eskimo höher als alle anderen ſchätzt,
bleibt die Bärenjagd. Ich richtete einmal folgende Frage an einen
alten Mann: 5
„Sage mir mal, was hältſt du für die größte Freude in
deinem Leben?“ Er antwortete: „Eine friſche Bärenſpur zu kreu⸗
zen und allen andern Schlitten voraus zu ſein.“
24 Erſtes Kapitel.
Kaum ſind Sonne und Licht zurückgekehrt, ſo ziehen die
Männer, die Fleiſch genug haben, um ihre Frauen und Kinder
allein zu laſſen, oft für Monate auf die Bärenjagd aus, der
Kälte und jeder Art von Wetter trotzend und mit Schneewehen
als Lagerplätzen vorlieb nehmend. Die Südgrenze für dieſe Bären⸗
jagden reicht bis Kap Holm hinab, während man im Norden
häufig den Humboldtgletſcher paſſiert. Schließlich gibt es auch
viele, die über den Smithſund von Anoritog zur Piminſel
überſetzen und der Küſte von Ellesmereland faſt hinab bis zum
Jonesſund folgen. Hier kann man Greiſe ſehen mit weißem
Haar, Männer, die in ihrem Jägerleben alles erlebt haben, was
die Natur ihnen bieten konnte, Jäger, die längſt aufgehört haben,
ihre Taten zu zählen, junge Männer und halberwachſene Knaben;
alle ſieht man vom Jagdfieber gepackt, ſobald nur die Ausſicht
beſteht, den weißen König der Polarwüſte herauszufordern. Und
für einen einzigen Zweikampf auf Harpunen werden alle die
vielen erfolgloſen und ſchweren Strapazen vergeſſen, die dieſem
großen Augenblick vorausgingen.
Ah, eine Bärenſpur, weit vorn ein kleiner gelber Punkt in dem
weißen Schnee, und dann gute Bärenhunde, die wie das Un
wetter über das Eis hinſauſen können, ſo daß man alle andern
überholt, das iſt einer der Höhepunkte des Lebens, von denen
jeder junge Polareskimo träumt.
* *
d
Von Mai bis Mitte Juli kommt die Zeit, in der die See⸗
hunde aufs Eis kriechen, um ſich in fauler Frühjahrsträgheit zu
ſonnen. Dann rückt ihnen der Eskimo auf den Leib und har⸗
puniert ſie, ehe ſie ſich ſo weit gefaßt haben, daß ſie erwachen
und durch ihre Luftlöcher unter das Eis gleiten. Sollte es aber
trotzdem geſchehen, daß der Schlaf zu leicht iſt und das Tier er⸗
wacht, ſo verſteht jeder Jäger die Kunſt, Laute und Bewegungen
des Seehundes ſo naturgetreu nachzuahmen, daß dieſer glaubt,
einen Kameraden vor ſich zu haben, der in Wärme und Wohl⸗
behagen daliegt und ſeinen Pelz im Schnee putzt. So täuſchend
fährt der Eskimo in ſeiner Annäherung fort, daß der aufgeſtörte
Seehund ſich raſch wieder niederlegt und ſich dem Schlaf hingibt,
aus dem er nie mehr erwachen ſoll.
Leben und Geſchichte der Polareskimos. 25
Bei dieſer Art des Fangs wurden früher ausſchließlich Har⸗
pune und Fangleine verwendet; jetzt benutzt man dagegen die
Flinte und das Schießſegel, das aus dem ſüdlichen Grönland
eingeführt iſt. Dieſes Schießſegel beſteht aus einem Stück weißen
Schirting, groß genug, um einen kriechenden Mann zu decken.
Es wird auf dem kleinen Schlitten aufgeſpannt, den man auf dem
Bauch liegend mit dem Gewehr vor ſich herſchiebt, bis man auf
Schußweite an die Beute heran iſt. j
Die Utut⸗Jagd, wie die oben geſchilderte Art Seehunde zu
fangen heißt, liefert den Grundſtock für die ſehr wichtigen Winter⸗
x vorräte, die eine ſorgenfreie Dunkelzeit gewährleiſten jollen.
Von dem Landwild hatte das Renntier vor der Zeit der
5; Peary⸗Expeditionen große Bedeutung, nicht nur wegen des
Fleiſches, ſondern auch der Felle wegen. Dieſe wurden nicht allein
90 als Pelze, ſondern auch als Decken für die Schlafbänke verwendet.
Aber leider war das Jagdgebiet nur klein, und die Eskimos waren
noch nicht lange im Beſitz der amerikaniſchen Magazingewehre, als
der ganze Beſtand ausgerottet war. Jetzt iſt es eine große Selten⸗
| i heit, daß man ein Renntier zu ſehen bekommt.
Hafen gibt es dagegen in verſchiedenen Diſtrikten reichlich. Ihr
Fleiſch gilt als Delikateſſe, und die Felle ſind unentbehrlich zur
Herſtellung der Strümpfe. Man jagt fie mit gutem Erfolg ſowohl
mit der Büchſe wie mit Schlingen.
Ein Landwild, das im eigenen Gebiet der Polareskimos nicht
vorkommt, das aber trotzdem in den letzten Jahren angefangen
hat, eine außerordentlich große Rolle zu ſpielen, iſt der Moſchus⸗
ochſe. Überall auf der Strecke vom Humboldtgletſcher bis hinab
zu den ganz ſchmalen Landſtreifen in den Bergen bei Kap York
findet man ihre Knochen. Aber kein jetzt lebender Eskimo kann
Beſcheid geben, wann die letzten Moſchusochſen hier erlegt worden
ind.
Solange es Renntiere genug gab, verachtete man die Häute
i “v2 der Moſchusochſen als Schlaffelle, da man fie unpraktiſch fand
und ſie wegen ihrer langen Haare ſchwer rein zu halten waren.
Noch heute zieht man Bärenfelle vor, die immer als die feinſten,
haltbarſten und zweckmäßigſten gelten. Aber leider iſt nicht jeder
1 ø ein großer Bärenjäger, und daher nimmt man jetzt auch mit dem
Moſchusochſen vorlieb.
26 Erſtes Kapitel.
Jedes Jahr im April und Mai zieht man daher auf große
Moſchusochſenjagden aus, am liebſten durch Ellesmereland bis
nach Heibergland. Dieſe Jagden erſtrecken ſich oft über ein paar
Monate. Man läßt ſich an den Orten nieder, wo man die Tiere
erlegt hat, um die Felle zu trocknen, und da man in jeder Jagd⸗
zeit mit etwa zwei Dutzend Jägern rechnen muß, wird man kaum
in der Annahme fehlgehen, daß jedes Jahr etwa 300 Moſchus⸗
ochſen ihr Leben laſſen müſſen. Man mag beklagen, daß dieſem
eigenartigen Großwild die Ausrottung droht, da die Eskimos
keine Selbſtbeſchränkung beſitzen. Doch iſt dieſe Zeit noch nicht
nahe; denn einzelne Herden in dieſen Gegenden zählen bis zu
200 Tieren, die einen großen Berg beleben können — ein impo⸗
nierender Anblick, den keiner vergißt, der ihn erlebt hat.
Frauen und Kleider.
Der Polareskimo beginnt und endet ſein Leben auf Reiſen.
Schon als Neugeborener begleitet er ſeine Mutter im Ruckſack.
Niemand nimmt Rückſicht darauf, was für eine Jahreszeit ilt;
oft muß das jammernde Kleine über wilde Gletſcher, durch
Dunkel und Kälte getragen werden, und meiſt endet die Tragreiſe
in einer kalten, eben errichteten Schneehütte. Kein Wunder, daß
Mann und Frau häufig von Gicht vor der Zeit gekrümmt ſind
und nicht mehr weiter können. Das ſind die natürlichen Folgen
all der Tage, die man in Schneewehen bei plötzlichen Schnee⸗
ſtürmen verbringen mußte, oder Erinnerungen an die vielen Male,
da man auf Renntierjagden oder Vogelfang vom Unwetter über⸗
raſcht wurde und wochenlang ſeine Zuflucht in einer feuchten,
kalten Felſenhöhle nehmen mußte.
Bei einem ſolchen Hintergrund iſt es verſtändlich, daß keine
Menſchen der Zweckmäßigkeit ihrer Kleidung eine ſolche Aufmerk⸗
ſamkeit geſchenkt haben wie dieſe. Das Klima ihres Landes ver⸗
langt es, und es iſt deshalb unumgängliche Hauptbedingung, daß
derjenige, der hier der Jagd obliegen will, entſprechend geklei⸗
det iſt. f
Die Aufgabe der Frau iſt es, die Kleider des Mannes zu
nähen und inſtand zu halten; ſie iſt nicht minder wichtig als die
Beſchaffung der täglichen Nahrung. Nicht umſonſt ſagt daher auch
Leben und Geſchichte der Polareskimos. 27
der Polareskimo, daß ein Mann als Jäger das ilt, was ſeine
Frau aus ihm macht. Aber die Frau weiß auch, wie hoch ihr
Einſatz vom Mann geſchätzt wird, und kein Lob kann ihr mehr
ſchmeicheln, als wenn man ihre Arbeit bewundert. Zum Glück
liefern ihr auch die Tiere mit den wärmſten Pelzen der Welt die
Stoffe für die Kleidung. Auf dem Körper wird zunächſt ein
leichtes, weiches Vogelbalghemd mit den Federn nach innen ge⸗
tragen, darüber im Frühjahr, Sommer und Herbſt ein Seehund⸗
pelz mit den Haaren nach außen. Im Winter wird dieſer ſo⸗
genannte „Netſeg“ mit einem Blaufuchspelz vertauſcht, der
ebenfalls mit den Haaren nach außen getragen wird; ſicher die
leichteſte und dabei wärmſte Kleidung, die es gibt. Als Beinkleider
benutzen die Männer Bärenfelle, eine Art Kniehoſen, die bis
unterhalb des Knies reichen. Aus hübſchen, weißen, vom Froſt
gebleichten Seehundfellen ohne Haare werden die Stiefel ange⸗
fertigt, die mit Haſenfellen gefüttert ſind. Auf langen Schlitten⸗
reiſen benutzt man auch langhaarige Stiefel aus den Vordertatzen
des Bären oder aus dem Fell von den Vorder- und Hinter⸗
beinen des Renntieres. — Die Kleidung der Frau weicht nicht
weſentlich von der des Mannes ab. Der Hauptunterſchied beſteht
darin, daß die Beinkleider aus Fuchsfellen beſtehen und kürzer
als die des Mannes ſind, ſo daß die Stiefel faſt die Länge des
Beines bekommen. Der Unterſchied in den Pelzen iſt nur durch
kleine Abweichungen im Muſter oder in der Art der Felle, die
von verſchiedener Farbe zuſammengeſetzt ſind, angedeutet. Die
Fuchspelze kommen ſelten ins Haus, ſondern werden außer dem
Hauſe in einer kleinen Steingrotte aufbewahrt. Die ziemlich zarten
Felle werden auf dieſe Weiſe nicht den häufig wechſelnden Tem⸗
peraturveränderungen ausgeſetzt, die fie bald zerſtören würden. —
Der Hausanzug in den ſehr warmen Häuſern und Zelten beſchränkt
ſich auf Stiefel und Hoſen; der Oberkörper iſt nackt, ein Negligg,
das nichts mit Koketterie zu tun hat, denn oben auf der Pritſche
find oft über 20 Grad Wärme, während am Boden eine Tem⸗
peratur von null Grad oder einem Grad darunter herrſcht.
Haus und Zelt.
Die Winterwohnungen beſtehen aus kleinen Häuſern mit
einem Kuppeldach, die mit großer architektoniſcher Geſchicklichkeit
28 Erftes Kapitel.
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Aufriß und Grundriß des Winterhauſes eines Polareskimos.
A Schlafpritſche, B Pritſchen für Fleiſch, O Lampen, D Fußboden, E Innere Steinlage, F Außere
Steinlage, 6 Raſendecke, H Raum über den Pritſchen, I Hausgang, J Keſſel mit Fleiſch, L Fenſter⸗
ſcheibe aus Darmhaut, M Kochgeſchirr, O Luftloch, P Platz zum Trocknen, R Raum unter den Pritſchen.
aus großen, flachen Steinen ſo aufgebaut ſind, daß die Steine
ſich ſelbſt ohne Stützen tragen. Die Häuſer ſind in der Regel nur
für eine Familie berechnet. Als Eingang dient ein ſehr niedriger
Gang; durch ihn kriecht man in den Wohnraum hinein, den man
von unten her durch eine ſchmale Offnung betritt. Trotz der primi⸗
tiven Anlage und dem geringen Platz können dieſe Hütten, deren
Wände mit hellen Seehundfellen bekleidet ſind, doch außerordent⸗
lich behaglich wirken. Die Steinpritſche, die den größten Teil der
Stube einnimmt, iſt immer mit einer dicken Lage duftenden Heus
bedeckt; darüber ſind Bären⸗ oder Renntierfelle ausgebreitet. Licht
und Wärme ſpenden zwei bis drei Tranlampen aus Stein, die mit
ihren langen Moosdochten eine Hitze entwickeln können, der das
Adamskoſtüm entſpricht, das im Hauſe üblich iſt. Die Pritſche
iſt ſelten breiter, als daß vier Menſchen nebeneinander darauf
Leben und Geſchichte der Polareskimos. 29
ſitzen oder liegen können, und die Decke iſt ſo niedrig, daß man
nur ſelten aufrecht zu ſtehen vermag. Dem Eingang gegenüber
befindet ſich ein Fenſter aus zuſammengenähten Darmhäuten.
Mitten darin iſt immer ein kleines rundes Guckloch. Oben an der
Decke befindet ſich ein anderes Loch, durch das die ſchlechte Luft
abziehen kann; es wird die Naſe des Hauſes genannt.
Außer den feſten Winterhäuſern hat man auch das Schnee⸗
haus. Der Bauſtoff dazu ſind große Schneeblöcke, die mit langen
Meſſern aus feſtgepackten Schneewehen ausgeſchnitten werden.
Dieſe Schneehäuſer ſind mit großer Kunſtfertigkeit gebaut; das
Innere iſt ganz wie bei den Steinhäuſern mit Fellen an den
Wänden und an der Decke eingerichtet. Kein Blockhaus in der
N. % Welt kann ſich an Wärme mit einem dichten Schneehaus meſſen.
Der kurze Sommer iſt die Zeit für das Freiluftleben im Zelt;
auch hier trifft man die geräumige Steinpritſche, die mit allem
Zubehör ein vortreffliches Lager für die Nacht gibt. Die Fell⸗
zelte beſtehen aus zwei Lagen von Seehundfellen übereinander
und halten daher bei jeder Art Wetter mit Leichtigkeit den Regen
ab. Auch hier brennen die Tranlampen, die dem Zelt eine folde
Temperatur verleihen, daß man darin wohnen bleibt, bis Ende
September der Winter den Herbſt ablöſt.
Wohnplätze, die der Wind getauft hat.
Die feſten Wohnplätze erſtrecken ſich von Kap Seddon in der
Melvillebucht bis faſt zum Humboldtgletſcher. Da der Stamm
ſo wenig Köpfe zählt, haben die Jäger guten Ellenbogenraum,
und zu gleicher Zeit ſind dem Wild ausgezeichnete Bedingungen
für ſein Gedeihen und ſeine Vermehrung geboten; denn dieſe kleine
Handvoll Jäger iſt über eine Strecke von 800 Kilometer verſtreut.
Die Polareskimos ſelbſt teilen ihre Wohnplätze nach dem Wind
in folgende Bezirke ein:
Nigerdlit: die dem Südweſtwind am nächſten wohnen.
Akunarmiut: die zwiſchen den Winden wohnen.
Orqordlit: die in Lee des Südweſtwindes wohnen.
Avangnardlit: die dem Nordwind am nächſten wohnen.
Unter „Nigeg“ verſteht man nicht nur den Südweſtwind,
ſondern begreift darunter auch die milden Föhnwinde, die ganz
30 Erſtes Kapitel.
plötzlich vom Inlandeis herabkommen und mit einem Schlag
mitten im kälteſten Winter die Temperatur über Null bringen.
Davon will ich ein Beiſpiel anführen.
Einſt fuhren wir Ende Januar nach einer Reiſe über die
Melvillebucht mit zwanzig Schlitten auf dem Weg nach Thule
am Land ſüdlich des Petowikgletſchers entlang. Das Wetter war
gut, und da infolgedeſſen die Tagereiſe ſehr lang geweſen war,
war ich ein wenig müde und legte mich auf den Schlitten, um
einen kurzen Schlaf zu tun, während ein Junge, den ich mit hatte,
die Hunde lenkte. Unmittelbar bevor ich die Augen ſchloß, hatte
ich noch bemerkt, daß es oben in einigen Schluchten in der Nähe
des Inlandeiſes zu ſtieben anfing. Aber da ſich ſonſt keine An⸗
zeichen von Unwetter am Himmel ſehen ließen, achtete niemand
von uns weiter darauf.
Ich hatte kaum fünf Minuten geſchlafen, als ich auf die
brutalſte Weiſe geweckt wurde. Als ob eine mächtige Fauſt mich
packte, ſo hob es mich vom Schlitten und warf mich aufs Eis.
Ich bekam einen ſo heftigen Schlag auf den Rücken, daß ich nicht
gleich imſtande war aufzuſtehen. Als es mir ſchließlich glückte,
auf die Knie zu kommen, ſah ich, daß all die vielen Schlitten,
die einen Augenblick vorher in einer langen Reihe gefahren waren,
zu einem großen Haufen zuſammengefegt waren, wie Hobelſpäne
bei einem Windſtoß. So plötzlich und heftig hatte der Föhn ſeine
erſten Windſtöße als Vorläufer für den aufziehenden Sturm ge⸗
ſandt. Da es ganz unmöglich war aufrecht zu ſtehen, geſchweige
denn zu fahren, ließen wir uns mit Schlitten und Hunden ans
Land blaſen, bis wir bei einer Schlucht an einem breiten Eisfuß
ein wenig Schutz vor dem Wind fanden, wo wir die Schlitten
vertäuen und die Hunde anbinden konnten. Kaum war dies ge⸗
ſchehen, als der Föhn auch ſchon von den Bergen und dem
Inlandeis auf uns unter Sturmgebraus herabſtürzte, das uns den
Untergang der Welt befürchten ließ. Mit ſolcher Gewalt preßte
der ungeheure Winddruck auf das dicke Wintereis, daß die Wellen
augenblicklich durch den Gezeitengürtel emporſchlugen. Nach einer
halben Stunde ſah man durch das Dunkel große, weiße,
ſchäumende Riſſe im Eis, und ein paar Stunden nach dem Aus⸗
bruch war dort, wo wir eben mit den Schlitten gefahren waren,
offenes Meer.
Leben und Geſchichte der Polareskimos. 31
Man kann die Bedeutung verſtehen, die der Wind für ein
Jägervolk ſpielen muß, deſſen Exiſtenz vom Meere abhängt.
Der Südweſtwind entſcheidet über das Schickſal des Sommers;
denn bläſt er zu häufig, ſo füllt ſich die Melvillebucht und die
ganze Nordweſtküſte mit Packeis, was rauhes Wetter und ſchlechten
Fang zur Folge hat. Nur im Herbſt zeigt dieſer Wind wohltätige
Wirkungen; denn er läßt das Eis zeitig feſt werden und führt
auf ſeinen Eisſchollen eine Menge Eisbären über die Baffinbucht
nach dem Land.
Zu „Nigerdlit“ gehören alle Wohnplätze bei Kap York und
ſüdlich davon. Das hauptſächlichſte Jagdtier an dieſen Orten iſt
der Seehund. Aber das, was die Leute dorthin lockt, ſind vor
allem die vielen Bären in der Melvillebudt.
Der Kap⸗Nork⸗Diſtrikt hat keinen eigentlichen Sommer, und
der Winterfang kann daher alle zwölf Monate des Jahres hin⸗
durch betrieben werden; nur muß man ab und zu einen Gletſcher
überſchreiten. Das ſelten offene Waſſer bietet eine ſchlechte Kajak⸗
jagd und keine Winterdepots. Ein Vorteil iſt es daher, daß man
den kleinen Krabbentaucher hat, der in Millionen auf allen Bergen
ringsherum niſtet. Als Wintervorrat werden dieſe Vögel in ganz
eigentümlicher Weiſe konſerviert. Im Mai und Juni werden ſie
mit Haut und Haar in große, friſch abgezogene Seehundfelle ein⸗
gelegt, die ſo abgezogen ſind, daß nur eine kleine Offnung am Kopf
und den Hinterfüßen bleibt, die leicht zuzuſchnüren iſt. Sobald ein
ſolches Fell gefüllt iſt, wird es ſorgfältig mit Steinen bedeckt,
ſo daß die Strahlen der Sonne es nicht erreichen können; dies
würde das Fleiſch bitter machen. Die Vögel gehen in leichte
Fäulnis über, und gleichzeitig durchdringt der Speck des Felles
das Fleiſch. Dieſes Gericht, das für eine außerordentliche Deli-
kateſſe gilt, wird allen Gäſten im Lauf des Winters als das
Beſte angeboten, was man ſeinen Freunden vorſetzen kann.
Mag alſo hier ein gewiſſer Fleiſchmangel herrſchen, ſo gibt es
andere Dinge, die nach der Meinung des Südweſtbewohners
beſſer ſind.
Hier gibt es große Mengen von Blaufüchſen, ſo daß die
Leute, abgeſehen davon, daß ſie ſich leicht Pelze im Überfluß ver⸗
ſchaffen können, immer über viele „Verkaufsfüchſe“ verfügen.
Dann hat man hier die Bärenfelle, die nicht bloß warme
32 Erſtes Kapitel.
Hoſen und herrliche Pritſchenfelle, ſondern auch bares Geld liefern.
Ferner ſchwelgt man das ganze Jahr in ſpannenden Jagderleb⸗
niſſen, und einen Mann von Kap Vork zu treffen, it daher immer
ein Erlebnis.
Alles dies gibt ihnen alſo einen gewiſſen Nimbus; aber die
Leute von der Leeſeite, die nicht geringer ſein wollen, begnügen
lig in der Regel damit, einzuräumen, daß die Kap⸗Yorker wohl
die beſten Kleider und die beſten Pritſchenfelle im ganzen Diſtrikt
haben, „aber“, ſo fügt man hinzu, „ihre Häuſer ſind kalt, weil
fie nur Seehundſpeck für ihre Lampen haben. Ihre Hunde ſind
mager und ſtruppig im Pelz, weil ſie nicht mit Walroß⸗ und
Narwalfleiſch gefüttert werden, und ſchließlich lieben ſie es trotz
all ihrer Tüchtigkeit außerordentlich, zu unſern wohlgefüllten
Fleiſchlagern heraufzukommen, um ihre Hunde zu füttern und ſich
in Matag ſelbſt richtig ſatt zu eſſen, wenn een ſich in
der Dunkelheit meldet.“
| „Akunarmiut“ umfaßt den Diſtrikt in der Gegend des jetzigen
Thule. Der Haupterwerb iſt hier die Walroßjagd, aber auch
Seehunde und Narwale werden in großer Zahl erlegt. Von großer
Wichtigkeit für den Erwerb iſt es hier, daß das Eis zwiſchen der
Saundersinſel und Dalrymple Rock am Schluß des Oktober und
Anfang November feſt wird und eine gleichmäßige, ebene Fläche
bildet, denn dann halten ſich die Walroſſe lange bei den großen
Atemlöchern auf, die ſie mit ihrem Schädel brechen.
Dieſe Jagdſaiſon iſt eine ſchöne und ſpannende Zeit — ein
Wettlauf vom Morgen bis zum Abend. Da gilt es, als erſter
mit dem Schlitten draußen an den Fangplätzen zu ſein. Daher
kann man zeitig am Morgen oder richtiger in der Nacht einen
Schlitten nach dem andern über das Eis hinfliegen ſehen wie einen
eiligen Vogel, der ins Dunkel hinausfliegt. Es iſt nicht klug, in
großer Geſellſchaft zu jagen, denn das gibt kleine Beuteanteile.
Darum verteilt man ſich jo weit wie möglich, und man kann in,
dem weißen Dunkel die Umriſſe vieler pelzgekleideter Jäger ſehen,
die ſich mit Harpune und Leine unter dem Arm über das Eis
verteilen, um ihr Glück zu verſuchen. Wenn dann ein Walroß
harpuniert iſt, fo ſieht man viele mit Bärenfellhoſen bekleidete
Geſtalten herzueilen, um an der Freude über den Fang und an der
Verteilung teilzunehmen. Ohne Schwierigkeit wird das ſchwere
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Leben und Geſchichte der Polareskimos. 33
Tier vermittelſt eines primitiven Flaſchenzuges auf das Eis ge
zogen.
Leider ſchlägt dieſe Walroßjagd oft fehl, und man kann den
Diſtrikt daher nicht zu den guten Ernährungsgebieten rechnen.
„Orqordlit“, das Gebiet der Leeſeitenbewohner, umfaßt den
ganzen Diſtrikt um den großen Inglefieldgolf. Hier liegen eine
Menge Wohnplätze. Die Jagdverhältniſſe ſind überall ſo glän⸗
zend, daß immer Fleiſch im Überfluß zu haben iſt.
In der Fiordmündung gibt es hier den ganzen Sommer hin⸗
durch, auf dem Neueis im Herbſt und während der hellen Zeit
im März, große Mengen von Walroſſen. Wenn offenes, nach
einem Sturm entſtandenes Waller zufriert, entwickelt ſich hier
eine Jagd, die der oben geſchilderten entſpricht.
Außer den Walroſſen ſind es große Schwärme von Narwalen
und Weißwalen, die hier vorbeiziehen und vom Kajak aus ge-
fangen werden. Dieſe großen fleiſchreichen Tiere verſchaffen den
Leebewohnern mächtige Wintervorräte. Der fette Speck des Nar⸗
wals und des Weißwals liefert bekanntlich weit mehr Licht und
Wärme als Seehund⸗ und Walroßſpeck. Dieſe Diſtrikte können ſich
mit Recht rühmen, daß ſie die größten und wärmſten Häuſer haben.
Ihre Hundemeute iſt außerordentlich groß, und die Hunde ſelbſt
ſind fett und haben glänzende Pelze. Füchſe ſind dagegen in ein⸗
zelnen Diſtrikten ſelten, und Krabbentaucher gibt es nur bei Kiatak,
Igdluluarſſuit und Nege. Aber der Herbſt ilt hier weit trockener
als weiter ſüdlich, und man kann daher faſt immer auf eine lange
Periode der Glatteisjagd rechnen, die die Fleiſchdepots zum Über⸗
quellen bringt.
Das einzige, was wirklich mangelt, ſind Bärenfelle, die mit
Recht für unentbehrlich angeſehen werden. Ohne warme Bären⸗
fellhoſen iſt es nämlich unmöglich, im Winter lange Reiſen zu
unternehmen, und ohne Bärenjagden bekommt man keine ordent⸗
lichen Felle für die Pritſchen. Von den Jägern der Windſeite
werden die Leebewohner mit einiger Bosheit als „Küchenjäger“
bezeichnet, die trotz all ihres Fleiſchreichtums und ihrer fetten
Hunde ſich Bärenfelle von den „richtigen“ Jägern einhandeln
müſſen.
„Avangnardlit“, „die dem Nordwind am nächſten wohnen“,
ſchließt die Wohnplätze Etah und Anoritoq ein. — a hat
Rasmuſſen.
34 Erſtes Kapitel.
vortreffliche Bedingungen für die Walroßjagd und iſt zugleich ein
einziger ſingender Vogelberg, auf dem die Krabbentaucher hauſen.
Dieſe gibt es nicht bei Anoritog; als Erſatz dafür erbeutet man
hier außer Walroſſen eine große Menge von Narwalen, die, wo
ſie erlegt werden, dem häuslichen Leben im Winter immer ein
beſonderes Gepräge geben. An beiden Plätzen iſt die Bärenjagd
ausgezeichnet, ſowohl im Norden als im Weſten, und die Lebens⸗
bedingungen ſtimmen faſt in jeder Weiſe mit denen der Südweſt⸗
bewohner überein. Wind haben ſie auch im Überfluß, nicht nur
Südweſtwind, ſondern auch Nord- und Nordoſtwind, der hier
mit ungeheurer Gewalt auftreten kann. Im Gegenſatz zum Süd⸗
weſtwind reinigt er die Küſte vom Eis und er iſt daher der Wind,
den man ſich beſonders wünſcht, wenn Schiffe zu erwarten ſind.
Ein Wandervolk.
Der vorige Abſchnitt handelte von den Wohnplätzen inner⸗
halb des Diſtrikts. Aber man darf darum nicht glauben, daß
die Polareskimos ein anſäſſiges Volk ſind, denn es gibt wenig
Menſchen in der Welt, die in höherm Grad ein Wanderleben
führen. Die Steinhäuſer ſtehen nur an der Küſte, errichtet von
alten, längſt vergeſſenen Geſchlechtern. Da das Baumaterial Stein
iſt, kann der Zahn der Zeit ihnen nichts anhaben, und es bedarf
daher nur einer kleinen jährlichen Ausbeſſerung, damit ein Frem⸗
der in ein ſolches Haus einziehen kann, nachdem es Frühling und
Sommer hindurch gelüftet worden iſt.
Kein Polareskimo bleibt länger als ein oder zwei Jahre an
einer Stelle wohnen; dann erwacht ſeine Sehnſucht, in neue Ver⸗
hältniſſe zu kommen und in andern Jagdgebieten zu jagen. Jedes
Frühjahr erweckt die Wanderluſt, und zu der Zeit, in der die
Natur ſelbſt das Joch des Winters abſchüttelt, erwacht in den
Menſchen die Luſt, aufzubrechen und den Scharen der Zugvögel
nachzuziehen, die verkünden, daß der Sommer im Lande iſt.
Die Wanderungen ſind in Wirklichkeit nichts anderes als ein
Tauſch der Häuſer in großem Stil. Denn ebenſowenig wie der
Seehund im Meer oder das Renntier auf dem Land einen Be
ſitzer hat, ebenſowenig folgt irgendein Recht aus dem Umſtand,
daß man ein Haus bewohnt hat. Wenn Pualuna auszieht, um
ſich anderswohin zu begeben, ſo iſt es nicht länger ſein Haus, und
Leben und Geſchichte der Polareskimos. | 35
wenn Maja dieſen Wohnplatz wählt, kann er ruhig hinein⸗
ziehen. . N
All die Spannung, die ſich faſt jedes Frühjahr einitellt,
wenn man einen Beſchluß faſſen ſoll, wo man nächſten
Winter jagen will, und all die heitere Aufbruchsſtimmung,
die alle ergreift, geht wie ein befreiender Ruf zum Aufbruch
durch das ganze Land, das viele Monate in Kälte und
Dunkelheit gelegen hat. f
In der Regel ziehen die, die auf der Südweſtſeite oder dem
Nordwind am nächſten gelebt haben, nach den Plätzen der Lee⸗
ſeite, um ein paar Jahre im Überfluß zuzubringen und ſich in
Ruhe und Gemächlichkeit neue Hunde zu verſchaffen. Dafür zieht
dann mancher eingefleiſchte Leeſeitenbewohner nach Norden oder
Süden, um ſich mit Pritſchenfellen und glänzend weißen Bärenfell⸗
hoſen zu verſorgen. So leben dieſe Menſchen ihr Leben auf der
Grundlage einer genialen Erwerbskultur, deren ſinnreiche An⸗
paſſung an das rauhe Land ſie zu den ſorgenfreieſten Menſchen
der Erde macht. Nirgends lebt man wie hier nach einem einfachen
und praktiſchen Kommunismus, der allen das gleiche Recht und
gleiche Chancen gibt. Selbſt die Launen des Glücks hat man
verſucht auszuſchalten, indem man alle große Jagdbeute in Teile
zerlegt, die jedem zufallen, der an einem Jagdtag nicht das Glück
gehabt hat, als erſter einen Narwal zu harpunieren. Durch dieſes
Verteilungsſyſtem erhält jeder Jäger Fleiſch, wenn er ſich nur in
der Nähe des glücklichen Jägers aufhält. Dies ſcheint das Ergeb⸗
nis menſchlich geſtimmter Erfahrungen zu ſein, die man im Kampf
ums Daſein in einer kargen Natur gemacht hat.
Und noch eins! Nicht alle ſind von Natur gleich ſtark und
geſchickt, und es ſind daher oft nur die Auserwählten, die im⸗
ſtande ſind, die Gelegenheit wahrzunehmen und die erſte Harpune
auf ein unverletztes Walroß zu werfen. Zieht das Tier aber erſt
an der Fangleine die große Fangblaſe mit ihrem ſchweren Schlep⸗
per durchs Waſſer, ſo kann ſelbſt der weniger Geſchickte mithelfen,
das Tier totzuſchlagen. Dadurch gewinnt er ſeinen rechtmäßigen
und auch reichlichen Anteil an der Beute. Um ſeine Stellung als
Erwerber in dieſer Gemeinſchaft zu behaupten, iſt daher nur eines
erforderlich, und das iſt Fleiß. Den Faulen, der nicht mit Hand
anlegen will, läßt man ſeine eigenen Wege gehen.
3 *
36 Erſtes Kapitel.
Kann man in einer Gemeinſchaft dem Ideal näherkommen,
daß die Faulheit die einzige Quelle der Armut iſt?
So leben die Eskimos froh miteinander, behandeln ihre
Frauen und Kinder gut und fühlen ſich familienweiſe durch ein
Band der Anhänglichkeit verknüpft, das ſich oft in ergreifender
Weiſe zeigt.
Primitive Lebensanſchauungen.
Auch die kürzeſte Skizze über die Polareskimos darf nicht
ſchließen, ohne mit einigen Worten auf ihre eigentümlichen primi⸗
tiven Lebensanſchauungen hinzuweiſen.
Die Polareskimos glauben an keinen Gott, den man anbetet,
ſondern ihren religiöſen Vorſtellungen liegen eine Reihe ſagen⸗
hafter Erzählungen und traditioneller Gebräuche zugrunde, die
man als Überlieferungen aus den allerälteſten Zeiten betrachtet.
Die Vorfahren haben darin ihren ganzen Reichtum an Lebens⸗
erfahrungen niedergelegt, damit die, die nach ihnen kommen, nicht
dieſelben Fehler begehen und denſelben Irrtümern verfallen ſollen
wie ſie ſelber.
Dieſe Erzählungen ſind als die Saga des Inuitvolkes anzu⸗
ſehen, die von Geſchlecht zu Geſchlecht von den Alteſten an die
Jüngſten des Stammes weitergegeben werden. Teils ſind es ein⸗
fache Schilderungen, teils Belehrungen für die, die ſich den For⸗
derungen der Tradition nicht unterordnen wollen; teils ſind es
auch Berichte von Helden, die ſich in allen möglichen Gefahren be⸗
währt haben als leuchtende Beiſpiele für kommende Geſchlechter.
Oſarqag, ein kluger, intelligenter Mann, erklärte mir einmal
ſeine eigene Auffaſſung in folgenden Worten:
„Unſere Erzählungen ſind Erlebniſſe von Menſchen, und daher
ſind es nicht immer ſchöne Dinge, die man zu hören bekommt.
Aber es geht nicht an, eine Erzählung auszuſchmücken, damit ſie
für den Zuhörer angenehm it, wenn ſie gleichzeitig wahr ſein
ſoll. Die Zunge ſoll ein Echo deſſen ſein, was geſchildert wird, und
darf ſich nicht nach Laune und Geſchmack eines Menſchen richten. —
Dem Wort des Neugeborenen ſchenkt niemand Vertrauen, aber die
Erfahrungen alter Geſchlechter enthalten Wahrheit. Wenn wir
unſere Sagen erzählen, fo ſprechen wir nicht aus uns ſelber,
ſondern die Weisheit der Väter ſpricht aus uns.“
*
Leben und Geſchichte der Polareskimos. 37
Als Beiſpiel für dieſe Sagen will ich hier die wiedergeben,
die davon handelt, wie einſt „vor langer, langer Zeit“ die Men⸗
ſchen entſtanden. In ihrer barocken Kraft und tiefen Urſprüng⸗
lichkeit iſt ſie ein gutes Beiſpiel für die Phantaſie der Eskimos.
Ich überſetze ſie hier ſo genau wie möglich, nach einem Diktat der
alten Eskimofrau Arnaruluk:
„Unſere Vorväter haben viel über die Entſtehung der Menſchen
vor langer, langer Zeit geſprochen. Sie verſtanden es nicht ſo
wie du ihre Worte in Strichen aufzubewahren, ſie konnten nur
erzählen, die Menſchen, die vor uns lebten. Sie erzählten von
vielen Dingen, und darum wiſſen wir etwas von dieſen Dingen,
von denen wir immer wieder haben ſprechen hören, ſeit wir klein
waren.
„Alte Frauen pflegen ihre Worte nicht ſorglos zu vergeuden,
und wir glauben ihnen. Das Alter kennt keine Lüge.
„Damals, vor langer, langer Zeit, als die Erde entſtehen
ſollte, ſtürzte ſie oben vom Himmel herab, Erde, Berge und
Steine: ſo entſtand die Erde.
„Als die Erde da war, kamen die Menſchen. Man erzählt,
daß die Menſchen auf der Erde entſtanden. Kleine Kinder kamen
aus der Erde heraus; ſie kamen aus den Weidengebüſchen hervor,
bedeckt mit Weidenlaub. Und ſo lagen ſie zwiſchen den Zwerg⸗
büſchen mit geſchloſſenen Augen und ſtrampelten. Sie konnten
nicht einmal kriechen. Ihre Nahrung erhielten ſie von der Erde.
„Dann erzählt man von einem Mann und einer Frau; die
Frau näht Kinderkleider und wandert über die Erde hin. Da
findet ſie die kleinen Kinder, kleidet ſie und bringt ſie nach Hauſe.
5 So entſtanden viele Menſchen.
„Als es nun viele geworden waren, wollten ſie Hunde haben.
Ein Mann geht mit einem Hundegeſchirr in der Hand aus, ſtampft
auf die Erde und ruft: ‚Hof! Hof! hof!‘ Da ſprangen die Hunde
— aus Hügeln und kleinen Hügelchen hervor. Sie ſchüttelten ſich
ordentlich, denn fie waren voller Sand. So bekamen die Men-
ſchen Hunde. |
„Aber die Menſchen vermehrten ſich, und es wurden immer
mehr und mehr. Damals, vor langer, langer Zeit, kannten ſie den
Tod noch nicht und wurden ſehr alt. Zuletzt konnten ſie nicht mehr
gehen, wurden blind und mußten liegen.
38 Erſtes Kapitel.
„Sie kannten auch die Sonne nicht, fie lebten im Dunkelm.
Niemals wurde es Tag. Nur in den Häuſern drin hatten ſie
Licht. Sie brannten Waſſer in den Lampen; damals konnte
Waſſer brennen.
„Und weil die Menſchen nicht zu ſterben wußten, wurden es
gar zu viele, und die Erde wurde überfüllt. — Da kam eine mäch⸗
tige Meeresflut; viele ertranken, und der Menſchen wurden
weniger. Spuren von dieſer Meeresflut findet man auf hohen
Berggipfeln, wo man oft Muſcheln finden kann.
„Jetzt, als die Zahl der Menſchen ſich verringert hatte, be⸗
gannen zwei alte Frauen miteinander zu reden:
„„Laß uns ohne Tag ſein, wenn wir nur ohne Tod find‘, jagte
die eine; ſie hatte wohl Angſt vor dem Tod.
„„Nein“, ſagte die andere, wir wollen Licht und Tod haben.‘
Als die alte Frau dieſe Worte ausſprach, geſchah es alſo.
„Das Licht kam, die Freude und der Tod.
„Weiter wird erzählt, als der erſte Menſch ſtarb, bedeckte
man die Leiche mit Steinen, aber die Leiche kehrte zurück. Sie
verſtand es gewiß nicht, richtig zu ſterben. Sie hob ihren Kopf
von der Pritſche und wollte aufſtehen. Aber eine alte Frau ſtieß
ſie zurück:
„„Wir haben genug zu ſchleppen, unſere Schlitten ſind klein.“
„Sie waren nämlich im Begriff zur Jagd aufzubrechen, und
ſo mußte der Tote in ſeine Steinkammer zurückkehren.
„Als die Menſchen nun das Licht erhalten hatten, konnten
ſie Jagdausflüge unternehmen und brauchten nicht länger von der
Erde zu eſſen. Und mit dem Tod kamen Sonne, Mond und
Sterne. —
„Denn wenn die Menſchen ſterben, ſteigen ſie zum Himmel
auf und leuchten auf.“
+ *
*
Die Gebräuche, die vor der Zeit der Miſſion eine außerordent⸗
lich große Rolle ſpielten, laſſen ji mit einer Sammlung unge-
ſchriebener Geſetze vergleichen, die die Menſchen belehren, was man
unter gewiſſen beſonderen Verhältniſſen beobachten muß und wo⸗
nach man ſich richten kann. Dieſe Gebräuche beziehen ſich wie
bei allen Naturvölkern hauptſächlich auf Geburt und Tod.
Leben und Geſchichte der Polareskimos. 39
All dieſe Lebensregeln, die uns bisweilen unpraktiſch und kind⸗
lich erſcheinen, werden mit großer Autorität von den Geiſter⸗
beſchwörern gehandhabt. Dieſe entſprechen den Medizinmännern
anderer Naturvölker und ſind beſtimmt, als Vermittler aufzutreten
zwiſchen den Menſchen und den Kräften, die ins Leben eingreifen.
Sie können das durch ihre Vertrautheit und Bekanntſchaft mit
Dingen, die gewöhnlichen Menſchen verborgen ſind. Nicht jeder
kann darum Geiſterbeſchwörer werden, denn nicht allen wollen
die Geiſter dienen; es gehören ganz beſondere Anlagen dazu und
eine Art von Berufung, die fern von den Menſchen in der großen
Einſamkeit der Berge erfolgt. Die Natur denkt man ſich erfüllt
von unſichtbaren Weſen und übernatürlichen Kräften, den ſoge—
nannten Tornarſſuit. Dieſe können die Geiſterbeſchwörer ſo weit
unter ihren Willen beugen, daß ſie ſie als Hilfsgeiſter zu ver⸗
wenden vermögen, die man unter Beobachtung geheimnisvoller
Zeremonien meiſt bei gelöſchten Lampen und unter ſeltſamen,
ergreifenden Zaubergeſängen anruft.
Dieſe Geiſterbeſchwörer waren keineswegs Betrüger und
Schwindler, wie man ſo oft geneigt war anzunehmen, ſondern als
Kinder ihrer Zeit glaubten ſie ſelbſt feſt an den Ernſt ihrer
Miſſion. Die Bedeutung der Geiſterbeſchwörer lag in dem Um⸗
ſtand, daß ihrer Religion die Verehrung einer Gottheit fehlte;
darum kam der Schwache und Angſtliche und ſuchte Zuflucht bei
dem, der die myſtiſchen Kräfte der Natur zu beherrſchen wußte,
die leicht verletzt ſind und die gefährlich ſind in ihrem Zorn. Als
Beiſpiel für die Gebräuche ſei angeführt:
Die Menſchen, die einen Toten begraben haben, müſſen ſich
in ihrem Haus oder Zelt fünf Tage ruhig verhalten. In dieſer
Zeit dürfen ſie ſich ihre Nahrung nicht ſelber zubereiten oder das
gekochte Fleiſch zerteilen. Sie dürfen nachts die Kleider nicht ab-
legen oder ihre Pelzkappen niederſchlagen. Wenn die fünf Tage
um ſind, müſſen ſie Hände und Körper ſorgfältig waſchen, um die
Unreinheit loszuwerden, die ſie ſich durch Berührung des Toten
zugezogen haben. — Die Eskimos ſelber geben folgende Be
gründung für die Beobachtung der Gebräuche: å
Wir find bange vor den unbekannten böſen Mächten, die den
Menſchen mit Krankheit und anderm Unglück heimſuchen. Die
Menſchen müſſen Buße tun, weil die Säfte der Toten ſtark ſind
40 Erſtes Kapitel.
und ihre Macht ohne Grenzen iſt. Wenn wir nicht Rückſicht
nehmen auf alles, worüber wir ſelbſt nicht Herr ſind, glauben wir,
daß große Schneemaſſen auf uns herabſtürzen und uns zermalmen
würden, daß ſich gewaltige Schneeſtürme erheben, die uns ver⸗
nichten würden, daß wilde Stürme das Meer aufwühlen, wenn wir
uns im Kajak weit draußen auf der See befinden. Man kann ſich
aber auch ſtärker im Leben machen, widerſtandsfähiger gegen Ge⸗
fahr und erfolgreicher in den Wechſelfällen des Geſchicks, wenn man
Amulette und Zauberformeln anwendet.
Das Amulett iſt ein Beſchützer gegen Gefahr, das ſeinem Eigen⸗
tümer gewiſſe Eigenſchaften verleihen kann, ja unter beſtimmten
Umſtänden ihn ſogar in das Tier, von dem das Amulett ge⸗
nommen iſt, verwandeln kann. Ein Amulett von einem Bären,
der nicht durch Menſchenhand gefallen iſt, verleiht Unverwund⸗
barkeit, eins von einem Falken gibt Erfolg im Erlegen der Beute,
der Rabe macht genügſam, der Fuchs ſchlau. Oft trägt man
auch ein „Porog“ aus einem Stein einer Feuerſtelle, weil dieſer
ſich ſtärker als das Feuer erwieſen hat; oder man reibt den Spei⸗
chel eines Alten um den Mund eines Kindes, oder man ſetzt ihm
einige von deſſen Läuſen auf den Kopf, um damit die Lebenskraft
des Alten auf den Jungen zu übertragen.
Die Zauberformeln ſind „alte Worte, die aus den älteſten
Zeiten ſtammen, als die Säfte der Menſchen ſtark waren und
die Zungen Macht hatten“. Sie können auch aus ſcheinbar ſinn⸗
loſen Worten beſtehen, die alte Männer geträumt haben. Sie
vererben ſich von Geſchlecht zu Geſchlecht, und der Träger be⸗
trachtet ſie als ein unſchätzbares Gut, das er nicht von ſich geben
darf, ehe er den Tod nahen fühlt. Sie ſind meiſt unüberſetzbar
und können daher in dieſem kurzen Überblick nicht wiedergegeben
werden, da dieſer nur das Allernotwendigſte zum Verſtändnis
dieſer merkwürdigen Menſchen geben ſoll, die uns in den folgenden
Schilderungen ſo oft begegnen werden.
Von den religiöſen Überlieferungen der Polareskimos mag
ferner erwähnt werden, daß der Menſch eingeteilt wird in eine
Seele, in einen Körper und in einen Namen.
Die Seele, die unſterblich it, exiſtiert außerhalb des Menſchen
und folgt ihm, wie uns der Schatten in Sonnenſchein folgt. Sie
iſt ein Geiſt, der ganz wie ein Menſch ausſieht; nach dem Tod des
Leben und Geſchichte der Polareskimos. 41
Menſchen fährt ſie zum Himmel auf oder in das Meer hinab,
wo ſie ſich zu den Seelen der Vorväter 1 An beiden Orten
iſt gut ſein.
Der Leib iſt die Wohnung der Seele; er iſt vergänglich, in⸗
ſofern alles Unglück und alle Krankheit ihn trifft. Beim Tod
bleibt all das Böſe im Körper zurück, und man muß daher große
Vorſicht in der Behandlung der Leichen beobachten.
Auch der Name iſt eine Seele, mit der ein gewiſſer Vorrat
von Lebenskraft und Geſchicklichkeit verknüpft iſt. Der Menſch,
der nach einem Verſtorbenen genannt wird, erbt die Eigenſchaften
des Betreffenden.
Ich begann dieſen Abſchnitt mit der Behauptung, daß der
Polareskimo keine Gottverehrung kenne. Das tut er auch nicht in
dem Sinn, wie wir es aus andern Religionen wiſſen. Er begnügt
ſich damit, ſich vor dem großen Unbekannten zu beugen, und ſcheut
ſich nicht einzuräumen, daß er nichts weiß und daß ſein Glaube
möglicherweiſe falſch iſt. Die Erkenntnis ſeiner Beſchränkung und
ſeine vollkommene Ehrlichkeit in dieſem Punkt tritt hier ebenſo
unfehlbar zutage wie auf allen andern Gebieten. Aber wenn
ihm auch die Gottverehrung durch ſeine einfache Religion verſagt
iſt, die ihm von ſeinen Vätern überliefert wurde, ſo iſt ihm das
Gefühl der Andacht doch durchaus nicht fremd. Und indem ich dies
niederſchreibe, ſchweifen meine Gedanken zu den vielen Männern
und Frauen in jener Gegend zurück, die ich an den Winterabenden
ernſt und ſchweigend zu den Gräbern ihrer Angehörigen habe
wandern ſehen. Hier können ſie Stunde für Stunde ſitzenbleiben
in einer Andacht ohne Worte, die ſicher kein geringerer Ausdruck
für das Gefühl menſchlicher Ohnmacht iſt als bei den höheren
Kulturvölkern Anrufung und Gebete.
Zweites Kapitel.
Von Thule zum Humboldtgletſcher.
Die Überwinterung der Expedition.
SY Art, wie die Expedition den Winter verbrachte, iſt raſch
erzählt. — Die Ankunft der „Danmark“ und die Überwinte⸗
rung waren uns plötzlich über den Hals gekommen. An Stelle
von fünf weißen Männern waren wir auf einmal 23, und viele
Vorkehrungen waren aus dieſem Anlaß zu treffen.
Es wurde ſogleich beſtimmt, daß Koch ſüdwärts nach Taſiuſſag
reiſen ſollte, wo ſich ihm in der dunkeln Zeit beſſere Arbeits⸗
bedingungen boten als hier. Wir machten uns daher Mitte
Oktober auf den Weg über das Inlandeis nach der Melvillebucht,
und Dr. Wulff erhielt ſeinen erſten Unterricht im Fahren mit
Hunden, indem er mich nach Kap Vork begleitete; ich ſelber
wollte mit Koch bis nach Uperniwik gehen.
Auf dieſer Reiſe, die in ihrer erſten Hälfte noch bei ſchwin⸗
dendem Tageslicht ausgeführt wurde, hatten wir ausgezeichnete
Gelegenheit, die im Frühjahr aufgenommene Karte zu ergänzen.
Die Reiſe verlief nicht nur ergebnisreich, ſondern auch angenehm.
Wir hatten ſchönes Wetter mit erträglicher Kälte und richteten
unſere Tagereiſen nach dem Feſtwerden des Neueiſes ein. Oft
ſtießen wir auf offenes Waſſer, und während wir auf das Eis
warteten, unternahmen wir in der Gegend des Inlandeiſes ſpan⸗
nende Eisbärenjagden. Vier Bären mußten ihr Leben laſſen und
verſchafften uns nicht nur vortrefflichen Reiſeproviant, ſondern
auch Felle für die lange Reiſe im Winter.
Während der ganzen Zeit übte ſich Dr. Wulff täglich im
Fahren mit Hunden und ſchien ſich raſch an die ihm völlig un⸗
gewohnte Lebensweiſe zu gewöhnen.
Von Thule zum Humboldtgletſcher. 43
Anfang Januar fuhr ich zwei Mitglieder der Crockerland⸗
Expedition, Mr. Eckblaw und Dr. Hunt, nach Uperniwik, von
wo ſie ihre Reiſe nach Süden fortſetzen wollten. Dieſe Reiſen
boten uns ein vortreffliches Training. Während unſerer vielen
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Von Thule zum Humboldtgletſcher.
Streifzüge hatten die fleißigen Frauen des Stammes warme
Renntierpelze, Bärenfellhoſen und mit Haſenfell gefütterte See⸗
hundsfell⸗Kamiker genäht. Was die Kleidung anlangte, konnten
wir ruhig einer Überwinterung entgegenſehen, wenn ſie nötig ſein
ſollte.
44 Zweites Kapitel.
Aufbruch von Thule.
Während alle Vorbereitungen zu einer weiten Reiſe ein großer
Ernſt beherrſcht, liegt im Gegenſatz dazu über der Abfahrt
und dem Abſchied von den Hausgenoſſen die lichteſte Feſtſtimmung;
man geht ſeinem Schickſal und ſeinen Abenteuern immer mit erwar⸗
tungsvoller Freude entgegen. So auch jetzt, als endlich alle
Schlitten beladen und mit Hunden beſpannt neben der alten
„Danmark“ bereitſtanden. Ein eigentümlicher Zufall fügte es,
daß Mylius⸗Erichſens altes Schiff heute den inter arne unjerer
Abreiſe bildete.
6. April. Zur Feier des Tages waren wir zum Abſchieds⸗
frühſtück an Bord eingeladen, und die Eskimoteilnehmer der
Expedition beteiligten ſich mit ihren Frauen ebenfalls an dem Feſt.
Der Führer der „Danmark“, Kapitän Hanſen, hatte getan, was
er vermochte, und unſer Appetit machte den Herrlichkeiten des
Schiffes keine Schande. |
Aber die Unruhe ſaß uns in den Gliedern, und alle dachten
wir nur daran fortzukommen; Wulff und Koch waren ſchon
einen Tag vorher vorausgefahren. Für mich war es notwendig,
nachdem alles in Ordnung war, die letzte Nacht allein zuzubringen,
um noch einmal alle Liſten und Aufzeichnungen der Dinge, die
nicht vergeſſen werden durften, durchzugehen. Dazu gehört voll⸗
kommene Ruhe, denn es ſchwebt die Drohung über einem, daß ein
einziges vergeſſenes kleines Ding nicht zu beſchaffen iſt, wenn man
es Hunderte von Meilen vom Depot entfernt vermißt. Darum
verbringen die meiſten Expeditionsleiter vor der Abreiſe eine
ſchlafloſe Nacht. Um ſo ſtärker fühlt man zum Entgelt die Be⸗
freiung und den Tatendurſt, wenn endlich alles in Ordnung und
zur Abfahrt bereit iſt.
Draußen auf dem Eis liegen die ungeduldigen Hunde und
warten auf das Abfahrtsſignal; heulend und kläffend zerren ſie
am Geſchirr, und an jedem Schlitten muß ein Mann Wache
halten, damit unſere Geſpanne nicht dem Gang der Ereigniſſe vor⸗
greifen und über das Eis vorwärtsſtürmen, ehe die Kutſcher zur
Abfahrt bereit ſind. Ach, dieſe übertriebene Lebensfreude wird
leider bald von ihnen weichen, wenn fie nicht länger in der Nähe
des Wohnplatzes ſind, wo immer reichlich ſpeckige Walroßhaut
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Von Thule zum Humboldtgletſcher. 45
für ſie abfällt! Dieſer lärmende Eifer, dieſe überſtrömende Energie
wird raſch gedämpft werden, wenn jeder Tag nur viele Stunden
einförmigen Mühens und abgemeſſene Rationen bietet. Aber heute
kennt der wilde Jugendmut keine Grenzen. Er ſtrömt über nach
der Ruhe und dem Kraftfutter vieler Tage. Alles iſt in Feſt⸗
ſtimmung!
Ein Prachtwetter herrſcht. Die Sonne ſteht hoch über dem
weißen Schnee. Die Eisberge des Fjords glitzern im Licht, und der
Baſalt der Randberge bei Kap Parry erglänzt in heiteren Farben.
Die Mannſchaft des Schiffes geht voll Intereſſe herum und
betrachtet mit Kennermiene die wohlverſchnürten Schlitten. Dieſer
und jener geht zu den Hunden und ſtreichelt ſie. Das Aufbruchs⸗
gewimmel zwiſchen den vielen Schlitten und alle die geſchäftigen
Menſchen wirken ähnlich wie das Durcheinander auf einem Markt⸗
platz!
Endlich iſt der Abſchied zu Ende. Die Männer rufen ihren
zurückbleibenden Frauen ein letztes Lebewohl zu, dann ſpringt jeder
auf ſeinen Schlitten, und im Galopp geht es über den Fjord hin,
die erſten beſcheidenen Kilometer auf das Ziel zu, das wir uns
für das nächſte halbe Jahr geſteckt haben. In einer Stunde iſt
die „Danmark“ außer Sicht, und der am Wohnplatz gelegene
Berg Umanag zeichnet ſich als kleiner Kegel weit im Hintergrund
vom Horizont ab. Die Hunde, die in ausgezeichneter Verfaſſung
ſind, ſtrecken ſich, als gälte es das Leben, und obgleich die Laſten
ſchwer ſind, geht es in ſauſender Fahrt vorwärts. Die Bahn auf
dem Eis iſt gut, und die blankgeſchliffenen Eiſenkufen der Schlitten
ſingen über dem gefrorenen Schnee. Wir brachen gegen 4 Uhr
nachmittags auf und ſchon um 2 Uhr morgens haben wir die
erſten 15 Meilen bis Netſilivik zurückgelegt, wo wir unſere Ka⸗
meraden treffen.
7. April. Netſilivik iſt ein kleiner Wohnplatz von drei Häu⸗
ſern, und nur die Herzensgüte der Eskimos macht es möglich, daß
wir alle ein Dach über den Kopf bekommen. Wir ſind 15 Mann
in jedem Haus, und in den erſten Stunden iſt alles in größter
Verwirrung. Die Hunde werden auf dem Eis feſtgebunden; ein
Zelt wird aufgeſchlagen, und eine wohlverdiente Taſſe Kaffee auf
dem Primuskocher gekocht. Unterdeſſen erhalten die Hunde ihr
Futter aus den überfüllten Fleiſchdepots des Wohnplatzes.
46 Zweites Kapitel.
Ein Blick durch die Ausgucköffnung des kleinen Darmhaut⸗
fenſters des Hauſes zeigt, daß unſere Kameraden mit allen ihren
Begleitern noch im ſüßeſten Schlaf liegen. Es iſt drückend heiß
in den überfüllten Steinhäuſern, und ich beſchließe daher, in
Iterfiluks Haus, das eine Viertelſtunde entfernt liegt, einen kleinen
Morgenbeſuch abzuſtatten. Iterfiluk iſt eine redſelige Witwe von
50 Jahren und eine gute Freundin von mir. Im Laufe des Win⸗
ters iſt ſie oft in Thule geweſen, um Stiefel für die Mitglieder
der Expedition zu nähen, und ſie empfängt mich daher jetzt mit
lautem Willkommensruf, als ich durch den Hausgang hinein⸗
krieche und erſt entdeckt werde, als ich auf ihrem fettigen Stein⸗
fußboden erſcheine. Auch ihr Haus iſt mit Reiſenden angefüllt,
und während ihre Gäſte ſchlafen, ſitzt ſie ſelber ſplitternackt bei
ihrer Lampe wie eine der klugen Jungfrauen, die darüber wachen,
daß das koſtbare Licht in der Nacht nicht ausgeht. Denn hier
oben gilt es für eine Schande, wenn die Gäſte des Hauſes bei
erloſchenen Lampen und in Kälte erwachen. Auch ich muß nach
der Sitte des Landes meine Kleidung abwerfen und preſſe mich
zwiſchen Iterfiluk und eine von ihren Freundinnen, die dicke Kiajuk,
die dasſelbe paradieſiſche Koſtüm wie die Wirtin trägt. Lange
ſaß ich da und ſchwatzte mit ihnen, bis die Müdigkeit und die
Atmoſphäre in der Hütte mir die Kräfte raubten, ſo daß auch
ich, vom Schlaf übermannt, zu den übrigen Gäſten hinſank.
Indeſſen durften wir nur wenige Stunden ſchlafen. Wir mußten
weiter, denn wenn man für viele Hunde Futter braucht, gehört es
zum guten Ton, daß man raſch durch die Wohnplätze fährt. Schon
am Mittag desſelben Tages machten wir uns daher auf die Fahrt
nach dem Wohnplatz Ulugſſat auf der Northumberlandinſel.
Jeder Wohnplatz hier oben beſteht in der Regel aus drei bis
fünf kleinen Steinhäuſern. Wenn man daher gelegentlich an einen
Platz mit zehn bis zwölf Häuſern kommt, ſo wirken dieſe auf uns
wie eine Hauptſtadt auf einen Landbewohner. Man erwirbt hier
wohl eine beſondere Fähigkeit, ſich auf das Gewohnte einzuſtellen,
und die Tatſache, daß wir zu dieſer ungewöhnlich großen Stadt
kamen, überwältigte uns daher völlig. An den Faſſaden der
Häuſer ſah man überall Fleiſchſtapel, die aus Schneeblöcken ge⸗
baut und mit köſtlichem friſchen Walroßfleiſch beladen waren,
das rot gegen den weißen Schnee leuchtete.
Von Thule zum Humboldtgletſcher. 47
Auf dem Eisfuß lagen alle Hunde des Platzes in einer Reihe,
ein Geſpann neben dem andern; bei unſerer Ankunft ſtießen ſie ein
wildes Geheul aus. Nach alter geheiligter Tradition, die den
Beſuchsſchlitten höfliche Zurückhaltung auferlegt, machten wir alle
auf dem Meereis halt, etwas vom Eisfuß entfernt. Bei den
Häuſern auf dem Land oben ſtanden alle Eskimos und blickten
ſchweigend, aber voll Intereſſe auf uns herab. So vergingen
lange Minuten; erſt dann machten beide Parteien in Überein⸗
ſtimmung mit den Sitten des Landes ihrer Freude Luft.
In Ulugſſat war leicht Quartier zu erhalten, und die Haus⸗
wirte wetteiferten, uns einzuladen. Aber bevor wir hineingingen,
um für unſere eigene Bequemlichkeit zu ſorgen, wurden all die
Geſpanne, die mit auf die Reiſe ſollten, ſorgfältig aus den Fleiſch⸗
depots der reichen Wirte gefüttert; dies war im Grunde eine große
Verſchwendung, da die Hunde ſonſt nur jeden zweiten Tag Futter
erhalten; aber wenn man vor einer Expedition ſteht, erlaubt
man ſich ſolche Ausſchreitungen.
Die Häuſer in Ulugſſat hatten alle möglichen Ausmaße. Da
war der Palaſt des großen Tornge, deſſen Inneres in zwei Seiten⸗
pritſchen mit Platz für mindeſtens 20 Schlafende geteilt war;
es war ein gemütlicher Raum, im Innern ganz mit Holz aus=
gekleidet und von drei ſtrahlenden Tranlampen feſtlich erleuchtet.
Leckeres Fleiſch und glänzende Narwalshaut waren einladend auf
dazu eingerichteten Plattformen von flachen Steinen neben den.
Lampen hingelegt. Dies war das Haus des großen Jägers.
Daneben befand ſich die Höhle der alten Simigag, deren Haus-
gang ſo ſchmal war, daß es mir trotz aller erdenklichen Verſuche nicht
glückte, mich hindurchzupreſſen, um ihr einen Beſuch abzuſtatten.
Simigag, „die Vollgepfropfte“, iſt die älteſte Frau des Stam⸗
mes und gibt ſich noch für den Hausgebrauch damit ab, Hilfs⸗
geiſter herbeizurufen, wenn das Schickſal ihr oder dem Wohn⸗
platz ungünſtig geſinnt iſt. Im übrigen iſt ſie ein lebendiges Buch
für alle, die gern alten Sagen und Märchen lauſchen. Und Simi⸗
gag ziert ſich niemals. i
Beim Ankauf des Fleiſches.
In Ulugſſat verging der Nachmittag mit dem Einkauf von
reinem Fleiſch für Menſchen und Hunde. Es wurde ein ſehr
48 | Zweites Kapitel.
arbeitsreicher Tag, da wir ſelber überall dabei ſein mußten. Es
handelte ſich namentlich darum, die beſten Fleiſchſtücke zu bekom⸗
men und am liebſten Stücke, an denen die Haut bereits vom
Fleiſch abgezogen iſt. |
Dann mußten eine Menge Kamiker und Fauſthandſchuhe, die
im Laufe des Winters den Frauen des Platzes in Auftrag ge⸗
geben waren und die jetzt abgeliefert werden ſollten, unterſucht
und bezahlt werden. Zwiſchen all dieſen unaufſchiebbaren Ge⸗
ſchäften fanden die unvermeidlichen Fleiſchfeſtmähler aus Anlaß
unſerer Abreiſe ſtatt. Wie wohlgemeint ſie auch waren, ſo waren
ſie doch an dieſem Tag etwas anſtrengend: vierzehnmal Walroß⸗
fleiſch an einem Tag iſt eine Leiſtung, die geſchafft ſein will. Wohl
half es etwas, daß das Fleiſch auf verſchiedene Weiſe ſerviert
wurde, einmal friſch und gekocht, anderes friſch gefangen und ge⸗
froren, wieder anderes in Fäulnis und gefroren. Das letztere
klingt übel, aber ſchmeckt vortrefflich. Dieſes der Gaſtfreundſchaft
gebrachte Opfer machte uns alle ſo eßmüde, daß wir nicht ohne
Sehnſucht der Nachtruhe entgegenſahen.
In Ilanguags, „des kleinen Gefährten“, Haus wurde unter
großer Beteiligung zur Trommel geſungen. Ich verſuchte, dort
einen Beſuch zu machen, mußte mich aber raſch wieder zurück⸗
ziehen, weil die Wärme ſo erſtickend war, daß man bald ganz
in Schweiß gebadet war. Aber nichtsdeſtoweniger wurde mir am
nächſten Morgen erzählt, die Sänger hätten die ganze Nacht
durch ausgehalten. Hier waren auch viele Schlitten zur Stelle,
auf denen die Bevölkerung der umliegenden Wohnplätze herbei⸗
geſtrömt war, um mir Fleiſch zu bringen und uns zu begleiten.
Voll Begeiſterung improviſiert man bei einer ſolchen Gelegenheit
Sängerfeſte, auf denen jeder Sänger ausſchließlich ſelbſtkompo⸗
nierte Weiſen zur Trommelbegleitung ſingt.
Spät am Abend, lange nachdem meine Hausgenoſſen zur Ruhe
gegangen waren, hörte ich knirſchende Schritte auf dem gefrorenen
Schnee draußen. Bald darauf ging die Tür auf, und nachdem
ſie ſich ſorgfältig davon überzeugt hatte, daß alle andern ſchliefen,
trat die alte Simigag ein und ſetzte ſich neben mein Kopfkiſſen.
Es ſei ihre Abſicht, ſagte ſie, mir den Schlaf leichter zu
machen. Sie wollte mir mit kleinen Zauberformeln und Sagen⸗
erzählungen den Weg ins Land der Träume bahnen. Aber
wunde a0 U NIS 1009
mufjen.
8
Ra
, wis un dog ang
Von Thule zum Humboldtgletſcher. 49
zunächſt wollte ſie mir den guten Rat einer alten Frau mit auf
die Reiſe geben; denn ſie glaubte, daß die Jahre den Alten gewiſſe
Kräfte verleihen, die ſie auf die Jüngeren übertragen könnten,
und ſie ſtünde noch in meiner Schuld von unſerer letzten Be⸗
gegnung her. Ich hatte ſie einmal in mein Haus von einem
Vogelberg gerettet, auf dem ein wenig galanter Schwiegerſohn ſie
einſtweilen ausgeſetzt hatte. Jetzt wollte ſie vor meiner Abreiſe Ver⸗
geltung üben. — Sollte es wahr ſein, daß das Alter den Worten
alter Menſchen Kräfte verleiht, die auf die jungen übertragen
werden können, ſo mußte die alte Simigag eine Kraftquelle von
Rang ſein. Sie war nicht nur die älteſte Frau des Stammes,
rotäugig, zahnlos, kahl, bucklig, von Gicht gekrümmt, beinahe
blind, alſo im Beſitz all der Spuren, die ein langes und hartes
Leben hinterlaſſen konnte, obendrein war ſie ſo häßlich und ſo
dürr, daß es von ihr hieß, ſie könnte nicht verſinken, ſelbſt wenn.
man ſie ins Meer würfe. Und doch lebten in ihrem Bewußtſein
noch friſch und klar die Erinnerungen an die Zeit, da ſie jung war
und ihre Kräfte ſich auf ganz andere Gebiete erſtreckten.
Sie hatte, wie ſie ſelbſt erzählte, eine ungewöhnlich helle
Haut gehabt und langes helles Haar, das wie ein Waſſerfall um
ihren nackten Körper ſtand. Dabei war ſie groß und üppig, und
zu all dieſen Vorzügen kam ein ſorgloſes und heiteres Tempera⸗
ment. Die Männer ſtritten ſich um ſie, und all dieſe Werbungen
hatten zu verſchiedenen Ehen geführt. Schließlich war ſie bei
einem Mann gelandet, der den Namen „die kleine Gurgel“ führte.
Mit ihm war ſie mehrere Jahre lang verheiratet geweſen; aber
das war zu der Zeit, als die weißen Männer noch unregelmäßig
„das Land der Menſchen“ beſuchten und Flinten und andere
Hilfsmittel für die Jagd unbekannt waren. Der Gebrauch des
Kajak war in Vergeſſenheit geraten, und man pflegte daher im
Sommer, wenn das Meer eisfrei war, bei den Vogelbergen zu
lagern. Im Winter hungerte man in der Regel tüchtig; denn es
gehören viele Krabbentaucher dazu, um einen Vorrat zu ſammeln,
der über die Polarnacht reicht. |
Einſt, als die Jagd fehlgeſchlagen war und alle hungern
mußten, war ihr Mann plötzlich aus ihrer Steinhütte verſchwun⸗
den, wo es ihm nicht länger gefiel; merkwürdig genug, war mit
ihm ihr ganzer Zuwachs an jungen Hunden verſchwunden. Dieſer
Nas muſſen. 4
50 Zweites Kapitel.
Umſtand hatte den Argwohn Simigags erregt. Sie lief in die
Berge und ſpürte den Mann auf; ſie fand ihn, wie er ſich an den
jungen Hunden gütlich tat, die er auf einem flachen Stein ge⸗
braten hatte.
Dieſe Handlung, die weniger darum Argernis erregte, weil
die jungen Hunde getötet waren, die ſie auf ihrer nächſten Früh⸗
jahrsreiſe hätten ziehen ſollen, ſondern hauptſächlich, weil der
Mann ſie heimtückiſch allein verzehrt hatte, ohne ſeine hübſche
Frau zu der Feſtmahlzeit einzuladen, war die Veranlaſſung zur
Scheidung. Dann war die „Vollgeſtopfte“ wieder eine Zeitlang
von Hand zu Hand gegangen, bis ſie ſich mit Kajog, genannt
der „Gelbe“, verheiratete, mit dem ſie in Glück und Herrlichkeit
bis zu ſeinem Tode gelebt hatte.
Jetzt ſaß alſo dieſe verwitterte und in guten und böſen Tagen
geſtählte Frau neben meinem Kopfkiſſen und wollte mich teil⸗
nehmen laſſen an den Erfahrungen, die ein langes Leben ihr ge⸗
geben hatten.
Auf einer langen Reiſe tue es not, ſich mit den Geiſtern, die
in Bergen und Abgründen herrſchen, gut zu ſtellen; aber auch die
Einſamkeit habe ihre Kräfte, vor denen ſich Menſchen in acht
nehmen müßten, daher käme ſie jetzt die letzte a mit ein paar
Zauberliedern zu mir.
„Sieh,“ ſagte ſie, „dieſe Zauberlieder ſind ſo arm und unbe⸗
deutend, eine Sammlung kurzer, ſinnloſer Worte. Aber was tut
das? Wir Menſchen verſtehen doch nur ſo wenig von dem Großen,
dem man begegnet, wenn man in die Gegenden hinauskommt, wo
man allein iſt mit der ſchweigenden Welt.“
So lautete ihre Erklärung und Entſchuldigung. Während fie
ergriffen wie eine heidniſche Prieſterin ihre Lieder mit ihrem
zahnloſen Mund ſummte, lag ich in meinen Felldecken neben ihr
und lauſchte. Hier iſt das Lebenslied für den, der zu leben
wünſcht: ;
Der Tag erhebt ſich
aus ſeinem Schlaf.
Der Tag erwacht
mit dem Morgengrau.
Auch du erheb dich,
auch du erwache
mit dem kommenden Tag!
Von Thule zum Humboldtgletſcher. 51
Sie murmelte die Worte flüſternd und wie entrückt in ihrer
Ekſtaſe, bis ſie ji in mein Bewußtſein eingeprägt hatten.
Nun folgte der Geſang, der von Männern geſungen wird, die
ſchwer und langſam fahrend in Lebensgefahr geraten.
Bi» Vorwärts, vorwärts!
* Schlitten, Kufen, Reiſewerkzeug!
i Deine dicken Wangen mußt du ſchmieren,
| Daß fie leichter laufen können.
Wenn die Jagdtiere ſich unſichtbar machen und man hungern
muß, ſingt man:
Hei — aus der Tiefe
Seetiere fing ich,
Hei — Hei
Walroſſe tötete ich
Aus der Tiefe,
Hei — Hei
Narwale harpunierte ich,
Schwarzſeitige Seehunde jagte ich,
Aus der Tiefe — — —
So erzielt man einen guten Fang.
3 Und To ſagte fie Formeln her, durch die der Nebel ſich lichten
u ließ, Bärengeſänge, die Bären herbeiloden, Trinkgeſänge, die dem
1 Durſtigen Waſſer verſchaffen, und Geſänge, die bei der Berg⸗
beſteigung geſungen werden — alle nützlich für den, der nach
. unbekannten Ländern reiſt.
Der Berggeſang war das letzte, was ich hörte, dann über⸗
wältigte mich die monotone Stimme, und als ich nach ein paar
Stunden Schlafs die Augen aufſchlug, war die alte Simigag
ad längſt zurück in ihre beſcheidene Höhle geſchlichen. Ich ſprang
5 von der Pritſche herab und blickte durch das Guckloch, um nach
5 dem Wetter zu ſehen. Es iſt taghell, ſelbſt jetzt mitten in der
Nacht, der Himmel iſt klar ohne eine einzige Wolke und wölbt ſich
wie eine blaue Kuppel über das Land und das weiße Eis. Eine
ſchwache Röte meldet, daß es nicht weit bis Sonnenaufgang iſt,
aber noch iſt es zu zeitig zum Aufbruch.
8. April. Am nächſten Tag fuhr ich mit Ajako im ſtrahlenden
Sonnenſchein weiter nach dem Wohnplatz Igdluluarſſuit, während
die andern alle direkt nach Neqe fuhren. Wir brauchten noch ein
paar Hilfsſchlitten und mehr Fleiſch, und bei Igdluluarſſuit
4 *
52 Zweites Kapitel.
wohnte Sipſu, ein ausgezeichneter Jäger und erfahrener Schlitten⸗
reiſender, den ich ſehr gern für den letzten Begleitſchlitten mit mir
bis Fort Conger haben wollte.
9. April. Am folgenden Tag ſammelten ſich die Begleit⸗
ſchlitten mit allem Fleiſch, was herbeigeſchafft war, bei Nege;
das aufgeſtapelte Fleiſch bildete einen ſtattlichen Haufen. Zu
ſeinem Transport ſtanden uns 27 Schlitten und 354 Hunde zur
Verfügung. Um zu begreifen, warum wir wegen unſerer ſechs
Schlitten einen ſolchen Troß in Bewegung ſetzten, muß man.
folgendes wiſſen:
Wie oben erwähnt, war unſere ganze Ausrüſtung nach Eskimo⸗
art eingerichtet; ſo war es auch mit dem Proviant der Fall.
Walroßfleiſch iſt ein vortreffliches Hundefutter, aber es hat den
großen Nachteil, daß es 65—70 Hundertteile Waſſer enthält.
Dies macht es ſehr ſchwer für den Transport. Während man
von Pemmikan ein Pfund für Hund und Tag rechnet, muß man
Walroßfleiſch oder ⸗haut etwa drei Pfund für den Tag oder fünf
bis ſechs Pfund jeden zweiten Tag rechnen, und außer unſern
eigenen Hunden mußten ja auch die Geſpanne der Begleitſchlitten
gefüttert werden.
Unſer Vorgehen war fo geplant, daß uns im ganzen
15 Schlitten bis zum Humboldtgletſcher, 13 bis zum Kap Con⸗
ſtitution und 8 bis Thank God Harbour folgen ſollten, und erſt
hier ſollten die Laſten unter Einrechnung des Arbeitsaufenthalts
unterwegs ſo verringert ſein, daß die ſechs für die weite Reiſe be⸗
ſtimmten Schlitten den Reit übernehmen könnten.
Das Fleiſch, das im voraus beſtellt war, lag auf dem Eisfuß
für uns bereit; ich hatte es nur zu bezahlen und dann die Laſten
zu verteilen. Die Bezahlung, die man begehrte, beſtand in der
Regel in Pulver, Blei und Zündhütchen. Dieſe Seite der Sache
ließ ſich leicht und raſch ordnen, man kommt leicht mit den Eskimos
überein, wenn es ſich um Proviant für große Expeditionen auf un⸗
beſtimmte Zeit handelt. Einem ſolchen Unternehmen gehört ihre
Sympathie. Schwieriger iſt es, das Fleiſch auf die 27 Schlitten
zu verteilen; denn hierbei hat man nicht nur auf die Stärke der
Geſpanne, ſondern auch auf die Beſchaffenheit der Schlitten Rück⸗
ſicht zu nehmen.
Sobald alles geordnet war, brach der bunte Schlittenzug auf.
Von Thule zum Humboldtgletſcher. 53
Die eifrigen Hunde ſprengten unter Peitſchenknall über das Eis
und waren bald hinter dem nächſten Vorſprung verſchwunden.
Unſer Weg ging die erſten Meilen über das Meereis etwa bis
Kap Alexander, wo ſelbſt im ſtrengſten Winter das Waſſer be⸗
ſtändig offen iſt. Dieſes Waſſer mußten wir durch einen Umweg
über das Inlandeis umgehen. |
Der Aufbruch fand um 4 Uhr ſtatt, und abends gegen 7 Uhr
erreichten wir die Stelle des Gletſchers, wo der Aufſtieg be⸗
ginnen ſollte. Hier machten wir alle halt, um uns die übliche
Taſſe Kaffee zu kochen, womit man ſich hier erfriſcht. Der Über⸗
gang pflegt ſelten mehr als ein paar Stunden zu dauern, iſt aber
ungewöhnlich ſchwierig. Erſt ſchleppt man ſich ſchweißtriefend die
ſteile Böſchung hinauf, dann gerät man in 300 Meter Höhe in
den Wirbel eines beißenden Nordwindes, der bei klarem Wetter
immer auf der Höhe von Kap Alexander wütet. Das Schnee⸗
geſtöber iſt hier dicht wie engliſcher Nebel, verdammt kalt und oft
ſo heftig, daß es, wenn man von Süden kommt, faſt unmöglich
iſt, mit den Hunden gegen den Wind zu fahren. Kein Wunder
daher, daß es Sitte iſt, ſich vorher mit einer Taſſe guten ſtarken
Kaffees zu ſtärken.
Es war ſchwierig, die ſchweren Schlitten auf den Gletſcher
hinaufzubringen, der immer hart und glatt geweht iſt. Aber da
viele hilfreiche Hände zugriffen, verlief der Übergang ziemlich
glatt. Die Stürme und das Schneegeſtöber nahmen wir mit gutem
Humor hin, in dem Bewußtſein, daß wir das ruhige Wetter, das
den Reiſenden immer auf dem Meereis erwartet, doppelt ge⸗
nießen würden.
Als Gäſte bei der ameriraniſchen Expedition.
10. April. Um 4 Uhr morgens kamen wir mit unſerm ganzen
Gefolge in Etah an, wo wir gerade gegenüber dem Hauptquartier
der Crockerland⸗Expedition unſer Lager auf dem Eis aufſchlugen.
Trotz der zeitigen Ankunft wurden wir von Kapitän Comer,
der ein Frühaufſteher iſt, herzlich empfangen. Er bat uns ſogleich
ins Haus einzutreten, wo Mr. Me Millan uns zum Frühſtück
einlud, eine Einladung, der wir aber erſt ein paar Stunden
ſpäter folgen konnten, nachdem das umfangreiche Lager aufge⸗
ſchlagen war. |
54 Zweites Kapitel.
Drei Tage waren wir die Gäſte unſerer amerikaniſchen Kolle⸗
gen und genoſſen in dieſer Zeit viel Freundlichkeit. Urſprünglich
ſollte ſich unſer Aufenthalt nur auf einen Tag erſtrecken, aber
Sturm und Unwetter zwangen uns, den Beſuch zu verlängern.
Mr. Me Millan war während unſeres Aufenthalts jo liebens⸗
würdig, uns etwas Pemmikan und Keks zu überlaſſen, was eine
ausgezeichnete Ergänzung unſerer eigenen Vorräte bildete.
Hayes’ Expedition 1860 —1861.
Der Wohnplatz Etah liegt an der Mündung des kleinen
Foulkefſords und iſt im Laufe der Zeit Zeuge der Ankunft
und Abreiſe vieler Expeditionen geweſen. Nicht weit ſüdlich von
hier überwinterte Hayes bei Port Foulke 1860 —1861, und die
Schiffbrüchigen der „Polaris“ errichteten ihr zeitweiliges Winter⸗
haus eine Meile nördlich von hier hinter der Littletoninſel.
Auch Peary hat ein paarmal den Winter hier verbracht, und
endlich ilt es jetzt das fünfte Jahr, daß die Crockerland⸗Expedition
hier unter dem Befehl von Me Millan liegt. Bei dieſer Gelegenheit
möchte ich der Expedition von Hayes ein paar Worte widmen,
während von der Polaris⸗Expedition ſpäter die Rede ſein wird.
Dr. Hayes, der als Arzt an der Expedition von Kane teil⸗
genommen hatte, hatte eine Reiſe nach Grinnell⸗Land unternommen,
die in Verbindung mit den übrigen Ergebniſſen dieſer Expedition
in ihm den Glauben befeſtigt hatte, es müſſe ſich in der Nähe des
Nordpols ein offenes Polarmeer finden. Seine eigene Expedition,
deren Aufgabe es war, die Entdeckungen auf der Weſtſeite des
Smithſundes und des Kennedykanals weiter zu verfolgen, führte
nicht zu den gewünſchten Reſultaten und intereſſiert uns in dieſem
Zuſammenhang nicht, da ſie unſere Route nicht berührt. Intereſſant
und erwähnenswert iſt nur die Art, wie er von den Eskimos
ſpricht, denen alle, die in dieſen Breitengraden gereiſt ſind, ſo un⸗
endlich viel verdanken. Man mag Pearys Reiſebeſchreibungen
aufſchlagen, wo man will, überall wird man ſehen, wie der große
Polarfahrer ſich immer in Bewunderung vor dieſem Volk beugt,
das zu verſtehen ſein Landsmann Hayes zu klein war.
Gleich zu Anfang macht ſich Hayes die Worte eines ſeiner
Matroſen zu eigen: es handle ſich um Weſen, die nur wenig über
den Hunden, die ihre Schlitten ziehen, ſtehen; dann fährt er fort:
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Von Thule zum Humboldtgletſcher.
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Eine von Hayes’ phantaſtiſchen Bärenjagden.
„Die Eskimos ſind in Wahrheit eine höchſt merkwürdige
Menſchenart, und ſie ſind ein noch intereſſanteres Studienobjekt als
meine Hunde, obgleich ſie nicht ſo nützlich ſind wie dieſe; den
Hund kann man doch wenigſtens mit feſtem Willen und einer
langen Peitſche regieren, während das Menſchentier ſich durch kein
Mittel leiten läßt. Man könnte ſie mit Recht in allem und jedem
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Hayes fährt quer durch Eisberge.
56 Zweites Kapitel.
ein negatives Volk nennen, ausgenommen in ihrer Unzuverläſſig⸗
keit, dieſe iſt abſolut poſitiv.“
Es iſt nicht nötig mehr anzuführen, und es liegt keine Ver⸗
anlaſſung vor, dieſem Ausſpruch anders zu begegnen als durch die
Wiedergabe von ein paar Abbildungen aus Hayes' Buch, die
von einer geradezu phantaſtiſchen Unzuverläſſigkeit ſind.
Übrigens iſt Hayes nicht der einzige, der Superlative ge⸗
braucht; die Erinnerungen an ihn, die noch heute bei dem Stamm
lebendig ſind, geben ihm darin nichts nach.
SEE
mm;
Se 0 0
Hayes auf Walroßjagd.
Hayes gilt für den größten Dieb, der jemals ihr Land be⸗
ſucht hat, und wenn er bei dieſen Diebſtählen mit heiler Haut
davonkam, ſo lag es nur an dem Umſtand, daß die Macht auf
ſeiner Seite war.
Es herrſchte während ſeiner Überwinterung ein ſehr großer
Mangel an Hunden, da der Beſtand durch eine Hundekrankheit
beinahe ausgeſtorben war. Nichtsdeſtoweniger „kaufte“ Hayes
den Eskimos ungefähr alle Hunde ab, die zum Schiff kamen, und
ſeine Bezahlung war ſo willkürlich, daß die Eskimos es mit
Recht für Gewalt anſahen, da die Dinge, die ſie für ihre unent⸗
behrlichen Zugtiere erhielten, unbedeutende Kleinigkeiten waren,
nach deren Beſitz ſie nie den geringſten Wunſch geäußert hatten.
7
*
Moltke.
Harald I
neehüttenlager am Eisberg.
Sch
Von Thule zum Humboldtgletſcher. 57
Trotz alledem ſpielt ſich Hayes beſtändig als der große Wohl⸗
täter des Stammes auf.
Die Epiſode, die am klarſten in der Erinnerung lebt und am
meiſten beſprochen wird, iſt ein Genieſtreich, den Hayes auf der
Kane⸗Expedition ausführte. Nach einer mißglückten Bootsfahrt
hatte Hayes mit einigen Begleitern ſein Quartier im Boothſund
aufgeſchlagen, wo ſie in ihrer Hilfloſigkeit fortwährend Beſuche
von Eskimos empfingen, die ſie mit Fleiſch verſorgten. Da ihre
eigene Kleidung abgenutzt war und ſie ſich außerſtande ſahen, ſich
etwas Neues zu verſchaffen, heckten ſie folgenden Plan aus:
Dr. Hayes ſollte den Gäſten eine ſtarke Doſis Opium geben, und
während dieſe nichtsahnend ihren Rauſch ausſchliefen, wollten ſie
ihnen die Kleider ausziehen, ihre eigenen Fetzen daneben legen,
und dann, in die Fellanzüge der Eskimos gekleidet, deren Hunde
ſtehlen und nach Norden zu ihrem Schiff flüchten. Der Plan
gelang, und der Bericht der Eskimos wird Wort für Wort in
Kanes Werk von Dr. Hayes ſelbſt ſogar mit einer gewiſſen
Schadenfreude beſtätigt.
Eine weitere Charakteriſtik des Mannes, der ein Volk, von
deſſen Hilfe er zweimal abhängig war, als Menſchentiere be⸗
zeichnete, dürfte überflüſſig ſein.
* *
*
. 11.—12. April. Die Tage in Etah verfürzten wir uns mit
allerhand Zeitvertreib. Teils vertieften wir uns in die ſehr reich⸗
haltige Bibliothek der Crockerland⸗Expedition, teils machten wir
Beſuche bei den Eskimofamilien des Platzes, die alle gute Be⸗
kannte von uns waren, und jeder Abend endete unweigerlich mit
einem Ball, der bis zu den Morgenſtunden dauerte. Die Ameri⸗
kaner beſaßen ein prachtvolles Grammophon, an dem wir die
ganze Zeit über viel Freude hatten. Es hatte ein ausgeſuchtes und
ſehr reichhaltiges Repertoire, für jeden Geſchmack etwas, ſo daß
wir bald Geſänge von Opern der ganzen Welt, geſungen von
Caruſo, Alma Gluck, Adelina Patti und andern genoſſen, bald
Runs muſikaliſchen Ausſchweifungen hingaben, indem wir durch
Tangos und One Steps Abwechſlung in das Programm brachten.
Die Leute in der Heimat, denen die wirkliche Muſik zugänglich
iſt, entweder von ihnen ſelbſt oder von Künſtlern ausgeführt,
rümpfen gern die Naſe über unſere Freude am Grammophon, die
58 Zweites Kapitel.
in der Regel als Mangel an muſikaliſchem Geſchmack gilt. Ich
betrachte mich nicht als unmuſikaliſcher als die meiſten Leute und
doch geſtehe ich, daß auch ich zu denen gehöre, die das Grammo⸗
phon hochſchätzen. Überall, wo ich es angetroffen habe, entweder
im Winterlager unter den Eskimos oder bei däniſchen Familien
in unſern grönländiſchen Kolonien, hat es uns immer einen ganz
eigenartigen wehmütigen Gruß gebracht von all dem, was wir
hier oben entbehren müſſen, und ich habe manch einen Menſchen
getroffen, den man ſonſt nicht der Sentimentalität beſchuldigen
konnte, der aber mit Gewalt die Bewegung unterdrückte, die die
Muſik des Grammophons hervorrief.
| * *
*
Die drei unfreiwilligen Ruhetage riſſen ein tüchtiges Loch in
unſern Fleiſchvorrat. Aber eines Tages, als ich überlegte, was wir
uns weiter erlauben könnten, wenn das Unwetter anhielte, tauchte
ein Mann namens Majagq auf, der alle Beſorgnis aus meinem
Gemüt verſcheuchte. Er hatte Frühjahr und Herbſt bei Renslaer
Harbour verbracht und erzählte, daß er dort noch beträchtliche
Fleiſchdepots beſitze, die er der Expedition zur Verfügung ſtelle,
wenn wir ihm nur Munition dafür gäben; darauf gingen wir
ſelbſtverſtändlich mit Freuden ein.
Endlich, am 13. April nachmittags, iſt das Wetter ſo, daß
von Aufbruch die Rede ſein kann. Zwar weht noch ein ganz
gewaltiger Sturm, aber da Wind hier in Etah unter allen Um⸗
ſtänden zum guten Wetter gehört, machen wir uns fertig und fahren
gegen den Wind an. Gegen Morgen erreichen wir Anoritog und
lagern uns für die Nacht.
Eisbär, der Sohn der Witwe.
Durch eine Laune des Schickſals hat Anoritog einen Namen
erhalten, der „die Windumſauſte“ bedeutet. Dabei iſt dieſer kleine
Wohnplatz, der als Winterquartier für die fingierte Nordpol⸗
expedition des Dr. Cook eine Weltberühmtheit erlangt hat, die
einzige Stelle in der Umgebung von Etah, wo immer abſolute
Windſtille herrſcht.
Anoritoqs Name ſtammt aus einer alten Sage von einer ge⸗
wiſſen Anoritog, die einen Bären aufzog. Eine Eskimofrau,
Arnajag, erzählt die Geſchichte wie folgt:
Bon Thule zum Humboldtgletſcher. 59
Es war einmal ein Mann namens Angutdligamag, der
niemals ſelbſt auf die Jagd zog. Er begnügte ſich damit, ab und
zu aufs Eis hinaus zu gehen, und traf er hier einen Mann, der
einen Seehund hinter ſich herſchleppte, ſo erſchlug er ihn und nahm
den Seehund als ſeine eigene Beute mit nach Hauſe, und davon
lebte er. Seine Landsleute wagten nicht, ſich gegen ihn aufzu⸗
lehnen, weil er ſehr ſtark war, und ſo kam es, daß er viele Jahre
ungeſtraft von Raub und Mord lebte. Aber eines Tages fand
man, daß es doch zu weit ging, und man einigte ſich, eine Liſt
gegen ihn anzuwenden.
„Höre, Angutdligamag,“ ſagte man, „du weißt nicht, welchen
Spaß es macht, gemeinſam mit andern auf die Jagd zu gehen;
du ſollteſt es nur einmal verſuchen, ſo würdeſt du ſicher jeden
Tag mitkommen wollen.“
Als Angutdligamag das hörte, zog er am nächſten Tag mit
allen Jägern des Lagers aus. Aber da er des Lebens außerhalb
des Hauſes ganz ungewohnt war, ſtellte er ſich ſehr ungeſchickt an,
und ſeine Kameraden mußten ihm bei allem, was er tat, helfen.
Abends ſollte er ſich in einer Schneehütte ſchlafen legen, aber auch
da wußte er nicht, wie er ſich anſtellen ſollte.
„Wie legt man ſich in einer Schneehütte zur Ruhe?“
„Man ſchläft am beſten, wenn man das eine Bein aus der
Hoſe herauszieht“, antworteten die andern.
Das tat er und fiel bald in einen tiefen Schlaf. Aber ſobald
ſeine Kameraden ſahen, daß ſein Hinterteil entblößt war, ſprangen
ſie herzu und jagten einen Wurfſpieß hinein, und Angutdligamag,
der brüllend vor Schmerz in die Höhe ſprang, jagte die Spitze nur
tiefer hinein und ſtarb. Darauf gingen ſeine Kameraden nach Hauſe.
„Was iſt aus Angutdligamag geworden?“, fragte ſeine
Mutter, die den Namen Anoritog, „die Windumſauſte“, hatte.
„Wir haben ihn erſchlagen“, antworteten die andern.
„Wenn ihr eine trächtige Bärin fangt, ſo gebt mir die Frucht,
damit ſie mein Kind werde“, bat die Frau.
Und eines Tages, als die Jäger eine trächtige Bärin gefangen
hatten, brachten ſie die Frucht nach Hauſe zu der Frau. Sie zog
das Junge mit Tran aus ihrer Lampe auf, und es wurde bald
ſo groß, daß es Seehunde für ſie fangen konnte. Den Bären
nannte man nach der Mutter Anoritoqs Sohn.
60 Zweites Kapitel.
Im Winter, als die große Dunkelheit kam, konnte der
Bär nichts mehr ſehen und keine Seehunde fangen, und
ſo machte er ſich daran, die Fleiſchdepots der Menſchen zu
beſtehlen.
„Du ſollſt nicht ſtehlen“, ſagte die Pflegemutter bekümmert.
„Deine Vettern werden dich ſtellen, und die Menſchen werden dich
töten.“
Mit den Vettern des Bären waren die Hunde gemeint.
„Oh, ich flüchte vor dem Wind,“ ſagte BE Bär, „dann können
die Hunde mich nicht wittern.“
Aber eines ſchönen Tages nahm es doch ein ſchlimmes Ende.
Die Hunde ſtellten ihn, und die Menſchen töteten ihn.
Viele Tage wachte die Frau in ängſtlicher Erwartung; denn
obgleich niemand ihr etwas erzählte, fürchtete ſie, daß dieſes Tier,
das ſie liebgewonnen hatte, getötet worden ſei.
b Eines Tages, als ſie ihn wie gewöhnlich ermahnt hatte, nicht
zu ſtehlen, hatte ſie ihm die eine Seite mit Ruß von ihrer Lampe
geſchwärzt.
„Nun kann ich doch jederzeit Gewißheit erhalten, wenn er ge⸗
tötet werden ſollte“, hatte ſie geſagt.
Sie bat nun ihre Gefährten, ſie möchten ausfahren und an
andern Orten nachfragen, ob ein Bär mit einer rußgeſchwärzten
Seite getötet worden ſei. Es dauerte auch nicht lange, ſo kamen
die Schlitten zurück und erzählten ihr, ein ſolches Tier ſei bei
einem der Nachbarplätze erlegt worden.
Groß war die Trauer der Frau, als ſie erfuhr, daß ihr
Pflegeſohn tot ſei. Weinend verließ ſie ihr Haus, ſetzte ſich auf
eine Landſpitze in der Nähe des Wohnplatzes, und indem ſie
ihre Blicke über das endloſe Eis ſchweifen ließ, das bis jetzt das
Jagdfeld des Bären geweſen war, ſang ſie:
Vergebens ſpäht die Wartende,
vergebens weint die Trauernde.
Hart iſt des Weibes Los,
das Tränen vergießt ohne Troſt,
ſchwer iſt das Los der Frau,
die den einzigen Sohn überlebt.
Bär! Bär! Kommſt du niemals zurück?
Bär! Bär!
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Bernie SKER
Von Thule zum Humboldtgletſcher. 61
Tage und Nächte vergingen, ohne daß die Frau Nahrung zu
ſich nehmen mochte. Schluchzend ſang ſie ihr Lied, bis die Tränen
auf ihren Wangen erſtarrten und ihr Körper zu Stein wurde.
Man ſieht noch leibhaftig ihre Geſtalt auf der Landſpitze beim
Wohnplatz. Ihr Mund iſt mit einer Schicht von erſtarrtem
Speck bedeckt; denn es heißt, daß es eine glückliche Bärenjagd gibt,
wenn man vor dem Aufbruch die Bärenmutter mit Speck füttert.
In ſtillen Winternächten, wenn die Nordlichter ihr geiſterhaftes
Spiel am Himmel treiben, ſieht man alte Jäger unter einem Vor⸗
wand in die Berge gehen, und am nächſten Tag zeigen friſche
Spuren im Schnee, daß die Bärenmutter Beſuch gehabt hat:
ihr Geſicht glänzt von Speck.
Das erſte Polareis.
Gegen Morgen, als wir eben erwacht waren und den Primus⸗
kocher angezündet hatten, wurden wir von Hundegebell und frem⸗
den Stimmen draußen überraſcht. Es waren zwei junge Leute,
die von einer glücklichen Moſchusochſenjagd in Ellesmereland
zurückkamen, wo ſie zuſammen 40 Tiere erlegt hatten. Sie ver⸗
ſorgten uns reichlich mit friſchem Fleiſch und Talg. Dann zog
jeder nach ſeiner Richtung weiter.
Von Anoritoq nach Renslaer Harbour hatten wir eine ſchwere
und anſtrengende Tagereiſe. Die Strecke von Kap Inglefield bis
Kap Ingerſoll legten wir durch ſtark aufgepreßtes Eis zurück.
Zu dieſer Zeit des Herbſtes, wenn das ganze Kanebecken aus
großen treibenden Schollen beſteht, kann die Strömung ſehr hart
gegen das Land gerichtet ſein, und während neues Eis entſteht,
wird gleichzeitig eine Menge Eis dort, wo die treibenden Schollen
zuſammenfrieren, emporgepreßt. Dieſe Preßeisrücken können oft ſo
hoch ſein, daß man ſich nur mit Axten den Weg bahnen
kann. Die ſchwerbelaſteten Schlitten müſſen langſam und vorſichtig
geleitet werden, damit ſie nicht plötzlich durch einen Fall aus
mehreren Metern Höhe zerſplittert werden. Oft bleiben ſie in ver⸗
zweifelten Stellungen hängen, jo daß ein paar Männer zugreifen
müſſen, um ſie wieder loszubekommen. Das iſt eine heiße und be⸗
ſchwerliche Arbeit, die indeſſen zu ſo vielen komiſchen Situationen
führt, daß die Beſchwerden immer mit größtem Humor ertragen
werden. N
62 Zweites Kapitel,
Ungefähr bei Kap Ingerſoll gelangten wir auf einen Eisfuß,
der ſich in etwa 60 Meter Breite vor uns wie eine ſchöne, leicht
fahrbare Landſtraße ausdehnte. Über uns hatten wir die hohen
roten Sandſteinfelſen mit dem gleichmäßig abfallenden ſchnee⸗
bedeckten Schutt am Fuß und den ſteilen Abſtürzen oben am
Gipfel. Die Strahlen der Abendſonne wurden vom Schnee und
den rotgefärbten Felſen zurückgeworfen; dieſe ſchöne Landſchaft vor
Augen, fuhren wir in raſchem Trab bis zum Wohnplatz bei Rens⸗
laer Harbour, der bei den Eskimos Aunartog heißt.
Das Innere dieſer Bucht macht einen außerordentlich freund⸗
lichen Eindruck. Das Land beſteht hier aus ſchönen abgerundeten
Höhen aus hellem Granit, auf denen überall, wo der Schnee weg⸗
geweht iſt, Moos und Gras hervorgucken. An der Küſte ſtehen
die eleganten, hochragenden Sandſteinfelſen auf beiden Seiten wie
ein majeſtätiſches Tor zu der kleinen Bucht, in der die Eskimos
eine Wohnſtätte gefunden haben. Der rötliche Ton, der nament⸗
lich bei Sonnenuntergang über den Küſtenfelſen ruht, bildet einen
wirkungsvollen Gegenſatz zu dem grauweißen Gneis im Innern
der geſchützten Bucht, von der aus ſich ein ebenes, gleichförmiges
Hochplateau wie eine große Ebene bis zum Inlandeis hinauf
erſtreckt.
Majags Fleiſchgruben.
Wir waren alle ſehr neugierig, wie Majag ſein Verſprechen
einlöſen würde. Er hatte von Fleiſchmaſſen geſprochen, aber die
Begriffe der Eskimos von Maſſen ſind oft recht unterſchiedlich.
Sobald wir das Lager aufgeſchlagen und die Hunde feſtgebunden
hatten, gingen wir mit Majag nach dem kleinen Vorgebirge, wo
er ſein Lager hatte. Mit berechtigtem Stolz wies er über die
Ebene hin und ſagte: „All das Fleiſch, das hier liegt, gehört
jetzt dir! Mögen deine Hunde ſtark werden von meinem Fang!“
Ich ſah ſogleich, daß der Mann keineswegs übertrieben hatte,
ja, daß es uns ſogar ſchwer fallen würde, alles das zu brauchen,
was er uns angeboten hatte. Hier gab es wirklich Seehundfleiſch
in großen Mengen. Während die Zelte der Expedition errichtet
und Schneehütten gebaut wurden, machten wir uns daran, die
großen Steine von den Fleiſchgruben zu wälzen, um zu den See⸗
hunden zu gelangen. Wir bekamen 35 große fette Seehunde und
vier köſtliche bärtige Seehunde.
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Von Thule zum Humboldtgletſcher. 63
Es war ein ſo großer Zuſchuß zu dem Fleiſch, das wir bereits
hatten, daß wir beſchloſſen, einen Ruhetag zu machen, nur um
die Hunde mit ſo viel Fleiſch vollzuſtopfen, als ſie nur bewältigen
konnten. Im übrigen benutzten wir den freien Tag, den der Über-
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Fleiſchkönig Majag. Harald Moltke.
fluß uns geſchenkt hatte, dazu, um die hiſtoriſche Stelle, zu der
uns Majags Fleiſchgruben geführt hatten, näher zu ſtudieren.
Majag iſt einer der beſten Jäger des Stammes und verläßt
nur ungern die Gegend um Kap Vork herum, wo die Bären⸗
jagden in der Melvillebucht ihre Anziehungskraft ausüben. Aber
voriges Jahr hatte er mit ſeiner Frau und ſeinem halberwachſenen
64 Zweites Kapitel.
Sohn ausgemacht, daß ſie wieder einmal ihre Kleider richtig aus⸗
lüften wollten. Sie hatten jo lange bei Kap York gewohnt,
daß ſie anfingen, vom Feſtliegen zu riechen. So wee ſie ſich
zu dieſem großen Umzug entſchloſſen.
„Der Eidervogel.“
Anoritog war damals 50 Jahre lang nicht bewohnt geweſen.
Der letzte Mann, der ſich hier niedergelaſſen hatte, hieß „der
Eidervogel“. Er wohnte urſprünglich weiter ſüdlich, dort wo es
viele Menſchen gab und wo man nicht an Ode und Sehnſucht
nach Menſchen zwiſchen den Wohnſtätten litt. Aber ein Jäger
des Ortes hatte verſucht, ihm ſeine Frau, die ſehr ſchön war, zu
rauben, und da die Frau keinen genügenden Reſpekt vor den
Rechten des Eidervogels zu haben ſchien, hatte dieſer ſich ſchließ⸗
lich entſchloſſen, weiter nach Norden zu ziehen. Aber auf ihrem
Weg durch die Wohnplätze traf ſie Krankheit, und die Jagd ſchlug
fehl. Dies geſchah in Zeiten, wo das böſe Geſchick plötzlich und
unerbittlich über den Menſchen herfallen konnte. Damals hatte
man die Sitte, den, der nicht mitfolgen konnte, in zufällig men⸗
ſchenleeren Häuſern, an denen man vorbeikam, zurückzulaſſen. Ge⸗
wöhnlich waren das die Kinder. Fenſter und Türen wurden
mit großen Steinen bedeckt, die die Ermatteten nicht lüften
konnten, und ſo ließ man ſie lebendig begraben zurück. Dies tat
man nicht aus Bosheit, ſondern es war eine geheiligte Tradition
unter dem umherſtreifenden Jägervolk. Weinend und laute Weh⸗
rufe ausſtoßend, ſuchte man ſich ſo raſch wie möglich von den
zum Tode Verurteilten zu entfernen, die in kurzer Zeit verhunger⸗
ten und erfroren. — Auf dieſe Weiſe ließ der Eidervogel eins
ſeiner Kinder nach dem andern zurück. Nur ein Kind, ihr Lieb⸗
lingskind, hüllten ſie in Felle ein und nahmen es auf dem Schlitten
mit. Aber als ſie unterwegs infolge von Krankheit, Hunger und
Erſchöpfung faſt den Verſtand verloren, forderte der Eidervogel
ſchließlich ſeine Frau auf, das Kind vom Schlitten herabzuwerfen,
damit es einen raſchen und ſchnellen Tod in der Kälte erlitte.
Und das tat ſie auch.
Zu ſpät bereuten ſie am nächſten Tag ihre Herzloſigkeit, und
aus Gram über ihre eigene Unmenſchlichkeit ſetzten ſie die Reiſe
immer weiter nach Norden fort bis nach Anoritog, wo ſie viele
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Eskimomutter.
Von Thule zum Humboldtgletſcher. 65
Leute trafen, die in Wohlſtand lebten. Aber die Trauer bedrückte
ihr Gemüt, ſo daß ſie das Zuſammenſein mit andern Menſchen
nicht ertragen konnten, und ſie begaben ſich noch weiter nach Norden,
bis ſie ſich endlich bei Aunartog niederließen. Hier lebten ſie allein
ohne Gefährten viele Jahre, ohne jemals Beſuchsreiſen zu andern
Menſchen zu unternehmen. Die wenigen, die bei ihnen einkehrten,
erzählten immer von ihrer großen Gaſtfreiheit, aber niemals
öffneten ſie den Mund zu einem überflüſſigen Wort, niemals ſah
man ein Lächeln auf ihren Lippen. Einſt, als man ſie zu be⸗
ſuchen kam, fand man beide tot. Es war Fleiſch genug in ihren
Fleiſchgruben, und daraus ging hervor, daß ſie freiwillig ver⸗
hungert waren, um ihren Kindern, die ſie ſelbſt getötet hatten,
in den Tod zu folgen.
Seit der Zeit des „Eidervogels“ haben keine Menſchen mehr
bei Renslaer Harbour gewohnt; die Stätte hat einen ſchlechten
Ruf. Erſt jetzt, im Jahre 1916, war Majag dort hingezogen; aber
obgleich die Beute des Frühjahrs und Sommers ſo überreich
war, daß alle ſeine Fleiſchgruben mit Seehunden gefüllt waren,
zog er doch im ſelben Herbſt, ohne zu überwintern, aus Sehnſucht
nach Geſellſchaft nach Etah zurück. Majag zog es vor, ſich fern
von ſeinen Fleiſchdepots kümmerlich durch die dunkle Zeit durch⸗
zuſchlagen, und ſeine Landsleute ſagten daher von ihm, er ſei ver⸗
rückt. Aber die Einſamkeit hatte ſo ſchwer auf dem Orte gelaſtet,
wo die Gebeine des „Eidervogels“ liegen, daß er vorzog, in
Armut unter Menſchen zu leben.
Der Wohnplatz „Frühlingsanfang“.
Der Wohnplatz Aunartoq, der Ort, wo der Frühling zeitig
beginnt, hatte nur drei Häuſer, die alle ſehr alt waren. Auf dem
Platz, wo die Häuſer geſtanden hatten, fand ich ein Stück von
einem Schlitten, der ſcheinbar aus Walfiſchknochen angefertigt war.
Auch ein Walfiſchkopf war in die Mauer eingebaut. Es war ſelt⸗
ſam zu ſehen, daß ſelbſt hier weit im Norden an Stellen, wo das
Eis ſelten ganz weggeht, der Wal ebenſo wie an den übrigen Orten
im Smithſund eine hervorragende Rolle geſpielt hat. Außer den
hier genannten Funden gab es Knochen vom Walroß, Bären,
Moſchusochſen und ferner einen Überfluß von abgenagten
Rasmuſſen. 5
66 Zweites Kapitel.
Seehundsknochen. Viele Fleiſchgruben von der gewöhnlichen Form
und Größe waren rings um die Häuſer angelegt. ;
Ich war etwas erjtaunt, keine Renntierknochen zu finden.
Dieſes friedliche Landſtück zwiſchen dem Meer und dem Inland⸗
eis hat jedenfalls früher die Lebensbedingungen für eine Menge
Renntiere geboten. Natürlich kann die Erklärung dafür ſein, daß
der Ort nicht in einer Zeit bewohnt war, in der das Renntier von
den Polareskimos gejagt wurde. So merkwürdig es klingt, das
Renntier galt bei dem jetzigen Stamm für ein unreines Tier,
das man nicht eſſen dürfe. Erſt nach 1864, als eine Einwan⸗
derung aus der Baffinbucht viele neue Sitten einführte, lernte
man das Renntier als Jagdtier betrachten, und es iſt ſeitdem mit
ſolcher Gründlichkeit gejagt worden, daß es faſt ausgerottet iſt. —
Die Jagdverhältniſſe bei Renslaer Harbour ſind kurz geſagt fol⸗
gende:
Jedes Frühjahr werden eine Menge Seehunde und bärtige
Seehunde mit der Utut⸗Methode auf dem Eis erbeutet. Die
Utut⸗Jagd dauert hier tatſächlich den ganzen Sommer, da das
Eis in der Regel in den Buchten liegenbleibt. Erſt gegen Mitte
Auguſt wird das Schmelzwaſſer auf dem Eis ſo tief, daß der
Fang unmöglich wird. In den letzten Jahren iſt das Eis längs des
Landes nicht aufgebrochen, nur rings um die Vorgebirge haben
ſich breite Rinnen gebildet. Gelegentlich kommen auch Walroſſe in
dieſe Rinnen hinein. Weiter im Land drinnen gibt es viele Haſen,
hier und da auch Renntiere. —
* *
*
Sobald unjere Arbeit bei den Fleiſchgruben fertig war und
die Seehunde für unſere Reiſe in paſſende Stücke zerlegt waren,
feierten wir nachmittags ein Feſt. Wir mußten unſerer Freude
über den Überfluß, in den wir durch Majags Fleiſchvorräte ge⸗
langt waren, Ausdruck geben.
Die Feſtlichkeiten wurden mit einer Filmaufnahme eingeleitet,
die unter allen Mitſpielern großes Glück machte. Sie geſchah bei
Majags Hütte, und auch eine Anzahl unſerer beiten und größten
Hunde durfte daran teilnehmen. Die Handlung des Stückes
war ſo einfach wie möglich. Sie ſtellte nur die Ankunft vieler
Beſucher bei Majag dar, der ſeine Gäſte mit Lächeln und ein⸗
ladenden Bewegungen zu den Fleiſchhaufen führte, die wir eben
Von Thule zum Humboldtgletſcher. 67
aus ſeinen Depots zuſammengetragen hatten. Dann wurde eine
glänzende Feſtmahlzeit eingenommen.
Die Aufführungen amüſierten die Eskimos wohl, erſchienen
ihnen aber zugleich als etwas Seltſames und Merkwürdiges, und die
Auftretenden ſchienen den Worten Ajakos, der von ſeinem Beſuch
in Dänemark im Jahr 1914 her die Sache kannte, daß die
Bilder einmal lebendig werden würden, nicht viel Glauben zu.
ſchenken. Man beachtete ſeine Erklärungen nicht beſonders und
ging leicht darüber hinweg, da man Ajafo nicht des leichtſinnigen
Umgangs mit der Wahrheit beſchuldigen wollte.
Wulff, der die Kamera handhabte, tat dies in einer Weiſe,
daß die Stimmung noch weiter durch allerhand Zurufe erhöht
wurde, mit denen er die Auftretenden fortwährend ſtimulierte;
leider müſſen noch anderthalb Jahre vergehen, ehe die Reſultate
ans Tageslicht kommen.
Nach dieſem Gaſtmahl im Bild kam eine richtige Mahlzeit
vom verfaulten Fleiſch des bärtigen Seehundes. Der bärtige
Seehund wird gewöhnlich in einzelne Beuteanteile zerlegt; be⸗
ſonders eifrig trachtet man nach den Hauptpartien, aus denen die
unentbehrlichen Lederriemen angefertigt werden. Aber Majag
hatte hier eine ſo glänzende Jagd gehabt und bereits ſolche Men⸗
gen von Riemen ausgeſchnitten, daß die letzten bärtigen Seehunde,
die er gefangen hatte, ſamt der Haut und dem Speck zerteilt
worden waren. Dies bewirkt, daß die großen Speckſtücke, die
man zeitig im Frühjahr in Steinhütten vergräbt, die ein gutes
Stück in die kalte Erde hinabreichen, nur einen ganz leichten
Hauch von Fäulnis bekommen. Kein Sonnenſtrahl darf zu dem
Fleiſch hinabdringen, das, wenn die ſpärliche Wärme des Sommers
vergangen iſt, etwa das Ausſehen von halbgetrocknetem geräu⸗
chertem Fleiſch annimmt und ganz vortrefflich ſchmeckt. Da man
ſehr ſelten das Fleiſch des bärtigen Seehundes in dieſer Art ſer⸗
viert bekommt, war der Appetit glänzend. Auch unſere Hunde
erhielten ihren Anteil, und obgleich ſie 185 an der Zahl waren,
bekamen ſie doch ſo viel, wie man in ſie hineinſtopfen konnte,
ohne Gefahr zu laufen, daß ihre inneren Organe platzten. Nach
dem Fleiſch wurde Kaffee aufgetragen, und darauf eine kleine
Unterweiſung im Schneeſchuhlaufen erteilt, die durch die vielen
Lachſalven, die ſie auslöſte, die Verdauung nach der gewaltigen
5 >
68 Zweites Kapitel.
Mahlzeit aufs beſte förderte. Nur wenige von den Eskimos
waren nämlich geübt, auf Schneeſchuhen die Hügel hinabzufahren,
und da die Fahrt meiſtens in Purzelbäumen endete, ſo war für
gute Gymnaſtik des Zwerchfells geſorgt.
Es war ein unvergeßlicher Abend. Bald ſoll die Mitternacht⸗
ſonne erſcheinen, aber noch ſinkt die Sonne für einige Minuten
unter den Horizont, und das bewirkt dann dieſe wunderbare Be⸗
leuchtung, die Abendröte über den Sandſteinfelſen und über dem
weißen Schnee. Dieſe Stimmungen verſchwinden, ſobald das ein⸗
förmigere Licht der Mitternachtſonne Tag und Nacht ſcheint. Die
Landſchaft iſt wundervoll, nicht nur weil die Küſte mit dem breiten
Eisfuß und den ſchönen Randbergen an und für ſich anziehend iſt,
ſondern auch, weil das ganze Kanebecken mit der wechſelnden Fläche
des Packeiſes eine wilde und großartige Ausſicht nach Norden ge⸗
währt. Jeden Abend beim letzten fliehenden Sonnenlicht ſieht man
die Berge auf Grinnell⸗Land wie brennende phantaſtiſche Schlöſſer
am weſtlichen Horizont.
Kanes Expedition 1853 — 1856.
Ein eigenartiges lächelndes Behagen liegt über dieſer kleinen
Bucht, in der die Brigg „Advance“ überwinterte.
Das Gelände, das in grasreichen Ebenen ſich bis zum In⸗
landeis erſtreckt, die moosbewachſenen Gneishügel, auf denen in
dem kurzen Sommer ein Reichtum an Leben und Blumen her⸗
vorſprießt; die Seehunde, die Möwen, die Eidervögel, die Haſen
und die wilden Renntiere, die in den Schluchten weiden, aus denen
friſche Gebirgsflüſſe das Land bewäſſern, alles dies gibt nicht nur
den Eindruck von Leben und feſtlicher Schönheit, ſondern läßt auch
ſo viel Gutes im Kampf um die Nahrung erwarten, daß man un⸗
willkürlich die Gegend und die Landſchaft liebgewinnt. Dies war
jedenfalls unſer Eindruck.
Auf Kanes Expedition wirkte das alles dagegen wie die wil⸗
deſte Ode am Ende der Welt. Auf die Jagdtiere, die ihnen
Nahrung und Geſundheit hätten geben können, konnten ſie nicht
rechnen, da ihnen die Fangmethoden unbekannt waren, und ſie
ſahen daher die Landſchaft und ihr eigenes Schickſal aus der
Stimmung heraus an, die der ſalzige Proviant und der Skorbut
ſchufen.
Von Thule zum Humboldtgletſcher. 69
Kanes Hauptquartier hier in Renslaer Harbour iſt für uns nur
ein ganz vorläufiger Aufenthalt auf dem Wege nach den Küſten,
nach denen wir ſtreben. Und doch gibt es trotz aller Unterſchiede
zwiſchen dieſen erſten Pionieren und uns gewiſſe Berührungspunkte.
Der amerikaniſche Arzt Dr. Eliſha Kent Kane leitete eine
der letzten großen Expeditionen, die auszogen, um nach Sir John
Franklin zu ſuchen. Er war in Wirklichkeit einer der erſten, der mit
den alten unpraktiſchen Prinzipien der Schiffserpeditionen brach
und in vielen Richtungen Pläne und Reiſemethoden anwendete,
die ſpäter mit großem Erfolg von andern geübt wurden. Bisher
hatten alle arktiſchen Expeditionen ausſchließlich praktiſche Auf⸗
gaben gehabt, inſofern als das Ziel aller Unterſuchungen die
Entdeckung einer Durchfahrt vom Atlantiſchen zum Stillen Ozean
war, eines Seeweges, der eine Umwälzung in den Handelswegen
zur Folge haben ſollte. Bekanntlich zeigte es ſich ziemlich raſch, daß
eine ſolche Durchfahrt wohl vorhanden war, aber niemals prak⸗
tiſche Bedeutung gewinnen konnte, wegen der gewaltigen Eis⸗
hinderniſſe, die zu überwinden waren.
Aber die Luſt zu Entdeckungen in dem arktiſchen Märchenland
kühlte ſich nicht ab, obwohl ſich herausſtellte, daß man ſich keine
Hoffnung auf nutzbringende Reſultate machen könne. Als die
praktiſchen Ziele verſagten, traten die rein wiſſenſchaftlichen Auf⸗
gaben in den Vordergrund, und Dr. Kane war einer der erſten,
der unter der neuen Fahne auszog. Allerdings nahm man den
verſchwundenen Franklin in das Programm auf und reiſte unter
den Auſpizien der Geographiſchen Geſellſchaft von New Pork und
des Smithſonian⸗Inſtituts von Waſhington. Aber ſchon die Art,
wie Kane ſeinen Plan entwarf, zeigte, daß er ſelber keine Hoff⸗
nungen hegte, Spuren der vor ſieben Jahren verſchwundenen Ex⸗
pedition zu finden.
Der Weg, den Kane wählte, zeigt denn auch zur Genüge,
daß es vor allen Dingen neue Entdeckungen ſind, die ihn lockten.
Er wollte der „Terra firma“ oder mit andern Worten der grön⸗
ländiſchen Küſte nach Norden folgen. Er glaubte an die Theorien
vom offenen Polarmeer, das eventuell Schiffe ohne Eishinderniſſe
über den Nordpol führen könne; er ſetzte voraus, daß Grönland
ſich ſehr weit nach Norden erſtreckt, und nahm ſehr richtig an, daß
deſſen Nordſpitze das Land ſein muß, das dem Nordpol am
70 Biweites Kapitel.
nächſten liegt. Die Küſtenreiſe ſollte ferner die Expedition inſtand
ſetzen, ſich ſelbſt durch Jagd zu ernähren, und endlich hoffte man
auf ein Zuſammenarbeiten mit den Eskimos. Sobald man, ſei es
mit dem Schiff oder mit Booten, ins offene Polarmeer vorge⸗
drungen war, wollte man in weſtlicher Richtung Streifzüge nach
der Franklin⸗Expedition unternehmen.
Wie man ſieht, umfaßte dieſer Plan in erſter Linie die Unter⸗
ſuchung und kartographiſche Aufnahme bisher unbekannter Küſten⸗
ſtrecken. Dazu kam, daß Kane der allererſte war, der Reiſen auf
die Jagd und auf ein Zuſammenarbeiten mit der Bevölkerung
des Landes gründete.
Nach einer abenteuerlichen, wechſelvollen Seefahrt erreichte Kane
im Herbſt 1853 Renslaer Harbour auf etwa 78° 307 nördlicher
Breite. Dies war der nördlichſte Punkt, auf dem jemals eine Über-
winterung ſtattgefunden hatte, und dieſer Umſtand trug nicht wenig
dazu bei, der Expedition ſelber zu imponieren. Aber die Polar⸗
nacht wirkte entmutigend und hinderte an Ausflügen, bis man.
ſpäter von den Eingeborenen des Landes lernte, daß man auch das
Mondlicht mit Erfolg zu kleinen Reiſen benutzen kann.
Leider war die Expedition ſehr unzweckmäßig verproviantiert.
Die Hauptnahrung ſcheint aus Salzfleiſch beſtanden zu haben, und
dies hatte zur Folge, daß faſt alle an Skorbut erkrankten.
Tatſächlich hatte der Zufall ſie in ein ausgezeichnetes Jagd⸗
gebiet geführt. Aber der Mann, den die Expedition als Jäger
aus Südgrönland mitgebracht hatte, mußte ſich erſt mit den Ver⸗
hältniſſen vertraut machen. Es war dies der junge Hans Hen⸗
drik, der ſpäter durch ſeine Teilnahme an mehreren andern Polar⸗
expeditionen ein berühmter, unentbehrlicher Jäger und Hunde⸗
führer wurde. Außer Hans begleitete die Expedition auch ein
däniſcher Handwerker, Carl Peterſen, der in Nordgrönland geboren
und mit der Winterjagd vertraut war und gute Vorbedingungen
dafür beſaß, ein nützliches Mitglied zu werden. Aber man ließ
die Jagdausſichten dieſer fremden Gegend ganz unbenutzt, bis man
plötzlich und unerwartet an einem Wintertag im April den Be⸗
ſuch von einer Schar Eskimos erhielt. Kane gibt eine unterhal⸗
tende, naive Beſchreibung dieſer erſten Begegnung, die die Ein⸗
leitung zu entſcheidenden Reformen in der Reiſetechnik der Expe:
dition bildete. Ein Mann der Beſatzung der „Advance“ war
Bon Thule zum Humboldtgletſcher. 71
gerade geſtorben, und man ſaß früh am Morgen da und wachte
bei dem toten Kameraden, als die Deckwache in die Kajüte ge⸗
ſtürzt kam und rief, es ſeien Leute da, die vom Land her an⸗
riefen.
Kanes erſte Begegnung mit den Eskimos.
Kane erzählt in ſeinem Werk:
Ich ging hinauf, begleitet von allen, die noch imſtande waren,
das Fallreep hinaufzuklettern. Da ſahen wir auf allen Seiten
unſerer felſigen Bucht ringsumher auf der Schneeküſte wilde,
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Seltſame Weſen tauchen aus dem Dunkel auf.
ſeltſame, aber augenſcheinlich menſchliche Weſen aus dem Dunkel
der Klippen auftauchen. Als wir uns auf Deck verſammelten,
ſtiegen ſie auf die vorſpringenden Eisblöcke am Land, einzeln
und in die Augen fallend, wie die Opernſtatiſten in einem Halb-
kreis aufgeſtellt. Sie ſchrien und riefen, um unſere Aufmerkſamkeit
auf ſich zu lenken oder vielleicht nur, um ihrem Erſtaunen Luft
zu machen. Aber ich konnte aus ihrem Geſchrei nichts anderes
heraushören als „Hoah ha ha!“ und „Ka kaah!“, immer von
neuem wiederholt.
: Es war hell genug, daß ich ſehen konnte, daß ſie keine Waffen
ſchwangen, ſondern nur heftig mit Kopf und Armen geſtikulierten.
12 Zweites Kapitel.
Bei näherem Zuſehen zeigte ſich, daß ſie weder an Zahl noch an
Größe ſo furchteinflößend waren, wie einigen von uns anfänglich
ſcheinen wollte. Kurz und gut, ich war überzeugt, die eingeborene
Bevölkerung vor mir zu haben, und ſo rief ich Peterſen aus ſeiner
Koje als Dolmetſcher zu mir und ging unbewaffnet und mit der
offenen Hand winkend auf eine hohe Geſtalt zu, die ſich bemerk⸗
lich machte und eine größere Schar um ſich verſammelt zu haben
ſchien, als die andern. Der Mann verſtand augenſcheinlich die Be⸗
wegung, denn er faßte plötzlich Mut, ſprang auf das Eis hinab
und ging mir entgegen.
Er war faſt einen Kopf größer als ich ſelber, außerordentlich
kräftig und wohlgebaut, von ſchwärzlicher Hautfarbe und durch⸗
dringenden ſchwarzen Augen. Er trug eine Jacke mit Kapuze aus
weißen und blauen Fuchsfellen, die mit einer gewiſſen Phantaſie
zuſammengeſetzt waren, und Stiefelbeinkleider aus weißem Bären⸗
fell, die am Fuß mit den Krallen des Tieres abſchloſſen.
Ich kam bald zu einem Verſtändnis mit dieſem kecken Diplo⸗
maten. Wir hatten kaum unſere Unterhaltung begonnen, als ſeine
Landsleute ſich um uns ſcharten, wahrſcheinlich auf ein Zeichen
von ihm. Aber es war nicht ſchwierig, ihnen verſtändlich zu machen,
daß ſie bleiben ſollten, wo ſie wären, während Metek mit mir an
Bord ging. Dadurch hatte ich den Vorteil, mit einer wichtigen
Geiſel zu verhandeln.
Obgleich es das erſtemal war, daß Metek einen weißen Mann
geſehen hatte, ging er ohne Furcht mit mir; ſeine Landsleute
blieben auf dem Eis zurück. Hickey bot ihnen an, was wir für
unſere größten Delikateſſen anſahen, Scheiben von gutem Weiß⸗
brot, Schweinefleiſch, ſowie große Stücke weißen Zucker; aber ſie
weigerten ſich es anzurühren. Sie hegten offenbar keine Furcht vor
offener Gewalt von unſerer Seite. Ich entdeckte ſpäter, daß
mehrere von ihnen ganz allein den Kampf mit einem Bären oder
Walroß aufnehmen konnten und daß ſie uns für eine blaſſe, kränk⸗
liche Geſellſchaft hielten.
Zufrieden mit der Unterredung in der Kajüte, gab ich Be⸗
ſcheid, dem Reſt den Zutritt zu erlauben, und obgleich ſie nicht
wiſſen konnten, wie es ihrem Anführer ergangen war, nahm ein
halbes Dutzend die Einladung mit lärmender Bereitwilligkeit an.
In der Zwiſchenzeit hatten andere, wie um uns Geſellſchaft zu
Von Thule zum Humboldtgletſcher. 73
leiſten, ſolange der Beſuch dauerte, etwa 56 ſchöne Hunde und
die dazugehörigen Schlitten vom Landeis geholt und ſie in
200 Fuß Entfernung von der Brigg angebracht, indem ſie ihre
Spieße feſt in das Eis rammten und die Hunde mit Seehund—
riemen daran feſtbanden. Die Tiere verſtanden dieſes Manöver
ſehr gut und legten ſich ſogleich nieder. Die Schlitten waren aus
kleinen Stücken poröſer Knochen angefertigt und in bewunderns⸗
werter Weiſe mit Lederriemen zuſammengebunden; die Kufen, die
wie polierter Stahl blinkten, beſtanden aus blank geputztem Elfen⸗
bein von den Stoßzähnen des Walroſſes.
Die einzige Waffe, die ſie trugen, waren Meſſer, die in den
Stiefeln ſteckten. Dagegen waren ihre Spieße, die auf den
Schlitten feſtgebunden waren, recht ſchreckeneinflößende Waffen. Der
Schaft beſtand aus einem Horn des Narwals oder auch aus den
Schenkelknochen eines Bären, je zwei und zwei zuſammengebunden.
Sie hatten kein Holz. Ein einziger verroſteter Faßreifen von
einer angetriebenen Tonne hatte wohl den ganzen Stamm mit
Meſſern verſorgt. Aber die ſcharf geſchliffenen Spitzen an ihren
Spießen waren unverkennbar aus Stahl und mit nicht geringer
Geſchicklichkeit an dem zugeſpitzten Knochenſchaft feſtgemacht. Ich
erfuhr ſpäter, daß ſie das Metall durch Handel mit den ſüd⸗
licheren Stämmen erwarben.
Als fie erſt die Erlaubnis erhalten hatten, an Bord zu:
kommen, waren ſie ſehr wild und ſchwierig im Zaum zu halten.
Sie ſprachen immer zu dreien oder vieren auf einmal, zueinander
oder zu mir, lachten herzlich über unſere Unwiſſenheit, weil wir
ſie nicht verſtanden, und ſprachen dann weiter wie vorher. Sie
waren unabläſſig in Bewegung, gingen überall hin, verſuchten
Türen zu öffnen, zwängten ſich durch dunkle Gänge zwiſchen
Fäſſern und Kiſten hindurch und wieder ans Tageslicht, voll
Eifer, alles, was ſie ſahen, zu befühlen und zu erproben, und baten
um alles, was ſie in die Hand bekamen, oder verſuchten, es zu
ſtehlen. Es war um ſo ſchwieriger, ſie in Schach zu halten, weil ich
in ihnen nicht den Glauben erwecken wollte, als ob wir die ge⸗
ringſte Furcht vor ihnen hätten. Es gab Zeichen für unfern
kampfunfähigen Zuſtand, die ihnen verborgen bleiben mußten.
Namentlich war es notwendig, ſie von der Hütte an Deck fern⸗
zuhalten, wo der tote Körper des armen Baker lag, und da es
74 Zweites Kapitel.
fruchtlos war, mit ihnen zu verhandeln und ſie zu überzeugen, ſo
mußten wir zuletzt, um ſie zur Ordnung zu rufen, unſere Zuflucht
zu einem „höflichen Gebrauch der Fäuſte“ nehmen, den, wie ich
glaube, die Geſetze aller Länder dulden.
Unſere ganze Stärke wurde gemuſtert und in Bereitſchaft ge⸗
halten; aber obgleich eine gewiſſe Unhöflichkeit in dem Drängen
und Puffen lag, womit die Schiffspolizei ſich durchſetzte, ging
das Ganze doch in aller Gutmütigkeit vor ſich, und unſere Gäſte
fuhren fort, ein und aus und um das Schiff herumzulaufen,
brachten Proviant und fütterten ihre Hunde auf dem Eis; das
dauerte die ganze Zeit bis in den Nachmittag hinein, dabei
errafften ſie, was ſie konnten. Dann warfen ſie ſich wie müde Kinder
hin, um zu ſchlafen. Ich gab Befehl, daß der Laderaum für ſie
hergerichtet würde, und Morton breitete ein großes Büffelfell
in der Nähe des Kohlenfeuers im Schiffsküchenofen aus.
Am Morgen drängten ſie wegzukommen; aber ich hatte Be⸗
fehl gegeben, ſie zurückzuhalten, um noch ein Abſchiedsgeſpräch
mit ihnen zu halten. Dies führte zu einer Übereinkunft, kurz gefaßt
in den Ausdrücken, damit ſie leicht zu merken ſei, und vorteilhaft
für beide Teile, damit ſie von beiden gehalten würde. Ich ver⸗
ſuchte ihnen begreiflich zu machen, welch ein mächtiger Geiſt ſie
bei ſich aufgenommen habe, und wie wohlgeſinnt er ſich ihnen
zeigen würde, ſolange ſie ſeinen Befehlen gehorchten, und als vor⸗
läufiges Zeichen meiner Gunſt kaufte ich von ihnen alles Walroß⸗
fleiſch, was ſie entbehren konnten, und vier von ihren Hunden
und bereicherte ſie zum Entgelt dafür mit Nadeln und Perlen
und einem Schatz von alten Faßdauben. 5
In ihrer überwältigenden Dankbarkeit verſprachen ſie dafür
feierlich, daß ſie in einigen Tagen mit mehr Fleiſch zurückkommen
würden und daß ich ihre Hunde und Schlitten auf meinen Aus⸗
flügen nach Norden benutzen dürfte. Darauf gab ich ihnen Die
Erlaubnis zu gehen. In weniger als zwei Minuten hatten fie
ihre Hunde vorgeſpannt, knallten mit ihren anderthalb Meter
langen Peitſchen aus Seehundsriemen und verſchwanden über das
Eis in ſüdweſtlicher Richtung mit einer Schnelligkeit von ſieben
Seemeilen in der Stunde.
* *
Von Thule zum Humboldtgletſcher. 75
Es muß wahrhaftig auf die vom Skorbut geſchwächten Männer
ganz eigentümlich gewirkt haben, den wilden Kindern dieſes
Landes gegenüberzuſtehen, die von Geſundheit ſtrotzten und ohne
jede Schwierigkeit ihre Nahrung und Kleidung aus der Wüſte zu
beziehen ſchienen, über der ſoeben die Polarnacht gebrütet hatte;
dieſer ſelben Wüſte, die fo niederſchlagend auf die zivilifierten
Bleichgeſichter wirkte und ſie ſo hilflos machte gegenüber dieſer
rauhen Natur, die ſie nicht kannten. Ganz richtig ſah Kane
ſofort, daß hier etwas für die Expedition zu lernen war. Mit
Hilfe ſeines ſüdgrönländiſchen Dolmetſchers verſuchte er ſogleich,
ein formelles Übereinkommen zu ſchließen. Es wirkt paradox,
daß er gleich in einigen von ihnen Diplomaten zu ſehen glaubt,
die er durch Verträge binden will, ganz wie bei zwei Nationen
im Bereich der Ziviliſation. Sicher ſind die Eskimos ihrerſeits
ebenſo verwundert geweſen über die ſeltſamen Einfälle der Ex⸗
pedition, wie die Amerikaner erſtaunt waren über die Bewohner
des äußerſten Nordens.
Kane hatte an ihren Werkzeugen, Schlitten und andern Ge⸗
räten raſch geſehen, was dieſen Menſchen fehlte, und er ſah bald
ein, daß er, wenn er mit ihnen tauſchen und ihnen das geben
könnte, was ſie brauchten, wahrſcheinlich darauf rechnen durfte,
ſie als Begleiter und Führer für die Reiſen zu gewinnen, die er
noch vorhatte.
Leider ſcheint raſch der Hochmut und Argwohn 85 zivili⸗
ſierten Menſchen erwacht zu ſein, und zum großen Erſtaunen der
Eskimos wurde an Bord ſogleich eine Ordnungspolizei organi⸗
ſiert, die ſie aus den Räumen hinauswarf, in denen man ſie nicht
haben wollte. Es muß höchſt eigentümlich auf die freundlichen
Gäſte gewirkt haben, die ja nur mit der ganzen Gier ihres Weſens
nach neuen Entdeckungen dieſes merkwürdige Fahrzeug, auf das
ſie gekommen waren, unterſuchen wollten. Und daß man ihnen,
als ſie genug von der Gaſtfreundſchaft unter Polizeiaufſicht hatten
und ſich zu entfernen wünſchten, plötzlich die Abreiſe verbot und
ſie zwang, an Bord des Schiffes zu bleiben, bis die diploma⸗
tiſchen Verhandlungen abgeſchloſſen waren, hat ſie ſicher mit
ſteigender Verwunderung erfüllt.
Als Beweis ſeiner beſonderen Gunſt kaufte Kanes alles, was
ſie an Walroßfleiſch hatten, und dazu noch vier Hunde; dafür
76 Zweites Kapitel.
erhielten ſie ein paar Nadeln und Perlen und alte Faßdauben.
Komiſch wirkt es daher, wenn man die Tradition unter den
Eskimos damit vergleicht. Sie berichten, daß die erſten Beſucher
auf der „Advance“ dem Herrn des Schiffes einige ihrer Hunde
und all ihr Walroßfleiſch ſchenkten, wodurch ſie gezwungen waren,
ihre erſte Frühjahrsjagd auf Bären aufzugeben. Nach der Auf⸗
faſſung der Eskimos waren ſie es alſo, die als Wohltäter auf⸗
traten, und nicht Kane.
Die Eskimos wurden ja vortrefflich ohne Hilfe fertig, während
die weißen Männer ſich in ein Land verirrt hatten, wo ſie jetzt
an Bord ihrer eingefrorenen und unbrauchbaren Schiffe krank
lagen und mit dem Tode kämpften. Zum Glück für die Ameri⸗
kaner bildete dieſe Begegnung die Einleitung zu einem ſehr leb⸗
haften Verkehr, bei dem die Eskimos zu jeder Zeit für friſches
Fleiſch ſorgten; dadurch wurde die Expedition von einer ſtarken
Dezimierung durch den Skorbut gerettet. Schließlich traten die
Eskimos als Führer und Lenker von Hundeſchlitten auf, führten
die weißen Männer in dem Diſtrikt herum, den fie in⸗ und aus⸗
wendig kannten, machten ſie mit den Eigentümlichkeiten der Jagd
und ihren Methoden vertraut und gaben ihnen ſolche Auskünfte
über die Eisverhältniſſe auch weiter im Süden, daß Kane im
Frühjahr 1855, als das Schiff noch immer vom Eis einge⸗
ſchloſſen war, ſich entſchloß, in offenen Booten ſüdlich nach Uper⸗
niwik zu ziehen. :
Wenig angebracht ſcheint daher die Kleinlichkeit, die die Expe⸗
dition den Eskimos gegenüber bewies. Es waren ja doch nur
Kleinigkeiten, die verſchwanden, wenn man auch zugeben muß, daß
dieſe Polareskimos, die nicht gewohnt waren, in Verbindung mit
„hohen Geiſtern“ zu kommen, gelegentlich lange Finger machten.
Die Expedition reſpektierte dafür auch nicht die Fleiſchdepots der
Eskimos. Doch waren dies ja alles nur Bagatellen, die kaum
ein ſo maſſives Vorgehen rechtfertigten, wie Kane es einſchlug.
Er war kleinlich genug, an Bord ein Gefängnis für ſeine Retter
einzurichten, und ſelbſt, wenn er ſie nie körperlich abſtrafen ließ,
ſperrte er ſie doch in die dafür eingerichteten Zellen ein. Überhaupt
hatte er die ſeltſame Idee gefaßt, es ſei praktiſch, den Eskimos den
Glauben beizubringen, er, der Herr des großen Schiffes, ſei kein
Menſch, ſondern ein großer Geiſt. Er glaubte, damit die „Wilden“
Von Thule zum Humboldtgletſcher. 77
am leichteſten in Schach halten zu können. Dies war ein voll⸗
kommenes Mißverſtändnis. Die Eskimos haben im Gegenteil
gedacht, daß man ſich gegen eine Macht, die nicht kleinlich ſein
konnte, bedeutend mehr herausnehmen dürfe als einem ganz ge-
wöhnlichen Menſchen gegenüber. Da konnte man ſich wohl
erlauben, dieſe oder jene Kleinigkeit mitzunehmen, die für den
großen Geiſt kaum eine Rolle ſpielen konnte. So hatte das Ver⸗
hältnis ſich entwickelt, bis Kane ſo ausgeſprochen menſchliche Züge
offenbarte, daß man es ſpäter für zweckdienlich hielt, das Eigen⸗
tumsrecht in höherem Grade zu achten. Folgendes kleines Zitat
iſt ein ſprechendes Beiſpiel für Kanes merkwürdige Auffaſſung:
„Man muß wohl auf dieſe Eskimos aufpaſſen, ſie gleichzeitig
aber mit Freundlichkeit behandeln, wenn auch mit ſtrenger Hand⸗
habung unſeres Polizeireglements und mit einiger Vorſicht hin⸗
ſichtlich der Unverfrorenheit, mit der ſie an Bord kommen. Keine
Abſtrafung iſt erlaubt, weder ihrer ſelbſt noch in ihrer Gegenwart,
und die Schußwaffe darf nur Verwendung finden, wenn es gilt,
einen ernſten Angriff abzuſchlagen. Ich habe indeſſen Befehl ge⸗
geben, daß, falls dieſe Eventualität eintritt, überhaupt nicht ge⸗
feuert werden darf. Der Reſpekt vor der Flinte beruht bei dem
Wilden auf ſeiner Vorſtellung von ihrer Unfehlbarkeit; man kann
Blutvergießen vermeiden, indem man einen Hund tötet oder auch
nur verwundet; aber auf keinen Fall darf man ſeine Kugeln ver⸗
geuden, das iſt weder politiſch noch human.“
Das Folgende iſt eine Probe aus dem Kontrakt des Schiffes
mit den Eingeborenen. Wie man ſieht, hatten nur die Eskimos
Verpflichtungen:
„Wir verſprechen, nicht zu ſtehlen. Wir verſprechen, euch
friſches Fleiſch zu bringen. Wir verſprechen, euch unſere Hunde
zu verkaufen oder zu leihen. Wir verſprechen, daß wir euch auf
euren Reiſen begleiten, ſo oft ihr es wollt, und euch Orte zu zeigen,
wo Wild zu finden iſt.“
An anderer Stelle geſteht Dr. Kane, daß ſie für die Jagd
wirklich unſchätzbaren Rat von den Eskimos empfangen haben.
Ihre Hunde galten zeitweiſe als gemeinſamer Beſitz, und oft
kamen die Eskimos von ſelbſt und brachten Fleiſch für die hung⸗
rigen Hundegeſpanne der Expedition, wenn die Jagd ungünſtig
ausgefallen war. Kane fährt fort:
78 Zweites Kapitel.
„Auch uns ſelbſt gaben ſie Fleiſch in den kritiſchen Perioden.
Aber wir waren auch imſtande, viel für ſie zu tun, und ſie lernten
ſchließlich uns ausſchließlich als Wohltäter zu betrachten.“
Es iſt unleugbar, daß Kane in feiner ſelbſtſichern Überſchätzung
der Eigenſchaften des weißen Mannes die Rollen einigermaßen
vertauſcht. Unter allen Umſtänden kann ich feſtſtellen, daß noch
in unſern Tagen die Tradition von Dr. Kanes Überwinterung
bei den Eskimos beſteht, die berichtet, daß die weißen Männer die
Sitten der Inuits ſehr ſchlecht verſtanden und daher oft Veran⸗
laſſung zu Irrtümern gaben, die das Zuſammenleben mit ihnen
erſchwerten. Sie konnten in ihrem Zorn unberechenbar ſein, und es
fiel ihnen offenbar ſchwer zu begreifen, daß die Eskimos auch
Menſchen waren wie ſie ſelbſt.
Der wertvollſte Beiſtand, den die Eskimos der Expedition
leiſteten, war ſicher der Transport der Schiffsboote und des
Reiſeproviantes bis zum offenen Waſſer in der Umgebung von
Etah, als Kane ſich im Frühjahre 1855 entſchloß, nach Süden zu
ziehen. N
* *
*
Wenn man berückſichtigt, daß zu jenen Zeiten jede Erfahrung
in der Überwinterung in ſo nördlichen Gegenden vollkommen
fehlte, muß man in vielen Punkten die Arbeit der Expedition
anerkennen. Die Strecke von Etah bis nach Waſhingtonland
wurde kartographiſch aufgenommen; der Humboldtgletſcher wurde,
wenn auch ſehr unvollſtändig, unterſucht, und man ſammelte gute
und zuverläſſige Nachrichten über das Tierleben und die Jagd in
dieſen Gegenden.
Die längſte Schlittenreiſe wurde von Morton und Hans bis
nach Kap Conſtitution unternommen, jedoch ohne eine zuver⸗
läſſige wiſſenſchaftliche Kontrolle. Die Reſultate dieſer Reiſe
trugen noch weiter dazu bei, das Mißverſtändnis von einem
offenen Polarmeer aufrechtzuerhalten. Kane ſelbſt gehörte zu
den Vorkämpfern dieſer Theorie, und er ſchreibt darüber in
ſeinem Buch:
„Ein offenes Meer nahe dem Pol oder ſogar ein offenes
Polarbecken iſt lange Zeit eine aktuelle Theorie geweſen. Schon
ſeit der Zeit von Barents abenteuerlichen Reiſen 1595 hat man
Von Thule zum Humboldtgletſcher. 79
offenes Meer öſtlich von den nördlichſten Vorgebirgen von
Nowaja Semlja geſehen. Die holländiſchen Walfänger bei Spitz
bergen unternahmen ihre abenteuerlichen Kreuzfahrten durch Eis
in Gebiete von offenem Waſſer hinein, das ſeine Lage und Aus⸗
dehnung mit den Jahreszeiten und den herrſchenden Winden wech—
ſelt; eine jo hoch angeſehene Autorität wie Dr. Scoresby kam
ſogar mit Andeutungen, daß die Bewegungen des Eiſes in der
Umgebung des Nordpols vermutlich offenes Waſſer in der Nähe
des Poles ſelbſt andeuten müſſen. Baron Wrangel ſah, gerade-
ſo wie er ſich gedacht hatte, 40 Meilen von der Küſte des
arktiſchen Aſien entfernt, einen gewaltigen Ozean ohne Grenzen.
Endlich hat auch Kapitän Parry jüngſt proklamiert, daß ſich
offenes Waſſer im Wellingtonſund finde; und mein Vorgänger,
Kapitän Inglefield, meldete, daß er das offene Polarbecken vom
Maſt ſeines kleinen Schiffes aus geſehen habe, nur 15 Meilen
von dem Eis entfernt, das unſer Vordringen im Frühjahr darauf
hinderte.“
Kane meinte, alle dieſe mehr oder minder illuſoriſchen Ent⸗
deckungen ſeien durch Mortons Reiſe beſtätigt worden. Dieſer
wurde nämlich in ſeinem Vordringen nach Norden durch den.
Kennedykanal von offenem Waſſer aufgehalten, das ſich von Kap
Jackſon nach Norden über den 80. Breitengrad hinaus erſtreckte.
Von einer Höhe von einigen hundert Fuß hatte er hier im Norden
offenes Waſſer geſehen, ſo weit das Auge reichte, während der
feſte Eisrand im Süden bei dem 80. Breitengrad ungefähr quer
über das Kanebecken verlief. Morton und Hans hatten das Ge-
fühl, daß ſie, je weiter ſie nach Norden reiſten, beſtändig einem
milderen Klima entgegenrückten. Der Schnee ſchmolz auf den
Klippen, Scharen von Seevögeln kreiſten über dem offenen
Waſſer, Pflanzen, die jetzt noch infolge der Jahreszeit in ihrem
Wachstum beſchränkt waren, ſchienen Miene zu machen, ſich zu
entfalten, und das Waſſer hatte eine höhere Temperatur als
weiter ſüdlich. Alle dieſe Entdeckungen deuteten darauf hin, daß
näher am Pol ein milderes Klima herrſchen müſſe. i
Dieſe Beobachtungen wurden am 25. Juni, alſo bei vorge-
rückter Jahreszeit, gemacht und waren auch inſoweit richtig, als
man ſehr gut von einem offenen Polarmeer ſprechen kann, das
nach Norden bis zum Ende des Robeſonkanals reicht. Verſchiedene
80 Zweites Kapitel.
Schiffe ſind im Laufe der Zeit durch dieſes offene Meer ge⸗
drungen, ſo die „Polaris“, die „Discovery“, die „Alert“ und
Pearys „Rooſevelt“ ſogar zu wiederholten Malen. Aber dieſe
Theorien haben den Haken, daß das „offene“ Meer aus dicht
zuſammengepacktem Treibeis von mächtigem Kaliber beſteht,
ſobald man in das wirkliche Polarmeer hinauskommt. Von dort⸗
her geht durch die obenerwähnten Kanäle durch das Kanebecken
zum Smithſund und zur Baffinbai hinab eine heftige Strömung,
die ihre größte Kraft gerade in der Umgebung von Kap Con⸗
ſtitution hat, wo die ſchmaleren Kanäle ſich in das breite Kane⸗
becken entleeren. Daher wird das Wintereis in dieſen Gegenden
ſehr raſch entfernt, und infolgedeſſen entſteht hier zeitig im Sommer
offenes Waſſer. Dieſes rein örtliche Meer war die Urſache, daß
die Theorien von einem offenen Nordpolarmeer ſich noch viele
Jahre nach Kanes Expedition am Leben erhielten.
Wenn auch ein grundlegendes Mißverſtändnis in dieſer Ent⸗
deckung Kanes lag, hat ſie doch Bedeutung durch die verſchiedenen
Expeditionen, die ſpäter von England und von Amerika ausge⸗
ſandt wurden, um die hocharktiſchen Rätſel näher zu erforſchen —
Expeditionen, die in hohem Grad dazu beitrugen, die Kenntnis
der nördlichſten Gegenden unſerer Erde zu vertiefen.
Der Fjord des großen Blutbades.
Am 16. April wurde die Reiſe nach Norden auf dem breiten,
leicht zu befahrenden Eisfuß fortgeſetzt, der ein raſches Vorwärts⸗
kommen geſtattete.
Ein Eisfuß bildet ſich nur in Gegenden, in denen die Ge⸗
zeiten in genügendem Maße herrſchen. Wenn das Meer zur
Ebbezeit fällt, iſt ſchon Ende September die Kälte ſo ſtark, daß
die Küſte bis zur Hochwaſſergrenze hinauf von einer Eisrinde
überzogen wird, mit einer dünnen Eisſchicht für jede Ebbezeit. Im
Laufe des Oktober und November hat der Eisfuß ſeine volle
Dicke erreicht; er bildet dann einen längs der Küſte verlaufenden
Gürtel, ein Eisband, das allen Verzweigungen der Küſte folgt.
Der Eisfuß iſt oben eben und zeigt den höchſten Waſſerſtand im
Verlauf des Jahres an. Nach dem Meereis zu fällt er in einer
ſteilen Wand ab. ö
Sedubigbelleibug sd aBaagusılng
saß wars
Von Thule zum Humboldtgletſcher. 81
Wo die Küſte aus ſteilen Felſen beſteht, iſt der Eisfuß ganz
ſchmal, weil er an ſolchen Stellen an den Felswänden hängt und
nicht von unten geſtützt wird. Wo die Küſte dagegen flach iſt, ſtützt
er ſich auf den Meeresgrund und kann ſehr breit werden. Nirgends
hat er eine ſolche Breite wie hier an den Küſten des Kanebeckens,
wo er 60—100 Meter mißt.
Es war ein Feſt für uns alle, in vollem Galopp auf dieſer
geſegneten Landſtraße dahinzufahren. Wir folgten dem Fuß
der ſchönen Sandſteinfelſen, die mit ihren warmen roten Farben
unſern Weg flankierten und in ihren friſchen Farbentönen wie
rote Wangen vom weißen Schnee abſtachen. Meerwärts hatten
wir die emporgepreßten Eisſchollen des Kanebeckens, tiefen Schnee
und ſchlechte Schlittenbahn. Während wir oben daran vorbei⸗
fuhren, durch die Gezeitenchauſſee aller Schwierigkeiten enthoben,
Durchſenite durch eine e
Nach der Zeichnung eines Eskimos.
knallten wir übermütig mit der Peitſche, froh, daß all dies Teufels⸗
zeug dort unten unſerm Vorwärtskommen kein Bein ſtellen konnte.
Vor uns tauchte bereits Waſhingtonland auf. e war April⸗
ſonne und gute Laune.
Bei Kap Taney kamen wir an vier großen Turm⸗ und ſechs
gewöhnlichen Fuchsfallen vorbei. Die erſtgenannten ſind hier
oben weit verbreitet, im übrigen Weſtgrönland dagegen unbekannt.
Eine Turmfalle iſt etwa 170 Zentimeter hoch in Form einer
Steinpyramide gebaut. Sie heißt bei den Polareskimos „Uvdli⸗
ſat“, das bedeutet, eine Falle, die man mehrere Tage ohne Auf⸗
ſicht ſtehen laſſen kann. Die Füchſe werden darin folgendermaßen
gefangen.
Man legt faulendes Seehundfleiſch auf den Boden der Stein⸗
pyramide, die hoch und ſo gebaut iſt, daß ſie unten geräumig und
oben ſehr eng iſt. Die Offnung wird mit Weidenzweigen bedeckt,
die mit Blut eingeſchmiert ſind, um nicht das Mißtrauen des
Rasmuſſen. . 6
82 Zweites Kapitel.
Fuchſes zu erregen. Wenn ein Fuchs in die Falle hinabſpringt,
kann er nicht wieder heraufkommen, und ſo können ſich oft im
Laufe einiger Tage mehrere Füchſe in der Falle fangen. —
Bei der Marſhallbai teilten wir uns in zwei Abteilungen. Elf
Schlitten fuhren mit Dr. Wulff am weiteſten draußen über den
Eingang der Bucht, wo die Bahn am beiten war, während
Koch und ich mit zwei andern Schlitten ins Innere der Bucht
Harald Moltke.
Anſer Führer Tornge.
hineinfuhren, um nach Eskimoruinen zu ſuchen. Als Führer
hatten wir den großen Tornge mit uns, der im Jahre 1915 ſelbſt
hier gewohnt hatte. Es war das Verlangen nach Renntierjagd,
das ihn in dieſe nördliche Gegend gelockt hatte. Die Renntier⸗
jagd iſt nächſt der Jagd auf Bären das Spannendſte, was ein
Eskimo kennt. Es gilt wohl für vornehmer, einen Bären zu er⸗
legen, aber ſonſt iſt die Renntierjagd die eleganteſte, mit der ſich
keine vergleichen kann. Die wilden Renntiere ſind ſehr ſcheu. Es
iſt ſehr ſchwierig, ſich ihnen auf Schußweite zu nähern, und es iſt
r r ccc ee
Von Thule zum Humboldtgletſcher. 83
dazu nicht nur Gewandtheit und Liſt, ſondern auch eine unglaub⸗
liche Ausdauer erforderlich. Als Jagdtier geben ſie nicht nur
zartes und wohlſchmeckendes Fleiſch mit köſtlichem Talg, ſondern
auch die Felle ſind ſehr geſucht.
* *
*
Der Ort, wo Tornge überwintert hatte, wird von den
Eskimos „Inugarfigſſuag“ oder der „Fjord des großen Blut⸗
bades“ genannt. Wie an alle andern Orte, wo menſchliches
Treiben ſeine Spuren hinterlaſſen hat, ſo knüpft ſich auch an dieſe
Gegend eine Sage. Tornge erzählte:
Zu den Zeiten, in denen es viel Menſchen gab und alle Länder
bewohnt waren, waren auch hier im Innern von Qagaitſut in der
Nähe der Advancebai nicht weit von dem großen Gletſcher viele
Häuſer.
Hier geſchah es einmal, daß zwei Knaben miteinander rauften;
die Großväter ſtanden dabei und ſahen zu. Plötzlich ergriff der
eine von den Alten Partei und begann den einen der Knaben
durchzuprügeln. Der andere Großvater war jo aufgebracht
darüber, daß ſein Enkel Prügel bekam, daß er hinging und den
Enkel des erſteren totſchlug. Aber nun ſchlug der erſte Großvater
den Enkel des zweiten tot, und der Mord an den beiden Knaben
war die Veranlaſſung, daß alle Bewohner des Platzes Partei
ergriffen, und das erſte, was ſie taten, war, daß ſie die beiden
Großväter totſchlugen. Dieſer Anfang machte die Leute wild und
wurde die Urſache zu einer ſinnloſen Schlächterei. Ein Wahnſinn,
den niemand erklären konnte, hatte die Wohngenoſſenſchaft er⸗
griffen, und ſie reiſten alle miteinander nach Süden, plündernd
und mordend, ſo daß all die kleinen Buchten, die die Schlitten
paſſieren mußten, voll von ermordeten Menſchen lagen. All die
Toten lagen da und zeichneten ſich ſchwarz gegen das weiße Eis
ab, ganz wie Seehunde, die ſich an einem Frühlingstag ſonnen.
Wie lange man einander totſchlug, weiß niemand, aber auf einmal
entdeckte man, daß man fo weit in die Raſerei gekommen war, daß
man ſich ohne jede Urſache gegenſeitig nach dem Leben trachtete,
und ſo hielt man inne, zerknirſcht über das Unrecht, das man be⸗
gangen hatte. Die Flucht nach Süden wurde jedoch fortgeſetzt,
6 *
84 Zweites zn
bis man Länder erreichte, wo die Sonne wärmer und die Winter⸗
nacht nicht ſo lang war. —
Der größte der Fjorde, wo die meiſten Menſchen lagen,
erhielt ſpäter den Namen „Fjord des großen Blutbades“.
Eine einfache und naive Eskimogeſchichte über die Entſtehung
des Krieges — naiv, aber doch ewig wahr, wo Menſchen einander
totſchlagen.
Dieſe alte Sage erzählte Tornge uns als Einleitung zu der
Geſchichte ſeiner Aberwinterung. Er war unterrichtet über alles,
was den Wohnplatz und ſeine Jagdverhältniſſe betraf, und mit
großer Anſchaulichkeit entrollte er uns ein Bild des Lebens, das
er geführt, ſo daß alle ſeine großen und kleinen Freuden uns
lebendig vor Augen ſtanden.
Das Wintereis bleibt in der Regel bis zum Herbſt unbeweglich
liegen. Ende Auguſt oder Anfang September — ſo ſpät, daß
ſich ſchon wieder dünnes Eis bildet — ſchmelzen die Flüſſe runde
Becken an ihrer Mündung, und eine Rinne, die ſich ſchon im
Sommer vor Kap Ruſſell bildet, erweitert ſich und wird breit.
Das iſt hier das ganze offene Meer.
Weiter im Land drin gibt es viele Haſen und Stenutieie,
Tornge hatte mit feinen drei Wohngefährten im Laufe des Herb-
ſtes nicht weniger als 100 Stück erlegt. Sie waren weit ins Land
hinaufgezogen, bis zu einigen großen Seen, die nahe dem Inland⸗
eis gelegen waren, und da hatten ſie in kleinen Steinhütten die
Monate Auguſt und September verbracht. Dieſe Steinhütten ſind
primitive Häuſer, deren Mauer aus Stein beſteht, während das
Dach durch ein Zelt gebildet wird. Frauen und Kinder ſchließen
ſich dieſen Jagden an und bleiben bei den Steingrotten, während
die Männer jagen.
Der Aufenthalt in der Umgebung der Marſhallbai bot die
ſchönſten Jagderinnerungen, die Tornge in ſeinem Leben gehabt
hatte. Nur eine Unbequemlichkeit hatte die Überwinterung, daß
man ſich ſchwer genügend Hundefutter verſchaffen konnte, da See⸗
hundfleiſch keine ausreichende Ernährung darſtellt. Man vermißte
Narwale und Walroſſe, das iſt derbere Koſt.
An Vogelwild gab es viel Eidervögel und Möwen an allen
Offnungen des Meeres, an den Landſeen Eisenten und Lummen.
Bei einer Renntierjagd fand man Lachs oben auf dem Gipfel
Von Thule zum Humboldtgletſcher. 85
von Kap Ruſſell in etwa 300 Meter Höhe. Der See war nicht
beſonders groß, und doch fing man eine Menge Lachſe; einige
von ihnen waren faſt ſo groß wie ein Arm.
An dem Wohnplatz zählte ich im ganzen 18 alte Häuſerruinen
und viele Zeltringe und Fleiſchgruben. Tornges Haus war auch
ſo eine alte Hausruine, die ausgebeſſert worden war. In der Mauer
fanden ſich eine Menge Walknochen, in den Küchenabfällen Reſte
von Walroſſen, bärtigen Seehunden, gemeinen Seehunden,
Moſchusochſen, Renntieren, Füchſen und Haſen. Ferner hatte
man Angelhaken aus Renntiergeweih gefunden.
Tornges Haus war groß und ſchön gebaut. Es war von dem
Typus, den man „Samiſulik“ nennt, mit einem großen Hauptraum
und einem kleineren Nebenraum, beide mit Pritſchen. In dem
kleineren Nebenraum hatten ſein Schwiegerſohn und ſeine Tochter
gewohnt. Ein Stück oberhalb fand ſich eine ungewöhnlich große
RNuine, deren innere Seite einen Umkreis von gut 30 Meter hatte.
Dies deutet darauf hin, daß die Jagdverhältniſſe auch in früherer
Zeit ideal geweſen ſind. Der Vorſprung, auf dem die Häuſer
lagen, war voll Gneis, der von vielen üppigen Raſenflächen
durchzogen war. Der Platz machte einen freundlichen, anheimeln⸗
2 den Eindruck. Waller gab es genug, ſowohl in Bächen wie in
Seen.
Drei Kilometer vom Feſtland entfernt liegt ein kahler, ziemlich
zugänglicher Gneisholm von etwa 200 Meter Breite und 500
Meter Länge. Auf dem kleinen Holm fanden wir nicht weniger
als zehn Häuſer. Dieſe merkwürdige Wahl des Wohnplatzes iſt
wahrſcheinlich auf den leichteren Zugang zum offenen Waſſer bei
3 Kap Rufjell und Kap Taney zurückzuführen; möglicherweiſe iſt
aauch das Eis vor der Inſel beſſer für die Utut⸗Jagd geeignet.
Den Holm nannten wir Avortungiaginſel, nach Tornges
Tochter, die als erſte die Ruinen entdeckt hatte.
Auf einem andern kleinen Holm, eine Strecke weiter nach dem
Land zu, fanden ſich ebenfalls Plätze, wo Häuſer geſtanden haben.
Man kann die Zahl der Häuſerruinen, die aus einer früheren
Eskimoanſiedlung ſtammen, allein hier in dieſer verhältnismäßig
kleinen Bucht auf etwa 60 veranſchlagen. Außer an den hier
erwähnten Wohnplätzen finden ſich alte Siedlungen auch bei Kap
Nuſſell, Kap Wood, in der Dallasbai und im Innern der
86 Zweites Kapitel.
Advancebai. Auf die Strecke Anoritog — Kap Agaſſiz kommen
alſo mindeſtens 100 Häuſer, eine überraſchende Zahl. Sicher
iſt es eine gute Eisjagd im Frühjahr und Herbſt und eine für
dieſe Gegenden ungewöhnlich gute Landjagd geweſen, die ſo viele
Menſchen verlockt hatte, ſich hier niederzulaſſen. Das Land in der
Nähe der Küſte wirkt ja auch in dieſer Wüſte wie eine richtige
Oaſe, und man muß ſchon weit ſüdlichere Gegenden aufſuchen, um
ein ſo breites Umland zu finden.
Mit Ausnahme der Häuſer auf dem Gneisvorſprung bei
Tornges Wohnſtätte, wo das Material für den Hausbau günſtig
iſt, waren alle übrigen Häuſerruinen an dieſer Küſte bemerkens⸗
wert durch ihre Kleinheit. Die bei Kap Wood beſtanden aus
acht Häuſern in einer Reihe, die auf Schutt gebaut waren. Der
Wall, der den Umkreis des Hauſes gebildet hatte, war deutlich
zu erkennen; er war aus größeren und kleineren Steinen zuſammen⸗
geſetzt. Alles deutete darauf hin, daß man Mühe gehabt hat,
Material zu beſchaffen. Reſte von Torfwällen fanden ſich über⸗
haupt nicht, auch keine Spur von Vegetation. Das Land war
abſolut unfruchtbar, und in der ganzen Umgebung war kein Torf
zu finden. Der Platz machte den Eindruck, als ſei es eine „Ver⸗
ſuchsſtation“ geweſen. Die Jagdverhältniſſe ſind ausgezeichnet ge⸗
weſen. An einem großen Stein bei den Häuſern ſah man noch den
Ruß vom Herdfeuer. Überall, wo es ſich tun ließ, wurden die
Ruinen gemeſſen, aber von einer eigentlichen Ausgrabung konnte
natürlich keine Rede fein, da wir Anfang April bei 30° Kälte
vorbeikamen, wo alles von tiefem Schnee bedeckt war.
Am 18. April erreichten wir die Dallasbai, von wo aus wir
ungefähr bei Kap Kent in die Peabodybai hinausfuhren, um
nach Waſhingtonland überzuſetzen.
Die erſte Tagereiſe ergab eine Entfernung von 56 Kilometer,
obgleich wir die erſten 20 Kilometer uns durch tiefen Schnee
durcharbeiten mußten. An einigen Stellen fuhren wir auch über
ſchwierige Schollen von altem Eis, das ganz den Charakter des
Randeiſes auf dem Inlandeis hatte. Dieſe Schollen, die viele
Sommer den Strahlen der Sonne ausgeſetzt ſind, haben eine
rauhe Oberfläche mit tiefen Löchern und wirken wie ein aufge⸗
wühltes Meer, auf dem die ſchweren Schlitten wie Schiffe in
hohem Seegang auf- und niederſchaukeln.
De en re ee AT > Te er EEE
Von Thule zum Humboldtgletſcher. 87
Ungefähr in der Mitte der Bucht bauten wir am 19. April ein
Schneehüttenlager. Wir hatten hier zum erſtenmal eine vortreff⸗
liche Ausſicht über den Humboldtgletſcher, Grönlands größten
Gletſcher, der von Dr. Kane fo ſehr gerühmt wurde. Unſere
Erwartungen waren infolge ſeiner maleriſchen Schilderung aufs
höchſte geſpannt, und da dieſe wirklich ein Bild geben von einer
Phantaſie, die von dem großen Unbekannten überwältigt wird,
will ich Kane, der als erſter weißer Mann dieſe Gegenden er⸗
blickte, das Wort geben:
„Ich will nicht verſuchen, die Wirklichkeit durch blühende Be⸗
ſchreibungen zu verbeſſern; vom Niagara und vom Meer entwerfen
die Menſchen immer nur phantaſievolle Schilderungen. Meine
Aufzeichnungen ſprechen ungekünſtelt von der langen ewig⸗
ſtrahlenden Berglinie und der blendenden Eisfläche. Die Eisklippe
ſtieg wie eine maſſive Glaswand 300 Fuß hoch über die Meeres⸗
fläche empor und verlor ſich nach unten in einer unbekannten,
unergründlichen Tiefe, und ihre gewölbte Oberfläche, 60 Meilen
lang von Kap Agaſſiz bis Kap Forbes, verlor ſich in einem
unbekannten Raum, nicht mehr als eine eintägige Eiſenbahnreiſe
vom Pol entfernt. Das Innere, mit dem ſie in Verbindung
ſtand und von dem ſie ausging, war ein unbekanntes mer de
glace“, ein Eismeer, ſoweit man ſehen konnte, von unbegrenzten
Dimenſionen.
„Ich hatte im ſtillen erwartet, auf einen ſolchen Rieſenglet⸗
ſcher zu ſtoßen, wenn ich jemals das Glück haben würde, Grön⸗
lands Nordküſte zu erreichen; aber jetzt, als er vor mir lag, konnte
ich es kaum faſſen. Hier war eine plaſtiſche, bewegliche, halbfeſte
Maſſe, die alles Leben vernichtete, Klippen und Inſeln ver⸗
ſchlang und ſich in unwiderſtehlichem Fortſchreiten den Weg hinab
zu dem zugefrorenen Meer bahnte.“
* *
*
Die Wirklichkeit war eine große Enttäuſchung. Gewiß hatte
der Gletſcher eine mächtige Ausdehnung, denn er iſt etwa 100 Kilo⸗
meter breit. Aber für den, der gewohnt iſt, unter den abenteuer⸗
lichen Gletſchern der Melvillebucht zu reiſen, die, wenn ſie nur
einmal nieſen, ſchimmernde Berge von Eis ins Meer hinausſchleu⸗
dern, war der Humboldtgletſcher nur ein gutmütiger Zufluß zu
88 Zweites Kapitel.
einem halbtoten, kaum produzierenden Eisſtrom. Der Gletſcher⸗
rand, der ſo gut wie ohne Spalten allmählich wie eine Land⸗
ſtraße nach der Peabodybai abfiel, hatte an den meiſten Stellen
eine Höhe, die 50 Meter nicht überſtieg. An manchen Stellen
lief er eben ins Waſſer aus, ſo daß man ihn mit Leichtigkeit von
einem Boot aus hätte beſteigen können. Eine Unterſuchung ergab
auch, daß das Waſſer in einem großen Teil des Kanebeckens ſehr
ſeicht iſt, und daß die kleinen Eisberge, die eigentlich nur den
Charakter von Sikuſſagſtücken haben, auf Grund ſtanden. Eine
Meſſung ihrer Höhe ergab ſogar, daß die Peabodybai 56 Kilo⸗
meter ſeewärts nicht tiefer war als 40 Meter.
Die Advancebai beſteht aus einer Reihe niedriger Holme,
und in die Küſtenſtrecke von Kap Agaſſiz an ſind viele kleine ſeichte
Buchten eingeſchnitten, ſo daß hier eine verhältnismäßig geringe
Hebung im Kanebecken große Landſtrecken freilegen würde. Die
Natur des Humboldtgletſchers verſteht man erſt richtig, wenn man
ihn als eine Fortſetzung des ruhigen, ſpaltenfreien Inlandeiſes be⸗
trachtet, das ſich nach Inglefieldland herabſenkt. Es iſt daher
nicht richtig, den Humboldtgletſcher als einen Gletſcher zu charak⸗
teriſieren, er ſtellt vielmehr nur einen ebenen Eisrand dar, bis:
zu dem das Meer hinaufreicht.
Wenn der Gletſcher indeſſen ſo einen gewaltigen Eindruck auf
Kane und ſeine Leute gemacht hat, ſo war dies ſicher eine Folge
ſeiner Ausdehnung. Es iſt auch zuzugeben, daß er, als Eisſtrom
betrachtet, in ſeiner gleichmäßigen ruhigen Mächtigkeit impoſant
wirkt, ſelbſt wenn ſein freundlicher runder Rücken ganz anders
ausſieht, als man es von dem größten Gletſcher Grönlands er⸗
warten ſollte. : 8
Drittes Kapitel.
Vom Waſhingtonland nach Hall⸗-Land.
. haben mir oft erzählt, ſie ſeien auf der
andern Seite „des großen Gletſchers“ in ein Land gekommen,
ganz unähnlich den ihnen bekannten Gegenden. An vielen Stellen
ſeien die Klippen grauweiß, an andern ſeien ſie am Fuß ſchwarz
wie Kohle, und nur an wenigen Stellen ſehe man Pflanzen und
Gewächſe im Innern der unfruchtbaren Täler.
Haſen kämen hier und da von den Hochflächen der Gebirge
herabgeſprungen, und gelegentlich geſchehe es, daß die Hunde plötz⸗
lich Großwild wittern, wie man meinte, Moſchusochſen; aber trotz
vieler Streifzüge ins Innere habe man nie welche gefunden. Was
uns indeſſen am meiſten intereſſierte, war die Angabe der Bären⸗
jäger, daß ſich an vielen Stellen an den großen Vorgebirgen
ſtarke Strömungen fänden, wo ſich das Eis ſchon früh im Jahr
öffne. Hier ſollten ſich viele bärtige Seehunde befinden, die eine
für uns willkommene Proviantvermehrung bedeuten würden.
Nicht ohne Spannung näherten wir uns dieſem Land, das bei
den Eskimos den Namen „Akia“, d. h. „das Land auf der andern
Seite des Gletſchers“ trägt, während die Amerikaner es Waſhington⸗
land getauft haben.
| 20. April. Die Bahn über die ganze Peabodybai war gut
geweſen, und wir konnten daher, nachdem wir 66 Kilometer zurück⸗
gelegt hatten, unſer Lager an einem Eisberg vor den Klippen der
Caßbai am Abend des 20. April bei Schneewetter und beginnen-
dem Sturm aufſchlagen. Am nächſten Morgen erwachten wir
= bei demſelben Wetter, aber da wir alle ungeduldig danach ver-
langen, weiter nach Norden zu kommen, haben wir keine Zeit, auf
das Wetter Rücksicht zu nehmen. Lauge Koch geht bei Kap
Clay ans Land, ich ſelbſt fahre auf dem Eisfuß rings um die
90 Drittes Kapitel.
Caßbai herum, um zu ſehen, ob ich dort drinnen Winterhäufer
finde, als eine Fortſetzung der Häuſer, die wir in überraſchend
großer Zahl bei unſerer Fahrt am Inglefieldland entlang ange⸗
troffen hatten. Das Reſultat war negativ. Wir mußten uns
damit begnügen, eine Anzahl Fleiſchgruben von der gewöhnlichen
Eskimoart feſtzuſtellen; auch ein vereinzelter Zeltring wurde ge⸗
funden, aber er war viereckig und mußte daher von Mortons und
Hans Hendriks Reiſe ſtammen. g
Spät abends kamen wir mit ſturmgepeitſchten Geſichtern und
ſteifen Gliedern zum Zeltlager zurück und entdeckten bald, daß
etwas Erfreuliches geſchehen ſein mußte. Das Lager war in einem
einzigen großen Aufruhr. Die Eskimos liefen uns unter lautem
Rufen entgegen, ſprangen zwiſchendurch in die Höhe und ſchlugen
ſich auf die Schenkel, was immer ein Zeichen für ein erfreuliches
Ereignis iſt. Sobald wir in Rufweite waren, erfuhren wir denn
auch, daß Koch und Inukitſog vor Kap Clay einen Bären ge⸗
ſchoſſen und daß der „Stern“ und Majag nicht weit vom Zelt⸗
lager zwei andere Bären erlegt hatten. Dieſe Neuigkeiten be⸗
deuteten friſches wohlſchmeckendes Fleiſch in den Töpfen für viele
Tage, und eine Diätveränderung von Walroß⸗ zu Bärenfleiſch
iſt immer wohltuend.
Koch hatte neben der glücklichen Bärenjagd auch eine ausge⸗
zeichnete geologiſche Ausbeute gehabt und an der unterſuchten
Küſtenſtrecke Schichten gefunden, die reich an Verſteinerungen
waren.
Nichts belebt auf einer Reiſe ſo, wie wenn einer der Kameraden
Erfolg hat, und da meine eigenen Reſultate an dieſem Tage ziem⸗
lich dürftig geweſen waren, beſchloß ich, gleich am nächſten
Tag die Reiſe nach dem Humboldtgletſcher fortzuſetzen, während
die Kameraden weiter nach Norden fahren ſollten. Bei einem
ſo frühen Zeitpunkt der Reiſe war es nicht ratſam, die ganze
Expedition warten zu laſſen, und darum mußte ich verſuchen, eine
doppelte Reiſe zu machen und den Vorſprung der andern im Lauf
der kommenden zwei Tage einzuholen.
Ich wußte, daß ſich Häuſer in der Nähe befinden müßten;
denn viele Jäger hatten von ihren Eltern berichten hören, es
befinde ſich ein Wohnplatz nördlich des Humboldtgletſchers, nur
wußte niemand wo, und es galt jetzt, den Ort zu finden. Ich
Vom Waſhingtonland nach Hall⸗Land. 91
machte mich alſo am nächſten Tag früh auf den Weg, immer
der Küſte folgend, während alle übrigen Schlitten in langer Reihe
langſam weiter nach Norden zogen. Auch Koch wünſchte ſeine
Unterſuchungen bei Kap Clay durch einen neuen Beſuch zu er⸗
gänzen, und mit Inukitſog als Begleiter begannen wir unſere
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Vom Humboldtgletſcher zur Newmanbai.
Forſchungen, wohl aufgelegt und feſt entſchloſſen, nicht zu weichen.
Die Unterſuchungen wurden vom Eisfuß aus vorgenommen, ſo
daß nichts unſerer Aufmerkſamkeit entgehen konnte. Doch das
Fortkommen war hier oft unmöglich, und auf einzelnen Strecken
mußten wir auf äußerſt unangenehmem Sikuſſaqeis fahren, ein
Zeichen dafür, daß die Buchten ſelbſt hier beinahe nie eisfrei ſind.
92 Drittes Kapitel.
Endlich, 12 Kilometer öſtlich von Kap Clay, eine Strecke weit
in der Bentonbai, wurden meine Anſtrengungen von Erfolg
gekrönt. Der Eisfuß war an dieſer Stelle ſehr hoch und empor⸗
gepreßt, aber wie in einer plötzlichen Eingebung machte ich an
einer der unzugänglichſten Stellen halt und kletterte über ein
paar halsbrechende Preßrücken in die Höhe. Ich hatte wirklich
eine Witterung von Häuſern gehabt; denn vor mir lag der Wohn⸗
platz, nach dem ich vergebens geſucht hatte. Er beſtand im ganzen
aus ſechs Winterhäuſern, zahlreichen Zeltringen und großen,
geräumigen Fleiſchgruben. Die Häuſer ſtanden dicht am Strand
auf Grus und Kies. Das Material waren ausſchließlich Steine,
flache und ovale, und obgleich einige Häuſer gar nicht ſo klein
waren, konnte man doch deutlich ſehen, daß es ſchwierig geweſen
war, paſſendes Material zu beſchaffen. Ein wohlgebautes Haus
erfordert ein mühſames Zuſammenfügen von Mauer und Dach,
aber hier fand ſich nicht die geringſte Andeutung, daß es ſo etwas
gegeben hatte. Trotz ſorgfältiger Unterſuchung fand ich keine Spur
von Vegetation in der Nähe. Eins der Häuſer war viereckig,
ein ganz einzig daſtehendes Vorkommnis an einem Hausbau der
Eskimos, woran ſicher das Material ſchuld war. Die übrigen
hatten die gewöhnliche Bienenkorbform. Wir fanden nur ein be⸗
merkenswert großes Haus, ein ſogenanntes „Qarajalik“, das aus
zwei zuſammengebauten Häuſern mit einem gemeinſamen Eingang
beſteht. Auch hier waren Walknochen in die Wand eingebaut;
es ſcheint alſo, als ob ſie unzertrennlich von der Architektur dieſer
Gegenden ſind.
Die Fleiſchgruben hatten ganz dieſelbe Form und Größe, wie
wir ſie in der Melvillebucht gemeſſen und gezeichnet hatten. Die
Steine waren bei einigen auf die hohe Kante geſtellt, was ſonſt
nicht üblich iſt. Ferner fanden ſich „Quliſivit“, überbaute Stein⸗
körbe, worin man Fleiſch trocknet. Alles dies legte deutlich Zeug⸗
nis davon ab, daß der Fang hier gut geweſen iſt.
Außer den ſchon genannten Häuſerruinen fanden wir zehn
Zeltringe; einige davon waren ungewöhnlich groß und hatten ſo
hohe Steinmauern, daß es faſt den Eindruck erweckte, als habe es
ſich um eine Art Zwiſchending zwiſchen Haus und Zelt gehandelt.
Es mag ſein, daß der Materialmangel an dieſem Ort zu einer
Erfindung geführt hat, die für dieſen Ort eigentümlich iſt.
Vom Waſhingtonland nach Hall⸗Land. 93
Ich habe ſchon davon geſprochen, welche ausgezeichneten Be⸗
dingungen für die Seehundjagd hier beſtehen und immer be⸗
ſtanden haben; ſelbſt für die primitiven Jagdwerkzeuge der
Eskimos iſt es ſicher nicht ſchwierig geweſen, ſich das tägliche
Fleiſch zu beſchaffen. Hauptſächlich iſt Seehundfang betrieben
worden. Aber ſicher iſt auch die Jagd auf Eisbären in der Pea⸗
bodybai, namentlich im Frühjahr und Herbſt, und auf Renntiere
und Moſchusochſen in Inglefieldland gut geweſen.
23. April. Ich war froh, daß die energiſchen Anſtrengungen
der letzten Tage ein ſo gutes Ergebnis geliefert hatten; denn die
von mir gefundenen und gemeſſenen Ruinen erweiterten das Ge⸗
biet für das Vorkommen von Eskimoruinen bis zu der Gegend
nördlich des Humboldtgletſchers. Da meine Aufgabe darin be⸗
ſtand, Stoff zu einem Beitrag über die Wanderwege der Eskimos
nördlich um Grönland herum zu ſammeln, war die Einleitung
ja ſchon recht günſtig. Jetzt galt es nur noch, Wohnplätze im
weiteren Verlauf unſerer Reiſe feſtzuſtellen, und ſelbſt wenn man
von vornherein mit Beſtimmtheit vorausſetzen kann, daß die Be⸗
ſiedlung auf dem langen Wege längs der ungaſtlichen Küſte nur
eine ſehr zerſtreute geweſen ſein kann, ſo hatte ich doch Grund, auf
entſcheidende Reſultate in den großen Fjorden zwiſchen Kap Bryan
und Kap Waſhington nördlich vom De-Long⸗Fiord zu hoffen.
Angeregt von dem guten Erfolg ſetzten wir ſogleich unſern
Kameraden und den Hilfsſchlitten nach, die bereits einen Tag
Vorſprung hatten.
Bei Kap Webſter trafen wir Uvpdloriag, der Mitglied der
erſten Thule⸗Expedition geweſen war. Er war diesmal zur Be⸗
gleitung der Hilfsſchlitten angeworben worden, und obgleich er
eigentlich bis Kap Conſtitution hätte mitkommen ſollen, hatte er
doch ſchon hier haltmachen müſſen, da ſtarke Iſchiasſchmerzen ihn
hinderten, den Schlitten durch die Eispreſſungen und über den an
= einzelnen Stellen ſchwierigen Eisfuß zu lenken.
Es wehte hier bei dem ſcharfen roten Kap eine friſche Briſe
mit Schneegeſtöber, und Uvpdloriag war trotz ſeiner Beinſchmerzen
gezwungen geweſen, ſich eine Schneehütte im Schutz des Berges
zu bauen. Wir machten halt, und da wir Koch mit dem Sammeln
von Verſteinerungen ein Stück weiter vorn beſchäftigt fanden, be⸗
nutzten wir die Gelegenheit, uns eine kleine Taſſe Kakao zu kochen,
94 Drittes Kapitel,
um den Abſchied von dem alten Expeditionskameraden fo feſt⸗
lich als möglich zu geſtalten.
Die ganze Küſte des Waſhingtonlands hatte ebenſo wie Ingle⸗
fieldland einen breiten, leicht zu befahrenden Eisfuß, auf den wir,
da das Meereis bis jetzt gut geweſen war, erſt bei Kap Webſter
ſtiegen. Nach einſtündigem Aufenthalt ſetzten wir die Reiſe fort.
Es gelang uns aber leider nicht, an dieſem Tag die Kameraden
einzuholen; denn als wir nach der Morrisbai kamen, hatten wir
eine Strecke von 90 Kilometer hinter uns, waren ſelber ſchläfrig
und durften die Hunde im Anfang nicht ohne Grund überan⸗
ſtrengen.
Die Küſtenberge, die eine Höhe von 200 bis 250 Meter er⸗
reichten, waren überall reich an Verſteinerungen und oft von un⸗
gewöhnlicher Schönheit. Beſonders die Strecke von Kap Webſter
nach der Wrightbai machte auf uns einen tiefen Eindruck. Hier
ſahen wir hohe, phantaſtiſch geformte Kalkfelſen mit grauen
kalten Farben am Fuß, während die Spitzen in fein abgeſtimmten
rötlichen Tönen erglühten. Der ganze Aufbau ſelbſt mit ſeinen
maſſigen Umriſſen führte die Gedanken zurück zu den Burgen des
Mittelalters; die breiten Einfahrtsportale waren nicht das wenigſt
Imponierende an dieſer Naturarchitektur. Erſt bei Kap Call⸗
hourn wechſelte das Land völlig ſeinen Charakter. Die ſteilen
Berghänge, die ſo himmelſtürmend wirkten, weil wir auf dem
Eisfuß dicht unter ihnen dahinfuhren, wurden hier von einem
Flachland abgelöſt, das langſam und idylliſch anſtieg; zugleich
wurde der Eisfuß zu einer breiten, ſchneefreien Chauſſee, die die
Hunde zur größten Kraftentfaltung anſpornte.
Überall ſpähten wir vergebens nach Wild aus; bisweilen
witterten die Hunde etwas, ſo daß wir jeden Augenblick erwarteten,
den ſchwarzen, flatternden Pelz eines Moſchusochſen in einem der
breitgründigen Täler auftauchen zu ſehen. Aber nichts Lebendiges
zeigte ſich. In aller Eile wurde das Lager aufgeſchlagen, und
ſchon nach ſechsſtündiger Ruhe zogen wir weiter und erreichten
endlich bei Kap Jefferſon unſere Kameraden, die ſich neben
einem großen, in dieſer Landſchaft paradox wirkenden Korallenriff
gelagert hatten.
Es gab ein ſtürmiſches Wiederſehen. Man hatte einen kleinen
Bären geſchoſſen, der bei unſerer Ankunft ſchon halb verzehrt war.
Vom Waſhingtonland nach Hall-Land. 95
Aber auch ein Häschen war, ſo ſchlau es war, dem ſichern Schuß
Tornges zum Opfer gefallen. Von Intereſſe war auch ein Renn-
tiergeweih, das man ein Stück landeinwärts gefunden hatte.
Nach einer kleinen Raſt, während der wir unſern reichlichen
Anteil an dem jungen Bärenfleiſch erhielten, fuhren wir weiter und
erreichten am Morgen, nachdem wir in der Lafayettebai eine
Preßeisſtrecke überſchritten hatten, Kap Conſtitution.
24. April. Schon in der Lafayettebai hatten die Hunde
wiederholt Witterung gehabt, und nach wenigen Minuten heftigen
Galopps waren wir in der Regel auf friſche Spuren geſtoßen.
Aber da es ſchwer war, den Spuren in den ſtarken Preß⸗
rücken zu folgen, wo die Schlitten häufig zwiſchen den Eisblöcken
umfielen, mußten wir in der Regel die Jagd aufgeben. Jetzt
war der Jagdeifer der Hunde erwacht, und obgleich die letzten
Tagereiſen ſehr lang geweſen waren und die Fleiſchladungen der
Schlitten mindeſtens 500 Kilo wogen, nahm die Eile im Lauf
der Nacht doch zu, und in der Umgebung der großen Crozierinſel
vergaßen die Hunde alle Müdigkeit und jagten im Galopp auf
Kap Conſtitution los.
Bei der täglichen einförmigen Fahrt iſt es immer der Wille
des Treibers, der die Hunde vorwärts zwingt. Darin liegt die
Kunſt bei der Fahrt mit Hunden. Aber wenn etwas Ungewöhn⸗
liches geſchieht und die Hunde mit zitternden Naſenlöchern gegen
den Wind ſtehen, dann iſt es das Tier, das den Menſchen mit
fortreißt. So am heutigen Tag; auch wir wurden angeſteckt.
Kaum waren wir an dem Fuß der grauen Felswand ange—
langt, als die Hunde mit uns davonjagten. Drei ganz friſche
Bärenſpuren führten vorwärts. Die Hunde, die wiederholt im
Lauf des Tages genarrt worden waren, ſchienen jetzt feſt ent⸗
ſchloſſen, die Bären einzuholen, um die Reiſe mit einer Mahlzeit
von friſchem Fleiſch zu beſchließen.
Der Wind hatte an den Berghängen allen Schnee wegge—
weht, und die Schlitten fuhren mit einer ſolchen Geſchwindigkeit
über die einzelnen kleinen Preßeisſtücke hinweg, daß ich Angſt
hatte, die Kufen würden zerſplittern. In einer Bucht zwiſchen—
Kap Conſtitution und Kap Independence machte ich bei einem
Eisberg halt, der mir als Lagerplatz geeignet ſchien. Die
Hunde ſind ſehr mißvergnügt über die Unterbrechung der Jagd
5
96 5 Drittes Kapitel.
und geben ihrer Ungeduld in einem ſtarken Heulen Ausdruck,
deſſen Echo von den ſteilen Felſen der Bucht widerhallt.
Eine Strecke hinterher kamen die andern Schlitten. Sobald
ſie entdeckten, daß ich im Begriff war, abzuladen, gaben ſie ihren
Hunden das Bärenſignal und kamen mit einer geradezu ver⸗
zweifelten Geſchwindigkeit herangefahren. In verſchiedenen Rich⸗
tungen verteilten wir uns nun über das Eis; aber auch hier
war es ſchwer, den Spuren zu folgen, weil der Schnee ſo feſtgeweht
war, daß die Tatzen der Bären keine Spuren hinterlaſſen hatten.
Nach vierſtündigem Umherſchweifen mußte die Jagd aufgegeben
werden, und ein Schlitten nach dem andern kam zum Lagerplatz
zurück, langſam und zögernd, mit enttäuſchten Treibern und
ſchlappohrigen Hunden.
Von den höchſten Zinnen des Kap Conſtitution ſchwebt uns
ein Falke entgegen; ſtolz und lautlos, die ſpitzen Schwingen in,
Ruhe ausgebreitet, ſtrich er über uns hin, um uns in ſeinem könig⸗
lichen Jagdgebiet willkommen zu heißen. Aber als er unſer Lager
erreichte und ſeine kleinen kalten Augen auf die Schlittenladungen
richtete, die wir in unſerm Jagdeifer in wilder Unordnung hinge⸗
ſchleudert hatten, hörten wir einen Schrei, der raſch in übermütiges
Lachen überging.
Der Falke ſah im Nu, daß er es nicht mit Nebenbuhlern zu
tun hatte, und um uns ſeine Verachtung zu zeigen, wandte er ſich
mit einem raſchen Schlag über das Eis hinaus, wo die Bären
uns entwiſcht waren.
Wir alle aber ſtanden bei den Schlitten und ſtarrten ihm mit
ſchlecht verhehltem Neid nach, denn wir wußten, daß der Falke
in wenigen Minuten mit demſelben ſchallenden Gelächter über dem
Großwild dahinſchweben würde, das wir faſt einen ganzen Tag
vergebens verfolgt hatten.
Die letzten Briefe nach Dänemark.
25. April. Zum letztenmal haben wir hier ein großes Lager.
Fünf Hilfsſchlitten ſollen jetzt zurückkehren, und wir behalten nur
zwei bei uns, die uns weiter bis zu Halls Grab begleiten ſollen.
Mit den Schlitten ſoll eine letzte Poſt nach Hauſe geſandt
werden; denn einer der Moſchusochſenjäger, die wir bei Anoritog
trafen und der weiter unten bei Kap Seddon im ſüdlichen Teil
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Rasmuſſen.
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Vom Waſhingtonland nach Hall-Land. 97
der Melvillebucht wohnt, hat verſprochen, auf unſere Briefe zu
warten. Von Kap Seddon werden ſie von einem der Walfänger
Ende Mai weiter nach dem Diſtrikt Uperniwik gebracht, und von
dort gelangen ſie im Lauf des Sommers nach Dänemark.
Hier in unſerm Lager herrſcht bittere Kälte und ſtarker Wind;
aber trotz alledem wird a an den Vorbereitungen gearbeitet,
und die ſchon recht großen Sammlungen von Verſteinerungen
werden für ihre Reiſe nach Süden zweckmäßig verpackt.
Nachmittags iſt alles fertig, und um nicht unnötig Proviant
und Hundefutter zu verzehren, machen ſich die Hilfsſchlitten eiligſt
auf den Heimweg. Der Abſchied iſt haſtig und formlos, wie es
unter Jägern Sitte iſt; aber wir wiſſen, daß ihre Gedanken ſich
oft mit unſerm Geſchick beſchäftigen werden, denn es ſind alles
Leute, die ihr Leben auf langen Fahrten verbracht haben, und ſie
wiſſen aus Erfahrung, wie raſch Gutes und Schlechtes im Leben
des Jägers wechſelt.
Da iſt der große Tornge, der nach einer mißglückten Nord⸗
polreiſe einen Winter lang bei dem mächtigen Hazenſee in
Grantland um ſein Leben gekämpft hat; da iſt der ſchöne Pua⸗
luna, der die abenteuerlichen Überwinterungen bei Kap Sheridan
mitgemacht hat, und ſchließlich Majag, der kühne Jäger, der bei
Renslaer Harbour als der nördlichſte Provianthändler der Welt
tätig war.
Beim Abſchied von dieſen Männern ereignete ſich etwas, was
mich tief rührte. Zu denen, die hier umkehren, gehört nämlich auch
der junge Inukitſog, der ſeine Feuertaufe bei der erſten Thule⸗
Expedition empfangen hatte. Wir hatten einander einſt in ſchwie⸗
riger Lage gelobt, daß wir nie mehr auf eine ſolche Reiſe aus⸗
ziehen würden. Inukitſog hielt ſein Gelübde, ich brach das meinige.
Unwillkürlich mußte er bei den Abſchiedsſcherzen, wie ſie die
Eskimos lieben, daran denken und er wird auf einmal ernſt und
geht zu ſeinem Hundegeſpann, das als das ſtärkſte und aus⸗
dauerndſte im ganzen Stamm bekannt iſt. Ohne ein Wort zu
ſagen, wählt er drei der ſchönſten und beſten Hunde aus, kommt
damit zu mir und bittet mich, ſie mit den drei ſchlechteſten in
meinem Geſpann zu tauſchen. Nur wer den Wert der Schlitten⸗
hunde von Grund aus kennt, kann verſtehen, welchen Freund⸗
ſchaftsdienſt Inukitſog mir damit leiſtete.
Rasmuſſen. 7
98 Drittes Kapitel.
Unmittelbar nach der Abfahrt der Hilfsſchlitten machten wir
uns ſpät am Nachmittag ſelbſt zum Aufbruch bereit und fuhren in
der kühlen, ſonnenhellen Nacht an der John-Brown⸗Küſte entlang
weiter nach Norden. Ununterbrochen ſtoßen wir auf Bärenſpuren,
aber durch die vielen mißglückten Verſuche belehrt, beſchloſſen
wir, die Hunde zu ſchonen. Der Jagdeifer ermüdet fie ſtark, be⸗
ſonders wenn das Ergebnis negativ iſt.
Im Kennedykanal draußen treffen wir auf hohe, ſchwere
Eispreſſungen, durch die wir uns mit der Axt den Weg bahnen
müſſen. Es iſt mehrere Jahre altes Polareis, das in den Kanal
hineingetrieben iſt und durch Sturm und Wind noch weiter
zuſammen gemahlt iſt. Auf breite Strecken müſſen wir über das
berüchtigte Sikuſſaqeis, das für ſchwer beladene Schlitten ſo be⸗
ſchwerlich iſt. Richtig ging hier einer in Stücke. Wir binden ihn
mit Lederriemen zuſammen und beſchließen, uns nach dem Land
durchzuſchlagen; es gelingt, und zu unſerer Freude treffen wir hier
leicht zu befahrendes und gutes Neueis an.
26. April. Dank der guten Bahn gelangen wir bis zur Südweſt⸗
ſeite des Kap Bryan, wo wir bei einem beginnenden Schneeſturm
vormittags um 10 Uhr das Lager aufſchlagen. Trotz der be⸗
deutenden Verzögerung durch die Eispreſſungen haben wir in
14 Stunden 66 Kilometer zurückgelegt. Die ganze Nacht hin⸗
durch hatten wir Ausſicht über die ſteilen Küſtenberge von
Grinnell-Land, die ſich mit ihren gletſcherumhüllten Zinnen wie eine
Geiſtererſcheinung über dem langweiligen Preßeis des Kennedy⸗
kanals erhoben.
Der Schneeſturm verſchaffte uns den erſten langen, ungeſtörten
Schlaf ſeit der Abreiſe von Etah. Allerdings drohten die hef⸗
tigen Windſtöße, die von den 300 Meter hohen Bergen herab⸗
kamen, oft das Zelt über unſern Köpfen zu zerreißen. Aber das
dünne Tuch widerſtand den Angriffen des Sturms trefflich, und
wir hatten es in unſern Schlafſäcken warm und behaglich und
genoſſen doppelt die Süße der Ruhe, die ein Lohn der ehrlichen
Anſtrengung ift.
27. April. Etwas nach Mitternacht erwachten wir und rafften
uns ſo weit auf, um uns eine erfriſchende Taſſe Kakao zu bereiten.
Aber da der Sturm noch immer über die Zelte wegpeitſchte und
an Stärke zuzunehmen ſchien, ließen wir dem Schlaf wieder ſeinen
Vom Waſhingtonland nach Hall⸗Land. 99
Willen und ſchliefen gut und feſt bis zum Morgen. Dann brachen
wir zur Weiterfahrt auf. Durch die Erfahrung des geſtrigen
Tages gewitzigt, hielten wir uns immer ſo nahe dem Land wie
möglich und fuhren zuweilen, wo es ſich machen ließ, auf dem
Eisfuß. Die Bahn war auf unſerm Weg erträglich, dagegen
befand ſich im Kanal draußen noch mehr aufgepreßtes Eis als
am vorhergehenden Tag.
Ungefähr in der Höhe von Kap Bryan hatten wir das Preß⸗
eis hinter uns, und hier auf dem beinahe ſchneefreien Eis, das
offenbar erſt ſpät im Herbſt feſtgeworden war, hatten wir
wieder gute Fahrt. In der Höhe der Hannahinſel fanden
wir die Reſte eines Seehunds, der halb von einem Bären
gefreſſen war.
Der Beſſelsfjord wurde bei friſcher Briſe durchquert; der
kleine, eigentümliche Einſchnitt, der von allen Seiten von ſteilen
Bergen umgeben iſt, die nur hier und da von herabhängenden
Gletſcherzungen unterbrochen werden, machte auf uns einen
düſteren, öden Eindruck. Bei Kap Morton machten wir halt,
und da der Sturm noch immer zuzunehmen ſchien, gaben wir
einer augenblicklichen Schlappheit nach und ſchlugen das Lager
auf, obwohl wir eigentlich beabſichtigt hatten, an dieſem Tag
noch den Petermannfjord zu überſchreiten.
Es ſollte ſich indes am 28. April ſpäter am Tag heraus⸗
ſtellen, daß unſere Faulheit nur ein Beweis dafür war, daß wir
die Augen im Rücken hatten; dies ging ſo zu.
Sobald die Hunde gefüttert und die Zelte ſorgfältig verſteift
waren, damit ſie dem Sturm widerſtehen konnten, beſchloß Koch
mit Inukitſog einen kleinen Ausflug in das Innere der Bucht
in unſerer Nachbarſchaft zu unternehmen. Auf beiden Seiten von
hohen Bergen umgeben, lag der Grund der Bucht einladend vor
unſern Augen mit hohen, terraſſenförmigen Strandlinien, die ſich
wie ein Amphitheater bis zu einem breiten toten Gletſcher er⸗
ſtreckten. i
Hier fanden Koch und Inukitſoq ein Stück oberhalb der
Strandlinie ein altes Depot von der Nares⸗Expedition aus den
Jahren 1875 — 1876. Es beſtand aus ſechs Kiſten, von denen
jede vier 9⸗Pfund⸗Doſen auſtraliſches Hammelfleiſch enthielt;
es war friſch und wohlſchmeckend, als ſtamme es von geſtern.
Fe
100 Drittes Kapitel.
Neben den Kiſten lag eine zerbrochene Tonne mit der Auf-
ſchrift:
55 Arctic Service
H. M. S. “Discovery”
Sugar.
Leider war ein naſchhafter Bär uns zuvorgekommen, und das
war um ſo betrüblicher, als gerade Zucker eine von uns allen
ſtark begehrte Ware war. Nun müſſen wir uns mit dem unge⸗
wöhnlich guterhaltenen Boiled Beef begnügen.
Längere Zeit konnten wir es uns wohl ſein laſſen an Lebens⸗
mitteln, die arktiſchen Kollegen zugedacht waren, die hier reiſten,
ehe einer von uns geboren war. Unſern Dank den braven
Engländern, die ſie hier deponierten; unſer Kompliment der Firma,
die dieſe haltbare Ware herſtellte.
Außer dem Hammelfleiſch fanden wir eine große Bllechkiſte
mit 20 Kilogramm Talg, ſo daß auch die Hunde ihren Anteil
an der unerwarteten Feſtmahlzeit erhielten.
* *
*
Noch einen Tag, den 29. April, hielt uns der heftige Sturm
feſt. Obgleich der Schnee feſt und das Eis an vielen Stellen
blank ſchien, wurde der Schnee doch zeitweiſe ſo ſtark empor⸗
gewirbelt, daß die hohen Berge auf der entgegengeſetzten Seite
des Petermannfjords im Schneegeſtöber vollkommen verſchwanden.
Endlich gegen Abend legte ſich der Wind ſo weit, daß wir auf⸗
brechen und den Fjord überſchreiten konnten. |
Dieſer Fjord wirkt in feiner Umgebung ſeltſam und fremd-
artig. Überall fallen die Berge an der Küſte ſteil nach dem Eis
zu ab, und mit ihren dunklen, bräunlichen Farben heben ſie ſich
düſter und ernſt von dem ebenen, weißen Inlandeis ab, das
überall wie eine weiße Nebelbank hinter dem Küſtenland empor⸗
taucht. An vielen Stellen innerhalb des Fjords ſchieben ſich Gletſcher⸗
zungen zwiſchen den Bergen herab, aber nirgends ſcheinen
ſich Eisberge zu bilden. Überhaupt kann man ſagen, daß das
Eis hier oben auf den nördlichſten Breitengraden ſich von dem
Eis weiter im Süden dadurch unterſcheidet, daß man nirgends
wirkliche Eisberge findet. Auch die Stücke, die hier und da vom
Humboldtgletſcher kalben, gleichen mehr großen Polareisſtücken.
r
Vom Waſhingtonland nach Hall⸗Land. 101
Sie können an einzelnen Stellen eine gewiſſe Ausdehnung erlangen,
aber nie ſahen wir ſie in einer Größe, die den Namen Berg ver⸗
diente, ſo wie wir ſie von den Gletſchern beim Inglefieldgolf,
Wolſtenholmeſund und der Melvillebucht kennen.
Schon nach einigen Stunden Fahrt zeigte es ſich, daß wir recht
getan hatten zu warten, während der Sturm herrſchte. Denn
ſelbſt jetzt, als das Schneegeſtöber ganz aufgehört hatte, wehte
es doch jo ſtark aus dem Innern des Fjords, daß wir oft Mühe
hatten, uns auf den Füßen zu halten, wenn föhnartige Wind⸗
ſtöße über uns hinwirbelten. Der Himmel war unheimlich pracht⸗
voll: er war mit großen ballonförmigen Wolken bedeckt, die in
einem orkanartigen Sturm dahinjagten. Das Eis ſchien unbe⸗
weglich feſt gelegen zu haben, da es ganz aus unebenem Sikuſſag
beſtand. Alle Augenblicke wehte uns der Wind auf große Teiche
hinaus, die ſich aus dem Schmelzwaſſer des Sommers gebildet
hatten — große Seen bis zu einem Kilometer Länge mit ſpiegel⸗
blankem friſchem Eis, wo weder wir noch die Hunde feſten Fuß
faſſen konnten. Widerſtandslos wurden wir hinausgetrieben und
glitten willenlos bis zum entgegengeſetzten Ufer, die Schlitten
voran, die jämmerlich heulenden Hunde hinterher. Hier hieß
es, alle Sinne beiſammen haben, damit die Schlittenkufen nicht
zerſplitterten. Aber wir mußten trotz alledem weiter, denn es wäre
hoffnungslos geweſen, den Verſuch zu machen, hier draußen ein
Lager aufzuſchlagen. Nirgends bot ſich ein Schutz für das Zelt.
Ein vollſtändiger Mangel an Schnee auf dem Eis ließ erkennen,
daß Sturm hier zur Tagesordnung gehörte. Nach faſt zwölf⸗
ſtündigem Kampf mit Wind und Glatteis e wir endlich
nach der Offleyinſel.
30. April. Im Schutz der kleinen aber Buben Inſel wurden
die Zelte errichtet, dann machten wir uns auf die Suche nach
Moſchusochſen. Das Land beſtand aus dunklem Kalkſtein, war
völlig unfruchtbar und wirkte düſter. Der Sturm fegte mit ſolcher
Gewalt darüber hin, daß es oft ganz unmöglich war, gegen den
Wind anzugehen. Trotz aller Mühe und Ausdauer verlief die
Jagd erfolglos. Es zeigte ſich keine Spur von Wild, und das
Land war ſo gut wie von jeder Vegetation entblößt.
102 Drittes Kapitel.
In der Nacht kämpften wir uns unter denſelben ſchwierigen
Reiſeverhältniſſen weiter nach Norden, vom Wind über das blanke
Eis vorwärtsgetrieben. Erſt eine Meile vor Halls Thank God
Harbour erreichten wir eine ruhige Zone mit genügendem Schnee,
und die Hunde, froh wieder feſtſtehen zu können, ſchlugen zu
unſerer Freude einen ſcharfen Trab an, Jo daß wir ſchon am
frühen Vormittag bei Halls Grab ankamen, wo wir uns lagerten.
Auf dieſer letzten Wegſtrecke ſahen wir eine ganze Anzahl
Atemlöcher von Seehunden; aber obgleich möglicherweiſe eine Jagd
von Erfolg geweſen wäre, hatten wir doch vorläufig dank der
vielen Doſen mit dem wohlſchmeckenden Hammelfleiſch, die die
Nares⸗Expedition jo rückſichtsvoll bei Kap Lucie Marie depo⸗
niert hatte, mehr Intereſſe daran vorwärtszukommen, als uns
friſches Fleiſch zu verſchaffen.
Das Meereis zwiſchen der Offleyinſel und Halls Grab war
friſches Herbſteis, in einem breiten Gürtel der Küſte vorgelagert.
Es ſcheint, als ob ſich hier oben überall offenes Waſſer längs
der Küſte bildet, vermutlich im Laufe des Auguſt, doch braucht
man nicht weit in das Hallbecken hinauszukommen, um auf
Schollen des viele Jahre alten Polareiſes zu ſtoßen, das ebenſo
wenig einladend für Schlitten wie für Schiffe iſt. Man geht
kaum fehl, wenn man die Behauptung aufſtellt, daß das Eis im
nördlichen Teil des Smithſunds, im Kanebecken, Kennedykanal,
Hallbecken und Robeſonkanal in der kurzen Übergangszeit vom
Auguſt bis September aufbricht, wenn plötzlich eintretende Herbſt⸗
ſtürme mit dem kurzen arktiſchen Sommer kämpfen. Dies wird
nicht nur durch das Eis beſtätigt, das wir überall beobachten
konnten, ſondern auch durch die Erfahrungen aller früheren Expe⸗
ditionen. Von einem eigentlichen offenen Polarmeer kann da⸗
gegen ſelbſtverſtändlich niemals die Rede ſein; denn ſelbſt der Teil
des Polarmeeres, der unter dem Namen Lincolnſee Grantland
und die Nordküſte von Grönland beſpült, ſieht im Sommer und
Winter ungefähr gleich aus. Es bilden ſich wohl an einzelnen
Stellen Becken mit offenem Waſſer, aber ſie ſind nie von großer
Ausdehnung und verdanken ihre Entſtehung immer dieſer oder
jener lokalen Einwirkung. Auf dieſelbe Weiſe können ſich ſchma⸗
lere oder breitere Rinnen im Polarpackeis bilden, auch dieſe ſind
nur örtlich und vorübergehend.
Vom Waſhingtonland nach Hall-Land. 103
Jeden Sommer geſchieht es, daß das Packeis, das aus dem
großen Polarmeer draußen in die relativ ſehr ſchmalen, nach der
Baffinbucht hinabführenden Kanäle gedrängt wird, allen Wider⸗
ſtand überwindet und ſich nach Südſüdweſten Luft zu verſchaffen
ſucht. Sobald teils infolge des offenen Waſſers an der Küſte,
teils infolge der Strömung die offenen Eismaſſen in Bewegung
kommen, beginnt die Drift des Eiſes von Norden her nach der
Baffinbucht hinab, die periodenweiſe verhältnismäßig offenes
Waſſer ſchafft. Aber es iſt doch immer ſo, daß man in allen
Richtungen Maſſen von großen treibenden Schollen ſieht.
So verhält es ſich mit dem offenen Polarmeer, das bisher
Nordpolexpeditionen in Verſuchung geführt hat. Natürlich kann
hier von einer Schiffahrt keine Rede ſein, ſondern nur von einer
Drift im Eis in der Richtung, in der der Strom geht.
Dieſe Theorien haben die erſten Pioniere des Nordpols ver⸗
lockt, am Land entlang ſoweit wie möglich nach Norden vorzu⸗
dringen, und haben ſie zu ſo hoch im Norden gelegenen Über-
winterungsorten geführt, daß es ihnen ſchon verhältnismäßig
früh gelang, ein Bild der Natur und des Tierlebens zu geben und
die Küſten kartographiſch aufzunehmen.
Bei Halls Grab.
1. Mai. An einem ſchönen, ſonnenhellen Frühlingstag
kamen wir bei Halls Grab an und ſchlugen das Lager auf dem
Eisfuß auf. '
Wir waren febr geſpannt, wie die Stelle ausſehen würde,
von der man ſoviel geleſen hatte und wo eine Polarexpedition
ſich im Jahre 1871 auf 1872 durch die Zeit der Dunkelheit
hindurchgekämpft hatte.
Sobald wir daher die Hunde in gutem Abſtand von den
Schlitten feſtgebunden hatten, eilten wir einen ſteilen Lehmabhang
hinauf, der auf eine Hochfläche führte.
Die Landſchaft hatte ſchöne Linien. Eine ebene Niederung
von mehreren Kilometern Länge lag wie ein Teppich vor den
hohen Bergen, aus denen die innern Teile des Polaris⸗
vorgebirges beſtehen. Die Ebene führte öſtlich um die Halbinſel
herum bis zur Newmanbai hinab und ſchien leicht paſſierbar zu
fein, da fie mit Schnee bedeckt war.
104 Drittes Kapitel.
Aber wie öde und unfruchtbar war das Land, das man von
hier überſchaute! Nirgends gewahrte man die geringſte Andeutung
von Vegetation. Alles war Grus und Steinſchutt, einförmig und
kahl. Wir hatten auf Jagdgelegenheit gehofft, bevor wir uns
von unſerm letzten Schlitten trennten, aber dieſe Hoffnung ſchien
jetzt ganz eitel.
Eine kurze Strecke von dem Lehmabhang entfernt fanden wir
Halls Grab, das ſchon von weitem leicht kenntlich war an der
Kupferplatte, die vor dem Grab zwiſchen zwei Holzpfählen von
der Nares⸗Expedition errichtet war, der großen Polarexpedition,
die dieſelben Gegenden vier Jahre nach Halls Tod paſſierte.
Die Inſchrift der Platte lautet:
Sacred to the memory of Geweiht der Erinnerung an
Captain C. F. Hall Kapitän C. F. Hall
of the U. S. ship Polaris“ des amerikaniſchen Schiffs
who sacrified his life in „Polaris“, der ſein Leben opferte
the advancement of science für die Förderung der Wiſſen⸗
on Novbr. 8 th 1871. ſchaften am 8. Nov. 1871.
This tablet has been erected Dieſe Tafel wurde errichtet
by the British Polar Expe- durch die engliſche Polarexpe⸗
dition of 1875 dition des Jahrs 1875,
who following in his footsteps die Halls Spuren folgend
have profited by his Nutzen zog
experience. aus ſeinen Erfahrungen.
Ein Bär hatte vor kurzem das Grab beſucht und probiert, das
Monument zu zerſtören. Das Holz war teilweiſe zerbrochen, aber
die dicken Pfähle, an denen die Platte befeſtigt war, hatten doch
dem Angriff widerſtanden; man ſah deutlich die Spuren der
Zähne.
Wenige Schritte davon fanden wir zwei weitere Gräber. Bei
dem einen war die Inſchrift auf einer Holzplatte angebracht und
war jetzt nicht mehr leſerlich, auf der andern war ſie auf einen
flachen Kalkſtein geritzt, der indeſſen von einem Bären zerbrochen
iſt; man lieſt nur das Wort „Discovery“ und das genügt, um
uns wiſſen zu laſſen, daß es einer von Beaumonts Leuten ge⸗
weſen iſt, der hier den großen Schlaf ſchläft.
Vom Waſhingtonland nach Hall⸗Land. 105
Die Stimmung über dieſem kleinen arktiſchen Kirchhof mahnt
auch uns zum Ernſt; die Männer, deren irdiſche Überreſte hier
ruhen, verloren ihr Leben ja gerade bei dem Verſuch, nach
Gegenden vorzudringen, die jetzt unſer Ziel ſind.
Etwas abſeits von den Gräbern liegen die Reſte eines kleinen
Holzhauſes, das vermutlich als wiſſenſchaftliche Station an Land
gedient hat. Etwas Holz und ein paar zoologiſche Schaber liegen
herum, dazu ein großer verroſteter Kachelofen, der hier an dieſer
Küſte wie ein bizarres Stück Strandgut wirkt. Daneben liegt
eine Anzahl großer unzweckmäßiger Kochgeſchirre, Töpfe und
Keſſel, ganz aus Eiſen, die mit ihren 5 bis 10 Kilogramm Ge⸗
wicht für das Stück kaum eine angenehme Laſt für einen Hunde⸗
ſchlitten ausgemacht haben dürften.
Unſere Eskimos, deren Spürſinn immer doppelt lebendig iſt,
wo es die Unterſuchung alter, verlaſſener Wohnplätze gilt, finden
unter einem Steinhaufen zwei große Büchſen Kaffee, der ſich als
vorzüglich erweiſt. Ein Reſt Portwein in einer Flaſche hatte
ebenfalls ſein Aroma bewahrt, trotzdem er faſt fünfzig Jahre den
Froſtnächten ſo nahe dem Nordpol ausgeſetzt war. Selbſtver⸗
ſtändlich wurde er mit Andacht getrunken, wenn auch auf jeden
einzelnen nicht mehr kam, als um die Zungenſpitze damit zu be⸗
feuchten. Etwas Blei kam ebenfalls an den Tag und ein wenig
grobes Schrot, das zur Haſenjagd für unſere Hilfsſchlitten wohl⸗
geeignet war und mit Begeiſterung eingeſteckt wurde.
Inzwiſchen mußten wir an die Jagd denken, und ſobald wir die
nächſte Umgebung unterſucht hatten, wurden zwei Jagdpartien aus⸗
geſandt, davon eine mit Schlitten und Hunden die Ebene hinab in
der Richtung nach der Newmanbai; wir hegten eine leichte Hoff⸗
nung auf Moſchusochſen, zumal Halls Expedition in dieſer
Gegend nicht weniger als 26 Tiere erlegt hatte. Ein Fund, der
bei den Hausreſten auf dem Abhang oben gemacht wurde, ani⸗
mierte uns noch weiter; wir fanden hier nämlich eine Vertiefung
im Boden, die als Schlafplatz ausgegraben war; in ihr lagen
drei Moſchusochſenfelle, die nicht ſehr alt ſein konnten. Sipſu
meinte, ſie könnten vom Jahre 1900 ſtammen, als Peary ſich
mehrfach bei Fort Conger aufhielt. Die andere Jagdpartie wurde
nach einer großen, breiten Talſchlucht, die ſich in die Polaris⸗
halbinſel hineinzog, geſchickt, um nach Hafen zu ſuchen. — Während
106 Drittes Kapitel.
die Jäger draußen ſind, wollen wir unſere Spannung beruhigen
durch eine kurze hiſtoriſche Überjiht über die Expedition, deren
noch ſichtbare Erinnerungen wir eben geſchildert haben.
Die Expedition des Kapitäns Charles Hall 1871 —1872.
North, North, farther and farther North I long to get!
(Nach Norden, immer weiter und weiter nach Norden ſehne ich
mich zu kommen.) Dieſer eine Satz enthält Halls ganze Sehnſucht.
Er war ein großer Enthuſiaſt, der in ſeiner Heimat eine hervor⸗
ragende Gabe beſaß, die Leute zu packen und für ſeine Pläne zu be⸗
geiſtern. Die beſte Charakteriſtik ſeiner Perſönlichkeit liegt in dem
oben angeführten Ausſpruch, der aus einem ſeiner Tagebücher
ſtammt und wo er hinzufügt:
„Und nie werde ich mich mit meinen arktiſchen Reiſen zu⸗
frieden geben, ehe ich nicht den Punkt erreicht habe, wo es weder
Norden noch Oſten noch Weſten gibt.“
Die Expedition, die vom amerikaniſchen Kongreß ausgerüſtet
war, hatte folgende offizielle Ziele: Entdeckungen, wiſſenſchaft⸗
liche Erforſchungen und Handelsziele auf dem Gebiet des Wal⸗
fangs. Aber Halls eigene Pläne und ſein ganzer Ehrgeiz gingen
nur darauf aus, zu verſuchen, durch eine Fahrt über das offene
Polarmeer den Nordpol zu erreichen. Er brannte vor Begier,
einen arktiſchen Rekord aufzuſtellen; darin unterſchied er ſich
nicht von ſeinen Landsleuten, die vor ihm und nach ihm dieſelben
Gegenden bereiſt haben.
Hall begab ſich ſportsmäßig gut ausgerüſtet auf dieſe Reiſe.
Er hatte früher acht Jahre unter den amerikaniſchen Eskimos
verbracht und ſich eine Reiſetechnik erworben, die ihm bei der
Schlittenreiſe, die ſich unter allen Umſtänden an die Schiffahrt
anſchließen würde, von großem Nutzen ſein konnte.
Leider hatte er nicht die Gabe, ſeine Leute zu wählen; denn
die Beſatzung war aus verſchiedenen Nationen zuſammengeſetzt, aus
Deutſchen, Engländern, Amerikanern und Eskimos; alles ſtand oder
fiel daher mit der Fähigkeit des Führers, auf Diſziplin zu halten.
Der uneingeſchränkte Chef der Expedition war C. F. Hall
ſelbſt; aber auch der Führer des Expeditionsſchiffes Sidney Bu⸗
dington, der ein Menſchenalter hindurch Walfängerkapitän ge⸗
weſen war, beſaß kraft ſeiner großen Erfahrungen eine gewichtige
Vom Waſhingtonland nach Hall⸗Land. 107
Stimme an Bord, wenn Anordnungen zu treffen waren. Er
ſcheint im Gegenſatz zu dem ſanguiniſchen und oft leichtſinnigen
Hall ein vorſichtiger Mann geweſen zu ſein. Chef der wiſſenſchaft⸗
lichen Abteilung war der deutſche Arzt Dr. Emil Beſſels, der
mit germaniſcher Gründlichkeit eine ausgezeichnete wiſſenſchaftliche
Arbeit leiſtete trotz der ſchwierigen Arbeitsbedingungen, die ihm
beſchieden waren, als nach Halls Tod alle Diſziplin an Bord
zuſammenzubrechen ſchien. Die beiden Eskimos Hans Hendrik und
Joe, die mit ihren Frauen und Kindern an der Fahrt teilnahmen,
ſollten ſpäter bei der abenteuerlichen Heimreiſe der Expedition,
die ſicherlich in der arktiſchen Geſchichte ohne Seitenſtück daſteht,
von größter Bedeutung werden.
Mit großer Kühnheit ſchlug man mit der „Polaris“ alle
früheren Rekorde und gelangte bis 82° nördlicher Breite. Hier
wurde man ſich darüber klar, daß das offene Meer durchaus
nicht ſo buchſtäblich zu nehmen war, wie man bisher gemeint
hatte. Wohl konnte man durch das Kanebecken und den Kennedy⸗
kanal und nördlich darüber hinaus gelangen, aber an dem Punkt,
wo das Land aufhörte und das eigentliche Polarmeer begann,
ſtieß man auf eine Eisbarre, die kein Schiff durchdringen konnte.
Am 3. September, ſpät genug für arktiſche Verhältniſſe, mußte
man umkehren, um einen Überwinterungshafen zu ſuchen; man
fand ihn auf 81° 38° nördlicher Breite in einer Bucht, der man
den Namen Thank God Harbour gab.
Nur notgedrungen hatte Hall auf 82° nördlicher Breite den
Kurs wieder nach Süden gerichtet, aber Kapitän Budington und
alle erfahrenen Seeleute an Bord hatten abſolut darauf beſtanden,
daß es jetzt Zeit ſei, einen Überwinterungshafen zu ſuchen, und dem
hatte ſich Hall beugen müſſen.
Ein Schiffsrat wurde gehalten, und Halls Vorſchlag, noch
weiter in das Packeis einzudringen, wurde einſtimmig verworfen.
Aber man muß es Hall laſſen, daß er ein Mann des Ent⸗
ſchluſſes war. Schon im erſten Herbſt war es ihm geglückt, alle
früheren Schiffsrekorde zu ſchlagen. Jetzt brannte er vor Begierde,
Rekognoſzierungen anzuſtellen, und dann ſollte im nächſten Früh⸗
jahr, zunächſt ſolange das Eis fahrbar war, mit Hundeſchlitten
und ſpäter mit dem Schiff von neuem die Probe gemacht werden,
ob ſich das große Eismeer, das man unter den Schneeſchauern
108 Drittes Kapitel.
des Herbſtes vor ſich hatte liegen ſehen, wirklich für die Schiff⸗
fahrt öffnen würde. Sobald daher alles für die Überwinterung
eingerichtet war und der Schnee die ſteinigen Hochflächen des
umliegenden Landes bedeckte, brach der ungeduldige Hall wieder
mit zwei Schlitten und 14 Hunden nach Norden auf, nur von
einem Seemann und den beiden Eskimos Hans und Joe be
gleitet. ee
Am 10. Oktober verließ man troß. des ſchwindenden Tagge
lichts das Schiff; Hall konnte nicht warten. Man folgte dem
Tiefland, das in öſtlicher Richtung hinten um das Polaris⸗
vorgebirge herumgeht. Nach einer mehrtägigen mühſamen Schlitten⸗
reiſe, auf der man durch tiefen Schnee nur ganz kurze Strecken
zurücklegte, kam man endlich in eine große Bucht hinab und ſchlug
von dort aus wieder den Kurs nach Norden ein.
Hall, der ein religiöſer Mann geweſen zu ſein ſcheint, benannte
dieſe Bucht nach einem Pfarrer Newman, der der Expedition
ein kleines Buch mitgegeben hatte, das drei hauptſächlich 175 Nord⸗
polfahrer berechnete Predigten enthielt.
Man erreichte die Mündung der Newmanbai, wo man bei
dem hohen Kap Brevoort an der Oſtſeite der Bucht auf offenes
Waſſer ſtieß. Von dem Gipfel des Berges hatte man Ausſicht
auf das Land auf der weſtlichen Seite des Robeſonkanals, ein
großes Land, das ſich, ſoweit das Auge reichte, ausdehnte. Auch
auf der Oſtſeite des Kanals ſchien ſich Land weithin zu er⸗
ſtrecken, aber nahegelegene hohe Berge und Kaps verſperrten die
Ausſicht.
Obgleich Hall auf dieſer Exkurſion nicht ſehr weit kam, bekam
er doch einen guten Überblick über die gewaltige Aufgabe, die
ſeiner wartete. Nach Norden wollte er wieder ziehen, nach Nor⸗
den, immer nach Norden, ſobald nur die Sonne zurückkam und
lange Reiſen möglich machte.
Aber es ſollte ihm nicht beſchieden ſein, das Ziel ſeiner Träume
zu erreichen. Unmittelbar nach ſeiner Ankunft auf dem Schiff, am
24. Oktober, wurde er von einem Schlaganfall betroffen und
ſtarb wenige Tage darnach. Hall mit ſeiner großen Begeiſterung
war die treibende Kraft an Bord geweſen. Mit ſeinem Tod ver⸗
lor die Expedition ihren führenden Geiſt, und jeder Gedanke an
weitere Verſuche, nach dem Nordpol vorzudringen, wurde ſofort
—— REG
a =
Vom Waſhingtonland nach Hall⸗Land. 109
aufgegeben. Es muß hervorgehoben werden, daß trotz der ſchwie⸗
rigen Arbeitsverhältniſſe, die jetzt an Bord herrſchten, Dr. Beſſels
es fertigbrachte, eine wiſſenſchaftliche Arbeit auszuführen, vor der
man ſich voll größter Achtung beugen muß.
Am 12. Auguſt 1872 kam die „Polaris“ wieder vom Eis frei
und ſteuerte ſofort nach Süden; aber man ſtieß auf ſo große
Eishinderniſſe, daß man Anfang Oktober noch nicht zu den eis-
freien Gegenden in der Umgebung von Kap Alexander gelangt
war. Am 12. Oktober wurde das Schiff von einem heftigen
Sturm überfallen, und der Glaube, daß man jetzt vor dem Unter⸗
gang ſtand, ließ eine Panik an Bord ausbrechen. Kapitän Bu⸗
dington ſchien alle Befehlsgewalt verloren zu haben, und Offiziere
wie Mannſchaften warfen blindlings Lebensmittel auf das Eis
hinab, im Glauben, daß es ſich nur darum handle, ſich vom Schiff
auf das Eis zu retten.
In der Verwirrung, die dabei entſtand, teilte ſich die Expe⸗
dition in zwei Teile. Kapitän Budington blieb mit einem Teil
der Beſatzung auf dem Schiff zurück, während zehn Amerikaner
und neun Eskimos in dem Glauben, das Schiff ſei dem Unter⸗
gang geweiht, ſich auf der Eisſcholle einrichteten.
Die „Polaris“ widerſtand dem Unwetter und trieb am 19. Ok⸗
tober zwiſchen der Littletoninſel und der Cairnſpitze in dünnes Eis
hinein; hier blieb ſie den Winter durch feſtſitzen. Die Schiffs⸗
beſatzung kam bald in Verbindung mit Eskimos, die ihr bei dem
Transport von Lebensmitteln und Material, die vom Schiff aufs
Land gebracht werden mußten, unſchätzbare Hilfe leiſteten. In
kurzer Zeit war eine Hütte für die Überwinterung fertiggeſtellt.
Am 30. Mai trieb die „Polaris“ ins Meer hinaus,
und man hatte jetzt keinen Ausweg, als zu verſuchen, ſich in Booten
nach Uperniwik durchzuſchlagen. Am 3. Juni 1873 brach man auf
und bereits am 23. war man ſo glücklich, auf der Höhe von
Kap Vork in Verbindung mit dem ſchottiſchen Walfänger „Ra⸗
venscraig“ zu kommen, auf dem die Leute mit großer Gaſtfreund⸗
lichkeit aufgenommen und ſpäter nach Dundee gebracht wurden.
Nicht ſo gut erging es der Abteilung auf der Eisſcholle.
Steuermann Tyſon ſcheint ein guter Organiſator geweſen zu ſein,
jedenfalls hat er das Verdienſt, daß ſich in dem höchſt abenteuer
lichen Lager nicht eine vollkommene Anarchie entwickelte. Es
110 Drittes Kapitel.
waren, wie oben gejagt, neun Eskimos, aber es waren Frauen
und Kinder dabei, und nur zwei Jäger, Hans und Joe. Während
der ganzen Drift waren es dieſe beiden, die alle friſche Nahrung
herbeiſchafften und die ganze Mannſchaft retteten. Jetzt, da die
weißen Männer ſich nicht länger zu helfen wußten, ging man voll⸗
ſtändig zu der Reiſemethode der Eskimos über. Da die Eisſcholle
von großer Ausdehnung war, baute man Wohnhütten aus Schnee,
und den ganzen Herbſt ſorgte man für genügende Ergänzung des
Proviants, den man vom Schiff mitgenommen hatte. Aber als
die dunkle Zeit kam, begann der Mangel. Man hatte nicht nur
Stürme durchzumachen, die die ſchwimmende Inſel ganz aufzulöſen
drohten, ſondern die Dunkelheit ſelber hinderte die Jagd in dem
Grade, daß man ſich, um das Leben zu ſichern, auf ſehr kleine
Rationen beſchränken mußte. Anfang Januar 1874 war man bis
72° nördlicher Breite nach Süden gekommen; hier geriet man
in eine Kälteperiode, in der die Temperatur oft auf 40 Grad unter
Null ging. Man ſchlug ſich durch, ſo gut es gehen mochte,
aber alle waren jetzt von all den Leiden, die man jede Stunde
des Tages durchzumachen hatte, ſtark mitgenommen. Am 2. Fe⸗
bruar ſchoß Joe einen großen bärtigen Seehund; in ihrer Freude,
endlich wieder reichlich Proviant und Speck zu haben, waren einige
ſo gierig, daß dieſe erſte Mahlzeit ihnen beinahe das Leben ge⸗
koſtet hätte. Am Ende des Monats wurde man von einem hef⸗
tigen Sturm überfallen, der an der Eisſcholle ſo ſtark wirkte, daß
ſie auf eine Größe von ungefähr 170 Quadratmeter verkleinert
wurde; ſie ſtellte nunmehr eine Zufluchtsſtätte dar, die nicht die
geringſte Sicherheit bot. Man kann ſich denken, mit welchem
Entſetzen die armen Menſchen daſtanden und zuſahen, wenn die
See über ihre Eisſcholle hinflutete und jedesmal ein Stück von
ihrer lebenden Inſel mit ſich fortnahm.
Am 27. März wurde ein Bär geſchoſſen, und es herrſchte
wieder Wohlbefinden. Man war jetzt ungefähr auf der Höhe von
Kap Farewell. Aber jetzt war die Eisſcholle ſo abgebröckelt, daß
man ſie verlaſſen und in die Boote gehen mußte. Nun lebte man
noch abenteuerlicher als vorher; man mußte ſich durch ſchaukelnde
Eisſchollen hindurchkämpfen, beſtändig in Gefahr, daß die Boote
zerſchmettert würden, und häufig mußte man bei dem vielen
Manövrieren im Eis den koſtbaren Proviant in Stich laſſen.
Vom Waſhingtonland nach Hall⸗Land. 111
Aber gerade, als man auf dem Punkt ſtand, den Kampf aufzu⸗
geben, wandte ſich das Glück, indem am 22. April ein Bär
erlegt wurde.
Am 28. kam ein Dampfer in Sicht, aber trotz aller Anſtren⸗
gungen verſchwand er wieder am Horizont, ohne daß ſie bemerkt
worden wären. Dieſes Ereignis lähmte die Schiffbrüchigen faſt
vollkommen; auch am nächſten Tag, als wieder ein Dampfer vor⸗
beifuhr, hatte man keinen beſſeren Erfolg. Endlich, am 30. April,
klärte es ſich nach einem Schneegeſtöber auf, und nun hatte man
die Freude, ein Schiff ganz in der Nähe zu ſehen. Beinahe wahn⸗
ſinnig vor Freude über die bevorſtehende Rettung und aus Angſt,
man könnte auch diesmal nicht beachtet werden, feuerte man
Schüſſe ab und verſuchte eine improviſierte Flagge zu heißen. Die
beiden Grönländer machten ſich in ihren Kajaks auf, um an
Bord des Schiffes zu gelangen; diesmal hatten ſie Erfolg. Der
Dampfer, ein Seehundfänger aus Neufundland, nahm die ſchwer⸗
geprüften Leute an Bord. Bis dahin waren dieſe Männer, Frauen
und Kinder in den rauheſten Monaten des Jahres eine Beute
von Wetter und See geweſen und waren bis zum 53. Breiten⸗
grad in die Höhe von Labrador gekommen. Gut ſechs Monate
waren ſie im Eis getrieben und hatten eine Strecke von 25 Brei⸗
tengraden, alſo mehr als 2700 Kilometer, zurückgelegt.
Man begreift das Aufſehen, das es erregte, als ſie endlich
am 13. Mai 1874 in St. Johns landeten; kein Wunder, denn
noch in unſern Tagen gilt dieſes Polarabenteuer für eins der merk⸗
würdigſten, das jemals mit glücklichem Ausgang beſtanden wor⸗
den iſt.
Abſchied von unſern letzten Begleitſchlitten.
Der Aufenthalt bei Halls Grab erhielt eine eigene ſommerliche
Stimmung infolge des ſtillen, milden Wetters und des warmen
Sonnenſcheins, der uns nach den drei Tagen Sturm im Peter⸗
mannfjord wie ein freundlicher Gruß anmutete.
Die Sonne ſchien volle 24 Stunden hindurch, am angenehm⸗
ſten in der kühlen Nacht mit dem ſchwächeren Licht. Ohne daß
die Kälte uns ſtörte, konnten wir uns der Tätigkeit widmen, die
eine Folge des Umſtandes war, daß wir zum letztenmal mit
Sipſu und Inukitſog zuſammen waren. Sie ſollten uns nämlich
112 Drittes Kapitel.
hier verlaſſen, um, auf die Jagd angewieſen, den Weg nach Hauſe
über Grantland einzuſchlagen; mit ihnen konnten wir zum letzten⸗
mal einen Gruß nach Hauſe ſchicken mit dem Beſcheid, wie es
uns bisher ergangen war.
Ich habe ſchon erzählt, daß Sipſu in dieſen Geben kein
Neuling war. Er war ein erfahrener Reiſender, der Peary oft
auf ſeinen Nordpolreiſen begleitet hatte, und er war wohlbekannt
mit Grantland, ein ausgezeichneter Fänger, ein ſicherer entſchloſſe⸗
ner Jäger, ein ruhiger Mann, auch wenn einmal etwas der Quere
ging, und ohne Schwanken in einer gefährlichen Lage. Dabei
war er hilfreich, immer guter Laune, nur angeregt von dem
Riſiko, das immer mit einer langen Fahrt verbunden iſt, auf der
der glückliche Ausfall der Jagd der dünne Faden iſt, an dem das
Leben hängt.
Sein Begleiter Inukitſog war eigentlich nur mitgekommen,
weil er Ajakos Bruder war. Er war ein gutmütiger Burſche, der
ſich auf keinem Gebiete beſonders auszeichnete, aber in Sipſus
Geſellſchaft immerhin mit Vorteil dazu gebraucht werden konnte,
die Laſten zu fahren, die auf einem eee zu transpor⸗
tieren waren.
Dieſe beiden Männer ſollten jetzt die og ed Samm⸗
lungen, die auf der Strecke von Kap Conſtitution bis zum
Polarisvorgebirge geſammelt waren, nach Süden bringen. Da
wir keinen Proviant entbehren konnten, ſollten ſie den Weg über
Fort Conger, Greelys berühmten Überwinterungsort, nehmen, in
deſſen Umgebung jederzeit Moſchusochſen zu finden waren.
Auch wir ſelbſt hatten mit der Möglichkeit gerechnet, das Hall⸗
becken zu queren, um uns auf Grantland zu verproviantieren,
ehe wir den Kurs nordwärts nach den unbekannten, unſichern
Jagdgebieten nahmen. Aber da wir vorläufig genug Hundefutter
hatten, gaben wir den Gedanken auf. Wir konnten kaum erwarten,
dasſelbe gute Eis anzutreffen, das wir an der Küſte des Hall⸗
beckens gehabt hatten, wo das große Land, das ſich zwiſchen dem
Robeſonkanal und dem Sherard-Osborne-Fjord ausdehnt, den
gewaltigen Druck des Polarmeers abhält. Dort findet ſich nicht
ein einziger Preßrücken auf dem Eisfuß, der an gewiſſen Stellen
ſehr breit und leicht zu befahren war, an andern Stellen jedoch
zu ſchmal war für das Durchkommen mit Schlitten.
Ein kleines Eskimomädchen.
—
r
—
ee
—
Auftauchendes Walroß.
Vom Waſhingtonland nach Hall⸗Land. 113
Gegen Abend kamen die verſchiedenen Jagdpartien zurück.
Inukitſog und Hendrik, die ungefähr bis zur Newmanbai ge⸗
kommen waren, hatten nichts Lebendiges geſehen, nicht einmal
alte Spuren. Ajako und der Bootsmann, die ſich auf der Halb⸗
inſel landeinwärts gewendet hatten, hatten dagegen einige Haſen
erlegt.
Zum letztenmal kampieren wir jetzt mit drei Zelten und
halten ein beſcheidenes Feſtmahl von den friſch geſchoſſenen Haſen.
Das ſchöne Wetter dauert an, und wir halten uns kaum in den
Zelten auf; es iſt viel ſchöner draußen im Freien.
Zwei Steinmale auf den Bergen in der Nähe unſeres Lagers
werden beſucht, aber keine Berichte gefunden; neben dem einen liegt
ein großer flacher Stein mit der Inſchrift „A. A. Odell 1872
N. W. C.“, einem der Maſchinenmeiſter der „Polaris“.
Die Gegend iſt ſchön, auch wenn die Geſchichte ihre ernſte
Sprache zu uns ſpricht; es iſt ja ein Friedhof, wo wir lagern,
und die Männer, deren Geſchick ſich hier vollendete, waren junge
und mutige Männer, die hier Strapazen begegneten, denen ihr
Körper nicht gewachſen war.
Uns gegenüber überwinterte die „Discovery“ 1875 —1876, und
ein Stück weiter nördlich im ſelben Jahr die „Alert“. Beide
Schiffe mußten tapfere und unerſchrockene Männer ihrer Beſatzung
der Erforſchung dieſes Landes zum Opfer bringen. Und nicht
weit von uns lag die Lady⸗Franklin⸗Bai, wo die Greely⸗Expedition
überwinterte — eine Expedition, die den Anlaß zu der größten
Tragödie gegeben hat, die ſich jemals auf e Boben abge-
ſpielt hat.
Es iſt teuer erkauftes Land, auf dem wir ſtehen; ſeine Er⸗
forſchung hat manchem jungen, willenskräftigen Menſchen das
Leben gekoſtet. Aber für jeden, der ſtürzte, meldeten ſich andere,
und ſo rückt unſer Wiſſen von den nördlichſten Gegenden unſeres
Erdballs beſtändig weiter vor nach Norden.
Nach Norden, immer weiter nach Norden!
In weichen, ebenen Linien breitet ſich das Land vor unſerm
Zeltplatz nach Kap Tyſon hin aus. In ſanften Wellenzügen liegt
vor unſern Blicken das Land, das nur eine Wüſte von Stein,
Grus und Sand iſt.
Bei Kap Tyſon ändert das Bild ſeinen 1 tråd wilde
RNasmuſſen.
114 Drittes Kapitel.
Berge begleiten den Petermannfjord bis zu feinem Ende, wo das
Inlandeis beginnt, und umrahmen dunkel und drohend das blanke,
blaue Eis des Fjords. Vor dieſem Hintergrund jagt der Wind
große treibende Wolken zum Fjord hinaus. Dort ſcheint die
Luft niemals in Ruhe zu ſein, und während wir weit vor der
Mündung im goldenen Frühling liegen, tauchen über den Klippen
im Innern des Fjords ſtarke Unwetterfarben auf und verſchwin⸗
den wieder. |
Wieviel f uchtbarer wirkt dagegen Grantland, das nicht
weniger hiſtoriſche Land, von dem uns nur der ſchmale Robeſon⸗
kanal trennt. Auch hier ſind die Berge von großartigen und
phantaſtiſchen Formen; aber das ebene Land dehnt ſich nach allen
Richtungen in weite Fernen aus. Landeinwärts ſieht man durch
breite Schluchten einen Schimmer der großen Täler, in denen Hun⸗
derte von Moſchusochſen an den breiten Flußläufen weiden und
in denen Tauſende von Haſen ſich wie Lawinen über die Ebenen
dahinwälzen, neugierige weiße, wollige Herden, die ſo unermeß⸗
lich an Zahl ſein können, daß die Erde ſelbſt zu leben ſcheint.
Dieſe ganze große weiße Landſchaft hat ihren Mittelpunkt
in der hohen Ballotinſel, die an der Mündung der Lady⸗Franklin⸗
Bai ſtolz emporragt wie eine himmelſtürmende Denkſäule des
Kampfes um den Nordpol. Ein Denkmal hier an der Schwelle,
wo der Schlachtruf immer war:
Nach Norden, immer weiter nach Norden!
Viertes Kapitel.
Von Kap Sumner bis Dragon Point.
ir brachen am 2. Mai um 10 Uhr auf und fanden die
5 ſchlechte Bahn, die wir erwartet hatten. Infolge ihrer
ganzen Lage muß die Polarishalbinſel wie ein Keil mitten in der
ſtarken Drift von Eisſchollen wirken, die unter dem Druck der
ganzen Lincolnſee ſich an dem großen Kap vorbei Bahn brechen
und in den ſchmalen Robeſonkanal hineingemahlt werden. Um
12 Uhr nachts hatten wir Kap Sumner faſt erreicht und lagerten
völlig erſchöpft. Auch die Hunde ermatteten in dem Preßeis merklich,
und in dem Augenblick, da das Haltſignal ertönte, blieben ſie
halb übereinander die ganze Nacht liegen, ohne ſich von der Stelle
zu rühren, wo ſie umgeſunken waren.
Die Beſchaffenheit des Eiſes ließ erkennen, daß bis weit in
den Herbſt hinein längs des Landes offenes Waſſer geweſen war.
Von Halls Grab bis Kap Lupton fuhren wir daher auf ausge⸗
zeichnetem Eis, aber hier wechſelte es den Charakter, und da es
uns nicht möglich war, dem Gezeitengürtel zu folgen, kamen wir
oft in Preßeisrücken hinein, die ſich in einer Höhe von 10 bis 15
Meter vor uns auftürmten. Es war undenkbar, über dieſe großen
Eisblöcke hinwegzufahren, die wie von einer Rieſenhand hingeworfen
durcheinanderlagen. Stundenlang mußten wir haltmachen, um
mit den Eisäxten einen Weg für die Schlitten zu bahnen.
Die Preßeisrücken waren an einigen Stellen hoch ans Land
hinaufgepreßt und lagen in ſchönen Farben ſpielend wie ein pracht⸗
volles Diadem um den Eisfuß, wenn die Strahlen der Sonne
ſich an den vielen glänzenden Kriſtallen brachen. ;
Während das Land ſüdöſtlich von Halls Grab niedrig iſt,
mit einigen abgerundeten Hügeln, erhebt ſich an der Nordküſte
eine ſteile Klippenmauer mit ſchönen ſchwarzen und braunen
8 *
f
116 Viertes Kapitel.
Zeichnungen an den gewaltigen Flanken. Ein Schneeſchauer iſt eben
über die nadelſpitzen Zinnen hingezogen, und ſie bilden nun einen
weißen, ſtrahlenden Kontraſt zu den tiefer gelegenen dunklen
Wänden.
Ein Sturm weht aus Südoſt, und die Windſtöße kommen mit
einer ſolchen Kraft von den Bergen herab, daß es unmöglich iſt,
ihrem Anprall zu widerſtehen. Mit großer Mühe gelingt es uns,
die Zelte zu errichten, und ſobald wir uns durch ein wenig Nahrung
geſtärkt haben, gehen der kleine Hendrik und ich auf dem Eisfuß
Nag. brevoen i =? EN x
FEN ZEN
55
Von Kap Sumner bis Dragon Point.
nach der Newmanbai, um zu rekognoſzieren. Wir klettern auf
den Eisfuß hinauf und kriechen langſam gegen den brauſenden
Sturm an. Was wir zu ſehen bekommen, iſt nicht ſehr ermutigend;
morgen müſſen wir uns wieder mit den Axten Bahn brechen, um
in die Bucht zu gelangen, wo das Eis eben zu ſein ſcheint. Wir
erſteigen die Felſen, um einen Überblick über die Stellen zu ge⸗
winnen, wo wir uns am leichteſten einen Weg bahnen können,
und kehren dann zu den Kameraden zurück. Vorübergehend über⸗
wältigen uns Müdigkeit und Schmerzen in den windgepeitſchten
Geſichtern, und wir ſuchen Schutz hinter einem Eisrücken.
Von Kap Sumner bis Dragon Point. 117
Während wir vergebens verſuchen, eine Weile zu ſchlafen,
wenden ſich unſere Gedanken immer wieder zurück zu Markhams
Reiſe über dasſelbe Polareis, deſſen Eisſpritzer am Land wir jetzt
durchdringen wollen.
Markhams Reiſe über das Polarmeer.
Ich habe an andern Stellen davon geſprochen, welch geringen
Eindruck uns die Naturerſcheinungen machten, die unſere Vor⸗
gänger ſo oft in ſprachloſe Bewunderung verſetzten. Aber hier,
wo ich das erſtemal in meinem Leben über das mächtige Meer
des Pols hinblickte, mußte ich ſchweigen, weil mir die Worte
fehlten, die Stimmung auszudrücken, die das lebende und doch eis⸗
gebundene Meer in meinem Gemüt auslöſte. Dieſer unendlich ferne
Horizont, an dem man nach allen Seiten nur die endloſe weiße
Eisdecke ſieht, die ohne das Gleichmaß der Ebene unruheerfüllt
daliegt, iſt wie ein Naturepos, vor dem man verſtummt.
Und während der Wind um uns ſauſt und die ſteilen Berge
von Kap Sumner drohend über unſern Köpfen ſtehen, zwingt mich
die Umgebung, alles wieder zu durchleben, was die zähen Eng⸗
länder von der Nares⸗Expedition hier gelitten haben. Vor mir
habe ich die Nordoſtküſte von Grantland und in einem blauen
Streifen am Horizont die ſchwachen Umriſſe von Floeberg Beach,
dem Überwinterungshafen der „Alert“.
Nares' Expedition 1875—1876 wurde auf Koſten des eng⸗
liſchen Staates und der Königin Victoria unternommen und war
mit allem ausgerüſtet, was man zu jener Zeit für eine Polar⸗
expedition als notwendig erachtete; in keinem Punkt hatte man
Rückſicht auf die Koſten genommen.
Die Expedition, die am 29. Mai von Portsmouth abreiſte,
kam mit drei imponierenden Schiffen nach Disko; von hier wurde
das Schiff „Valorous“ zurückgeſchickt, ſo daß Nares nun über
zwei große und ſtarke Schiffe, „Alert“ und „Discovery“, verfügte.
Es war geplant, daß das eine von den Schiffen den 82. Breiten⸗
grad überſchreiten und ſich dort einen Winterhafen ſuchen ſollte;
das andere dagegen ſollte ſoweit wie möglich nach Norden vor⸗
dringen.
Das Ziel der Expedition war der Nordpol, und ſobald man
an Kap Vork vorbei war, arbeitete man ſich ganz ſyſtematiſch
118 Viertes Kapitel.
nordwärts, indem man an allen dafür geeigneten Stellen Depots
anlegte, die im Falle eines Schiffbruchs benutzt werden ſollten.
Zugleich errichtete man Steinmale, worin man Nachrichten für
etwaige Suchexpeditionen niederlegte. Es war eins dieſer Depots,
das wir bei Kap Morton gefunden hatten.
Plangemäß nahm die „Discovery“ in der Lady⸗Franklin⸗
Bai Winterquartier, während die „Alert“ ſich weiter Bahn brach
und am 25. Auguſt die Nordſpitze von Grantland erreichte, wo
man bei Floeberg Beach überwinterte.
Sogleich bei Froſtbeginn unternahm man verſchiedene Exkur⸗
ſionen, kam aber leider bald zu der Erkenntnis, daß die von dem
weißen Mann erdachte Reiſetechnik in dieſen Breitengraden kaum
anwendbar ſei. Man hatte in Disko den Grönländer Frederik an⸗
geworben und außerdem den jetzt berühmten Hans Hendrik, der als
Schlittenführer an den Expeditionen von Kanes, Hayes und Hall
teilgenommen und daher große Erfahrung im Fahren mit Hunden
hatte. Es war eine energiſche Expedition, die alle Möglichkeit aus⸗
nutzen wollte. Schon am 26. September machte ſich Leutnant Aldrich
mit dem Grönländer Frederik, zwei Matroſen, zwei Schlitten und
vierzehn Hunden auf, um die Gegend bei Kap Joſeph Henry zu
unterſuchen. Aber ſchon am 5. Oktober kam er zurück mit nur elf
Hunden; ein Schlitten war zurückgelaſſen worden, und die Hunde
waren infolge des tiefen Schnees ſchwer erſchöpft. Aus dieſer
Rekognoſzierung ſcheint man den voreiligen Schluß gezogen zu
haben, daß Hunde zu Expeditionsreiſen in dieſen Gegenden un⸗
geeignet ſeien. Die Folge war jedenfalls, daß man ſie nicht weiter
zu Langfahrten benutzte, ſondern es vorzog, die Schlitten von
Männern ziehen zu laſſen, ein konſervatives Verfahren, das die
Expedition von Nares teuer zu ſtehen kam. Hätten ſie ſich, ſtatt
ſich auf ihre eigenen neugebildeten Erfahrungen zu verlaſſen, das
einzig daſtehende Wiſſen zunutze gemacht, das Hans Hendrik
ſich durch ſeinen mehrjährigen Aufenthalt unter den Eskimos er⸗
worben hatte, ſo wären nicht bloß Menſchenleben geſchont worden,
ſondern die Expedition hätte auch ganz andere Ergebniſſe gehabt.
Der Winter wurde vorzüglich überſtanden, und es ſcheint im
Gegenſatz zu vielen andern Expeditionen hier das beſte Ver⸗
hältnis zwiſchen Mannſchaft und Offizieren beſtanden zu haben.
Man richtete ein Theater ein und ſpielte Unterhaltungsſtücke und
N
Von Kap Summer bis Dragon Point. 119
Schauſpiele, man veranſtaltete einen Unterrichtskurſus für die
Mannſchaft, und die ganze Dunkelzeit verging mit Unterhaltung
und nützlicher Beſchäftigung. 8
Schon Anfang April 1876 begab man ſich auf die großen
Schlittenreiſen, die im Oſten, auf dem Meer im Norden und im
Weſten die Aufgaben der Expedition löſen ſollten. Wir wollen
hier nur Markhams Reiſe ſchildern.
Es war ſeine Aufgabe, ſoweit wie möglich nach Norden, am
liebſten bis zum Nordpol vorzudringen. Er brach mit einer Be⸗
gleitung von 19 Mann mit Schlitten auf, auf die Proviant und
Gepäck ſo verteilt waren, daß jeder Mann 110 Kilo zu ziehen
hatte. Außer den Schlitten wurden zwei Boote mitgeführt, viel
zu ſchwere und unhandliche Fahrzeuge für eine ſolche Zugſchlitten⸗
reiſe. Schon bald nachdem man das Land verlaſſen hatte, wurde
der erſte Schlitten zurückgelaſſen. Täglich kämpften dieſe Männer
einen furchtbaren Kampf gegen die natürlichen Hinderniſſe auf
ihrem Wege und gegen die Kälte, und es dauerte nicht lange,
ſo fingen ſie an, unter Erfrierungen zu leiden. Aber dieſe über⸗
wanden ſie doch einigermaßen; erſt als Krankheit hinzutrat, der
gefürchtete Skorbut, war die Expedition nahe daran, vollſtändig
zuſammenzubrechen. Schon am 19. April wurde feſtgeſtellt, daß
drei von der Mannſchaft von dieſer gefürchteten, ſchrecklichen
Krankheit befallen waren. Am 24. wurde der 83. Breitengrad
überſchritten; nicht weniger als fünf Mann waren krank und
arbeitsunfähig. Am 7. Mai iſt die Lage die, daß drei Mann mit
dem Gepäck gezogen werden müſſen, während zwei von den Kran⸗
ken ſich noch ſelbſt forthelfen können, doch ſo, daß ſie kaum gehen
können. Am 10. Mai iſt Markham ſich darüber klar, daß es
hoffnungslos iſt, weiter vorzudringen, und während die Kranken
zwei Ruhetage erhalten, unternimmt er mit den kräftigſten eine
Exkurſion, die ihn bis auf 83° 26“ nördlicher Breite führt, den
nördlichſten Punkt, der je erreicht worden war, ein Rekord, der
viele Jahre unangefochten bleiben ſollte.
Die unzweckmäßige Ausrüſtung gehörte der Zeit an, und wir,
die wir ein halbes Jahrhundert ſpäter kommen, mit all der Er⸗
fahrung, die man ſeitdem geſammelt hat, können nur die größte
Bewunderung hegen für das, was dieſe Menſchen unter den
größten Leiden ausführten, als ſie ſich durch das unwegſamſte
—
120 | Viertes Kapitel.
Gelände der Welt vorwärts kämpften, an einer Krankheit leidend,
durch die die Kälte noch unerträglicher wurde.
Beim Antritt der Rückreiſe mußten fünf Mann gefahren
werden, während fünf andere nur darum imſtande waren zu
folgen, weil man die Wegſtrecke, um alles fortſchaffen zu können,
dreimal zurücklegte. In der Nähe des Landes werden noch drei
Mann krank, und da nur noch zwei Offiziere und zwei Mann
übrig ſind, beſchließt man endlich, das andere Boot zurückzulaſſen,
mit dem man ſich beſtändig abgeſchleppt hatte, in der Erwartung,
auf offenes Waſſer zu ſtoßen.
Am 5. Juni wird das Land erreicht, und nach einer Ruhe von
zwei Tagen hat Leutnant Parr ſo viel Kraft, um die Strecke bis
zum Schiff zu Fuß zurückzulegen und Entſatz für ſeine Kameraden
zu holen. Eine Hilfsexpedition wurde augenblicklich ausgeſchickt
und alle Mann nach dem Schiff gebracht. Aber mehrere waren
bereits ſo angegriffen, daß ſie trotz aller Pflege ſtarben, nachdem
ſie den Hafen erreicht hatten. Es waren auserleſene Männer ge⸗
weſen, die das Schiff verlaſſen hatten, aus einer großen Mann⸗
ſchaft ausgewählt. Aber was vermögen ſelbſt Jugend und Kraft,
wenn der ganze Körper vom Skorbut untergraben wird!
Dies iſt in knappen Worten die erſte Reiſe über das Polar⸗
eis, das wir jetzt vor uns haben. Die Saga, die hier mit Eis⸗
äxten geſchrieben wurde, hat die düſteren Töne, die die Umgebung
ihr verleihen mußte. Ein großer und ſchöner Rekord war erreicht,
und Markham hatte für ewige Zeiten ſeinen Namen in die Liſte
der hervorragendſten Polarforſcher eingeſchrieben; aber hart war
die Reiſe, und teuer erkauft wurden die Erfolge; denn das große
kalte Polarmeer fordert ſeine Opfer von jedem, der verſucht, ſeine
Geheimniſſe zu entſchleiern.
* *
sk
Hendrik und ich erhoben uns, jteif vor Kälte; aber jetzt trieb
der Wind uns heim, und bald kehrte die Wärme in den Körper
zurück. Oft werden wir an glatten Stellen gegen die Preßeis⸗
rücken geſchleudert, die uns ohne Wohlwollen empfangen, und mit
wirklicher Freude kommen wir zerſchlagen um 4 Uhr morgens bei
unſern ſchlafenden Kameraden an.
Es iſt eine kalte und ungaſtliche Küſte.
Bon Kap Sumner bis Dragon Point. 121
3. Mai. Unſere Zelte hatten wir zwiſchen zwei großen Preß⸗
rücken dicht am Eisfuß errichtet, um Schutz vor dem Sturm zu
haben.
Die Landſchaft wäre düſter geweſen, wenn nicht der warme
Sonnenſchein darüber gelegen hätte; er gab Leben und Farbe.
Selbſt die ſteilen Felſen hinter uns mit ihren jähen Abſtürzen
erhielten durch die Sonne Wärme und Abwechſelung.
Wir hatten gehofft, bei ruhigem Wetter zu erwachen, weil
die Windſtöße es ſo beſchwerlich machen, auf dem blanken Eis
zwiſchen den großen Preßrücken zu manövrieren. Bei Sturm wird
man unbarmherzig umgeriſſen, und die Hunde, die ihre Klauen im
Kampf der letzten Tage auf dem Glatteis abgenutzt haben, werden
in Bündel zuſammengewirbelt und auf die Schlitten geſchleudert,
wo ſie liegenbleiben, bis eine Pauſe zwiſchen den ſchweren Wind⸗
ſtößen Zeit gewährt, wieder ein Stück vorwärtszukommen.
Dasſelbe Wetter heute wie geſtern; um raſch aus dem
ſchwierigen Gelände herauszukommen, nehmen wir unſere Kräfte
zuſammen und erreichen wirklich im Laufe des Tages das große
ſtark gefaltete Kap Sumner; jetzt können wir uns beim Über⸗
ſchreiten der Newmanbai bei beſſerer Bahn erholen.
Ich ſehe kein Neueis in der Bucht. Alles iſt jahrealtes Polar⸗
eis, uneben und hügelig, ſchneefrei und glatt, aber doch einiger⸗
maßen leicht zu paſſieren, ohne daß wir zu den Axten greifen
müſſen. Am ſpäten Nachmittag ſchlagen wir das Lager bei
Kap Brevoort auf, einem hohen Kalkſteinberg, der wie ein Gegen⸗
ſtück zu Kap Sumner ausſieht. Dieſe ſo monumentalen Küſten⸗
berge bilden würdige Denkmäler für die beiden Senatoren, die
Hall mit dieſer Benennung hat ehren wollen. Von ihren Gipfeln
hat man nicht nur eine Ausſicht über das Polarmeer und die
nördliche Küſte von Grönland, ſondern man ſieht auch weit in
das Land hinter der Newmanbai hinein, das gleichmäßig anſteigt
und nach dem Inlandeis zu in einer großen Hochebene endet.
Der Erfolg, den Halls Leute auf ihren verſchiedenen Jagd⸗
expeditionen hier in der Nachbarſchaft gehabt haben, führt uns in
Verſuchung, von neuem das Glück zu verſuchen. Die Moſchus⸗
ochſen haben ſeit jenen Tagen im Jahre 1871 viele Jahre un⸗
unterbrochener Schonzeit gehabt, und zwei Mann werden daher
ausgeſandt, einen Verſuch zu machen. Ajako und der Bootsmann
122 Viertes Kapitel.
ſchweifen ungefähr zehn Stunden in dem ſteinigen Land umher und
kommen ſpät abends müde und mit ſchmerzenden Füßen zum
Zelt zurück, ohne ein Zeichen von Wild gefunden zu haben.
4. Mai. Ein Tag folgt dem andern in dieſer Zeit mit großer
Einförmigkeit. Alle unſere Verſuche, für uns ſelbſt und für die
Hunde Wild zu beſchaffen, mißglücken, aber noch haben wir
ſo viel, daß wir bei vollen Rationen die Reiſe fortſetzen können.
* sk
%*
Es iſt ein monotoner und anſtrengender Kampf, ſich durch das
Polarpackeis durchzuſchlagen. Stunde für Stunde vergeht in der⸗
ſelben Weiſe; bald iſt es die Axt, die die Eisblöcke zertrümmern
muß, bald ſind es die umgeſtürzten Schlitten, die aufzurichten
ſind, und endlich die Hunde, die mit eiſerner Diſziplin zwiſchen
all den ſcharfen und glatten Eisblöcken vorwärts getrieben werden
müſſen, wo ſie nur ſchwer jo viel Halt finden können, daß es
gelingt, die Schlitten ohne Aufenthalt durch die ſchwierigen
Stellen hindurchzupreſſen. 5
Bei all den großen Kaps läuft das gleiche aufgepreßte Polar⸗
eis wie eine ſperrende Mauer auf den Eisfuß hinauf, deren Über-
windung für uns hoffnungslos iſt; wir müſſen uns daher im Ge⸗
zeitengürtel auf Glatteis vorwärtsarbeiten oder müſſen, wenn das
nicht geht, die ganz vereinzelten Stellen ausſuchen, wo eine ſpäte
Rinne vom Januar oder Februar einen Arm mit jungem Eis nach
dem Land zu ausgeſtreckt hat. Doch vermeiden wir ſoweit wie
möglich, zu weit aufs Meer hinauszukommen, weil dieſe neuen
Eisrinnen oft blind enden und uns in ein Gewirr von Eis⸗
preſſungen führen.
Im Verlauf des Vormittags paſſieren wir 630 Valley
(Schlundtal), wo Beaumont und ſeine Leute ihre ſchweren Zug⸗
ſchlitten aufs Land zogen, da ihnen auf ihrem Weg bei Kap
Brevoort offenes Waſſer den Weg verſperrte. Das Tal bildet hier,
wie der Name andeutet, einen breiten Schlund zwiſchen zwei ſteilen
Bergen, ein ſteiniges und zerklüftetes Tal, das landeinwärts nach
dem großen Tiefland bei der Newmanbai führt. Wir, die wir
unſere Hunde zur Hilfe haben, können nicht anders, als uns in
tiefer Achtung vor jenen kranken und entkräfteten Männern beugen,
die ihre ſchweren eiſenbeſchlagenen Schlitten über das unwegſame
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Von Kap Sumner bis Dragon Point. 123
Gelände mit den vielen großen Steinen, die vom Schnee entblößt
daliegen, ſelber ziehen mußten. Mag ſein, daß jene alten Bahn⸗
brecher unpraktiſch ausgerüſtet waren, aber welche Zähigkeit und
welchen Stolz müſſen dieſe ausdauernden und baumſtarken Ma⸗
troſen beſeſſen haben, die die Zugtiere der erſten Polarfahrer
waren!
Ungefähr beim Repulſehafen gelingt es uns, auf einen Eisfuß
hinaufzukommen, der ſich befahren ließ. Doch türmen ſich an
manchen Stellen rieſige Sikuſſaqpreſſungen in Wällen von 10
bis 30 Meter Höhe empor. Solche Erſcheinungen zeugen von den
Kämpfen, die alljährlich zwiſchen dem krachenden, vom Strom
getriebenen Eismeer und den Felswänden, den Vorpoſten des
Landes, ausgefochten werden. Inukitſog, der auf einer von Pearys
Nordpolexpeditionen an der Nordküſte von Grantland überwintert
hat, erinnert ſich, Riſſe und offene Waſſerflächen bis weit in den
Winter hinein geſehen zu haben. Vor Februar oder März ſcheint
das Eis hier zwiſchen Grönland und Grantland ſelten feſt und
zuverläſſig zu ſein.
Beim Repulſehafen kamen wir an einem Steinmal vorbei, wo
wir in einer leeren Kognakflaſche folgenden Bericht Pearys fanden:
8. Juni 1900.
Komme hier auf meinem Weg nach Fort Conger vorbei.
Ich verließ Etah am 4. März und Conger am 15. April.
Erreichte Lockwoods nördlichſten Punkt am 8. Mai, die nörd⸗
liche Grenze des grönländiſchen Archipels am 13. Mai; einen
Punkt auf dem Meereis nördlich davon auf 83° 50“ nördlicher
Breite am 16. Mai und einen Punkt tiefer an der Oſtküſte in
etwa 83° am 21. Mai. Über eine Woche folgten uns Nebel,
Wind und Schnee. Dies machte die Reiſe ſehr ſchwierig und ver⸗
zögerte die Rückkehr. Es iſt dies mein ſechzehnter Marſch von meinem
nördlichſten Punkt und der neunte von Lockwoods nördlichſtem
Punkt. Paſſierte geſtern die Schwarzhornklippen unter großer
Schwierigkeit über loſes Eis. An dieſem Punkt iſt jetzt offenes
Waſſer, und eine Rinne von offenem Waſſer diesſeits von Kap
Brevoort, die ſich deutlich quer über den Kanal erſtreckt. Bei
mir ſind mein Diener Matthew Henſon, ein Eskimo, 16 Hunde
und 2 Schlitten, alle in guter Verfaſſung.
124 Biertes Kapitel.
Dieſe Schlittenreiſe iſt ein Teil eines Programms arktiſcher
Forſchung, die von mir unter den Auſpizien und mit den
Mitteln des Peary Arctic Club in New York unternommen
wurde. R. E. Peary, U. S. N.
Wir waren jetzt von den Eispreſſungen frei und genoſſen die
ebene Bahn auf dem Eis im Innern des Fjords. Aber leider
glitten die Schlitten hier ſchwer auf dem Schnee, der voll von
feinen Sandkörnern und Kies war und unſere Eiſenſchienen ſtark
hemmte. Nur mit äußerſter Mühe konnten wir die Hunde dazu
bringen, einen langſamen Trab einzuhalten, der uns indeſſen gut
vorwärts brachte. Hier auf dieſer Küſtenſtrecke fand Wulff eine
lebende Steinbrechart mit voll entwickelten Blüten auf zollhohen
Stengeln. In voller Blüte war ſie plötzlich vom Winter überraſcht
worden, den ſie über ſich hatte hingehen laſſen, als ob er gar nicht
exiſtierte, und jetzt, da Frühling und Sonne den Schnee wieder
ſchmelzen, lebte ſie ruhig weiter. Alle ihre Gewebe waren voll
Leben, obgleich die Temperatur der Luft 11 Grad unter Null
betrug und in dieſem Jahr noch kein Tauwetter geweſen war.
Ungefähr bei den Schwarzhornklippen ſchlugen wir nach zwölf⸗
ſtündiger Fahrt unſer Lager auf, da weder die Hunde noch wir
ſelbſt weiter konnten. Nach einem kleinen Mahl und einer er⸗
quickenden Taſſe Tee erſtieg ich mit den Eskimos die Berge, um
mich zu unterrichten, welche Ausſichten ſich für das Vorwärts⸗
kommen am nächſten Tage boten. Das Eis war dasſelbe wie an
den vorhergehenden Tagen; trotz aller Schwierigkeiten war dies
eine freudige Überrafhung, denn die Schwarzhornklippen, die ohne
Andeutung eines Eisfußes ſteil ins Meer abfallen, haben ſehr
unzuverläſſige Eisverhältniſſe; oft gibt es hier offenes Waſſer.
Landeinwärts hatten wir eine Ausſicht über ebenes Land mit
hügeligen Höhen, die faſt ausſchließlich aus Kies, mit Lehm und
Grus vermiſcht, beſtanden; trotz dieſes Mangels an Vegetation
wirkte die Ausſicht mit ihren ſanften, ruhigen Linien doch freund⸗
lich. Im Hintergrund erhob ſich der mächtige Mount Punch, breit
und ſolid, mit einer weißen Schneemütze auf ſeinem Scheitel.
Das Land war ſchneefrei, und vergebens durchforſchten wir mit
unſern beiden guten Fernrohren alle Ebenen, Täler und Schluchten.
Nicht ein Haſe, geſchweige denn ein Moſchusochſe war zu ſehen.
Von Kap Sumner bis Dragon Point. 125
Von unſerm ſturmumſauſten Ausſichtsberg konnten wir ſehen,
wie das Land drüben in Grantland ſich wie blaue Nebelbänke
weit, weit nach Nordweſten in einem Meer von Eis verlor. In
weiter Ferne erkannte Inukitſog das Kap Sheridan, das der Über-
winterungshafen von Nares 1875 —1876 war und ſpäter der von
Peary auf zwei ſeiner Nordpolexpeditionen.
Wenn man von hier über dieſe große Fläche von zuſammen⸗
geſtauchtem, grobem Polareis blickt, mit ihren vereinzelten kleinen
Tümpeln mit Neueis, ſo muß man die größte Bewunderung für
den alten engliſchen Seemann hegen, der bereits vor vierzig Jahren
den Weg für Schiffe ſo nahe zum Nordpol gewieſen.
* *
5. Mai. Wie gewöhnlich haben wir unſern Lagerplatz auf
dem Eis draußen zwiſchen den allerhöchſten Eiswällen gehabt,
um gegen den wütenden Sturm geſchützt zu fein, der vom Eisfuß
herabſtreicht und das Zelt mit Schauern von Schnee und Grus
peitſcht. Nur ungern erhebt man ſich morgens in dieſem ungaſt⸗
lichen Land, wenn man den Tag nach einer guten Nachtruhe im
warmen Schlafſack wieder beginnen ſoll. Jede Tagereiſe fängt
mit einer kleinen Rekognoſzierung an. Ein oder zwei Mann be-
geben ſich mit Eishacken bewaffnet ſeewärts, um die erſten Hin⸗
derniſſe aus dem Weg zu räumen. Es iſt immer gut, ſo ſchnell
wie möglich vom Lagerplatz wegzukommen, denn nichts iſt ſo de⸗
primierend, als wenn man lange die Stelle ſehen kann, wo man
zuletzt geſchlafen hat.
Es zeigte ſich bald, daß wir auf unſerm Weg nach der See
raſch auf einigermaßen gutes Eis kamen. Allerdings war es altes
Sikuſſag mit glatten, abſchüſſigen Seiten und heimtückiſchen Ver⸗
tiefungen. Aber dieſes alte Eis wechſelt mit leichter Bahn ab,
und ſo kam es, daß wir zu unſerer großen Überraſchung ſchnell
über die Stelle wegkamen, wo wir uns auf einen harten Kampf
| für die Weiterfahrt gefaßt gemacht hatten. In der Nähe von Kap
Stanton kamen wir wieder auf den Eisfuß hinauf, der an der
Außenſeite überall einen Wall von 5 bis 20 Meter hohen Eis⸗
preſſungen hatte. Die Preſſungen hatten wir damit umgangen,
aber für die Hunde war es eine ſchwere Arbeit, die Schlitten auf
dem lehmigen Schnee vorwärtszuziehen.
126 Viertes Kapitel.
Auf der geſtrigen Tagereiſe hatten wir die Spuren von zwei
Polarwölfen geſehen, einem ſehr großen Männchen und einem
Weibchen, die vor einigen Tagen in derſelben Richtung getrabt
waren, in der wir uns jetzt vorwärts mühten. Heute haben wir
wieder dieſelbe Spur, und die Hunde, die die fremden Tiere wittern,
werden durch die Hoffnung auf eine möglicherweiſe bevorſtehende
Jagd ein wenig belebt. Auch uns beſchäftigen die Spuren; denn
wo Wölfe ſind, pflegen in der Regel auch Moſchusochſen zu ſein,
und wir ſehnen uns alle nach friſchem Fleiſch. An nicht wenigen
Stellen des Landes ſehen wir Exkremente von Moſchusochſen,
aber ſie ſind leider ſehr alt und mit Moos bewachſen.
Vorläufig iſt die einzige Abwechſlung der heutigen Tagereiſe,
daß wir auf unſerm anſtrengenden und ermüdenden Marſch längs
der einförmigen, unfruchtbaren Küſte zwei ſchöne Buchten paſſieren.
Die eine iſt die Handbai mit zwei friedlichen Tälern im Grunde,
von hohen Bergen umrahmt, die das Idyll noch mehr hervor⸗
heben; im Innern der Bucht iſt das Eis eben und macht den Ein⸗
druck, als wäre es während der Sommerwärme ganz geſchmolzen
geweſen. Ebenſo iſt es in der Franklinbai, die mit einer ganz
ſchmalen Mündung in das Land einſchneidet, um ſich dann ſtark
zu erweitern. In ihrem Hintergrund erhebt der Mount Punch
mit dem gemütlich klingenden Namen ſein ſchneebedecktes Käpp⸗
chen verwegen bis in die Wolken.
Der Sturm ſcheint der einzige Gaſt in dieſen rauhen Gegenden
zu ſein, wo nicht einmal der Schnee ſich wie eine Daunendecke über
die arme Vegetation legen darf, die eine milde Gabe des Sommers
für Inſekten, kleine Vögel und umherſtreifende Haſen und
Lemminge iſt. Doch war hier genug Futter für Moſchusochſen;
denn überall, wo kleine, ſchluchtenartige Vertiefungen Schutz vor
dem Schnee bieten oder wo ein Fluß ſich den Weg von einem
See nach dem Meer herab bahnt, wachſen reichlich Gras und
Weiden.
Das Jagdergebnis des Tages beſteht in drei mageren Schnee⸗
hühnern. Eins davon war ſo zahm, daß Harrigan ſich ſo nahe
heranſchleichen konnte, daß er es ohne Mühe mit den Händen
greifen konnte. Die Schneehühner werden mit unſerm Haferbrei
zuſammengekocht und verleihen ihm durch die ſcharfe IE
ſchmeckende Brühe einen neuen, guten Geſchmack.
Von Kap Sumner bis Dragon Point. 127
Unſere zwei Zelte ſind unter einem ſteilen Eiswall errichtet, der
durch den Druck des Meeres zu einer Höhe von 30 Meter über
den Eisfuß hinaufgepreßt iſt. Dieſer Wall ſieht phantaſtiſch aus
mit ſeinen vielen kantigen Eisblöcken, die übereinandergeworfen
ſind und einen wohltuenden Schutz gegen den Wind gewähren.
Der Platz heißt ſehr paſſend Reſt Point, Raſtſpitze. Die Tagereiſe
war lang geweſen, 15 Stunden, und wir alle genießen nach der
letzten Bergwanderung die geſegnete Ruhe, die ſich über unſere
müden Glieder wie der Regen über einen durſtenden Acker ergießt.
6.—7. Mai. Es wird 6 Uhr nachmittags, ehe wir zum Ab⸗
marſch bereit ſind. Auch heute wieder iſt der Eisfuß ſchwer paſſier⸗
bar. Die Schlitten können auf all dem Kies und Sand, der auf
dem Schnee zuſammengeweht iſt, kaum gleiten, und die Hunde
haben daher große Mühe, ſie vorwärts zu bringen. Die Küſte
iſt öde, einförmig und niederſchlagend. Der Eisfuß, dem wir
folgen, iſt an ſeinem inneren Rand von niedrigen charakterloſen
Schutthügeln bedeckt, ganz ohne Abwechſlung in der Form,
die ſonſt anregend wirkt. Alles, was wir um uns ſehen, trägt
den Stempel des eiſenharten Klimas dieſes Landes. Der ewige
Sturm hat die ganz geringe Andeutung der Vegetation flach auf
die Erde gedrückt, nichts hat Zeit gehabt, ſich ein wenig aufzu⸗
richten. Alles Leben des Bodens liegt unter dem Joch des Froſtes
und des Sturms.
Wir kriechen wie die Schnecken von Landzunge zu Landzunge,
wo jeder Punkt, den wir vor uns ſehen, dem gleicht, den wir eben
verlaſſen haben. Die ganze Küſte iſt geſchoren und abgeſtutzt, von
Preßeisrücken blockiert und in einem Ozean von Eis eingefroren.
Wir machen zwiſchendurch halt, um den Hunden eine kurze
Naſt zu gewähren; unterdeſſen wandern wir ſelber über die
Sandwüſte, ohne daß irgend etwas uns zur Fortſetzung der Reiſe
ermutigte. Die drückende Einförmigkeit des Todes ſcheint allein
in dieſer Gegend zu herrſchen.
Während der Fahrt fällt mein Auge plötzlich auf ein Stück
Holz, das von Menſchenhand an einer in die Augen fallenden
Stelle neben einem Steinhaufen angebracht iſt. Obgleich es in
ſeiner Weiſe Botſchaft bringt von andern Menſchen, die dieſe
Küſte befahren haben, iſt die Stimmung doch ſo, daß man un⸗
willkürlich an Gräber denkt. Ich eile hin, um zu ſehen, ob es
128 Viertes Kapitel.
nicht vielleicht eine traurige Erinnerung an Beaumont iſt, entdecke
aber raſch, daß die Stelle nur der Aufbewahrungsort für ein
Proviantdepot geweſen iſt, vielleicht die Rettung für die, die es
hungrig und ermattet auffanden.
Die Küſte geht ſcharf und gerade nach Nordoſten und ge⸗
ſtattet keine Ausſicht nach vorwärts, kleine Vorſprünge verdecken
beſtändig den Horizont. Aber unter Kap Bryant biegt die Küſte
plötzlich nach Süden ab und eröffnet mit einemmal einen Aus⸗
blick nach Norden. All die Länder, von denen wir monate⸗
lang geträumt haben, ſteigen aus dem Eismeer empor und heben
ſich in phantaſtiſchen Konturen gegen die ſcharfe klare Luft ab.
Unterdeſſen iſt es 2 Uhr morgens geworden. Die Sonne
ſteht noch nicht ſo hoch, daß ſie ein nivellierendes und einförmiges
Licht wirft; ſcharfe Schatten fallen auf die dunkeln Felſenwände,
und eine feine, zarte Röte zittert noch auf den oberſten Zinnen,
die mit Eis und Schnee bedeckt find.
Plötzlich iſt es, als ob die niedrige, traurige Küſte, der
wir von Reſt Point gefolgt find, hinter uns im Meer verſinke
und gar nicht mehr exiſtiere. Wir ſehen jetzt weit voraus, und
mit der weiten Ausſicht ſtellt ſich die Reiſeſpannung ein, die
immer über tote Punkte hinweghilft. Es iſt, als führen wir plötz⸗
lich von neuem Mut beſeelt mit offenem Viſier e Schicksal
entgegen. REN
Ganz nahe ſehen wir den St.- George Fidrd, der ſchmal wie
ein Eisfluß ſich ins Land hineinſchlängelt, von hohen Bergen ein⸗
gefaßt, die ſteil gegen das Meereis abfallen und ſich ganz bis
zum Inlandeis erſtrecken.
Dragon Point liegt wie ein Keil zwiſchen dieſem ſchmalen
Fiord und dem breiten, weit imponierenderen Sherard⸗Osborne⸗
Fiord, wo die großen Linien mit dem ruhigen Hinterland bei Kap
May eine ganz andere Stimmung ſchaffen, als ſie der wild
wirkende St.⸗George⸗Fjord hervorruft. Hier iſt eine Breite und
eine Tiefe, eine wilde monumentale Größe, die hinreißt, nament⸗
lich wenn man ihre Wirkung von dieſem Punkt aus mit der
übrigen Landſchaft vergleicht. Weit im Meer draußen wie eine
geballte Fauſt mitten in dem ewigen Eis erkennt man das ſcharfe
Profil der Beaumontinſel. Selbſt die höchſten Berge ſcheinen
hier nicht mit Schnee bedeckt zu ſein und bilden daher einen wohl⸗
Eskimoſchöne.
Rasmuſſen.
Alter Jägersmann.
Von Kap Sumner bis Dragon Point. 129
tuenden Kontraſt zu der weißen Unendlichkeit, die ſich vor ihrem
Fuß ausbreitet. Über dem Tiefland hinter Kap May, wo der
kegelförmige Mount Hooker den Horizont beherrſcht, tauchen die
nadelſcharfen Zinnen von Kap Britannia auf der John⸗Murray⸗
Inſel in der Mündung des Nordenſkiöldfjords auf.
Der Himmel iſt blendend rein, die Luft tiefblau und friſch,
und es iſt, als ob ſelbſt der Wind hier andere Lieder ſinge als
an den toten Küſten, von denen wir kommen. Nur am äußerſten
Horizont des Eismeeres ſieht man einzelne Luftſpiegelungen, die
das ſonnengebadete Packeis zum Himmel emporheben und Ab⸗
wechſlung in die Einförmigkeit bringen, die über dem gebundenen
Meer ruht. Die Unvergeßlichkeit, die Kraft und Gewalt, die
die Natur hier atmet, wo wir vorläufig haltgemacht haben, um all
das Neue in Beſitz zu nehmen, verpflanzt ſich unwillkürlich auf
unſern Willen, und mit der Begeiſterung, die nur Menſchen be⸗
kannt iſt, welche die große Heeresſtraße verlaſſen haben, rücken
wir auf das Land los, das unſer Schickſal in den kommenden
Zeiten einſchließen wird.
Der mächtige Eindruck gibt uns neue Kräfte, und froh treiben
wir die Hunde den Eisfuß hinab, um über das ebene Eis des
St.⸗George⸗Fjords nach Dragon Point zu fahren.
Um 5 Uhr morgens betreten wir am äußerſten Vorſprung das
Land und ſtehen zum erſtenmal ſeit langer Zeit an einem Ort,
wo die Strahlen der Sonne uns durchwärmen dürfen. Nicht ein
Lüftchen rührt ſich, und ein kleiner neugieriger Schneeſperling, der
über unſern Köpfen hinfliegt, heißt uns in unſerm erſten Früh⸗
lingslager willkommen.
Rasmuſſen. 9
Fünftes Kapitel.
Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord nach dem
Nordenſkiöldfjord.
Beaumont und ſeine Leute.
V. 42 Jahren im Monat Mai konnte man in derſelben Um-
gebung, in der wir jetzt weilen, einen merkwürdigen Zug
kranker Leute ſehen, die ſchwankend und dem Umſinken nahe ſich
durch den Schnee kämpften, anfangs, um die Karte des Landes
anzunehmen, ſpäter, um das Leben und die Ergebniſſe der Reiſe auf
einer ungeheuer mühevollen Wanderung nach Süden zu retten.
Es waren Beaumont und ſeine Leute von der Nares⸗Expedition.
Wir haben auf dieſer Expedition viele hiſtoriſche Stätten paſ⸗
ſiert, aber hier fühlen wir uns mehr als ſonſt in Berührung mit
jenen vom Unglück verfolgten Engländern, deren Aufgaben die glei⸗
chen waren wie die unſern und deren Spuren wir bis hierher immer
gefolgt ſind. Gleich bei unſerer Ankunft entdecken wir oben auf dem
Berg ein Steinmal, das wir beſuchen, und hier finden wir Beau⸗
monts Bericht vom 25. Mai 1876 in einer ſchönen, waſſerdichten
Kupferhülſe deponiert. Außer dem Bericht iſt mit engliſcher Gründ⸗
lichkeit eine Originalkarte über die beſuchten und kartographiſch
aufgenommenen Gegenden niedergelegt. Indem wir dieſen Be⸗
richt mitnehmen, damit er ſpäter als polarhiſtoriſches Aktenſtück
bei der engliſchen Admiralität landen kann, legen wir einen andern
in dem gleichen Steinmal nieder und ergreifen die Gelegenheit,
unſere Bewunderung für unjere tapferen Vorgänger auszuſprechen.
Wie aus Beaumonts Bericht hervorgeht, wurden von der Nares⸗
Expedition drei große Schlittenabteilungen ausgeſandt, von denen
wir Markhams Reiſe ſchon beſprochen haben. Der Vollſtändigkeit
halber wollen wir daher, ehe wir von Beaumont und ſeinen
r
RTE
Vom Sherard⸗Osbornefjord nach dem Nordenſkiöldfjord. 131
Leuten erzählen, Leutnant Aldrichs Reiſe ſtreifen, die von Floe⸗
berg Beach nach Weſten an der Nordküſte von Grantland entlang
ging. Trotz der großen Schwierigkeiten, mit denen ſie zu kämpfen
hatten — namentlich war es der Skorbut, der Nares' ganze Expe⸗
dition zu vernichten drohte —, gelang es Aldrich doch, bis nach
der Velvertonbai zu gelangen. Hier fand er es unverantwortlich,
mit feinen kranken Leuten weiter vorzudringen. Er war bis 85730"
weſtlicher Länge gekommen und hatte damit faſt die ganze Nord⸗
küſte von Grantland aufgenommen. Wäre es ihm geglückt, nur
noch ein paar Tagereiſen weiter nach Weſten vorzudringen, ſo
würde er die großen Gebiete erblickt haben, die ſpäter Sverdrup
entdecken ſollte. Leutnant Aldrich erreichte am 25. Juni das Schiff
mit ſeinen Leuten, die durch Krankheit und Überanſtrengung ſo
niedergebrochen waren, daß eine Kataſtrophe hätte eintreten
können, wenn man nicht das Glück gehabt hätte, ausgeſandte
Schlitten zu treffen.
Leutnant Beaumont verließ die „Alert“ am 20. April mit
einem Trupp von 21 Mann, die vier Schlitten zogen; deren Ge⸗
wicht war ſo berechnet, daß jeder Mann 218 Pfund zu ſchleppen
hatte; eine recht anſehnliche Forderung.
Im Laufe einer Woche erreichte man den Repulſehafen und
baute das Steinmal, an dem wir am 4. Mai vorüberkamen und
wo wir Pearys Bericht fanden. Am gleichen Ort wurde ein
großes Depot für die Rückreiſe angelegt. Am 27. April zog man
weiter, nicht länger auf dem Meereis, ſondern auf dem Eisfuß,
genau wie wir es auch getan hatten. Die Schwarzhornklippen
werden paſſiert und unmittelbar danach ein neues Depot für die
Rückreiſe angelegt. Dr. Coppinger verläßt die Expedition, da er
und ſeine Mannſchaft nach Erreichung der Depots nicht mehr ge⸗
braucht werden. Schon am 10. Mai entdeckt man, daß einer der
Männer Skorbut hat, und Leutnant Nawſon wird mit dem
Kranken nach dem Schiff zurückgeſchickt. Die andern legen be⸗
ſtändig neue Depots an, um ſich den Rückzug zu erleichtern, ſo
auch eins bei Kap Bryant, das nicht weiter als eine Tagereiſe
von dem vorhergehenden Depot entfernt iſt. Von hier geht man
dann über Kap Fulford nach Dragon Point hinüber, wo ſich
jetzt unſer Lager befindet.
Da die Krankheit ſich unter den Leuten beſtändig weiter aus⸗
9 *
132 Fi.unftes Kapitel.
breitet, iſt ſich Beaumont bald darüber klar, daß es ihm nicht
gelingen wird, weiter nach Norden vorzudringen. Er wünſcht nur
noch einen hohen Berg an der Oſtküſte des Sherard⸗Osborne⸗
Fiords zu beſteigen, um von hier Peilungen nach dem Lande vor⸗
zunehmen, das dort liegen muß, das aber vorläufig noch ver⸗
borgen iſt. Für dieſen Zweck wählte er einen großen kegelförmigen
Berg aus, den Mount Hooker, und er ſetzte alle ſeine Energie
daran, dieſen zu erreichen. Aber überall war der Schnee tief, und
da die Expedition merkwürdigerweiſe keine Schneeſchuhe und
Schneereifen mitführte, wurde das tägliche Waten im über knie⸗
tiefen Schnee ſo anſtrengend, daß es ihnen ſchließlich die letzten
Kräfte raubte. Eine Bahn, die auf Schneeſchuhen leicht zu über⸗
winden geweſen wäre, wurde entſcheidend für das Schickſal und
die Reſultate der Expedition. Als die Begleiter nicht mehr weiter
konnten, ging Beaumont allein vor, um zu ſehen, wie die Verhält⸗
niſſe für ein weiteres Vorwärtskommen lägen; hierüber ſchreibt er:
„Die Küſte, die wir zu erreichen ſuchten, ſchien nicht weiter
als zwei Kilometer von uns entfernt zu ſein; ich machte mich da⸗
her auf, um zu unterſuchen, ob es nicht leichter wäre, am Land ent⸗
lang zu reiſen. In drei Stunden kam ich ungefähr anderthalb
Meilen vorwärts, dann mußte ich es aufgeben.“
Hätte Beaumont nur ein Paar Schneeſchuhe gehabt, ſo hätte
er dieſelbe Strecke in zehn Minuten zurücklegen können.
Beaumont fährt fort:
„Meine Kräfte waren faſt ganz erſchöpft, und ich rief die Leute
an, daß ſie ihre Mittagsmahlzeit einnehmen ſollten. Aber ſelber
wollte ich lieber drei Mahlzeiten einbüßen, als den ganzen Weg
zurückgehen.“ .
Die Expedition hatte ſich jetzt in eine trübſelige Schar von
Männern verwandelt, die verſuchten, die Schlitten vorwärts⸗
zuziehen; bald ſtanden ſie ſtill und arbeiteten nur mit Armen und
Händen, bald ſchleppten ſie die Schlitten an einem langen Tau,
bisweilen lagen ſie auf den Knien, um die Schmerzen in ihren
armen, kranken Beinen zu lindern.
Am 19. Mai ſchreibt Beaumont:
„Niemand wird verſtehen können, welche harte Arbeit wir in
dieſen Tagen hatten. Aber folgendes kann vielleicht einen Eindruck
geben: Als wir haltmachten, um eine Mahlzeit einzunehmen,
Bom Sherard⸗Osborne⸗Fjord nach dem Nordenſkiöldfjord. 133
krochen zwei der Männer lieber 200 Ellen auf allen vieren, als
daß ſie durch dieſen fürchterlichen Schnee gingen.“
Am 22. Mai mußte man die Rückreiſe antreten, ohne Mount
Hooker erreicht zu haben. Man hinterließ einen Bericht auf einer
kleinen Inſel, Reef Island, dann einen auf Dragon Point, den
wir jetzt gefunden haben. Wir beſchloſſen, den Bericht von Dragon
Point mitzunehmen; der andere, der ſicher zum großen Teil mit
jenem übereinſtimmen dürfte, ſollte als ein Denkmal engliſcher
Zähigkeit hier in demſelben Land bleiben, wo die Arbeit aus⸗
geführt worden war. In den letzten Tagen des Mai hatte ſich die
Situation ſo entwickelt, daß alle krank waren, mit Ausnahme von
Beaumont und Gray. Man mußte daher verſchiedene Dinge, die
nicht für unumgänglich notwendig anzuſehen waren, zurücklaſſen;
denn man war jetzt an einem Punkt angelangt, wo die kraftloſen
Menſchen gefahren werden mußten. Der erſte, der ſtarb, war ein
Seemann namens Bawl, ein zweiter folgte ihm am 7. Juni. Am
10. Juni erreichte man das Depot bei Repulſehafen; Proviant
hatte man genug, aber leider war es ja gerade der Proviant, der
das ganze Unglück verſchuldete.
Offenes Waſſer hinderte ſie, zur „Alert“ hinüberzugelangen,
und man mußte ſich daher entſchließen, bis nach Halls Grab
hinabzureiſen. Am Tage, nachdem man den Kurs geändert hatte,
ging es mit einem Seemann namens Dobing zu Ende, und ein
anderer Mann namens Jones fiel in ſeiner Erſchöpfung ſo un⸗
glücklich, daß er nicht die Kraft hatte, weiterzugehen. Wie man
bei ſo viel Krankheit und Erſchöpfung die Schlitten durch Gap
Ballen hatte hinaufſchleppen können, iſt uns allen, die wir dieſen
ſteinigen Paß geſehen haben, ein vollkommenes Rätſel. Der eng⸗
liſche Wille, der oft in Halsſtarrigkeit übergehen kann, hat ſich
hier nicht verleugnet; weil es eben keinen andern Weg gab, waren
ſie durch die Talſchlucht gegangen. Wir können vor denen, die
dies ausführten, nur den Hut ziehen. Endlich erreichte man die
Newmanbai. Hier wollte Beaumont nach Halls Grab gehen, wo
möglicherweiſe eine Rettungsewebdition ihrer wartete, da es nicht
möglich war, all die kranken Kameraden auf Schlitten zu ziehen.
Aber das Glück war ihnen günſtig und rettete die, die noch zu
retten waren; ſie trafen Leutnant Rawſon, Dr. Coppinger und
Hans Hendrik mit ſeinem Hundeſchlitten.
134 Fünftes Kapitel.
Nach einer langen Rajt bei Halls Grab reiſte Beaumont weiter
quer über das Hallbecken nach der Lady-Franklin⸗Bai, wo die
„Discovery“ lag. Nach einer ſehr abenteuerlichen Reiſe auf trei⸗
benden Eisſchollen erreichte man endlich am 14. Auguſt das Schiff.
Alle Schlittenabteilungen waren als vollkommene Wracks
zurückgekommen, und Kapitän Nares mußte ſich daher entſchließen,
weitere Unterſuchungen aufzugeben und zu verſuchen, nach Süden
zu kommen, ſobald die Eisverhältniſſe es geſtatteten. Es gelang
beiden Schiffen, im Herbſt noch aus dem Eis herauszukommen,
und in dem erſten Hafen, den ſie anliefen, ſandte Nares ſein be⸗
rühmtes Telegramm ab: Der Nordpol iſt unzugänglich.
Endlich am Arbeitsfeld.
Jetzt ſoll es alſo im Ernſt beginnen. Unſere Expedition hat
die erſten tauſend Kilometer zurückgelegt, und wir ſind ſchon in
die Gegend gekommen, wo wir auf Jagd hoffen können. Wir
reiſten ab mit Proviant für zwei Monate, die eine Hälfte iſt auf
dem Wege hierher verbraucht worden, die andere iſt ein Stück
unterhalb Beaumonts Steinmal deponiert worden. Sie beſteht
aus Pemmikan, Keks, Kaffee, Hafergrütze, Tee, Zucker, Tabak und
ziemlich viel vorläufig überflüſſiger Munition. Wir hoffen jedoch
vor der Abreiſe, mit etwas friſchem Fleiſch für uns und für die
Hunde unſern Vorrat ergänzen zu können. Noch wiſſen wir nicht,
von wo aus wir auf der Rückreiſe den Aufſtieg auf das Inlandeis
unternehmen werden. Aber da die Wahrſcheinlichkeit dafür ſpricht,
daß es hier an dieſer Stelle geſchieht, erleichtern wir die Schlitten
von allen überflüſſigen Dingen, um nicht unnötiges Gepäck mit
uns herumzuſchleppen. Ferner werden zwei Schlitten zurück⸗
gelaſſen und die überzähligen Hunde auf die übrigen Schlitten
verteilt. Um jeden Preis müſſen wir uns ein raſches Vorwärts⸗
kommen ſichern, und um uns ſozuſagen das Meſſer an die
Kehle zu ſetzen, verſehen wir uns nur für drei Tage mit Proviant
für die Menſchen und mit einer einzigen Futterration, der letzten,
die wir haben, für die Hunde beim erſten Lager.
Wir verfügen im Augenblick über ſechs Hundegeſpanne, im
ganzen 70 Hunde; könnten dieſe nur ein paar Tage Ruhe und
reichliche kräftige Nahrung erhalten, ſo würden ſie bald alle wieder
voll arbeitsfähig ſein. Für den Augenblick iſt die Lage für die
Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord nach dem Nordenſtiöldfjord. 135
Hunde etwas kritiſch. Der Kampf mit dem Preßeis hat augen⸗
ſcheinlich ihr Befinden und ihre Laune beeinträchtigt. Sie haben
nicht mehr den ſtolzen Gang mit erhobenen Schwänzen. Es iſt
ein verzagter Ausdruck in ihre Augen gekommen, und die Pelze
haben nicht mehr den Glanz, der das ſicherſte Zeichen von Wohl-
befinden und Kraft iſt. Der Schwanz ſchlenkert willenlos zwiſchen
den Beinen hin und her; wir empfinden es daher als unſere
Pflicht, ihre Kräfte möglichſt raſch wieder herzuſtellen.
Eine Rekognoſzierung in der Nachbarſchaft hatte ein nieder⸗
ſchlagendes Ergebnis. Wir wandern weit ins Land hinein auf
einem ſchneefreien, ſteinigen Gelände, doch nirgends finden ſich
friſche Spuren von Moſchusochſen. Zerſtreute Herden ſcheinen ſich
vor vielen Jahren hier aufgehalten zu haben, aber nicht einmal
im Lehm finden wir friſche Spuren. Von Kleinwild gibt es eine
Menge Haſen, die unglaublich ſcheu ſind, ein untrügliches Zeichen
dafür, daß hier keine Moſchusochſen leben. Denn überall, wo in
der Nähe Wölfe umherſchweifen, flüchten die Haſen, ſobald ſie
etwas Lebendiges entdecken, und Wölfe ſcheint es hier, nach den
Spuren zu urteilen, nicht wenige zu geben. Wo ſie dagegen mit
friedlichen Moſchusochſen zuſammenleben, pflegen ſie nie die Ner⸗
voſität zu zeigen, ſelbſt wenn man ſie auf dem Kamm eines Hügels
plötzlich überraſcht.
Schneehühner ſahen wir oft, aber nur paarweiſe. Sie ſind je⸗
doch zu klein, ſo daß wir verzichteten, ſie in größeren Mengen zu
ſchießen. Ihr weißes Winterkleid, das ſie bis jetzt auf den ſchnee⸗
freien Stellen, wo ſie ihr Futter ſuchen, ſo leicht ſichtbar machte,
hat ſchon angefangen, dem braunen Sommerkleid Platz zu machen.
Sie erfüllen die Landſchaft mit ihrem Gurren, das zwiſchen dieſen
ſchweigenden Bergen wie ein Lied in der Einſamkeit wirkt.
Die felſigen Hochebenen im Hinterland des St.⸗George⸗Fjords
laden vorläufig nicht dazu ein, die Zeit dort mit Jagd zu ver⸗
geuden, und die Teile des Sherard⸗Osborne⸗Fjords, die wir vom
Berg aus mit dem Fernglas unterſuchen konnten, ſind zu unſerer
Enttäuſchung ſo vereiſt, daß ein Beſuch dort ebenfalls ein zu
großes Riſiko ſein würde. Ich entſchließe mich daher, die Er⸗
forſchung dieſer Fjorde vorläufig aufzuſchieben, bis unſer Daſein
durch Jagderfolge etwas geſicherter iſt. Allmählich bemächtigt
ſich unſerer die Spannung, die unzertrennlich verknüpft iſt mit
136 Fünftes Kapitel.
dem Eskimoleben und mit den Expeditionen, die nach Jäger⸗
weiſe ihre Zukunft von der Jagd in neuen Gegenden abhängig
machen.
Die erſten Jagden.
8. Mai. Wir haben fortwährend Ausſchau gehalten nach dem
Schnee, der Beaumont und ſeinen Leuten ſo große Schwierigkeiten
verurſachte, aber erſt heute auf dem Weg nach Kap May finden
wir ihn. Zum erſtenmal, ſeit wir Thule verlaſſen hatten, geſchieht
es, daß die Hunde ſich niederlegen und nicht weiter wollen, und
um die Peitſche nicht allzu fleißig gebrauchen zu müſſen, gehen
wir lieber auf Schneeſchuhen voran. Die Hunde folgen willig mit
den ſchweren Schlitten. Alle unſere Schneereifen und Schneeſchuhe
finden jetzt Verwendung, denn ohne dieſe iſt es ganz unmöglich,
ſich durch den Schnee zu arbeiten. Wieder müſſen wir Beaumont
und ſeine Leute bewundern, die unter den unerträglichen Schmerzen
des Skorbuts auf einer ſolchen Bahn mit ſteifen Beinen und
ſchmerzenden wunden Füßen, die Rücken und Schultern vom Zug⸗
riemen wundgerieben, vorwärts wankten.
Nach ſechs Stunden mühſeligen Marſchierens und Fahrens
kommen wir zu einem großen Eisſtück, wo wir haltmachen, da
ein grauer Nebel von Weſten zum Fjord hineinzieht und alle Aus⸗
ſicht verſperrt. Ein feuchter Dunſt hüllt alles ein, und eine rauhe
Briſe bringt uns einen düſteren Grus vom Eismeer.
9.—11. Mai. Am folgenden Tag ziehen wir bei gleichem
Wetter und gleicher Bahn weiter, denn es iſt unmöglich, hier zu
bleiben. Aber in einiger Entfernung von Kap Man klarte es auf,
es wird ſchönes Wetter. Wir eilen vorwärts und erreichen nach
ſechs Stunden Land. |
Auf beſchwerlichem Preßeis gehen wir um Kap May herum
und finden hinter der Landſpitze ebenes und ſchneefreies Eis, wo
die Hunde in Trab fallen und wir ſelber uns zum erſtenmal ſeit
langer Zeit auf die leeren Schlitten werfen.
Von früheren amerikaniſchen Expeditionen her wiſſen wir, daß
jedenfalls vor etwa ſechs Jahren Moſchusochſen in dieſer Gegend
geweſen ſind; ich beſchließe daher, ernſtlich eine Jagd zu verſuchen,
denn die Hunde verlieren zu ſehr die Kräfte. Ajako und Inukitſog
werden durch die Täler nach einigen großen gletſcherbedeckten
Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord nach dem Nordenſkiöldfjord. 137
Gebirgszügen geſchickt, die allerdings reichlich vereiſt erſcheinen; Koch
und ich begleiten ſie ein Stück und entdecken zu unſerer Freude
bald, daß das Land einen weſentlich reicheren Pflanzenwuchs be⸗
ſitzt als die unfruchtbare Küſte zwiſchen der Newmanbai und dem
Sherard⸗Osborne⸗Fjord. Wir erblicken auch Moſchusochſenſpuren
im Lehm und eine Menge Exkremente, die nicht ſehr alt ſein
können. Während die beiden Jäger ihren Weg fortſetzen und
jeder ſeinen Hund nach ſich zieht, eilen wir zu den Schlitten zurück,
um ein Stück weiter vorn einen Lagerplatz zu finden.
Sobald wir ihn gefunden haben, begebe ich mich mit dem
Bootsmann und Hendrik in die Berge, während Wulff und Koch
zurückbleiben, um das Zelt zu errichten.
Eine mühſame Kletterei über Berglehnen aus lauter kleinen
Steinen, die uns unter den Füßen wegrutſchen, führt auf die
Höhe einer hochgelegenen ebenen Fläche, die ſich landeinwärts
erſtreckt. Wir kommen an zwei Skeletten von Moſchusochſen vor-
bei. Sie ſind jedoch zu alt, um die Spannung, die uns voll er⸗
griffen hat, zu beeinfluſſen. Bald haben wir den Rand der jtei-
nigen Hochebene erreicht; von hier bietet ſich eine Ausſicht über ein
weites großes Tal, das ſich weit ins Land hineinzieht. Zwei
große flußartige Bäche liegen noch gefroren auf beiden Seiten des
Tales, dicht an den hohen Randbergen. In der Ferne ſchimmern
ein paar große Seen, deren fruchtbare Ufer ſicher dem Wild, das
wir ſuchen, einen einladenden Aufenthalt gewähren. Das Land
iſt gewaltig in ſeinem Wechſel zwiſchen Ebenen und Bergen.
Aber vergebens unterſuchen wir durch das Fernrohr alle uns ſicht⸗
baren Schluchtränder, Bachbetten und Talſenken. Wir entdecken
nichts Lebendiges, und enttäuſcht kehren wir zum Zelt zurück.
Eine Enttäuſchung ſteigert immer die Ermüdung des Jägers;
es kam uns vor, als hätten wir Bleigewichte an den Füßen, als
wir ohne Beute nach Hauſe gingen. Langſam glitten wir die
Berge hinab, ohne Kraft in unſeren Bewegungen und ohne Humor
bei der Abfahrt über die großen, ſteilen Schneewehen, auf denen
wir hinabrutſchten. Aber kaum waren wir in die Nähe des Zeltes
gekommen, als Wulff den Vorhang beiſeite riß und uns entgegen⸗
lief. Ajako hatte die erſten Moſchusochſen der Reiſe erlegt — drei
Kühe. Mit einem Male kam Leben in uns alle; wie weggeblaſen
war die Müdigkeit, und wir begannen ſofort den großen Berg
138 Fünftes Kapitel.
wieder zu erklimmen, von dem wir eben herabgerutſcht waren, und
wo die Jäger dabei waren, ihre Beute abzuziehen. Der ſchöne
Abſchluß einer langen Tagereiſe bedarf keiner Schilderung. Es
mag genügen zu erwähnen, daß wir alle bei ausgeſuchten Lecker⸗
biſſen bis tief in die Nacht hinein ſchwelgten, und der Schlaf, der
ſich anſchloß, während die ſatten Hunde rings um die Zelte lagen,
war ebenſo lang wie wohlverdient.
Wir müſſen jetzt das Land durch planmäßige Jagden ausnützen
und verteilen uns daher in verſchiedene Trupps. Wulff, Ajako,
Inukitſog und Hendrik gehen in verſchiedenen Richtungen in das
große Tal hinein, das wir geſtern von dem Berge überblickt haben.
Inukitſog hatte auf ſeiner Jagd eine Menge friſcher Spuren und
Exkremente im Sand und Lehm gefunden. Die Jäger ſcheinen
alſo ſpannende Ausſichten zu haben, wenn ſie nur aushalten. Für
die nächſte Umgebung ſind Leute genug auf den Beinen; ich ſelbſt
begebe mich mit dem Bootsmann in den Viktoriafjord, teils um
zu jagen, teils um das Land näher zu unterſuchen. Wir haben
ja den großen Vorteil, daß wir viele ſind, und können uns daher
im Laufe weniger Tage einen vollſtändigen Überblick über das
neue Land verſchaffen.
Bei der Erörterung der erſten Reiſeanordnungen habe ich in der
Einleitung hervorgehoben, daß wir ſicher im Laufe des Frühjahrs
Seehundfang erwarten durften, da die Polareskimos, die die
amerikaniſche Expedition in dieſe Gegend begleitet hatten, uns er⸗
zählten, ſie hätten viele Atemlöcher an Orten geſehen, wo ſich
junges Eis befand. Aber auf eine ſolche Jagd konnten wir vor⸗
läufig nicht rechnen, da das Frühjahr noch zu wenig vorgeſchritten
war. Auf Bären konnten wir ſo weit im Norden kaum hoffen,
denn die maſſige Beſchaffenheit des Eiſes macht es ihnen zu ſchwie⸗
rig, Nahrung zu finden. Eine Spur, die wir bei Kap Many ſahen,
war die einzige, die wir bisher wahrgenommen haben.
In den erſten Monaten haben wir alſo nur mit Moſchusochſen
zu rechnen, und da ſich im Innern des Viktoriafjords nach der
Karte offenbar große Landgebiete befinden, mache ich mich mit
dem Bootsmann und unſern beiten Hunden dorthin auf den Weg,
Vom Sherard⸗Osborne⸗Fiord nach dem Nordenſkiöldfjord. 139
noch ehe unſere Kameraden marſchbereit ſind. Die Fütterung mit
friſchem Fleiſch am geſtrigen Tage hatte die Hunde ſehr belebt,
und wir kommen daher anfangs raſch vorwärts. Wir fahren in den
ſchmalen Sund zwiſchen dem Feſtland und der hohen Stephenſon⸗
inſel hinein, die mit ihren ſteilen, abgeſchloſſenen Bergen, deren
Inneres von lokalen Gletſchern bedeckt iſt, einen mächtigen Eindruck
macht.
Wir waren am Abend aufgebrochen und bei ruhigem, ſchönem
Sonnenſchein arbeiten wir uns vorwärts, wobei abwechſelnd einer
die Führung übernimmt. Der Bootsmann, ein Burſche von kaum
zwanzig Jahren, hat wiederholt eine erſtaunliche Ausdauer be⸗
wieſen; er hat eine geſunde und gleichmäßige Art und ſcheint
für kein Mißgeſchick empfänglich zu ſein, wenn er nur einigermaßen
die Nahrung erhält, die ſeine jungen Muskeln erfordern. Aber
ſeine Mahlzeiten ſchätzt er aufs höchſte, und bisweilen ſetzt er uns
durch ſeinen fabelhaften Appetit in Erſtaunen.
Auf der Karte iſt eine ziemlich große Inſel hinter der Stephenſon⸗
inſel angegeben. Es ſtellt ſich heraus, daß ſie gar nicht exiſtiert.
Schon 25 Kilometer im Viktoriafjord drin finden wir die Ausſicht,
die wir ſuchen, und fahren daher in eine Bucht weſtlich von der
großen Inſel; hier wählen wir uns einen Lagerplatz, um die
Hunde ruhen zu laſſen, und begeben uns auf Schneereifen weiter
landeinwärts. Wir ſteigen ſofort auf die Berge hinauf und ſehen
zu unſerer Verwunderung: dieſer Fjord, der früher als ein mäch⸗
tiger Meeresarm geſchildert wurde, als ſo tief, daß man das Land
in ſeinem Innern nicht zu erkennen vermochte, iſt kaum mehr als
80 Kilometer lang. Das Innere des Fjords endet in einem breiten
Gletſcher, der mit ſchwacher Steigung in das Inlandeis übergeht.
Das große Hochland, das die alte Karte uns hier verſprochen hatte,
exiſtiert nicht. Weit drinnen nach Nordoſten zeigte ſich wohl Land,
aber es waren nur ſteile, vereiſte Randberge, die ſich wie ſchmale
Mauern mit dem Rücken an das Inlandeis lehnten. Auch im Süd⸗
weſten ſahen wir tief im Innern ein ſteiles Alpenland mit einzelnen
breiten Schluchten. Aber der Eingang dazu war verſperrt, da der
ganze innere Teil des Fjords aus ſchwimmendem Inlandeis be⸗
ſtand, das ſich in langſamer Bewegung nach außen befand, ſo
daß unwegſame Spalten nicht weit von unſerm Ausſichtspunkt
ſichtbar waren.
140 Fünftes Kapitel.
Dieſer Fjord, von dem wir uns ſoviel verſprochen hatten, er⸗
mangelt der notwendigen Lebensbedingungen, um unſere wiſſen⸗
ſchaftlichen Arbeiten durchführen zu können. Jeder Jagdverſuch
in dieſem Land würde lebensgefährlich und nutzlos ſein. Wir
konnten nur auf beſſere Verhältniſſe in der Umgebung des Norden⸗
ſkiöldfjords hoffen. Auch in nordöſtlicher Richtung ſahen wir in der
Ferne Berge auftauchen; aber ſchon von unſerm Standpunkt
hier war es leicht zu erkennen, daß das Land dort ſich kaum weit
ins Innere erſtrecken würde, denn der Rücken des Inlandeiſes ſchob
ſich allumfaſſend über die Gegenden, wo wir erwartet hatten,
Landjagd zu treiben.
Nun war nur noch die große Halbinſel zwiſchen Viktoriafjord
und Sherard-Osborne- Fjord übrig, aber auch ſie verſprach nicht
viel. Wohl gab es dort einzelne ebene Striche mit niederen hüge⸗
ligen Höhen, wie ſie die Moſchusochſen lieben, aber viele kleine
Lokalgletſcher ſchoben ſich dazwiſchen hinein und töteten alles Leben.
* . *
*
Eine Jagd in der näheren Umgebung lieferte zwei Hajen. Wir
kochten den einen, ehe wir uns enttäuſcht und müde auf den langen
Weg zu unſern Kameraden zurückbegaben, die wir nach vierund⸗
zwanzigſtündiger Abweſenheit mit unluſtigen und kraftloſen Hunden
erreichten. ö
Bei unſerer Ankunft kam Koch aus dem Zelt geſprungen, und
wir ſahen ſofort an ſeinen Mienen und Bewegungen, daß er gute
Neuigkeiten hatte. Ajako und Wulff hatten ſechs Moſchusochſen
erlegt und alle drei Schlitten waren zu den Tieren gefahren.
Große Freude!
Gegen Morgen, einem der erſten wirklich ſonnenwarmen Tage,
kamen die Schlitten mit bellenden, vollgefreſſenen Hunden zurück.
Inukitſog hatte während der Jagd auf Haſen eine Herde von
zehn Stück angetroffen, gerade gegenüber von den ſechs ſchon
erlegten, und wir waren jetzt dabei, ſie ins Lager zu ſchaffen.
Die Jagd des Tages hatte uns ſechzehn Moſchusochſen gebracht.
Das war eine noch größere Freude!
Abends um 8 Uhr fuhren Koch und Inukitſog in den Viktoria⸗
fjord, um eine Karte von ihm aufzunehmen.
Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord nach dem Nordenſkiöldfjord. 141
Naſt⸗ und Maſttage.
12.—17. Mai. Das willkommene Fleiſch, das wir nun geſam⸗
melt haben, ermöglicht es uns, den Hunden die Ruhe zu gönnen, die
ſie ehrlich verdient haben. Sie dürfen eine Woche faulenzen und
ſo viel freſſen, wie ſie können; dann werden ſie wieder brauchbar
für die Arbeit ſein, die vorläufig unterbrochen iſt. Aber die letzten
guten Jagdtage bedeuten nicht nur, daß wir im Laufe weniger
Tage wieder mit guten und willigen Hunden reiſefertig daſtehen,
wir ſind auch imſtande, ehe wir weiterziehen, hinter uns richtig
aufzuräumen; denn wir kehren nun zum Sherard-Osborne-Fjord
zurück, um auch von ihm eine Karte aufzunehmen.
Heute ſuchen wir einen bequemen Lagerplatz, wo wir das
Leben nicht zu weit von den erlegten Moſchusochſen genießen
können. Wir fahren daher den Flußlauf aufwärts, der auf der
ſüdlichen Seite des Tales nach dem ſchönen, großen See führt, an
deſſen Ufer das willkommene Großwild hat ins Gras beißen
müſſen. Die Gegend um den Fluß und den See macht einen
freundlichen, fruchtbaren Eindruck. Große grasbedeckte Flächen
ziehen ſich über die wohlbewäſſerten Flächen hin. Auf uns, die
wir lange Zeit nur öde Steinfelder vor uns gehabt haben, wirkt
all dies Gras, auf dem hier und da Weiden wachſen, wie ein
Gruß des Sommers, der ſeinen ewigen Kampf mit dem Eis
kämpft.
Maſſenhaft liegen hier die Exkremente von Moſchusochſen;
alle lehmigen und ſandigen Stellen zeigen Abdrücke ihrer Hufe, und
alles weiſt daraufhin, daß die erlegten Tiere längere Zeit an
dieſem See gelebt haben.
Hinter dem See erſtreckt ſich das Tiefland weit ins Innere in
einem breiten, ſchluchtähnlichen Tal. Allerdings herrſcht auch
hier überall, wo man hinſieht, der Stein vor; aber es iſt doch
deutlich zu ſehen, daß die vielen Bäche, die im Sommer von den
braunen Bergwänden herabrieſeln, die Umgebungen ſo bewäſſern,
daß mitten in der Steinwüſte kleine Oaſen entſtehen, wo pflanzen⸗
freſſende Tiere ihren Lebensunterhalt finden. Es wimmelt auch
überall von Haſen, und zum erſtenmal, ſeit wir die heimatlichen
Fleiſchtöpfe verließen, haben wir das Gefühl, daß wir uns
hiec ſatt eſſen können, ohne befürchten zu müſſen, ein ſtarker
Appetit möchte ein zu großes Loch in die Rationen reißen.
142 Fünftes Kapitel.
Das Eis auf dem See läßt erkennen, daß wir keineswegs in
ein ſtilles Tal gekommen ſind. Die Ufer ſind glatt und ſchneefrei,
und die Schneewehen ſind ſteinhart gepeitſcht und mit Sand und
Grus durchſetzt. Auf einem ſchneefreien Grasplatz errichten wir die
Zelte, und es iſt ein herrliches Gefühl, einmal eine Unterlage zu
haben, die nicht aus kaltem, knirſchendem Schnee beſteht. Die
nächſten Moſchusochſen werden herangeſchleppt, und die Hunde
bekommen ein ſo ſolides Futter, daß ihre Magen wie Ballone
aufgebläht ſind. Stöhnend vor Überſättigung legen ſie ſich hin
und träumen von den Zeiten, wo es noch nichts gab, was Expe⸗
dition hieß. Wir ſelber ergaben uns dem gleichen Materialismus,
nur mit dem Unterſchied, daß wir ſorgfältiger all die Delikateſſen
auswählen, die für einen Eskimojäger der größte Genuß
nach einer glücklichen Jagd ſind. Von den getöteten Moſchus⸗
ochſen ſind 14 Kühe und 11 Stiere. Die Stiere haben um Herz
und Nieren noch ziemlich viel Fett, ebenſo ſind in ihren mächtigen
Augenhöhlen große Fettanſammlungen; alles dies aßen wir mit
ganz beſonderem Appetit, da das Fleiſch, von dem wir bisher
gelebt haben, ſehr mager war. Und Fett braucht man hier oben
in bedeutend höherem Maße als anderswo. ö
Die Tage hier im Tal ſind rauh und kalt, und obgleich die
Temperatur nur zwiſchen 10 und 12 Grad Kälte ſchwankt, wirkt
ſie bei dem ſtarken Wind doch unangenehm. Er weht faſt ununter⸗
brochen und wirbelt Sand und Steine auf, und wenn wir heraus⸗
gehen, um Fleiſch zu holen, werden unſere Pelze mit dem ſchmutzigen
Schnee überſchüttet, der ſich in den Haaren feſtſetzt und faſt
nicht wieder herauszuklopfen iſt. Wir bleiben daher lieber ſoviel
wie möglich im Zelt, wo der Tag unter Schmauſen verläuft. Am
15. Mai, der ungewöhnlich rauh und ſtürmiſch iſt, werden die
letzten Tiere zum Zelt geholt, und wir ſind bereit, uns wieder auf
das Meereis hinabzubegeben, wo mehr Schutz und Sonnenwärme
zu finden iſt als hier in dieſer windigen Gegend. :
Ein paar von den großen Tieren, die wir oben bei dem Berg:
niedergelegt hatten, von wo aus der Transport beſonders ſchwierig
geweſen war, wurden unmittelbar vor der Abreiſe geholt. Auf
dieſer Tour fanden wir hinter einem großen Stein einen Moſchus⸗
ochſen, der uns ein lebhaftes Bild von dem Tierleben hier oben
gab. Der Ochſe, ein junges Tier, war von einem Wolf verfolgt
en
Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord nach dem Nordenſkiöldfjord. 143
worden, und in ſeiner Angſt vor dem Todfeind hat er ſich nicht
ordentlich umgeſehen und iſt mit den Beinen zwiſchen zwei große
Steine geraten. In dieſer hilfloſen Stellung iſt er für den Wolf
eine leichte Beute geweſen. Mit einem einzigen Schlag war der
dicke, knorplige Hals aufgeriſſen, und der Riß ging wie mit einem
Meſſer geſchnitten durch die ganze Bruſt bis zum Zwerchfell, das
mit einem einzigen Ruck der eiſernen Kiefer des Wolfes auf⸗
geſchlitzt war. Dieſer ganze Schnitt war von einem Kenner mit
einer Sicherheit in der Methode des Tötens ausgeführt, wie ſie
nur der geübte Verbrecher erreicht. Nur die Zunge, das Herz und
das Eingeweidefett waren verzehrt; alles übrige Fleiſch war un⸗
berührt. Um den Platz ringsum fanden ſich Fuchsſpuren, aber merk⸗
würdigerweiſe ſchien Reineke keine größere Mahlzeit von dem
großen Tier gehalten zu haben. Vielleicht zieht er zarte, weiche
Lemminge dem zähen Großwild vor.
Früh am 16. Mai kamen Koch und Inukitſoq vom Viktoria⸗
fjord zurück. Sie hatten nicht nur den Fjord unterſucht und auf⸗
genommen, ſondern waren überdies ſo glücklich geweſen, ſechs
Moſchusochſen auf dem Tiefland zu ſchießen, das ich mit dem
Bootsmann vergebens durchſtreift hatte. Wir können unſere
Freudenrufe nicht unterdrücken, als wir dieſe Neuigkeiten erfahren,
denn abgeſehen von der Kartenaufnahme dieſes Fjords hat uns
der Aufenthalt auf Naresland ſeit dem 9. Mai eine Jagdbeute
von im ganzen 26 Moſchusochſen und 30 Haſen eingetragen. Jetzt
it nur noch die Unterſuchung des Sherard-Osborne⸗Fjords übrig.
Ich halte es darum für das beſte, den Kurs wieder ſüdlich zu
nehmen, ſobald das Wetter es erlaubt. Gleichzeitig teilen wir die
Expedition in zwei Abteilungen: eine Jagdabteilung, beſtehend
aus Dr. Wulff, Hendrik, Inukitſog und dem Bootsmann, geht
weiter nach Norden nach dem vermuteten Land am Nordenſkiöld⸗
einlaß, und eine Vermeſſungsabteilung, beſtehend aus Koch,
Ajako und mir, kehrt vorläufig zum Sherard⸗Osborne⸗Fjord zurück,
um die Arbeit dort abzuſchließen. Indes wird beſtimmt, daß
Hendrik und der Bootsmann uns begleiten, um einen Teil der bei
Dragon Point zurückgelaſſenen Sachen zu holen, während Inu⸗
kitſog in den Viktoriafjord hineinfährt, um den Reſt des
Fleiſches, das er und Koch dort deponiert haben, herbeizuſchaffen.
Wulff ſoll im Lager bleiben und in der Umgebung Haſen
144 Fünftes Kapitel.
jagen, bis ſeine Abteilung ſich wieder verſammelt hat und reiſe⸗
fertig iſt.
Vorläufig zieht ſtürmiſches Wetter auf, und um uns nicht un⸗
nötig in dem Tal mit den allzu kräftigen Lungen aufzuhalten,
verlegen wir das Lager auf eine kleine Inſel in der Mündung des
Naresfjords, wo auch unſer ganzes koſtbares Moſchusochſenfleiſch
untergebracht wird. Während wir andern die fleiſchbeladenen
Schlitten zum Depotplatz fahren, zieht Wulff es vor, die fünf
Kilometer nach der kleinen Inſel, die wir Depotinſel nennen, über
Land zurückzulegen. Obgleich die Entfernung ſo kurz iſt, brauchte
Wulff doch 14 Stunden, um in dem wütenden Schneetreiben den
Weg dorthin zu finden. Wir waren außerſtande, nach ihm zu
ſuchen, da niemand wiſſen konnte, in welche Richtung die Jagd
ihn geführt hatte. Groß war deshalb unſere Freude, als er end⸗
lich mit einer Jagdbeute von zehn Haſen ankam. Haſen gibt es
hier nicht nur in großen Scharen, ſondern ſie ſind auch erſtaunlich
zahm im Vergleich zu denen, die wir bisher angetroffen haben.
Es iſt offenbar, daß ſie gewohnt ſind, mit Moſchusochſen zuſammen
zu weiden; ſie ſtellen ſich daher die Menſchen ebenſo friedlich ver⸗
anlagt vor wie dieſe großen Tiere.
Zurück nach Dragon Point.
18. und 19. Mai. Das Unwetter der letzten Tage hatte die
alte, früher ſo ſchlechte Bahn auf dem Fjord mit einer über einen
Fuß dicken, weichen, neuen Schneedecke überzogen, ſo daß wir jetzt
die „Kriſtallzuckereisbahn“ haben, über die ſich Beaumont in
ſeinem Bericht beklagt. Obgleich die Hunde acht Tage ausgeruht
haben und in dieſer Zeit mit Fleiſch vollgeſtopft worden ſind,
dauert es doch nicht lange, bis ſie den Kampf wieder aufgeben.
Wir müſſen daher wieder mit der alten Geſchichte anfangen und
auf Schneereifen und Schneeſchuhen den Hunden den Weg voraus⸗
gehen; aber das bringt nur langſam vorwärts und ohne die gute
Laune, die ſonſt bei dem Schlittenzug herrſcht, wenn die Hunde
freiwillig vorwärts traben. Wir führen 22 Moſchusochſenſchultern
mit uns; das wird uns hoffentlich inſtand ſetzen, die Arbeit,
die wir uns vorgenommen haben, auszuführen. Während des
Aufenthalts im Moſchusochſental haben wir alle die Hunde ge⸗
tötet, die wir glaubten entbehren zu können; denn ſelbſt, wenn die
Frohe Jugend und verfonnenes Alter.
maaagpniginv daun 218
au. x
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Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord nach dem Nordenſkiöldfjord. 145
Jagd bisher ſehr günſtig geweſen iſt, iſt es immer ein Vorteil,
wenn man in dieſer Gegend möglichſt wenig Münder zu ſättigen
hat, einerſeits, weil die Moſchusochſen in dieſer Zeit ſehr mager
ſind, andrerſeits, weil die Knochen zu maſſiv ſind, als daß die
Hunde ſie benagen können. Dazu kommt, daß allen unſern Hunden
an den Reißzähnen die großen Sägezacken fehlen, weil dieſe,
wie es bei den Eskimos Sitte iſt, entfernt werden, wenn die Hunde
jung ſind. Dies hat für Expeditionsreiſende den unſchätzbaren
Vorteil, daß die Hunde ihr Geſchirr⸗ und Riemenzeug nicht freſſen
können, wenn der Hunger ſie dazu treibt, denn beides iſt un⸗
erſetzlich auf einer Reiſe. Aber dafür büßen ſie auch die Fähigkeit
ein, ſehr harte Knochen zu freſſen.
* *
*
Es herrſchte herrliches Wetter, aber trotzdem gelang es uns
nicht, das Depot in einem Zug zu erreichen. Wir mußten auf der
Hinreiſe mitten im Sherard⸗Osborne⸗Fjord lagern, und erſt am
19. Mai mittags kamen wir an unſerm alten Lager an.
Gerade vor unſerer Ankunft im Depot hatten wir die große
Freude, den erſten Seehund zu ſehen und zu beobachten, wie er
auf das Eis kroch, um ſich zu ſonnen. Leider wurde er nicht erlegt,
obgleich Ajako ihm ſehr nahe kam; der Schuß ging über ſeinen
Kopf weg. Trotz des Mißgeſchicks war es für uns doch ein Er⸗
lebnis von allergrößter Bedeutung; denn wenn die Seehunde
ſchon Mitte Mai anfangen, durch das alte, dicke Polareis herauf⸗
zukriechen, ſo haben wir ſicher gegen Ende Juni eine gute Jagd,
und eine gute Seehundjagd in dieſer Gegend wird unſere Rückreiſe
im höchſten Grad vereinfachen. ;
Zwanzig Stunden Haſenjagd ergeben das dürftige Reſultat,
daß nur einer geſchoſſen wurde. Die Tiere ſind hier ſo ſcheu, daß
ſie flüchten, lange ehe ein Schuß ſie erreichen kann. Eine Strecke vom
Lagerplatz entfernt finden wir am Strand das Skelett eines See⸗
hunds, der von einem Bären gefangen und gefreſſen war. Bären
ſcheinen alſo auch ab und zu einen Beſuch hier oben abzuſtatten,
und es iſt zu hoffen, daß es auch uns einmal glückt, einem ſolchen
Wanderer zu begegnen.
Während Hendrik und der Bootsmann zur Depotinſel
zurückfahren, treffen wir andern die letzten Vorbereitungen zur
Rasmuſſen 10
146 Fünftes Kapitel.
Reiſe in den Sherard-Osborne-Fiord. Zuerſt beobachten wir ihre
Abfahrt. Langſam, ſehr langſam ſchieben ſich die dunklen Ge⸗
ſtalten über das Eis. Der Schnee iſt tief und ſo locker, daß die
Schlitten trotz der Schneeſchuhe einſinken. Die Hunde ſinken bis
zum Bauch ein und ziehen den Schwanz nach. Lange können
wir in dem ſtillen Fjord die verzweifelten Rufe der Lenker hören,
mit denen ſie die Hunde antreiben.
In den Sherard⸗Osborne⸗Fjord.
20.—22. Mai. Das Eis erweiſt ſich fjordeinwärts zu unſerer
großen Freude beſſer als wir erwarteten, und wir können daher die
erſten 20 Kilometer ohne Vortraben in behaglichem Zotteltrab
zurücklegen. Schon 6 Kilometer von Dragon Point ſehen wir
wieder einen Seehund. Leider kommen wir nicht auf Schußweite
heran, da er uns gehört hat, ehe wir ihn geſehen haben, und durch
ſein Atemloch verſchwindet, als wir haltmachen und uns anſchicken,
zu ihm hinzukriechen. i
Wir paſſieren die hohe, ſchöne Caſtle⸗Inſel und gelangen nur
30 Kilometer weit in die St.⸗Andrew⸗Bai hinein, da der Schnee
weiter drin tiefer wird und die Hunde nicht mehr weiter können.
Das Eis iſt hier ſehr uneben und hat den Charakter von ſchwim⸗
mendem Inlandeis. Oſtlich der Caſtle⸗Inſel treffen wir auf ein
paar große Preßeisrücken, die parallel mit dem Gletſcher ſenkrecht
aufs Land gerichtet ſind, ein Zeichen dafür, daß das Eis ſo weit
draußen unter dem Druck des Hauptgletſchers ſteht.
Um 9 Uhr abends gehen Koch und Ajako mit dem Theodoliten
in die Berge, um ein paar Peilungen nach dem St.⸗George⸗
Fiord zu verſuchen. Um 3 Uhr morgens kehren ſie wieder zurück.
Sie haben Ausſicht über das Innere des Fjordes gehabt und ein
großes ſchneefreies Land hinter dem Fjord in Südweſten entdeckt.
Sie haben auch einen ebenen Gletſcher geſehen, der zwiſchen ein
paar großen Bergen in gleichmäßiger und guter Verbindung mit
dem Hauptgletſcher ſteht. Dieſe Beobachtung verſtärkte in mir
noch weiter den Vorſatz, ſpäter den Aufſtieg von dieſer Gegend aus
zu nehmen, wenn die Rückreiſe uns über das Inlandeis führen wird.
Ajako hat zwei Haſen geſchoſſen, die uns eine delikate Abend⸗
mahlzeit geben und es uns ermöglichen, das Moſchusochſenfleiſch
für die Hunde aufzuſparen. Wir haben nämlich nur eine einzige,
Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord nach dem Nordenſkiöldfjord. 147
aber reichliche Futterration mitgenommen und den Reſt für die
Rückreiſe bei Dragon Point deponiert. |
Bom Sperard-Osborne-Fjord bis zum De-Long-Fjord,
Bald nach der Ankunft der Kameraden zeigen ſich zwei ſchnee⸗
weiße Wölfe als Silhouetten hoch oben auf einem Hügelkamm.
10*
148 Fünftes Kapitel.
Ihre ſchlanken Körper zeichnen ſich plaſtiſch gegen den klaren blauen
Himmel ab, und ſie wirken ganz altnordiſch, als ſie ſchnüffelnd und
witternd voller Verwunderung nach unſerm Lager herabtraben.
In der Nähe des Eisfußes, ungefähr 500 Meter von unſerm
Zelt entfernt, bleiben ſie plötzlich ſtehen und folgen ſorgfältig
unterſuchend eine Stunde lang Kochs und Ajakos Spuren, vor⸗
und zurück⸗, hin⸗ und hertrabend und ab und zu ſtehenbleibend und
witternd. Dann erheben ſie die Köpfe und heulen lange und an⸗
haltend einen eigenartigen, melancholiſch und einſam klingenden
Klagegeſang, der in den Bergen widerhallt. Unſere Hunde ſpitzen
die Ohren und ſehen erſtaunt nach dem Land, als hörten ſie be⸗
kannte, aber vergeſſene Töne. Sie erheben ſich und ſtarren neu⸗
gierig nach den Bergen, ſtimmen aber nicht in den Chor ein. Da
die Wölfe wahrſcheinlich nicht näherkommen wollen, geht Ajako
mit der Büchſe und einem Hund, einer kleinen mageren Hündin, die
ſich früher als guter Bärenhund erwieſen hat, ihnen entgegen.
Der eine der Wölfe, offenbar das Männchen, iſt ſehr groß und
kräftig, und ſein Trab iſt raſch und geſchmeidig. Der andere iſt
etwas zarter, aber doch weit kräftiger als ein Hund. Sobald die
kleine weiße Hündin die ſeltenen Raubtiere erblickt, die die gleiche
Farbe haben wie ſie ſelbſt, ſtürzt ſie bellend mit erhobenem
Schwanz angriffsbereit aufs Land los. Und die großen ſchwei⸗
genden Einſiedler, die ſo viel ſtärker und noch im Beſitz ihrer
meſſerſcharfen Zähne ſind, klemmen den Schwanz zwiſchen die
Beine und flüchten vor ihr in die Berge. Sie haben beide Blut
ums Maul und kommen vermutlich eben von einem Feſtſchmaus
von Moſchusochſenfleiſch; ein kleineres Tier würde ſie kaum ſo
blutig gemacht haben. Eine Stunde ſpäter kommt der kleine
Hund zurück, dampfend vor Wärme und ſichtlich enttäuſcht, daß
die Gelegenheit zu einem offenen Kampf ihm entgangen iſt.
* *
*
Es iſt 6 Uhr morgens, als wir nach einem langen und inhalt»
reichen Tag zur Ruhe gehen.
Auf der Reiſe fjordeinwärts iſt die Bahn noch ſchlechter; das
unebene Eis und der Schnee, der tiefer und tiefer wird, je weiter
wir vorwärtskommen, zehren ſo ſtark an den Kräften der Hunde,
daß ich beſchließe, das Fahren aufzugeben und den Verſuch zu
1
> ee ei
Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord nach dem Nordenſkiöldfjord. 149
machen, auf Schneeſchuhen weiterzukommen. Bei einem Landvor⸗
ſprung machen wir daher halt und erſchießen vier der ſchlappſten
Hunde. Dann verfüttern wir das letzte Moſchusochſenfleiſch.
Eigentlich hatten wir gleich aufbrechen wollen, mußten es aber
aufgeben, da Koch durch eine mehrtägige Diarrhöe ſo erſchöpft
war, daß er ruhen mußte; außerdem iſt Ajako ſchneeblind ge⸗
worden. Die Tagesleiſtung betrug nur 10 Kilometer, aber die
Hunde waren auch ungewöhnlich matt und kraftlos. Die einzige
Aufmunterung, die der Tag bot, war eine Lemmingſpur, die
zeigte, daß dieſes ſtarke und ausdauernde kleine Tier ſich auf eine
Wanderung begeben hatte, die es von der einen Küſte des breiten
Fiords zur andern führen ſollte.
23. Mai. Um 1 Uhr nachts begannen Koch und ich auf
Schneereifen und Schneeſchuhen unſere beſchwerliche Wanderung
durch tiefen Schnee auf Kap Buttreß zu, das wie ein mächtiger
Wegweiſer an dem Punkt ſteht, wo der Fjord ſich zum ſchmalen
Kanal verengt, der ſich dann wieder ſtark erweitert. Ajako, der
jetzt völlig ſchneeblind war, mußte im Zelt zurückbleiben. Die
Tour war ſehr anſtrengend und koſtete uns 14 Stunden, aber
wir kehrten mit intereſſanten Ergebniſſen zurück. Der Sherard⸗
Osborne⸗Fiord war auf der Karte als der größte von allen
Fiorden angegeben. Kap Buttreß bezeichnete den halben Weg
bis zu der inneren Erweiterung, die ſich hier verengte, um ſich dann
wieder in ihrer vollen Mündungsbreite ein wenig nach Südweſten
zu wenden in der Richtung nach dem weißen Inlandeis.
Kap Buttreß iſt ein monumentaler, wilder Hochgebirgskomplex,
deſſen rieſige gletſcherbedeckte Gipfel im Licht der Sonne in
glühend roten Farben erſtrahlen.
Wir waren der Küſte an der Weſtſeite ganz nahe am Lande
gefolgt und hatten, ſo oft wir nach Oſten ſchauten, einen niedrigen,
wolkenähnlichen Saum geſehen, der oft den unterſten Teil der
Küſte verdeckte. Mit ſeinen weißen Farben glich er einer ſchmalen
Nebelbank, die zitternd über dem Fuß der Berge lag. Erſt als
wir faſt ganz bei dem großen Kap waren, auf das wir beſtändig
zuſteuerten, kamen wir plötzlich auf die Nebelbank ſelbſt hinauf
und entdeckten jetzt, daß das Rätſelhafte niedriges, ſchwimmendes
Inlandeis war, das ſich bis nach Kap Gray auf der Caſtle-Inſel
erſtreckte. Dieſes ſchwimmende Inlandeis, das ſich weiter
150 Fünftes Kapitel.
draußen nur ein paar Meter über das alte Sikuſſageis erhebt,
ſteigt ganz gleichmäßig fiordeinwärts an und geht an Kap Butt⸗
reb vorbei; es nimmt beſtändig an Dicke zu und hat das Ausſehen
eines wirklichen Gletſchers. Spalten ſind nicht zu ſehen; inſofern
könnte dieſer Eisſtrom, der zwiſchen den beiden ſchönen Hoch⸗
gebirgspartien ausmündet, einen bequemen Aufſtieg nach dem In⸗
landeis darſtellen, wenn man nur nicht riskierte, weiter drinnen
Spalten anzutreffen. Jedenfalls ſprechen Peary wie Aſtrup davon,
daß ſie auf dem großen Gletſcher am Ende des Sherard⸗Osborne⸗
Fiords den Kurs oft weiter landeinwärts nehmen mußten, um
die vielen, breiten, tiefen Spalten, die ihnen den Weg verſperrten,
zu umgehen. . j
Die Entdeckung dieſer langgeſtreckten Gletſcherzunge, die den
Sherard⸗Osborne⸗Fjord auf ein Drittel der ihm früher zuge⸗
ſchriebenen Größe reduziert, gibt uns außerdem die Erklärung für
die Gürtel von Preßeis, die wir vor ein paar Tagen auf der Höhe
von Kap Gray fanden. Dieſer Eisſtrom iſt alſo in gleichmäßiger
beſtändiger Bewegung nach außen und drückt auf das alte Polar⸗
eis, ſo daß Preßeisrücken an Stellen entſtehen, wo man ſonſt
keine Bewegung im Eis vermutet.
Südweſtlich von Kap Buttreß ſchneidet ein Fjord ein mit
einem großen Tiefland, das auf dem weſtlichen Ufer in ein hohes
Kap ausläuft. Schneeſchuhbucht nannten wir dieſen Einſchnitt, der
mit dem darüberliegenden Land in tiefem Schnee begraben war.
Nach Beendigung unſerer Unterſuchungen traten wir den Rück⸗
weg an, und bald zeigte ſich, daß Koch, der ſich ſchon in den
letzten Tagen nicht wohl gefühlt hatte, viel erſchöpfter war, als
ich geglaubt hatte. Ein paarmal mußte er ſich, ehe wir unſer
Zelt erreichten, auf dem Eis niederlegen, um nicht in Ohnmacht zu
fallen, und ſicher gelang es ihm nur mit der alleräußerſten An⸗
ſpannung ſeiner Kräfte, die Tour durchzuführen. Sie war auch für
einen geſunden Mann ſehr ermüdend, da wir uns ununterbrochen
durch tiefen Schnee durcharbeiten mußten, der ſo weich und fein
war, daß weder Schneereifen noch Schneeſchuhe uns trugen.
Während im Innern des Fjords, wo wir uns aufgehalten
hatten, ſchönes, faſt windſtilles Wetter geherrſcht hatte, war
draußen in der Mündung in den letzten Tagen böiges Wetter
mit Schneegeſtöber geweſen. Das Eis war daher teilweiſe weg⸗
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Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord nach dem Nordenſkiöldfjord. 151
geweht, und obgleich die Hunde in den letzten Tagen von ihren
vier getöteten Kameraden leben mußten, hatten wir doch nicht viel
Schwierigkeiten, ſie jetzt, da die Bahn beſſer war, zum Laufen
zu bringen.
Während des letzten Teils der Reiſe erlebten wir ein kleines
Abenteuer, das uns ein ordentliches Stück vorwärts brachte. Wir
entdeckten plötzlich vor uns zwei weiße Geſtalten, die ſich lang⸗
ſam auf uns zu bewegten. Anfangs glaubten wir, es ſeien Bären,
und wir waren ſchon ganz außer uns vor Freude über das Glück,
das uns Hundefutter verſchaffen und unſere eigenen Fleiſchtöpfe
füllen ſollte.
Langſam bewegen ſich die großen weißen Tiere auf uns zu
und von weitem nehmen ſie ſich ganz aus wie Bären, die ſich
witternd einem Feind nähern. Kaum haben die Hunde ſie ent⸗
deckt, als ſie davonraſen; alle Müdigkeit iſt vergeſſen, und die
Raubtierinſtinkte, die jo lange unterdrückt geweſen ſind, erwachen
mit neuer ungeahnter Stärke. Wir fliegen über das Eis hin, wie
wir es ſeit unſerer letzten Bärenjagd nicht erlebt haben. Leider
löſt ſich das Ereignis bald in eine tiefe Enttäuſchung auf; es zeigt
ſich nämlich, daß es zwei Wölfe ſind, die ſich auf das Eis hinaus
verirrt haben. Als wir etwas näher herankamen, flüchteten ſie in
derſelben Richtung, die auch wir einſchlagen müſſen. Und ſo kommt
es, daß wir in voller Karriere den Reſt der Strecke bis zu unſerm
Depot zurücklegen.
Jetzt war die Spannung natürlich groß, da die Spuren zeigten,
daß die Wölfe gerade von dem Depot kamen, wo wir außer
unſern Kleidern auch einige Moſchusochſenſchultern, die unſere
Hunde retten ſollten, zurückgelaſſen hatten. Aber glücklicherweiſe
waren die ungebetenen Gäſte zu feig geweſen, ſich ganz bis an das
Depot zu wagen; es lag ganz unberührt da, obgleich ſie nach
den Spuren zu urteilen vom Fleiſchduft angelockt den ganzen
Tag um das Depot herumgeſchlichen waren.
Bei Dragon Point.
24.—26. Mai. Die Bahn über den Fjord kann kaum ſchlechter
werden, und dabei fängt es wieder an zu ſchneien. Die Spuren,
denen wir nach Kap May haben folgen wollen und die den
152 Fi.ünftes Kapitel,
Hunden die Arbeit erleichtert haben würden, ſind jetzt ganz ver⸗
wiſcht. Die Lage iſt nicht ermutigend. Bei der Ankunft in der
Nacht verfütterten wir das letzte Moſchusochſenfleiſch, und wir
ſelber haben nur ſehr wenig Proviant, um unſer Leben
zu friſten, ſofern wir nicht unſer Depot angreifen wollen,
das uns jedoch vorläufig als Reſerve für die Rückreiſe heilig
ſein muß.
Koch begab ſich ſogleich nach unſerer Ankunft zur Ruhe. Er
hatte den ganzen Tag hohes Fieber gehabt, das ihn noch weiter
entkräftete. Er war ſchwach, fühlte ſich aber nach einem feſten und
guten Schlaf am Abend etwas beſſer. So ſehr wir wünſchen,
von dieſem Ort wegzukommen, der uns keine Lebensmöglichkeiten
bietet, ſo wage ich doch nicht, die Reiſe fortzuſetzen, ſolange Koch
ſo angegriffen iſt. Wir müſſen daher noch mehr Hunde ſchlachten
und ruhig beſſere Zeiten abwarten. Der Schnee ſingt leiſe, aber
ungemütlich auf unſerm Zelttuch. Er fällt in feinen, dichten
Flocken, die mit jeder Stunde die Bahn ſchlechter machen. Aber
die Stimmung, die dieſe Lage erzeugt, in der uns alles der Quere
geht, findet ihren natürlichen Ausdruck in einem kleinen Vers
von Sophus Clauſen:
So iſt das Leben auf und ab,
ſo iſt das Leben her und hin,
wem das Geſchick nichts Beſſres gab,
der trägt ſein Los mit leichtem Sinn.
Auch den nächſten Tag müſſen wir liegenbleiben; es iſt ſchönes
aufklarendes Wetter. Aber trotz wiederholter Streifzüge durch
das Land finden wir kein Wild. Da auch keine Seehunde aufs
Eis herauskriechen, müſſen wir heute drei arme magere Hunde
erſchießen. Mit ſchwerem Herzen habe ich den alten „Miteg“
erſchoſſen, den „Eidervogel“, den älteſten in meinem Geſpann,
ein fleißiges und geduldiges Tier, das zog, bis es ermattet
in den Strängen taumelte. Er war vielleicht der treueſte
meines Geſpannes und darum auch jetzt der verbrauchteſte,
der nun mit ſeinem knochendürren Körper ſeine Kameraden ſät⸗
tigen mußte.
Armer „Eidervogel“!
Ich hätte ihm eine ſichere Rückkehr und ein ſorgenfreies Alter
gewünſcht. Durch das Hallbecken, durch das vernichtende Preßeis
Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord nach dem Nordenjliöldfjord, 153
des Robeſonkanals, über den ſchwierigen grusdurchſetzten Eisfuß
zwiſchen Kap Brevoort und Kap Bryant, und jetzt zuletzt durch
den unergründlichen Schnee des Sherard-Osborne-Fiords hatte
er ſich geduldig und unverdroſſen durchgearbeitet. Er kam nach
Naresland und durfte ſich an leckerem Moſchusochſenfleiſch ſatt
freſſen, aber dann mußte er wieder hinaus in die unwegſame
Gegend, ein ſtummer, ſchweigender und williger Arbeiter im
Dienſte der Forſchung. Immer fleißig, den geſtutzten Schwanz in
die Höhe geſtreckt, zog er ſeinen Schlitten, und gerade jetzt,
da ich im Begriff war, nach unſerm Fleiſchdepot überzuſetzen,
erlag er der Krankheit — ein Opfer zum Vorteil für ſeine
Kameraden.
Schicken wir daher dieſe Worte dem alten Hunde in ſeinen
ſchmerzloſen Tod nach. Eine Wincheſterkugel durchbohrte ſeine
Schläfen. Ich habe ihn eben zerlegt und habe noch, während ich
dies in mein Tagebuch kritzle, den Übelkeit erregenden Geruch
an meinen Fingern.
* *
*
Als ich kurz danach hinausgehe, um zu füttern, ſtellt ſich
indeſſen heraus, daß der alte „Miteg“ als Futter gar nichts be⸗
deutete; es war abſolut kein Fleiſch an ihm. Er beſtand nur aus
Knochen, Haut und Sehnen. Wir mußten daher noch zwei Hunde
ſchlachten, im ganzen fünf, und den Reſt damit füttern, da auch
die übrigen geſchlachteten Tiere ſo gut wie keinen Nahrungsſtoff
enthielten.
Es war eine ekelhafte Schinderarbeit, dieſe Tiere zu ſchlachten
und zu zerlegen, nicht zum wenigſten deshalb, weil es tatſächlich
gute Hunde waren, die noch manche Arbeit hätten leiſten können,
wenn wir nur raſcher beſſere Jagdgebiete erreicht hätten.
Am 26. abends hat ſich Kochs Zuſtand ſo weit gebeſſert,
daß wir es wagen, den Fjord zu überſchreiten. Wir machen daher
alles zum Aufbruch bereit und legen einen neuen Bericht in Beau⸗
monts Steinmal nieder.
Koch darf ſeinen eigenen Schlitten nicht fahren; denn ich
fürchte, daß ihm die Kräfte dazu noch fehlten. Es iſt eine harte,
beſchwerliche Arbeit, die Hunde anzutreiben, und das kannibaliſche
Futter, das wir ihnen bieten, bekommt ihnen ſo ſchlecht, daß ſie oft
154 Fünftes Kapitel.
brechen. Ajako und ich verteilen darum den Reſt von Kochs Ge⸗
ſpann zwiſchen uns.
Die Hunde ſind ſo ſchlapp, daß wir kaum hoffen dürfen, auf
den Schlitten ſitzen zu können; darum machte ſich Koch ein paar
Stunden vor uns auf den Weg, um einen kleinen Vorſprung zu
bekommen. Als dann Ajako und ich mit unſern melancholiſchen
Hunden aufbrachen, verließen wir mit einer gewiſſen Erleichterung
dieſes Vorgebirge, das jetzt von abgenagten Hundeknochen ſtinkt.
Weißes Pfingſten.
27. Mai. Langſam, recht langſam kämpften wir uns zwei Kilo⸗
meter in der Stunde vorwärts. Die Hunde laſſen die Schwänze
hängen und ſind bereit, ſich hinzulegen, ſowie eine kleine Preſſung
den Schlitten ein wenig aufhält.
Die erſten vier Stunden ſchlichen wir wie die Schnecken in
einem feuchten Nebel dahin, auf allen Seiten von einer weiß⸗
grauen Wand umgeben. Nichts iſt zu ſehen, nichts, wonach wir ſteuern
können; wie Blinde tappen wir vorwärts in dem weißen Schlund,
und die Einförmigkeit macht das Vorwärtskommen noch betrüb-
licher.
Aber auf einmal erſcheint die Sonne als eine große mee
Kugel im Nebel. Im Zenit taucht der Himmel auf wie blaue
Blumen, die ſich entfalten, und bricht durch die Wolken. Und nun
verfolgt die Sonne ihren Sieg, die Wolkenränder erglühen, und
bald erzittert die dichte Nebeldecke in den Strahlen des großen
Erwärmers.
Jetzt fangen auch die weißen Gipfel auf dem Kap⸗May⸗ RN
vor uns an durchzubrechen, zuerſt der kegelförmige Fuſijama: der
Mount Hooker, und dann die andern Berge Beaumonts, der
Mount Coppinger und der Farragut, noch mit dem Fuß im Nebel
watend. Bald leuchtet das Eis in ganz durchſichtigen Silber⸗
bändern, die gleich ſchmalen Rauchſtreifen über dem Lande liegen
und gutes Wetter verheißen.
So trat im Sherard⸗-Osborne⸗Fjord das prächtigſte Pfingſt⸗
wetter mit klarem Himmel und ruhiger Wärme ein.
Um 5 Uhr mußten wir haltmachen, da die Hunde nicht mehr
konnten. Wir ſchlugen das Lager auf, heißten die Flagge und
Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord nach dem Nordenſtiöldfjord. 155
hielten Feiertag, ein feſtliches Pfingſten mit der feierlichen
Stimmung, die die Berge und der weiße Schnee über uns
ausbreitete.
Es ſind 10 Grad Kälte, aber ſie kommen uns vor wie einer
der heißeſten Auguſttage in Dänemark, und mit der Wärme in
unſern Herzen, die all die mächtige Schönheit in uns hervorruft,
feiern wir Pfingſten nach unſern beſcheidenen Mitteln.
Wir kochen Tee, den wir zu Drops trinken, und mit dem Ge⸗
ſchmack von Johannisbeeren und Kirſchen im Munde denken wir
unwillkürlich an die weit entfernte Heimat, an die Pfarrhöfe in
Seeland, die in dieſem Augenblick wie Inſeln zwiſchen dem Grün
der Bäume und den blühenden Obſtbäumen liegen. Wir riechen den
Duft der Blumen, wir hören den Geſang der Lerchen und Nachti⸗
gallen, das behagliche Brüllen der Kühe auf dem Felde und das
Lachen pfingſtfroher Menſchen in ſchattigen Buchenwäldern. Wir,
die einſamen Forſchungswanderer, weltenfern von Angehörigen und
Freunden, in einem Meer von Licht, das die Augen blendet,
mitten in dem winterweißen arktiſchen Frühjahr, friſch gefallenen
Schnee vor unſern Füßen, hinter uns den ſonnenvergoldeten Hori⸗
zont der Gletſcher über den braunroten Bergen und das kalte,
erſtarrte Meer des Nordpols vor unſern Augen.
Aber wir feiern den Tag, und voll Sehnſucht nach dem
fruchtbaren Süden, der ſo oft hier oben auf dem Scheitel der
Erde unſern Gedanken Nahrung gegeben hat, eſſen wir, materiell
geſinnt wie immer, eine Doſe Mauna Loa, die einzige, die wir
haben, eingekocht auf Hawai und exportiert aus Honolulu, und
während wir die dunkeläugigen, blumengeſchmückten Mädchen, die
die Früchte gepflückt haben, vor uns ſehen, iſt es uns, als ließen
wir alle Grenzen hinter uns und eroberten die Welt!
Hawai und das Polarmeer auf 82 Grad nördlicher Breite!
Und dann kochen wir Moſchusochſenfleiſch aus Naresland,
trinken nachdem Tee vom Kongo, Kaffee aus Java und rauchen
Tabak aus Braſilien. Ein feſtliches Pfingſten!
Nach Kap Wohlgemuth.
Trotz aller Energie gelingt es uns nicht, die 55 Kilometer von
Dragon Point bis zur Depotinſel in zwei Tagen zurückzulegen. Wir
müſſen langſam reiſen und beſtändig auf den kranken Koch
156 Fi.ünftes Kapitel.
Rückſicht nehmen, der noch ſo angegriffen iſt, daß er keine langen
Strecken hintereinander zurücklegen kann. Er ſcheint die reine
Fleiſchkoſt nicht zu vertragen, auf die wir hier angewieſen ſind.
Auf dem Marſch kann ihn Müdigkeit und plötzlicher Schwindel über⸗
fallen, ſo daß er ſich legen muß, um nicht zu ſtürzen. Glücklicher⸗
weiſe nimmt er ſeine Krankheit nicht tragiſch und leiſtet dank
ſeiner jungen kräftigen Konſtitution ſo zähen Widerſtand, daß
wir nicht nennenswert aufgehalten werden. Er ſchlägt jedes An⸗
gebot, beim Mac⸗Millan⸗Tal haltzumachen, ab, und da er ſelbſt
meint, Kraft genug zur Fortſetzung der Reiſe zu haben, behelfen
wir uns mit möglichſt kurzen Raſten, da die Jagdverhältniſſe uns
zwingen, ſo raſch es geht weiterzureiſen.
Man muß ſagen, daß die Jagd hier glänzend geweſen iſt.
Aber wir dürfen uns durchaus nicht von dem guten Reſultat
irreführen laſſen. Denn wenn man es recht betrachtet, iſt das
eisfreie Umland nur klein, und die nächſte Umgebung kann daher
nur eine ſehr begrenzte Zahl Großwild enthalten, ſo daß wir uns
davor hüten müſſen, das Terrain vollſtändig auszujagen. Aller
Wahrſcheinlichkeit nach werden wir einmal hierher zurückkehren,
und da könnte es uns teuer zu ſtehen kommen, wenn wir jetzt auf
der Reiſe in den Tag hineinlebten, ohne an die Zukunft zu denken.
Gleich hinter Kap May ſahen wir ſechs Haſen, von denen wir
zwei erlegten. Eine ſtarke Taſſe Tee wurde bereitet, um uns
Kraft zu ſchaffen für das letzte Stück Weg nach der kleinen Inſel,
wo wir zwei Fütterungen Moſchusochſenfleiſch für jedes Geſpann
deponiert hatten. Haſen ſcheint es hier eine Menge zu geben.
Aber wir dürfen auf dieſes Wild nicht zu ſtark rechnen. Das Tier
iſt zu klein und außerdem zu knochig und zu wenig ausgiebig, um
ſich als Reiſeproviant für eine Inlandreiſe zu eignen. |
* *
*
Die Hunde wittern auf weite Entfernung unſer Fleiſchdepot,
und wir beſchließen, unſere Reiſe mit einem feſtlichen Galopp, der
anregend wirkt, ſelbſt wenn man weiß, daß die Veranlaſſung dazu
künſtlich iſt. Einen Augenblick erfaßt uns eine begreifliche Nervo⸗
ſität, als wir entdecken, daß Fuchsſpuren zum Depot führen.
Glücklicherweiſe iſt Reineke jedoch zu vorſichtig geweſen oder nicht
hungrig genug, um ſich dem Fleiſch zu nähern, und wir fanden es
Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord nach dem Nordenſkiöldfjord. 157
ganz unberührt. Die Reiſe kann daher mit einer wirklich ſoliden
Fütterung ſchließen, die ebenſo wohlverdient wie notwendig iſt.
Bei unſerm alten Zeltplatz finden wir einen Haſen, der am
Ende einer in den Schnee geſteckten Stange baumelt. Wir laufen
hin und unterſuchen neugierig, ob ſich etwa noch andere Herrlich⸗
keiten in einer Blechbüchſe verbergen, die an der gleichen Stelle
angebracht iſt, und wir finden hier folgenden langen Brief von
Dr. Wulff, der launig die Erlebniſſe in der Zeit unſerer Trennung
ſchildert:
1. Lager bei der Inſel nördlich vom Mac⸗Millan⸗Tal, 18. Mai 1917.
2 Bruder!
Deine Abteilung ſtartete 8,30 Uhr vorm. Ich ging 7 Stunden auf die
Jagd ohne Reſultat. Kam wieder und fand im Innern des Zeltes ein Chaos
und ein Durcheinander von Haſenwolle und Fleiſchfetzen. Der zurückgelaſſene
Satanshund hatte den Zugriemen durchgebiſſen und ſich an zwei von meinen
ſchönen Haſen gütlich getan. Selbſtverſtändlich Prügel, aber in meinem Herzen
muß ich die Unternehmungsluſt des Hundes bewundern.
Da ich um 8 Uhr abends eine Temperatur von 16,2 Grad unter Null
notierte, kochte ich Hafergrütze und kroch in den Schlafſack, den Windſchutz des
Zeltes und das herrliche Klima des Schlafſackes ſegnend. Wollte eben allen
Sorgen der Welt entrückt einſchlafen, da ritſch, ratſch zerreißt das Zelt kreuz
und quer, und ich liege zwiſchen lauter flatternden Fetzen wie in einem hava⸗
rierten Zeppelin, von Gott und allen guten Geiſtern verlaſſen an dem öden
Strand der Lincolnſee. Es war Harrigan, der wiederkam und in wilder
Karriere das Zelt über den Haufen fuhr. Es koſtete ihn eine gute Stunde
Flickens in der Kälte, bis das Zelt wieder Form bekommen hatte. Eine Taſſe
Kaffee beſchloß das Abenteuer, und dann kochten wir das, was der Hund von
dem letzten Haſen übriggelaſſen hatte.
19. Mai. Stilles, ſonniges Wetter. Ich 8 Stunden 15 der Jagd im Tal,
zwei Haſen, Schneehühner, intereſſante pflanzenbiologiſche Temperaturreihen.
Harrigan blieb den ganzen Tag im Zelt. Gegen Abend ziemlich ſtarker Süd⸗
oſtwind mit Schneetreiben und 17 Grad Kälte.
20. Mai. Das Tal im Südweſten von Kap Wohlgemuth ſcheint, bei klarem
Wetter im Zeiß⸗Feldſtecher geſehen, von der Bergſeite her ganz mit Gletſchern er⸗
füllt zu ſein. — Die Bahn jetzt nach dem Sturm ſehr viel beſſer. Harrigan
reiſte heute um 1 Uhr nachm. in den Nares⸗Inlet, um Moſchusochſenfleiſch zu holen.
21. Mai. Petroleum und Zucker zu Ende. Benutze das trockene Wetter,
um Kamiker und Schlafſack zu trocknen. Der letztere verliert die Haare ſtark. —
Harrigan kam um 6 Uhr nachm. mit einem Schlitten voller Fleiſch zurück. Hatte
im Fernrohr drei weitere Moſchusochſen geſehen, die wir wahrſcheinlich expedieren
werden, wenn der Reſt des Fleiſches geholt wird.
Ich ging um 10 Uhr nachm. auf die Jagd in das Tal. Kehrte zum Zelt zurück.
22. Mai. 7,30 Uhr vorm. 7 Haſen und 5 Schneehühner. Zu meiner
158 Fünftes Kapitel.
Verwunderung find Hendrik und der Bootsmann noch nicht zurück. Von den 7 Hafen
erlegte ich 4 Stück auf einmal: Pang, pang, 2 auf jeden Schuß. Ich habe
ſogleich die Körpertemperatur von allen Haſen und Schneehühnern gemeſſen und
intereſſante Reſultate erhalten. ;
Ich ging um 11 Uhr abends am 22. Mai mit Harrigan auf die Jagd.
Schlechtes Reſultat. Er nichts, ich 2 Schneehühner. Kamen am 23. Mai
3 Uhr vorm. wieder zum Lager. Hendrik und der Bootsmann jetzt den 6. Tag
abweſend, fängt an unheimlich zu werden. Wie machen ſie es mit dem Hunde⸗
futter? Harrigan beunruhigt ſich ganz und gar nicht, ſondern ſagt nur, ſie
kommen „by and by“, und damit tröſten wir uns und fluchen über unſere un⸗
brauchbaren Primuſſe. i
Hendrik und der Bootsmann kamen um 10 Uhr vorm. an. Hatten vier
Tage zum Rückweg vom Depot gebraucht und jeder einen Hund verloren. Sie
hatten einen Teil des Gepäcks ein Stück im Weſten draußen gelaſſen, das
Harrigan jetzt holen ſoll.
24. Mai. Geſtern den ganzen Tag Schneefall und Sieſta im Zelt. Heute
ſchöner Sonnenſchein. Gegen Abend wieder Schneefall. Harrigan hat ſich auf⸗
gemacht, um das Gepäck zu holen, das Hendrik und der Bootsmann öſtlich von
Kap May zurückgelaſſen hatten. Der Bootsmann begleitet ihn, um zu jagen.
25. Mai. Sie kamen um 7 Uhr vorm. mit 5 Haſen wieder. Die ganze
Nacht hat es geſchneit. 10 Grad Kälte. Leichter Schneefall den ganzen Tag.
Jetzt um 5 Uhr nachm. teilt mir Hendrik mit, daß wir abends nach Kap Wohl⸗
gemuth aufbrechen ſollen. Bei Kochs altem Lagerplatz liegen nur noch zwei
Fleiſchſtücke leine Hunderation), die es ſich nicht lohnt zu holen, und die drei
Moſchusochſen, die Harrigan von dort aus mit dem Feldſtecher geſehen hatte,
befinden ſich ſo weit im Fjord drin, daß wir ſie in Frieden laſſen wollen. Wir
ſetzen alſo die Jagd auf der andern Seite des Fjords fort, und ich lege einen
Brief an Dich an der Landſpitze bei Kap Wohlgemuth nieder. Harrigans Hunde
ſind in gutem Zuſtand, aber die andern ſind ſehr mager. Ich laſſe Euch 4 Haſen
zurück. 5
Cheer up, boys, und kommt bald nach.
Wulff.
Bruder!
26. Mai. Wir hatten die Schlitten gepackt und waren 10 Uhr nachm.
reiſefertig, als ſtarker Nebel uns einhüllte und die Reiſe unmöglich machte.
Der Nebel war den ganzen Tag ſo dicht, daß wir kaum die Hunde ſehen konnten.
Von den vier Haſen, die ich für Euch bereitgelegt hatte, haben wir drei heute
als Hundefutter verwenden müſſen. Auch der Bootsmann hat mit einigen Haſen
gefüttert und Harrigan mit dem letzten Moſchusochſenfleiſch.
27. Mai. Der Pfingſttag beginnt mit demſelben Nebel und 15,5 Grad unter
Null. Unter dieſen Umſtänden können wir nicht mehr daran denken, mit allem
Gepäck weiter als nach Kap Wohlgemuth zu kommen, um uns dort ſofort wieder
auf die Jagd zu begeben. Wie weit Ihr unter dieſen Umſtänden nachkommen
wollt, oder das Sichere dem Unſichern vorziehen und das Hundefutter (die zwei
Fleiſchſtücke), die bei Kochs Lager im Nares⸗Inlet liegen, verwenden und die
*
EN
Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord nach dem Nordenffidldfjord. 159
drei Moſchusochſen ſuchen wollt, die Harrigan weiter im Innern des Fjords
geſehen hat, mußt Du ſelbſt entſcheiden. Die Bahn nach Kochs Lager iſt nicht
die beſte.
Es iſt mir unter anderem gelungen, ein ſehr hübſches Pflanzenverzeichnis
von der Mündung des Mac⸗Millan⸗Tals aufzuſtellen und die Vegetations⸗
verhältniſſe dort zu beſchreiben. Aber wo iſt der Frühling und der Sommer?
Bereit zum Aufbruch 2 Uhr morgens. Hei! Wulff.
Schon am folgenden Tag, am 29. Mai, gelangen wir nach
Kap Wohlgemuth durch denſelben ſchweren Schnee, den wir bisher
in den Fjorden angetroffen haben. Es ſcheinen hier viel Nieder-
ſchläge zu herrſchen, aber nur ſelten Wind. Die Spuren unſerer
Kameraden ſind für uns eine große Hilfe, aber trotzdem brauchen
wir elf Stunden, um die 29 Kilometer zurückzulegen. Hier bei Kap
Wohlgemuth feiern wir den humorvollen Namen, indem wir
unſern Hunden das letzte Fleiſch geben, das wir beſitzen. Auf
einem kleinen Schneeſchuhausflug finden wir an einem Schnee⸗
ſchuhſtock einen neuen Brief von Wulff.
2. 27. Mai (Pfingſtſonntag), Kap Wohlgemuth.
Hei, Chef!
Starteten vom alten Lager auf der kleinen Inſel heute morgen 2,30 Uhr
vorm. bei ſtrahlendem Sonnenſchein. ½—3 Fuß lockerer, hinderlicher Schnee.
Ich ging den ganzen Tag auf Schneereifen voraus, und wir erreichten Kap
Wohlgemuth 2,30 Uhr nachm., nach genau 12 Stunden, alſo müde. Es ſah
äußerſt kritiſch für uns aus. Der Bootsmann und Hendrik mußten jeder einen
Hund, der nicht mehr konnte, auf dem Eiſe zurücklaſſen. Ob ſie ſterben oder
ſich wieder zum Lager finden, iſt ungewiß. Wir haben keine Spur von Hunde-
futter mehr. Die Hunde ſind faſt am Ende und mager wie lebende Skelette.
500 Meter vom Strand bei Kap Wohlgemuth entfernt, entdecke ich in etwa
2 Kilometer Abſtand ganz oben auf dem Berg ſüdlich des Kaps einen einſamen
Moſchusochſen. Du kannſt Dir denken, wie das unſere Gemüter belebte. Raſch
zum Strand, Zelt aufgeſchlagen und Tee und Haſenfleiſch gekocht. Nach zwölf⸗
ſtündiger Schneepromenade war ich müde und blieb im Zelt. Die drei andern
ſtiegen hinauf und erlegten den Moſchusochſen, eine Kuh, die der Bootsmann
ſchoß. Es war ſein erſter Moſchusochſe. Hundefütterung. Harrigan lud uns
zum Kaffee ein, den er von Thule mitgenommen hatte. Die beiden zurück⸗
gebliebenen Hunde kommen im Lager an.
28. Mai (zweiter Pfingſtfeiertag). 2 Uhr nachm.
Trotz Wind und Schneegeſtöber verlegen wir das Lager ein Stück nach
Oſten um das Kap herum, um in einem Tal, das gleich öſtlich von dem Vor⸗
gebirge zu liegen ſcheint, auf die Jagd zu gehen.
Wulff.
160 Fünftes Kapitel.
Am nächſten Tag um die Mittagsſtunde treffen wir bei den
Kameraden ein, die uns mit ſtürmiſchen Willkommenxrufen be⸗
grüßen. Sie haben wieder ſechs Moſchusochſen erlegt, die uns wie
eine Gabe des Himmels für unſere hungrigen Hunde erſcheinen.
Harrigan hat geſtern einen Jagdausflug in das Innere des
Nordenſkiöldfjords unternommen, iſt aber raſch umgekehrt, da
er ſich darüber klar war, daß das Land kein gutes Jagdgebiet
ſein konnte. Überall ſah er hohe, ſenkrechte Felswände; die
wenigen Schluchten, die quer zu den großen kompakten Bergketten
verliefen, waren Steinwüſten ohne Vegetation. Er iſt nicht weit
ins Innere gedrungen und wir, die wir uns ſo lange wie möglich
an die auf den alten Karten verzeichneten Ländergebiete klammern
müſſen, hoffen, daß der Fjord ſo tief ſein möchte, daß wir in
ſeinem Innern Land mit Wild finden.
Eins mußte jedoch gleich entſchieden werden. Nach dem ur⸗
ſprünglichen Plan ſollte ein feſtes Hauptlager am Ende des
Nordenſkiöldfjords errichtet werden, und hier ſollte der Botaniker
der Expedition in aller Ruhe ſeine Beobachtungen machen, wäh⸗
rend wir andern herumſtreiften. Mit Wulff ſollten Hendrik Olſen,
Harrigan und der Bootsmann zurückbleiben und durch die Jagd
Vorräte für unſere Rückreiſe beſchaffen. Koch, Ajako und
ich dagegen wollten nach dem Wildland und dem Nyeboe⸗
gletſcher hinüber, den Independencefjord überſchreiten, nördlich um
Pearyland herumgehen und dem Steinmal von Mylius Erichſen
bei Kap Glacier, dem von Koch bei Kap Bridgman und Pearys
Steinmal bei Kap Morris Jeſup einen Beſuch abſtatten. Nach
reichlich anderthalb Monaten ſollte die Expedition ſich wieder an
der Mündung des Nordenſkiöldfjords verſammeln und gemeinſam
die Rückreiſe antreten.
Aber nach Inukitſoqs Schlittenreiſe in den Fjord muß der Plan
mit der botaniſchen Station aufgegeben werden, und wir be⸗
ſchließen, die Expedition in zwei Abteilungen mit folgenden Auf⸗
gaben zu teilen:
Eine Jagdabteilung ſoll ſogleich nach Norden nach dem De⸗
Long⸗Fiord geſandt werden, um in der Gegend nördlich von dort
bis Kap Morris Jeſup Jagd auf Moſchusochſen zu treiben. Dieſer
Abteilung ſchließt ſich Dr. Wulff an, um ſoviel wie möglich von
der Küſte zu Geſicht zu bekommen.
"Buvyua quuyungdinglogp un
11
— en
* 7
*
Rasmuſſen.
In glattem Trab vorwärts.
Bom Sherard-Osborne-Fjord nach dem Nordenſkiöldfjord. 161
Dagegen wollen Koch, Ajako und ich uns ans Ende des
Nordenſkiöldfjords begeben, eine Kartenaufnahme von ihm
machen und dann über das Inlandeis die Jagdgebiete bei dem
Mohntal aufſuchen; von dort wollen wir durch den Independence⸗
fjord im Norden um Pearyland herumgehen.
Alle dieſe Pläne wurden in der beſten Laune erörtert, wäh⸗
rend die Kameraden uns, den Neuangekommenen, mit allen mög⸗
lichen Delikateſſen von den friſch erlegten Tieren aufwarteten.
Der Geſprächsſtoff war nach der Trennung der letzten zwölf Tage
unerſchöpflich, und da wir ſchon am nächſten Morgen wieder jeder
nach ſeiner eigenen Richtung aufbrechen ſollten, lag über dieſem
Zuſammenſein eine Herzlichkeit, die mir unvergeßlich ſein wird.
In den Nordenſkiöldfiord. — Müde Hunde, keine Jagd.
Die Lage war ernſt, ſofern die Jagd hier verſagen ſollte.
Aber noch war es Zeit, die Flinte ins Korn zu werfen und die
Rückkehr anzutreten. Denn ſelbſt wenn eine Möglichkeit beſtand,
daß die Seehundjagd uns ſpäter Fleiſch verſchaffen könnte, ſo
waren dieſe Ausſichten mitten in dem alten Polareis ſo unſicher,
daß man nicht unbedingt mit einem glücklichen Ausfall rechnen
konnte. Sollten wir uns aber jetzt ſchon rückwärts retten, ſo müßte
es bei halbverrichteter Arbeit geſchehen, und das wollte keiner
von uns. — Bei der Abreiſe war uns allen klar geweſen, was
uns bevorſtand, und die Lage war jetzt bereits ſo, daß unſer
Leben der Einſatz geworden war für die Aufgaben, die wir löſen
wollten. Aber zu meiner großen Freude war nicht ein einziger
unter den Kameraden, weder unter den Männern der Wiſſen⸗
ſchaft noch unter den Eskimos, der einen Augenblick im Zweifel
war, was wir zu tun hatten. Alle waren wir einig, die Expedition
trotz allem fortzuſetzen, und nicht einer wollte nachlaſſen, ehe wir
die Verſprechen eingelöſt hatten, die wir ſeinerzeit gegeben hatten,
als wir Dänemark verließen.
* *
*
Durch ein Meter tiefen, weichen Schnee fuhren wir langſam
in den Fjord hinein, während unſere Kameraden den Kurs nach
Kap Salor nahmen, wo ſie ein Depot aus Pearys Zeit zu finden
hofften.
Rasmuſſen. | 11
162 Fünftes Kapitel.
Es gelang uns nicht, weiter als 17 Kilometer in den Fjord
5 Ander: Hier ſchlugen wir früh am Morgen unſer Lager vor
einer breiten Schlucht auf, die ſich
ins Land hineinzog, und Ajako be⸗
gab ſich auf die Suche nach Moſchus⸗
ochſen. Acht Stunden trabte er durch
49 das Land; aber alles, was er fab,
waren Steine und Gletſcher auf allen
Berggipfeln. Keine Spur von Mo⸗
en ſchusochſen oder Hajen war zu jehen,
Lemming, an einer und auch Schneehühner ſchienen in dieſer
Polarweide knappernd. Wüſte nicht zu leben.
Nachdem er uns dieſe entmutigende Botſchaft gebracht hatte,
legte ſich der Nebel dicht über Berge und Eis, und wir konnten
nichts anderes tun, als zu warten, zu warten mit ſehr knappen.
Rationen für uns ſelbſt und ohne Futter für die Hunde. — Auf
dem Eis in der Nähe des Zeltes fand ich einen toten Lemming.
Er war ganz allein durch den tiefen Schnee von der andern Seite
des Fjords hergekommen. Das energiſche, hartnäckige kleine Tier
ſchien durch den Nebel gewandert zu ſein; es war bisweilen im.
Kreiſe herumgegangen und hatte ſich in unregelmäßigen Zickzack⸗
linien bewegt; es hatte ſich augenſcheinlich verirrt. Es war beinahe
unfaßlich, wie dieſes kleine Nagetier, das nicht viel größer iſt als
ein ausgewachſener Schneeſperling, es fertiggebracht hatte, ſich
durch den tiefen Schnee zu arbeiten, deſſen oberſte Schicht ſo weich
war, daß das Tier mit ſeinem kleinen ſehnigen Körper eine tiefe
und ſicher außerordentlich anſtrengende Furche hat preſſen müſſen.
All ſeine Pfoten waren abgeſchunden und ſo zerriſſen, daß die
Zehen mit dem geronne⸗
nen Blute zuſammengefroren
waren. Sicher hat ſich der
Schnee ebenſo, wie es bei
unſern Hunden geſchieht, an
Zu, den Haaren zzwiſchen feinen
E Ditlevſen Zehen feſtgeſetzt, und das
Lemming. Tierchen hat ſo energiſch ver⸗
ſucht, die Zehen mit den Zähnen zu reinigen, daß Haut und
Haare dabei abgegangen ſind. An dem einen Fuß befindet ſich
— Hunden, id mit ſie⸗
Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord nach dem Nordenſkiöldfjord. 163
eine tiefe Wunde, die es ſich nur ſelbſt zugefügt haben kann, und
der Blutverluſt, den es dabei erlitten hat, iſt ſicher ſchuld an
ſeinem Tod geweſen.
Die Eskimos, die die ungewöhnlichen Eigenſchaften des Lem⸗
mings, ſeinen Mut, ſeine Ausdauer und Hartnäckigkeit bewundern,
ſagen von ihm, er habe die Bruſt eines Menſchen, den Bart eines
Seehundes, die Füße eines Bären und die Zähne und den
Schwanz eines Haſen — eine Beſchreibung, die ſein Außeres
treffend charakteriſiert.
* *
*
Am 2. Juni mußten wir wieder vier Hunde ſchlachten, da wir
noch immer kein Futter haben beſchaffen können. Ajako und Koch
fahren jetzt mit zehn
ben; obgleich dies
noch eine ſchöne Zahl
iſt, dürfen wir doch
zunächſt nicht mehr
von ihnen töten; denn
wollen wir mit unſerm
Hundefutter und mit E. Ditlevſen
unſern Sammlungen Polarfuchs mit einem erbeuteten Lemming.
auf der Heimreiſe
fahren und nicht laufen, ſo möchten wir vier Schlitten mit je ſieben
Hunden als Geſpanne haben.
Die ſechs Moſchusochſen, die an der Mündung des Fjords
erlegt worden waren, reichten für unſere 44 Hunde nur für drei
Fütterungen für jedes Geſpann. Wir haben es daher vorgezogen,
zwei Fütterungen an dem alten Lagerplatz zurückzulaſſen, um nicht
ganz mittellos dazuſtehen, wenn wir ſpäter zurückkehren, um Chip⸗
Inlet zu überſchreiten.
Trotz des ungünſtigen, unſichtigen Wetters, das wir gehabt
haben, iſt es uns doch gelungen, den Nordenſkiöldfjord zu unter⸗
ſuchen, da ein friiher Wind ab und zu die Wolken beiſeite⸗
geſchoben und uns die notwendige Ausſicht gewährt hat. Die
Natur entſpricht hier ganz und gar dem Bild, das wir vom Vik⸗
toriafjord kennen. Das ganze Umland iſt bis auf einen ganz
11*
164 Fünftes Kapitel.
ſchmalen und nackten Küſtenſaum mit Gletſchern bedeckt, und der
Fjord, der in dem breiten Inlandeis endet, hinter welchem Nuna⸗
take auftauchen, iſt kaum mehr als 20 Kilometer lang. Die Aus⸗
dehnung iſt in gewiſſem Grade davon abhängig, wo man das
eigentliche Meereis aufhören und das ſchwimmende Inlandeis
anfangen laſſen will. Etwa fünf bis ſechs Kilometer fjordwärts
von unſerm Lager ſchiebt ſich eine große Eisbergbank querüber,
ſo daß die Paſſage vollkommen verſperrt iſt. Da dieſe Eisberge
in einer Höhe von 3 bis 6 Meter bis dicht an den Haupt⸗
gletſcher herangehen, mit tiefem Schnee in allen Spalten, und
augenſcheinlich von dieſem bewegt werden, ganz wie das ſchwim⸗
mende Inlandeis im Viktoriafjord, ſo kann man behaupten, daß
der eigentliche Fjord hier endet. Dieſe Eisberge machen ein.
weiteres Vorwärtsdringen unmöglich. Es gibt alſo von hier
keinen Aufſtieg zum Inlandeis, und es iſt ſelbſtverſtändlich,
daß wir jeden Gedanken, nach dem Independencefjord durchzu⸗
dringen, aufgeben müſſen. Es gibt weder einen Weg noch 9
wir Proviant dafür.
Sobald Chip⸗Inlet unterſucht iſt, müſſen wir fo raſch wie mög⸗
lich den Kameraden nacheilen und uns ſpäter, wenn der De-Long-
Fiord aufgenommen iſt, nach Süden zu den Seehunden bei
Dragon Point begeben.
Unſere geographiſchen Entdeckungen ſind bis jetzt außer⸗
ordentlich intereſſant geweſen. Schon jetzt wird es notwendig ſein,
das Verhältnis zwiſchen Inlandeis und Küſtenland in dem Teil
von Grönland, den wir bereiſt haben, in ganz anderer Weiſe an⸗
zugeben. Wir finden alles in weit größerem Umfang als erwartet
vereiſt. Aber wenn es auch ſelbſtverſtändlich die Aufgabe jeder
Expedition iſt, ſoviel Neues wie möglich nach Hauſe zu bringen,
ſo iſt doch nicht zu leugnen, daß wir um unſerer eigenen Sicherheit
willen gewünſcht hätten, weniger Korrekturen anbringen zu
müſſen in all dem ſchönen ausgedehnten Jagdgebiet, das bisher
auf allen amerikaniſchen Karten verzeichnet geweſen iſt.
sk *
*
Wieder ſehen wir heute einen Lemming, der eine Fjord⸗
wanderung verſucht. Er kommt aus der Schlucht neben unſerm
Lager und nimmt unverzagt den Kurs querüber, dort wo der
Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord nach dem Nordenſkiöldfjord. 165
Fjord am breiteſten iſt. Im Verhältnis zu feiner Größe ſchießt
er mit ſchwindelnder Eile vorwärts und ſchwimmt in ſeltſamen
Sprüngen durch den Schnee. Oft verſchwindet er ganz in einem
Tunnel, um weiter vorn aufzutauchen, wie ein Seehund, der Atem
ſchöpft. — In ſeiner Winzigkeit wirkt er in den gewaltigen Um⸗
gebungen, die ihn verſchlingen, mit ſeiner fabelhaften Energie ver⸗
blüffend. Einer unſerer Hunde wittert ihn und fährt mit ſolchem
Ungeſtüm auf ihn los, daß die Stränge zerreißen. Im ſelben
Augenblick ſteigt eine Schneewolke von der Spur des kleinen
Wanderers auf, noch ein paar Sekunden kämpft ſich der Lemming
auf ſeinem Weg vorwärts, dann fühlt er ſich plötzlich hoch in die
Luft gehoben und verſchwindet noch lebend im Rachen des Hundes.
E. Ditlevſen
Lemming, Futter eintragend.
Sechſtes Kapitel.
Das Lager am Eulenneſt.
Die erſte Wanderung in Pearyland.
4. Juni. Wir hatten keine Wahl. Wir mußten den Norden⸗
ſkiöldfjord jo raſch wie möglich verlaſſen. Eine Jagdtour in das
Gebiet, wo Hendrik und der Bootsmann ihre Moſchusochſen ge⸗
ſchoſſen hatten, ergab ebenfalls kein Reſultat. Wir lernten nur
eine Steinwüſte kennen, die kein Fleiſch für den Kochtopf verhieß,
und gleich hinter den Küſtenbergen lag das Inlandeis. Da das
Wetter ſich aufzuklären ſchien, entſchloß ich mich, Chip⸗Inlet zu
beſuchen; der Fjord ſollte kartographiſch aufgenommen werden;
dies geſchah am beſten auf der Ausreiſe. Das Land ſah von fern
gut aus; die Berge hatten ſanfte Abhänge, und viele talähnlide
Schluchten ſchienen das Land zu durchſchneiden. Mit wenig Hoff⸗
nung im Herzen machten wir uns auf den Weg. Der Nebel hielt
ſich hartnäckig während der ganzen Tagereiſe, bis wir ganz nahe
am Land waren. Da begann der Himmel ſich langſam aufzuklären
und durch die Wolken zu brechen, mit reichen Verheißungen für
den Tag, von dem wir uns ſoviel verſprachen. Schließlich be⸗
ſeitigte am Vormittag der Sonnenſchein den feuchten Nebel.
Ein kaltes, ſchneeweißes Bergland lag in voller Winterkleidung
vor uns, in ſtrahlender Schönheit, mit kegelförmigen Bergen,
großen Schluchten und einem ſanft abfallenden Vorland. Kein
Gletſcher bedeckte das Land; es war endlich ein Stück des erſehnten
Pearylands und ſchien gute Jagd zu verſprechen.
Aber es koſtete Zeit, dorthin zu gelangen. Fortwährend
mußten zwei Mann neben den Schlitten und einer vorausgehen;
ſo dauerte es zwölf Stunden, ehe wir die 31 Kilometer bis zu
einem Punkt, der zum Lagern eingerichtet war, zurückgelegt hatten.
ER
Das Lager am Eulenneſt. 167
Wir kochten uns einen Haferbrei und eine Taſſe Tee; dann machten
ſich Ajako und ich ſogleich ins Land hinein auf. Keiner von uns
konnte mit Rückſicht auf unſere hungrigen Hunde ſeine eigene
Müdigkeit beachten. Auf Schneereifen, jeder ſeinen Hund an der
Seite, ſtiegen wir die Hänge hinan.
Man ſah ſogleich, daß wir in Pearyland waren; denn jo,
fruchtbare Oaſen hatten wir bisher noch nicht erblickt. An vielen
Stellen wuchs dichtes, wohlentwickeltes Gras, nicht nur die elenden,
mageren Büſchel, die wir zu ſehen gewöhnt waren; überall kräftige
Polarweide, Mohn, Steinbrech und Kaſſiope, alles jedoch noch
winterwelk. Brennmaterial war jedenfalls genug da, wenn wir
nur etwas zu kochen fanden. Zu Beginn der Tour ſchoſſen wir ein
paar Schneehühner, die wir den beiden hungrigen Hunden gaben,
die uns bei der Moſchusochſenjagd helfen ſollten. Wir gingen die
Berglehne entlang fjordwärts und fanden bald eine Menge Exkre⸗
mente von Moſchusochſen, aber alle ſehr alt. Vermutlich iſt zu
dieſer Jahreszeit hier zuviel Schnee. Schneehühner ſahen wir in
großer Zahl, wir fanden es aber nicht richtig, unſere Munition an
ſie zu verſchwenden.
* **
x
Auf einer teilen, maleriſchen Höhe, die nach einer Schlucht hin
abfiel, entdeckten wir eine Eule, die augenſcheinlich brütete. Denn
kaum hatten wir ſie erblickt, als eine zweite Eule, die wir nicht be⸗
merkt hatten und die ſich weit davon entfernt befand, unſere Auf⸗
merkſamkeit vom Neſte abzulenken bemüht war. Zunächſt lief ſie
über eine große Schneewehe; aber als wir uns nicht täuſchen ließen,
flog fie auf und begann über uns zu kreiſen, ängſtlich kreiſchend
und augenſcheinlich ſehr nervös, je mehr wir uns dem Weibchen
näherten. Da wir indeſſen unſern Gang unangefochten fortſetzten,
wurde ſie direkt feindlich. Hoch aus der Luft ſtürzte ſie ſich plötz⸗
lich blitzſchnell auf uns herab, dicht an unſern Köpfen vorbei, ſo
gewandt und ſo heftig, daß wir ſie mit dem Gewehrkolben ab⸗
wehren mußten. Dann ſtieg ſie hoch, hielt ſich lange kreiſend
über uns, um plötzlich wieder auf unſere Köpfe herabzu⸗
ſtoßen. Ihre Bewegungen geſchahen plötzlich und lautlos mit
einer unberechenbaren Geſchwindigkeit, und wenn ſie dicht über
uns hinſchweifte, ſtrich der ſtarke Schnabel an unſern Augen
168 Sechſtes Kapitel.
vorbei, und wir mußten uns ducken, um unſere Geſichter vor ihren
ausgeſtreckten Krallen zu ſchützen. Ganz oben auf dem Hügel ge⸗
wahrten wir ein primitives Neſt mit neun weißen Eiern, nicht un⸗
ähnlich Hühnereiern, nur etwas kleiner und runder. Das Neſt war
ſehr einfach; es beſtand nur aus einer Vertiefung in der Erde mit
ein wenig Gras auf dem Boden. Wir ließen ſie in Ruhe, zur
großen Verwunderung des Männchens, das nur gewohnt iſt, gegen
Hermelin und Wolf zu kämpfen, die keine Schonung kennen.
Ein Stück davon entfernt ſchoß Ajako zwei Haſen, worauf wir
uns trennten, um jeder in ſeiner Richtung zu jagen. Ich ſtieg berg⸗
an, um eine Ausſicht zu erhalten, während er in der alten Rich⸗
tung weiterging.
Der Berg, den ich beſteige, iſt ein 40 Meter hoher Schiefer⸗
berg, ſchwarz und kegelförmig, von bröckligem Geſtein bedeckt, das
dem Fuß nur ſchlechten Halt gewährt. Als ich ſchließlich den
Gipfel erreiche, bekomme ich eine Ausſicht, die mir faſt den Atem
raubt. Unwillkürlich muß ich mir die Augen reiben, ehe ich zu
glauben wage, was ich ſehe. Unmittelbar vor meinen Füßen ent⸗
decke ich in der Richtung nach dem Fjordinnern einen großen Wirbel
mit offenem Waſſer und ein paar ſchwimmende Eisberge.
Ein ganz ſchmaler, zwei Kilometer breiter Fjord ſchiebt ſich in
das Land hinein, zunächſt in der Richtung nach Nordweſten nach
dem Mascart⸗Inlet hin. In dieſer Richtung ſcheint er einen Arm
abzugeben, wendet ſich dann nach Norden und Nordoſten nach
der Gegend vom De-Long⸗Fjord und verliert ſich ſchließlich zwiſchen
den Bergen, ohne daß man das Ende ſehen kann. Aber der Um-
ſtand, daß wir hier mitten in einem Sikuſſagfjord, faſt auf 83°
nördlicher Breite, auf eine offene Stelle ſtoßen, deutet darauf hin,
daß dieſer ſchmale Arm der Teil eines Kanals ſein muß, der ent⸗
weder in den Mascart⸗Inlet oder in den Jewell⸗Inlet mündet. In
der Offnung ſteht ein ſtarker Strom. Ich kann von meinem hohen
Standpunkt aus deutlich die Wirbel ſehen, die Hauptrichtung
geht nach Chip⸗Inlet. Auf der feſten Eiskante ſehe ich zu meiner
großen Überrafhung und Freude zwei Seehunde und im Schnee
Vertiefungen von einem dritten, der eben getaucht iſt.
Dieſe überraſchende Entdeckung eröffnet uns ungeahnte Mög⸗
lichkeiten. ö b
Das Land ſelbſt iſt nach allen Richtungen eisfrei, d. h. ohne
homavyocd, uaq usbob gusꝙpqogt uaquaznig sog soon wg 311333UP9
NE
Das Lager am Eulenneſt. 169
zuſammenhängende Gletſcher; nur ein paar kleine lokale Gletſcher⸗
zungen ſchieben ſich von den Zinnen durch die vielen Schluchten
herab, die die Berge durchſchneiden. Überall ſieht man hier viel
Schnee.
Das Ende des Hauptfjords iſt deutlich etwa 30—40 Kilo⸗
meter landeinwärts von unſerm Lager ſichtbar, und erſt jetzt
wird es mir klar, daß wir einen großen, neuen Fjord entdeckt
haben. Chip⸗Inlet war nicht ſehr tief und ſollte parallel zum
Nordenſkiöldfjord verlaufen; aber dieſer Fjord exiſtiert gar nicht.
Dagegen geht nördlich vom Nordenſkiöldfjord ein neuer großer
Fiord nach Oſten etwa 50 Kilometer nach Pearyland hinein.
Faſt am Ende des Fjords erkennt man einen großen Berg, der
quer zur Fjordrichtung ſteht und in das Inlandeis übergeht. Wäh⸗
rend alſo die Südweſtſeite des Fjordendes in direkter Verbindung
mit dem Hauptgletſcher ſteht, erſtrecken ſich große verſchneite, aber
offenbar eisfreie Landgebiete in nordöſtlicher Richtung.
* *
; *
Als Ajako und ich wieder zuſammentreffen, ſtrahlen unſere Ge⸗
ſichter vor Freude über die Entdeckungen, die wir gemacht haben.
Aber ſelbſtverſtändlich ſind wir augenblicklich hauptſächlich mit
den Möglichkeiten beſchäftigt, die uns dieſe unerwartete Wirbel⸗
ſtrömung mit ihren Seehunden bietet. Wenn das Eis in der
Nähe der Kante, wo die Seehunde liegen, von dem darunter,
verlaufenden Strom nicht zu ſehr angefreſſen iſt, bietet ſich uns
hier eine willkommene Möglichkeit, uns mit Fleiſch zu verſorgen.
Da jedoch die Seehundjagd am beſten in der Sonnenwärme der
Mittagsſtunde verſucht werden kann, geben wir die Jagd vor⸗
läufig auf, durch unſere traurigen Erfahrungen bei Dragon Point
belehrt, wo die Seehunde, Gott weiß warum, ſehr ſcheu waren.
Wir gehen daher ohne andere Beute als die beiden Hafen zum
Lager zurück.
Friſche Moſchusochſenſpuren oder auch nur ein Jahr alte
Exkremente fanden wir nicht; die Lebenszeichen, die wir antrafen,
ſchienen mehrere Jahre alt zu ſein. Aber es iſt ja möglich, daß
die Moſchusochſen ſich noch weiter im Innern des Fjordes auf⸗
halten, und das wollen wir unterſuchen, ſobald wir uns nur ein
wenig ausgeruht haben. Vorläufig ſind wir über 30 Stunden
170 N Sechſtes Kapitel.
ununterbrochen in Tätigkeit geweſen. Überall ſahen wir eine Menge
Lemmingbaue und ferner Schneehühner, die je zwei und zwei unter
lebhaftem Gackern die Paarungszeit feiern.
Gegen Mitternacht ſind wir wieder beim Zelt. Schon wieder
müſſen zwei arme Hunde als Futter für die Kameraden ge⸗
ſchlachtet werden, eine kümmerliche und wenig ſtärkende Mahlzeit,
aber immerhin doch eine kleine Magenfüllung, die den, der weiter
ſoll, am Leben erhält.
Vom Schneeſturm feſtgehalten.
Ich habe keine beſondere Luſt gehabt, Tagebuch zu führen, und
habe mich daher die beiden letzten Tage ausſchließlich auf die
meteorologiſchen Beobachtungen beſchränkt, die viermal am Tage
in angenehmer Weiſe die Zeit kontrollieren.
Schlechtes Wetter und ſchlechte Bahn verfolgen uns ſyſte⸗
matiſch. Durch Unmengen von Schnee hatten wir uns durch⸗
zukämpfen; auf der letzten Reiſe hatten wir bis zu ein Meter
tiefen Schnee und mußten Schneeſchuhe unter die Schlittenkufen
legen. Der lockere Schnee, der in Klumpen unter den Füßen der
Hunde feſtfriert, ſetzt ihnen ſchlimmer zu als der Hunger. Bei dem
Verſuch, die ſchmerzenden Pfoten zu reinigen, die oft ſo mit harten
Eisklumpen beſetzt ſind, daß die Zehen auseinandergeſpreizt
ſtehen, beißen ſie ſich die Pfoten blutig, wie ich es bei dem kleinen
Lemming oben geſchildert habe; ſie bringen ſich große Wunden bei
und hinterlaſſen Blutſpuren auf dem Eis. Dieſe Plage macht es
ganz beſonders ſchwierig, ſie anzutreiben und raubt ihnen über⸗
haupt völlig die gute Laune. ;
Und jetzt wird die Bahn noch ſchlechter. Der Schneeſturm be⸗
ginnt am 5., am 6. wütet er mit noch größerer Gewalt, und der,
Schnee häuft ſich in großen, tiefen Schneewehen an, in denen die
Schlitten hängenbleiben werden, wenn wir die Reiſe fortſetzen.
Es geht nicht anders; wir müſſen, wie die kleine Steinbrech⸗
pflanze, die bisweilen in voller Blüte überwintert, die ganze
Geſchichte verſchlafen und das Unwetter über uns hingehen laſſen,
als ob wir gar nicht exiſtierten. Nachher iſt Zeit genug, ſich mit
ſeinen Folgen zu befaſſen.
Noch am 7. Juni ſcheint der Sturm beſtändig im Wachſen;
der Schnee peitſcht gegen das Zelttuch, und die Windſtöße drohen
1
Das Lager am Eulenneſt. 171
es in Fetzen zu reißen. Unſere zehn noch lebenden Hunde liegen
im Schnee draußen; es fällt ihnen offenbar ſchwer, ſich mit all
dieſem Mißgeſchick abzufinden. Wir dürfen keine mehr ſchlachten,
wenn wir nicht ohne Vorſpann bleiben wollen. In dieſem Wetter
auf die Jagd zu gehen, iſt undenkbar.
Zeltwache mit däniſchen Stimmungen.
Endlich! Endlich kam die Sonne mit klarem, blauem Himmel
und erbarmte ſich unſer am frühen Morgen. Gegen 2 Uhr gruben
wir uns zum Zelt heraus und trafen Vorbereitungen für die Jagd
und für eine Rekognoſzierungstour, die Koch und Ajako unter⸗
nehmen ſollten. Wir lagen tief in großen Schneewehen vergraben,
ſo daß nur der Firſt des Zeltes ſichtbar war. Es war ganz wie
zur Mittwinterzeit, und nichts um uns herum gab Zeugnis davon
daß wir ſchon weit im Juni waren, dem herrlichſten und mildeſten
aller Sommermonate.
Von unſern Schlitten iſt nichts zu ſehen; nur die Spitzen der
Ständer ragen hervor, und von den Hunden ahnt man nur die
Umriſſe ihrer Leiber im Schnee. Ihre Ruhe iſt unheimlich, und ſie
zeigt uns leider, daß keiner von ihnen in der Stimmung iſt, den
Riemen zu durchbeißen und zwiſchen den Schlitten und den Zelten
auf Raub auszugehen. Sie haben ſich in ihr Schickſal ergeben und
verſuchen nur, in einen Kreis zuſammengerollt und den Kopf
zwiſchen Beinen und Schwanz vergraben, ſich warm zu halten.
Um 4 Ahr machten ſich Koch und Ajako auf den Weg. Ich
mußte als Wache bei den Hunden im Zelt bleiben; denn die
Hunde würden dieſes in Fetzen zerreißen, wenn ſie unter
ſolchen Umſtänden einen Tag ohne Kontrolle verbrächten. Ich
würde gern mit den andern getauſcht haben, ſtatt noch einen Tag
in Untätigkeit zu verbringen, aber einer muß das Unangenehme
auf ſich nehmen. |
Lange ſtand ich im Schneegeſtöber draußen und ſah den Fort⸗
ziehenden nach. Koch ſollte das Innere des Fjords aufnehmen
und Ajako ſollte jagen, um wenn möglich die traurigen Überreſte
unſerer Hunde zu retten.
In gleichmäßigem Marſch gehen ſie in den Fjord hinein,
wo die Wetterwolken noch über die zerriſſenen Zinnen treiben,
der eine auf Schneeſchuhen langſam durch die lockeren, friſchen
172 Sechſtes Kapitel.
Schneewehen gleitend. Ajako, der unerſchrockene Jäger, deſſen
aufrechte Haltung und geſchmeidige Bewegungen verraten, daß er
die Hoffnung, Großwild aufzuſpüren, noch nicht aufgegeben hat,
iſt in ſeiner Erſcheinung dem Wolfshund nicht unähnlich, den er
am Riemen mit ſich führt. Wie jener iſt er leicht und muskel⸗
ſtark, ausdauernd und hungergewohnt. Und neben ihm ſchreitet
Koch, breitſchulterig, von kräftigem Bau und zähem Kraft⸗
bewußtſein.
Gute Jagd, ihr Wölfe! Niemals haben heißere Wünſche zwei
Wanderer begleitet, heute gilt es! Der große Ernſt iſt jetzt über
uns und unſerm Schickſal.
Und während ich hier ſtehe, den rauhen Wind im Geſicht,
und unſere Ausſichten überprüfe, gehen die Gedanken unwillkür⸗
lich weiter zu der andern Abteilung, die dasſelbe Wetter gehabt
hat wie wir. Möge ſie mehr Glück auf der Jagd gehabt haben,
ehe der Sturm über ſie kam und ihnen das Land verſchloß.
Mir gegenüber ſitzt ein Schneehuhnpärchen und gackert ver⸗
gnügt miteinander; ihr Kleid iſt ganz braun, und ſie ſingen von
dem Sommer, der jetzt herrſchen ſollte. Ihre unverzagte Gegen⸗
wart hebt die Stimmung immerhin ein wenig und lenkt die Ge⸗
danken von den unheimlichen, ſturmgetriebenen Wolken ab.
Ab und zu ſehen ſie forſchend auf das Zelt und den Menſchen
am Eingang herab, aber ſie brauchen ſich nicht zu ängſtigen, ſie
dürfen ruhig vor mir den langen, einſamen Tag über ihr Spiel
fortſetzen. Ich kann für ſo wenig Fleiſch keine Kugel opfern,
und unſere Schrotflinte haben wir mit Munition für die Rück⸗
teile in der Mündung des Nordenſkiöldfjords deponiert.
Eine Spannung liegt heute über dem Tag, eine Spannung
von der Art, wie ſie ſich nicht zu oft auf einer Expedition ein⸗
ſtellen möchte.
* *
*
Zum erſtenmal feit längerer Zeit haben wir Temperatur
über Null, 1,2 Grad. Es iſt windſtill, der Himmel iſt beinahe ganz
wolkenlos. Das milde Wetter verlockt dazu, die Wartezeit mit
Schreiben zu vertreiben.
Es iſt jetzt 6 Uhr nachmittags und alſo 15 Stunden her,
ſeitdem meine Kameraden fort ſind. Sie ſollten ſofort zurück⸗
Das Lager am Eulenneſt. 173
kehren, wenn ſie auf dem Hinweg einen Seehund bei dem
Stromwirbel fingen. Ihr Ausbleiben iſt alſo kein günſtiges
Zeichen.
Ich habe das Gefühl, als ſtehe ich auf einer Schanze, einer
gegen fünfzehn!
Die Hunde, im raſenden Hunger, haben ſich faſt alle von ihren
Strängen und Riemen losgeriſſen und greifen ununterbrochen das
Zelt an, wo noch ein kleiner Biſſen gekochten Fleiſches aufbewahrt
wird. Es würde ein ungleicher Kampf geweſen ſein, wenn das
Leben ihnen nicht Reſpekt vor der Peitſche eingeflößt hätte, die,
wie ſie wiſſen, ihr lieber Herr immer zur Hand hat. Sie haben
während des Schneeſturms gelitten, aber das würde nicht viel
für einen Wolfshund bedeuten, wenn ſie nicht in der letzten Zeit
zu oft ſchlaffes Hundefleiſch an Stelle wirklicher Nahrung bekommen
hätten; darum ſind ſie jetzt ſo deſperat und drohend, und ſie
würden ſich ſicher über mich ſtürzen, wenn ſie es nur wagten.
Übrigens äußert ſich die Not bei ihnen ſehr verſchieden. Die
edleren Naturen ſind nicht mehr gierig und zudringlich, ihre
Augen haben einen unendlich verlaſſenen und melancholiſchen Aus⸗
druck bekommen, ſie halten ſich abſeits und ſuchen ſchneefreie
Flecke am Land auf, wo ſie ſich in die Sonne legen und verſuchen,
ob die Wärme den Schmerz in ihrem leeren Magen lindert. Die
Plebejer unter ihnen dagegen haben böſe Augen bekommen; un⸗
unterbrochen belagern ſie das Zelt und ſind am Eingang, ſo oft
ſie glauben, mich überrumpeln zu können. Arme Tiere! Doch was
können wir anderes für ſie tun, als uns auf tagelangen Jagd⸗
touren im Land halb zu Tode zu laufen. Wir ſchonen uns ſelber
wahrlich auch nicht!
Der Tag vergeht mir langſam, und ich ertappe mich oft bei
dem Glauben, daß meine Uhr ſtehengeblieben ſei. Vergebens ver⸗
ſuchen die Schneehühner mit ihrem Gackern ein wenig Abwechſlung
in die Einſamkeit zu bringen.
Ein Pärchen gurrt zärtlich und warm miteinander über das
Neſt, das ſie bauen wollen. Ihre gurgelnden Kehllaute erinnern
mich an den Geſang der Unken in den Teichen von Seeland. Ich
vergeſſe, wo ich bin, und die Gedanken ſuchen Ruhe im Garten
von meines Vaters Pfarrhof, wo ich dieſen merkwürdigen Fröſchen
ſo oft gelauſcht habe, deren reine Glockentöne oft aus dem
174 ) Sechſtes Kapitel.
Schlamm des Teiches die Luft in den kühlen däniſchen Sommer⸗
abenden mit Wohllaut erfüllten.
Eine milde Briſe führt den Duft wilder Roſen von der Fried⸗
hofsmauer zu mir herüber, und viele alte Erinnerungen werden
lo lebendig, daß ich mitten im Eiſe das Vergangene wiedererlebe.
Ich ſehe meine liebe alte Mutter von den Erdbeerbeeten her⸗
kommen, die Schürze voller großer roter Beeren; wie gewöhnlich
ſucht ſie die größten heraus und gibt ſie uns, und es iſt, als
wäre der Geſchmack doppelt ſo ſüß und koſtbar, wenn man weiß,
daß jede einzelne ihr Schmerzen in dem alten Rücken gekoſtet hat,
wenn ſie ſich bückte, ſie zu pflücken. Ich höre auch den feſten,
etwas ſchweren Gang meines Vaters zwiſchen den Bäumen des
Gartens. Er macht ſeinen Abendſpaziergang und bleibt immer
wieder vor den Fruchtbüſchen ſtehen, deren Wachſen und Gedeihen
er in ſeinem lieben Garten von Tag zu Tag verfolgt. Hier und
da hört man die Schläge gegen die Kugeln auf dem Krocketplatz
drüben; der kühle Abendwind rauſcht durch die großen Linden,
während die weißen Obſtblüten auf die Wege des Gartens
herabfallen.
* *
*
Während der Mittagshitze kommen die erſten fliegenden Som⸗
merzeichen zu mir; ein paar Schmeißfliegen brechen ſummend ins
Zelt ein und kreiſen über dem unſchuldigen kleinen Stück Ochſen⸗
fleiſch, das ich ſo wachſam behüte. Drei neugierige Möwen ſegeln
auf ihren ſcharfgeſchnittenen Schwingen über das Lager hin und
verſchwinden in der Richtung des Stromwirbels, und wenn ich
noch ein paar kleine Schneeſperlinge nenne, die ebenfalls verſucht
haben, mir Geſellſchaft zu leiſten, ſo bin ich mit der Biologie des
Tages fertig.
In dem ſtillen, milden Wetter bringt die Sonne den Schnee
raſch zum Schmelzen.
Um 11 Uhr abends kommt Koch nach einer Wanderung von
25 Stunden zum Zelt zurück. Er hat kein Wild geſehen. Seine
Entdeckungen beſtätigen vollkommen, was ich jüngſt von dem
ſchwarzen Schieferberg aus geſehen hatte; wir ſind in einem ganz
neuen Fjord, der nichts mit Chip⸗Inlet zu tun hat, und der
draußen von der Route, die man ſonſt eingeſchlagen hat, nicht ſicht⸗
Das Lager am Eulenneſt. 175
bar geweſen. Wir einigen uns, dieſen Fjord J.⸗P.⸗Koch⸗Fiord
zu nennen. Die große Inſel, die vor der Mündung von Chip⸗
Inlet verzeichnet iſt, gibt es ebenfalls nicht. An ihrer Stelle
haben wir eine hohe bergbedeckte Halbinſel gefunden, die ſich mit
nicht weniger als 16 Gletſchern zwiſchen dem Nordenfſkiöldfjord
und dem J.⸗P.⸗Koch⸗Fjord vorſchiebt. Das Land nördlich und öſtlich
des Fjords iſt teilweiſe eisfrei. Aber es ift eine wilde Alpenland⸗
ſchaft, in der man ſich keine größere Hoffnung auf Moſchusochſen
machen kann.
Ajako iſt tiefer in den Fjord eingedrungen und iſt um 9 Uhr
morgens noch nicht zurück. Aber ſolange er fort iſt, iſt ja
Hoffnung.
* *
*
Hei!!!
Endlich, am 9. Juni um 9 Uhr, nach genau 30 Stunden net
Ajako zum Zelt zurück. Er hat zwei Seehunde bei dem Strom⸗
wirbel erlegt und drei Haſen. Die Haſen hat er auf dem Rüden;
die Seehunde dagegen ſind deponiert, da es praktiſch ſein wird, das
Lager weiter nach der Wirbelſtelle zu verlegen.
AUnſere Freude über dieſe Meldung war ſo ſtark, daß wir den
Eindruck hatten, als ſchlügen warme Wellen durch unſer Inneres,
und wir mußten allen unſern Gefühlen in ſinnloſen Worten Aus⸗
druck geben. Jetzt iſt Hoffnung vorhanden, daß wir vorläufig
einen Teil unſerer Hunde am Leben erhalten können, und es iſt
auch nicht undenkbar, daß es uns gelingen wird, noch mehr See⸗
hunde zu ſchießen.
Ajako it tief im Fjord drin geweſen, wo er 1 alte
Exkremente von Moſchusochſen gefunden hat; aber alles deutet
darauf hin, daß dieſe Tiere vor vielen Jahren die Gegend ver⸗
laſſen haben, die ſie wahrſcheinlich nur auf ihrem Weg nach Oſten
paſſiert haben. Außerdem hat er eine brütende Eule geſehen und
einen weißen Fuchs, der eifrig auf der Jagd nach fetten Lem⸗
mingen war.
Das ſchöne Wetter hat eine Menge Raubmöwen nach unſerm
kleinen Lager gelockt; entweder ſtreichen ſie über unſern Köpfen hin
oder ſie laſſen ſich auf den Hügeln an den Bergabhängen nieder
und begrüßen von dort mit ſchrillem frohem Schrei den heimnm⸗
gekehrten Jäger.
176 Sechſtes Kapitel.
Gute Tage am Stromwirbel.
Das Lager wird jetzt ein paar Kilometer weiter in den Fiord
hinein verlegt, ſo daß wir von unſerm Zelt eine bequeme Aus⸗
ſicht über den kleinen Stromwirbel haben, der vorläufig unſere
Speiſekammer ſein ſoll.
10.—13. Juni. Leider werden Koch und Ajako wieder krank.
Koch hat nach der langen Tour geſtern Übelkeit und Schwindel
bekommen. Sein Magen ſcheint gegen die ununterbrochene Fleiſch⸗
koſt, auf die wir angewieſen ſind, zu proteſtieren; er bekommt wohl
ab und zu etwas Haferbrei, aber bei den unſicheren Lebens⸗
bedingungen müſſen wir ſehr vorſichtig umgehen, und Koch kann
leider nicht täglich die Mengen erhalten, die ſein Körper zu
fordern ſcheint.
Ajako hat ſeine Augen in dem ſcharfen Licht auf der langen
Fahrt überanſtrengt und iſt wieder ſchneeblind geworden. Daher
verlaſſe ich, ſobald das Zelt errichtet iſt, die Kameraden und fahre
nach dem Stromwirbel, um Ajakos Seehunde zu holen. Das
Wetter iſt ruhig und ſchön, und die milde Witterung hat ein paar
Seehunde zu einem Sonnenbad heraufgelockt. Leider iſt der eine
ſehr ſcheu und verſchwindet in der Tiefe, lange bevor ich auf
Schußweite herangekommen bin; dagegen gelingt es mir, den
andern zu ſchießen. Jetzt ſind wir obenauf; denn bei den wenigen
Hunden, die wir noch haben, werden dieſe Seehunde mit all ihrem
Speck einige Zeit reichen.
Unſere Freude iſt wie gewöhnlich nicht ganz ohne Wermuts⸗
tropfen. Unter den Hunden ſcheint eine ernſte Krankheit aus⸗
brechen zu wollen; einige von ihnen bekommen eine Lähmung des
Hinterkörpers. Möglicherweiſe ſteht das in Verbindung mit dem
Kannibalismus, auf den ſie zu oft angewieſen waren; offenbar
enthält das Hundefleiſch ein Gift, das ihnen ſchlecht bekommt;
es ſteckt jedenfalls in der Leber und in den Eingeweiden. Sie
brechen häufig nach Hundefleiſch, haben ſtarken Durchfall und ſind
während der ganzen Tagereiſe ſchlaff und matt. Zwei von ihnen
haben wir ſchon erſchoſſen, da keine Hoffnung ilt, ihre baldige
Heilung zu erwarten.
Noch eins verurſacht uns etwas Sorge, die Schwierigkeit, die
Hunde dazu zu kriegen, ordentlich zu freſſen. Den Speck, der ihnen
ſo gut tat und auf den ſie ſich anfangs mit großer Gier ſtürzten,
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Das Lager am Eulenneft. 177
wollen fie jetzt durchaus nicht mehr freſſen. Dies hat indeſſen nichts
mit Krankheit zu tun, ſondern iſt eine bekannte Erfahrung, die alle
machen, die auf einer Langfahrt zeitweilig genötigt waren, ihre
Hunde hungern zu laſſen. Kommt man dann endlich an einen Ort,
wo es Futter in Hülle und Fülle gibt, ſo nehmen ſie nur ein paar
große, gute Mahlzeiten ein und werden dann ſo wähleriſch, daß
nur das feinſte reine Fleiſch Gnade vor ihren Augen findet.
Am 11. Juni fühlt Koch ſich etwas beſſer und begibt ſich
ſogleich nach dem J.⸗P.⸗Koch⸗Fjord, um die angefangene karto⸗
graphiſche Arbeit zu vollenden.
Am nächſten Tag iſt er wieder ſehr ſchlaff und müde, und da
= auch Ajako noch immer Schmerzen in den Augen hat, müſſen
wir noch ein paar Tage hierbleiben, obgleich es zu wünſchen wäre,
daß wir unſern Kameraden möglichſt raſch nacheilen könnten.
Sodann mißglückten mehrere Seehundjagden. Die wenigen
Tiere, die ſich bei dem kleinen Stromwirbel aufhalten, ſind ſo ſcheu,
daß ſie verſchwinden, ſobald wir uns nur zeigen. Am 14. vor⸗
mittags beſchließen wir daher, aufzubrechen und die unterbrochene
Reiſe fortzuſetzen.
In der Nacht werden wir durch Eisgänſe geweckt, die paar⸗
weiſe über unſer Zelt fliegen, um ſich auf den grasbedeckten Ab⸗
hängen niederzulaſſen. Noch lange klingt uns ihr Schrei mit ſeinem
friſchen, verheißungsvollen Klang in den Ohren. Es ift immer
etwas Märchenhaftes bei dem ſauſenden Flügelſchlag der Gänſe,
; : wenn fie auf breiten Schwingen am Horizont verſchwinden.
Nach Kap Salor.
14.—15. Juni. Lange hatten wir uns auf den Tag gefreut,
an dem unſere Arbeit hier drinnen beendet iſt, jo daß wir mit
gutem Gewiſſen den Kurs nach Kap Salor an der Nordſpitze
der großen Inſel vor der Mündung des Chip-⸗Inlet richten
konnten. Hier ſollten wir nämlich, wie McMillan uns ver⸗
ſprochen hatte, eins von Pearys Depots finden, das auf ſeiner
letzten Nordpolexpedition 1908 angelegt war und aus Pemmikan,
Keks, Zucker und Petroleum beſtand. Das waren Delikateſſen,
die lockten.
Wir brechen um 8 Uhr nachmittags auf, und da die Bahn
zum erſtenmal ſeit längerer Zeit gut iſt, gelingt es uns, in zwölf
Rasmuſſen. 12
178 Seechſtes Kapitel.
Stunden die 40 Kilometer bis Kap Salor zurückzulegen. Wir
machen öſtlich vom Kap gerade gegenüber Kap Emory halt, wo
ein Bericht von Wulff für uns liegen ſoll. Es iſt backwarm,
die höchſte Temperatur, die wir bisher gehabt haben. Bei 2 Grad
Wärme entkleiden wir uns halb; darauf begeben Ajako und ich uns
nach dem Depot, das etwa vier Kilometer von unſerm Lager ent⸗
fernt liegen ſoll.
Die Sonne brennt uns ins Geſicht, der Schnee ſchmilzt auf dem
Eis zu Waſſer und hat in dem alten Polareis ſchon Becken von
über ein Meter Tiefe gebildet. Schweißtriefend erreichen wir
das Depot, wo uns eine Blechbüchſe, die am Ende einer auf⸗
gerichteten Stange hängt, einen Gruß von den Kameraden bringt.
Gerade vor uns haben wir eine aufgepreßte Eiskante von zirka
20 Meter, davor iſt das Eis eben, während das alte Polareis mit
ſeinen Preßrücken bereits ein paar Kilometer ſeewärts beginnt.
Auf dem Eisfuß verläuft eine alte Bärenſpur.
Das Depot war inſofern eine Enttäuſchung, als wir nur drei
Kannen mit Petroleum und ſechs Doſen Pemmikan fanden.
Zu unſerer Verwunderung finden wir Moſchusochſen⸗Exkre⸗
mente auch auf dieſer Inſel, die faſt ausſchließlich aus hohem Berg⸗
- land ohne Spur von Tälern beſteht. Moſchusochſen können ſich
nur ganz vorübergehend hier aufgehalten haben. Drei Eisgänſe
kamen weit vom Polarmeer draußen herangeflogen, und an Land
gackern die Schneehühner.
Um 11 Uhr ſind wir wieder im Zelt und ſchwelgen nach
Herzensluſt in Pearys Pemmikan. Dieſer Nordpolpemmikan hat
im Gegenſatz zum gewöhnlichen eine wunderbare Zuſammen⸗
ſetzung: eine Menge Roſinen und Zucker ſind in das Fleiſch und
Fett hineingeknetet, ſo daß die Maſſe faſt den Charakter von
Konfekt bekommen hat — jedenfalls könnte kein Marzipan uns
beſſer geſchmeckt haben. Um zu ſparen, miſchen wir ihn mit
Hafergrütze und kochen einen dicken Brei, der ſich uns mit einer
ganz ungewohnten, aber nicht unbehaglichen Schwere in den
Magen legt.
Wulffs Brief, der wie gewöhnlich in der einförmigen Tret⸗
mühle ein willkommenes Lebenszeichen iſt, geht herum und gibt
Veranlaſſung zu allerhand Diskuſſionen und Vermutungen. Dann
kriechen wir in den Schlafſack, um die ungewohnte Sommerwärme
Das Lager am Eulenneſt. 179
einmal außerhalb des Zeltes zu genießen. Ein Marſch von
36 Stunden liegt hinter uns, als wir endlich die Augen ſchließen.
Aber unſere Nahrung iſt ſchwerer geweſen als die tägliche
Haſenkoſt, und wir ſchlafen unruhig und wachen oft auf. Daher
wird Wulffs Brief oft wiederholt, die letzte Neuigkeit ſeit langer
Zeit; er lautet wie folgt:
Kap Salor, 2. Juni 1917.
Bruder!
Wir brachen am 31. Mai 8,30 nachm. von der Küſte von Naresland auf.
Anfangs klar und ſonnig. Nach Mitternacht kalter Wind und Nebel. Sehr
beſchwerlicher, tiefer lockerer Schnee. Harrigan und ich langten am 1. Juni
10 Uhr vorm. bei Kap Salor an, alſo nach 13½ ſtündiger, mühſamer Arbeit im
Schnee. Hendrik und der Bootsmann find wegen ſchlechter Hunde zurüd-
geblieben und kommen erſt um 10 Uhr nachm. an, alſo nach einem Marſch
von 25½ Stunden. Wir haben eine Doſe von dem ausgezeichneten Pemmikan
verzehrt, der jetzt gerade acht Jahre alt iſt. Jetzt um Mitternacht iſt freilich
Nebel, aber um der Hunde willen müſſen wir verſuchen, das Land bei Kap Emory
zu erreichen, wo wir feiſte Moſchusochſen und zahme Haſen im Überfluß zu
finden hoffen. Hoffe, daß Koch ſeinen Tabak zur Verteilung im Sommer mit⸗
bringt. Ich fange an zu zweifeln, daß wir dieſes Jahr überhaupt einen Sommer
bekommen. Heute ſind den ganzen Tag 3 Grad Kälte.
Großes Ereignis! Harrigan hat heute das Hemd gewechſelt!! Das alte
ſah aus wie die ägyptiſche Finſternis. Hendrik hat heute neue Kamiker angezogen
und geſchworen, ſie nicht abzulegen, als bis wir Moſchusochſen geſchoſſen haben.
Wir brechen auf in fröhlicher Laune und voller Blutdurſt und Zuverſicht.
Am 4. Juni werden es 23 Jahre, ſeit ich Student wurde. Aber ich finde nicht,
daß die Jahre viel von meinem Gottvertrauen geraubt haben. Ich fühle mich
im Grunde noch ebenſo voll göttlichen Leichtſinns wie in jenen Tagen.
Denkſt Du in dieſen Tagen daran, daß die erſten Juniwochen die beſte
Zeit zum Spargeleſſen ſind; ham⸗ham, wenn man nur daran denkt! Ich hoffe,
daß wir zur Auſternſaiſon im November wieder daheim ſind. Ens
Eben kommt der Bootsmann mit unglaublich zähem Moſchusochſenfleiſch,
und ſerviert — auf Zeitungspapier; das ift meiner Treu die Proſa des
Lebens auf 83 Grad nördlicher Breite.
Wir verlaſſen den Ort am 3. Juni, 10 Uhr vorm., im Nebel.
Wulff.
12*
Siebentes Kapitel.
Kap Salor bis zu Lockwoods Steinmal.
Begegnung mit Dr. Wulffs Abteilung.
ir beſchleunigen am 16. Juni die Fahrt, um die Kameraden
W raſch einzuholen. Wir laſſen uns nicht Zeit,
auf die Nachmittagskühle zu warten, ſondern machen uns mitten
in der Sonnenwärme um 9% Uhr bei einigermaßen gutem Eis
auf den Weg. Den Hunden hat die Ruhe und das fette See⸗
hundfleiſch gut getan. Mit den leichten Schlitten geht es raſch
vorwärts, wenn nur einer von uns vorangeht. Um die Ge⸗
legenheit aufs beſte auszunutzen, beſchließen wir, auf der heutigen
Tagereiſe wieder wenigſtens 40 Kilometer zurückzulegen.
Schon nach zwei Stunden paſſieren wir Kap Emory, das in
eine verhältnismäßig niedrige Landzunge ausläuft, wo Ajako in
einer reich bewachſenen Schlucht einen Haſen ſchießt und eine Brut
junger Schneehühner fängt. Das Land ringsum iſt ein impo⸗
nierendes Alpenland, das ſchneebedeckt und ſteil ſich mit ſpitzen
Zinnen in einen ſchmalen Fjord hineinzieht.
Ein paar Kilometer vor Kap Neumayer erblicken wir in einer
kleinen Bucht plötzlich zwei Schlitten. Wir ſtutzen und können
kaum Atem holen vor Spannung, als wir entdecken, daß es unſere
Kameraden ſind, die mit ſtark reduzierten Hundegeſpannen lang⸗
ſam, ganz langſam ſich auf uns zu arbeiten. Wulff und Harrigan
gehen voran, während Hendrik und der Bootsmann mit den
traurigen Reſten der drei Geſpanne folgen. Wir beſchleunigen die
Fahrt, und es dauert wenige Minuten, bis wir zuſammentreffen.
An ihren magern, abgezehrten Geſichtern ſieht man ſofort, daß ſie
eine harte Zeit hinter ſich haben, ſeit wir zuletzt beiſammen waren.
Sechzehn Tage lang haben ſie vergebens gejagt; in dieſer
u
Kap Salor bis zu Lockwoods Steinmal. 181
langen Zeit haben ſie ausſchließlich Hundefleiſch verfüttern müſſen.
Jetzt flüchten ſie, um ihr Leben zu retten, nach Süden, da es
ihnen nicht möglich geweſen war, den De⸗Long⸗Fjord zu erreichen.
Sie hatten fortwährend die Zahl ihrer Hunde verringern müſſen
und fuhren nun mit einem Geſpann von fünf Hunden, das Gepäck
in ein Seehundfell gepackt; das andere Geſpann von neun Hunden
kann noch einen richtigen Schlitten ziehen. Es waren alſo nur
14 von den 27 Hunden übrig, die, auf drei Schlitten verteilt,
am 2. Juni Kap Salor verlaſſen hatten.
Bei Low Point hatten ſie ihr Hauptlager gehabt und von
dort Jagdausflüge bis nach Kap⸗Wycander hinüber unternommen.
Da ſie nicht die geringſten Spuren von Moſchusochſen geſehen
hatten, waren ſie jetzt umgekehrt, um die letzten Hunde für die
bevorſtehende Rückreiſe zu retten. Unſer langes Ausbleiben hatten
ſie als Zeichen dafür genommen, daß es uns geglückt ſei, über
das Inlandeis den Independencefjord zu erreichen. Da ſie wohl
einſahen, daß ſie ſich für eine ſo lange Wartezeit, die ihnen dann
bevorſtand, nicht Nahrung genug beſchaffen konnten, hatten ſie
5 ſich entſchloſſen, die Rückreiſe zu verſuchen, ſolange fie ſelbſt noch
bei Kräften waren und einige Hunde übrighatten.
Gegen dieſen Plan war nichts einzuwenden, wenn man be-
3 denkt, welches Mißgeſchick lie verfolgt hatte. Man muß unter
ſolchen verzweifelten Verhältniſſen nach eigenem Ermeſſen handeln,
und die verſchiedenen Abteilungen einer Expedition müſſen inner⸗
halb gewiſſer Grenzen ſo weit Freiheit haben, daß man nicht alles
aufs Spiel ſetzt, um Verabredungen einzuhalten, deren Voraus⸗
ſetzungen nicht zutreffen. Aber ich war doch froh, daß ich ihnen
begegnet war, und vorläufig ihre Rückreiſe auf eigene Fauſt ver⸗
hindern konnte.
Wir ſchlugen nun ein Lager auf und erörterten die Lage bei
eeiner Feſtmahlzeit von Seehundfleiſch, Hafen und reichlichem
Kaffee.
Meine Überzeugung war, daß ich alles daranwagen mußte,
um weiter an der Küſte, wo die Kameraden Schiffbruch erlitten
hatten, vorzudringen; fo nahe dem Ziel konnte ich mich nicht ent⸗
schließen, meinen Plan aufzugeben und die Rückreiſe anzutreten,
ohne mich ſelbſt davon überzeugt zu haben, daß ein Weiterkommen
unmöglich ſei. Aber auf der andern Seite galt es auch, nicht
182 Siebentes Kapitel.
dummdreiſt etwas zu wagen, was für die ganze Expedition ver⸗
hängnisvoll werden konnte. Ferner waren die Ausſichten auf das,
was uns weiter im Norden begegnen konnte, ſo düſter, daß ich die
Reiſe nur fortſetzen konnte, wenn diejenigen meiner Kameraden,
die ich unbedingt mithaben mußte, ſich zu dem Verſuch freiwillig
meldeten. Hier war ich zu meiner Freude wieder Zeuge, wie ernſt
ſie es mit den Aufgaben nahmen, für deren Löſung ſie ausgezogen
waren. Koch und Ajako erklärten ſich augenblicklich bereit, mich
zu begleiten, und da ich, falls wir noch mehr Hunde verlieren
ſollten, zwei Mann bei jedem Schlitten zu haben wünſchte, er⸗
gänzten wir unſere Abteilung durch den Bootsmann, der keine
Angſt davor hatte, zu den Küſten zurückzukehren, wo er eben
gehungert hatte.
Dann wurde beſtimmt, daß Dr. Wulff, Harrigan und Hen⸗
drik einen Verſuch machen ſollten, ihre Hunde mit den Seehunden
des Stromwirbels zu retten. Sofern wir nicht mit allzu großen
Schwierigkeiten zu kämpfen hatten, konnten möglicherweiſe beide
Abteilungen ſchon nach vierzehn Tagen bei Kap Salor wieder
zuſammentreffen; andernfalls wurde Dragon Point als der Ort
bezeichnet, wo wir alle vor Beginn der Rückreiſe uns vereinigen
ſollten. Hierauf trennten wir uns.
Wulff hatte auf dem Weg, dem wir folgen ſollten, ein paar
Briefe in Steinmalen niedergelegt, die ihre Lage ſchildern; wir
fanden ſie alle, und da ſie hierher gehören, gebe ich ſie hier wieder:
1. Lager direkt ſüdweſtlich von Kap Bennett, 7. Juni 1917.
Bruder!
Nachdem wir Kap Neumayer am 5. Juni 2,30 vorm. paſſiert hatten, wo
ich einen Brief für Dich hinterließ, folgten wir der Küſte in tiefem Schnee bei
hellem Sonnenſchein bis hierher nach Kap Bennett, wo wir um 6 Uhr vorm.
auf einem ſchneefreien Fleck am Strand das Zelt aufſchlugen, da die Hunde
nicht weiter konnten. Vier waren vor Ermattung auf dem Weg umgefallen
und waren zurückgelaſſen worden, kamen aber ſpäter zum Lager geſchlichen, wo
drei erſchoſſen wurden, um als Hundefutter zu dienen. Keine Spuren von
Moſchusochſen auf dem Wege hierher. Die Jagd im Land ergab 16 Schnee⸗
hühner und 5 Haſen. Alle Schneehühner hatten große Eier mit Schale.
Nichts anderes als ſehr alte Moſchusochſenexkremente, die nur ſelten anzutreffen
ſind. Ich ſammelte eine Anzahl Pflanzen. Am Abend begann ein Schnee⸗
ſturm, der am 6. Juni mit voller Kraft anhielt, ſo daß wir den ganzen Tag in
den Schlafſäcken verbrachten.
Heute am 7. Juni, Deinem Geburtstag, hat der Wind etwas nachgelaſſen,
Kap Salor bis zu Lockwoods Steinmal. 183
aber derſelbe widerliche mit Regen vermiſchte Schnee, der Hunde und Zelt mit
Eis überzieht. Bleiben auch heute in den Schlafſäcken. Die Hunde freſſen ihre
Zugriemen und ſind mager wie Skelette. Heute nacht hat der ganze Trupp
mehrere Angriffe auf das Zelt gemacht, von dem Duft der Haſen angelockt.
Die Armſten tun mir leid, aber auch für uns ſelber ſieht es nicht gar ſo
roſig aus. Jetzt blühen daheim Flieder und Goldregen, und hier liegt man in
Kälte und Schneeſturm im Schlafſack an Grönlands Nordküſte! Hätte man
wenigſtens eine große Schüſſel mit Erbſen und Speck oder eine noch größere
mit Pfannkuchen und Erdbeerkompott! Hei! Ich gedenke heute Dir zu Ehren
für die Jungens einen zoologiſchen Alkoholſchnaps zu brauen, um der Melancholie
des Wetters die Spitze abzubrechen. Im übrigen iſt die Stimmung all right,
und der Bootsmann iſt noch immer dick und fett. Der Primus ſummt, und
Hendrik kocht uns einen Haſen, der große Embryonen enthält. Das Hafermehl
reicht nur zu einer kleinen Taſſe pro Mann jeden Morgen. Von Kaffee haben
wir nur noch einen Handſchuh voll, ſowie zwei Pakete Tee.
Später. Keine Szenenveränderung. Der Geburtstagsſchna ps hatte eine
großartige Wirkung. Der Bootsmann ſitzt im Schlafſack und ſingt ſeine hei⸗
miſchen Zauberlieder. Harrigan ſummt „Tipperary“, und Hendrik ſingt dem
Schnapsbrauer zu Ehren das ſchwediſche Lied „Unſer Land“. Wir haben jetzt
trotz unſerer Armut Dir zu Ehren einen ſchmerzhaften Griff in den Kaffeehand⸗
ſchuh getan, und das Zelt fängt an nach Mokka, oder wie die Miſchung ſonſt
heißt, zu duften. Heil Dir, mein Junge!!! Wann haſt Du das nächſte Mal Ge⸗
burtstag? Der Schneeſturm bläſt die Begleitung. — Vom „Mittagsſchlaf“ habe
ich reden hören — jetzt heißt es für uns, nach allen Schwelgereien „Frühſtück
zu ſchlafen“, 6—7 Stunden, wie es das Wetter verlangt.
Die Geburtstagsfeier nimmt unerwartete Dimenſionen an. Jetzt haben die
drei Eskimos, Gott helfe mir, gegen meinen ſchwachen Proteſt Hand an
unfere „piece de résistance“ gelegt, an die einzige Pemmikandoſe, die unſer
Strohhalm in der Stunde der Not ſein ſollte. Dieſe fröhliche Gewiſſenloſigkeit
gefällt meinem Bohemeſinn, und natürlich knabbere auch ich an meinem Anteil
vom Raub. Aber das Prinzip! —
Heute abend zwei weitere Hunde erſchoſſen und verfüttert. Der Schnee-
ſturm dauert an, jetzt ſtärker.
8. Juni. Die ganze Nacht Schneeſturm, jetzt am Morgen ſchlimmer als
je. — Eine Sturmmöwe (Larus glaucus) zeigte ſich nachts auf dem Eis beim
Zelt. Jetzt 2,7 Grad unter Null und Windſtärke 7 bis 8. Nachmittags läßt
der Sturm nach, und wir ſprechen vom Aufbruch. Zunächſt Haſen kochen und
eventuell ein Griff in den koſtbaren Kaffeehandſchuh. Ich lege dieſen Bericht
bei Kap Bennett nieder. Hoffe, Ihr kommt bald nach, und wir haben dann
gefunden, wo ſich die Moſchusochſen verborgenhalten. Jetzt zeigt ſich die Sonne
einen Augenblick; ſofort ſteigt die Weltanſchau ung um einige Grade.
Noch einer von unſern Hunden verendet. Lag tot im Schnee unter den
andern. Hendrik ſchoß heute in der Nähe des Zeltes ein Schneehuhn, das ein
Hund ihm wegſchnappte. Wohl bekomm's! Unſere Abteilung hat jetzt noch
19 Hunde, von denen zwei ſehr ſchlecht ſind. Es weht noch (Windſtärke 3), iſt
184 Siebentes Kapitel.
aber klar, ſo daß wir verſuchen müſſen, weiter zu kommen, um eine Kataſtrophe
mit den Hunden zu verhindern. Paſſieren hier am 8. Juni, 6 Uhr nachm.,
auf dem Wege nach Kap Payer. Wulff.
Lager direkt weſtſüdweſtlich von Low Point, 12. Juni 1917.
Knud Rasmuſſen. :
Bruder! :
Wir verließen alſo am 31. Mai abends Naresland. Hatten eine beſchwer⸗
liche Fahrt nach Kap Salor, wo Harrigan und ich am 1. Juni 10 Uhr nachm.
anlangten. Pearys Depot enthält drei Kannen Petroleum und ſechs Doſen aus⸗
gezeichneten Pemmikan, aber keine Keks. Wir nehmen eine Kanne DI und zwei
Doſen Pemmikan. Ließen einen Schlitten und alles, was wir entbehren konnten,
ſowie einen Bericht für Dich zurück. Abmarſch im Nebel am 3. Juni 4 Uhr
vorm. Paſſierten Kap Emory 6 Uhr vorm., wo ich einen Brief für Dich hinter⸗
legte. Wir hatten hier noch 26 Hunde. Weiter an Snow Island vorbei, quer
über den kleinen Fjord und über die niedrige Landzunge bei Blue Cape. Lager
ſüdlich von Kap Neumayer auf 83° nördlicher Breite. Hatten ſtarken Nebel
und fanden keine Spur von Moſchusochſen.
Abmarſch 6. Juni 1 Uhr vorm. um Kap Neumayer herum, wo ich einen
Brief an Dich hinterlegte. Die Hunde äußerſt elend. Lagerten bei Kap Bennett
6 Uhr vorm., hatten hier drei Tage Schneeſturm. Höchſt widerwärtig. Weiter⸗
marſch 8. Juni, 6 Uhr nachm. Wir hatten jetzt nur noch 19 Hunde. Bei Kap
Bennett hinterließ ich einen Brief an Dich. Da die Hunde nicht mehr konnten,
ließen wir auf einem Eisberg mitten im Mascart⸗Inlet einen Schlitten und
einen Teil des Gepäcks zurück. Packten das Notwendigſte auf einen Schlitten
und in ein Seehundfell, das die Hunde leichter über den tiefen Schnee ziehen
können. Keine Spur von Moſchusochſen. Lager weſtſüdweſtlich von Low Point
am 9. Juni, 6 Uhr vorm., hier größere Mengen von Haſen und Schneehühnern,
aber keine Moſchusochſen; ſahen einen Seehund, bekamen ihn aber nicht.
Am 10. Juni 8 Uhr nachm. reiſten Harrigan und der Bootsmann mit
Schlitten und 15 Hunden leiner blieb bei dem Zelt) über Jewell⸗Inlet und
dann zu Fuß nach dem Land bei Kap Wycander. Kehrten am 12. Juni 6 Uhr
vorm. zurück. Keine Moſchusochſen, keine Seehunde. Wir haben jetzt noch
14 Hunde. Die andern ſind verendet oder erſchoſſen und verfüttert worden.
Selber haben wir die ganze Zeit Schneehühner oder Haſen zu eſſen gehabt.
Ich habe auf ſchneefreien Stellen ziemlich viel botaniſiert. — i
Unter dieſen Umſtänden die Reife fortzuſetzen ift unmöglich. Wir haben
uns geeinigt, zu verſuchen, über Kap Salor Dragon Point zu erreichen, um wo⸗
möglich durch Seehundjagd eine Anzahl Hunde für die Rückreiſe zu retten.
Du kannſt wohl begreifen, daß es mir im Herzen wehtut, mein Arbeitsfeld im
Stich laſſen zu müſſen, gerade wo die Vegetation zu erwachen beginnt. Einige
Ergebniſſe habe ich ja gewonnen und hoffe, ſie auf der Rückreiſe noch weiter
zu vermehren. Die Ehre iſt alſo gerettet, und das iſt ja die Hauptſache. Ich
kann mit gutem Gewiſſen ſagen, daß ich getan habe, was getan werden konnte,
und daß ich auch keine Möglichkeit unbenutzt gelaſſen habe.
Aus den Depots bei Kap Salor und Dragon Point nehmen wir unſern
*
er
N
Kap Salor bis zu Lockwoods Steinmal. 185
Anteil an dem Rückreiſeproviant und legen auf der Rückfahrt weitere Briefe
für Dich bei Kap Bennett, Kap Salor und Dragon Point nieder. Dieſer Brief
wird in ein Steinmal auf der äußerſten Spitze von Low Point gelegt für den
Fall, daß ihr von Oſten her dorthin kommt.
Wir wollen die Heimreiſe über das Inlandeis nehmen und den Aufſtieg
im Innern des St.⸗George⸗Fjords verſuchen. Auch dort werde ich einen Brief
für Dich deponieren.
Dann wollen wir den Kurs nach dem Südende des Humboldtgletſchers
nehmen, daß die Küſtenberge in Sicht bleiben und uns zur Orientierung dienen
können.
Hören wir nicht bald von Euch, ſo werden wir verſuchen, mit Hilfe der
Eskimos in Etah ein Depot für Euch mit Lebensmitteln und Hundefutter in
der inneren ſüdöſtlichen Ecke der Peabodybai zu errichten, wo ich vermute,
daß ihr herabkommt.
Solltet Ihr auch im Herbſt noch nicht zurück ſein, ſo werde ich verſuchen,
eine Hilfsexpedition zuſtande zu bringen, die unſerm alten Kurs folgen ſoll und
Euch längs der Nordweſtküſte von Grönland und bei Fort Conger ſuchen ſoll,
wohin Ihr Euch, wie ich annehme, wenden werdet, um zu jagen, wenn Ihr in
Schwierigkeiten geratet.
Sollte ich von Etah oder Thule Gelegenheit zur Heimreiſe finden, ſo reiſe
ich, da ich ja wenig für Euch ausrichten kann, werde aber vorher Hendrik und
Freuchen, eventuell Paſtor Olſen (Miſſionspfarrer bei Kangerdlugſſuag) An⸗
weiſungen geben. ; :
Sollte ich vor Euch nach Dänemark kommen, jo werde ich bloß dem Komitee,
nicht aber der Allgemeinheit Beſcheid über den Verlauf und die Reſultate der
Expedition geben.
Hier bei Low Point laſſen wir alles, was wir entbehren können, zurück
und packen den Reſt auf einen Schlitten. Unſer Lager liegt mehr nach dem
Buys⸗Ballot⸗Fjord zu. Einen zurückgelaſſenen Schlitten findet Ihr eventuell
auf einem großen Sikuſſag⸗Berg mitten im Mascart⸗Inlet; dort findet Ihr
auch die kinematographiſche Kamera. Aus dem Stativ machen wir uns
Schneeſchuhe. Saal
Dieſer Bericht wird um Mitternacht im Nebel und Schneetreiben 13. bis
14. Juni 1917 niedergelegt, Glück auf, Junge!
Dein Freund
X Thorild Wulff.
Es war ſchöner Sonnenſchein geweſen, während wir ruhig
lagen. Jetzt kam wieder unſer Todfeind, der Nebel, vom Polar⸗
meer herangeſchlichen, feucht und kalt, und legte ſich über all das
Land, das wir erforſchen ſollten. Die Stimmung wurde mit einem⸗
mal unſagbar öde und traurig. Nicht zum wenigſten in Anbe⸗
tracht der Ausſichten, die wir nach den Ausſagen unſerer Kamera⸗
den weiter im Oſten zu erwarten hatten. Es war hoffnungslos,
186 Siebentes Kapitel.
die Reiſe bei unſichtigem Wetter fortzuſetzen; wir ſchlugen daher
das Lager um 10 Uhr abends zwiſchen Kap Neumayer und Kap
Bennett auf.
Es galt, der Zukunft ruhig ins Auge zu ſehen und die Ent⸗
ſchlüſſe, die zu faſſen waren, noch einmal gründlich zu erwägen.
Die Lage war in der Tat ſehr ernſt. An Proviant hatten wir nur
noch ein Stück Seehundfleiſch und ungefähr eine ganze Seehund⸗
haut mit Speck. Unſere Hunde konnten nicht ſobald wieder eine
Ajako mit ſeinem Seehund.
Hungerperiode aushalten, und ihre Zahl konnte auch nicht gut
weiter vermindert werden, wenn ſie zwei Schlitten ziehen ſollten.
Um die trübe Stimmung zu unterſtreichen, fällt das Baro⸗
meter ununterbrochen und verſpricht nichts Gutes für das Wetter,
das wir erwarten können. Während die andern ſchlafen, über⸗
denke ich unſere Lage.
Wird es möglich ſein, auf dieſem Weg vorzudringen, der den
andern die Hälfte ihrer Hunde gekoſtet hat? Ich bin bereit, den
Gedanken aufzugeben, bis nach Kap Morris Jeſup oder Kap
Bridgman zu gelangen, wie es immer mein Ziel geweſen iſt; aber
Kap Salor bis zu Lockwoods Steinmal. 187
den De⸗Long⸗ Fjord? Sehr, ſehr ungern! Nur mit ſchwerem Herzen
wird es geſchehen, wenn ich umkehren ſoll, trotz allem, was ich für
dieſe Expedition eingeſetzt habe, und ohne das Programm ganz
durchgeführt zu haben. Gewiß find jetzt die großen Fjorde an der
Nordküſte aufgenommen, und teuer iſt es uns zu ſtehen gekommen
wegen des Wildmangels, des Nebels und des tiefen Schnees,
aber den De⸗Long⸗Fjord? Von unſerm Lager ſind es nur etwa
100 Kilometer bis zu dieſem Arbeitsgebiet; doch wenn wir keine
Jagd finden, werden wir vermutlich alle unſere Hunde einbüßen.
Um 5 Uhr nachmittags :
koche ich Tee und wede Ajako
und den Bootsmann, die
beide aus Herzensluſt ge⸗
ſchlafen haben, ohne ſich von
nicht aufgenommenen Fjor⸗
den und unſichern Zukunfts⸗
ausſichten ſtören zu laſſen.
Ich betrachte es als meine
Pflicht, ihnen die Lage aus⸗
einanderzuſetzen und ihnen
eindringlich klarzumachen,
welche Bedeutung es für die
Expedition hat, wenn es
ihnen gelingt, hier an dieſem : Knud Kyhn
Ort Fleiſch zu beſchaffen. Der Bootsmann in friſch erlegtes Wild
Der Nebel liegt noch gekleidet.
immer über den Berggipfeln. Das Barometer fällt beſtändig,
gleichmäßig und rückſichtslos, aber eine leichte Briſe hat den Nebel
etwas gelichtet, ſo daß das Eis und die unterſten Bergpartien ſicht⸗
bar ſind; ſo ſchicke ich denn die beiden unverdroſſenen Jäger fort.
17. Juni. Um 2 Uhr morgens kommen ſie zurück. Ajako
mit einem Rieſenſeehund, der Bootsmann buchſtäblich in friſch er⸗
legtes Wild gekleidet mit einer Gans, drei Haſen und acht Schnee⸗
hühnern.
Wieder iſt eine ernſte Situation überwunden. Nie iſt eine
Beute nach unſerm Zelt gebracht worden, die eine ſo entſcheidende
Bedeutung für die Reſultate der Expedition gehabt hat, und ich
bin wirklich von einer tiefen Dankbarkeit gegen das Schickſal erfüllt,
188 Siebentes Kapitel.
das ſich den beiden jungen Eskimos mitten in dieſer Wüſte, in der
die andern es haben aufgeben müſſen, ſo gnädig gezeigt hat.
Wir können jetzt, ohne allzuviel zu wagen, die Reiſe nach dem
De⸗Long⸗Fjord fortſetzen und hier noch zwei oder drei Fütterungen
für jedes Geſpann deponieren. Wir feiern das Glück mit einem
Feſtmahl, woran auch die Hunde ihren reichlichen Anteil erhalten,
und beſchließen am Abend desſelben Tages aufzubrechen.
Das Polareis, das dicht an die Küſte herangedrängt iſt, iſt
jetzt von einzelnen Rinnen, ungefähr 4 Kilometer vom Land ent-
fernt, durchſetzt, und in einer dieſer Rinnen hat Ajako ſeinen See⸗
hund erbeutet, der wie gewöhnlich auffällig ſcheu war.
Nach Kap Mohn.
18.—20. Juni. Kap Neumayer iſt — jedenfalls bei dem Wetter,
wie wir es hier gehabt haben — ein ungewöhnlich trübſeliges
Vorgebirge, das wohl ein paar kleine Täler beſitzt, in denen eine
ſpärliche Grasvegetation belebend wirkt, das aber ſonſt nichts hat
wie Steine und wieder Steine, die nicht einmal durch ihre Form
dem Reiſenden irgendeine Anregung geben. Wir haben hier unſere
ſpannendſten Stunden verlebt, aber auch andere haben den Ort
gekreuzt, den Tod auf den Ferſen. Hier war es, wo Peary auf
ſeiner Nordpolexpedition im Frühjahr 1906 das Land zu ge⸗
winnen ſuchte, als er bei ſeinem Vordringen vom Nordende von
Grantland durch einen ſtarken nach Oſten gerichteten Strom aus
ſeinem Kurs verſchlagen worden war.
Ich ſehe über das aufgepreßte und ſchwer begehbare Polareis
hin, wo der Weg für die Schlitten mit Axten durch die Eiswälle
gebahnt werden mußte. Hungrige Männer, die ihr Leben mit
ein paar Biſſen rohen, gefrorenen Fleiſches von halbverhun⸗
gerten Hunden friſten mußten, arbeiteten ſich nach den Küſten hin,
wo auch wir es ſchwer gefunden hatten, uns am Leben zu erhalten.
Ich muß an meinen Freund Manigſſog denken, der auf dieſer
Fahrt die Augen erfror und fürs Leben gezeichnet wurde. Ver⸗
gebens hatte er verſucht, Schritt zu halten mit den Kameraden,
die in immer längeren Tagemärſchen um ihr Leben kämpften, je
mehr ſie ſich Grantland näherten, wo das Schiff und die Rettung
zu finden war. Als er ſchließlich nicht mehr konnte, wurde er in
Kap Salor bis zu Lockwoods Steinmal. 189
| einer kalten Schneehütte mit einem gefrorenen Hundeſchenkel als
einziger Nahrung zurückgelaſſen, und hier kämpfte er mit dem Er⸗
frieren, Tage hindurch ganz allein, bis ihn eine Entſatzabteilung
vom Schiff erreichte und dem Leben zurückgewann.
Mit unſerm Zigeunertemperament und dem Fang des geſtrigen
Tages waren wir ſo glücklich geſtellt, daß wir vorläufig nicht
im geringſten an die Lebenskonflikte dachten, die hier entſtehen
konnten. Jetzt gab es für uns wieder nur ein Vorwärts, das
unſere Loſung ſein ſollte, bis das Ziel erreicht war. Das Wetter
iſt ſchlecht. Schauer von kaltem, naſſem Schnee treiben beſtändig
über uns hin und verderben die Bahn. Den ganzen Tag arbeiten
wir uns vorwärts unter Schneegeſtöber, das ſtundenweiſe die
ganze Ausſicht benimmt. Da wir aber keine Zeit zu verlieren
haben, waten wir unverdroſſen durch den Schnee. Wenn es zwiſchen⸗
durch einmal hell wird, offenbart ſich vor uns die ſchönſte Land⸗
ſchaft. Überall im Mascart⸗Inlet find wir von hohen, kegel⸗
förmigen ſchneebedeckten Bergen umgeben, die von vielen Ab⸗
wechſlung und Leben bietenden Schluchten durchſchnitten werden.
Am Ende des Fjords ſehen wir die Stelle, wo der Stromwirbel⸗
kanal mündet; damit haben wir die Löſung für das offene Waſſer
gefunden, das uns anfangs ſo rätſelhaft war.
Draußen im Mascart⸗Inlet begegnet uns ein unſagbar trau⸗
riger Anblick. Wir finden hier auf dem hohen Eishügel den
Schlitten, den unſere Kameraden zurückgelaſſen haben. Verſchie⸗
dene armſelige Kleinigkeiten ſind neben ihm deponiert, um ihn zu
erleichtern; aber das Ergreifendſte iſt die Leiche eines armen zurück⸗
gelaſſenen Hundes, der von Kap Payer aus vergebens verſucht
hat, der Spur der Fortziehenden zu folgen, bis er erſchöpft dieſen
Schlitten erreichte, wo ſich nichts Eßbares fand. Mit Aufbietung
ſeiner letzten Kräfte iſt er auf die Querhölzer hinaufgekrochen,
wo er bei unſerer Ankunft tot dalag.
Der Sturm ſcheint ſtändig zuzunehmen; die Windſtöße peit⸗
ſchen uns das Geſicht mit naſſem Schnee, und da ſchließlich unſere
Kleider zu ſehr leiden, müſſen wir gegen unſern Willen ſchon bei
Low Point das Zelt aufſchlagen. Hier finden wir das Hunger⸗
lager der Kameraden, das keiner Erklärung bedarf; überall ſieht
man die Knochen der vielen Hunde, die ſterben mußten, um von
ihren Kameraden und den vier Männern verzehrt zu werden, die
190 Siebentes Kapitel.
trotz aller Ausdauer nicht imſtande waren, ſich genügend Jagd⸗
beute zu beſchaffen.
Vom Gipfel eines kleinen Berges entdeckten wir ganz nahe an
Land einen kleinen Seehund, der trotz Wind und Wetter aufs
Eis gekrochen iſt. Da er auf gutem Eis liegt, glauben wir ihn
ſchon beim bloßen Anblick erlegt und im Topf zu haben; denn
keiner von uns zweifelt, daß er im Laufe einer Stunde unſere
Beute ſein wird. Es zeigte ſich indeſſen bald, daß es ein Tier war,
das nicht nur fein Leben ebenſo lieb hatte wie wir, jondern,
das auch die Kunſt zu foppen verſtand. So oft einer von uns
ſich näherte, plumpſte er durch ſein Atemloch hinab, lange ehe
wir auf Schußweite heran waren. Doch kaum wandten wir unſere
Schritte wieder dem Land zu, ſo kroch er wieder herauf, um das
Spiel zu wiederholen, ſo oft wir die Jagd von neuem aufnahmen.
Wir begreifen nicht, aus welchem Grund die Seehunde hier,
wo fie nie gejagt werden, fo ungewöhnlich ſcheu find. Der Um⸗
ſtand, daß ihrer nur wenige ſind, kann möglicherweiſe ihre Auf⸗
merkſamkeit jedem ungewöhnlichen Laut gegenüber mehr ſchärfen
als an andern Orten, wo ſie ſich in größeren Mengen aufhalten;
bisher haben wir immer nur einen Seehund auf einmal geſehen.
Eisbären, die ihnen nachſtellen, gibt es auch nicht, jedenfalls
ſo wenige, daß ſie kaum eine Rolle ſpielen können. Es widerſpricht
auch unſerer Erfahrung, daß dieſe ſie ſcheu machen; denn in der
Melvillebucht, dem Eldorado der Eisbären, ſind die Frühjahrs⸗
ſeehunde zahmer und weniger nervös als an allen andern Orten
in Grönland.
Joe und Hans Hendrik machten dieſelbe Entdeckung auf der
Polaris⸗Expedition; es fiel ihnen ſehr auf, daß die Seehunde
beim allergeringſten Knirſchen auf weite Entfernung ſich durch ihre
Atemlöcher hinabfallen laſſen, ſo daß ſie Hall gegenüber die Ver⸗
mutung ausſprachen, es müßten Menſchen in der Nähe ſein.
Wir haben vom Land aus durch das Fernrohr eingehend ein
paar Seehunde beobachtet, ehe einer von uns die Jagd auf ſie
begann. Wenn ein Seehund im ſüdlichen Grönland aufs Eis
hinaufkriecht, um zu ſchlafen, wälzt er ſich eine Viertelſtunde im
Schnee, ſtreckt ſich dann aus, legt den Kopf aufs Eis und fällt
in ſo tiefen Schlaf, daß man gewöhnlich vorſichtig auf Schuß⸗
weite herankommen kann, ohne ihn zu wecken. Hier im Norden,
Kap Salor bis zu Lockwoods Steinmal.
191
bleibt der Seehund dagegen nur einige Minuten hintereinander
ruhig liegen, dann hebt er den Kopf und ſieht lig 5 nach
allen Seiten um, ganz als ob er un⸗
unterbrochen irgendeinen Hinterhalt
erwartete. Wir glauben, es ſind die
großen und plötzlich einſetzenden Eis⸗
preſſungen, die die Tiere ſo furchtſam
und nervös machen; denn wenn eine
Preſſung unter dem Druck der Eis⸗
maſſen des Meeres plötzlich und un⸗
vermutet einſetzt, wird ſie die kleine
Rinne, in der der Seehund ſich auf⸗
hält, ſchließen und ihm den Zugang
zum Meer und ſeiner Nahrung ver⸗
ſperren. Selbſt wenn es einem Gee-
hund glücken ſollte, durch die Rinne
zu ſchlüpfen, würde er doch leicht ris⸗
kieren, getötet zu werden. Das iſt
vermutlich der Grund, warum ſie bei
dem geringſten Laut zuſammenfahren
und überhaupt nur ganz kurze Zeit
in Schlaf fallen.
Nachdem wir eine Menge Zeit
mit dem neckiſchen Tier verloren hat⸗
ten, gaben wir die Eisjagd auf, um
unſer Glück im Land zu probieren.
Hier glückte es dem Bootsmann ſehr
raſch, drei fette, delikate Eisgänſe zu
erbeuten, die uns Troſt und Erſatz
boten.
Wir verbrachten einen Tag bei
Low Point bei ſehr wechſelndem
Wetter und einer Temperatur, die ſich
beſtändig auf 1 Grad unter Null
hielt. Im Norden iſt der Himmel
klar, aber fortwährend treiben dichte
Landſchaft beim Jewell Inlet.
Harald Moltke nach Skizze von Koch
Nebelwolken von Nordweſten heran Så hillen alles in einen
feuchten, grauweißen Schleier. Dann darf die Sonne wieder einige
192 Siebentes Kapitel.
Augenblicke ſcheinen, um ebenſo raſch wieder zu verſchwinden. Gegen
Abend legt ſich ein Nebelband feſt über die Berge im Südweſten,
aber da der Horizont freibleibt, beſchließen wir aufzubrechen.
Wir queren Jewell⸗Inlet, das mit ſeinen ſpitzen, hohen Alpen⸗
bergen ſehr an Mascart⸗Inlet erinnert. Wir paſſieren Kap
Wycander, das ſich als eine Inſel herausſtellt, und kommen darauf
in ein ſanft abfallendes Küſtenland, das nach der Mündung des
De⸗Long⸗Fjords führt. Alle dieſe glatten Berghänge find ſehr frucht⸗
bar und ſcheinen ein Lieblingsaufenthalt von Haſen und Schnee⸗
hühnern zu ſein. Ohne die Fahrt zu verzögern, gelingt es uns, vier
Haſen und ſechs Schneehühner zu erlegen. Aber trotz des Reich⸗
tums an Polarweide und Gras finden wir nicht das geringſte
Lebenszeichen von Moſchusochſen. Der ganze zuſammenhängende
hohe Bergrücken, der von dem Sund bei Kap Wycander ſich
in den De⸗Long⸗Fjord hineinzieht, hat an ſeinem Fuß eine große,
idylliſche Ebene.
Auf einem vorſpringenden tief gelegenen Punkt finden wir ein
kleines Steinmal, das zu unſerer Überraſchung einen Bericht von
Lockwood enthält.
In einer Rinne, 5 Kilometer vom Land, ſchießt Ajako einen
Seehund, und wir dürfen ſagen, daß wir jetzt für einen Aufent⸗
halt in dem Fjord, in dem unſere Arbeit abgeſchloſſen werden
ſoll, wohlverproviantiert ſind.
Lockwoods Reiſe.
So oft wir an dieſer einſamen Küſte Erinnerungen an Männer
treffen, die denſelben Kampf für den Fortſchritt kämpften wie wir,
haben wir den Eindruck, als ob unbekannte Männer uns begrüßen
und ihre Freundeshand den Kameraden reichen, die ihren Spuren
folgen. Lockwoods Steinmal liegt auf der großen Ebene, die ſich
vor einem hohen, Kap Mohn vorgelagerten Bergrücken ausdehnt.
Es iſt klein und unanſehnlich, nur reichlich ein Meter hoch, und
zieht daher in keiner Weiſe die Aufmerkſamkeit auf ſich. Dies iſt
die Erklärung dafür, daß ſowohl Peary wie Me Millan vorbei⸗
gefahren ſind, ohne es zu bemerken. Aber wir, die wir jede
kleine Unregelmäßigkeit im Gelände unterſuchen, in der ſtändigen
Hoffnung, doch einmal Wild anzutreffen, entdeckten es ſchon auf
bedeutende Entfernung. Der Bericht war in einer Konſervenbüchſe
ualposnploxs u? 1317 e
Rasmuſſen.
'sqaofjvzoyg sed Bunqunyg a m 31036
Kap Salor bis zu Lockwoods Steinmal. 193
untergebracht, die keineswegs waſſerdicht war; nichtsdeſtoweniger
war die Schrift leicht leſerlich, trotzdem Wind und Wetter 35 Jahre
lang über das offene Steinmal hingegangen waren. Der Bericht
enthält mit altnordiſcher Knappheit eine Mitteilung, daß im
Mai 1882 zwei Amerikaner, Lockwood und Brainard, mit dem
Grönländer Frederik Kriſtianſen an dieſem Ort vorbeikamen.
Lockwood war ein Mitglied der Greely⸗Expedition, die 1881
von Amerika auszog als ein Glied der großen internationalen
meteorologiſchen Unterſuchung, die in dieſem Jahr über die ganze
Welt vorgenommen wurde. Die Expedition, die in der Lady⸗
Franklin⸗Bai ungefähr bei dem Discoveryhafen überwinterte, wurde
ſoweit nach Norden von dem Dampfer „Proteus“ gebracht, der
unmittelbar nach der Landung der Expeditionsmitglieder heim⸗
kehrte. Hier wurde das Haus gebaut, das ſpäter unter dem Namen
Fort Conger berühmt geworden iſt.
In Amerika waren folgende Anordnungen getroffen, um die
Verbindung mit den ausgeſandten Gelehrten aufrechtzuerhalten:
Schon 1882 ſollte ein Schiff hinaufgeſandt werden, und falls es
ihm nicht gelang, in Verbindung mit dem Überwinterungsort zu
kommen, ſollten Depots auf Grinnell⸗Land, möglichſt weit im Nor⸗
den, angelegt werden. Das Jahr darauf ſollte ein neuer Verſuch
gemacht werden; mißglückte auch dieſer, ſo ſollte die Entſatz⸗
abteilung ſo hoch wie möglich im Smithſund vordringen, um dann,
wenn das Eis feſtgeworden wäre, mit Hilfe von Schlitten die
Verbindung mit der Expedition herzuſtellen ſuchen.
In Godhavn und Uperniwik wurden die beiden Grönländer
Jens und Frederik Kriſtianſen angeworben, die der Expedition
während ihrer ganzen Dauer von 1881 bis 1884 die trefflichſten
Dienſte leiſteten. Die Amerikaner nahmen im Gegenſatz zu Nares’
Leuten die Eskimos ganz in ihre Dienſte, und mit Hilfe dieſer
beiden ausgezeichneten Schlittenlenker gelang es ihnen, alle
früheren Rekorde zu ſchlagen.
* *
*
Lockwood war ohne Zweifel der intereſſanteſte und bedeu⸗
tendſte Mann in Greelys Stab. Am 3. April verließ er Fort
Conger mit einer Begleitung von zwölf Mann, von denen jeder
130 Pfund ziehen ſollte, und mit Frederik, der mit ſeinen acht
Rasmuſſen. 13
194 Siebentes Kapitel.
Hunden je 100 Pfund pro Hund transportieren ſollte. Schon
am 27. April ſchickte Lockwood alle menſchlichen Zugtiere nach
Hauſe und ſetzte mit Brainard und Frederik die Reiſe nach Norden
fort. Bei Kap Bryant fand er gleich uns die Ausſicht über das
Land, das Beaumont mit ſo ſtarkem perſönlichem Einſatz erforſcht
hatte, und er verſuchte ſofort, den Kurs nach Kap Man zu richten,
von wo aus die vielen Geheimniſſe des Landes im Norden ſich
den kranken Engländern geoffenbart haben würden. Kaum war
man indeſſen ein paar Meilen im Land vorwärts gekommen, als
man auf denſelben weichen Schnee ſtieß, der Beaumont ſoviel
Schwierigkeiten bereitet hatte. Kurz entſchloſſen ging Lockwood
auf dem Meer weiter, ſtatt ſich mit Einzelheiten zu beſchäftigen.
Schon am 4. Mai erreichte er Kap Britannia, das nach
Greelys Befehl das Ziel ſeiner Reiſe war. Aber da die Küſte,
an der er zurückkehren ſollte, gut mit Depots verſehen und die
Hunde noch keine nennenswerten Schwierigkeiten zu überwinden
gehabt hatten und daher bei vollen Kräften waren, entſchloß ſich
Lockwood ohne weiteres, die Reiſe fortzuſetzen, immer in einem
Abſtand vom Land, der ihm gute Bahn ſicherte. Die Reiſe läßt
ſich am beſten als eine Rekognoſzierung charakteriſieren; es war
Lockwood darum zu tun, Land ſoweit wie möglich im Norden zu
konſtatieren, ohne es näher zu unterſuchen. Daher konnte er gemäß
der Aufgabe, die er ſich geſtellt hatte, am 13. Mai mit gutem
Gewiſſen die amerikaniſche Flagge auf der Lockwoodinſel an der
Mündung des De⸗Long⸗Fiords aufpflanzen. England, das 300
Jahre lang die Ehre gehabt hatte, ſeine Flagge am weiteſten nach
Norden getragen zu haben, mußte hier der amerikaniſchen Expe⸗
dition weichen. Englands höchſte nördliche Breite, die Markham
mit 83° 20 26” erreicht hatte, war jetzt von Lockwood mit 83°
24 geſchlagen. Es war nicht viel, aber es war doch ein Rekord.
Greely beſpricht dieſes Ereignis in ſeinem Buch wie folgt:
„Drei Jahrhunderte hindurch hat England die Ehre gehabt,
den höchſten Punkt im Norden erreicht zu haben. Jetzt hat Lock⸗
wood, auf der Arbeit und den Erfahrungen der Engländer fußend,
ihre Reſultate von drei Jahrhunderten zu Land und zur See
übertroffen. Mit Lockwoods Namen iſt der ſeines unzertrenn⸗
lichen Schlittenbegleiters Brainard verknüpft, ohne deſſen wirk⸗
ſame Hilfe und raſtloſe Energie, wie Lockwood ſelbſt ſagt, das
Kap Salor bis zu Lockwoods Steinmal. 195
Werk nicht hätte vollendet werden können. Mit berechtigtem Stolz
blickten ſie an dieſem Tage von dem Ort ihres Erfolges, dem nörd⸗
lichſten Punkt (Lockwoodinſel) nach dem troſtloſen Kap, das den
Namen des großen Waſhington tragen mag, bis kommende
Generationen es überwinden.“
Mir ſcheint, daß Greely hier, ohne im geringſten Lockwoods
und Brainards Verdienſte zu ſchmälern, auch den Grönländer
Frederik hätte nennen dürfen. Denn ohne deſſen Hilfe wäre der
= Rekord niemals aufgeſtellt worden. Es geht auch aus gelegent-
lichen Außerungen Lockwoods hervor, wie hoch er Frederik als
Menſch und als Reiſebegleiter ſchätzte. Aber leider kam Lockwood
ſelbſt nie dazu, ſeine große Reiſe zu ſchildern. i
. Brainard, der ebenfalls eine ungewöhnliche Ausdauer beſaß,
3 äußert ſich in ſeinem Tagebuch: „Wir haben eine höhere Breite
ererreicht als jemals früher ein anderer Sterblicher und wir haben
Land gefunden, wo man keins vermutete. Wir entfalteten das
glorreiche Sternenbanner in einer heiteren Briſe mit unbeſchreib⸗
lichem Triumphgefühl.“
i Schon am 1. Juni, 60 Tage nach dem Aufbruch, waren alle
Teilnehmer der Expedition in beſter Verfaſſung wieder in Fort
Conger. |
Leider muß ich aus Platzrückſichten die Beſchreibung von
Greelys Expedition bedeutend einſchränken, obwohl ſie die be
rühmteſte von allen genannt werden muß, wenn man ihr tragiſches
Los in Betracht zieht. Die Mitglieder entfalteten während ihres
ganzen Aufenthalts in Fort Conger eine energiſche Arbeit, ſowohl
landeinwärts wie nach Norden. Am intereſſanteſten iſt die Er⸗
forſchung von Grantland, deſſen Inneres damals vollkommen un⸗
bekannt war und wo man mit Hilfe kleiner leichter Zugwagen weit
im Land herumkam. Von großer Bedeutung waren namentlich die
ethnographiſchen Reſultate inſofern, als man im Innern des
Landes in der Umgebung des Hazenſees verſchiedene Eskimo⸗
wohnplätze feſtſtellte. Greely nahm ſelbſt an den Inlandreiſen teil,
Hund der Umſtand, daß die Leute im Gegenſatz zu allen ihren Vor⸗
gängern infolge einer vernünftigen Diät nicht an Skorbut litten,
erhöhte in hohem Grad die Arbeitsfähigkeit.
Allen voran an Energie und Arbeitskraft ſtand Lockwood.
Im Jahre 1883 begibt er ſich von neuem auf eine Reiſe nach
13* i
196 Siebentes Kapitel.
Norden längs des von ihm entdeckten Landes und erreicht er⸗
ſtaunlich raſch die Schwarzhornklippen, wo er jedoch offenes
Waſſer trifft und umkehren muß.
Da der Weg hier verſperrt iſt, wählt ſich Lockwood, wieder
zuſammen mit Brainard und Frederik, einen neuen Weg quer
über Grinnell⸗Land, das er erforſcht und wobei er auch den großen
Greelyfjord entdeckt. Man hatte unterdeſſen zwei Überwinterungen
durchgemacht, ohne in Verbindung mit den Hilfsexpeditionen
zu kommen, die für die Rückreiſe in Ausſicht geſtellt waren. Da
unglücklicherweiſe der Befehl gegeben war, die Expedition ſollte,
wenn ſie nicht mit Schiffen in Verbindung käme, verſuchen, nach
Süden zu marſchieren, dem Entſatz entgegen, begann man ſich zum
Aufbruch zu rüſten. Dieſer ſollte äußerſt verhängnisvoll werden
und den Anlaß zu der größten Tragödie bilden, die ſich je bei
einer arktiſchen Expedition abgeſpielt hat.
Dazu kam, daß ſich an Bord zwiſchen einzelnen Mitgliedern
ſehr unerquickliche Verhältniſſe entwickelt hatten, ſo daß ſogar der
ſeltſame Fall eintrat, daß der Arzt der Expedition Dr. Pavy
während des letzten Sommers in Fort Conger wegen Inſubor⸗
dination in Arreſt geſetzt wurde. Wenn es Verhältniſſe im Leben
gibt, in denen ein kameradſchaftliches Zuſammenarbeiten unter
einer feſten Leitung eine unumgängliche Bedingung dafür iſt, daß
alles ſo geht, wie es ſein muß, ſo iſt dies auf arktiſchen Expeditionen
der Fall, wo die wenigen Menſchen, die miteinander leben, aus⸗
ſchließlich aufeinander angewieſen ſind. Darum bedeutet ein ſolches
Vorkommnis für die inneren Verhältniſſe der Expedition ein
großes Unglück. Es entſtanden auch Streitigkeiten darüber, ob
man nicht ein paar Schlitten nach der Littletoninſel hinabſenden
ſollte, wo die Anlegung von Depots verſprochen war. Es iſt
immer leicht, hinterher, wenn man von den Reſultaten der An⸗
ordnungen ausgehen kann, zu kritiſieren, und es läßt ſich nicht
leugnen, daß ein Plan wie der erwähnte, von den jetzt wohl⸗
trainierten Schlittenreiſenden im Verein mit einem der Eskimos
ausgeführt, ſehr angebracht ſcheinen mußte. Aber Greely war
dagegen und ſetzte durch, daß er aufgegeben wurde. Es wurde
beſchloſſen, alle ſollten an der Küſte von Grinnell⸗Land entlang nach
Süden ziehen, um mit Hilfsſchiffen oder Depots in Verbindung
zu kommen.
Kap Salor bis zu Lockwoods Steinmal. 197
Beim Aufbruch wurde der Befehl gegeben, daß alles Privat⸗
eigentum zurückbleiben ſollte; doch wurde jedem der Offiziere er⸗
laubt, 16 Pfund mitzunehmen, den Gemeinen dagegen nur 8.
Ein ſolcher Unterſchied wirkt in hohem Grade übel auf einer
Expedition, wo nicht der geringſte auf Rang gegründete Unter-
ſchied gemacht werden darf. Man traf auch die unglückſelige
Beſtimmung, alle Hunde ſollten bei Fort Conger zurückbleiben,
wodurch man ſich alle Jagdmöglichkeiten abſchnitt, falls man ge⸗
zwungen war, ohne Hilfe von außen eine neue Überwinterung
vorzunehmen.
Am 9. Auguſt wurde die Station von allen 25 Mann in
Booten verlaſſen. Zu dieſem Zeitpunkt war noch für ein Jahr
Proviant vorhanden, und man wußte auch, daß das Land reich
an Wild war. 5
Unter großen Schwierigkeiten erreichte man mit den Booten
zwiſchen treibenden Eisbergen Kap Sabine etwa 400 Meilen
von Fort Conger, wo man endlich in einigen Steinmalen Mit⸗
teilungen fand über das, was bisher geſchehen war, um der Expe⸗
dition zu Hilfe zu kommen. Das erſte Schiff hatte Schiffbruch
erlitten, das zweite hatte nicht vermocht, durch das Eis genügend
weit vorzudringen und war daher mit dem ganzen mitgebrachten
Proviant umgekehrt. In einem andern Steinmal wurde hoch und
heilig verſichert, daß alles geſchehen werde, was in Menſchenhand
liege, um die Expedition im folgenden Jahr zu retten.
Es blieb nichts weiter übrig, als dem Winter entgegenzu⸗
gehen, ſo gut man es vermochte. Ein elendes Haus, das eigentlich
nur aus einem Boot beſtand, das mit dem Kiel nach oben auf⸗
geſtellt war, wurde auf der Piminſel errichtet. Ein paar einzelne
Depots wurden wohl gefunden, genügten aber bei weitem nicht
für Herbſt, Winter und Frühjahr. Man kann ſich vorſtellen, mit
welcher Wehmut die Männer an das gute, warme Überwin-
terungshaus bei Fort Conger zurückdachten, wo ſich ſogar eine
Kohlenmine ein kleines Stück vom Haus entfernt fand, an all den
Proviant, der den ganzen Winter gereicht haben würde, und end⸗
lich an die Hunde, die die Jäger weit über das Land auf Moſchus⸗
ochſenjagden geführt haben könnten.
Das Hungerlager, wie es ſpäter genannt worden iſt, entrollt
die tragiſchſten Bilder von menſchlicher Not und Elend. Der
198 Siebentes Kapitel.
Herbſt verging noch am beſten. Während dieſer Zeit verſuchte
Greely die Stimmung der Leute durch Vorleſungen mitten in
Kälte und Hunger aufrechtzuerhalten. Später fehlten die Kräfte
zu jedem Widerſtand, und einer nach dem andern erlag unter den
fürchterlichſten Leiden. Der eine Eskimo, Frederik, ſtarb infolge
von Überanſtrengung bei einer mißglückten Jagd; der andere,
Jens, ertrank im Kajak bei einem Verſuch, ſich durch dünnes Eis
zu arbeiten, um zu einem erſchoſſenen Seehund zu gelangen. Als
die Expedition dieſe Berufsjäger nicht mehr hatte, ſchien alles
Rettung der letzten Aberlebenden.
langſam bergab gegangen zu ſein. Selbſt der energiſche, tat⸗
kräftige Lockwood konnte ſich nicht mehr dem Einfluß des Hungers
entziehen. Gegen das Frühjahr, als das Licht kam und die
meiſten außerſtande waren, zu gehen, entdeckte man erſt nach,
der Kataſtrophe, daß man zuſammen mit einem toten Kameraden
im Schlafſack gelegen hatte.
Endlich, am 22. Juni 1884, kam das erſehnte Schiff, aber
da waren von den 24 Männern nur noch ſechs am Leben. Greely
ſelbſt ſchließt ſeine Reiſebeſchreibung mit den ergreifenden Worten:
„Gegen Mitternacht des 22. hörte ich die Dampfpfeife der
Thetis", die auf Befehl von Kapitän Sålen feine Leute zu⸗
a
Kap Salor bis zu Lockwoods Steinmal. 199
ſammenrufen ſollte. Mein Gehör täuſchte mich nicht, und doch
konnte ich kaum glauben, daß ein Schiff ſich im Sturm ſo nahe
an Land wagen würde.
„Mit ſchwacher Stimme fragte ich Brainard und Long, ob
ſie Kraft genug hätten hinauszugehen, worauf ſie wie gewöhnlich
antworteten, daß ſie ihr Beſtes tun würden. Ich bat ſie zurück⸗
zukommen und uns zu erzählen, wenn ein Schiff in Sicht wäre.
Nach 10 Minuten kam Brainard von dem etwa 50 Ellen ent-
fernten Höhenrücken zurück und teilte in ſehr niedergeſchlagenem
Ton mit, daß nichts zu ſehen ſei, und daß Long gegangen ſei,
die Notflagge zu heißen, die vom Wind umgeweht war. Brainard
kroch wieder in ſeinen Schlafſack, während wir eine ergebnisloſe
Diskuſſion begannen über den Ton, den wir gehört hatten. Da
behauptete Bierderbick, das Schiff müßte im Payerhafen liegen,
was ich nicht glauben konnte; ich meinte, der Pfiff müßte von
einem Schiff herrühren, das an der Küſte entlang fuhr. Wir
hatten alle Hoffnung aufgegeben, als wir plötzlich fremde Stim⸗
men meinen Namen rufen hörten. Und plötzlich fühlten wir fo
ſtark, wie unſer entkräfteter Zuſtand es zuließ: unſer Land hatte
uns nicht im Stich gelaſſen, all die langwierigen Leiden waren
vorbei und die Reſte der Lady⸗Franklin⸗Expedition waren ge⸗
rettet!“ dj
Aaehtes Kapitel.
Vom De⸗Long⸗Fjord bis Kap Salor.
Am Ziel der Expedition.
. Rekognoſzierung des geſtrigen Tages hatte das Reſultat
ergeben, daß man von dem hohen 10 Kilometer fjordein⸗
wärts liegenden Berg eine Ausſicht über das ganze Gebiet, das
wir noch aufzunehmen hatten, erwarten durfte. Der Inſel gaben
wir den Namen Hanne⸗Inſel, während wir den Berg, der die
Baſis für die Beobachtungen abgeben ſollte, Thuleberg nannten.
Ohne größere Schwierigkeiten legten wir auf gutem Eis die
Strecke bis zum Thuleberg zurück, den Koch und Ajako ſogleich
beſtiegen. Ein heftiger Sturm herrſchte, und wir beobachteten den
ganzen Tag viele ſich vergrößernde Föhnwolken, die wie große
Drachen über den Himmel trieben. Schon um 2 Uhr kam Ajako
mit folgendem Brief von Koch zurück.
Thuleberg, 21. Juni 1917.
Ajako und ich kamen auf dem Gipfel, der 780 Meter hoch iſt, früh
genug an, um eine Mittagsbreite zu nehmen. Der De⸗Long⸗Fjord iſt groß
und reich an Überraſchungen. Ich will bei Kap Mohn beginnen. Südlich
davon ein Fjord nach Weſten mit Sund nach dem Polarmeer und einem Tal
nach dem Sund, ſüdlich von der Hanne⸗Inſel, jo daß ich Waſſer vor
der Kap⸗Ramſay⸗Inſel ſehe. Dann ein Fjord nach Südweſten mit Tal, vielleicht
nach dem Mascart⸗Inlet. Ferner ein Fjord nach Süden mit Inlandeis im
Hintergrund. Dann ein etwa 30 Kilometer langer, breiter Fjord nach Süd⸗
oſten, von wo aus zwei Täler nach Oſten führen, von denen das nördlichere
ſehr weit ins Land hineingeht. Vermutlich iſt hier ein See in der Richtung
nach dem Frederik⸗Hyde⸗Fjord. Der Wildfjord liegt nördlich von hier wie ein
Panorama. Die beiden großen neuen Fjorde können mit vertikaler Baſis auf⸗
genommen werden. Starker und kalter Wind wird leider die Zeichnung etwas
verzögern. Aber die Luft über Pearyland iſt andauernd ſehr klar.
Vom De⸗Long⸗Fjord bis Kap Salor. 201
Nach dieſem ermutigenden Bericht begebe ich mich ſofort zur
Vermeſſungsſtation hinauf. Es war eine beſchwerliche, an⸗
ſtrengende Wanderung über loſe Steine. Aber als ich endlich
volle Ausſicht über die Vermeſſungsſtation hatte, fiel ich faſt auf
den Rücken vor Überraſchung über die gewaltige arktiſche Land⸗
ſchaft, die man von hier überblickt.
Seewärts das Polarmeer, deſſen Macht und Stimmungen
ich ſchon ſo oft geſchildert habe, landwärts Pearyland, das ich
vom Independencefjord her kannte, das aber hier, dem erſtarrten
Meer gegenüber, einen ganz andern Wintercharakter hatte als
auf der Oſtſeite zur ſelben Jahreszeit. Das Land war überall
mit Schnee bedeckt und trug Gletſcher auf allen Gipfeln; jede
Hoffnung, hier ein Jagdland zu finden, das etwa dem Mohntal
auf Adam⸗Biering⸗Land entſpräche, war im Keim erſtickt.
Allerdings hatten wir am Fuß des Thulebergs auf einigen
kleinen grasbewachſenen Abhängen Reſte von ſehr alten Moſchus⸗
ochſenknochen gefunden. Aber ſie waren vom Alter verwittert und
ermutigten uns nicht, unſer Glück in dem Küſtenland der nächſten
Umgebung zu ſuchen.
Lockwood, der dieſem Fjord den Namen gegehen hat, iſt, weil
die Bahn dort günſtig war, ſo weit ſeewärts vorbeigekommen, daß
er keinen Überblick über den De⸗Long⸗Fjord hatte, den er als einen
einzelnen großen Fjord anſah, der ſich zwiſchen die Berge von
d Pearyland hineinſchob. Später iſt Peary ungefähr denſelben Weg
vorbeigekommen, und nach deſſen Beobachtungen, die ebenfalls
keine Einzelheiten über den Fjordkomplex geben konnten, hat man
die Theorie aufgeſtellt, der De-Long⸗Fjord erſtrecke ſich möglicher⸗
weiſe ſo weit ins Land hinein, daß er ſich wie ein großer Kanal
mit dem vermuteten Pearykanal etwa in der Mitte zwiſchen dem
Nordenſkiöldfjord und dem Independencefjord vereinige.
Nachdem der große Pearykanal durch unſere Unterſuchungen
teils auf der erſten, teils auf der zweiten Thule⸗Expedition zu
einer Mythe geworden war, beſtand noch die Möglichkeit, daß
der De⸗Long⸗Fjord im Gegenſatz zu dem kleinen Nordenſkiöldfjord
ſo tief einſchnitte, daß er an ſeinem Ende ein Umland habe von
der gleichen Art, wie ich es im Innern des Independencefjords ge⸗
funden hatte. War dies der Fall, ſo war die Entfernung von hier
bis zum wildreichen Mohntal im Adam⸗Biering⸗Land ſo kurz,
202 Achtes Kapitel.
daß eine Ruhe⸗ und Jagdſtation angezeigt geweſen wäre, die vor
allem dem Botaniker zugute gekommen wäre.
Dieſe Überlegungen waren es, die am 31. Mai zu der Teilung
der Expedition geführt hatten, einer Teilung, die an und für ſich
kein Bedenken hatte. Denn wir wußten genau, daß man ſich bei
gutem Eis verhältnismäßig raſch in die Gegend von Kap Morris
Jeſup retten konnte, wo die Amerikaner zweimal günſtige Ver⸗
hältniſſe gefunden hatten. Aber dieſer Plan hatte ſich, wie wir
ſchon gehört haben, als undurchführbar erwieſen, hauptſächlich,
weil ein Sturm von ungewöhnlicher Dauer die Hunde der erſten
Abteilung vernichtet hatte. Koch und mir war das Glück günſtiger
geweſen, und nun ſtanden wir auf dem Gipfel des Berges, von
wo aus die Arbeit der Expedition abgeſchloſſen werden konnte.
Der Fjord war das nördlichſte Ziel unſerer Reiſe. Noch hier,
bei dem letzten großen Fjord Grönlands, durfte man Über⸗
raſchungen und Ergebniſſe erwarten, die ſich an die ſchon ge⸗
wonnenen anſchloſſen. Dies war der Grund, daß wir trotz der
übeln Erfahrungen alles aufs Spiel geſetzt hatten, um dieſen
Punkt zu erreichen. Jetzt, da wir am Ziel ſtanden und wußten,
daß unſere Rückkehr durch Seehundfleiſch und ⸗-ſpeck geſichert war,
fühlten wir die unſagbare Freude, die nur der kennt, der eine
Arbeit in Angriff genommen und ſie trotz aller Schwierigkeiten
durchgeführt hat.
Wir gaben den beiden neuen Fjorden Namen und nannten
den Fiord nach Südweſten Th.⸗Thomſen⸗Fjord, nach dem Inſpektor
am Nationalmuſeum, der uns bei unſern Vorbereitungen ſo oft
mit gutem Rat zur Seite geſtanden hatte. Der große Mittelfjord
behielt natürlich ſeinen Namen De-Long- Fjord, während der etwa
30 Kilometer große Fjord nordöſtlich von dem mittleren Arm
nach Profeſſor Bernhard Böggild, einem Mitglied des wiſſen⸗
ſchaftlichen Komitees der Expedition, benannt wurde. — Nicht
nur die geologiſchen, ſondern auch die kartographiſchen und ethno⸗
graphiſchen Unterſuchungen fanden hier ihren natürlichen Abſchluß.
Die Küſtenſtrecke von dem De-Long⸗Fjord bis Kap Bridgman war
im Jahr 1900 von Peary bereiſt worden; hier hatten ſich keine
Abweichungen in den Konturen des Landes in Form von Inſeln
oder tieferen Einſchnitten ergeben. Hier gab es alſo für uns keine
Korrekturarbeit auszuführen, hier waren keine Irrtümer möglich.
Vom De-Long-Fiord bis Kap Sal. 203
Wenn Peary ſich an andern Stellen, wie bei dem Nordenſkiöld⸗
fjord und dem De⸗Long⸗Fiord, ganz zu ſchweigen vom Indepen⸗
dencefjord, geirrt hat, ſo habe ich ſchon früher gezeigt, daß dieſe
Irrtümer begreiflich waren. Bei den großen Strecken, die Peary
durch vollkommen unbekanntes Land zurücklegen mußte, kann es
Ua
4 „
(G 4816 4
BEN in (il
un
Das Gebiet des De-Long-Fjords.
Obere Karte nach unſerer Aufnahme; untere Karte, Stand
der Kenntnis vor der Zweiten Thule⸗Expedition.
leicht paſſieren, daß man nichts weiter erreicht, als nur die aller⸗
wieſentlichſten Konturen des Landes feſtzulegen, ohne ſich irgend⸗
wie auf Einzelheiten einzulaſſen. Letztere Arbeit bleibt den ſpäteren
Expeditionen überlaſſen. Wir hatten daher keinen Grund, die
Reeiſe fortzuſetzen, um jo mehr, als wir bei unſerer Abreiſe den
Fjord hier als unſer äußerſtes Ziel bezeichnet hatten.
Was mich anbetrifft, ſo hatte auch ich ein Reſultat erreicht,
204 Achtes Kapitel.
das ſich durch eine Fortſetzung nicht vertiefen ließ; denn die letzte
Möglichkeit, daß eine Eskimowanderung jemals nördlich um Grön⸗
land herum ſtattgefunden haben könnte, war jetzt durch die Natur,
wie wir ſie hier bei dem letzten großen Fjord an der Nordweſtküſte
fanden, abgeſchnitten. Das Umland bietet keine Lebens⸗
bedingungen, und die von ſchwimmendem Inlandeis bedeckten
inneren Teile des Fjords machen den Eskimos die allein rettende
Seehundjagd unmöglich.
Trotz all dieſer Erwägungen, die in jedem Punkt unangreifbar
waren und die uns darauf hinwieſen, ſchleunigſt die Rückreiſe an⸗
zutreten, konnte ich mich doch nicht von dem Gedanken losmachen,
daß ich mit Rückſicht auf die Geſamtwirkung unſerer Arbeit gern
ganz um Kap Bridgman herumgekommen wäre, das im Jahre
1907 das Ziel der vortrefflich durchgeführten Schlittenreiſe des
Kapitäns J. P. Koch geweſen war. Dann erſt hätten däniſche
Reiſende Grönland ganz umſponnen. Immer wieder mußte ich
mir ſagen, daß auf dieſer Strecke in der Zeit, die uns zur Ver⸗
fügung ſtand, keine Arbeit geleiſtet werden konnte. Aber die Un⸗
ruhe wollte doch nicht aus dem Herzen weichen, und die einfache
Handlung, den Danebrog an der Stelle zu heißen, wo däniſche
Forſcher die Unterſuchung Grönlands abgeſchloſſen hatten, er⸗
ſchien mir als ein ſchöner Abſchluß unſerer langen Reiſe.
Aber das Ganze war ja nur eine Formſache, ja ich will ſogar
zugeben, eine Sache der Eitelkeit, und die mußte zurückſtehen vor
den ernſten Reſultaten, für die ich verantwortlich war. Die erſte
Abteilung war nach Süden gezogen, um die Reſte ihrer elenden
Hunde zu retten. Es galt, ſo raſch wie möglich mit ihr in Ver⸗
bindung zu kommen. Und man mußte zugeben, daß auch unſere
eigene Lage nicht günſtig war. Ich habe erzählt, daß Koch im
Sherard⸗Osborne⸗Fjord krank wurde und infolge der Fleiſchdiät
dauernd an Verdauungsbeſchwerden litt. Obgleich er mit der ihm
eigenen Energie feine Arbeit ohne Unterbrechung bewunderns⸗
wert ausführte, mußte er doch geſtehen, daß er zeitweiſe ſeine
Kräfte ſo geſchwächt fühlte, daß er nicht an einer forcierten Tour
nach Kap Morris Jeſup oder Kap Bridgman teilnehmen konnte.
Wir hatten oft davon geſprochen, daß Ajako und ich dieſe Reiſe
allein machen ſollten, während Koch und der Bootsmann mit dem
einen Hundegeſpann und dem größten Teil des Proviants, den
Vom De⸗Long⸗Fjord bis Kap Salor. 205
wir uns verſchafft hatten, langſam nach Kap Salor hinabfahren
ſollten, wo die ganze Expedition ſich plangemäß wieder zu ſammeln
hatte. Aber als es zur Entſcheidung kam, wagte ich doch nicht,
die Expedition unter den ſchwierigen Verhältniſſen, mit denen wir
zu kämpfen hatten, noch weiter zu teilen. Wir errichteten daher
am ſelben Tag unſer Steinmal auf dem großen Berg, der uns die
abſchließende Ausſicht über den letzten noch unbekannten Teil Grön⸗
lands gewährt hatte.
Endlich heimwärts.
22.—23. Juni. Die plötzliche Ankunft des Frühjahrs hat nun
den Schnee ſo weit geſchmolzen, daß man anfängt, Waſſer unter⸗
halb des Schnees anzutreffen. Dies iſt ein Stadium, das mit
Recht von allen arktiſchen Reiſenden gefürchtet iſt; denn jeden
Augenblick wird der Schlitten von dem naſſen Schnee feſtgeſaugt,
und man kann ihn nur mit äußerſter Mühe wieder losbekommen.
Die Hunde, die bei dem guten Seehundfutter ſchon wieder die
Schwänze hochtrugen, werden leider in dieſem Moraſt raſch mut⸗
los. Es ſcheint uns daher hohe Zeit, uns auf den Weg nach
Dragon Point zu machen.
Sogar unſere Schneeſchuhe, an denen wir ſoviel Freude ge⸗
habt haben, werden ſchwer wie Blei von dem naſſen Schnee, der
daran feſtklebt. Einreiben mit Stearin hilft immer nur für ganz
kurze Zeit, und die Schneereifen, die uns ſo gut in dem weichen
Schnee trugen, werden ebenſo wie die Schneeſchuhe in dicke Schichten
feuchten Schnees eingehüllt und hängen wie Klötze an unſern
Füßen.
Wir brachen am 22. Juni um 7 Uhr auf und legten bis 1 Ahr
die 22 Kilometer nach Lockwoods Steinmal zurück. Dann ſchlugen
wir das Zelt auf und kochten Haſen, ſoviel wir zu eſſen ver⸗
mochten; wir hatten nämlich unterwegs ſieben erlegt, mit einem
Stück Speck werden dieſe mageren Hajen zu einer Delikateſſe.
Wir leiden unter der Hitze und gehen halbnackt herum; die Tem⸗
peratur hat ſich während des Tages zwiſchen 3 und 6 Grad
Wärme bewegt.
Um 9 Uhr abends ſetzten wir die Reiſe fort, nachdem in dieſem
Lager jeder einen ganzen Haſen verzehrt hat. Die milde Tem⸗
peratur hat jetzt einem feuchten, kalten Wetter Platz gemacht.
206 Achtes Kapitel.
Das ganze Eis des Polarmeers treibt uns ſeine Kälte ins Geſicht
und ſchafft nicht gerade eine Johannisfeſtſtimmung.
Schon jetzt ſcheint Bewegung in das Eis zu kommen; wir
können deutlich eine Rinne von Kap Mohn bis nach Kap Neu⸗
mayer hinüber verfolgen, während eine andere, etwa zwei Kilo⸗
meter vom Land entfernt, der Küſte auf Kap Wycander zu folgt.
24. Juni. Wie wir erwartet hatten, verbeſſerte das kühle
Wetter die Bahn, und es iſt ein Vergnügen, zu ſehen, wie die
Hunde vorwärts ſtürmen.
Wir wünſchen alle, das Johannisfeſt zu feiern; dieſer Wunſch
ging auf eine hübſche Art in Erfüllung. Als wir eben den
Bootsmannſund bei Kap Ramſay paſſierten, flog eine große Eis⸗
gans über unſern Köpfen daher, umkreiſte uns einmal und ließ
ſich dann zu unſerer großen Verwunderung ein Stück vor den
Hunden, gerade in guter Schußweite, nieder. Selbſtverſtändlich
mußte ſie ihre Neugier mit dem Leben bezahlen und lieferte uns
einen köſtlichen Feſtbraten, der nach allen Regeln der Kunſt in Fett
gebraten wurde. — Die Tagereiſe endete um 6 Uhr vormittags
bei Low Point, wo wir uns wieder für ein paar Stunden von
dem Seehund zum beſten haben ließen, der hier ſein feſtes Stand⸗
quartier zu haben ſcheint. Nach wiederholten, vergeblichen Ver⸗
ſuchen entſchloſſen wir uns, von der Notwendigkeit gezwungen, ihn
am Leben zu laſſen. Die Entfernung des Tages betrug 24 Kilo⸗
meter.
25.—26. Juni. Der erſte Gedanke, jo oft man erwacht, gilt
dem Eis und der Bahn, die man finden wird. Wir ſtecken jetzt ſo
in der ſchweren Arbeit, daß man in den erſten Stunden des Tage⸗
marſches ſich nur mit einer gewiſſen Schwierigkeit vorwärts be⸗
wegt. Man fängt unwillkürlich langſam an — es gilt die Kräfte
zu ſchonen —, aber gewöhnlich verliert ſich die Steifheit in den
Gliedern erſtaunlich raſch, und die Reiſe wird in feſtem Tempo
beſchloſſen. i
Die Schneeſchmelze iſt jetzt die Küſte entlang in vollem Gange.
Große Seen liegen unterhalb des Eisfußes, und das Waſſer hat
ſchon angefangen, ſich einen Ablauf nach den Spalten zu ſuchen,
die dicht unter Land entſtehen.
Bei Kap Bennett finden wir wieder ein zuſammengeſtürztes
Steinmal, worin ein kleiner Bericht von Lockwood niedergelegt
Vom De-Long-Fjord bis Kap Salor. 207
war. Vermutlich war während einer Kaffeeraſt ein kurzer Gruß an
andere Küſtenwanderer hingekritzelt worden, ſonſt ſtand nichts
Bemerkenswertes auf dem Zettel.
Nach 12 Stunden einförmigen Marſches auf ſchwieriger Bahn
über Schnee, unter dem das Waſſer ſtand, gelangten wir nach
Kap Neumayer, womit wir eine Entfernung von 30 Kilometer
zurückgelegt hatten.
Hier zwangen uns wieder Regen und Schnee ſtillzuliegen; um
in Zukunft nicht zu ſehr unter der ſchlechten Bahn zu leiden, über⸗
zogen wir unſere Schneeſchuhe und die Schlittenſchneeſchuhe mit
Seehundfell, das auf naſſem Schnee ſehr leicht gleitet.
Am Fleiſchtopf.
227. Juni. Die Eskimos haben eine Sage, daß auf dem
Meeresgrund eine alte Hexe lebt, die über alle Jagdtiere herrſcht.
Sie hat eine verwickelte, umſtändliche Lebensgeſchichte. Urſprüng⸗
lich war fie mit einem Sturmvogel in Menſchengeſtalt verheiratet;
aber auf einer Bootfahrt, auf der man nahe daran war unter⸗
zugehen und glaubte, ihr Mann ſei die Urſache des Sturmes, warf
man ſie über Bord. Als ſie verſuchte, ſich am Rand des Bootes
feſtzuklammern, wurden ihr die Hände abgehauen, worauf ſie
unterſank. Auf dem Meeresgrunde entwickelte fie ganz beſondere
große Eigenſchaften, die ſie zur Herrſcherin über alle Seetiere
machten. Sie errichtete ſich ein Häuschen, wo ſie nach Menſchenart
wohnen konnte, und lebte hier herrlich und in Freuden. Eine
Unbequemlichkeit war aber mit ihren handloſen Armſtümpfen
verknüpft, ſie konnte ſich das Haar nicht ordnen, noch ſich
von Ungeziefer reinigen; dabei mußten ihr die weiſen Männer
unter den Menſchen durch Geiſterfahrten nach dem Meeresgrund
helfen. In ihrer Freude darüber ſandte ſie große Mengen von
Jagdtieren nach den Fangplätzen, ſo daß an dem Wohnplatz, der
ſeinen Geiſterbeſchwörer zu ihr herabgeſandt hatte, Reichtum und
Wohlſtand herrſchte. Man gab ihr den Namen „der große
Fleiſchtopf“.
Obgleich niemand von uns im Beſitz von Gaben iſt, die uns
eine Geiſterfahrt zu der Quelle des Wohlſtands hinab geſtatten,
meint Ajako doch, daß wir die Gunſt des Weibes gewonnen haben,
denn nach mehrſtündiger anſtrengender Reiſe durch Schnee und
208 Achtes Kapitel.
Waſſer kamen wir um eine kleine niedrige Landſpitze herum, wo
wir buchſtäblich ſtrandeten, weil keiner von uns mehr konnte. Wir
beſtiegen eine Höhe, um einen Überblick über das Land zu er⸗
halten, und entdeckten zu unſerer großen Überraſchung, daß nahe
bei unſerm Lagerplatz eine ganze Anzahl Seehunde lagen. Es
war das erſtemal, daß uns ein ſolches Glück lächelte; denn die
Seehunde, die wir bisher erbeutet hatten, waren einzelne Tiere.
Es wurde ſofort Jagd auf ſie gemacht, und im Laufe einiger
Stunden hatten wir drei große, fette Seehunde geſchoſſen. End⸗
lich konnten wir füttern, ohne ſparen zu müſſen, und die Hunde
liegen jetzt mit aufgetriebenem Magen da und ſchnappen nach
Luft vor Sattheit und Wohlbefinden. Außerdem hatte uns
das freigebige Land, das Blue Point heißt, drei Haſen und ein
paar Schneehühner geſchenkt.
Wir ſetzen daher unſere Maſtkur konſequent fort. Die Jagd
weiterzubetreiben, iſt nutzlos, da wir bei der ſchlechten Bahn
nicht mehr fortſchaffen können; aber wir ſehen nun unſerm künf⸗
tigen Geſchick mit mehr Zutrauen entgegen, und in froher Dank⸗
barkeit ſetzen wir der alten Eskimoſage ein Denkmal und nennen
dieſen Landſtreifen den „Fleiſchtopf“.
In der heißen Sonne hat niemand Luſt, das Zelt zu er⸗
richten. Wir breiteten unſere Schlafſäcke in ein paar länglichen
Vertiefungen aus, die wir mit Kaſſiope gepolſtert haben, und
haben damit das weichſte Lager für einen ermüdeten Körper er⸗
halten. Wir können gerade noch unſere Pfeifen ausrauchen, ehe
der Schlaf uns übermannt. Ein Volk Schneehühner läßt ſich
gackernd bei den Schlitten nieder, aber niemand denkt ans Töten.
Die Begegnung mit den Kameraden.
28. Juni. Seit wir den De⸗Long⸗Fjord verlaſſen haben, be⸗
ſchäftigen ſich unſere Gedanken fortwährend damit, wie es wohl
den Kameraden gehen mag; ihr Aufzug mit den ſchwankenden,
ausgehungerten Hunden war wenig erfreulich geweſen. Wenn ſie
nicht bald Jagd finden, werden ſie vermutlich alle ihre Hunde ver⸗
lieren, und das würde eine Schwierigkeit mehr für die Rückreiſe ſein.
Es war ungefähr an der Stelle dieſes Lagers, wo wir ſie
das vorige Mal getroffen hatten; damals war beſchloſſen worden,
ſie ſollten ſich nach dem Stromwirbel begeben und verſuchen, See⸗
WM szuouunvog 179 03017%
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Vom De⸗Long⸗Fjord bis Kap Salor. 209
hunde zu erlegen. Wir erwarteten nun, in der nächſten Nachbar⸗
ſchaft einen Bericht von ihnen zu finden. Aber vergebens ſuchten
wir an allen vorſpringenden Punkten nach Steinmalen, und da wir
nichts fanden, begannen wir allmählich zu glauben, ſie befänden
ſich noch im Innern des Fjords. |
Auf ſchwerer Bahn ſetzten wir nach Kap Salor hinüber; es
ging langſam, ſehr langſam mit unſern überſättigten Hunden und
den fleiſchbeladenen Schlitten. Der Schnee war wie gewöhnlich
naß und weich; die Schneeſchuhe trugen uns allerdings, aber die
Hunde ſanken tief ein, und meiſt war Waſſer unter dem Schnee.
Koch war auf Schneereifen ein Stück voraus, während wir
andern mit Schlitten und Hunden folgten. Aber je mehr er ſich
Kap Salor näherte, beſchleunigte er allmählich ſeine Schritte, und
wir, die wir ſeinen Spuren folgten, konnten ſehen, wie ſeine
Schritte immer länger und länger wurden. Ein paar Kilometer
weiter vorn entdeckten wir endlich den Grund für ſeine plötzliche
Eile; wir erblickten auf einmal das Zelt unſerer Kameraden auf
dem äußerſten Vorſprung der Eliſoninſel. Auch wir beſchleunigten
nun unſere Gangart, und vorwärts ging es durch Schnee und
Waſſer. Mit klopfendem Herzen trabten wir durch den Schnee⸗
ſchlamm; ſelbſt die Hunde wurden von unſerm Eifer angeſteckt und
liefen raſcher. Welchen Neuigkeiten mögen wir entgegengehen?
Hatten ſie noch Hunde? Oder ſtanden wir vor einer Wanderung
von 1000 Kilometer mit nur drei Schlitten?
Man bildet hier oben in der Vereinſamung, ſo weit von andern
Menſchen entfernt, in dieſen großen ſchweigenden Fjorden eine Ge⸗
ſellſchaft für ſich, in der die geringſte Kleinigkeit Intereſſe und Be⸗
deutung erhält.
Kein Wunder daher, daß die Neuigkeit, der wir jetzt entgegen⸗
gingen und die ſo entſcheidend für unſere Entſchließungen war,
uns ungeduldig und nervös machte; denn kein Leben ließ ſich bei
dem Zelt ſehen, und wir pflegten doch immer, ſo oft wir einige
Tage voneinander getrennt waren, das Wiederſehen mit Rufen
und frohen Gebärden zu feiern. Endlich löſt ſich nach längerer Zeit
die Spannung. Ein Mann zeigt ſich vor dem Zelt und beginnt
vor Freude über unſern Anmarſch mit den Armen zu fuchteln.
Wir ſind jetzt auf Rufweite heran; wir machen halt, einen Augen⸗
blick herrſcht atemloſe Stille.
Rasmuſſen. 14
210 Achtes Kapitel.
„Wie geht es euch?“
„Gut!“
„Wie viele Hunde habt ihr noch?“
„Neun!“
„Habt ihr zu eſſen?“ 8
„Harrigan hat ſechs Seehunde geſchoſſen!“
Jubel und Wiederſehenswirrwarr.
Dann wurden die Flaggen geheißt, die ſchwediſche und die
däniſche, und wir feierten das Wiederſehen nach beſtem Expe⸗
ditionsbrauch. In beſonderem Raffinement wurde eine Doſe
von Pearys Pemmikan verteilt, die ungleich allen andern, die ich
gekoſtet, eine wirkliche Delikateſſe darſtellt, hauptſächlich wegen
der vielen Roſinen, die ihm den ranzigen Geſchmack nehmen, der
ſonſt dem Pemmikan immer anhaftet. p
Unſere Ankunft fand ſchon morgens um 6 Uhr ſtatt; wir
konnten alſo einen wirklichen Ruhetag halten und alle möglichen
Zukunftshoffnungen gründlich erörtern. Aber zunächſt mußten wir
Neuigkeiten miteinander austauſchen. Unjere Schidjale ſeit der Be⸗
gegnung bei Kap Neumayer ſind bereits bekannt. Die Erlebniſſe
der andern gebe ich nach einem Steinmalbericht wieder, den Wulff
für uns hinterlegt hatte, in dem Glauben, unſer Zuſammentreffen
werde erſt bei Dragon Point ſtattfinden.
Lager im J.⸗P.⸗Koch⸗Fjord, 22. Juni 1917.
Bruder!
Nach der Trennung am 16. Juni gingen wir über das Vorgebirge öſtlich
von Blue Point und lagerten auf der Südſeite des Emoryfjords. Erſchoſſen
zwei Hunde als Futter. Am nächſten Tag mit allem Gepäck durch den „Kanal“,
der in der Mitte durch eine 10 Meter hohe ſchneebedeckte Landzunge geteilt iſt,
zu Eurem früheren Zeltplatz im J.⸗P.⸗Koch⸗Fjord. Harrigan hat einen See⸗
hund geſehen und erlegt. Einige Tage Schneeſturm hier. Eine 28 ſtündige
Fahrt mit leerem Schlitten in das Innere des Fjords ergab eine Anzahl Haſen
und Schneehühner, ſowie zwei Gänſe, aber keine Moſchusochſen oder Seehunde.
Zwei Hunde ſterben. Wir haben heute am 22. Juni noch zehn Hunde, natürlich
in äußerſt elendem Zuſtand. Ich habe gute botaniſche Reſultate gewonnen,
ſo daß Grönlands Nordküſte jetzt botaniſch ganz gut gekennzeichnet iſt.
Wir verlaſſen heute am 22. Juni abends den Fjord mit dem Depot bei
Kap Salor als Ziel. — Suche wenn möglich meine Kamera und drei bis vier
Filmpakete zu retten, ſo daß ich beim Humboldtgletſcher oder in Etah ein paar
Vegetationsbilder aufnehmen kann, die ich gern haben möchte. — Wir wollen
alles tun, um wenigſtens ein Hundegeſpann für die Rückreiſe zu retten, aber
Vom De⸗Long⸗Fjord bis Kap Salor. 211
es ſieht ſchlecht aus; denn von den zehn vorhandenen ſind drei bereits dem
Tode nahe.
23. Juni, Mittſommerabend.
Ein Hund ſtürzte und wurde geſtern abend ſterbend auf dem Eis zurück⸗
gelaſſen. Heute morgen ſahen wir am Südende der Eliſoninſel mehrere See⸗
hunde und ſchlugen ſofort das Lager auf der Oſtſeite auf. Endlich haben wir
heute drei Seehunde erlegt! Die Hunde (jetzt neun an der Zahl) haben eine
ordentliche Fleiſchfütterung bekommen, die erſte ſeit 24 Tagen. Es ift ja ein
wahres Wunder, daß ſie dieſe Hungerperiode überlebt haben bei einer Er⸗
nährung mit toten, ausgehungerten Kameraden, alten Fell⸗ und Riemenſtücken
von unſeren Schlittengeſchirren, Stiefeln und Taſchen, Haſeneingeweiden, den
abgenagten Haſenknochen und unſern Exkrementen. Es tat ordentlich wohl zu
ſehen, wie dieſe kleinen energiſchen Tiere das ſchöne, blutige Seehundfleiſch
gierig verſchlangen. Wir hatten am 31. Mai 26 Hunde und heute am 23. Juni
noch 9, haben alſo während der Hungerperiode 17 Stück verloren.
\ 24. Juni, Mittſommertag.
Ich erwache ½2 Uhr früh und friere. Es find draußen 1,5 Grad unter
Null. Meine Gedanken ſind in dieſen Tagen häufig zu Hauſe in Schweden — herr⸗
liche Zeit zu Hauſe!
Hundepemmikan und eine Pfeife Tabak waren mein Frühſtück. Aber,
mit Hilfe von Holzſpänen vom Schlitten und von Speck werden wir bald Feuer
gemacht haben, und dann kochen wir bei Tagesanbruch eine ordentliche Mahl⸗
zeit Seehundfleiſch. Ich gäbe viel darum, wenn ich heute ein ordentliches
ſchwediſches Mittſommerfeſt daheim feiern könnte, mit Sonne und Wärme,
Blüten und Blättern, Vogelgeſang und Kuckucksruf, ſommerlich gekleideten Damen,
gutem, reichlichem Eſſen und Trinken uſw. Hätte man nur etwas Brot —
das letzte Brot habe ich am 5. April an Bord der „Danmark“ gegeſſen. Von
Pilſener wollen wir lieber gar nicht ſprechen, jo etwas hörte ſchon zu Beginn
der Zeitenrechnung auf zu exiſtieren. Nein, lieber nicht mehr ans Eſſen denken.
Wir wollen froh ſein heute, da wir unſere Seehunde von geſtern für uns und
für die Hunde haben. Wir ſitzen im Schlafſack und bleiben wohl noch den
ganzen Tag hier; denn wir haben das Zelt in einer ungewöhnlich ſchneereichen
Gegend aufgeſchlagen, faſt ganz ohne ſchneefreie Flecken. Natürlich findet ſich
nicht ein Grashalm, nicht eine Flechte oder ein Moos für den Botaniker. Der
Schnee iſt tief und naß, ſo daß der Schlafſack unſer Zufluchtsort iſt. Wir müſſen
eine Weile wegen der Hunde hierbleiben, die nach dem langen Hungern ihr
Mahl in Ruhe verdauen ſollen. Würden wir ſofort weiterfahren, ſo würden
ſie ſicher die Nahrung wieder ausbrechen, und damit ift in dieſen Zeiten weder
uns noch den Hunden gedient.
Die Hunde, die geſtern aus hygieniſchen Gründen nur eine mäßige Menge
Seehundfleiſch erhielten, haben ſich heute ſatt freſſen dürfen, ſo daß ſie nicht alles
auffreſſen können, etwas Unerhörtes in dem Leben eines Eskimohundes. Mit
runden Leibern liegen ſie im Schnee und ſchlafen ſüß und ſatt, was ſie wirklich
verdienen. Auch wir ſind augenblicklich ganz geſchwollen von Seehundfleiſch,
14 *
— —
212 Achtes Kapitel.
Leber und Speck. Jetzt Tabak — draußen Graupelwetter — aber im ganzen
ein den Umſtänden nach ganz erträglicher Mittſommertag.
3 Uhr nachmittags. Harrigan hat wieder einen Seehund erlegt und noch
mehrere geſehen.
25. Juni. Aufbruch vom Seehundlager öſtlich der Eliſoninſel ½2 Uhr
früh. Ankunft bei dem Depot am Nordende der Inſel ½9 Uhr vormittags.
Kap Salor, 9 Uhr vormittags.
Bei dem Seehundlager ließen wir alle Renntierfelle zurück; denn bei dem
Depot haben wir Moſchusochſenfelle für die Reiſe über das Inlandeis. Die
Hunde ſind nach den zwei Fütterungen in beſter Laune, und mehrere ſtrecken
bereits die Schwänze in die Höhe, was ich lange nicht geſehen habe. Aber
ſchwach ſind die armen Teufel noch immer.
Lockerer, naſſer, tiefer Schnee. Langſame Fahrt wegen der armen Hunde.
Holten auf dem Weg die zwei großen Seehunde, die Harrigan auf dem Eis
zurückgelaſſen hat. Wurden indeſſen zu ſchwer für die Hunde, ſo daß die See⸗
hunde liegenbleiben und ſpäter geholt werden müſſen. Wir hatten geglaubt, das
Depot bei Kap Salor in zwei bis drei Stunden zu erreichen, aber in dieſer
klaren arktiſchen Luft beurteilt man die Entfernung immer zu kurz, dazu der
lockere tiefe Schnee und viel Waſſer in den Vertiefungen zwiſchen dem hügeligen
Sikuſſageis. Kamen erſt 1,9 Uhr vormittags zum Depot, alſo erſt nach
ſieben Stunden ermüdenden Marſches. Fanden alles in guter Ordnung, ſo wie
wir es am 2. Juni verlaſſen hatten. Fanden zwiſchen den Steinhaufen auf
dem Bergabhang einen kleinen, feinen von Moos und Flechten überzogenen
Zeltplatz im Windſchutz, wo wir uns mit unſern Moſchusochſen⸗ und Seehund⸗
fellen ein ungewöhnlich prächtiges Lager einrichteten. Ein großer Schmelzwaſſer⸗
ſee am Strande, in den Bergſchluchten gehen beſtändig Stein⸗ und Schnee⸗
lawinen unter dem Einfluß der Sonnenwärme nieder. Wir bauen einen kleinen
Kochofen aus Stein, um mit überflüſſigem Holz zu heizen und auf dieſe Weiſe
Petroleum zu ſparen. Aus dem Depot nehmen wir Kaffee, Zucker, Hafermehl
und Petroleum und bereiten uns ein kleines, belebendes Mahl. Mmm, wie das
ſchmeckte! Luden Schrotpatronen und erbeuteten im Geröll ein paar Schnee⸗
hühner. Jede Fleiſchmöglichkeit muß ausgenützt werden. Hier bei Kap Salor
wollen wir einige Tage bleiben, um zu ruhen und die Hunde aufzufüttern, ſo
daß ſie wieder einigermaßen zu Kräften kommen. Die zurückgelaſſenen See⸗
hunde ſollen geholt, neue Seehunde eventuell, wenn das Glück günſtig iſt, erlegt
werden, die Schneeſchuhkufen ſollen von dem Schlitten, den wir nicht mehr
brauchen, entfernt werden, der Proviant für die Rückreiſe ſoll genau zwiſchen
unſerer und Eurer Abteilung verteilt werden, unſere Sachen ſollen ausgeſucht
und alles, was entbehrlich iſt, zurückgelaſſen werden. Dann fahren wir nach
Dragon Point.
26. Juni, 6 Uhr vorm. nur 1,3 Grad Wärme und etwas Graupelſchnee.
Heute haben die Hunde wieder eine kräftige Mahlzeit von Seehundfleiſch er⸗
halten, ſo daß ſie mit runden, wohlgefüllten Magen im Schnee döſen, eine wohl⸗
verdiente kleine Fleiſchorgie nach all dem Hunger. Da wir ſeit einigen Tagen
Vom De⸗Long⸗Fiord bis Kap Salor. 213
kein Petroleum mehr haben und alles hier mit Schnee bedeckt iſt, heizen wir
mit den Querhölzern vom Schlitten und mit Speck. Der Schlitten kann ja
leicht beim Kap⸗Salor⸗Depot, das nur ein paar Stunden entfernt iſt, wieder
ausgebeſſert werden. Auch wir ſelber ſind in dieſen Mittſommertagen mit
Seehundfleiſch und ⸗leber vollgepfropft, und der Speck rinnt uns wollüſtig um
die Mundwinkel. Hätte man nur ein Pilſener, ſo könnte meinetwegen das
große Nirwana kommen und das Weltall einhüllen. — Harrigan hat heute
noch einen Seehund erlegt und mehrere geſehen. Grüße!
| Freund Thorild.
29. Juni. Einen Tag lang blieben wir liegen, um zu ver-
ſchnaufen, jedoch nicht ganz untätig, obgleich es für die Hunde
das beſte iſt, halb bewußtlos in der Sonne zu liegen und zu ver⸗
dauen. Zwei von Harrigans Seehunden werden an der Mün⸗
dung des J.⸗P.⸗Koch⸗Fiords geholt, ein anderer liegt auf dem
Eis vor Kap Salor, vier Kilometer vom Land entfernt. Mitten
im Packeis liegt hier neben einem recht bedeutenden Stromwirbel
Neueis, das ſich zwiſchen den maſſiven Preßrücken ſeltſam aus⸗
nimmt. KR
30. Juni. Wir könnten uns verſucht fühlen, einige Zeit hier⸗
zubleiben, da der Fleiſchtopf, der nicht weit von hier entfernt iſt,
günſtige Bedingungen für die Seehundjagd zu bieten ſcheint.
Aber wir dürfen die Reiſe nach dem St.⸗George⸗Fjord nicht auf⸗
ſchieben. Ein Aufenthalt an dem Ort hier könnte nur die vorüber⸗
gehende Bedeutung einer Mäſtungsperiode für uns und für die
Hunde haben; aber bei der ſchlechten Bahn etwas von der
Beute zu transportieren, iſt undenkbar; außerdem ſind wir ja nach
den Erfahrungen der letzten Tage unbedingt ſicher, die Seehunde,
von denen wir ſo oft geſprochen haben, bei Dragon Point zu
treffen. . |
Um 5 Uhr morgens erfolgt der Aufbruch; aber bereits um
9 Uhr müſſen wir auf einer Scholle von trockenem Eis haltmachen,
. da die Wärme, die jetzt ſchon 3 Grad beträgt, den Schweiß aus
dem Körper treibt, ſo daß er aus allen Poren rinnt. Gleichzeitig
ermattet uns der geſchmolzene Schneeſchlamm mit dem tiefen
Waſſer ſo, daß wir nicht längere Zeit auf einmal fahren können.
Die Tagereiſe war beſcheiden; das Meßrad am Schlitten zeigt
8 Kilometer an.
Nach 12 Stunden machen wir in der Abendkühle einen neuen
Verſuch, finden aber noch ſchlechtere Bahn. Alle Augenblicke ſitzen
214 Achtes Kapitel.
die Schlitten im Moraſt feſt, und wenn die Hunde den Kampf auf⸗
geben und ſich hinlegen und uns mit betrübten Augen anſehen,
haben wir nichts anderes zu tun, als mit Aufbietung aller Kräfte
die Schlitten wieder aus dem von Waſſer durchſetzten Schnee
herauszureißen.
1. Juli. Um die Hunde zu ſchonen, ſchlagen wir das Zelt be⸗
reits um 10 Uhr morgens auf; trotzdem wir nur 10 Kilometer
zurückgelegt haben, find wir alle ſchlapp und müde. Die Eskimos
nennen eine ſolche Bahn „Putſineg“. — Das Wetter ilt ungewöhnlich
ſchön; herrliche Farben, blau und rötlich, legen ſich über die wunder⸗
bare Landſchaft des Nordenſkiöldfjords. Zum erſtenmal blicken wir
in dieſen Fjord hinein und gerade von der Stelle, wo Peary ihn
früher geſehen hat. Wir begreifen, daß er ihn von hier draußen für
den Eingang zu einem gewaltigen Kanal, der ſich bis zum Inde⸗
pendencefjord hinüber erſtreckt, hatte halten können. Man ſieht
aber von hier aus nur die Küſtenberge an der Mündung, die den
Eingang zum Kanal bilden. Das Ende kann man überhaupt nicht
erblicken, weil das den Fjord abſchließende Inlandeis ganz unmerk⸗
lich in das Meereis übergeht, und der Fjord ſich daher ſcheinbar
unendlich weit in das Land hinein erſtreckt. Die Rücken von ein
paar Nunataken, die wir vom Fjord aus weit drinnen im Inland⸗
eis erblicken, wirken von hier aus täuſchend wie eine Fortſetzung
der Küſtenberge; es hat daher nahegelegen, ſie in Verbindung mit
dem Fjord auf der Oſtſeite zu bringen. — Wir ſehen über die
ſchöne Landſchaft nach der Eliſoninſel hin, die in Sonnenſchein ge⸗
badet mit dem klaren Himmel über ihrer ſcharfen Silhouette eine
Ruhe und einen Frieden atmet, der weit entfernt ilt von der Un⸗
ruhe, die wir vor einigen Stunden mit unſerer Fahrt verurſachten.
Da hallte die Luft ununterbrochen wider von bald verzweifelten,
bald wütenden Zurufen an die Hunde, die völlig verſagten und
kaum durch das letzte Stück Sumpf bis auf die kleine Inſel zu
bringen waren, wo Ruhe und das wohlverdiente Kraftfutter ihrer
warteten.
Unſer Zelt ſteht auf einer unanſehnlichen kleinen Inſel, der
wir den Namen Zentruminſel geben, da ſie in den kommenden
Tagen den Mittelpunkt für die kartographiſche Aufnahme in
dieſem Fjordkomplex bilden wird.
2. Juli. Wulffs Abteilung, die von Kap Salor aus einen
Vom De⸗Long⸗Fjord bis Kap Salor.
215
andern Weg gewählt hat, kam erſt heute gegen mittag an. Leider
hat ſie unterwegs einen Hund verloren, der umſank und nicht
weiter konnte. Wir haben jetzt noch 20
Hunde; das wird für die Rückreiſe ge⸗
nügen, wenn es uns nur gelingt, ſie bei
guter Ernährung zu erhalten.
Ajako und der Bootsmann ſind vor⸗
läufig nach der Mündung des Norden⸗
ſkiöldfiords geſandt worden, wo wir auf
der Hinreiſe eine Anzahl Kleidungsſtücke
und andere Dinge, die wir auf der Reiſe
nicht brauchten, deponiert haben. Sie kom⸗
men in der Nacht mit einer Jagdbeute von
8 Hafen und einem Schneehuhn zurück.
Außerdem hat Harrigan eine Strecke von
dem Zelt entfernt einen Seehund geſchoſſen;
die Ernährung ſieht alſo vorläufig ſehr
vielverſprechend aus.
en *
*
*
Es gibt nichts im Lagerleben, was das
Gemüt ſo nachdenklich ſtimmt, wie ein
Feuer, das kniſtert und kracht und deſſen
Rauch zum Himmel emporſteigt. Man ver⸗
ſteht die Opfer der Alten, wenn ſie mit der
heiligen Flamme und dem Rauch ihre Ge⸗
bete in die Luft ſchickten. Auch wir, die
wir weniger naiv ſind, können uns nicht be⸗
freien von der Naturverehrung, die ſolche
Stimmungen uns aufnötigen. Unſer Sinn
kommt in Bewegung, wir dichten in Ge⸗
danken Lieder, bald friſche und heitere, bald
ſchwermütige und betrübte; aber wohin die
Eingebung uns auch führt, in unſerm Sinne
iſt etwas in Bewegung, was durch das
Feuer erweckt iſt. Das gilt vor allem in
Lauge Koch
Blick auf die Eliſoninſel.
einer Natur wie dieſer, wo man immer als der Ohnmächtige da⸗
ſteht, der gezwungen iſt, einen täglichen Kampf gegen Kräfte zu
16 85 Nee SARTE
SOLA e
216 Achtes Kapitel.
kämpfen, die ſtärker ſind als wir ſelbſt. Das Leben ſcheint ſtändig
an einem Faden zu hängen, weil man die kommenden Ereigniſſe
nie vorausſieht und ſo wenig Gewalt darüber hat; dies drückt
hier oben mehr als die vielen tiefen Freuden, die man erlebt, den
Gedanken und Stimmungen ſeinen Stempel auf.
Ein merkwürdiges Land! Wir haben Juli, und doch ſind
große Strecken noch ſo mit Schnee bedeckt, daß man ſich am
liebſten auf Schneereifen oder Schneeſchuhen bewegt. Die Blumen
Lemminge, vom Polarfuchs überraſcht.
ſind nicht nur geduldig, ſondern ſie ſetzen auch alle Kraft ein
gegen ihren Todfeind und ſprießen und blühen an vielen Stellen
mitten im Schnee. i
Ein gewaltiges Land! Doppelt gewaltig wirkt es auf den, der
ſich an ſeinen Küſten entlang kämpft. Der Blick ſchweift über
breite, offene Horizonte, die durch Fjorde und Buchten über das
Inlandeis laufen, um in blendender Ferne, die in den Augen
ſchmerzt, ſich mit dem Himmel zu begegnen. Steile rotbraune
Felſen ſchießen aus dem Meer auf wie ſperrende Wände, die den
Ausblick verengen, aber mitten in die nackten Felſen malt die
Bom De-Long-Fjord bis Kap Salor. 217
Sonne ihre Farben, fo daß die Armut geadelt wird und zu.
einem Werk des großen Lichtſpenders wird.
| Ein Land ohne Herz, wo alles Lebendige hart um Leben und
Nahrung kämpfen muß. Wie ein gefrorenes Feld von Kälte und
Ode preßt das Polarmeer ſich an den Küſten hinauf, um ſeinem
Bruder, dem Inlandeis, zu begegnen, der das kalte Land vom
Innern der Wüſte her bedeckt. Die armen Seehunde, die aus dem
llebenſpendenden Meer kommen, kriechen hier und da aufs Eis
hinauf, werden aber überall von der Rieſenmühle der Eis⸗
Knud Kyhn
Hermelin auf der Haſenjagd.
preſſungen bedroht und ſtürzen in die Tiefe, ohne Zeit zu haben,
Himmel und Sonne zu genießen; ſie werden mager dabei, der
Speck wird dünn; ſie müſſen gegen die Kälte kämpfen, die den
Fetten nichts anhaben kann; das mächtige Gewölbe über ihren
Seewegen trennt ſie von ihren Freunden, ſo daß ſie in die tote
Einſamkeit verbannt ſind.
Ab und zu ſetzt der Eisbär ſeine Tatzen auf den Schnee des
Küſteneiſes, aber die Spuren zeigen, daß er landeinwärts geht, mit
leerem Magen ohne Zutrauen zu dem Eis, das ſtärker iſt als
er ſelbſt, und ohne daß die Täler, die zu arm ſind, ihm Nahrung
zu bieten, ihn zum Beſuch einladen. Nur der Moſchusochſe und der
kleine Lemming, die Verkörperungen der Genügſamkeit, gedeihen
und werden fett, wie die Haſen, deren Zähne und Magen mit
218 Aacachtes Kapitel.
gefrorenen kleinen Pflanzen vorliebnehmen. Und mitten unter
ihnen geht das ſchlanke Hermelin auf Raub aus, wie ein Bündel
lebender Muskeln, und überfällt Haſen und Lemminge; ſatt und
ſtark, ganz unberührt von der Armut des Landes, weil es die
kleinen Vegetarier die Arbeit für ſich tun läßt. Es iſt das gute
Raubtier des Landes, weil es offen in ſeiner Feindſchaft iſt, und
es iſt darum ein glückliches und ſympathiſches Tier trotz ſeiner
Blutgier. Aber hinter ihm ſchleicht der weiße Wolf daher, immer
hungrig und mager, obgleich er ſeine Nahrung in denſelben Jagd⸗
feldern ſucht, feig und erbärmlich, mit geſenktem Schwanz und das
Fieber des ſchlechten Gewiſſens in ſeinen Augen, mehr Hyäne als
Jäger.
Und dem Leben aller dieſer Tiere liegt ein Wunder zugrunde,
das Wunder des Landes und der Vegetation; denn in dem einen
Monat, in dem die Sonne Macht gewinnt, entfaltet ſich die arm⸗
ſelige Pflanzenwelt, die das Tierleben ſchafft. Ohne dieſe ver⸗
krüppelten Kinder der Sonne keine Moſchusochſen, keine Lem⸗
minge, keine Haſen, und ohne dieſe kein Hermelin, kein Wolf —
ein Kirchhof, in dem nur das Schweigen des Todes brütet.
* *
*
Von unſerm flachen Zeltplatz haben wir eine ausgezeichnete
Ausſicht über den Nordenſkiöld⸗Einlaß. Ganz von ſelber wandern
die Gedanken über die ſchmalſte Stelle des Inlandeiſes zum Inde⸗
pendencefjord. Von hier aus ſchauten Mylius⸗Erichſen, Hagen
und Brönlund als die erſten über das Ende des Fjords und
ſtürzten damit die alte Theorie vom Pearykanal. Und wenn es
ihnen auch nicht gelang, die neue Entdeckung auf der Karte ein⸗
zutragen, ſo legten ſie doch einen Bericht in einem Steinmal nieder,
der Kunde von ihren Entdeckungen gab. Das tragiſche Geſchick,
das fie auf der Rückreiſe traf, wo ſie zu einer Aberſommerung an
einem wildarmen Ort im Danmarkfjord gezwungen wurden, iſt
allzu bekannt, als daß es hier wiederholt zu werden braucht. Es
mag genügen, an die heldenmütige Tat zu erinnern, die Jörgen
Brönlund ausführte, als er vom Depot auf Lambertland Nah⸗
rungsmittel für ſeine beiden Kameraden, die nicht weiter konnten,
holte — ein Opfer, das doch nicht imſtande war, ihnen das Leben
zu retten. Als Brönlund nach Mylius⸗Erichſens und Hagens Tod
Vom De-Long⸗Fiord bis Kap Salor. 219
ſich wieder nach dem Lambert⸗Depot hinkämpfte, um die wiſſen⸗
ſchaftlichen Reſultate an einer Stelle niederzulegen, wo ſie auf⸗
zufinden wären, ritzte er ſeine und ſeiner Kameraden Todesrunen
auf ein Blatt feines Tagebuchs mit den wenigen aber ſtolzen
Worten:
Umkam am Neunundſiebzig⸗Fjord nach Verſuch Heimreiſe über Inlandeis
im Novembermonat. Ich komme hierher bei abnehmendem Mond und konnte
nicht weiter wegen Erfrierung der Füße und der Dunkelheit. — Die Leichen
der andern liegen mitten im Fjord, vor einem Gletſcher (ungefähr 2½ Meilen).
Hagen ſtarb am 10. November und Mylius etwa 10 Tage ſpäter.
Die abſchließende Kartenaufnahme des Innern des Inde—
pendencefjords und ſeiner nächſten Umgebung wurde auf der erſten
Thule⸗Expedition ausgeführt, als Peter Freuchen Kartograph
war. Zur Erinnerung an ſeinen Einſatz zur Erforſchung des nörd⸗
lichen Grönlands tauften wir das große Land zwiſchen dem
J.⸗P.⸗Koch⸗Fjord und dem Nordenſkiöldfjord „Peter-Freuchen⸗
Land“.
Neuntes Kapitel.
Über ſchmelzendes Eis nach dem Sommertal.
Eiswaſſerbäder.
3.—14. Juli. Endlich nach zweimonatiger Unbeſtändigkeit
ſcheint beſtändiges Wetter einzutreten, das ſich vorausſichtlich
dieſen Monat halten wird. Glücklicherweiſe — denn wir haben
nach jeder Tagereiſe, auf der wir in 12 bis 18 Stunden unter
großen Anſtrengungen die beſcheidene Strecke von 15 bis 16 Kilo⸗
meter zurücklegen, eine große Trocknung unſeres ganzen Hab und
Guts vorzunehmen; wir würden uns nicht zu helfen wiſſen, wenn
nicht die gute Sonne während unſeres Nachtſchlafes alles wieder
brauchbar machte, was die abſcheuliche Sommerbahn zerſtört hat.
Die Reiſe geht durch Eiswaſſer, und nur ausnahmsweiſe
können wir einen Augenblick auf „trockenem Eis“ verſchnaufen.
Die Wärme hat das unebene Polareis in ein hoffnungsloſes
Syſtem von Kanälen und Seen verwandelt, worin einzelne
Flecken wie Inſeln aus einem einzigen großen Eisſumpf empor⸗
ragen. Anfangs ſuchten wir hartnäckig die beſten Stellen aus
und gingen im Zickzack vorwärts. Das haben wir aber längſt
aufgegeben, da trotzdem alles triefend naß wird. — Wir waten
den ganzen Tag bis über die Knie im kalten Eiswaſſer; und
wie wir ſelbſt bei der Arbeit mit den Schlitten, die ſich beſtändig
in den Löchern feſtfahren, bis auf die Haut naß werden, geht es
auch allen unſern Reſerveſachen. Bei den verſchiedenen Stellungen,
die der Schlitten in den Vertiefungen einnimmt, ſpült das Waſſer
bald von vorn über den Schlitten, bald von hinten.
Von der Zentruminſel und dem MeMillantal an der Mün⸗
dung des Viktoriafjords ſind wir auf dieſe Weiſe wie die Schnecken
drei Tage lang dahingeſchlichen, ein dreitägiger Marſch in kaltem
8
ar!
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Über ſchmelzendes Eis nach dem Sommertal. 221
Waſſer; es hat oft eine dünne Haut von Neueis, das den
Hunden die Pfoten zerſchneidet, wenn es in meſſerſcharfe Stücke
zerbricht. Das kalte Waſſer ſchwächt die Hunde ſehr, die nach der
Hungerperiode noch nicht richtig zu Kräften gekommen ſind, und
wir haben zu unſerm Kummer auch einen Hund zurücklaſſen
müſſen, der ſo erſchöpft war, daß er ſtürzte und nicht wieder
aufſtand.
Wenn weder wir noch die Hunde mehr können, ſuchen wir uns
eine Eisinſel auf und ſchlagen dort das Zelt auf. Ein idealer
Zeltplatz iſt es ja nie, aber man hat den Troſt, daß man ſich
nicht lange nach Waſſer zu bemühen braucht, wenn man kochen
will; man öffnet nur den Zeltvorhang ein wenig und füllt Koch⸗
geſchirr und Keſſel.
Unter dieſen etwas entmutigenden Verhältniſſen feierte Koch
ſeinen 25. Geburtstag. Wir heißten die Flaggen, die däniſche
und die ſchwediſche, und kochten eine Extrataſſe ſtarken Kaffees.
Jeder von uns gab dem Geburtstagskind ein paar Stücken Kandis⸗
zucker, eine hochgeſchätzte und im Augenblick außerordentlich koſt⸗
bare Ware. Der letzte Vorrat, für die Rückreiſe über das Inland⸗
eis berechnet, iſt in Rationen geteilt, und jeder wacht wie ein Raub⸗
tier über ſeinen beſcheidenen Anteil. Wir hätten ein Feſt feiern
können; aber ich ließ mich nicht von der augenblicklichen Feſt⸗
ſtimmung fortreißen — aus Vernunftsgründen. Wir haben näm⸗
lich wohlſchmeckenden Pemmikan, Hafergrütze und Hirſe, aber das
ſind Herrlichkeiten, die erſt angebrochen werden dürfen, wenn die
Inlandeisreiſe beginnt; in dieſer Wüſte werden wir alle Reiz⸗
mittel der Ernährung nötig haben. Trotz der Verſuchung ver⸗
härtete ich daher mein Herz und ließ nur eine doppelte Ration
Seehundfleiſch kochen, dabei verſprach ich aber feierlich, den Tag
zu feiern, wenn wir auf der Rückreiſe auf dem Inlandeis die Höhe
von 2000 Meter erreicht hätten.
Die kleinen, langſamen Tagereiſen kommen dem Kartographen
zugute, und es werden Breiten- und Längenbeſtimmungen und
Peilungen nach allen hervortretenden Punkten vorgenommen, ſo
oft ſich die Gelegenheit bietet.
Bei einem ſolchen Aufenthalt, etwa 13 Kilometer vom
Me Millantal entfernt, wurde die Küſte ſehr ſorgfältig mit dem
Fernglas unterſucht. Wir hielten Ausſchau nach Haſen, die jetzt
222 Neuntes Kapitel.
auf weite Entfernung als kleine weiße Knäuel ſichtbar ſind. Unfer
Fleiſchvorrat war aufgezehrt, und Seehunde gab es auf dieſem
ſchlechten, mit Waſſer bedeckten Eis nicht. — Der Bootsmann und
ich waren zurückgeblieben, wir waren damit beſchäftigt, unſern
Schlitten feſtzubinden. Bekanntlich ſind alle Querhölzer mit den
Kufen durch Lederriemen verbunden, und wenn dieſe oft ins Waſſer
kommen, ſtrecken ſie ſich, ſo daß die Verbindungen nachgeben und
der ganze Schlitten zuſammenfällt; in der Regel natürlich im tief⸗
ſten Waſſer. Einen Schlitten zuſammenzubinden nimmt eine Stunde
in Anſpruch und iſt eine langweilige und ſchwierige Arbeit, nament⸗
lich mit froſtſtarren Händen!
Während wir über die abgeladenen Schlitten gebeugt ſtehen
und uns abmühen, die naſſen und ſchwer zu hantierenden Riemen
feſtzuziehen, kommt plötzlich Leben in den Haufen vor uns. Die
Hunde haben bis jetzt müde und teilnahmlos auf den Schlitten
gelegen, aber nun beginnen ſie wie die Verrückten herumzuſpringen,
und Harrigan und Ajako laufen weit nach den Seiten, ſpringen
hoch in die Luft, fuchteln mit den Armen und ſchlagen ſich auf die
Schenkel, alles bei den Polareskimos Zeichen dafür, daß etwas
Ungewöhnliches bevorſteht.
Der Bootsmann und ich ſehen uns einen Augenblick ungläubig
an, ohne ein Wort zu ſprechen; denn dies konnte ja nur eins be⸗
deuten, und während wir daſtehen und ſtarren und nicht recht zu
glauben wagen, was wir am meiſten hoffen, kommt der Boots⸗
mann bedächtig mit dem erlöſenden Wort: „Man narrt nicht
hungrige, durchnäßte Kameraden, die ſich durchs Waſſer ſchleppen!“
Und im ſelben Augenblick ſtoßen wir beide ein dröhnendes
Gebrüll aus: „Moſchusochſen!“
Der Schlitten war im Handumdrehen fertig, und ſo raſch
die Bahn es zuließ, eilten wir unſern Kameraden nach. Alle Ge⸗
ſichter ſtrahlten. Ja, es war wirklich wahr, was wir vermutet
hatten. Wir überzeugten uns ſelbſt mit dem Fernrohr: vor einer
kleinen Gletſcherzunge am MeMillantal auf einem hohen Rücken
oberhalb unſeres alten Frühjahrslagers bewegt ſich ganz deutlich
eine Herde weidender Moſchusochſen.
Wir umarmten uns und gebärdeten uns wie Verrückte. Alle
Würde wurde beiſeite geſetzt; denn das, was wir hier ſehen, be⸗
deutete nicht nur Nahrung in Fülle für uns ſelbſt und die Hunde,
Über ſchmelzendes Eis nach dem Sommertal. 223
ſondern es war auch gleichbedeutend mit Ruhe und Kleidertrocknen
für ein paar Tage in dem ſchönen Tal, wo jetzt voller Sommer
ſein mußte.
Mit großer Schwierigkeit legten wir die letzte Strecke Wegs
zurück; was unter günſtigen Verhältniſſen eine Stunde in Anſpruch
genommen hätte, dauerte jetzt 7, und endlich, nach 13 Stunden
gründlichen Bades, erreichten wir mit triefenden Kleidern die Küſte.
Ich kam eine Stunde ſpäter als die andern, da der Schlitten
zum zweitenmal im Lauf des Tages zuſammengefallen war und
Harald Moltke nach Skizze von Koch
Flußdelta beim Me Millantal.
wieder feſtgebunden werden mußte. Die Kameraden hatten ſchon
alle ihre naſſen Kleider abgeworfen und nahmen ſplitternackt auf
einem kleinen fruchtbaren Abhang Sonnenbäder. Das war auch
wirklich notwendig; denn wir waren am ganzen Leib rot und
runzlig, als ob wir längere Zeit eingeweicht worden wären; die
Temperatur wirkte hier auf dem Land mit ihren 5 Grad Wärme
vollkommen tropiſch. Ich war heiſer vom Antreiben der Hunde,
die auf der letzten Strecke kaum durch das Waſſer zu bringen
waren. Dr. Wulff kam mir lächelnd entgegen und erzählte mir,
er habe in der Stunde, da ſie auf mich gewartet hatten, das Wort
des heiligen Auguſtin beſtätigt gefunden, „daß die Freude über
224 Neuntes Kapitel,
die Seligkeit nicht nur darin beſteht, ſich ſelbſt auf der rechten
Seite zu wiſſen, ſondern auch und nicht zum wenigſten darin, daß
man beſtändig die verzweifelten Rufe der Verdammten hören
könne.“ So hatte es nämlich auf die im Lande befindlichen
Kameraden gewirkt zu hören, wie ich bald mit jammernden, bald
mit wütenden Zurufen meine Hunde draußen in dem Hölleneis
antrieb.
* 2 *
Wir waren alle hungrig wie die Wölfe und begaben uns daher
mit allen Hunden raſch über Land auf die Jagd. Leider wurden
wir nach einer halben Stunde von einem flußähnlichen Waſſerlauf
von etwa 400 Meter Breite aufgehalten, und nachdem wir ver⸗
ſchiedene verzweifelte Verſuche gemacht hatten, hinüberzuwaten,
mußte die Jagd bis zum nächſten Tag verſchoben werden, da der
Fluß ſich nur ein Stück ſeewärts auf dem Eis draußen paſſieren
ließ. Sich auf dieſes Eis zu begeben, hatte heute trotz Hunger
und Mordluſt keiner den Mut, nachdem wir eben das Land glück⸗
lich erreicht hatten.
Um den Hunger zu ſtillen, wurde eine Haſenjagd veranſtaltet,
die einen ausgezeichneten Erfolg hatte. Im Laufe einiger Stunden
mußten nicht weniger als acht von den kleinen Tieren im weißen
Pelz daran glauben, und wir ſchlugen ein improviſiertes Lager
auf, um uns ein wenig auszuruhen, ehe die Moſchusochſenjagd im
Ernſt begann. Die naſſe Kleidung wurde zum Trocknen ausge⸗
breitet, und wir ſchliefen ein, halbnackt, in den verſchiedenſten
Stellungen, ähnlich einer Horde Flüchtlinge, während all unſer
Eigentum um uns herum verſtreut lag.
* *
*
Nach fünf kurzen Stunden der Ruhe begaben wir uns wieder
auf das Meereis und wanden uns an der Mündung des großen
Fluſſes zwiſchen einer Unzahl von tiefen Kanälen hindurch, in der
Abſicht, eine Landung einige Kilometer weſtlich von dem Haupt⸗
lauf zu verſuchen. Das Eis war hier beſonders ſchlecht; die ganze
Oberfläche war ſo ſtark im Schmelzen, daß ſie überall das Aus⸗
ſehen angenommen hatte, als ſei eine Fläche mit Tauſenden von
Nägeln dicht nebeneinander, die mit ihren Spitzen nach oben
Rasmuſſen.
Lauge Koch.
— ran
d naß.
Der Schnee wir
Über jchmelzendes Eis nach dem Sommertal. 295
ſtanden. Die Spur der Hunde wurde raſch blutig von all den
vielen Nadeln, die ihnen die Ballen zerſtachen; ſogar wir fühlten
Schmerzen durch die aufgeweichten Sohlen. Mit einem Gefühl
der Befreiung betraten wir ſchließlich das Land und ſchlugen das
Zelt in einer kleinen, geſchützten Bucht neben einem freundlich
rieſelnden Bach auf. Schlitten und Gepäck wurden an Land nieder⸗
gelegt, und ſobald wir unſer naſſes Zeug auf den Klippen zum
Trocknen ausgebreitet hatten, ging es in die Berge nach dem Tal,
wo wir geſtern die Moſchusochſen geſehen hatten. Wir nahmen alle
Hunde mit, um ſie dem Kampfplatz ſo nahe wie möglich zu haben.
Nach einer Stunde Marſch eröffnete ſich uns eine Ausſicht über
den Kamm eines kleinen Hügels, und kaum hatte ich angefangen,
die Umgebung zu unterſuchen, als es uns alle wie ein Schlag durch⸗
zuckte: kaum 100 Meter von uns weideten friedlich fünf Moſchus⸗
ochſen, ohne etwas von den Raubtieren zu ahnen, die in den letzten
24 Stunden ihren Tod beſchloſſen hatten. Alle Hunde bis auf
zwei wurden ſorgfältig an große Steine angebunden, ehe ſie das
wohltuende Wild witterten; denn wenn man die Hunde in
Maſſen auf einen Moſchusochſen losläßt, ſo ſtürzen ſie ſich, nament⸗
lich wenn ſie hungrig ſind, in der Regel ſo dummdreiſt und gierig
auf ihre Beute, daß ſie Gefahr laufen, aufgeſpießt zu werden;
jetzt können wir es uns wirklich nicht leiſten, noch mehr
Hunde zu verlieren. Wir nahmen darum nur die beiden ſchlech⸗
teſten mit und näherten uns der Herde. Wir teilten uns in drei
Abteilungen, und noch ehe uns die Moſchusochſen entdeckt hatten,
ſtanden wir plötzlich auf drei Seiten wie aus der Erde geſchoſſen
vor ihnen. ;
Die Moſchusochſen, die dalagen und wiederfäuten, erhoben
ſich bedächtig, ohne ſich zu übereilen, und ſtellten ſich wie gewöhn⸗
lich in ihrer Schlachtordnung auf, in dem berühmten Karree mit
der Front nach allen Seiten. So blieben ſie ſtehen, ohne den
geringſten Verſuch zu machen, zu fliehen, während wir die größte
Mühe hatten, die beiden Wolfshunde zurückzuhalten, die ſtracks
auf ſie losſtürzen wollten.
Es waren fünf Stiere; ſie faßten alle die Situation mit
erhabener Ruhe auf. Ihre großen, blanken Augen ſtarrten uns
furchtlos an, und ſie begnügten ſich damit, hier und da verächtlich
die Mundwinkel ein wenig zu verziehen.
Ras muſſen. 15
226 Neuntes Kapitel,
Sie ſahen phantaſtiſch aus und wirkten auf uns, die wir lange
Zeit nur Haſen und Lemminge geſehen hatten, groß und gewaltig.
Sie befanden ſich gerade mitten im Haarwechſel, und die loſe
Wolle, die in großen zuſammenhängenden Fladen abzugehen ſchien,
lag auf ihren Mähnen und Rücken wie Büſchel von Trauerflor.
Ab und zu ſtießen ſie die Luft mit einem ſchnaubenden Laut durch
die mächtigen Nüſtern aus, dann wieder ſchlugen ſie wie in Un⸗
geduld mit den Hufen gegen die Erde, ſo daß uns kleine Steine
um die Ohren flogen. Im übrigen blieben ſie ruhig ſtehen, ohne
einen Ausfall zu machen. :
Da die ſpärlichen und zufälligen Jagden uns bisher keine be⸗
ſonders günſtige Gelegenheit zum Photographieren gegeben hatten,
nahmen wir jetzt alle drei, Koch, Wulff und ich, Aufſtellung und
knipſten los. Geduldigere Objekte hätte ſich kein Photograph
wünſchen können, obgleich wir ſehr gründlich zu Werke gingen.
Sie wurden von allen Ecken und Kanten aufgenommen, von
10 bis 2 Meter Abſtand, im Profil, en face, in ganzer Figur
und als Bruſtbild, und erſt als wir fertig waren, ließen wir das
Todesurteil ergehen.
Doch wir wollen den Verſuch machen, ſie erſt ein Stück weiter
nach dem Zelt zu treiben, damit wir es leichter haben, das
Fleiſch nach dem Meereis hinabzubefördern. So rückten wir ihnen
denn, die Hunde beſtändig an der Leine, auf den Leib und fingen
an, mit Steinen zu werfen. Zunächſt ſchienen ſie überraſcht und
äußerſt empört über dieſe Behandlung, die ihnen offenbar höchſt
unwürdig vorkam. — Und dann fuhr der Teufel in ſie! Der
größte der Stiere, allem Anſchein nach der Anführer, ſtampfte
plötzlich mit den Hinterbeinen ſo feſt auf den Boden, daß ein
Regen von Kies und Steinen über uns fiel; dann ſtieß er ein
Gebrüll aus, machte kehrt und galoppierte über die Ebene, hinter
ihm die ganze übrige Herde.
Wir gaben ſofort die beiden Hunde frei, die ihnen nachjagten.
Aber das Ganze war ſo blitzſchnell geſchehen, daß die Stiere
einen Vorſprung hatten, den die Hunde nur langſam einholten.
Wir ſelber liefen aus allen Kräften, um in der Nähe und ſchuß⸗
bereit zu ſein, wenn die Herde etwa auf dem Gipfel eines Hügels
haltmachte, um ſich gegen den Angriff der Hunde zu verteidigen.
Aber die Sache verlief nicht ganz nach unſerer Berechnung.
Über ſchmelzendes Eis nach dem Sommertal. 227
Die Stiere rannten um ihr Leben und entwickelten eine ſolche
Schnelligkeit, daß es faſt ausſah, als ob ein Orkan ſie fortwehte.
Ganz am Ende der Ebene glückte es dem erſten der Hunde, die
Herde einzuholen; wir ſahen, daß er verſuchte, ſich in den Schenkel
deſſen, der am weiteſten zurück war, feſtzubeißen. Aber ſtatt ſtehen⸗
zubleiben und ſeine Kameraden im Karree zu ſammeln, um den
Angriff aufzunehmen, begnügte ſich der Stier, in deſſen Schenkel
noch der Hund mit ſeinen Zähnen feſthing, damit, ſich blitzſchnell
umzuwenden, den Hund abzuſchütteln, ihn mit den Hörnern auf
ſeinen gewaltigen Nacken zu nehmen und ihn wie einen Ball in
die Luft zu ſchleudern. Der arme Hund wirbelte herum und fiel
ſchwer zur Erde nieder; ſein Mut koſtete ihm das Leben.
Unterdeſſen raſte die Herde weiter; auch der andere Hund, ein
alter erfahrener Bärenjäger, hatte jetzt die flüchtende Herde
erreicht, und es gelang ihm, den letzten der Herde vor einer
hohen, ſteilen Schlucht zum Stehen zu bringen. Ajako, der uns
allen voran war, lief herzu, bereit zu ſchießen. Aber in dem Augen⸗
blick, als er die Büchſe erhob, warf der Stier ſich wie eine
Lawine auf ihn herab, ohne ſich um den bellenden Hund zu küm⸗
mern, der vergebens verſuchte, ihn zurückzuhalten. Ich lief aus
allen Kräften herbei, hörte aber zu meiner großen Freude den
Knall eines Schuſſes, und dann einen zweiten, und einen Augen⸗
blick ſpäter war ich ſelber auf dem Walplatz unten. Noch glühend
vor Erregung ſtand Ajako neben dem getöteten Stier, deſſen
furchtbarer, plötzlicher Ausfall ihm bei einem Haar das Leben
gekoſtet hätte.
Die vier andern Stiere flüchteten weiter einen Hügel hinauf,
wo ſie dicht an unſern angebundenen Hunden vorbeikamen. Dieſe
erhoben ſich wie ein Mann und brachen in wütendes Gebell aus,
worauf die Stiere, augenſcheinlich verwirrt über die vielen Wölfe,
abermals die Richtung änderten und nach dem Fluß im Südweſten
flohen. Ein Nachzügler, der nicht folgen konnte, trennte ſich von
der Herde und galoppierte nach dem See hinab, wo wir im Früh⸗
jahr unſer Lager gehabt hatten; hier wurde er nach einer hitzigen
Jagd von zwei Hunden, die ſich unterdeſſen losgeriſſen hatten, ein⸗
geholt und geſtellt. Während ſie ihn feſthielten, kam der Boots⸗
mann und ſchoß ihn nieder.
Die drei andern dagegen entkamen vorläufig. Aber wenn wir
15 *
228 Neuntes Kapitel.
auch ſicher waren, daß es nur eine Frage der Zeit ſei, bis wir
ſie wieder finden würden, bereuten wir doch zu ſpät unſere Stein⸗
würfe. Es wäre für den Transport entſchieden das beſte ge⸗
weſen, die Tiere auf einer Stelle verſammelt zu haben. Jetzt
müſſen wir uns vorläufig mit dem Humor begnügen, der darin
lag, daß wir ſie aus ein paar Meter Abſtand photographiert
hatten, um ſie trotz unſeres Fleiſchmangels entſchlüpfen zu laſſen.
Übrigens habe ich zum erſtenmal auf meinen vielen Moſchus⸗
ochſenjagden erlebt, daß eine angegriffene Herde nicht nach einem
kurzen Lauf haltgemacht und ein Karree gebildet hatte, um ſo
den unvermeidlichen Tod zu empfangen.
* *
*
Den zwei getöteten Moſchusochſen war die Haut abgezogen; wir
hatten alles fette Mark aus den Knochen gegeſſen und waren in der
milden Stimmung, die ſich nach einer guten Mahlzeit einſtellt. Doch
läßt ſich nicht leugnen, daß unſere Freude getrübt war; denn drei
große, köſtliche Tiere der Herde waren vorläufig entkommen, und
wir hatten doch ſo ſicher damit gerechnet, daß ſie die Baſis für
einige behagliche Ruhetage in dem ſchönen und ſommerlichen
Me Millantal werden ſollten.
Darum waren wir uns auch alle klar darüber, daß etwas
geſchehen müßte. Wir und die Hunde mußten verſchnaufen, ehe
wir weiter über den breiten Sherard⸗Osborne⸗Fjord waten
konnten. Jetzt hatten wir 30 Stunden lang unter ſehr ermüdenden
Umſtänden große Anſtrengungen zu ertragen gehabt. Nach einigen
Stunden Schlaf waren wir wieder gute 14 Stunden tätig ge⸗
weſen. Aber es war doch wünſchenswert, die Jagd auf die drei
Moſchusochſen ohne Verzug wieder aufzunehmen, ehe ſie ſich zu
weit entfernten. |
Schläfrig und müde waren wir jedoch alle. Während die
letzte Mahlzeit in der Schlucht gekocht wurde, fiel einer nach dem
andern in Schlaf. Das Waten vieler Tage in dem kalten Eis⸗
waſſer war auch nicht ganz ſpurlos an uns vorübergegangen. Ein
paar von uns hatten in höchſt unangenehmer Weiſe die Kräfte
in den Kniemuskeln verloren; beſonders Harrigan und mir war es
heute bei der Moſchusochſenjagd ſo ergangen, daß wir ein ums
andere Mal in die Knie ſanken, wenn wir bergab liefen, weil wir
in unſern Beinmuskeln keine Kräfte mehr hatten.
über ſchmelzendes Eis nach dem Sommertal. 229
Unter dieſen Umſtänden war es nur ein einziger Mann, auf
den ich rechnen konnte; es war der beſte und unermüdlichſte Jäger
der Expedition, Ajako. Ich habe immer wieder Gelegenheit ge⸗
habt, ſeine unſchätzbaren Eigenſchaften für eine Reiſe wie dieſe
hervorzuheben, ſeine hervorragende Körperkraft, ſeine Ausdauer
und ſeinen untrüglichen Jägerinſtinkt. Er war es, der die erſten
Moſchusochſen erlegte, zu einer Zeit, als es anfing, für die Hunde
kritiſch auszuſehen; er war es, der die erſten Seehunde bei dem
Stromwirbel erbeutete und den Reſt unſeres Geſpannes rettete,
und ſchließlich war er es auch, der mitten im Polarpackeis draußen
vor Kap Neumayer den Seehund aufſpürte, der uns die Reiſe
nach dem De⸗Long⸗Fjord ſicherte. Dieſem Mann machte ich denn
auch jetzt den Vorſchlag, die Jagd fortzuſetzen zu einer Zeit, in
der wir andern vor Überanſtrengung nicht mehr konnten. Die
Jagd, auf die er jetzt ausziehen ſollte, würde mindeſtens 14 Stun⸗
den in Anſpruch nehmen. Ajako nahm meinen Vorſchlag mit
Lächeln entgegen: Ja, es ſei die ganze Zeit ſeine Meinung ge⸗
weſen, daß es das beſte ſein würde, die Jagd unverzüglich fort⸗
zuſetzen; damit war die Sache abgemacht.
Sobald der Inhalt des Topfes gekocht war, ſchütteten wir die
köſtlichen, in Fett ſchwimmenden Stücke von Zunge und Herzen
auf einen großen flachen Stein und hielten zuſammen unſere
Mahlzeit. Dann ergriff Ajako ſein Gewehr; nahm ſeinen Hund,
der ihn auf allen ſeinen Jagden begleitete, und verſchwand hinter
dem nächſten Hügelkamm leicht und geſchmeidig, ganz, als ob er
ſich eben von einer langen und erquickenden Ruhe erhoben hätte.
Über ſeinem Gang und ſeiner ganzen Haltung lag die Schönheit,
die nur Jugend und Stärke geben können.
* 0 **
Ungefähr zwölf Stunden ſpäter kam Ajako ſchwankend vor
Schläfrigkeit zum Zelt zurück. Er hatte nicht nur die drei Moſchus⸗
ochſen, die verſucht hatten zu entfliehen, gefunden und geſchoſſen,
er hatte auch noch drei dazu erlegt. Alle Tiere waren abgehäutet
und zerlegt, und das Fleiſch war zum Trocknen in die Sonne
gelegt, damit es nicht durch die Schwärme von Schmeißfliegen
verdorben würde, die hier überall, wo ein Stück Fleiſch hingelegt
wird, aus der Erde ſchießen.
230 Neuntes Kapitel.
Zu all dieſen Neuigkeiten fügt er lächelnd hinzu, er habe noch
eine weitere Herde von ſechs Moſchusochſen geſehen, die friedlich in
der Nähe der Schlachtſtelle weideten, ohne ſich von der Jagd
ſtören zu laſſen. Er hat es aber für praktiſcher gehalten, dieſe
letzten Tiere leben zu laſſen, bis das Lager mehr in ihre Nähe
verlegt wird.
Zum Überfluß hatte er außer den Herzen und Zungen der
neuerlegten Tiere zwei köſtliche Eisgänſe auf dem Rücken, die er
auf dem Rückweg zum Zelt in der Nähe geſchoſſen hatte. Der
Schlaf, den er ſich nach dieſem Jagdausflug gönnte, währte
24 Stunden und war ehrlich verdient.
* 5 *
Wir verlegten dann unſer Lager 10 Kilometer weiter in ein
Tal in der Nähe von Kap May, nicht weit von der Stelle, wo
ſich die toten und lebendigen Moſchusochſen befanden. Der Auf⸗
bruch fand bei ſtrahlendem Sonnenſchein ſtatt, und die wohltuende
Wärme, die in den letzten Tagen auf dem Lande unſere von den
Watetouren angegriffenen Körper durchwärmt hatte, verlieh uns
neue Kräfte zu neuen Anſtrengungen. Das war auch nötig; denn
die 10 Kilometer mußten wir durch Waſſer, Eisflüſſe und über
unebenes Polareis zurücklegen und wir brauchten dazu 15 Stunden.
Wir ſchlugen das Zelt unten am Meereis auf und trafen unſere
Vorbereitungen für die Jagd.
Der erſten Woche konnten wir vorläufig ruhig entgegenſehen.
Hier in dem fruchtbaren, waſſerreichen Tal gab es Fleiſch genug
für Menſchen und Hunde und viel Arbeit für den Botaniker der
Expedition.
Zum erſtenmal auf dem ganzen Marſch hatten wir alle bei
7 Grad Wärme und bei ſchönem, klarem, ruhigem Wetter wirkliche
Sommergefühle, und wir gaben daher dem Tal einen Namen,
der für das Ohr eines arktiſchen Reiſenden einen ſüßen Klang hat:
Sommertal.
Das Sommertal.
11.—14. Juli. Sobald unſere Kleider nach der Watetour von
gestern wieder brauchbar waren, machten wir uns mit den Hunden
an der Koppel in die Berge auf. Sie ſollten jetzt vier Tage Land⸗
Über ſchmelzendes Eis nach dem Sommertal. 231
aufenthalt genießen, um zu Kräften zu kommen, und in dieſer
Zeit ſo viel Fleiſch zu ſich nehmen, wie ſie könnten; ſie ſollten fau⸗
lenzen, freſſen und fett werden.
Uneingeweihte werden vielleicht oft den Eindruck haben,
Schlittenreiſende müßten rückſichtsloſe Tierquäler ſein. Mag ſein,
daß wir hier und da hart gegen die Tiere ſein müſſen, wenn fie
bei ſchlechter Bahn die Arbeit aufgeben und ſich weigern, weiter⸗
zufahren; aber was ſoll man unter dieſen Umſtänden anderes tun,
als ſein Herz zu verhärten und die armen Tiere vorwärts zwingen.
Es iſt ja nur in ihrem eigenen Intereſſe, wenn man ſich bemüht,
ſie ſo raſch wie möglich aus der übeln Bahn herauszubringen.
Harald Moltke nach Skizze von Koch
Das Sommertal.
Schirrt man einen müden Hund ab, ſo legt er ſich ganz einfach
an Ort und Stelle hin, um zu ſterben, ohne einen Verſuch zu.
machen, nachzufolgen. Sind wir alſo auch ab und zu hart gegen
die Hunde — in Lagen, in denen wir es ſelber nicht beſſer haben
—, jo kann doch niemand froher ſein als wir, wenn wir zeitweilig
den treuen Tieren ganz freien Lauf geben und ſie dem Wohlleben
des Augenblicks und einer unmäßigen Schwelgerei überlaſſen
können. Wir wählen dann wohlbewäſſerte, geſchützte Stellen für
ſie aus, am liebſten einen kleinen Bach mit fruchtbarem, weichem
Erdreich an den Ufern. Hierhin wird ihnen alles Futter gebracht,
und ſie dürfen volle Revanche nehmen für all die böſen Tage, die
ſie durchmachen mußten.
Solche Tage ſind leider ſpärlich wie Oaſen in einer Wüſte, in
der man meiſt von Tag zu Tag um die Erhaltung des Lebens
232 Neuntes Kapitel.
kämpfen muß. Aber dann ſcheut auch kein Schlittenlenker die
längſten und anſtrengendſten Jagden, um Wild herbeizuſchaffen,
und mißglückt die Jagd, ſo teilt er gern das wenige, was er für
ſeinen eigenen Kochtopf beſtimmt hat, mit ſeinem Geſpann.
Jetzt ſollten alſo unſere 18 Hunde, der Reſt von den 70, mit
denen wir hier heraufkamen, ein paar Tage in Wohlleben ver⸗
bringen. Darum wurden ſie nach dem Sommertal geführt, an
den Ort, wo Ajako ſein Fleiſchdepot von den ſechs Moſchusochſen
hatte. Zunächſt ſollte die zuletzt beobachtete Herde getötet wer⸗
den. Es ſtellte ſich jetzt heraus, daß es ihrer nur fünf waren und
nicht ſechs, wie wir urſprünglich angenommen hatten.
Die Jagd verlief diesmal leicht und ſchmerzlos. Die Moſchus⸗
ochſen, ein Stier mit vier Kühen, weideten dicht neben ihren ge⸗
töteten Kameraden auf einer fruchtbaren Anhöhe. Wir näherten
uns ihnen ungeſehen in einem kleinen Tal und ſtanden plötzlich
und unvermutet vor ihnen. Sobald ſie uns entdeckten, liefen ſie
zuſammen und ſtellten ſich in ihrer berühmten Schlachtordnung
auf, dabei gaben ſie in keiner Weiſe Zeichen von Überrafhung oder
Furcht kund. Ganz ruhig ſahen ſie uns in die Augen und be⸗
gnügten ſich damit, ab und zu ihre Hörner an den Steinen zu wetzen.
Eine ſolche Wildherde tritt wirklich mit imponierender Würde
auf. Keinen Augenblick fallen ſie aus ihrer bedächtigen Wieder⸗
käuerruhe, ſolange die Zuſchauer ſich ruhig verhalten. Sie zeigen
nicht das geringſte Zeichen von Furcht, wie andere Tiere in
der Wildnis, z. B. der Bär oder das Renntier, die ſchon auf
weite Entfernung flüchten. Einen Moſchusochſen zu treffen, heißt
wirklich ihm begegnen; er bleibt ruhig ſtehen, freilich muſternd und
forſchend; aber die Begegnung geſchieht wie unter Ebenbürtigen
mit einer ſchweigenden Würde, die faſt den Charakter einer
Audienz hat, mitten in der großen, ſtummen Ode, die keinen
andern Laut kennt als das Brauſen der Flüſſe und den Schrei der
Vögel.
Sie ahnen ja nicht, dieſe ſchwarzen, kanahageigen Majeſtäten,
daß wir zweibeinigen Nippesgegenſtände ſo ein heimtückiſches
Teufelszeug wie ſchnellſchießende Magazingewehre mit uns führen,
oder daß die Wolfshunde, die wir anfangs rückſichtsvoll zurück⸗
halten, auf ſie gehetzt werden, ſobald ſie verſuchen wollen, ſich
unſerer aufdringlichen Nähe zu entziehen.
Über ſchmelzendes Eis nach dem Sommertal. 233
Wie gewöhnlich wollten wir damit anfangen, ſie zu photo-
graphieren; aber das paßte dem Stier ganz und gar nicht. Er
machte ein paar blitzſchnelle Ausfälle, ſo gefährlich und plötzlich,
daß er ſchleunigſt erſchoſſen werden mußte, damit wir ſeine Frauen
Hin Ruhe aufnehmen konnten. Sobald dies geſchehen war, mußten
auch ſie eine nach der andern ins Gras beißen. Man muß ſagen,
daß ſie den Tod mit derſelben Geringſchätzung der Schmerzen ent⸗
gegennahmen wie die großen Stiere. Eine Kugel in die Schulter,
und ſie ſinken in die Knie, ſtarren uns noch einmal mit ihren
großen unergründlichen Augen an, gerade als ob ſie gegen die
ES Heimtücke proteſtieren wollten, einen Feind aus der Entfernung
und nicht im Nahkampf zu verwunden; dann fangen fie an in
Schmerzzuckungen zu zittern, bis eine zweite Kugel ihnen mit einem⸗
mal den Atem abſchneidet und die gewaltigen Körper mit einem
ſchweren Seufzer auf den Kiesboden ſtürzen und den letzten Atem⸗
zug tun.
* k Sr Ed
*
Å Nachdem das Abhäuten zu Ende war, bekamen die Hunde ſo
viel Fleiſch, wie ſie bewältigen konnten; dann wurden ſie an einem
friſch fließenden Bach angebunden, wo ſie ſich einem behaglichen
Schlaf hingeben konnten, bis ſie imſtande waren, von neuem zu
freſſen.
Wir ſelbſt gingen zum Zelt hinab, um uns der wohlverdienten
Ruhe hinzugeben. Aber wir ſchleppten ſo viel Fleiſch auf dem
Rücken mit, wie wir tragen konnten. Wir Menſchen haben ja das
vor den Tieren voraus, daß wir auch an das Morgen denken.
* *
*
Das Sommertal ſteht in unſerer Erinnerung da wie eine Oaſe
mitten in der Zeit der Not. Hier hatten wir vollen Sommer und
konnten uns bei jedem Schritt, den wir taten, über die vielen
ſchönen Blumen freuen, die aus der armen Erde aufſproßten,
überall, wo es nur eine Möglichkeit gab, Wurzel zu ſchlagen.
Aber außer den vielen äſthetiſchen Freuden hatten wir auch den
materiellen Genuß, daß wir reichlichen und wohlſchmeckenden
Proviant hatten, ſolange der Aufenthalt dauerte.
Das Sommertal erſtreckt ſich etwa ſechs Kilometer von Norden
234 Neuntes Kapitel.
nach Süden, oder vom Meereis nach dem Inlandeis hinauf. Ein
Fluß, der uns jetzt bei unſerer Abreiſe die größten Schwierigkeiten
bereiten wird durch das große und tiefe Delta, das er bis weit
in das Polarmeer hinein geſchmolzen hat, hat das Tal geſchaffen
und fließt zwiſchen 200 Meter hohen Höhenzügen dahin, deren
Abhänge ſehr fruchtbar ſind. Von allen Hügeln und Bergen
winden ſich kleine Bäche zum Hauptfluß hinab, und aus verſchie⸗
denen noch nicht geſchmolzenen Schneewehen ſickert das Waſſer
herab durch ein Gewimmel von gelben, weißen und roten
Blumen und grünem Gras. 5
Während wir am Zeltplatz auf dem Meereis nur eine Tem⸗
peratur zwiſchen Null Grad und 2 Grad Wärme haben, ſteigt
die Wärme bei Tag und Nacht auf 10 Grad im Schatten, ſobald
wir nur ein Stück in das Tal hinaufkommen; in der Sonne können
wir ſogar bis zu 25 Grad Wärme haben. Das wirkt in der Regel
ſo ſtark, daß wir ſchattige Stellen aufſuchen müſſen, um nicht gar
zu ſehr unter der Hitze zu leiden. In ſeltſamem Kontraſt zu all
dieſer Sommerüppigkeit ſteht das Polarmeer, das ſich mit ſeinem
auftauenden, weißgrauen Eis nach Norden ausbreitet, ſoweit das
Auge reicht.
* *
sk
Snorre berichtet irgendwo im „Heimskringla“, daß Hakon
Jarl, der vor den Gunhild-Söhnen geflüchtet war und ſich bei
dem Dänenkönig Harald Gormſön aufhielt, während des ganzen
Winters über ſo viel nachzudenken hatte, daß er ſich zu Bett legte.
Er lag oft wach und aß und trank nur ſo viel, daß er ſeine Körper⸗
kraft behielt.
Ahnlich geht es mir in dieſer Zeit; ich habe über ernſte Pro⸗
bleme nachzudenken, und wenn mir die Verhältniſſe auch nicht er⸗
lauben, zu Bett zu gehen, um in voller Ruhe alle Fäden zu ent⸗
wirren, fo kann ich doch den alten Wikinger und fein ungewöhn⸗
liches Benehmen durchaus begreifen. Oft liege ich in der Nacht
wach, während die andern ſchlafen, und nie, ſcheint mir, iſt man
der „Morgenröte der Entſchließungen“ näher, als wenn man in
voller körperlicher Ruhe in ſeinem Schlafſack liegt und das Ge⸗
hirn arbeiten läßt; es läßt ſich nicht leugnen, daß es jetzt für
den, der die Entſcheidung treffen ſoll, vieles zu überlegen gibt.
Über ſchmelzendes Eis nach dem Sommertal. 235
Die ſchlechte Bahn, das ſchmelzende Eis und das viele
Waſſer, durch das wir durch müſſen, läßt die Frage auftauchen,
ob es nicht praktiſcher wäre, den Sommer über hier im Tal zu
bleiben, wo vorläufig reichlich Wild zu finden iſt.
Meine Kameraden haben mich auch wiederholt gefragt, ob
ich es nicht für das richtigſte anſehen würde, die Reiſe vorläufig
einzuſtellen und ſie erſt wieder fortzuſetzen, wenn ſo viel Kälte in
der Luft ſei, daß das Waſſer auf dem Eis gefröre. Ich habe aber
die Entſcheidung hinausgeſchoben und daran feſtgehalten, daß wir
weiterziehen müßten, ſei es auch nur in den allerbeſcheidenſten
Tagereiſen. In den Tagen, die wir hier gelegen haben, habe
ich die Lage gründlich durchdacht und meinen Entſchluß gefaßt.
Harald Moltke nach Skizze von Koch
Gletſcherabſchluß des Sommertals.
Wir müſſen die Reiſe fortſetzen und trotz der ſchlechten Bahn,
die uns augenblicklich entmutigt, müſſen wir alle Kräfte daran⸗
ſetzen, eine Stelle am Ende des St.⸗George⸗Fjords zu erreichen,
von wo aus wir aufs Inlandeis hinaufkommen können. Eine
Überſommerung hier würde uns leicht dasſelbe Schickſal wie Mylius⸗
Erichſen bereiten können; denn man muß hier auf Landjagd rech⸗
nen, und wenn die nächſte Umgebung leergejagt iſt, wird es
ungeheuer ſchwierig ſein, neue Jagdgebiete zu erreichen. Auf See⸗
hunde können wir nicht in ſolcher Menge rechnen, daß wir 7 Mann
und 18 Hunde ſo lange damit ernähren können, bis die Bahn
beſſer wird, und das wird kaum vor Anfang September der
Fall ſein. ö
Setzen wir die Reiſe fort, ſo können wir, falls wir nicht zu
236 Neuntes Kapitel.
ſehr vom Unglück verfolgt werden, noch drei Geſpanne von je ſechs
Hunden auf die Beine ſtellen. Augenblicklich ſind wir alle in voller
Kraft, aber niemand weiß, in welcher Verfaſſung wir und die
Hunde ſein werden, wenn wir hier zwei Monate ein Jägerleben
geführt haben.
Jetzt können wir auch auf Seehunde bei Dragon Point hoffen,
im September dagegen durchaus nicht; unſer Fang während der
Überſommerung müßte alſo einen Überſchuß ergeben, der uns
außer dem täglichen Bedarf auch Proviant für die Rückreiſe
ſicherſtellt; dies iſt aber ſehr zweifelhaft. i
Die Schwierigkeiten, denen wir jetzt begegnen, werden in
anderer und ernſthafterer Weiſe wiederkehren, wenn wir die Rück⸗
reiſe verſchieben. Wir werden ſpäter im Jahr mehr Schnee auf
dem Inlandeis finden und infolgedeſſen wird unſere Ausrüſtung
und unſer Proviant ſo mangelhaft werden, daß wir den Weg über
Fort Conger nehmen und vorläufig dort überwintern müſſen. Alle
Dispoſitionen würden dadurch nur komplizierter werden.
Jetzt im Juli und Auguſt haben wir keine beſonders niedrige
Temperatur auf dem Inlandeis. Wir haben die Sonne, ſo daß
wir unſere Kleider trocknen können, und wir können die Schlafſäcke
und anderes entbehren, was unſere Laſten beträchtlich vermindern
wird.
Selbſt wenn wir bei Dragon Point keine beſonders gute Jagd
haben ſollten, kann man es doch verantworten, mit dem Proviant,
den wir augenblicklich haben, über das Inlandeis zu gehen.
Schließlich können wir in dieſer Jahreszeit die Reiſe abbrechen
und auf das Land bei dem Humboldtgletſcher hinabgehen, wo
die Jagd auf Renntiere und Haſen gut ſein wird. Später im
Herbſt werden wir wegen der Dunkelheit dieſe Jagdmöglichkeit
nicht haben.
Und last but not least: zwei Monate Jägerleben hier, wo
man ein großes Umland durchſtreifen muß, werden unſere Fuß⸗
bekleidung ſtark abnutzen, die ſchon jetzt von dem vielen Waten im
Waſſer ſehr mitgenommen iſt.
Alſo — heim ſo ſchnell wie möglich trotz aller Widerwärtig⸗
keiten; jeder Tag, der Maget, wird die Schwierigkeiten nur ver⸗
mehren!
Zehntes Kapitel.
Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord zum
St.⸗George⸗Fjord.
Zum letztenmal über den Sherard⸗Os borne⸗Fjord.
icht ohne Wehmut nahmen wir Abſchied von dem kleinen
Tal, wo wir und die Hunde vier köſtliche Ruhetage gehabt
haben. Wir haben alle das Gefühl, daß wir jetzt einem Kampf ums
Leben entgegengehen, der unſere ganze Kraft erfordern wird.
Viel Proviant können wir von den elf Moſchusochſen, die hier
am Ort erledigt worden ſind, nicht mitnehmen. Wir haben
24 Schultern und Keulen auf die Schlitten geladen; dies würde.
ja als Menſchennahrung recht lange reichen, aber als Hundefutter
macht es nicht viel aus, namentlich da es mager iſt. Mehr als
dieje, Menge können wir nicht transportieren; denn wir haben noch
andere Dinge zu fahren, und es würde ein Ding der Unmöglich—
keit ſein, ſchwere Schlitten aus den vielen mit Waſſer gefüllten
Löchern herauszuziehen, die wir paſſieren müſſen. Übrigens iſt
die Temperatur im Tal ſo hoch geweſen, daß es unmöglich war,
das Fleiſch friſch zu halten. Gewaltige Schwärme von Schmeiß⸗
fliegen ſind buchſtäblich aus der Erde hervorgeſchoſſen und legen
ihre Eier überall in dem Fleiſch ab. Ein abgehäutetes Stück, das
man hinlegt, iſt in wenigen Minuten vollkommen mit Fliegen be⸗
deckt. So raſch entwickeln ſich die Larven der Schmeißfliegen, daß
die fetten und widerlichen Maden in den Augenhöhlen der ge⸗
ſchoſſenen Tiere wimmeln. Auch das reine Fleiſch wird in gleicher
Weiſe verdorben; aber glücklicherweiſe iſt es nicht viel, was ſo ver⸗
lorengeht, da wir erſtens unſere Hunde überfüttert haben und
zweitens ſelbſt ſo viel Mahlzeiten gehalten haben, als ſich über⸗
haupt tun ließ.
238 Zehntes Kapitel.
Wir ſetzen jetzt alle Energie daran, den Sherard⸗Osborne⸗
Fjord zu paſſieren, wie ſchlecht und ſchwierig die Bahn auch ſein
mag; denn jetzt wollen wir heim. Vorgeſtern ſchickte ich Harrigan
und Ajako auf eine Rekognoſzierung nach Kap May aus. Ihre
Beobachtungen beſagten, daß die Strecke von unſerm Lager bis
zum Kap ſchwierig werden würde, dagegen ſchien der Fjord ſelber
trotz einzelner Rinnen nicht ganz unmöglich zu ſein. Wir ſpucken
alſo in die Hände!
Am 15. Juli um 5 Uhr nachmittags ſind wir zum Aufbruch
fertig. Wie wir da auf dem Eis ſtehen, bereit uns ins Waſſer zu
ſtürzen, kommt uns das Sommertal idylliſcher als je vor. Die
Nachmittagsſonne färbt alle die grünenden Abhänge, im Hinter⸗
grund liegt das Inlandeis über dem freundlich rieſelnden Bach
mit ſchönen roſa Farbentönen. Selbſt das große Eismeer hat
Feſtkleidung angelegt; einige phantaſtiſche Luftſpiegelungen unter⸗
brechen die tote Einförmigkeit des Horizonts und laſſen die ſchön⸗
ſten Luftſchlöſſer über der Wüſtenfläche entſtehen. Die Beaumont⸗
inſel mit ihren ſcharfen dunkeln Klippen hat ſich über das Eis er⸗
hoben und ſchwebt, in lila Farben gehüllt, hoch oben in der Luft.
Aber wir haben keine Zeit für Stimmungen. Vor uns haben
wir die alltagsgraue Proſa in Geſtalt der vielen waſſergefüllten
Becken, durch die wir hindurch müſſen. In den erſten vier Stunden
arbeiten wir uns durch das große Flußdelta hinaus, wo uns das
Waſſer oft bis zum Nabel geht. Die Hunde können an den meiſten
Stellen keinen Grund finden, und wir müſſen ſelber die ſchwere
Arbeit verrichten, die Schlitten über die tiefen Seen zu bringen.
Beſonders wenn ſie mit dem Vorderende in den ausgehöhlten
Eishügeln hängenbleiben, haben wir hart zu arbeiten; wir müſſen
uns dann hinlegen, die Arme ins Waſſer ſtecken und ſo die
Schlitten rückwärts aus dem Hindernis herausziehen.
Um unſere Sammlungen, das photographiſche Material, die
Tagebücher und anderes vor einer Durchnäſſung zu behüten,
bauen wir auf den Schlitten eine Etage auf, indem wir zwei
Ständer auf dem vorderſten Querholz errichten und eine Brücke
aus Schneeſchuhen zwiſchen dieſen und den Ständern am hinteren
Schlittenende bauen; dies hilft ausgezeichnet.
Bei Kap May wird das Eis bedeutend beſſer, und zu unſerer
großen Überraſchung finden wir auf der erſten Hälfte des Sherard⸗
Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord zum St.⸗George⸗Fjord. 239
Osborne⸗Fjords das beſte Eis, auf dem wir bisher gefahren find.
Das Schmelzwaſſer ſcheint durchgeſickert zu ſein, und die Becken
ſtehen daher an den meiſten Stellen trocken oder enthalten jeden⸗
falls ſehr wenig Waſſer. Die Hunde traben wohlgemut vor-
wärts, während ein Mann auf dem Schlitten ſitzt. Ein er⸗
mutigender Anblick, den wir ſeit dem 7. Mai nicht gehabt haben.
Alle tragen ſie jetzt Kamiker und leiden nicht ſehr unter den
ſcharfen Eisnadeln. Um 6 Uhr ſchlagen wir mitten im Fjord
das Zelt auf, in der Nähe von der Riffinſel, einer der Beaumont⸗
inſeln. Trotz der gelegentlich ſehr ſchwierigen Bahn haben wir
doch ſchon recht große Ladungen, die für die Heimreiſe berechnet
jind. Wir haben Petroleum, Pemmikan, Keks, Kaffee, Tee,
Zucker, Hafergrütze, unſere Kleidung und dazu auf jedem Schlitten
unſere Moſchusochſenſchultern und Keulen neben Talg und ge⸗
ſchmolzenem Mark. Wir brauchen tatſächlich keinen übermäßigen
Zuſchuß von Seehundfleiſch für jeden Schlitten. Aber vorläufig
haben wir, merkwürdig genug, noch keine Seehunde geſehen.
Könnten wir nur für jeden Schlitten zwei Seehunde erbeuten,
alſo im ganzen ſechs, abgeſehen von dem, was wir während des
Aufenthalts vor dem Aufſtieg auf das Landeis brauchen, ſo
könnten wir mit Leichtigkeit das Land bei Kap Agaſſiz erreichen,
nur etwa 400 Kilometer entfernt vom St.⸗George⸗Fjord.
* *
*
Zum viertenmal kommen wir jetzt auf dieſer Reiſe an den
Sherard⸗Osborne⸗Fjord. Er ilt unbeſtreitbar der ſchönſte von
allen Fjorden hier oben, mit dem weiteſten Horizont nach
außen und dem größten Luftraum nach innen und mit
ſeinen eigentümlichen geologiſchen Formationen. Ganz draußen
an der Mündung die Devonperiode hellbraun mit zahlreichen
Gletſcherzungen, die ſich zwiſchen den hohen vorſpringenden
Kaps vorſchieben, weiter drinnen die Silurformation, bläulich,
bleigrau, ſtark in den Farben wechſelnd bei den verſchiedenen Be⸗
lichtungen, und ganz im Innern das zartwirkende, zeitweiſe hell⸗
rote Algonkium, die eozoiſche Periode, mit den feinen Abtönungen
der Morgenröte darüber. Und im Hintergrund ſieht man durch eine
mächtige, breite Pforte bei Kap Buttreß das Inlandeis, das ſich hier
wie ein weißlicher ſonnenglänzender Nebel am Horizont abhebt.
240 Zehntes Kapitel.
In der ſchönen, ſtillen Herbſtſtunde, da ich dies niederſchreibe,
kurz vor dem Aufbruch nach Dragon Point wird die mächtige
Ruhe des Fjords hier und da von rollendem Donner unterbrochen,
der von den vielen kleinen Lokalgletſchern im Innern herkommt,
die hier auf der Nordoſtſeite des Fjords ungewöhnlich lebhaft zu
ſein ſcheinen. Unſer Zeltplatz liegt etwa in der Mitte des Fjords.
Um 7 Uhr nachmittags brechen wir auf mit dem Kurs nach
Dragon Point.
Wir behalten glücklicherweiſe die vortreffliche Bahn wie
geſtern. Die vielen großen Waſſerbecken haben ſich durch die
Schmelzporen des Eiſes entleert und ſind jetzt an den meiſten
Stellen ganz leer. Das poröſe Eis mit den ſcharfen Nadeln
ſchmerzt etwas unter den Füßen, aber die Hunde, die ihre Ka⸗
miker tragen, verletzen ſich glücklicherweiſe die Pfoten nicht. Ge⸗
legentlich kommen wir über große Seen, die eine Breite von
2 bis 3 Kilometer haben. Hier reicht das Waſſer gewöhnlich nur
ein Stück über den Knöchel, iſt aber ſehr kalt, da eine Schicht von
dünnem Eis darüberliegt, die klirrend bricht, ſobald wir uns
darauf begeben. Dieſes ſcharfe Neueis, das zwiſchen den Pfoten
der Hunde zerbricht, beläſtigt ſie etwas, da die vielen kleinen
Stücke meſſerſcharf ſind; ſie haben die harte Konſiſtenz des Süß⸗
waſſereiſes, im Gegenſatz zu der weicheren Zähigkeit des Salz⸗
waſſereiſes. Um die ſchlimmſten und größten Seen zu vermeiden,
fahren wir im Zickzack und kommen daher erſt um 2 Uhr bei
Dragon Point an, nachdem wir eine Entfernung von 30 Kilo⸗
meter zurückgelegt haben. i
Zu unſerer Überraſchung fanden wir hier einen breiten
Gürtel von offenem Waſſer zwiſchen dem Land und dem Meer⸗
eis; das reichliche Schmelzwaſſer der letzten Tage iſt vom Land
herabgefloſſen und hat das Eis erweicht. Der Druck des Ge⸗
zeitenwaſſers von unten hat das ſeinige dazu beigetragen, das
Schmelzen zu beſchleunigen, und dieſe Kräfte haben im Verein
miteinander einen breiten Gürtel offenen Waſſers zwiſchen Land
und Meereis hervorgebracht. Wir finden eine Stelle, die eine
Breite von nur 40 Meter hat, und ſetzen mit den Schlitten dar⸗
über, die wir mit Fangblaſen ſchwimmtüchtig gemacht haben.
Zu unſerer unbeſchreiblichen Enttäuſchung haben wir noch nicht
einen einzigen Seehund geſehen. Der Grund dafür iſt ſicherlich
Landſchaft bei Kap Namſay.
ualposnploxe Pru pen
Vom Sherard⸗Osborne⸗Fiord zum St.⸗George⸗Fjord. 241
der, daß das Eis infolge der raſchen Schneeſchmelze ſo rauh und
ſtachlig geworden iſt, daß die Seehunde keine Luſt haben, herauf⸗
zukriechen. Aber wir hoffen doch, daß eine einigermaßen ſyſte⸗
matiſche Jagd uns einen Ertrag liefern wird, da wir in einem
Waſſergürtel zwiſchen Land und Eis ſchon verſchiedene Seehunde
geſehen haben.
Nach einer raſchen Mahlzeit gehen Harrigan und ich in die
Berge, um vom Gipfel des hohen Drachenberges aus eine Auf⸗
ſtiegſtelle zum Inlandeis zu ſuchen. Der Weg iſt bösartig. Die
vielen kleinen ſcharfen Steine, die die Berghänge bedecken, ſchneiden
uns in die Füße, die ſchon von der Reiſe über das Eis wund ſind.
Dieſe Steine wechſeln mit ſchwerem, weichem Lehmboden ab, der
jetzt ſo aufgetaut iſt, daß wir häufig einſinken und feſt hängen⸗
bleiben, und ſchließlich müſſen wir über ein paar Flüſſe, die eben⸗
falls Schwierigkeiten machen.
Wir beſchließen, den Berg ſüdweſtlich von Dragon Point zu
beſteigen, und machen auf dem Weg dorthin Jagd auf Haſen.
Es gibt ihrer nicht wenige, aber ſie ſind alle unglaublich ſcheu.
Es gelingt uns jedoch, acht zu erlegen, die wir am Fuß des Berges
niederlegen.
Wir ſahen einen Seehund auf dem Eis in dem Wirbel an der
Mündung eines großen Fluſſes, der ſcheinbdar das ganze Land
bei Dragon Point durchſchneidet. Das Eis, auf dem der See⸗
hund liegt, iſt jedoch infolge des Süßwaſſers ſo ſtark aufgetaut,
daß es ſich für uns als unmöglich erweiſt, auf Schußweite heran⸗
zukommen. Es iſt der einzige Seehund, den wir bisher geſehen
haben.
Der Aufſtieg geht langſam vonſtatten, da uns die Füße
brennen vom Gehen auf den kleinen ſcharfen Steinen, die
eine Marter für unſere Fußſohlen ſind. Erſt um 5 Uhr nach⸗
mittags erreichen wir die Höhe eines großen Firngipfels mit
tiefem und ermüdendem Schnee. Wir befinden uns hier reichlich
1000 Meter über dem Meer. Aber die Mühe hat ſich gelohnt.
Wir haben eine herrliche Ausſicht über den Sherard⸗Osborne⸗
Fiord, den St.⸗George⸗Fjord und das Land nach allen Rich⸗
tungen. Doch ohne ein Auge für das großartige, arktiſche Pano⸗
rama zu haben, das in den friſcheſten, hellen Farben des gletſcher⸗
und firnbedeckten Landes ſpielt, ſuchen wir nur eins: die vielen
Rasmuſſen. ; 16
242 Zehntes Kapitel.
Zungen, die das Inlandeis nach dem Land hinabſchickt, die uns
den Aufſtieg und den Heimweg ermöglichen ſollen, und ein⸗
ſtimmig ertönt unſer Freudenruf:
„Die Stelle iſt gefunden!“
Ungefähr 40 Kilometer fjordeinwärts ſchiebt das Inlandeis
einen weißen Zipfel über ſanft abfallende Berge herab, etwa
5 bis 6 Kilometer vom Fjordeis entfernt. Keine Spalten ſind
hier zu ſehen, und über den Zinnen im Hintergrund leuchtet der
gleichmäßige, breite Rücken des großen Gletſchers. Hier wenne
wir den Verſuch machen.
Erſt ſpät in der Nacht des 19. kommen wir wieder zum Zelt
zurück, nachdem wir faſt zweimal 24 Stunden auf den Beinen ge⸗
weſen ſind. Hendrik und Koch beſtiegen noch den Drachenberg, um
eine Beobachtungsſtation mit der Ausſicht auf all dies neue Land
zu gewinnen.
Die Seehundjagd mißglückt gänzlich.
Am 19. Juli kamen im Verlauf des Nachmittags Ajako
und der Bootsmann von einer dreitägigen Seehundjagd zurück,
die keinerlei Erfolg gehabt hatte. Sie hatten den Fjord über⸗
ſchritten und waren der Küſte bis Kap Bryant gefolgt, wo ſie
von einem breiten offenen Meer aufgehalten worden waren, das
ſich weit nach Norden und dann nach Weſten in der Richtung
nach den Schwarzhornklippen erſtreckte. Keine Seehunde waren
hier zu ſehen geweſen, vermutlich, weil ſie ſich weiter im Meer
draußen aufhalten. Dagegen hatten ſie viele in dem breiten, am
Land entlang führenden Waſſerſtreifen beobachtet. Hier hatten ſie
ſechs Seehunde geſchoſſen, gerade die Zahl, die ich als Sicherung
für die Rückreiſe bezeichnet hatte. Aber alle waren ſie wie Stene
auf den Grund gejunfen.
Das Benehmen der Seehunde iſt hier an dieſem Fjord und
vielleicht überhaupt an der ganzen Küſte von Nordgrönland ſo
verſchieden von dem, was man von allen andern Orten Grön⸗
lands kennt, daß wir in eine ſehr ernſte Lage geraten. Überall
legen ſich in dieſer warmen Sommerzeit die Seehunde auf das
Eis, und ein ſicherer Schuß liefert eine leichte Beute. So be⸗
kamen wir ja auch unſere ſechs Seehunde bei dem „Fleiſchtopf“
und bei Dragon Point; aber diejenigen, die wir jetzt im Waſſer
Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord zum St.⸗George⸗Fjord. 243
ſchießen müſſen, ſind ſo mager, daß ſie ſofort ſinken. Es iſt mög⸗
lich, daß die waſſerbedeckte Eisfläche, auf der das Eis ſcharf und
glatt iſt, ſie nicht zum Aufenthalt einladet, und daß ſie das offene
Waſſer im Meer oder in der Nähe von Land und Eis vorziehen.
Aber unter ganz ähnlichen Eisverhältniſſen und in der gleichen
Jahreszeit haben wir 1912 im Independencefjord und an den
früher geſchilderten Fangorten, Marſhallbai und Renſlaer Har⸗
bour, geſehen, daß die Seehunde heraufkriechen. Eine Waſſer⸗
pantomime, wie ſie hier längs des Landes aufgeführt wird, hat
keiner von uns je zu Geſicht bekommen. Von unſerm Zeltlager.
aus ſind im ganzen drei geſchoſſen worden, aber auch ſie ſind ohne
eine Bewegung auf den Grund geſunken, und trotz aller An⸗
ſtrengungen iſt es nicht möglich geweſen, ſie aus dem trüben
Waſſer aufzufiſchen. Es iſt daher notwendig, daß wir ſchon jetzt
einen beſtimmten Überſchlag über den von uns deponierten Pro⸗
viant machen und über den, den wir uns durch die ſpäteren Jagden
verſchafft haben. Mehr bekommen wir kaum, und er muß reichen,
wenn auch nur ganz knapp.
Ich rechne 12 Reiſetage vom Rand des Inlandeiſes bis zum
Land bei Kap Agaſſiz an der ſüdlichen Ecke des Humboldt⸗
gletſchers; die Entfernung dahin beträgt 400 Kilometer. Rechne
ich, daß wir vier volle Tage durch ſchlechtes Wetter aufgehalten
werden, ſo kommen 16 Reiſetage heraus. Aber um für alle Fälle
gerüſtet zu ſein, müſſen wir für 20 Tage verproviantiert ſein.
Eine Aufſtellung über das Depot, das wir im Mai hier auf
der Landſpitze niedergelegt hatten, ergibt folgendes Reſultat: ge⸗
walzte Hafergrütze für 20 Tage bei einer einmaligen Zubereitung
pro Tag, Keks, kleine Roggenkeks, 5 auf den Tag für 20 Tage,
etwa 50 Pfund Pemmikan, in kleinen Rationen für ſieben Mann
auf 9 Tage berechnet, außerdem Kaffee und Tee für 20 bis 25
Tage. Wir müſſen uns Fleiſchproviant für ungefähr 10 Tage
verſchaffen. Sind das, wie es augenblicklich ausſieht, ausſchließ⸗
lich Haſen, ſo rechnen wir für ſieben Mann auf den Tag drei
Haſen; das beſagt, daß wir 30 Haſen haben müſſen. Da dieſe
einen wenig ausgiebigen und knochenreichen Proviant bilden, ſo
zerſchneiden wir ſie und nehmen nur die Hinterkörper mit. ;
Aber folange wir uns auf dem Meereis befinden, jolange die
vielen Seehunde im Schmelzwaſſer vor unſern Augen plätſchern,
16*
244 Behntes Kapitel.
haben wir die Hoffnung, daß es uns doch gelingen wird, ein paar
zu erlegen. Mißglückt die Jagd, ſo ſind unſere letzte Zuflucht die
Hunde; dies iſt ja leider weder äſthetiſch noch verlockend, aber es
gibt Verhältniſſe, in denen der Kampf ums Daſein die Linien in
den zu treffenden Anordnungen vereinfacht, ſo daß die entſtandene
Lage bis zu einem gewiſſen Grade unſere Gefühle verändert.
Für die Hunde haben wir 24 Stücke Moſchusochſenfleiſch, meiſt
Schultern und Keulen, außerdem Haut und Speck von zwei See⸗
hunden. Dies, hoffen wir, ſoll für 12 Reiſetage ausreichen, vor⸗
ausgeſetzt, daß wir bei dem Aufenthalt im St.⸗George⸗Fjord
nichts davon verwenden müſſen. Noch ſieht es ſo aus, als ob die
meiſten der Hunde mit ein wenig Glück das rettende Land ſüdlich
des Humboldtgletſchers erreichen könnten. Sind wir einmal dort,
dann befinden wir uns in der Gegend von Etah, dem Jagdgebiet
der Eskimos, und von da werden wir die letzten 250 Kilometer bis
zu menſchlichen Niederlaſſungen ſchon ſchaffen.
Schon jetzt ſind wir uns alle klar darüber, daß die Heimreiſe
unſere letzten Kräfte erfordern wird; aber wir haben keine Wahl,
nach Hauſe müſſen wir und fort aus dieſen Gegenden müſſen wir,
wo das Wild uns keine Exiſtenzmöglichkeiten für einen längeren
Aufenthalt bietet.
Ajako und der Bootsmann ſind gleich nach der mißglückten
Seehundjagd auf die Haſenjagd gegangen und kehren bald
darauf mit ſieben Haſen zurück. Sie haben auch eine größere
Schar Hermeline geſehen, wovon ſie eins mitbringen. Um unſer
Moſchusochſenfleiſch zu ſchonen, füttern wir die Hunde mit Haſen,
ein Mahl, das ihnen wohl mundet, ſie aber nicht ſonderlich zu
ſättigen ſcheint. Im Lauf des Tages kommen auch Koch und
Hendrikſen vom Drachenberg zurück. Koch iſt begeiſtert über die
ſchöne Ausſicht, die er gehabt hat, und über die vortrefflichen
Reſultate, die die Bergbeſteigung gebracht hat.
Der Hungertod lauert jetzt von allen Seiten auf uns, und wir
entſchließen uns zu einem raſchen Aufbruch. Aber da es ſich am
beſten lohnt, wenn die Jäger ſoviel wie möglich verteilt ſind,
wird der Zug ſo geordnet, daß die Expedition ſich vorläufig in
zwei Abteilungen gliedert. Wulff, Koch, Hendrik und der Boots⸗
mann ſollen dem großen Fluß, der das Land durchſchneidet, ſo
weit aufwärts folgen, bis ſie auf die Höhe des Punktes kommen,
Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord zum St.⸗George⸗Fjord. 245
von wo aus wir nach dem Daniel⸗Bruun⸗Gletſcher auf Warming⸗
land hinübergehen wollen. Harrigan, Ajako und ich fahren die
Schlitten nach dem Treffpunkt.
Während des Aufbruchs ſind alle in beſter Laune. Wir denken
nicht mehr ſehr daran, daß wir bald unweigerlich an den Hunger⸗
pfoten werden ſaugen müſſen. Weit mehr beſchäftigt uns der Ge⸗
danke, daß wir endlich den Weg nach Hauſe gefunden haben und
daß unſer Aufenthalt hier oben mit günſtigen Ergebniſſen ab⸗
ſchließen möge. Vor der Trennung halten wir ein heiteres Scheiben⸗
ſchießen mit einem Revolver, der zurückgelaſſen werden ſoll, weil wir
genötigt ſind, alles liegenzulaſſen, was das Gepäck unnötig beſchwert.
Bei dieſem Scheibenſchießen übertrifft Hendrik wie gewöhnlich
alle an Witz und Laune und ſteckt uns alle mit ſeinen komiſchen
Narrenſtreichen an. Gerade, ehe wir uns trennten, geſchah etwas,
was mir im Augenblick gleichgültig erſchien, womit ſich meine
Gedanken aber ſpäter viel beſchäftigen ſollten, wenn ich auch die
getroffenen Anordnungen nicht bereuen konnte.
Gerade als wir abfahren wollten, kam Hendrik zu mir und
fragte, ob er nicht von dem Marſch über Land befreit werden
könnte; er könne nicht ſagen warum, aber er habe recht wenig Luſt
dazu, und er bat, ob er nicht mit uns über das Eis gehen dürfe.
Ich erklärte ihm, daß die Verteilung aus praktiſchen Gründen ge⸗
ſchehen ſei, da es uns ja darum zu tun ſein, möglichſt viele zur
Jagd über das Land zu verteilen, und daß die Wanderung über
Land außerdem viel angenehmer ſein würde als die Fahrt über
das Eis, die meiſtens durch Waſſerbecken gehen würde. Er ent⸗
ſchuldigte ſich dann, daß ſeine Fußbekleidung ſo ſchlecht ſei, daß
ihm das Gehen auf den vielen Steinen Schmerzen in den Füßen
verurſachen würde. Ich gab ihm daher ſofort ein Paar meiner
eigenen Kamiker, die er über die ſeinigen ziehen konnte, ſo daß
ſeine Fußſohlen geſchützt waren.
Im ſelben Augenblick kam indeſſen Harrigan, der die Unter⸗
haltung gehört hatte, zu uns und ſagte, Hendrik könne ja, wenn
er ſo ungern über Land ginge, ſeinen Schlitten nehmen, dann
würde er, Harrigan, mit dem Bootsmann zuſammen auf die
Haſenjagd gehen. Aber nun hatte unterdeſſen Hendrik ſich anders
entſchloſſen und erklärte, wenn ich es einmal beſtimmt hätte, daß
er zu der Abteilung gehören ſollte, die über Land ginge, ſo wäre
246 Behntes Kapitel.
es das beite, er füge ſich — und dabei blieb es. Das einzige, was
mich bei dem kleinen Intermezzo im Augenblick in Erſtaunen ſetzte,
war, daß Hendrik, der ſich ſonſt immer in ſtrahlender Laune den
Aufgaben unterzog, die ihm geſtellt wurden, bei dieſer Gelegen⸗
heit ſich anfangs geweigert hatte, den ihm zugewieſenen Auftrag
auszuführen. Aber da er in den letzten Tagen ſich mit ſeiner
Remingtonflinte als einer unſerer ſicherſten Schützen erwieſen hatte,
wenn es galt, die ſcheuen, flüchtigen Haſen zu erlegen, war ich trotz
allem froh, daß es bei der Beſtimmung blieb — ich ahnte nicht,
welch traurige Kataſtrophe die Folge dieſes Beſchluſſes ſein ſollte.
Hendrik wird vermißt.
20.— 24. Juli. Endlich, an einem ſchönen Abend des 20. Juli,
brachen wir auf, um den Aufſtieg an der Stelle zu verſuchen, die
wir vom Gipfel des Drachenberges dazu auserſehen hatten. Der
Aufenthalt bei Dragon Point hatte unſere Hoffnungen in jeder
Hinſicht enttäuſcht; aber trotz des wenig befriedigenden Proviants
waren wir doch in ſtrahlender Laune, weil die Sonne beſtändig
über uns ſchien und unſere Sachen trocknete, während wir
ſchliefen.
Unſern Kameraden zuwinkend und die Hunde mit aufmun⸗
ternden Zurufen anfeuernd, fuhren wir jetzt mitten auf den Fjord
hinaus, wo die Verhältniſſe beſſer ſchienen. Es zeigte ſich aber
bald, daß die Bahn abwechſlungsreicher war, als wir fie je ge⸗
habt hatten. Das Eis beſtand aus altem Sikuſſag von unge⸗
wöhnlicher Bösartigkeit. Die Schmelzlöcher waren bis zu 3 Meter
tief und lagen an einzelnen Stellen ſo dicht beieinander, daß nur
ſchmale Eisrücken ſie voneinander trennten, und dieſe waren ſo
ſchmal und ſcharf, daß es beinahe unmöglich war, die Schlitten
hinüberzubringen, ohne daß ſie umſtürzten. Hier und da fanden
ſich Rinnen, die ganz durch das Eis durchgingen; namentlich dieſe
Rinnen machten uns viele Mühe, weil die Hunde ſich weigerten,
hinüberzuſchwimmen. Mit allen Kräften mußten wir die Schlitten
aufrecht halten, die jeden Augenblick Miene machten, in die
Seen zu fallen, und es wurde allmählich außerordentlich er⸗
müdend, ſie zu ſtützen, da ſie an Gewicht zunahmen, je mehr die
Ladung ſich mit Waſſer vollſaugte. Trotzdem wir bei allen
ſchwierigen Stellen einander halfen, ging es doch oft über unſere
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Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord zum St.⸗George⸗Fjord. 247
Kräfte, die Schlitten auf dem glatten Eis zu halten, wo wir in
unſern waſſergefüllten ſchlotternden Stiefeln ausglitten, und wenn
ſie umſtürzten, blieb uns nichts anderes übrig, als ſchleunigſt ins
Waſſer zu ſpringen.
Alles wurde naß; ſogar unſere Heiligtümer, die auf der ganzen
Reiſe aufgenommenen Filme, Wulffs Pflanzenſammlungen, die
photographiſchen Apparate mit vielen wertvollen Aufnahmen
und vieles andere trugen Merkmale von dieſer abſcheulichen Fahrt
davon. — Nach zwölfſtündigem Marſch durchs Waſſer machten
wir um 9 Uhr vormittags halt, heiſer vom Anfeuern der Hunde.
Im ganzen war es uns nur gelungen, 20 Kilometer in den.
St.⸗George⸗Fiord einzudringen.
Um 5 Uhr nachmittags war das naſſe Gepäck ſo weit ge⸗
trocknet, daß wir die Fahrt fortſetzen konnten; wie es mit unſerer
Kleidung ſtand, kümmerte uns nicht weiter, denn wir ſollten ja
doch wieder kopfüber ins Waſſer. |
Gerade als wir zum Abmarſch bereit waren, erſchien ein See⸗
hund in einer Rinne dicht vor unſerer Naſe. Er erhielt augen⸗
blicklich eine Kugel in den Kopf, ſank aber trotz aller Eile ſo
blitzſchnell, daß wir nicht Zeit hatten, ihn zu faſſen.
Ein Nordweſtwind ſteht auf, und Nebel ſetzt ein. Mit einem⸗
mal iſt der Sommer wie aus dem Fjord hinausgeblaſen, und mit
dem Verſchwinden der Sonne fangen wir an, in den naſſen Klei⸗
dern zu frieren, daß uns die Zähne klappern. Vorwärts geht es
jetzt durch Eis und Waſſer, aber mitten in aller Eile müſſen wir
jeden Augenblick haltmachen, um die Kamiker der Hunde zu
erneuern, die in dem rauhen und höckerigen Eis ſich raſch ab⸗
nutzen. Ohne ſie würden die Hunde binnen wenigen Minuten
große Wunden an den Fußſohlen bekommen und für den Reit
der Reiſe unbrauchbar ſein. Wir müſſen ihnen alſo mit Händen,
die geſchwollen und ſteif von dem kalten Waſſer ſind, Kamiker
anlegen. So raſch es geſchehen kann, ſetzen wir unſere Fahrt
Tiordeinwärts fort, und zu unſerer Freude ſtellt ſich heraus, daß
die Bahn beſſer iſt als geſtern. Der Wind fährt in recht putziger
Weiſe rings um den Fjord herum; er kommt auf der ſüdlichen
Seite als Südoſtwind herein und geht am nördlichen Ufer als
Nordweſtwind hinaus. Wir ſind mitten im Ring drin, und es
wirkt geradezu wie ein Karuſſell.
248 | Behntes Kapitel.
Wir folgen dem Küſteneis einwärts und werden plötzlich durch
einen Ruf vom Land her zum Halten veranlaßt. Durch den
Nebel erkennen wir den Bootsmann, der auf einem großen Stein
dicht an der Innenſeite des Gezeitenwaſſergürtels ſitzt, wild ge⸗
ſtikulierend, wie es die Gewohnheit der Eskimos iſt, wenn ſie dieſe
oder jene große Mitteilung zu machen haben. Sobald wir näher⸗
kommen, begreifen wir denn auch, daß es eine wichtige Neuigkeit
gibt. Er hat eben einen Seehund geſchoſſen, der jetzt, deutlich ſicht⸗
bar, tot im ſeichten Waſſer liegt. Er erzählt ferner, daß er auf
dem Weg ſieben Haſen geſchoſſen habe. Jetzt kommt Leben in
uns alle. In Eile wird aus Zeltſtangen eine lange Stange ange⸗
fertigt und an der Spitze eine Harpune angebracht, die wir in
den Seehund hineinſtoßen können, um ihn dann mit Hilfe der
Fangleine, die an der Harpune feſtgemacht iſt, heraufzuziehen.
Es iſt das erſtemal, daß der erlegte Seehund an einer Stelle
geſunken iſt, wo man ihn ſehen kann, und wir ſpüren bereits den
Geſchmack ſeines köſtlichen Fleiſches und die Wärme des Specks
im Körper. Eine Fähre wird hergeſtellt — aber im ſelben Augen⸗
blick, als die improviſierte Harpune ins Waſſer eintaucht, rollt
der Seehund wie von einer unſichtbaren Hand gefaßt in die Tiefe
und verſchwindet!
Niemand fluchte bei dieſer Gelegenheit, dazu war die Ent⸗
täuſchung zu groß, und ſeltſam ruhig ſetzten wir unſern Weg fort,
um die Kameraden zu treffen.
Der Bootsmann erzählte, Hendrik ſei unterwegs zurückge⸗
blieben, weil er vorgezogen habe, ein Schläfchen zu machen und
dann die Haſenjagd fortzuſetzen. |
22. Juli. Um 2 Uhr morgens trafen wir Koch und
Wulff, die von der langen Tour ziemlich angeſtrengt waren.
Aber ſobald ſie gekochte Haſen und Kaffee bekommen hatten,
war die Müdigkeit wie weggeblaſen, und wir konnten von
neuem die Lage erörtern. Das Land war unwegſam und
öde geweſen, und obgleich ſich eine große Anzahl Haſen ge⸗
zeigt hatte, waren ſie doch alle ſo ſcheu, daß man ſich gar keine
Hoffnung auf eine Jagd hier machen konnte, die eine Raſt er⸗
möglicht hätte.
Wulff gibt in ſeinem Tagebuch folgende Beſchreibung der
Wanderung: 5 ;
6
c
7
%
A
TE
4 vd
te
SE TEENS TEE TES
Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord zum St.⸗George⸗Fjord. 249
„Nach der Trennung von Knuds Abteilung gingen wir in dem großen Tal
aufwärts, Koch und ich auf der weſtlichen Seite des großen Fluſſes, Hendrik
und der Bootsmann auf der öſtlichen. Nach mehrſtündiger Wanderung ſchoß
ich eine Lestris (Raubmöwe), die ſicher weit im Lande drinnen an einem ge⸗
frorenen Bergſee ihre Jungen hatte. Wir rupften den Vogel ſofort und verzehrten
ihn, faſt ehe er erkaltet war. Wir waren raſend hungrig. Später noch eine
Raubmöwe. Ein ſonniger warmer Tag.
—
, eee,
* 2
Raubmöwe mit Jungem. E. Ditlevſen
21. Juli. Auf der weſtlichen Seite des Tals gab es auf der Hochfläche in
der Nähe des Fluſſes, an dem wir dahinſchritten, trotz des äußerſt ſpärlichen
Pflanzenwuchſes viele Haſen. Ich ſchoß vier Stück, aber die meiſten waren ſehr
ſcheu und flüchteten ſchon auf ein Kilometer Entfernung. Auch die Jungen
waren ſehr ſcheu; die Weibchen hatten Milch. Auf der Oſtſeite des Tals hörten
wir Hendrik und den Bootsmann ſchießen und gewahrten ſie ab und zu in
weiter Entfernung. Koch erlitt einen kurzen Schwindelanfall bei der Berg⸗
wanderung, erholte ſich aber bald. War äußerſt mißgeſtimmt über die bevor⸗
ſtehende Heimreiſe und die Schwierigkeiten auf dem Inlandeis. Aber ich ſuchte
ihn, der müde und hungrig war, zu ermutigen. Die tiefen Canons hinderten
das Vorwärtskommen beträchtlich, aber wir hielten uns meiſt auf den Berges⸗
höhen, um alle ſteilen Talſenkungen zu vermeiden. Die Haſenlaſt wurde ſchließ⸗
lich zu ſchwer. Drei Haſen und ein Gewehr ſind im Gebirgsgelände eine volle
Laſt. Ich nahm die Kaldaunen heraus, die ich als Hundefutter aufhob. Koch
und ich aßen ſogleich den Kopf mit dem Gehirn, die Zunge, Naſenknorpel, Herz,
Lungen, Nieren und Fett. Koch ſaugte die Milchdrüſen aus. Man iſt jetzt ſo
weit „eskimoiſiert“, daß rohes Fleiſch und rohe Eingeweide nicht im geringſten
Ekel erregen. Nach 19 Stunden erreichten wir die Küſte und hatten einen
ſchweren, ſteilen Abſtieg. Keine Spur von Knuds Abteilung.
Da Koch und ich nicht, wie wir erwartet hatten, in der Nähe der Schlitten
an die Küſte kamen, glaubten wir, daß ſie ſüdlicher vorbeigekommen ſeien, und
250 Behntes Kapitel.
zogen am Strande weiter. Auf dem Fjordeis Rinnen und Spalten und ein
breiter, offener Gezeitenkanal längs der Küſte. Gingen zwei Stunden nach
Süden, müde und hungrig. Legten uns nachmittags in den Sand und ver⸗
ſuchten zu ſchlafen. Aber ich fand es zu kalt. Koch ſchlief ſofort ein. Ich ging
2%, Stunden weiter an der Küſte nach Süden, ohne eine Spur von Knud zu
finden, dann wieder zu Koch zurück. — Ein ſtrammer und ermüdender Marſch
von fünf Stunden. Koch war inzwiſchen erwacht und hatte den Reſt eines
Haſen aufgegeſſen — roh. Ich hielt ebenfalls ein blutiges Mahl von
rohem Fleiſch und trank dazu einen Schluck kaltes Waſſer aus dem Bach. Hatte
im Lauf des Tages meinen Tabaksbeutel verloren — fatal! Jetzt iſt kalte,
nebelige Nacht. d
22. Juli, 12,30 Uhr vorm. Bei meiner einſamen Wanderung an der Küſte
fand ich ein paar ältere Moſchusochſenſchädel und ein ganzes Skelett, ſowie friſche
Wolfsſpuren im Strandlehm. Beſchloß an der Küſte entlang wieder nordwärts
zu wandern, da wir glaubten, Knuds Abteilung ſei durch ſchlechtes Eis auf⸗
gehalten worden. Sehr müde und erfroren. Endlich hörten wir im Nebel auf
dem Eis draußen Hundegebell, Büchſenſchüſſe und die Stimme der Eskimos, die
ihre Hunde antrieben. Bald waren wir mit Knuds Abteilung vereint, um
2 Uhr vorm. Wir lagerten auf dem Gezeitenkanal, über den Ajako Koch und
mich trug. Wir waren 31 Stunden auf dem Marſch geweſen und 48 Stunden
lang ohne Schlaf.
Wir hatten noch 18 Hunde; ſollten wir dieſe mit Haſen
füttern, ſo brauchten wir wenigſtens 10 jeden Tag. Das wäre
immer noch ein recht kärgliches Futter, da in dieſer Jahreszeit nur
wenig Fleiſch an den knochigen Körpern ſitzt. Wir ſahen daher
ein, daß die Jagd uns keinesfalls einen Ertrag liefern würde,
der zur Ernährung der Hunde und unſrer ſelbſt ausreichte und
dazu noch einen Überſchuß von etwa 30 Halen brächte, die wir
nach unſerer Berechnung als notwendigen Zuſchuß zum Rückreiſe⸗
proviant brauchten. Es gab daher keine andere Wahl, als die
Reiſe landeinwärts fortzuſetzen, da jede Stunde Aufenthalt gleich⸗
bedeutend war mit einer weiteren Verringerung unſeres Proviants.
Dem Fortbleiben Hendriks ſchenkte zu dieſem Zeitpunkt keiner von
uns einen Gedanken. Wir waren es unter den wechſelnden Lebens⸗
verhältniſſen ſo gewohnt, daß jeder in ſeiner eigenen Richtung jagte
und auf unbeſtimmte Zeit fortblieb, wenn er meinte, es verlohne
ſich, daß niemand auf den Gedanken kam, ſich zu ängſtigen. Aber
zur Sicherheit gingen doch zwei Mann in die Berge hinauf, um
in verſchiedenen Richtungen zu ſuchen. Aber ſelbſt, als ſie um
2 Uhr nachmittags, 12 Stunden nach unſerer Ankunft bei dem
Zelt, zurückkamen, ohne etwas von Hendrik geſehen zu haben, war
251
Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord zum St.⸗George⸗Fjord.
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252 Zehntes Kapitel.
keiner unter uns, der ſich darüber beunruhigte. Dieſe letzte
Wanderung ergab einen Ertrag von 11 Haſen, wovon 10 ſogleich
den Hunden überlaſſen wurden, während wir ſelbſt den letzten teilten.
Es waren Ajako und Inukitſog, die geſtern in den Bergen ge⸗
weſen waren; unmittelbar nach ihrer Ankunft wurde der Boots⸗
mann nach der Stelle geſandt, wo ſie ſich am 21. abends getrennt
hatten. Auch er kehrt nach langer Abweſenheit ohne Reſultat
zurück. Erſt jetzt beginnen wir für Hendrik zu fürchten, und un⸗
unterbrochen durchſtreifen ein oder zwei Mann die Berge und ver⸗
ſuchen bei ihrem Durchforſchen des Geländes durch Schüſſe und
Rufe ſeine Aufmerkſamkeit zu erregen. Der Bootsmann berichtete:
Nach zehn- bis zwölfſtündiger Wanderung fiordeinwärts, wo⸗
bei ſie beſtändig Wulff und Koch auf dem andern Flußufer ſehen
konnten, waren ſie zu einem großen Stein gelangt, an dem ſie
ſich zur Ruhe niederlegten und verſuchten, einen Haſen zu
kochen. Sie waren nicht einen Augenblick im Zweifel ge⸗
weſen, welchen Weg ſie einzuſchlagen hätten, und wußten, daß
ſie jetzt die Stelle erreicht hätten, von wo aus ſie ſich nach
dem St.⸗George⸗Fjord wenden ſollten. Namentlich Hendrik,
der mit Koch auf dem Gipfel des Drachenberges geweſen war,
war wohl orientiert.
Sie waren beide ſehr hungrig, aber da ſie als Brennmaterial
nur friſche Weidenſchößlinge hatten, gelang es ihnen nicht, Feuer
zu machen, und ſie mußten das Kochen aufgeben. Während ſie
daſaßen, ohne daß einer Luſt hatte, rohen Haſen zu eſſen, ſchlief
Hendrik ein; der Bootsmann wollte indeſſen ſo raſch wie möglich
mit uns unten am Eis in Verbindung kommen und weckte ihn
bald mit dem Beſcheid, daß er jetzt weiterzöge. Darauf ging er
zum Fluß hinab, der groß und breit war, fand aber doch leicht
eine Übergangsſtelle, wo das Waſſer ihm nicht höher als bis an
die Knöchel ging. Auf dem einen Flußufer gewahrte er bald
ein paar Haſen und begann ſie zu verfolgen. Vorher wandte er
ſich noch einmal um, um nach Hendrik auszuſchauen, und ſah ihn
aufrecht neben dem Stein, wo er geſchlafen hatte, ſtehen. Hendrik
hatte zu dieſer Zeit 4 Haſen erlegt, hatte aber noch 30 Patronen,
und da der Bootsmann meinte, er würde ſeine Jagd nach andern
Richtungen fortſetzen wollen, ging er nach dem Fjord hinab in
der Richtung, die er und Hendrik Wulff und Koch hatten ein⸗
Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord zum St.⸗George⸗Fjord. 253
ſchlagen ſehen. Durch eine Schlucht gelangte er darauf nach einer
großen und ſteinigen Hochebene, die ihn direkt zum Fjord hinab⸗
führte; hier trafen wir ihn, eine Stunde nach ſeiner Ankunft.
* *
*
Die Lage iſt im Augenblick verzweifelt. Wir wiſſen nicht,
was wir tun ſollen oder wo wir ſuchen ſollen, denn da das Land
noch ſchneefrei iſt, haben wir keine Spur, nach der wir uns richten
können, und da Hendrik nach der Anſicht des Bootsmannes ſeine
Jagd fortzuſetzen ſchien, iſt es ſchwer zu raten, in welcher Richtung
er gegangen iſt. Doch es iſt undenkbar, daß er ſich verirrt hat,
namentlich weil es eine Inſel iſt, auf der er ſich befindet. Wir
neigen am meiſten zu der Annahme, daß er bei der Verfolgung
von Haſen mit ſeinem Gewehr gefallen iſt und ſich ſelbſt erſchoſſen
hat. Die Haſen halten ſich hier zwiſchen Schluchten und Steinen
auf, und in einer ſolchen Ortlichkeit einen verunglückten Mann zu
finden, iſt ein reiner Zufall.
Ich muß in dieſer Verbindung an eine Epiſode in der Kolonie
Chriſtianshaab im däniſchen Grönland denken. Ein Knabe kam
hier durch einen fahrläſſigen Schuß 3 bis 4 Kilometer von der
Kolonie entfernt ums Leben. Die ganze Kolonie, die etwa
80 Menſchen zählte, machte ſich auf, ihn zu ſuchen, aber ohne Er⸗
folg. Erſt nach drei Jahren wurde er von ein paar Schneehuhn⸗
jägern rein zufällig gefunden; er lag buchſtäblich auf der Haupt⸗
ſtraße der Schneehuhn⸗ und Haſenjäger, aber in einem Stein⸗
loch, wo nur der Zufall ſeine Entdeckung herbeiführen konnte.
Vorläufig fahren wir mit Suchen fort. Unterdeſſen geht das
Viordeis, das wir noch paſſieren müſſen, um nach Warmingland
zu kommen, ſeiner vollſtändigen Auflöſung entgegen. Um uns
herum wird das Schmelzwaſſer immer tiefer und bildet an ein⸗
zelnen Stellen Löcher, die ganz durch das Eis durchgehen. Jeden
Tag wachſen die Schwierigkeiten, die mit der Überſchreitung
eines ſolchen Geländes verbunden ſind. Außerdem iſt die nächſte
Umgebung leergejagt, und es wird immer ſchwieriger, die Hunde
einigermaßen in Form zu halten.
Eine große regendrohende Wolkenbank zieht in Südoſten auf
und vermehrt das troſtloſe Unbehagen, das im Zelt herrſcht und
uns alle ſtumm macht. Bei jedem Laut aus den Bergen oben,
254 Behntes Kapitel.
wenn ein Stein ſich löſt und herabrollt oder ein Vogel mit feinem
Schrei die Stille durchbricht, fahren wir zuſammen und laufen
zum Zelt hinaus, um zu ſehen, ob es nicht der Vermißte iſt, der
kommt. Sollte jetzt noch obendrein ein Sturm losbrechen, ſo
wird es wahrſcheinlich unmöglich werden, über den Fjord zu
kommen; gutes Wetter haben wir ſchon ſo lange gehabt, daß
eine Wetterveränderung unmittelbar bevorſtehen muß.
Heute iſt alles Land in der Richtung des großen Fluſſes durch⸗
ſucht worden, ebenſo die Küſte, ſoweit man ihr im Hartzſund
folgen kann. .
24. und 25. Juli. Der allerletzte Verſuch beſteht darin, daß
wir uns alle auf einmal über die Strecken der Inſel zerſtreuen,
wo die Möglichkeit vorliegt, daß Hendrik verunglückt ſein könnte.
Zwölf Stunden lang ſind wir ununterbrochen unterwegs, einer
3 bis 4 Kilometer von dem andern entfernt. Die ganze Nacht
hallt die Landſchaft von unſern Rufen in der großen drückenden
Stille wider, aber nie tönt eine Antwort oder ein Notſchrei zurück,
auf den wir bis zum Außerſten geſpannt warten. Unheimlich
ſchallt Hendriks Name über die Inſel, die jetzt ſein Grab werden
ſoll. Als wir endlich das Suchen aufgeben müſſen, kehren wir zum
Zelt zurück und ſchleichen uns müde und wortlos an unſere Plätze.
Darauf wurde ein Expeditionsrat gehalten und einſtimmig be⸗
ſchloſſen, daß nicht mehr für Hendrik getan werden könne und daß
wir gezwungen ſeien, die Reiſe fortzuſetzen. Die Wolkenberge, die
vom Südoſten her gedroht hatten, überfielen uns jetzt mit Regen
und machten den Aufenthalt in unſerm Lager noch unhaltbarer.
Mit ſchwerem Herzen rüſteten wir uns zum Aufbruch, aber
vorher bauten wir auf vorſpringenden Punkten drei Gteinmale;
eins oben auf einem Berggipfel, der von der großen Steinebene
hinter den Strandbergen ſichtbar war. Dort hinterließen wir einen
Brief, der angab, welchen Weg wir gefahren wären, und wo
Hendrik darauf rechnen könnte, in den nächſten Tagen uns zu
treffen. Ein anderes Steinmal wurde mit dem gleichen Beſcheid
und einer Karte unten am Hartzſund errichtet, und endlich wurde
ein Steinmal oberhalb unſeres Zeltlagers gebaut und hier etwas
Proviant und Kleidungsſtücke niedergelegt, ſo daß der Vermißte
ohne Schwierigkeit unſer Lager auf Warmingland erreichen konnte,
wenn er ſich nur verirrt hatte.
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Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord zum St.⸗George⸗Fjord. 255
Noch einmal unterſuchten wir die ganze Umgebung, da keiner
von uns ſich entſchließen konnte, aufzubrechen, und auf unſerer
Fahrt durch den Fjord durchforſchten wir mit dem Fernglas immer
wieder das Gelände, das wir in den letzten Tagen durchwandert
hatten. Als wir von der äußerſten Spitze von Warmingland aus
landeinwärts nach dem Daniel⸗Bruun⸗Gletſcher wanderten, hatten
wir ununterbrochen 72 Stunden geſucht.
Die letzten Tagereiſen auf morſchem Eis.
Unſer Leben ſtand jetzt auf dem Spiel; das war die brutale
Wahrheit. Wir wagten uns daher auf ein Eis, das ſo brüchig war,
daß man es unter andern Verhältniſſen für unmöglich gehalten
hätte, ſich ihm anzuvertrauen. Aber wir mußten vorwärts, und
zwar ſo ſchnell wie möglich. Drei von uns mußten beſtändig den
Hunden vorangehen, die nicht länger durch das Waſſer zu treiben
waren; dieſes war oft ſo tief, daß die Tiere ſchwimmen mußten.
12 Stunden nach unſerm Aufbruch wurde ein Seehund in der
Gezeitenrinne bei Warmingland erlegt. Einige Augenblicke war
es, als ob wir aus der gedrückten Stimmung, in der wir uns be⸗
fanden, herausgeriſſen würden, da die Hoffnung, endlich eine
Mahlzeit mit Fett zu bekommen, uns aus unſerer Mutloſigkeit
aufrüttelte. Eine Eisſcholle wurde als Fähre nach der Stelle ge⸗
bracht, wo der Seehund geſunken war; es dauerte auch nicht lange,
bis wir ihn erblickten, da das Waſſer ziemlich klar und nicht be⸗
ſonders tief war. In größter Eile wurde unſere Harpune aus den
zuſammengebundenen Zeltſtangen bereitgeſtellt, aber gerade als
wir anfangen wollten, den Seehund aufzufiſchen, kamen ein paar
große Eisſchollen herangetrieben und legten ſich wie eine Toten⸗
wache über den geſunkenen Seehund. Es nützte nichts, daß wir
unſere Nachtruhe opferten und uns verzweifelt bemühten, ihn zu
bekommen. Der Regen ſtürzte auf uns herab, und das kleine Stück
des Oberkörpers, das vom Schmelzwaſſer nicht erreicht worden
war, wurde unbarmherzig durchweicht.
Es iſt eine bekannte Tatſache, daß wir Menſchen, ſelbſt wenn
wir in Wirklichkeit jede Hoffnung aufgegeben haben, trotz alledem
ſolange wie möglich eine kleine, allerletzte Möglichkeit offenlaſſen.
So hatten wir immer gehofft, Hendrik hätte aus dieſem oder jenem
unerklärlichen Grunde den Hartzſund überſchritten, und falls dies
256 Zehntes Kapitel.
geſchehen wäre, würden wir ihn in Warmingland treffen. Heute
ſchwand auch dieſe Hoffnung; und jetzt, da Hendriks Tod eine
Tatſache iſt, müſſen wir das Schickſal, dem er zum Opfer fiel,
erörtern. Es iſt denkbar, daß er ſchlafend von Wölfen überfallen
worden iſt. Wir haben auf der heutigen Tagereiſe drei gejehen,
von denen einer von dem Lande kam, das wir eben verlaſſen
hatten. Oder er kann auch unvorſichtigerweiſe einen Fluß an einer
Stelle durchwatet haben, wo dieſer tief und reißend war, und der
Strom kann ihn mit fortgeriſſen haben. Und ſchließlich beſteht die
Möglichkeit, die ich oben ſchon angedeutet habe und die wohl die
wahrſcheinlichſte iſt, daß er ſich bei einem Fall mit ſeinem eigenen
Gewehr erſchoſſen hat. :
Auf der heutigen Wanderung machte ich eine noch nicht
erlebte Erfahrung mit einem Wolf. Bei einem Streifzug über
Land hörte ich ſchleichende Schritte hinter mir, und als ich
mich plötzlich umwandte, ſah ich 50 Meter hinter mir ein Paar
runde leuchtende Augen auf mich gerichtet. In demſelben Augen⸗
blick, da unſere Blicke ſich begegneten, erloſch der Glanz in den
Augen, und das Tier blieb in ſchlaffer Haltung und mit feige
ſchlenkernden Gliedern ſtehen, ohne jede Spur von Intereſſe für
mich. Ich war unbewaffnet, hatte nur einen Stock in der Hand,
und es war faſt, als ob das Tier von meiner abſoluten Ungefähr⸗
lichkeit Kenntnis hatte, und doch wagte es nicht, mich anzugreifen!
Es machte mir Spaß, den Wolf eine Weile auf die Probe zu
ſtellen; ſobald ich ihm den Rücken zuwandte und ein Stück weiterging,
verdoppelte er ſeine Schritte und folgte mir. Aber in dem Augen⸗
blick, da ich mich umdrehte, erloſch wieder der Blick in ſeinen
Augen, und er verſuchte Intereſſen zu heucheln, die mit meiner
Perſon nichts zu tun hatten. Ging ich dagegen rückwärts in meiner
Richtung weiter, ſo folgte er nie nach, ſondern begnügte ſich damit,
in derſelben abwartenden, aber ganz gleichgültigen Stellung
ſtehenzubleiben. So ſah die Verkörperung der Heimtücke aus,
und mit Schaudern dachte ich an das Schickſal des armen
Hendrik.
26. Juli. Wir haben unſern Weg geſtern abend fortgeſetzt,
nachdem wir einige Stunden an der Stelle, wo wir den Seehund
verloren haben, ausgeruht hatten, und wir haben uns jetzt wieder
in zwei Abteilungen geteilt, da ja immer die Möglichkeit beſtand,
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Rasmuſſen.
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Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord zum St.⸗George⸗Fjord. 257
daß wir im Land drinnen etwas Wild fänden. Hier gehen
Wulff, Koch und ich und ſpähen uns die Augen müde in dem
gottverlaſſenen Land. Plötzlich werden wir aufmerkſam, daß
die Schlitten ein Stück in den Fjord hinausgefahren ſind und
haltgemacht haben. Wir richten ſofort das Fernglas auf ſie und
entdecken, daß endlich der große Augenblick gekommen war, auf
den wir ſo viele Tage gehofft hatten. Ein Seehund war oben auf
dem Eis ein paar Kilometer von den Schlitten entfernt ſichtbar,
und Inukitſog hatte bereits begonnen, zu ihm hinzukriechen. Es
verging eine Stunde, in der wir kaum atmen konnten vor
Spannung, bis unſere Erregung ſich in mächtigen Freudenrufen
löſte: Inukitſog hatte den Seehund geſchoſſen! 16 Stunden lang
waren wir wie die Schnecken vorwärts gekrochen, und ſelbſtverſtänd⸗
lich benutzten wir dieſe ſeltene und willkommene Gelegenheit,
um das Lager aufzuſchlagen. Mit großer Mühe ſegelten wir auf
kleinen Eisſchollen über die Gezeitenrinne, gelangten auf das Eis
und waren kurze Zeit darauf bei den Kameraden.
Nun hielten wir eine Feſtmahlzeit nach allen Regeln der Kunſt.
Unſer Fetthunger wurde mit dem köſtlichen friſchen Speck geſtillt,
und dann kochten wir eine fette Blutſuppe, die uns ein Gefühl der
Sättigung gab, wie wir es ſeit dem Sommertal nicht mehr ge⸗
habt hatten. Die Hunde erhielten ebenfalls ihren reichlichen
Anteil an dem Fang, und wir hatten eine Vermehrung unſeres
Proviantes erlangt, die für uns von der allergrößten Bedeu⸗
tung war.
27. Juli. Wir ſtanden jetzt nicht weit von der Aufitiegitelle
zum Daniel⸗Bruun⸗Gletſcher. Die Entfernung konnte kaum über
6 Kilometer betragen. Aber trotz aller unſrer Anſtrengungen
kommen wir auf dem morſchen Eis in 12 bis 14 Stunden nicht viel
mehr als etwa 10 Kilometer weiter.
Früh am Morgen ziehen wir in ſtrömendem Regen fort,
aber die gute Mahlzeit von geſtern hat ihren Erfolg gehabt.
Geſtern hatten wir Blutſuppe mit Speck mit einer Taſſe Hafer⸗
grütze vermiſcht, was ein vorzügliches Gericht ergab; heute haben
wir gekochtes Fleiſch.
Wir ſind alle ſehr mager, und wenn wir auch ſonſt ſonnen⸗
verbrannt und geſund ausſehen, ſo hat doch die Arbeit der
letzten Monate ihre Spuren an uns hinterlaſſen. Unter ſolchen
Nasmuſſen. 17
258 Zehntes Kapitel.
Verhältniſſen bedeutet eine gute Mahlzeit für den Körper dasſelbe,
wie wenn man Kohlen in einen Kachelofen ſtopft. Wir fühlen trotz
des kalten Regenwaſſers und der durchweichten Kleidung keine
Kälte und freuen uns den ganzen Tag über eine innere Wärme,
die Erinnerungen an die Zeiten weckt, die man ſorglos an den
heimiſchen Fleiſchtöpfen verbrachte.
Abends gelangen wir an einen tiefen, reißenden Fluß, der ein
großes Delta auf dem Eis gebildet hat und daher nicht zu
paſſieren iſt. Da wir ungefähr an der Stelle ſind, wo wir den
Aufſtieg aufs Inlandeis verſuchen wollen, ſchlagen wir das Lager
an Land auf, in der Hoffnung, ſpäter eine Furt zu finden.
Der Aufſtieg auf Warmingland.
28. Juli. Obgleich die Temperatur hoch geweſen iſt und das
Thermometer ſich von Mitternacht bis Mittag zwiſchen Null und
2 Grad über Null bewegt hat, haben wir doch eine kühle Nacht
gehabt, weil alle unſere Kleider und Felle naß waren.
Nie iſt mir eine Nacht ſo endlos lang erſchienen. Schnee und
dünner Regen wechſelten ab, und ich lag buchſtäblich mit dem Baro⸗
meter in der Hand da und ſah beſtändig nach, ob nicht eine kleine
Veränderung zum Beſſeren einträte. Aber vergebens! Schließlich
mußte ich mich damit zufrieden geben, daß man im Leben und
nicht zum wenigſten auf Reiſen die ſchlechten Tage hinnehmen muß
wie die guten; damit löſte ſich meine unruhevolle Spannung, und
ich fiel wirklich in einen tiefen Schlaf.
Gegen Morgen erwachten wir zu einem geſegneten Tage; der
Regen hatte aufgehört, und zwiſchen ſchweren Sturmwolken kam
der Himmel zum Vorſchein. Der Drachenberg und der Wyattberg
tauchen aus dem Nebel auf und ſtehen mit ihren ſcharfen Um⸗
riſſen wie mächtige Wächter an der Fjordmündung, wo jetzt alles
in Wintertracht gehüllt iſt. Später am Vormittag bricht die
Sonne durch. Es wird ſchönes, ruhiges Wetter, und wir beeilen
uns, die köſtliche Wärme auszunutzen, um unſere naſſen Sachen zu
trocknen.
Der Tag hält, was er verſpricht, je mehr wir uns dem Mittag
nähern, und es iſt, als ob ſich mit dem guten Wetter alle
Zukunftsausſichten mit einemmal verändern. Im offenen Waſſer
des großen Flußdelta kriechen ſieben Seehunde auf das Eis herauf
A
R
Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord zum St.⸗George⸗Fjord. 259
und verſprechen eine gute Rückreiſe mit Fleiſch in den Töpfen an
jedem Wandertag. Ja, nur ein paar davon würden mit ihrem
leckeren Speck die Situation ganz verändern.
Wir beſitzen noch 17 gute Hunde, die in wunderbarer Weiſe
alle Widerwärtigkeiten überſtanden haben; nie ſind die Hunde
einer Expedition zäher und ausdauernder geweſen als unſere. Nicht
einmal die Schwimm⸗ und Watetouren des letzten Monats in
dem eiskalten Waſſer haben ſie ſonderlich angegriffen.
Die Seehundjagd muß verſucht werden; Inuktiſog kriecht auf
das Eis hinaus, aber zu unſerer großen Enttäuſchung führt der
Verſuch zu nichts; das Waſſer auf dem Eis iſt ſo tief, daß die
Seehunde ſein Plätſchern auf weite Entfernung hören, wie vor⸗
ſichtig er ſich auch bewegt, und mit ſchwerem Herzen ſehen wir
einen Seehund nach dem andern durch das Eis verſchwinden. Aber
auch dieſe Enttäuſchung wollen wir auf uns nehmen, wenn ſich
das Wetter nur hält, ſo daß wir unſere Sachen trocknen und den
Aufſtieg beginnen können.
Im Laufe des Nachmittags wird ein Seehund in der Ge⸗
zeitenrinne geſchoſſen, aber wie gewöhnlich ſinkt er unter. Wir
wiſſen ja nun durch lange Erfahrungen, wie hoffnungslos es iſt,
auf dieſer Jagd Munition zu opfern. Aber wir können es doch
nicht laſſen; es könnte ja doch ſein, daß es einmal glückte. Und
dieſe Hoffnung wird entſcheidend, ſo oft die runden blanken Köpfe
mit den großen ſtarrenden Augen auf der Oberfläche des Waſſers
erſcheinen und uns aus Entfernungen betrachten, die einen ſicheren
Schuß ermöglichen; aber das Süßwaſſer verhindert, daß die er⸗
legten Seehunde ſchwimmen.
HSGoungrig und mutlos, aber doch mit einer gewiſſen Ruhe
kehren wir nach dieſer letzten Seehundjagd zum Zelt zurück; denn
wir geſtehen es uns jetzt offen ein, daß wir jede Hoffnung auf
eine Proviantvermehrung aufgeben müſſen. Wir müſſen uns mit
unſerm Geſchick abfinden. Das einzige Lebeweſen, deſſen Spuren
wir ab und zu zu ſehen bekommen, iſt der heimtückiſche, feige
Polarwolf, der gewöhnlich den Eisfuß gerade unterhalb des
Zeltes, während wir ſchlafen, beſucht, um zu ſehen, ob ſich nicht
etwas zu ſtehlen findet; er leidet ja ebenfalls unter der entſetz⸗
lichen Armut des Landes. Auch auf dem Land iſt die Jagd ver⸗
ſucht worden, aber Hendriks Inſel ſcheint die Grenze für das Wild
17*
260 Zehntes Kapitel.
zu bilden; dort gab es doch wenigſtens Haſen. Schweren Herzens
müſſen wir daher zu dem allerletzten Mittel greifen und einen
unſerer Hunde töten. Es iſt das erſtemal auf der Reiſe. Unſern
ſpärlichen Gletſcherproviant dürfen wir noch nicht anrühren, und
ganz ohne Nahrung können wir einer harten Fußtour nicht ent⸗
gegengehen.
Satt wurden wir alſo heute, aber das Fleiſch war ebenſo zäh
wie der Hund bei lebendigem Leibe geweſen war, und anders wie
ſonſt hielten wir unſer Mahl ohne Freude.
Schon am Abend ſchwebt das Mißgeſchick ſchon wieder drohend
über uns. Große Unwetterwolken ziehen im Südweſten auf und
treiben in großer Eile über die ſteilen Berge in den Fjord hinein;
das Barometer fällt ſtark, und zu unſerm Kummer peitſcht der
Regen wieder gegen das Zelttuch, während unſere Kleider auf
uns verſchimmeln. Wir beſchweren die Zeltleinwand mit großen
Steinen, ziehen alle Stützſeile ſtraff und machen uns auf das
Schlimmſte gefaßt.
Regen und Schnee.
29. Juli. Die ganze Nacht hat ein ſchwerer Sturm im Fjord
gewütet. Glücklicherweiſe haben wir nicht viel davon gemerkt, da
wir im Windſchutz hinter dem Berg liegen. Und dann hat es
geregnet wie nie zuvor, leider auch durch das Zelttuch, das nicht
mehr dicht iſt. Gegen Mittag ſteigt das Barometer ein wenig,
und der Regen geht in Schnee über. Dieſe Abkühlung pflegt
Beſſerung zu bedeuten. Das Land um uns herum iſt jetzt ganz
von Schnee bedeckt und die Stimmung iſt herbſtlich.
* *
sk
Ich halte ſtreng darauf, daß wir den Proviant ſchonen, ſolange
wir ruhig liegen; wir bekommen alſo heute nichts zu eſſen. Aber
um 5 Uhr kommt Koch und meldet, daß ſie es in dem andern Zelt
nicht mehr aushalten könnten. Ich teile alſo ein paar kleine Por⸗
tionen Moſchusochſentalg aus und verſpreche ihnen ein wenig
Hundefleiſch, ſobald der Regen aufhört und wir Feuer machen
können. Der Schnee fällt jetzt dichter als vorher, aber das
Barometer ſcheint ſich jetzt aufwärts zu bewegen.
* *
*
Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord zum St.⸗George⸗Fjord. 261
Einmal am Nachmittag hörte ich vom Lande her ein ſtarkes
Gletſcherkalben, ein Abbrechen von Gletſchereis in die See, ein
unheimlicher Ton. Es ſcheint ſich alſo in der Nähe der Aufſtieg⸗
ſtelle ein produzierender Gletſcher zu befinden. Vom Drachenberg
aus glaubten wir mit Sicherheit entſcheiden zu können, daß der
Daniel⸗Bruun⸗Gletſcher mit dem Hauptgletſcher im Nordoſten in
Verbindung ſteht, und zwar in der Richtung nach dem Ryder⸗
gletſcher im Sherard⸗Osborne⸗Fjord, wo das Inlandeis, ſoweit
wir ſehen konnten, eben in den Horizont überging. Harrigan und
ich waren ganz ſicher, daß hier die Bedingungen für den Aufſtieg
günſtig ſein müßten; wir wollten aber am liebſten vorher rekognoſ⸗
zieren. Aber das morſche Eis geſtattet uns keine Unterſuchungen
weiter fjordeinwärts, und wir müſſen daher alles auf eine Karte
ſetzen und verſuchen, auf das Inlandeis hinaufzukommen. Wir
haben keine andere Wahl. Die vielen Haſenjagden haben uns
viel Munition gekoſtet; es it ein Unterſchied, was man für eine
Kugel bekommt, ob man einen Moſchusochſen oder einen Haſen
ſchießt.
Zu Mittag verzehren wir wieder ein paar Stücke Moſchus⸗
ochſentalg. |
Unwetterſtimmung.
30.—31. Juli. Die ganzen letzten 24 Stunden hat der Me⸗
teorologe Regenwolken und wieder Regenwolken gemeldet bei
beſtändig fallendem Barometer. Um 2 Uhr morgens kann ich
es nicht länger aushalten und greife zu meinem Tagebuch, um der
trüben Stimmung, die uns beherrſcht, Luft zu ſchaffen. Der
Schnee fällt noch dichter als vorher, und er wird ſich bald zu einer
ſchlechten und ſchweren Bahn anhäufen.
Niemand wird ſich wundern, daß es ſchwer iſt, die Zeit tot⸗
zuſchlagen; ſchlafen können wir nicht ewig, und mit unſerm Wolfs⸗
hunger ſind wir nicht zum Leſen aufgelegt, obwohl unſere Biblio⸗
thek noch die Bibel und Bruchſtücke aus Snorres „Heimskringla“
enthält. |
Wir haben noch zwei Zelte; ich habe fie beide errichten laſſen,
damit unſere Sachen etwas geſchützt find. Wulff, Koch und
Harrigan hauſen in dem einen, Ajako, der Bootsmann und ich in
dem andern. Die Stimmung in unſerm kleinen Lager iſt etwas
262 Zehntes Kapitel.
düſter. Seltſam unmutig und bedrückt haben wir uns gefühlt,
ſeitdem unſer kleiner, froher Hendrik auf ſo ſeltſame Weiſe ver⸗
ſchwand. An einem Tag wie heute erſcheint alles um uns herum
ſo trübe.
Es ſchmerzt uns zu ſehen, wie unſere flinken Hunde mit jedem
Tag magerer werden; uns ſelbſt geht es auch nicht viel beſſer,
aber wir begreifen den Zweck und ſind darum bald die reinen
Hungerkünſtler.
Vorläufig müſſen wir liegen und warten — warten auf eine
Ausſicht über den Gletſcher, den wir beſteigen ſollen, warten auf
die Sonne, die uns unſere naſſen Kleider trocknen ſoll; ſpäter bei
dem Aufbruch werden wir gewiß alle Kräfte, die wir noch be⸗
ſitzen, nötig haben. Alle haben wir ja Angehörige, mit denen wir
fürs Leben verknüpft ſind; in ihrem Namen und um ihretwillen
wollen wir unſer Leben teuer verkaufen und nicht nachlaſſen,
ſolange unſere Beine uns noch tragen.
Vorläufig heißt es hier ſchweigen und warten; ſchlechte Zeiten
ſchreiten langſam, das iſt ihre Art.
sk *
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Um 6 Uhr morgens zwingt der Hunger uns, einen Einbruch
in den Gletſcherproviant zu machen. Wir kochen mit gutem Humor
Haferſuppe auf dem Primus, da es unmöglich iſt, draußen ein
Feuer anzumachen. Für jeden werden zwei Taſſen Suppe bereitet;
der gute Haferbrei wärmt unſere Körper wie Feuer und legt ſich
wie eine Liebkoſung in unſern leeren Magen.
O, wie das wohltat! Wir ſind alle in einer wunderlichen
kindlichen Stimmung, die uns an die Geburtstagsſtimmung der
Kindheit erinnert; dies war die Wirkung von ein wenig ordent⸗
licher Nahrung. Jetzt können wir es wieder eine Zeitlang aus⸗
halten; denn ſolange wir ruhig liegen, heißt es, die Körperenergie
auf das geringſte Maß herabzuſetzen.
* *
*
Die Mittagszeit iſt in der Regel die Zeit, in der die Ver⸗
änderungen zum Beſſeren eintreten; wir erwarten daher immer die >
Mitte des Tages mit Spannung; fo auch heute. Um 12 Uhr
Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord zum St.⸗George⸗Fjord. 263
klart es auf, und ein paar Seehunde kriechen wie gewöhnlich
ein Stück vom Zelt entfernt aufs Eis. Sie tummeln und wälzen
ſich in Wohlbehagen im Schnee, blicken ab und zu nach dem
Lager herüber, um ſich dann in voller Länge ſchlaftrunken wieder
auszuſtrecken und mit geſchloſſenen Augen an dem kühlen Herbſt⸗
tag ein Sonnenbad zu nehmen. Früher freuten wir uns, wenn ſie
heraufkamen, jetzt fangen wir an, ſie zu haſſen.
Harrigan hat nach dem letzten Verſuch erklärt, er ſehe es für
hoffnungslos an, in dem tiefen Waſſer Seehunde zu jagen; aber
Ajako, der die Hoffnung nicht aufgeben will, ſolange noch die ge⸗
ringſte Möglichkeit vorhanden iſt, erklärt, er wolle es trotzdem
verſuchen, in das Waſſer hinauszuwaten. Aus dieſem Anlaß kochen
wir Seehundfleiſch und eine Taſſe Kaffee, und augenblicklich er⸗
ſcheint uns die Lage lichter. Ach, wie hängen wir Menſchen doch
von unſerm Magen ab und von dem bißchen Ballaſt, den er
fordert! f
Ich gebe zu, lieber Leſer, daß man materiell geſinnt wird,
hier oben, wo die Nahrung ſo ſehr die Gedanken beherrſcht. Aber
das Verlangen nach Nahrung iſt doch keineswegs das allein⸗
herrſchende. Viele Gedanken wandern auch zu den nächſten An⸗
gehörigen, und es iſt das Heimweh und der Gedanke an ſie,
die zur Kraftquelle werden.
Und ſo ertrinkt man in einem Meer von guten Vorſätzen, und
gelingt es einem, nur einen Bruchteil davon zu verwirklichen,
ſo wird man ein leuchtendes Beiſpiel für die bewundernde Menſch⸗
heit werden. Am feſteſten ſind meine Erinnerungen mit dem Land
verknüpft; ich habe in den Mietskaſernen in Kopenhagen nie ein
eigentliches Heimatsgefühl gehabt.
Eine Großſtadt iſt wie ein Vogelberg, der von Menſchen ge⸗
ſchaffen iſt. Er mag für eine Zeit gut ſein, aber dann bekommt
man genug von dem Wirrwarr und den ſchreienden Alken, den
pfeifenden Lummen und den gierigen Raubmöwen, und man ſehnt
ſich von Herzen nach dem einſamen Neſt der Wildente an einem
ſtillen fernen See oder nach den Schären des Meeres, wo der
Eidervogel auf den ſchaumgekrönten Wogen reitet.
Spät am Nachmittag kommt Ajako von der Seehundjagd
zurück ohne anderes Ergebnis, als daß er bis auf die Haut naß
geworden iſt. Wir erwärmen ihn mit einer Taſſe Tee und leihen
264 Zehntes Kapitel.
ihm von unſerer Kleidung, bis ſeine eigene wieder trocken ge⸗
worden iſt. Noch immer fällt der Tauſchnee dicht und uner⸗
bittlich!
Es
Am nächſten Morgen erwache ich gegen 3 Uhr und höre den
Schnee nicht mehr gegen das Zelttuch klatſchen; ich ſtürze hinaus
und ſehe zu meiner großen Freude, daß es aufgehört hat zu
ſchneien und daß der Himmel klar iſt, obgleich noch tiefe Wolken
über den Bergen hängen. Die Landſchaft iſt winterweiß, ſo blen⸗
dend, daß man kaum die Augen offen halten kann, und ſelbſt das
morſche, waſſererfüllte Eis iſt unter einer ſchönen Schneedecke ver⸗
borgen. Ich koche Kaffee und wecke die Kameraden. Wieder
ſind ein paar Seehunde auf das Eis heraufgekommen, und wenn
ſie auch nur wie Irrlichter in einem Moor zu betrachten ſind, ſo
bieten ſie doch immerhin ein wenig Ausſicht für die Jagd.
Wir mußten geſtern drei Hunde ſchlachten, da wir kein Futter
für ſie beſaßen und auch für uns ſelbſt nichts zu eſſen hatten.
Wir machen ein großes Feuer an und kochen Fleiſch an dem
ſchönen Morgen. Gegen Mittag verſuchten wir wieder eine See⸗
hundjagd, die wie gewöhnlich uns 3 bis 4 Stunden in heftige
Erregung verſetzte. Es iſt wieder Ajako, der ſeine Haut zu Markte
trägt; der ganze Erfolg ſind nur naſſe Kleider. Dann benutzen
wir das gute Wetter dazu, das Gepäck über den großen, reißen⸗
den Fluß, an dem wir gelagert haben, zu ſchaffen, und die erſte
Abteilung fährt es auf dem Neuſchnee bis zum Rand des Inland⸗
eiſes, der 6 Kilometer vom Zeltplatz liegt.
Noch ein Seehund.
1. Auguſt. Der neue Monat fing ungewöhnlich hoffnungslos
an. Strömender Regen, kein Hundefutter, wenn wir nicht den
Gletſcherproviant angreifen wollen, und nur ein paar kleine Stücke
mageres Hundefleiſch für uns ſelbſt. Mittags trat unvermutet
eine Regenpauſe ein. Wieder wie gewöhnlich kroch ein Seehund
gerade vor unſerer Naſe herauf, aber doch in ſolcher Entfernung,
daß man ihn nicht vom Lande aus ſchießen konnte. Obgleich es
jetzt nach dem Regen der letzten Tage faſt lebensgefährlich iſt,
das Eis zu betreten, meldet [ig Ajako doch wieder zum Verſuch.
Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord zum St.⸗George⸗Fjord. 265
Auf großen Umwegen bewegte er ſich auf den Seehund zu, weil
jetzt Eis auf den Schmelzwaſſerlöchern lag, das unter ſeinen Tritten
mit ſolchem Lärm zerbrach, daß die Seehunde es auf weite Ent⸗
fernung hörten. Es koſtete Zeit, auf Schußweite heranzukommen
und erforderte eine bewundernswerte Geduld. Wenn der Seehund
plötzlich den Kopf erhob und anfing ſich umzuſehen, mußte Ajako
in dem tiefen kalten Waſſer ſich auf den Bauch legen und hier
Minuten vollkommen unbeweglich liegenbleiben, bis der Seehund
ſich bequemte, weiterzuſchlafen. Die meiſten von uns waren ſo
geſpannt auf den Ausfall der Jagd, daß wir es nicht aushalten
konnten, die vielen aufregenden Momente mit anzuſehen; wir
gingen ins Zelt und legten uns nieder, ohne daß jedoch ein Ge⸗
ſpräch in Gang kam. Unſere Gedanken waren ununterbrochen bei
dem Kameraden, der im Begriff war, ein Meiſterſtück auszuführen.
Dann knallte der Schuß, und wir ſtürzten aus dem Zelt heraus.
Der Seehund rührte ſich nicht von der Stelle, und einen Augen⸗
blick ſpäter ſtand Ajako neben ihm und hatte ihn an den Hinter⸗
floſſen ergriffen.
Jetzt, wo ich dies niederſchreibe, ſind wir ſelber und die Hunde
froh und ſatt, und über die Hälfte des Seehunds wird für die
Gletſcherreiſe aufbewahrt.
Am nächſten Tag erwachen wir bei einem Himmel, der von
ſturmdrohenden Wolken flammt, die vor dem Südweſtwind in
den oberen Luftſchichten raſch vorwärts treiben. Die Temperatur
iſt hoch, fie bewegt ſich zwiſchen 4 Grad und 8,5 Grad über Null,
und zwei ſtark entwickelte Nebenſonnen mit Sonnenringen deuten
darauf hin, daß eine ſtarke Unruhe in der Luft iſt, jo daß wir
unſern Aufbruch wieder aufſchieben müſſen. Im Laufe des Nach⸗
mittags fängt ganz richtig der Regen von neuem an, und wir
müſſen wie gewöhnlich ins Zelt kriechen. Aber die kleinen, kurzen
Perioden von Sonnenſchein und einer Temperatur im Schatten
bis zu 9 Grad Wärme haben uns endlich ermöglicht, die Kleidung,
die wir auf der Reiſe über das Inlandeis tragen wollen, nach⸗
zuſehen und zu trocknen.
Als alles zur Abreiſe bereit war und wir nur auf gutes Wetter
warteten, um aufzubrechen, bauten wir an einem großen Fluß ein
Steinmal zum Andenken an Hendrik. Ergriffen vom Augenblick
gedenken wir hier unſeres verſtorbenen Kameraden, und während
266 Zehntes Kapitel.
die andern neben dem Steinmal mit den Flaggen auf Halbmaſt ,
‚stehen, halte ich folgende Gedenkrede, erſt auf däniſch und dann
auf grönländiſch:
Irgendwo in meinem Tagebuch habe ich geſchrieben, daß wir,
die kleine Handvoll Menſchen, die wir an den rauhen und öden
Küſten uns miteinander einleben, eine kleine Gemeinſchaft für uns
bilden. Die große lebende Welt, von der wir auszogen, iſt ſo fern,
daß ſie für uns nur in unſern Gedanken und in unſerer Sehnſucht
exiſtiert. i
Unſer Heim ilt das kleine Zelt, wo wir uns müde und hungrig
nach den Ereigniſſen des mühevollen Tages ſammeln; unſer Land
iſt der zufällige Küſtenſtreifen, wo wir uns nachts zur Ruhe legen.
Wir leben das Leben ſo, wie man es in dieſen Umgebungen
leben muß, primitiv und einfach; wir tun unſere Arbeit jo ge-
wiſſenhaft, wie es jeder vermag, und bei der Löſung der Aufgaben,
die die Expedition uns ſtellt, lernen wir einander tiefer kennen,
als es Menſchen ſonſt gegeben iſt.
Die beſten Eigenſchaften eines jeden zeigen ſich hier ebenſo wie
die minder guten, aber wir helfen einander nach beſtem Vermögen,
und bei der guten Kameradſchaft und der Arbeitsfreude, die wir
von Anfang an auf dieſer Expedition hochgehalten haben, iſt es
gewiß jedem von uns ſo gegangen, daß trotz all der Gegenſätze,
die in Gemüt und Charakter zwiſchen uns beſtehen, mit jedem Tag,
der vergeht, mit jedem guten Ergebnis, das wir feiern, und mit
jeder Schwierigkeit, die wir überwinden, das Gefühl der Zuſam⸗
mengehörigkeit wächſt, daß immer neue Bande uns verknüpfen,
und wir von Tag zu Tag einander höher ſchätzen.
Was den einen angeht, geht alle an; denn hier, wo wir ganz
auf uns ſelbſt angewieſen ſind, unterſtehen wir alle dem gleichen
Schickſal und wir haben gemeinſam ſeine Fügungen hinzunehmen.
Wenn wir ſchon für gewöhnlich ſo empfinden, wie ſelbſtver⸗
ſtändlich iſt es dann, daß ſich dieſe Gemeinſamkeit in noch ſtärkerem
Grade geltend macht, wenn etwas Ungewöhnliches geſchieht oder
gar, wenn eine Kataſtrophe eintritt, die einen Kameraden trifft.
Nie werde ich die Stimmung vergeſſen, die in unſerm Zelt
herrſchte in den Tagen, da wir nach Hendrik ſuchten und beſtändig
hofften, er möchte hinter einem Hügelkamm auftauchen. — Eine
Vom Sherard⸗Osborne⸗Fiord zum St.⸗George⸗Fjord. 267
unheimliche Stimmung — ein Gefühl trauriger Hilfloſigkeit, nicht
imſtande zu ſein, etwas zu tun, eine Nervenſpannung, die uns
zuſammenfahren ließ und die uns aufhorchen machte bei jedem
ungewöhnlichen Laut, der die große Stille draußen unterbrach.
Doch vergebens ſuchten wir, umſonſt ſtarrten unſere Augen ſich
müde über die Berge und Schluchten. Hendrik ſollte nie zurück⸗
kehren; er ſollte nimmer die Freude der Heimkehr zuſammen mit
uns andern genießen. Nimmer ſollte es ihm beſchieden fein, nach
all den Mühen und Anſtrengungen den Lohn für ſeine treue Hilfs⸗
bereitſchaft zu ernten, und ſein frohes Lachen beim Abbrechen des
Lagers wird nicht mehr in unſern Ohren erklingen.
Es iſt unnötig, hier bei dieſem beſcheidenen Gedenkzeichen etwas
über Hendrik ſelbſt zu ſagen. Wir kannten ihn ja alle wie einen
Bruder, und ihn kennen heißt ihn lieben.
Wir wiſſen, wie er aus dem Nichts heraus ſich eine Stellung
geſchaffen hatte, die in ſeinem Volk und in ſeinem Kreis eine
führende war. Wir wiſſen, mit welcher Treue und mit welchem
Intereſſe er alle ſeine Pflichten erfüllte. In Thule wird ſein Platz
leer ſtehen, und es wird ſchwierig ſein, ihn auszufüllen, und nie
werde ich wieder einen Helfer finden, der in ſo ausgezeichneter
Weiſe verſtand, die Intereſſen der Station zu ſeinen eigenen zu
machen. In Thule fand er ein Arbeitsfeld, das ihn ganz erfüllte.
All ſein Leben hat er auf Streifzügen verbracht — bei der
Danmark⸗Expedition an der Oſtküſte, wo er in reichem Maße
Gelegenheit hatte, ſich nützlich und bei allen ſeinen Kameraden
beliebt zu machen — und ſpäter in verſchiedenen Stellungen an
ſo weit ausgedehnten Küſten, die ſich von Kap Farewell bis zur
Nordſpitze Grönlands erſtrecken.
N Mit dem kleinen elternloſen Knaben ſtarb nicht nur der Grön⸗
länder, ſondern der Menſch überhaupt, der die größte Küſtenſtrecke
ſeines Vaterlandes bereiſt und kennengelernt hatte.
Jetzt war allmählich Ruhe über ihn gekommen, und er ſollte
eben die Früchte ſeines vieljährigen Fleißes genießen, Haus und
Heim gründen und ſich dauernd an dem Wohnplatz niederlaſſen,
den er ſich weit im Norden gewählt hatte, als das Unglück ihn
einholte und ihn traf, hier, fern von Verwandten und Freunden.
Die Polareskimos haben ein Sprichwort, das beſagt, daß kein
Menſch ſeßhaft wird und keiner Land für immer in Beſitz nimmt,
268 Zehntes Kapitel.
ehe der Tod ihn einholt und ſeinen Leib an einen Steinhügel
feſſelt. Dann erſt ſind Menſch und Land feſt miteinander ver⸗
bunden. Ich ſchlage daher vor, daß wir im Sinne dieſes Ge⸗
dankens, der ſich auf den gewaltigen Freiheitsdrang des Natur⸗
menſchen gründet, dieſer Inſel, auf der Hendrik ſein Grab fand,
ſeinen Namen geben.
Hendrik war ein Chriſt. Wir alle wiſſen, wie gern er ſeine
Geſangbuchlieder ſang, wenn er einmal trüben Sinnes war, und
darum ſoll auch jetzt, ehe wir für immer das Land aus den Augen
verlieren, wo er den letzten großen Kampf allein kämpfte, ein
Vaterunſer in ſeiner Mutterſprache als ein Abſchiedsgruß von
ſeinen alten Kameraden ertönen.
*
1 1
BA
Elftes Kapitel.
Die Rückreiſe über das Inlandeis.
Lager I. — Daniel⸗Bruun⸗Gletſcher.
4.—5. Auguſt. Glücklicherweiſe hatten wir nach und nach ſo
viel Gepäck zum Gletſcherrand hinaufgeſchafft, daß wir den Reſt
auf einmal mitnehmen konnten. Die Entfernung vom Fluß zu
den Schlitten betrug 7 Kilometer, die wir in fünf Stunden zurück⸗
legten. Ich muß zugeben, daß wir alle nicht in der Verfaſſung
ſind, in der wir für eine Wanderung von 400 Kilometer ſein
müßten. Beſonders waren Wulff und Koch nach den verhältnis⸗
mäßig raſchen Märſchen ſehr matt und beklagten ſich über die
kleinen Rationen, auf die ich der kritiſchen Umſtände wegen die
Expedition hatte ſetzen müſſen. Sie erkennen jedoch die Not⸗
wendigkeit dieſer vorläufigen Hungerzeit vollkommen an. Wir
haben jetzt in halben Rationen berechnet für 20 Tage Rückreiſe⸗
proviant und außerdem Moſchusochſenfleiſch, etwas Speck und
Seehundfleiſch für die Hunde.
Da uns jetzt der anſtrengende Aufſtieg bevorſteht, kochen wir
nicht nur einen Topf voll Haferbrei, ſondern auch eine ordent⸗
liche Mahlzeit von Seehundfleiſch. Der Pemmikan wird noch nicht
angerührt, obwohl die Verſuchung groß iſt; wir ſparen vorläufig;
denn die Lage iſt ziemlich ernſt. Man muß ſich erinnern, daß wir
nur von einer fernen Höhe aus über unſern Weg nach Hauſe
einen Überblick getan haben, der uns vorläufig bis zu dieſem
Punkt geführt hat; erſt in ein paar Tagen wird es ſich zeigen, ob
es auch wirklich der Hauptgletſcher iſt, auf dem wir ſtehen. Jeder
Gedanke an eine Rekognoſzierung hatte in der Zeit, als wir uns
an dem großen Fluß aufhielten, des Wetters wegen aufgegeben
werden müſſen.
270 Eklftes Kapitel.
Wir erſtiegen den Daniel⸗Bruun⸗Gletſcher an einer ſehr ſteilen
Stelle; nach einem Marſch von 2 Kilometer waren wir bereits in
einer Höhe von 900 Meter. Hier war kein Fluß, und wir kamen
erſtaunlich raſch in „trockenem Schnee“ hinauf. Dann lagerten wir,
und Inukitſog und ich fuhren mit zwei Schlitten und halber Laſt
weiter zum Inlandeis, um zu rekognoſzieren. Am frühen Morgen
des 5. Auguſt gelang es uns, 5 Kilometer durch tiefen,
ſchweren Schnee vorzudringen. Von einer Höhe von zirka 1400
Meter zeigte ſich uns das Inlandeis, jo weit wir ſehen konnten.
Nordöſtlich von uns, nur 4 Kilometer ſeitlich von unſerm Kurs,
verlief allerdings eine große Schlucht mit hohen Bergen auf
beiden Seiten. Aber ſoweit man von unſerm Ausſichtspunkt be⸗
urteilen konnte, war ſie weiter drin ganz mit Schnee erfüllt und
ging in den Gletſcher über. Am Ende des Fjords ſchob ſich auf
der Südſeite ein ausgedehntes, langes, ſchmales Land ein, das
in weiter Ferne den Charakter eines Nunataks annahm und
ſchließlich ganz in das Inlandeis überging. Zwiſchen dieſer Land⸗
zunge und der Schlucht konnten wir einen anſcheinend gangbaren
Weg erkennen, der ohne Unterbrechung auf den Hauptgletſcher
zu führen ſchien. Hier machen wir jetzt den Verſuch. Das Gelände
iſt ziemlich hüglig, und nach dem mehrtägigen Unwetter hat ſich
viel lockerer Schnee aufgehäuft. Obgleich wir noch nichts Sicheres
willen, beſchließen wir doch, die Reife landeinwärts fortzuſetzen;
mit dieſem Entſchluß kehren wir zu den Kameraden zurück und
wecken ſie mit einer Feſtmahlzeit von Pemmikan, Hafergrütze,
Keks und Kaffee.
Folgende Temperaturen haben wir heute an unſern verſchie⸗
denen Aufenthaltsorten gemeſſen: Der Fluß am Fjord 5 Grad
Wärme, das Inlandeis in einer Höhe von 760 Meter 1,2 Grad
Kälte und der Ausſichtspunkt 1140 Meter über dem Meer 4 Grad
Kälte.
Lager II. — Daniel⸗Brunn⸗wGletſcher.
g 1300 Meter über dem Meer.
6. Auguſt. Es glückte geſtern, uns auf dem Inlandeis 10 Kilo-
meter weiterzuarbeiten; aber es geht ſchwer und langſam durch
den Schnee. Etwas hilft es, daß wir Schneeſchuhe unter die
Schlitten gelegt haben, aber die Hunde ermüden raſch.
Trotz allen Rekognoſzierens iſt es uns noch nicht gelungen,
Die Rüdreife über das Inlandeis. 2071
Fr ER Y
Klarheit über die Wegverhältniſſe zu ſchaffen. Aber ſchon der
Umſtand, daß wir jetzt ſo weit drinnen ſind, daß eine Rückkehr
Die Nordküſte von Grönland mit dem Independencefjord und dem
Pearykanal vor und nach der II. Thule-Expedition.
1 Nyeboeland, 2 Hendrikinſel, 3 Hartzſund, 4 Warmingland, 5 Steensbygletſcher, 6 Porſild⸗Nunatak,
7 Mitgardſchlange, 8 Teufelsſchlucht, 9 Rydergletſcher, 10 Wulffland, 11 Oſtenfeldgletſcher, 11 Jun⸗
; gerſengletſcher, 13 Freuchenland, 14 J.⸗P.⸗Koch⸗Fiord, 15 Th.⸗Thomſon⸗Fjord, 16 O.⸗B.⸗Löggild⸗Fiord.
272 Elftes Kapitel.
zum St.⸗George⸗Fjord kaum in Frage kommt, iſt ein ſtarker An⸗
reiz. Geſtern verloren wir den toten Fjord aus den Augen; trotz
ſeiner Schönheit war der Abſchied ohne Wehmut. Das Meereis
mit ſeinen Tauſenden von großen und kleinen Waſſerlöchern
erſcheint vom Gletſcher aus wie ein großes Moſaik, bis die
Entfernung ſo groß wird, daß es als ein kleiner bläulicher Binnen⸗
ſee verſchwindet.
Das Land hinter dem St.⸗George⸗Fjord erſtreckt ſich ſehr
weit hinein. Vor uns wird der Weg, dem wir folgen müſſen,
leider ſchon von dunklen Wolken durchſchnitten, die immer ein
Zeichen dafür ſind, daß dort Land und nicht Eis iſt. Möglich,
daß ſich noch mehrere Gletſcherbrücken zwiſchen dem Schluchtenland
nördlich von uns und dem großen neuen Land im Südweſten
finden. Sollten wir aber auf Land ſtoßen, dann müſſen wir
ſehen, mit dem Gepäck auf dem Rücken darüber wegzukommen.
Wir leiden unter der Wärme; denn das Thermometer bewegt
ſich zwiſchen 2,3 Grad und 4 Grad unter Null.
Lager III. — Der Bergkeſſel.
Entfernung 13 Kilometer.
Was wir die ganze Zeit befürchtet haben, iſt eingetreten; der
Daniel⸗Bruun⸗Gletſcher ilt nur ein lokaler Gletſcher, allerdings
von großer Ausdehnung, aber doch von allen Seiten von Land
begrenzt. |
Gegen 4 Uhr nachmittags kam quer zu unſerm Kurs Land
in Sicht. Eine raſche Rekognoſzierung überzeugte uns bald, daß
es die Schlucht war, die wir ſchon ein paar Tage auf der Nordſeite
gehabt haben. An der Stelle, wo ich von unſerm Ausſichtspunkt
aus den Eindruck gehabt hatte, ſie gehe mit Schnee erfüllt in das
Inlandeis über, biegt ſie plötzlich nach Südweſten ab und vereinigt
ſich mit dem Land hinter dem St.⸗George⸗Fiord. Die Schlucht,
die eine Tiefe von 600 —700 Meter über dem Meere hat, it
überall von nackten, ſteilen Felſen umgeben, die jede Möglichkeit
eines Abſtiegs auszuſchließen ſcheinen. Inukitſog, der oft einen
ſichern Inſtinkt verraten hat, wenn es gilt, einen Weg zu finden,
wurde zur Erkundung vorausgeſchickt. Er iſt eine ungewöhnlich
ſelbſtändige Natur, immer klar in ſeinen Entſchlüſſen und mit einem
ſichern Trieb begabt, ſtets das Rechte zu tun. Es gelingt ihm denn
aun aus Inv ualposnploxe sau Ihadur 13914016
2 ˙⅛ hehe
Die Rückreiſe über das Inlandeis. 273
auch, einen Ausweg zu finden aus der verhängnisvollen Schwie⸗
rigkeit, die ſich uns hier entgegenſtellt; nach einigen Stunden
Schneeſchuhlaufens entdeckt er einen Abſtieg, der, wie es ſich ſpäter
zeigte, die einzige Stelle in der ganzen Ausdehnung der Schlucht
iſt. Dieſes Ergebnis, das in der gegenwärtigen Lage Jo viel für
uns bedeutet, war ein Pfadfinderheldenſtück, das uns davor be⸗
wäahrte, nach dem Fjord zurückzukehren.
Es iſt klar, daß wir nicht gerade mit Begeiſterung von der ſauer
erworbenen Höhe von 1300 bis 1400 Meter wieder in einen
wilden, öden Bergkeſſel hinabfuhren, wo wir von vorn an⸗
fangen konnten, ſchneefreie Berge zu erklimmen, auf denen ſich
nicht fahren ließ. Aber die Ausſicht auf die Heimreiſe bringt
den Humor bald wieder auf die Beine; jetzt endlich ſehen wir
ganz deutlich den Hauptgletſcher vor uns, der unſer Weg nach
Hauſe ſein ſoll.
Lager IV. — Die Teufelsſchlucht.
Die zurückgelegte Entfernung betrug nur 3 Kilometer; aber
bekanntlich darf man eine Arbeit nicht nur nach der zurückgelegten
Weglänge meſſen. Der Transport war mühſam und langwierig.
Wir ſuchten uns einen Lagerplatz auf der andern Seite des Keſ⸗
ſels; ein Schlitten mit doppeltem Geſpann wird vorausgeſandt,
um zu kundſchaften und mit einem Teil des Gepäcks weiterzu⸗
fahren.
Trotz aller Hinderniſſe ſcheint das Land nicht allzu ſchwierig
zu paſſieren zu ſein. Teils über Firn, teils über Schneewehen
kommen wir ſchon heute wieder aus dem Keſſel heraus. Dann,
gelangen wir auf einen Berg, wo wir das Gepäck in mehrmaligem
Hin und Her zu einem neuen Firnfeld auf der nordöſtlichen Seite
des Keſſels hinübertragen müſſen. Hier bleiben wir vorläufig,
um den Erfolg der Erkundung unſrer Kameraden abzuwarten.
Die Sonne ſcheint, und wir haben das mildeſte Sommerwetter
mit einer Wärme bis zu 4 Grad. Es iſt, als ob man
nach einem böſen Traum einem neuen Tag entgegenginge, den
leuchtenden Eisblink des Inlandeiſes vor Augen. Der Weg vor⸗
wärts zu dem weißen Gletſcher führt heim zu all dem, wonach
wir nach beendeter Arbeit verlangen. Das Heimweh hat ſich mit
einemmal gemeldet, jetzt da der Tag nicht länger vom Kampf
Rasmuſſen. 18
Be
274 Elftes Kapitel.
um die Nahrung verſchlungen wird. Man empfindet es jeden
Tag als einen Segen, zu wiſſen, daß man etwas zu eſſen bekommt,
wenn die Rationen auch noch ſo klein ſind.
Von dem Berg, auf den wir uns heute hinaufgearbeitet
hatten, haben wir eine großartige Ausſicht über den wilden
Canon, den wir die Teufelsſchlucht nannten. Auf beiden Seiten
führten 500 Meter hohe Berge ſteil in ein kahles bräunliches
Tal hinab, durch das ſich ein kleiner melancholiſcher Bach ſchlän⸗
gelt. Der Gletſcher hängt an den Abgründen über wie Wellen,
die erſtarrt ſind in Entſetzen über die ſtumpfe Unheimlichkeit,
die über der ſeltſamen Landſchaft hier mitten in dem ewigen
Winter liegt.
Kein Zeichen von Leben, kein Vogel, keine Pflanze mildert
den Eindruck der äußerſten Ode; nur ein paar armſelige Flechten
haben ſo viel Kraft aus der Sonnenwärme geſogen, daß ſie die
Steine mit ihrer grauen beſcheidenen Decke bekleiden. Niemals,
ſcheint mir, habe ich etwas geſehen, ſo fern und losgelöſt von
allem, wie dieſe Landſchaft; ſie kämpft ihren einſamen zähen
Kampf mit den Gletſchern, die von allen Seiten drohen, ſie zu
überſpülen. Doch auch hier ſind im Laufe der Jahrhunderte
Veränderungen vor ſich gegangen. Wir finden große, ſchöne
Korallenſtöcke, die Zeugnis davon ablegen, daß auch hier im
Herzen des Winters einſt ein tropiſches Klima herrſchte, wo die
Wellen eines lebendigen Meeres von milden Winden getrieben
munter über die Reſte einer verſchwundenen Zeit hinſpülten.
* *
*
Im Zelt herrſchte heute eine ganz eigenartige Stimmung.
Vielleicht iſt es die Ausſicht auf beſſeres Wetter, die jetzt endlich
der Nervoſität ein Ende macht, die ſich unſer während der drei
Wochen bei dem beſtändig wechſelnden Regen, Schnee und Wind
bemächtigt hatte. Die außen und innen herrſchende Unruhe iſt von
einer Sicherheit abgelöſt worden, die Frieden bringt, und ſobald
wir ein wenig ſtilliegen, zieht unwillkürlich die Idylle in unſerm
Zelt ein. Auf den forcierten Tagemärſchen iſt keine rechte Zeit
zu ſtillen Betrachtungen; aber an einem Nachmittag wie dieſem
atmet man auf bei der Beſchäftigung mit all den Sammlungen,
die wir uns jetzt bemühen, ſicher heimzubringen. Das Inlandeis
Die Rückreiſe über das Inlandeis. 275
iſt nie ein ſicherer Weg; paſſiert hier etwas, ſo verſchwinden alle
Reſultate ſpurlos, und alle Mühen und der unverdroſſene Kampf
ums Daſein ſind dann völlig vergebens geweſen. Jetzt ſind die.
koſtbaren Dinge durch Waſſer und Wirbel, durch Schluchten und
über Gletſcherränder geſchafft worden, und ſchon taucht eine neue
Aufgabe auf: ſie ſollen zu Menſchen gebracht werden; das macht
ſie einem doppelt koſtbar.
Vor dem Zelt ſitzt Wulff, damit beſchäftigt, die einzige
Vegetation, die wir hier in der Teufelsſchlucht gefunden haben,
zu präparieren, graue Flechten, die einzelne Steine bedecken.
Dieſe Pflanzen, die auf den Steinblöcken wachſen, ſtehen in ihrer
Genügſamkeit einzig da, und ich bitte Wulff, mir etwas von ihnen
zu erzählen. .
Flechten ſind Organismen, die aus einer Alge und einem
Pilz beſtehen, die einen Bund zu gemeinſamem Haushalt ge⸗
ſchloſſen haben. Die Alge iſt derjenige Teilnehmer in der Aktien⸗
geſellſchaft, der allein die Fähigkeit beſitzt, organiſche Subſtanz
aus unorganiſcher Materie zu bilden. Der Pilz dagegen bildet
die kleinen Luftwurzeln, die die Flechte an der Unterlage feſt⸗
halten. Die Farbe der Flechten, ſo wie wir ſie ſehen, iſt alſo
das Reſultat der Farbe der Alge und des Pilzes.
Die Flechten ſind äußerſt widerſtandsfähig gegen Trockenheit,
Wärme und Kälte; ſie können nur in feuchtem Zuſtand wachſen und
ſind bei Trockenheit im Ruheſtand. Hier in dieſem Klima vege⸗
tieren ſie vermutlich nur einige Tage im Jahr, und ein Fleck ſo
groß wie ein Zehnpfennigſtück kann hier, wo die Vegetation
350 Tage des Jahres ſtillſteht, mehr als hundert Jahre
alt ſein. Ihre Hauptnahrung ziehen ſie aus den Verwitterungs⸗
produkten des Steines, und das kann nicht viel ſein. Es iſt
alſo eine Pflanze, die bei all ihrer AUnanſehnlichkeit die Ewig⸗
keit vor ſich hat.
Lager V. — Die Midgardſchlange.
Bei ſchönem Sonnenſchein brachen wir am 9. Auguſt vor⸗
mittags auf und fuhren langſam den großen Firn der Teufels⸗
ſchlucht nach Nordoſten hinauf. Wir ſtiegen gleichmäßig aufwärts
und ſtöhnten unter einer Temperatur von 4 Grad Wärme, ge⸗
blendet von dem Licht, das, von dem friſchgefallenen Schnee
18*
N Elftes Kapitel.
reflektiert, uns in den Augen ſchmerzte. In einer Höhe von 1000
Meter maßen wir die geographiſche Breite. Wir haben jetzt eine
ſchöne, großartige Ausſicht über das merkwürdige Cafion- und
Nunatakland, das wir in dieſen Tagen quer zu unſerm Kurs ent⸗
deckt haben. Es erſtreckt ſich wie ein Saum von 20 bis 30 Kilo⸗
meter Breite oberhalb des Landes hinter dem St.⸗George⸗Fjord,
mit großen Lokalgletſchern auf der einen Seite und dem Inlandeis
auf der andern. In einem mächtigen Bogen verſperrte es uns
den Weg auch in der Richtung auf den Sherard⸗Osborne⸗Fjord,
wir geben ihm daher den Namen „die Midgardſchlange“. Es gibt
keinen Weg außen herum: Nach einer kurzen Rekognoſzierung
beißen wir in den ſauren Apfel; wir verlaſſen den Gletſcher
und fahren wieder abwärts. Wir fanden eine ſchöne, glatte
Niederfahrt, und nachdem wir uns mit einer Taſſe Tee ge⸗
ſtärkt hatten, begann das Hinaufſchleppen des Gepäcks auf das
Inlandeis.
Das Land war trocken und eben, aber unfruchtbar und
kahl wie eine Wüſte; es wurde nicht von dem kleinſten Fluß
belebt. Alles war vollſtändig ausgetrocknet, trotz der großen
Gletſcher, die ſich von beiden Seiten des Landes herabſenkten. 2
Es gehörte zu den ſogenannten Karſtlandſchaften, wo alles
Schmelzwaſſer in die Erde verſickert. Wir fanden ein paar
Mohnpflanzen, von denen einige noch in Blüte waren,
kleine verkrüppelte Gräſer, Mooſe und Flechten, aber kein
Tierleben. Nur ein Wolf hatte vor längerer Zeit ſeine
Spuren im Leben zurückgelaſſen, ungefähr an der Stelle, wo
wir das Zelt aufſchlugen, um eine Portion Pemmikanbrei zu
kochen.
Nach der Mahlzeit kehrten drei Mann zur Abfahrſtelle
zurück, während Koch und ich fortfuhren, das Gepäck zum Gletſcher
hinaufzubringen.
Auf dieſer Wanderung fanden wir einen Moſchusochſenkiefer,
der über hundert Jahre alt zu ſein ſchien. Unmittelbar neben
dem Kieferreſt lag ein Stück eines foſſilen Tintenfiſches aus der
Zeit des Silurmeeres. Zwiſchen dieſen beiden Zeugen eines
früheren Lebens, dem Moſchusochſen und dem Tintenfiſch, liegt
vielleicht ein Zeitraum von wenigſtens 10 Millionen Jahren,
eine hübſche Zeit für eine rege Phantaſie.
Die Rückreiſe über das Inlandeis. 277
Vierundzwanzig Stunden dauerte der Transport. Dann waren
wir alle wieder beim Zelt verſammelt, hungrig und ſchläfrig, aber
alle in beſter Laune und mit gutem Gewiſſen, im Bewußtſein
daß wir trotz der ſchwierigen Verhältniſſe 22 Kilometer zurück⸗
gelegt hatten, ganz abgeſehen davon, daß über die Hälfte des
Wegs dreimal gemacht worden war.
Schlaf iſt ſüß wie Milch und Honig, zumal an einem ſolchen
Tage.
Sieben Stunden darnach mußten wir wieder in die Sielen.
Es iſt ein Wettlauf um das Leben der Hunde, denn wir haben
nur noch zwei Fütterungen für ſie und noch 350 Kilometer bis zu
dem Lande ſüdlich des Humboldtgletſchers.
700 Meter über dem Meer, auf allen Seiten Inlandeis und
dabei 3 Grad Wärme um 3 Uhr nachmittags. Es dauerte einige
Zeit, bis wir wieder in Gang gekommen waren, denn unſere Füße
waren wund von den vielen kleinen, ſcharfen Steinen, und Schul⸗
tern und Rücken waren ſteif von den ſchweren Laſten. Aber ich
muß doch ſagen, daß alle ſich mit beſtem Humor dareinfanden,
und wir verſuchen gegenſeitig uns anzufeuern durch Scherze über
die unglückliche Figur, die mancher von uns macht. Es bleibt
einem nichts anders übrig, als in dieſen Tagen von ſeinem
Humor zu leben; die Sehnſucht nach der Heimat macht uns zu
Rieſen, die ſich durch alle Schwierigkeiten Bahn brechen, und wir
ſchlagen uns erſtaunlich gut durch. Bei unſern kleinen Rationen
ſchuften wir wie isländiſche Pferde, oder beſſer noch, wie vom
Hunger geſtählte Kulis. Denn hungrig ſind wir unleugbar nur
zu bald nach den Mahlzeiten, die wir jetzt mit faſt andächtiger
Feierlichkeit einnehmen.
Darum müſſen wir ſo raſch wie möglich aus dieſer Wüſte her⸗
aus. Ein trübſeliges, ödes Land; die tiefe Stille wird nicht durch
den kleinſten Vogelſchrei oder das leiſe Murmeln eines Fluſſes
unterbrochen; ein merkwürdiges Stück ſchnee⸗ und eisfreien Karſt⸗
gebietes, das man, ohne die Einheit der Landſchaft zu unter⸗
brechen, mitten in die Libyſche Wüſte verſetzen könnte.
Wir haben jetzt den Rand des Inlandeiſes fait erreicht; in
ein paar Stunden wird der mühſelige Transport nur eine Er⸗
innerung ſein, und dann beginnt endlich im Ernſt die Reiſe durch
die nächſte und letzte große Wüſte.
278 Elftes Kapitel.
Der Rand des Inlandeiſes.
588 Meter über dem Meer.
10. Auguſt. Noch ein letzter reißender Moränenfluß, über den
wir eine Brücke aus den Schlitten bilden mußten, war zu über⸗
winden, dann erreichten wir um 1½ Uhr den Rand des Inlandeiſes.
Dieſer für die Expedition ſo bedeutſame Augenblick wurde
durch eine Mahlzeit außerhalb der Rationen und durch eine extra⸗
ſtarke Taſſe Kaffee gefeiert.
Windſtille, klarer Himmel, 1 Grad Wärme, ſatte Menſchen,
Sonnenſchein im Gemüt.
Bei der Mahlzeit denken wir an jenen amerikaniſchen National⸗
ökonomen, der vorſchlug, nicht Gold, ſondern Nahrungsmittel ſollten
den Wertmeſſer im Leben darſtellen. Soviel ich mich erinnerte,
ſchlug er vor, man ſolle eßbares Geld aus Weizen herſtellen,
denn was nützt einem Millionär ſein Geld in einer Wüſte wie
dieſe, und was wären wir ohne Nahrung?
Lager VI. — Auf dem Inlandeis.
900 Meter über dem Meer. Entfernung 4 Kilometer.
Lagern um 10 Uhr vormittags, nachdem wir unſere längſte
Tagereiſe hinter uns haben, davon 10 Kilometer über ſchneefreies
Land, wo wir den Weg zweimal zu machen hatten. Wir gehen
um 1 Uhr zur Ruhe, zu müde, um zu ſchreiben.
Wir wachen um 7½ Uhr auf. Erſt jetzt nach der Ruhe zeigt
ſich die Empfindlichkeit des Körpers im Ernſt. Die Laſten, die
wir trugen, hatten ein durchſchnittliches Gewicht von 35 bis 40
Kilo, und wir hatten ſie ununterbrochen zu ſchleppen, von 4 Uhr
nachmittags bis 1 Uhr morgens, wo wir das Inlandeis er⸗
reichten. Darum ſchmerzt heute die kleinſte Bewegung, aber der
Himmel iſt rein wie friſchgefallener Schnee. Nicht eine Wolke. Das
ſchönſte Reiſewetter, alles wieder zu einer langen Tagereiſe heim⸗
wärts bereit, damit wir das Schiff und Dänemark vor Eintritt
des Winters erreichen.
Die Midgardſchlange liegt jetzt weit hinter uns, und die Höhe,
die wir erreicht haben, gibt uns die Gewähr, daß wir über alle
Schwierigkeiten hinweg ſind. Der Gletſcher iſt ideal, eben und
ſchneefrei, ganz ohne das Spaltenſyſtem, das Peary und Aſtrup
zwang, ihren Kurs weiter in das Inlandeis hinein zu verlegen.
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Die Rückreiſe über das Inlandeis.
Vorläufig ſchlagen wir
die Richtung nach Süd⸗
weſten ein und folgen auf
dem Rücken des Glet⸗
ſchers des neu aufgetauch⸗
ten Lande, das ſich vom
Ende des St.⸗George⸗
Fjords nach dem Peter⸗
mannfjord hinüber er⸗
ſtreckt. Ein wildes, zer⸗
riſſenes Land, in dem tiefe
Schluchten zwiſchen Ber⸗
gen und kleinen Gletſchern
eingeſchnitten ſind, die mit
ihren gebrochenen und un⸗
ruhigen Linien in ſchrof⸗
fem, trotzigem Gegenſatz
zur toten Einförmigkeit des
Inlandeiſes ſtehen. Wir
gaben ihm den Namen
Nyeboeland.
Lager VII.
1200 Meter über dem Meer.
Entfernung 43 Kilometer.
1112. Auguſt. In
dieſer Zeit, in der wir oft
20—24 Stunden hinter⸗
einander in Tätigkeit ſind,
haben wir, um unſere
Arbeitsfähigkeit einiger⸗
maßen in Gang zu halten,
eine kleine Mahlzeit mit⸗
ten während des Tage⸗
marſches einführen müſſen;
279
Harald Moltke nach Skizze von Koch
vom Inlandeis aus.
—
Nyeboeland
ſie beſteht aus einer Taſſe Haferſuppe mit einigen Stücken Pem⸗
mikan und wird von unſern planmäßigen Morgen⸗ und Abend⸗
rationen abgezogen; ſie tut uns außerordentlich gut.
280 Elftes Kapitel.
Um 9% Uhr nachmittags ſind wir aufgebrochen, um 10% Uhr
vormittags ſchlagen wir das Lager auf, nachdem wir 43 Kilo⸗
meter auf guter Bahn zurückgelegt haben. Das iſt wirklich eine
anerkennenswerte Entfernung. Die Schlitten gehen etwas ſchwer,
und wir ſelber brauchen Schneereifen und Schneeſchuhe. In dieſer
ewig weißen Umgebung wirken die langen Märſche ſehr monoton,
aber nicht eigentlich ermüdend, abgeſehen von den erſten drei bis
vier Stunden. Sobald die Empfindlichkeit des Körpers infolge der
Bewegung geſchwunden iſt, entwickeln wir eine zunehmende Ge⸗
ſchwindigkeit, je mehr wir uns der Zeit nähern, in der wir unſere
Mahlzeit einnehmen. Wir paſſen uns alſo ganz den Gewohn⸗
heiten der Schlittenhunde an. Wir haben jetzt eine ſolche Höhe
erreicht, daß die Steigung des Inlandeiſes nicht mehr bemerkbar
it; der Horizont ringsum iſt ohne Abwechſlung, nur hier und da
paſſieren wir einen kleineren, eisbedeckten Berggipfel. Auf dem
Eis liegt eine Schicht weicheren Schnees von etwa ein Meter
Dicke, aber die Oberfläche trägt die Hunde einigermaßen, ſo daß es
ſie nicht beläſtigt.
Wir ſind geſpannt, wie lange wir dieſe Bahn behalten werden.
* A *
Der erſte Hund ſtürzte heute mitten auf dem Tagemarſch und
wurde zum Lager gefahren, wo er augenblicklich verfüttert wurde.
Wir können uns nicht verhehlen, daß die ſchwierigen Gelände⸗
und Transportverhältniſſe, die wir auf dem Daniel⸗Bruun⸗Glet⸗
ſcher, in der Teufelsſchlucht und auf der Midgardſchlange zu über⸗
winden hatten, uns recht angegriffen haben. Man ſieht es uns
deutlich an, daß wir ſehr mager geworden ſind, aber der Humor
und der Wille durchzuhalten ſind ganz unerſchüttert.
Ein großer Vorteil iſt, daß wir reichlich Petroleum mithaben.
Aber richtigen Proviant haben wir nur für ſechs Tage. Es iſt
daher wünſchenswert, daß das Wetter uns günſtig bleibe. Wir
möchten ſehr ungern den Hunden dabei helfen, die gefallenen
Tiere zu verzehren. Es gilt jetzt, den größten Vorteil aus dem
Futter zu ziehen, das die Hunde geſtern bekamen. Aus dieſem An⸗
laß mußten wir uns mit einem kurzen Schlaf begnügen und nach
fünf Stunden Ruhe aufbrechen. Ehe wir uns auf den Weg
7
1
Die Rückreiſe über das Inlandeis. 281
machen, legen wir Eis unter die Schlittenkufen, da die Temperatur
dafür endlich tief genug iſt. Das Thermometer zeigt 6,5 Grad
unter Null.
» Auf dem geſtrigen Tagemarſch wurden wir plötzlich durch den
Beſuch einer jungen Möwe überraſcht, die ſich hierher verirrt
hatte. Lange flatterte ſie kraftlos vor den Hunden hin und her,
bis der Wind ſie erfaßte und ſie tiefer in die Ode und in den Tod
hinein fortführte. Ein Sturm hatte ſie hierher verſchlagen, und ſie
hat das Meer nicht wiederfinden können.
Lager VIII.
1100 Meter über dem Meer. Entfernung 34 Kilometer.
12.—13. Auguſt. Auch heute überzogen wir die Schlittenkufen
mit Eis, nachdem wir erſt Schneeſchuhe untergelegt hatten. Das
Barometer fällt. Ein ſtarker Südweſtwind treibt die Wolken vor
ſich her, und wir haben eine Temperatur, die im Laufe des Tages
zwiſchen null Grad und 2,1 Grad Wärme ſchwankt.
Während der erſten 20 Kilometer hatten wir eine ebene, feſte
Bahn, ſo daß wir in ſechs Stunden 28 Kilometer zurücklegten.
Dann kam der Föhn über uns, den wir ſeit dem Morgen er⸗
wartet hatten. Der Schnee wurde raſch weich, die Schlitten liefen
ſchwer, und die Hunde ſanken ein und wurden bald müde und
wollten nicht weitergehen, obwohl drei von uns voranſchritten. Wir
mußten daher nach einer Tagereiſe von 34 Kilometer haltmachen.
Die Schneeſchuhbahn war den ganzen Tag glänzend geweſen,
und die Oberfläche des Gletſchers war ſo eben, daß die Schlitten
denen von uns, die Schneeſchuhe hatten, kaum folgen konnten.
Unter ſolchen Verhältniſſen ſind für den Geübten norwegiſche
Schneeſchuhe den kanadiſchen Schneereifen weit vorzuziehen, da
letztere nur auf der Schneeoberfläche tragen, ohne gleichzeitig den
gleitenden Schwung über den Schnee zu verleihen.
Um 2 Uhr bekamen wir das Land am Ende des Petermann⸗
fiords in Sicht; es liegt jetzt querab von unſerm Kurs. Es ſpornt
außerordentlich an, Land in Sicht zu haben, aber leider werden
wir kaum, wie wir die ganze Zeit gehofft haben, morgen den
80. Breitengrad überſchreiten, denn bei der hohen Temperatur
wird die Bahn ſchlecht. Im übrigen haben wir ſchönes, klares,
windiges Wetter, mit Sommerwärme im Zelt.
282 Erlftes Kapitel.
Die aufziehenden Südweſtwolken machten mit ihrer Drohung
Ernſt. Gerade als wir das Zelt niedergelegt hatten, um aufzu⸗
brechen, trat ſo plötzlich ein Wetterumſchlag ein mit tiefen, ſehr
raſch treibenden Wolken, daß wir aus Furcht, ein Schneeſturm
möchte uns überraſchen, das Zelt wieder aufrichteten, um die
weitere Entwicklung der Dinge abzuwarten. Es traten abwech⸗
ſelnd Regen und Schneeſchauer ein. Reſigniert benutzten wir das
Unwetter zu einer kleinen Raſt, der erſten ſeit dem Aufſtieg von
dem Fluß im St.⸗George⸗Fjord.
Unſer unfreiwilliger Aufenthalt bringt es leider mit ſich, daß
wir zwei Hunde ſchlachten müſſen, teils für uns ſelbſt, teils für
die andern Hunde. Es iſt 12 Uhr nachts, und während ich dieſe
Zeilen ſchreibe, dringt ein Duft vom Keſſel zu mir herüber, der
mir durchaus nicht unangenehm iſt. Auf meinen früheren Reiſen,
fünfzehn Jahre lang, bin ich nie gezwungen geweſen, meine Hunde
zu eſſen, und habe daher immer mit einem gewiſſen Unbehagen
und nicht ganz ohne Kritik auf die Expeditionen herabgeſehen,
die ihre Hunde erſt bis zur letzten Faſer ausnutzten und ſie dann
ſchließlich aufaßen. Dies kam mir nicht nur unäſthetiſch und un⸗
appetitlich vor, es ſchien mir auch mit Kannibalismus verwandt.
Wie ganz anders jetzt, da wir ſelbſt das Leben mit Hundefleiſch
friſten müſſen! Das Unäſthetiſche und Unappetitliche exiſtiert
nicht mehr.
Der Schneeſturm pfeift um unſer Zelt, und wir fühlen uns
bei unſerm geringen Proviant unendlich fern von allen Men⸗
ſchen. Wir ſind hungrig und ſind ſchon den ganzen letzten Mo⸗
nat hungrig geweſen. Darum warten wir nur mit Ungeduld
darauf, bis das Fleiſch gekocht iſt, daß der Hunger geſtillt werden
kann. Das Fleiſch ſieht hell und lecker aus, wenn es auch mager
und ſehnig ilt. Aber wie der Dampf aus dem Keſſel ſteigt und
das Zelt erfüllt, bilden wir uns ein, es ſei Hammelfleiſch, das
wir zu eſſen bekommen; der Geruch erinnert daran. Und die Aus⸗
ſicht, daß wir alle ſatt werden und uns nicht mehr mit einer
ſechſtel Portion Pemmikanbrei zu begnügen brauchen, wirkt in
höchſtem Grad belebend und beruhigend. Der Hund iſt doch nichts
anderes als ein Haustier, und in der ganzen Welt lebt man ia
von ſeinen Haustieren!
Alle kämpfen wir in dieſer Wüſte um unſer Leben. Wir
—
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Cr
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Die Rückreiſe über das Inlandeis. 283
arbeiten rückſichtslos, um uns nach beſſeren Jagdgebieten zu retten,
und da das Recht des Stärkeren bei uns und nicht bei den Hunden
iſt, ſo ſind wir es, die die Hunde eſſen. In einer Lage wie der
unſern iſt kaum Raum für Sentimentalität. Sterben ſollen ſie ja
doch einmal von unſerer Hand — mögen ſie alſo uns und ihren
Kameraden auf dieſer Expedition, auf der ſie uns bei lebendigem
Leibe ſo treu gedient haben, auch nach ihrem Tode noch dienen.
Vielleicht rümpft dieſer oder jener die Naſe über dieſen Ge⸗
dankengang. Aber wir haben uns jetzt während eines halben
Jahres daran gewöhnt, in Dankbarkeit die Nahrung entgegen⸗
zunehmen, in welcher Form fie auch zu uns kommen mag. Da⸗
her haben wir vielleicht in etwas höherem Grade als andere
Menſchen Gelegenheit gehabt, unſere Auffaſſung von dem, was
ein leerer Magen bedeutet, richtigzuſtellen; er kennt nicht viele
Rückſichten.
* *
*
Das Fleiſch iſt jetzt gekocht, und mag die Mahlzeit auch ple⸗
bejiſch ſein, kein Appetit der Welt kann königlicher ſein als
der unſrige!
Lager IX.
765 Meter über dem Meer. Entfernung 44 Kilometer.
Endlich trat geſtern abend ſchönes, klares Wetter mit einer
milden ſüdöſtlichen Briſe und einer Temperatur von 1,9 Grad
unter Null ein. Man kennt den Gletſcher in dieſer Sommer⸗
temperatur gar nicht wieder. Auf der erſten Thule⸗Expedition
hatten wir weiter drin auf dem Inlandeis in der gleichen Jahres⸗
zeit eine Temperatur von 20 bis 25 Grad Kälte. Dieſe Wärme,
die uns in verſchiedener Weiſe wohl zuſtatten kommt, verdanken
wir natürlich dem Umſtand, daß wir uns in der Nähe des Küſten⸗
landes befinden. Bei ſtarker Kälte würden unſere mageren
Hunde in ihrem dünnen Sommerpelz ſicher erfrieren.
Wir brachen 7% Uhr nachmittags auf und konnten in raſchem,
gleichmäßigem Tempo bis 6 Uhr morgens 44 Kilometer zurück⸗
legen. Leider haben wir aus ökonomiſchen Rückſichten unſere
kleinen Mittagsmahlzeiten aufgeben müſſen, da wir die Mittel
dafür nicht mehr beſitzen. Wir begnügen uns mit einer Taſſe Tee.
284 Elftes Kapitel.
Der Gletſcher war feſt wie ein Stubenboden. Die Schlitten
glitten fein und leicht ohne Reibung, und unſere 11 Hunde
ſchlugen mit den beiden Schlitten bisweilen ein Tempo an, daß
wir Schwierigkeit hatten, ihnen zu folgen. In der Höhe des In⸗
land⸗Nunataks des Petermannfjords paſſierten wir ein ziemlich ver⸗
wickeltes Syſtem großer Spalten, die durch breite Rücken mitein⸗
ander verbunden waren, ſo daß ſie uns nicht viele Schwierigkeiten
boten. Wir mußten den Kurs nur unbedeutend verlegen, um ſie
zu umgehen. Augenblicklich genießen wir von unſerm Zelt weite
Ausſicht auf den Nunatak, der auf der Oſtſeite allmählich in den
Gletſcher übergeht, während er nach außen ein zerſplittertes Vor⸗
land nach dem Fjord zu bildet, den wir in prächtiger Vogel⸗
perſpektive erblicken, mit blauenden Klippen weit draußen im
Weſten am Horizont.
Lager X.
1010 Meter über dem Meer. Entfernung 41 Kilometer.
15. Auguſt. Wir mußten heute die Zähne ale
um unſere 40 Kilometer zurückzulegen. Wir hatten einen heftigen
Südweſt im Geſicht, und der Schnee beſtand aus lauter feinen,
kleinen Nadeln, die uns durch unſere Kamiker ſchmerzten und unter
unſerm Gewicht brachen. Ein mühſamer Marſch. Außerdem ging
die Reiſe leicht aufwärts, und ſobald wir die geringſte Steigung
haben, merken wir es ſofort in den Knien, wie entkräftet wir ſind.
Da die Pfoten der Hunde anfingen ſtark zu bluten, mußten
wir unſre Handſchuhe opfern und ſie ihnen als N über die
Füße ziehen. Das half.
In 900 Meter über dem Meer ſtießen wir auf eine Menge
kleiner und großer Seen, von denen die größten noch offenes
Waſſer hatten, das ſich tiefblau und wirkungsvoll in den weißen
Umgebungen kräuſelte. Es wirkte eigentümlich, hier oben auf dem
Gletſcher dieſe Becken voll lebendigen Waſſers zu ſehen, Seen,
die bis zu 300 Meter lang und 100 Meter breit waren. Eine
Anzahl kleiner Spalten und kleine gefrorene Flußläufe wurden
überſchritten. '
Den ganzen Tag hatten wir im Weiten Waſhingtonland in
Sicht: hohe, ſteile Berge, die wie eine Mauer ſich vom Inlandeis
abhoben; ſchöne weiße Gletſcherzungen durchbrachen und ſpalteten
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Die Rückreiſe über das Inlandeis. 285
die rotbraunen und gelben Felſen gleich mächtigen Waſſerfällen.
Durch Senkungen im Lande konnten wir hier und da die ſpitz⸗
gezackten Alpen von Grinnell⸗Land wie feine, lilagetönte Wolken⸗
bänke erkennen, ein Anblick, der anfeuernd auf den Marſch
wirkte und angenehm die einförmige Fläche unterbrach, die wir
ſonſt um uns herum hatten. 8
Dieſe Reiſe über das Inlandeis, die in den letzten Monaten
drohend am Horizont geſchwebt hatte, erſcheint uns jetzt im Lichte
un rr
Harald Moltke
Hunde mit Handſchuhen als Stiefel.
einer angenehmen Überraſchung, einer Abſchiedsbelohnung nach
allen Widerwärtigkeiten.
Lager XI.
1100 Meter über dem Meer. Entfernung 35 Kilometer.
16. Auguſt. Unmittelbar nach der ſchönen Tagereiſe von geſtern
zog ein Südweſt mit unſichtigem Wetter auf und blies uns raſch in
den Schlaf. Gegen Abend flaute er etwas ab, und wir machten uns
auf den Marſch; aber nach einer Entfernung von 14 Kilometer
mußten wir infolge Nebels und Schnees vorläufig haltmachen
und benutzten die Gelegenheit, einen Hund zu ſchlachten, der
nicht mehr weiter konnte. In der Nacht hatten wir eine Tempe⸗
ratur von 7,5 Grad unter Null, und dieſe Abkühlung ſchien zur
Folge zu haben, daß der Himmel ſich wieder aufklärte, ſo daß wir
286 Elftes Kapitel.
die Reiſe fortſetzen konnten, unmittelbar nachdem wir die Mittags⸗
höhe genommen hatten, die ergab, daß wir uns auf 79° 45
nördlicher Breite befanden. Nach einem Marſch von 20 Kilometer
wurden wir indeſſen wieder von Nebel und Schnee aufgehalten
und ſchlugen das Lager für dieſen Tag endgültig auf.
Bei einer Pfeife Tabak.
17. Auguſt. Es hatte die Nacht heftig geweht. Der Wind
hatte unſer dünnes, jetzt ſtark vom Wetter angegriffenes Zelt
gezerrt und gezauſt, und da wir keine Schlafſäcke haben und unſere
Kleidung von den langen Märſchen ſchweißdurchnäßt iſt, war der
Schlaf durch häufige Kälteſchauer und heftiges Schlagen mit den
Füßen unterbrochen.
Mitten in der Nacht, nach zwei Stunden Schlaf, zünde ich mir
meine Pfeife an und ſinne ernſthaft über die Lage nach. Wir
haben jetzt nur noch für zwei oder drei Tage Proviant und dazu
unſere Hunde, die nicht gerade mehr in der beſten Verfaſſung ſind.
Das einzige, was wir reichlich haben, iſt Petroleum. Noch eine
Woche lang werden wir uns mit gekochtem Hundefleiſch durch⸗
helfen können, ſofern man das magere Knochenfutter Fleiſch nennen
darf. Schlimmer iſt es, daß wir ſelbſt in ein paar Tagen uns ins
Geſchirr legen müſſen, wenn die Hunde nicht mehr können und als
Menſchenproviant verwendet werden. Wir haben noch neun, aber
ihre Zahl geht raſch herab. Auch andere Umſtände machen es
wünſchenswert, daß wir bald Land erreichen. Harrigan trägt eine
geſchwollene Hand in der Binde; Koch hat eben ein unangenehmes
Zahngeſchwür überſtanden, wobei das eine Auge ganz zuge⸗
ſchwollen war, und er hat jetzt ein raffiniert boshaftes Geſchwür
unter dem Nagel der einen großen Zehe bekommen. Wulff läuft
mit einem großen Geſchwür am Geſäß herum, das ich ihm täg⸗
lich verbinde. Alle dieſe kleinen, quälenden Übel, die ſich hinzu⸗
geſellen zu dem täglichen Halbhunger, der mehr und mehr in ein
gediegenes Hungergefühl übergeht, machen es notwendig, daß wir
ſo raſch als möglich Land und Jagd finden. Wir hatten gehofft,
das Land hinter der Marſhallbai erreichen zu können, aber wir
werden kaum die 200 Kilometer bis dahin bewältigen können.
Die Überlegungen dieſer Nacht führen daher zu dem Entſchluß,
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Die Rückreiſe über das Inlandeis. 287
den Abſtieg in der Nähe von Kap Agaſſiz zu verſuchen. Von
da ſind es etwa 250 Kilometer nach Etah mit ſeinen Haſen und
wilden Renntieren.
Als ein ferner Lichtpunkt ſteht die Möglichkeit vor uns, mein.
Schiff „Kap York“ bei Etah zu treffen, und der Gedanke, noch
in dieſem Herbſt nach Dänemark zu kommen, ſtärkt unſere Energie
bedeutend.
Lager XII.
1130 Meter über dem Meer. Entfernung 21 Kilometer.
18.—19. Auguſt. Um 8 Uhr morgens machen wir uns auf.
Aber es ſtellt ſich heraus, daß uns kein guter Tag bevorſteht.
Schwer und mühſam bewegten wir uns in ſtarkem Schneetreiben
aus Südſüdweſt gegen den etwas von der Seite kommenden Wind
vorwärts. Ab und zu waren die Windſtöße ſo heftig, daß man
auf den Schneeſchuhen ſchwankte. Aber vorwärtskommen müſſen
wir, denn das Meſſer ſitzt uns an der Kehle! Ein paarmal fehlte
nicht viel, daß mich die Müdigkeit im Kampf mit den heftigen
Schneeſchauern überwältigte. Aber es hieß einfach den Schmerz
verbeißen und weitergehen. Bei unſerm ſchwindenden Proviant iſt
dies ein unheimlicher Wettlauf. Zähe kämpften wir uns fünf
Stunden, bis um 1 Uhr, vorwärts. Dann wuchs das Schnee⸗
treiben zu einem Sturm an, der uns in weiße Schneewellen ein⸗
hüllte. Wir machten halt, wo wir waren, denn jetzt war aller
Widerſtand vergebens.
Es war ein Kampf und eine Kunſt, das Zelt in dieſem Wetter
aufzuſchlagen, aber es gelang. Da es unmöglich war, irgend etwas
vom Schnee zu befreien, wurde das Gepäck, ſo wie es war, ins
Zelt hineingeworfen und wir ſelber ſaßen wie Hühner auf der
Stange im Kreis herum und ließen den Sturm blaſen. So iſt die
Situation, während ich dies ſchreibe. Der Föhn hat den Schnee
an unſern Kleidern aufgetaut, und wir ſind alle triefend naß. Der
feinkörnige „Schneeſand“ des Gletſchers fegt durch die Säume
des Zeltes herein und bedeckt uns. Wir verſuchen die Sache mit
Humor zu nehmen, ſingen amerikaniſche Fußballweiſen, die wir
von Me Millans Grammophon gehört haben, und kochen uns
dazu einen Topf Pemmikanbrei.
Nach ein paar Stunden hören die heftigen Böen, die das Zelt
288 Elftes Kapitel.
fortzureißen drohten, auf, und der Wind geht in einen ſtetigen,
beharrlichen Sturm über. Nach dem Brei legen wir uns ſchlafen
und laſſen den Sturm Sturm fein.
11 Uhr abends. Dasſelbe Wetter, derſelbe Wind; wir ſchlafen
weiter. „
Erwachen von neuem; aber dasſelbe Wetter, derſelbe Wind.
Es wird alſo trotz aller Eile ein unfreiwilliger Ruhetag; aber
während wir bisher an den Tagen, an denen wir ſtillagen, hungern
mußten, dürfen wir dies jetzt nicht mehr, da es uns bei unſerm
jetzigen Zuſtand zu ſehr ſchwächt. Wir kochen daher unſere vorletzte
Taſſe Kaffee und eine dünne Taſſe Pemmikanbrei. Unfer ganzer
Proviant beläuft ſich auf ein Pfund Pemmikan für den Mann;
dabei haben wir noch mindeſtens 100 Kilometer bis zum Lande.
Aber das Barometer ſteigt, und unſere Hoffnung iſt jetzt eine
baldige Anderung des Wetters.
Mittags 12 Uhr.
Dasſelbe Wetter, derſelbe Wind; aber weniger heftig, und das
Schneetreiben im Abnehmen. Wir haben zwei Hunde ſchlachten
müſſen, teils um ſelber etwas zu eſſen zu haben, teils um die
ſieben, die noch übrig ſind, damit zu füttern. Wieder kauern wir
im Zelt im Kreis um den wärmenden Primus herum, der den
Topf bald zum Kochen bringen wird.
3 Uhr.
Das Barometer, das ein wenig geſtiegen war, fällt wieder,
und das dichte Schneetreiben um uns herum hindert uns vor⸗
läufig, einen Kurs zu wählen.
1 Uhr morgens.
19. Auguſt. Dasſelbe Wetter, derſelbe Wind. Trotz aller
Ungeduld weiterzukommen, ſolange wir noch ein paar Hunde
haben, bleibt uns nichts anderes übrig, als Winterſchlaf zu halten,
wie die Bären in die Höhle zu kriechen und ſolange das Unwetter
anhält, ſoviel wie möglich zu ſchlafen. Selbſt wenn wir mit
Hilfe des Windes einigermaßen den Kurs einhalten könnten,
dürfen wir es doch nicht wagen, uns in das Schneetreiben hinaus⸗
zubegeben, da wir nicht weit von der Randzone des Humboldt⸗
gletſchers entfernt ſein können. Leider haben wir weder das Talent
des Bären, in unſerer kühlen Höhle zu ſchlafen, noch ſeine Fähig⸗
keit, an den Pfoten zu ſaugen. Daher werden wir oft von
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Dr. Thorild Wulff auf dem Wege durch das Waſſer.
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Durch Schmelzwafferfeen, die mit dünnem €
Die Rückreiſe über das Inlandeis. 289
Träumen geweckt, die in maliziöſer Weiſe die Lage betonen. So
erwachte ich nach folgendem Traum:
Ich bin in meines Vaters Pfarrhof in Lynge und ſtehe mit
meiner Mutter im Vorratshaus, wo ſich ein Fach befindet, das
immer mit Kuchen gefüllt iſt. Meine Mutter hat eben zwei köſt⸗
liche Weihnachtskuchen gebacken und ſie in das Fach gelegt; ſie
duften ſüß nach köſtlichen Ingredienzien und ſtrotzen von Roſinen
und Zitronat. Die Mutter ſchneidet mir eine dicke Scheibe ab
und ſagt in ihrer freundlichen Art: „Da, mein Junge, iß ſoviel
du kannſt.“ Und gerade als ich den Leckerbiſſen zum Munde
führe, wache ich auf, und all das alte Elend iſt wieder da.
Um mich her lagen die Kameraden und ſchliefen. Der Wind
peitſchte die Schneemaſſen über das Zelt hin, und ein erſchöpfter
Hund lag in dem Schnee draußen und heulte erbärmlich.
4 Uhr morgens.
Es weht jetzt faſt kein Wind mehr. Statt deſſen hat es ange⸗
fangen zu ſchneien, und unſer kleines Lager iſt wie in einen weißen
Nebel gehüllt. Auch diesmal werde ich durch einen neckenden
Traum geweckt; zur Entſchädigung kochen wir Kaffee aus Kaffee⸗
ſatz und verteilen auf den Mann je einen halben Roggenkeks.
Der Kaffee dringt wie eine warme Welle durch unſern Körper,
und mit einer Pfeife im Munde ſehen wir dem Tag mit friſchem
Mut entgegen. Es wird ſchon alles in Ordnung kommen. Es iſt
ja unſer eigener, freier Wille, der uns das Behagen und die Herr-
lichkeiten der Heimat hat aufgeben laſſen. Aber wie werden wir
alles genießen, wenn wir einmal heimkommen!
6 ½ Uhr.
Vor einer halben Stunde drang ein Sonnenſtrahl durch das
Zelttuch. Augenblicklich ſprangen wir aus den verſchiedenſten
Stellungen, in denen wir ruhten, auf und brachen in ein Jubel⸗
geſchrei aus. Sogleich wurde der Teekeſſel aufgeſetzt und eine
ſechſtel Portion, gerade ein Mund voll Pemmikan für jeden, mit
einem unſerer kleinen Roggenkeks verteilt. Der Horizont ringsum
liegt noch im Nebel. Aber über unſerm Kopf fängt der blaue
Himmel an durchzublicken, und wir können hoffen, daß wir gegen
Mittag Reiſewetter haben. Ein friſcher Klang iſt wieder in den
Stimmen, und wir ſehen dem kommenden Tag mit froher Span⸗
nung entgegen.
Rasmuſſen. 19
290 j Elftes Kapitel.
Lager XIII.
800 Meter über dem Meer. Entfernung 35 Kilometer.
19. Auguſt. Dank der ausgezeichneten Bahn, die wir den
ganzen Tag hatten, ſind wir jetzt 35 Kilometer von unſerm
Sturmlager entfernt. Der Schnee war nach dem Sturm ſo feſt,
daß wir weder Schneereifen noch Schneeſchuhe brauchten. Wir
waren von 10 Uhr bis 8½ Uhr unterwegs. Der eine Schlitten
wurde von drei, der andere von vier Hunden gezogen; die aus⸗
dauernden Tiere hielten ſich vortrefflich.
Als wir uns nach den Ruhetagen, zu denen uns der Sch
ſturm gezwungen hatte, wieder in Bewegung ſetzten, waren wir
anfangs ſehr matt in den Knien. Aber es galt, die Mattigkeit
zu verbeißen und lange Beine zu machen, namentlich weil die
Wolken noch ſehr drohend ausſahen und ein neuer Sturm jeden
Augenblick die Reiſe wieder unterbrechen konnte. Glücklicherweiſe
blieb es bei der Drohung. Die Wolken trieben vor einem Sturm
aus Südweſten in raſender Eile über unſere Köpfe hin; erſt ſpäter
am Tage verminderte ſich die Eile, und der Himmel nahm ein
ruhigeres Ausſehen an.
Die letzten 15 Kilometer der Tagereiſe waren wir ſtark von
Spalten beläſtigt, die anſcheinend lokaler Natur waren, denn ſie
befanden ſich alle in der Nähe eines Höhenzuges, wo das Eis
offenbar infolge ſeiner großen, eigenen Spannung geborſten war.
Sie waren indeſſen von ungewöhnlich heimtückiſcher Art, da ſie
vollſtändig mit der Oberfläche des Gletſchers verſchmolzen und
an den meiſten Stellen mit dünnen Brücken bedeckt waren, ſo daß
es bei dem unſichtigen Wetter ſchwer war, ſie zu ſehen. Wulff
wäre bei einem Haar hineingeſtürzt, blieb aber glücklicherweiſe mit
den Armen hängen, ſo daß ich ihn faſſen und wieder heraufziehen
konnte. Die Spalte war oben ſchmal, erweiterte ſich aber nach
unten zu einem bodenloſen Schlund. Nach dieſem Schreck ſeilten
wir uns an und ſetzten den Marſch ohne weitere Hinderniſſe fort.
Wieder haben wir einen Hund ſchlachten müſſen.
Schon zu Beginn der Tagereiſe hatten wir im Nordweſten
Land in Sicht — wahrſcheinlich Kap Forbes und ſeine weſtliche
Fortſetzung. Gegen 3½ Uhr taucht noch mehr Land auf, und wir
glauben Kap Webſter zu erkennen. Das Land ſah von hier oben
aus wie eine Menge kleiner Seen in einem gefrorenen Meer.
Die Rückreiſe über das Inlandeis. 291
20. Auguſt. Es war 1 Uhr, als wir zur Ruhe gingen; ſchon um
7 Uhr mußten wir wieder heraus, um unſere letzte Taſſe Kaffee
und unſere vorletzte Portion Pemmikanbrei zu kochen. Niemand, der
nicht ſchon gehungert hat, kann ſich einen Begriff davon machen,
wie wunderbar richtiges Eſſen unter ſolchen Umſtänden ſchmeckt.
Die kleinen Roggenkeks, die wir in den letzten Tagen nur als
Zucker zu Kaffee und Tee benutzt haben, bekommen jetzt ein
Aroma und einen Wohlgeſchmack, den man gar nicht beachtet,
wenn man in guten Ernährungsverhältniſſen iſt, und die Hafer⸗
grütze, die wir während der Überwinterung häufig mit Ver⸗
achtung anſahen, wirkt jetzt geradezu wie eine Liebkoſung. Wir
ſind uns einig, daß wir für den Reſt unſeres Lebens glücklich ſein
würden, wenn wir nur immer Hafergrütze zu eſſen hätten.
Das Wetter war noch immer nicht zur Ruhe gekommen, aber
da die Sonne um 11 Uhr durchbricht, machen wir uns auf. Den
ganzen Tag geht es über Glatteis, auf dem eine Schicht Neu⸗
ſchnee liegt; die Bahn iſt ſo glatt, daß wir oft fallen, und auch
die Hunde können trotz der Kamiker nur ſchwer feſten Fuß faſſen.
Wir paſſieren einzelne ſchmale Spalten und eine Menge ausge⸗
trockneter Seebecken und Flußläufe. Der erſte große Flußlauf
wurde 16 Kilometer von unſerm vorigen Lager entfernt in der
Höhe von 750 Meter überſchritten. Überall auf unſerm heutigen
Weg haben wir den Eindruck, als ſei das Inlandeis einem ſehr
ſtarken Schmelzprozeß unterworfen geweſen; die Oberfläche be⸗
ſteht aus lauter kleinen, feinen Körnern, die den Hunden Schmer⸗
zen bereiten. Der Weg geht über ebenes Gelände, das ſich im
Weſten ganz ſchwach nach der Peabodybai hinabſenkt, wohin alle
Flüſſe ihren Lauf nehmen.
Lager XIV.
600 Meter über dem Meer. Entfernung 30 Kilometer.
Der Himmel droht beſtändig mit Föhnwolken. Die Minimal⸗
temperatur war im Laufe der Nacht 5 Grad unter Null, während
wir vormittags 1 Grad über Null haben. Ein Ring legt ſich
um die Sonne und ſticht uns mit ſeinen Nebenſonnen blendend
in die Augen. Es iſt ein ſchöner Anblick, aber unſere Gedanken
beſchäftigen ſich nur mit ſeiner ſchlechten meteorologiſchen Vorbe⸗
deutung.
19 *
292 Elftes Kapitel.
Heute fuhren wir mit zwei Schlitten, jeder mit drei |
Hunden beſpannt. Wenn wir auch ſelbſt ordentlich mithelfen
müſſen, jo ſind die Hunde doch eine ſehr ſchätzbare Unterſtützung.
Wir waren auf der heutigen Fahrt gut vorwärtsgekommen, und
ſchon um 7 Uhr konnten wir unſer Lager mit der Ausſicht auf
die Peabodybai aufſchlagen, die faſt ganz mit Eis bedeckt iſt und
nur einzelne offene Stellen zeigt. Wir befinden uns wahrſcheinlich
25 Kilometer vom Gletſcherrand entfernt; Waſhingtonland iſt
faſt auf der ganzen Tagereiſe ſichtbar geweſen.
Wieder muß ein Hund geſchlachtet werden. Es war der beſte
Hund, den wir bisher verſpeiſt haben. Aber nichtsdeſtoweniger
überfiel mich bei der Mahlzeit plötzlich ein Übelfeitsgefühl, fo
daß ich trotz meines Hungers nicht imſtande war, weiter zu eſſen.
Nach unſerm Beſteck ſollten wir noch ungefähr 30 Kilometer
bis zu dem Lande bei Kap Agaſſiz haben. „Dem großen Lande
ohne Berge“, wie es die Eskimos nennen. Hier wird unſer Elend
hoffentlich ein Ende haben. Man denke nur: Talg, Fett und
duftendes Renntierfleiſch und wohl auch leckere Herbſthaſen!
Lager XV.
600 Meter über dem Meer. Entfernung 12 Kilometer.
21. Auguſt. Der Tag beginnt damit, daß wir die letzte Por⸗
tion Pemmikanbrei kochen, den wir ſehr dünn bereiten müſſen,
damit er einmal herum reicht. Aber wie dünn er auch ſein mag,
er legt ſich doch wie Watte um die Därme und erfriſcht uns mit
ſeinem gediegenen Geſchmack. Gleichzeitig werden die letzten
Roggenkeks verteilt, vier auf den Mann. Wenn nur das Wetter
ſich jetzt hält, ſieht es für uns noch nicht ſo ſchlimm aus, denn wir
haben noch fünf Hunde, und dieſe Hunde müſſen als Proviant
genügen, wenn nicht unvorhergeſehene Hinderniſſe unſern Abſtieg
auf das Land verzögern. Das Wetter verſpricht nichts Gutes.
Wir haben eine Temperatur von 3 Grad über Null, was auf dem
Inlandeis niemals ein gutes Zeichen iſt; außerdem ſegeln die
Wolken, von einem Südweſtſturm getrieben, drohend heran. Wir
laſſen alles Überflüſſige wie Schneereifen und Schneeſchuhe zurück
und eilen nur vorwärts.
N Der Gletſcher iſt feſt und ſchneefrei; er beſteht aus kleinen,
feinen Nadeln, die uns und den Hunden Schmerzen bereiten. Da
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Die Rückreiſe über das Inlandeis. 293
die Tiere allmählich die Handſchuhe durchgeſcheuert haben, müſſen
wir ihnen Stücke von einem alten Handtuch um die Pfoten wickeln.
Land voraus!
Um 1 ½ Uhr erleben wir das große Ereignis des Tages und
der Reiſe: Land voraus! Unwillkürlich begrüßen wir alle die
Küſte mit lauten Freudenrufen. Die unheimliche Spannung der
Reiſe ſcheint zu Ende. Die Expedition iſt wieder auf der ſicheren
Seite, und man ſieht nach dem Todesmarſch der letzten Tage ein
glückliches Ende.
Was tut es, daß unſere Freude ſehr raſch durch unſichtiges
Wetter und ſtrömenden Regen unterbrochen wird; wir haben jetzt
das Land geſehen und wiſſen, daß wir die Kräfte haben, es zu
erreichen. Um 4 Uhr nachmittags ſchlagen wir das Zelt auf,
und wieder muß ein Hund geſchlachtet werden. Das alles er⸗
ſcheint uns nur als eine Geduldsprobe; vor uns liegt ja das Land,
wo Menſchen wohnen, das geſegnete Renntierland!
4 Uhr morgens.
Ein reißender Flußlauf durchbricht plötzlich die Eisdecke neben
. unſerm Zelt ſchäumend und brauſend in einer Breite von 30 Meter.
fortzuſetzen.
Wir ſtürzen heraus in dem Glauben, daß wir ſelber mit weg⸗
geſpült werden. Aber glücklicherweiſe iſt es nichts als ein Kraft⸗
ausbruch, der raſch von ſelbſt wieder in ſich zuſammenfällt.
Es hat die ganze Nacht ſtark geregnet; jetzt iſt eine Pauſe in
den Regenſchauern eingetreten. Wir wollen verſuchen, die Reiſe
Lager XVI.
620 Meter über dem Meere. Entfernung 20 Kilometer.
22. Auguſt. Der Regen und das andauernd milde Wetter
0 ſcheinen uns mit Unglück zu bedrohen. In allen Senkungen ſind
große und tiefe Flüſſe aufgetaucht und verurſachen uns die aller⸗
größten Schwierigkeiten. Dieſe ſtark ſtrömenden, breiten Gletſcher⸗
flüſſe ſind wohl überhaupt das Gefährlichſte, dem ein Gletſcher⸗
reiſender ausgeſetzt iſt. Denn gleitet man beim Durchqueren aus
oder verliert man den Halt bei einem Sprung, ſo wird man auf
dem blanken, glattgeſchliffenen Boden unweigerlich mit fortge⸗
riſſen und wird rettungslos mitgeführt, bis der Fluß einen ins
Meer ausſpeit.
294 Elftes Kapitel.
Namentlich drei große, waſſerreiche Flußläufe koſteten uns viel
Mühe, da der Strom ſich an mehreren Stellen in acht Flüſſe
teilte. Wo es ſich tun ließ, bildeten wir Brücken aus den Schlitten
und erlebten bei dieſen Übergängen die ſpannendſten Augenblicke,
namentlich wenn die Sammlungen hinübergebracht werden
ſollten. Sie mußten meiſtens von dem einen Ufer zu dem andern
geworfen werden. Und da heißt es, auf der einen Seite ſicher
werfen und auf dem andern Ufer mit der gleichen Sicherheit auf⸗
fangen. Ein kleiner Fehlgriff mit der Hand, ein Fehltritt mit dem
Fuß, und rettungslos wären die Früchte all unſeres Fleißes und all
unſerer Mühen in den letzten fünf Monaten verloren geweſen.
Nach zwölf anſtrengenden Stunden, in denen wir einen Zick⸗
zackkurs einſchlagen und oft große Umwege machen mußten, hatten
wir uns 20 Kilometer von unſerm letzten Lager entfernt und
hätten jetzt eigentlich unten auf dem Lande ſein ſollen, wenn wir
nur den Tag über einen geraden Kurs hätten einhalten können.
Auf einem trocknen Höhenrücken hielten wir kurze Raſt mit der
Abſicht, nach einer Stunde weiterzuziehen. Aber leider ſtellte
ſich heraus, daß Dr. Wulff an dieſem Tage nicht mehr konnte.
Schon den ganzen Tag hatte er ſich matt gefühlt und hatte ſchlecht
ausgeſehen. Doch hoffe ich, daß eine Ruhe von ein paar Stunden
und etwas Hundefleiſch ihn befähigen werden, den Marſch fort⸗
zuſetzen; denn wir haben nur noch drei magere Hunde, und
niemand kann wiſſen, welche Hinderniſſe die Flüſſe oder der Ab⸗
ſtieg auf das Land uns noch in den Weg legen werden. Wir
ſehen der Lage feſt ins Auge, ohne ſie zu beſchönigen. Die
geringſte Anſtrengung mit dem Schlitten macht uns ſchwindlig
und läßt uns in die Knie ſinken, und alle plötzlichen Anſtren⸗
gungen laſſen das Blut ganz aus dem Gehirn zurücktreten.
Der Nebel hat ſich wieder über das Land geſenkt, in das wir
hinab wollen, ſo daß wir im Augenblick nicht wiſſen, wo wir
ſind. Den ganzen Tag wateten wir im Waſſer und haben daher
naſſe, kalte Füße. Eine Menge kleiner Seen haben ſich auf der
Oberfläche des Gletſchers gebildet, ihr Grund beſteht aus lauter
ſcharfen ſchmerzenden Firnkörnern. Ein kleiner Krabbentaucher
kommt munter auf einem ſchäumenden Fluß vom Inlandeis daher
geſchwommen und iſt offenbar ganz vergnügt über die Rutſchbahn,
die er nach dem Meer hinab gefunden hat. Auch zwei Eismöwen
7 u ae FR aa Sa a ar er
Die Rückreiſe über das Inlandeis. 295
haben wir geſehen. Wieder müſſen wir einen Hund ſchlachten und
verzehren ihn mit gutem Appetit, ohne daß wir in dem ſtillen,
milden Wetter das Zelt aufſchlagen.
8 Uhr vormittags.
Um unſer Gepäck zu erleichtern, haben wir vor ein paar Tagen
alle Unterlagen weggeworfen und um nicht auf dem blanken
Gletſcher zu liegen, breiten wir das Zelt aus und legen uns
darauf. Während der Nacht hat ein dichter Nebel die ganze
Umgebung unſern Blicken entzogen. Er liegt noch feſt, und obwohl
wir außerſtande ſind, uns zu orientieren, müſſen wir doch ſehen,
weiterzukommen. Ein großer, ſtark brauſender Fluß iſt vor uns
erkennbar; dorthin richten wir vorläufig unſere Schritte.
2 ½ Uhr nachmittags.
Der Gletſcherfluß, der ſich als ein weißſchäumender Eisfluß
von 60 Meter Breite erwies, hätte uns beinahe alle Hoffnung
geraubt; denn er war an der Stelle, wo wir ihn erreichten, ſo
tief, daß keine Möglichkeit war, ihn zu durchwaten. Nach einer
langen Rekognoſzierung gelang es mir, eine Stelle zu finden, wo
das Waſſer nur bis zu den Hüften ging, und da die Strömung
hier ſchwächer zu ſein ſchien, machten wir einen Verſuch. Er gelang.
Nach ein paar Stunden waren alle unſere Sammlungen, Inſtru⸗
mente und Tagebücher auf dem andern Ufer in Sicherheit.
Dieſes Bad mit ſeinen Anſtrengungen und Aufregungen hatte
uns ſo ſtark angegriffen, daß wir uns wieder eine Mahlzeit be⸗
reiteten; zu dieſem Zweck mußten wir den dritten Hund ſchlachten.
Der geſtern geſchlachtete hatte für uns ſechs Mann und für die
drei Hunde nur eine kümmerliche Mahlzeit abgegeben. Der Nebel,
der uns den ganzen Tag feucht und dicht umgeben hatte, ſcheint
ſich jetzt zu heben. Die Sonne iſt im Begriff durchzubrechen, und
eine wohltuende Wärme durchſtrömt allmählich unſere Glieder,
die in dem naſſen Zeug eiskalt geworden ſind. Wir verſuchen
den Kurs gerade auf das Land im Südweſten zu richten.
Lager XVII.
525 Meter über dem Meer. Entfernung 15 Kilometer.
Nach einer Tagereiſe von 13 Stunden mußten wir an einem
großen Fluß haltmachen, da uns die Kräfte fehlten, ihn zu über⸗
ſchreiten. Verhältnismäßig raſch nach dem Aufbruch von unſerer
296 Elftes Kapitel.
geſtrigen Abkochſtelle bekamen wir Land in Sicht. Unſer Kurs iſt
richtig; wir können kaum noch 20 Kilometer zurückzulegen haben. en
Aber ein mächtiges Netz von Flüſſen trennt uns vorläufig noch ö
von Land. Geſtern gegen 8 Uhr mußten wir einen etwa 40 Meter 1
breiten, tiefen Fluß durchwaten, deſſen Waſſer bis an den Leib É
reichte; das kalte Waſſer raubte uns die Kräfte, namentlich in
den Kniemuskeln. — Wir mußten jetzt den Schlitten ſelber ziehen.
Abends wird wieder ein Hund geſchlachtet, da wir es vorziehen,
ſein Fleiſch auf dem Schlitten zu transportieren; jetzt iſt nur noch
einer übrig. ö
EGG
Lager XVIII.
430 Meter über dem Meer. Entfernung etwa 10 Kilometer.
23. Auguſt. Der Fluß, vor dem wir geſtern erlahmten, ließ Ø
fig überraſchend gut überſchreiten. Nur der Nebel ſcheint nicht 3
weichen zu wollen. Aber wir hoffen, unſere Richtung iſt die rechte. å
Eine Menge kleiner Flüſſe werden abwechſelnd unter Regen oder
Tauſchnee überſchritten. 4
Um 5 Uhr nachmittags, mitten in dem Nebel und der Hoff- 3
nungsloſigkeit, erſcheint das erſte Lebenszeichen vom Lande. Eine
kleine Fliege ſchwirrt mitten im Eis ſummend an uns vorbei! Sie
wirkt auf uns wie das Olblatt in der Arche Noah, und dieſes
belebende Ereignis iſt ein guter Schrittmacher. =
Wir folgen einem Abhang, der nach einer dunkeln Nebelbank °
führt, die den Eindruck von Land macht. Raſch kamen wir vor⸗ 4
wärts, bis wir zu einem großen, ſehr ſchönen Gletſcherſee gelangen,
in den ſich ein Fluß ergießt, der einen tiefen Cafion in den Gletſcher
gegraben hat. Der See hat wunderbare Farben, grün am
Ufer und dunkelblau in der Mitte; am Ufer liegen große, manns⸗
hohe Eisblöcke. Der Übergang über dieſen Fluß erforderte unſere
letzte Kraft. Gleichzeitig wurde der Nebel ſo dicht, daß wir es
nicht wagten, den Marſch weiter fortzuſetzen. Der Schnee fällt
dicht, und wir müſſen im Zelt Schutz ſuchen. Unſere naſſe Klei⸗
dung wirkt wie ein kalter Umſchlag um unſere Leiber, aber wir
ſind glücklicherweiſe ſo müde, daß wir raſch in Schlaf fallen.
Der Gletſcher iſt während der ganzen Tagereiſe ſehr porös geweſen l
und wies ſcharfe Eiskriſtalle auf und tiefe, runde Kryokonitlöcher,
die von kosmiſchem Staub herrühren.
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Die Rückreiſe über das Inlandeis. 297
Der letzte Tag auf dem Inlandeis.
24. Auguſt, 12 Uhr mittags. In der Nacht lag ich eine
Zeitlang wach, um das Wetter zu beobachten. Sobald es ſich
nur ein wenig aufklärt, müſſen wir weiter, um uns auf das Land
hinab zu retten. :
Wulffs zunehmende Erſchöpfung macht uns viel Kummer;
wenn wir nach einer Raſt drei Stunden gegangen ſind, legt er ſich
hin und erklärt, daß er nicht mehr kann. Wir machen halt und
kochen ihm eine Taſſe ſtarken Tee; dadurch belebt, marſchiert er
wieder mit gutem Humor weiter. Aber er iſt mager wie ein
Skelett, und ſeine Augen bekommen einen immer matteren Aus⸗
druck. Solange wir die kleinen Portionen von Pemmikan hatten,
hielt er ſich verblüffend gut aufrecht und war faſt immer unter
den Vorderſten. Das Hundefleiſch dagegen kann er ſcheinbar durch⸗
aus nicht vertragen und trotz unſeres Proteſtes gibt er den größten
Teil feiner Rationen weg. Wir andern können wohl noch einige
Tage aushalten. Wenn wir nur ſichtiges Wetter bekommen! Wir
ſind ja tatſächlich ganz dicht bei dem Lande.
Nach kurzem, erfriſchendem Schlaf fahre ich auf, um nach dem
Wetter zu ſehen — ich brauche nur das Auge unſerm durch⸗
löcherten Zelt zu nähern —; aber jedesmal ſehe ich nur denſelben
dichten Nebel und Tauſchnee; ringsumher ertönt nur das un⸗
heimliche Brauſen der Flüſſe.
Schließlich bekommt die Müdigkeit die Oberhand über meine
Wachſamkeit, und ich falle in einen guten, feſten Schlaf, deſſen
Träume mich, wie immer in dieſer Zeit, aus dem Ernſt des
Augenblicks herausführen und mir die Wünſche vorzaubern, die
mich allein vor der drohenden Erſchöpfung aufrecht halten
können. Als ich erwache, iſt ſchönes Wetter; der Nebel hat ſich
gelegt, der Himmel ſcheint ſich aufzuklären. Sogleich wecke ich
die Kameraden und koche eine Taſſe Tee; dann brechen wir um
91% Uhr vormittags auf. So gut wir können, eilen wir vorwärts
mit unſerm Schlitten und unſerm Gepäck, und ſchon nach einer
guten Stunde haben wir Ausſicht über das Land, auf das wir
zuſteuern. Wir halten den Kurs gerade darauf los; viele Einzel⸗
heiten ſind jetzt ſichtbar, und es kann nicht mehr weit bis dahin
ſein, vielleicht noch eine gute Meile. Das iſt ja keine Entfernung.
298 Elftes Kapitel.
Wenn uns nur die großen Flüſſe keine ernſthaften Hinderniſſe
in den Weg legen! Will es das Unglück, ſo können noch mehrere
Tage vergehen; wenn wir Glück haben und keine Schwierigkeiten
beim Abſtieg finden, wird es nur ein paar Stunden dauern.
Die Spannung iſt aufs höchſte geſtiegen. Jede Erhöhung auf
dem Gletſcher, die wir überſchreiten, gibt uns eine immer ſicherere
Überſicht über das Land. Aber dann wälzt ſich der Nebel wieder
vom weſtlichen Horizont heran, und nach einigen Minuten iſt
das Land, auf das wir zueilen, vollſtändig verdeckt und in grauen
Nebelbänken verſchwunden.
Wieder müſſen wir haltmachen und untätig auf dem Schlitten
ſitzen, hungrig wie Wölfe. Was nützt es, daß wir im ſtrahlenden
Sonnenſchein daſitzen, wenn uns die Ausſicht nach vorn geraubt
iſt! Ich überdenke die Lage und beſchließe, den letzten Hund zu
ſchlachten. Denn wenn wir vollſtändig von Kräften kommen,
werden wir zur Jagd unfähig ſein, wenn wir das Land er⸗
reichen; lieber alles auf eine Karte ſetzen und das arme Tier
verzehren. Nun haben wir noch eine Tube Glyzerin übrig.
3 Uhr nachmittags.
Der arme Hund iſt verzehrt! Trotzdem das wenige Fleiſch an
ihm ſchleimig und zähe war, ſchmeckte es uns wie Maſtkalb.
Da der Nebel immer noch wie eine Mauer vor uns liegt und
das Land verdeckt, ſende ich Ajako auf eine Erkundung aus. Es
beſteht nicht viel Hoffnung, daß er bei dieſem Wetter viel Erfolg
haben wird, aber da er immer wieder gezeigt hat, daß er nie den
Mut verliert und bisweilen das Unglaubliche, für andere Unmög⸗
liche leiſtet, ſetze ich doch mein ganzes Vertrauen auf ihn. Er⸗
friſcht von dem Hundefleiſch, geht er raſch bergab, und ſeine junge,
ſehnige Geſtalt verſchwindet bald im Nebel. Unſer Leben hängt
von dem Erfolg ab, den er haben wird, darum iſt die Wartezeit
faſt unerträglich. Findet er den Weg hinab und ſind die Abſtiegs⸗
verhältniſſe günſtig, ſo ſind wir gerettet. Trifft er dagegen einen
ſteilen Abſturz, der uns wieder auf das Inlandeis mit ſeinen
vielen großen Flußläufen hinauftreibt, ſo wird die Lage ſehr
kritiſch; denn alles Eßbare, das wir beſitzen, beſteht aus einigen
Lederriemen und der Tube Glyzerin.
7 Uhr nachmittags.
Auf Land! Der Nahrung, dem Leben zurückgegeben! Der
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Die Rückreiſe über das Inlandeis. 299
fürchterlichen Umarmung des Inlandeiſes entſchlüpft! Die Expe⸗
dition und alle ihre Reſultate in Sicherheit! Nur wer die Span⸗
nung der letzten Tage mit durchlebt hat, kann die Gefühle ver⸗
ſtehen, die uns durchſtrömen! Ajakos Erkundung nahm folgenden
Verlauf:
Harald Moltke nach Skizze vor
1 Koch.
Die Abſtiegſtelle.
Nach mehrſtündiger Abweſenheit tauchte ſeine Geſtalt aus dem
Nebel auf. Schon aus weiter Entfernung konnten wir aus ſeinem
Gang und ſeinen Armbewegungen erſehen, daß er gute Nach⸗
richten brachte. Er war außer ſich vor Freude! Nicht nur daß
er einen Abſtieg zum Land gefunden hatte, er war auch ſelbſt auf
dem Lande geweſen, hatte einen Haſen geſehen und Spuren von
Renntieren gefunden. Wir empfingen ihn mit lauten Jubelrufen;
300 Elftes Kapitel.
einen Augenblick ſpäter waren wir auf dem Weg abwärts durch
den Nebel.
Der Abſtieg war ſteil, und wir mußten die Schlitten mit
Riemen, die unter den Kufen feſtgeſpannt waren, bremſen. Aber
nach einer kühnen Abfahrt landeten wir an einer ſteilen Klippe,
zu der eine kleine, ſchmale Gletſcherzunge wie eine Brücke hinüber⸗
führte. Meilenweit ſahen wir auf beiden Seiten den Steilrand
des Inlandeiſes; halb blind vom Eis hatten wir die einzige Stelle
gefunden, wo eine Landung möglich war. Mit einem unbeſchreib⸗
lichen Gefühl des Glückes und der Befreiung ſchwangen wir uns
alle auf das Land; bald danach war das Gepäck in Sicherheit.
Nur der Schlitten ſteht jetzt auf dem Inlandeis, das Vorder⸗
ende gegen die Felswand gerichtet; wie er dort einſam und ver⸗
laſſen daſteht, wirkt er in der Landſchaft wie ein geſtrandetes Schiff.
Wir haben noch einen Teelöffel voll Tee; raſch wird ein
Keſſel voll Waſſer gekocht. In unſerm kleinen Lager herrſcht eine
lebhafte Stimmung, denn in einer halben Stunde ſollen alle
Jäger auf die Jagd.
Die Lage wird erörtert.
Zunächſt halten wir eine Beratung, wie wir es in ernſten
Situationen gleich der gegenwärtigen immer zu tun pflegen. Wohl
ſind wir alle einig, daß die Ankunft auf Land unſere Rettung
bedeutet. Denn in demſelben Land, auf das wir jetzt unſern Fuß
ſetzen, pflegen die Bewohner von Etah jeden Herbſt Renntiere und
Haſen zu jagen. Aber andererſeits ſind wir uns auch darüber klar,
daß die 250 Kilometer, die wir noch bis Etah haben, eine recht
bedeutende Entfernung darſtellen für Menſchen, die ſo erſchöpft
ſind wie wir.
Dr. Wulff erklärt ſofort, daß er nicht gleich weitermarſchieren
könne. Koch meint ebenfalls, daß er ohne ein paar Tage Ruhe
die lange Wanderung nicht durchführen könne. Aber verſchiedene
Umſtände machen es auf der andern Seite notwendig, daß wir
möglichſt raſch zu Menſchen kommen. Erſtens haben wir nicht
mehr Munition genug für einen längeren Aufenthalt hier, und
zweitens ſind unſere Kleider von dem vielen Waſſer ſo verdorben,
daß unſer Leben gefährdet iſt, wenn wir nicht in Verbindung mit
Menſchen kommen, ehe die erſte Herbſtkälte eintritt.
Die Rückreiſe über das Inlandeis. 301
Wir kommen daher überein, daß Ajako und ich nach Etah
aufbrechen ſollen, um Entſatz zu holen; wir meinen beide, daß wir
imſtande ſind, uns dieſe lange Wanderung ohne vorhergehende Raſt
zuzumuten. — Harrigan und der Bootsmann bleiben zurück, um
für Wulff und Koch zu jagen, die nicht mehr die Kräfte haben,
ſelber nach Wild umherzuſtreifen. ö
Ajako und ich berechnen, daß wir in dem ſteinigen, zerklüfteten
Land, das von einer Menge großer Flüſſe durchſchnitten wird,
die Reiſe kaum unter acht Tagen machen können, da wir die Mög⸗
lichkeit ſchlechten Wetters in Betracht ziehen müſſen. Dann müſſen
die Hilfsſchlitten ausgerüſtet werden, was jedenfalls einen vollen
Tag in Anſpruch nimmt. Die Schlittenausrüſtungen ſind in dieſer
Jahreszeit noch nicht gebrauchsfertig, und die Vorbereitungen
werden daher einige Zeit dauern, ſo daß die Hilfsſchlitten kaum
vor Ablauf von 12 bis 14 Tagen ankommen können.
Keiner von uns hielt es für ratſam, hier an dieſer Stelle
ſo lange zu bleiben. Die Umgebung würde raſch von Wild
entblößt ſein; daher wird es das beſte ſein, das Lager in kleinen
Tagemärſchen näher nach Etah hin zu verlegen. Auch aus andern
Gründen iſt dieſes Vorgehen wünſchenswert.
Ajako und ich müſſen damit rechnen, daß wir beim Zuſammen⸗
treffen mit Menſchen ſo vollkommen erſchöpft ſind, daß keiner
von uns die Kraft haben wird, mit den Hilfsſchlitten zuſammen
umzukehren; dieſe werden das Lager der Kameraden in dieſer
Moränenlandſchaft, die voller Seen und Hügel iſt und wo ein
Ort dem andern völlig gleicht, nur ſehr ſchwierig finden können.
Es muß daher ein Ort verabredet werden, wo diejenigen, die der
Entſatz erreichen ſoll, ohne Zeitverluſt gefunden werden können.
Hier in der nächſten Umgebung iſt es unmöglich, eine ſolche Stelle
auszumachen; dagegen befindet ſich hinter Kap Ruſſell in der
unmittelbaren Nähe des Inlandeiſes ein großer See, den Harrigan
von früheren Renntierjagden her kennt und der auch allen Be⸗
wohnern von Etah bekannt iſt. Dorthin ſollen ſich die Kameraden
in kleinen Tagemärſchen begeben. Erreichen ſie den Ort nicht zu der
Zeit, in der die Hilfsſchlitten zu erwarten ſind, ſo können die beiden
Grönländer leicht vorausgeſandt werden, und die Verbindung
mit der Entſatzmannſchaft wird ſich dann leicht herſtellen laſſen.
Im übrigen rate ich den Kameraden davon ab, eine zu lange
302 Eiftes Kapitel.
Raſt zu halten; denn wenn man es in unſerm ermatteten Zuſtand
plötzlich unterläßt, den Körper in Bewegung zu halten, wird ſich
die Müdigkeit mit all ihren Schmerzen doppelt ſo ſtark melden,
ſobald man die Reiſe wieder fortſetzen muß. Die Munition wird
folgendermaßen verteilt: Dr. Wulffs Abteilung erhält 80 Schrot⸗
patronen und 40 Gewehrpatronen, was man für die Wartezeit
als reichlich bezeichnen kann, ich ſelbſt nehme eine Wincheſterflinte
mit 30 Patronen mit. Sobald alle Einzelheiten verabredet ſind,
gehen alle drei Eskimos unverzüglich auf die Jagd, während wir
das Gepäck in Ordnung bringen.
Früh am Morgen des 25. Auguſt gehe ich in die PEN umnad
den Jägern auszuſpähen. Eine Strecke weit im Lande treffe ich Ajako
mit der erſten Jagdbeute von fünf Haſen. Die kommenden Tage
erſcheinen uns wieder in einem helleren Licht. Wenn nur Ajakos
und meine Kräfte ausreichen, um möglichſt raſch in Verbindung
mit Menſchen zu kommen und Hilfe für die Kameraden herbei⸗
zuſchaffen!
Seit unſerer Ankunft hat dichter Nebel über dem Land ge⸗
legen, aber gegen 6 Uhr nachmittags klart der Himmel etwas auf.
Um ſogleich die Möglichkeit auszunützen, einen Überblick über das
Land zu gewinnen, das weder Ajako noch ich kennen, brechen wir
auf und beginnen die Wanderung. Wir nehmen nur das Aller⸗
notwendigſte mit, unſere Kamiker, meine Tagebücher, ſonſt nichts.
Der Abſchied von den Kameraden vollzieht ſich in beſter
Stimmung nach einem Feſtmahl von friſch erlegten Haſen. Das
Lager auf der ſteilen Klippe erſcheint uns wie ein Märchen; wie
ein gefrorenes Meer wälzt ſich der Gletſcher heran, und wir ſelber
ſpringen auf den Steinen umher gleich Schiffbrüchigen, die eben ans
Land verſchlagen ſind. Dr. Wulff hat ſich ein behagliches, kleines
Lager in einer moosbedeckten Mulde bereitet und winkt uns
lächelnd ein „Lebewohl“ zu, wobei er ruft: „Vergiß nur nicht
Pfannkuchen mit den Hilfsſchlitten zu ſenden!“ a
Harrigan und der Bootsmann ſind noch nicht von ihrer Jagd
zurückgekommen; ihre lange Abweſenheit ift nicht nur ein treff⸗
liches Zeugnis ihrer zähen Ausdauer, ſondern gibt uns auch neue
Hoffnung, daß es ihnen geglückt iſt, ein Renntier zu erlegen.
Renntiertalg iſt das, was wir am nötigſten brauchen.
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Zwölftes Kapitel.
Auf dem Wege nach Entſatz.
Erſter Tag.
25.—26. Auguſt. Aufgelegt und in beſter Stimmung be⸗
ginnen Ajako und ich unſere Wanderung. Es iſt ein wohltuendes
Gefühl, das befreiend und belebend wirkt, durch dieſes große
Land zu wandern, das von Leben überquillt; jo erſcheint es uns
jedenfalls nach der Wüſtenwanderung vieler Monate. Überall
ſprießt ein Blumenreichtum aus der Erde hervor, den man nicht
müde wird zu genießen. Namentlich jetzt, da der Herbſt allem
ſeine friſchen, ſtarken Farben erteilte. Am meiſten imponiert
mir die Kraft, mit der ſich hier die Polarweide entwickelt hat.
Die großen, ſcharfgeſchnittenen Blätter liegen überall zu unſern
Füßen, bald wie wilder Wein in rötlichen Farben flammend,
bald ockergelb leuchtend zwiſchen dunkelrotem Steinbrech und
grünem Heidekraut. Auch das Heidelbeerkraut, das leider keine
Beeren trägt, hat leuchtend rote Blätter.
Das Leben hat für dieſen Sommer ſeinen Höhepunkt erreicht,
und der Herbſt alles in Feſtkleidung gehüllt. Die Kühle hat ſich
vor der Kälte gemeldet, die Farben vor dem Schnee, ein letztes
Aufflackern vor dem Winterſchlaf.
Überall gehen wir auf dickem, weichem Moos an den kleinen
bergumkränzten Seen entlang, die uns wie ſchwarze, tiefe Augen
entgegenblicken. Faſt mit jedem Kilometer kommen wir zu neuen
Seen, die uns leider oft zu langen, beſchwerlichen Umwegen
zwingen. Wie ſehr wir auch eilen mögen, der Weg geht in großen
Biegungen und Windungen ununterbrochen auf und ab, durch
ſchöne, wilde, aber äußerſt ermüdende Schluchten.
Im Nordweiten haben wir all die kleinen Inſeln der Peabodybai
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De ER renen]
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304 i Zwölftes Kapitel.
in der dem Humboldtgletſcher zugewandten Ecke. Hiet hängt
der Nebel noch dicht. Die vielen, vom Gletſcher und vom Land
herabſtrömenden Flüſſe haben das Eis an der Küſte fortgefpült,
und zum erſtenmal blicken wir über ein Stück wirklich offenes Waſſer
hin. Es iſt vollkommen windſtill, und nur die Drift der Eisſchollen |
im Strom ſchafft ein wenig Bewegung in der mächtigen Land- |
ſchaft, die der aufſteigende Nebel allmählich unſern Blicken ver-
hüllt. Die vielen kleinen Gewäſſer und Seen und die Landſchaft
tief unten an der Schlucht gewähren ein idylliſches Bild, und Ajako
und ich ſind uns einig darin, daß es ſchön ſein müßte, hier einmal
zu überwintern. Im Grunde der Advancebai finden ſich auch
Reſte alter Überwinterungshäuſer.
Das Meer wimmelt von Seehunden; der Bär beginnt feine
Wanderung, ſobald das Eis feſt iſt, und überall in den Seen
muß es Lachſe geben. Die Renntiere traben umher, und Haſen
ſcheint es auch eine Menge zu geben; ſie ſpringen vor uns auf und
flüchten vor Verwirrung haſtig hinter den nächſten Berg, ohne |
zu willen, daß wir ihnen vorläufig nichts tun. Da hier genug ö
Wild zu ſein ſcheint, haben wir beſchloſſen, erſt am Abend zu jagen,
wenn der Tagemarſch zu Ende iſt. Wir ſind ſo entkräftet, daß
ſelbſt die geringſte Laſt uns beſchwert. :
Von einem Berggipfel haben wir Ausſicht über den
Humboldtgletſcher. Er erſtreckt ſich ganz ohne Spalten nach
Norden. Nur die vielen Flüſſe, die wir paſſieren mußten, graben
tiefe Furchen in ſeine Oberfläche. Man hört das gewaltige Getöſe
der vielen Waſſerläufe, ſobald man darauf horcht; gut, daß wir
jetzt auf Land ſind. Der Gletſcher zeigt ſo gut wie keine Be⸗
wegung, und nur kleine niedrige Sikuſſagſtücke ſchwimmen in der
Bucht, deren Eis teilweiſe nicht aufgebrochen iſt.
Gegen Mitternacht paſſieren wir einen großen, länglichen See
mit einem ungewöhnlich mächtigen Zufluß. Lange folgen wir
dem Fluſſe, um einen Übergang zu finden; da er aber überall ſehr
reißend iſt und ſtark ſchäumt, müſſen wir uns entſchließen, ihn
zu durchwaten. Ich gleite auf einem glatten Stein aus, falle und
werde triefend naß. Es iſt nicht gerade behaglich für jemand, der
in dem naſſen Zeug im Freien liegen muß, ohne etwas über ſich zu
haben! Aber was tut's! Der Körper, ein geſunder Körper, iſt ein
geduldiges Werkzeug.
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Auf dem Wege nach Entſatz. 305
Gegen Morgen erreichten wir die Hochfläche hinter Kap
Scott. Etwas vorher müſſen wir einen Fluß durchwaten. Sobald
wir ihn überſchritten haben, ändert die Landſchaft ihren Charakter.
Sie wird öder, ſteiniger. Auf einmal ſind alle Haſen wie in die
Erde geſunken. Um 7 Uhr morgens machen wir nach einer drei⸗
ſtündigen Wanderung halt und kochen einen Haſen, den wir unter⸗
wegs geſchoſſen haben. Dann rekognoſzieren wir, um, bevor der
Nebel kommt, klar über die Richtung zu ſein, die wir einſchlagen
müſſen. Wir befinden uns jetzt auf einer gleichförmigen Hochebene
ohne die vielen Schluchten und Seen, die wir tagsüber geſehen
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— Lange Hoch.
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Der Weg zum Entſatz.
hatten. Das verſpricht für den Morgen ein weſentlich raſcheres
Weiterkommen.
Mittags um 11 Uhr legen wir uns jeder unter einen Stein, um
einen kleinen Schlaf zu tun, ehe wir wieder ans Werk gehen.
Zweiter Tag.
26.—27. Auguſt. Schon um 3 Uhr wachen wir auf, und
da der Himmel wieder drohend ausſieht, halten wir es für das
beſte, möglichſt raſch nach beſſeren Jagdgebieten zu eilen.
Am Anfang der Tagereiſe hat die Hochebene einen freund⸗
lichen Charakter, mit Grasflächen und kleinen Seen. An vielen
Stellen ſehen wir friſche Renntierſpuren, und wir hoffen beſtändig,
daß das Glück uns lächelt und wir ein Tier erlegen. Dann würden
Rasmuſſen. 20 \
306 Zwölftes Kapitel.
wir uns eine kleine Raſt gönnen können und Zeit gewinnen,
unſere naſſen Kleider zu trocknen. Aber als der Abend ſich nähert,
kommt der heimtückiſche Nebel wieder von Nordweſten heran,
und gleichzeitig wird die Landſchaft öder. Schließlich hören die
Grasflächen ganz auf, und wir ſchreiten nur über nackte, ſcharfe
Steine. |
In der Nacht gelangen wir an einen großen See, der an das
Inlandeis grenzt. Das alte Wintereis liegt noch darauf, und nur
an dem einen Ufer hat ein Fluß, der aus dem See herausfließt
und mächtig weißſchäumend über gewaltige Steine hinfließt,
eine Rinne geöffnet. Das ſah nicht einladend aus — der Anblick
wirkte wie ein Griff an die Kehle. Sollte ich jetzt abermals fallen?
Das Wetter war feucht und neblig, und ich war von Hunger
ermattet.
Aber was am ſchlimmſten ausſieht, geht gewöhnlich am leich⸗
teſten. Ohne unnützes Zaudern faßten Ajako und ich uns an den
Händen, und ſo einander ſtützend ſtiegen wir ins Waſſer. Wir
wurden tüchtig naß. Aber keiner von uns glitt aus und fiel.
Dieſer Erfolg belebte und kräftigte uns wie eine Mahlzeit.
Auf der andern Seite des Gletſcherſees kamen wir in eine
vollkommene Steinwüſte, die aus lauter kleinen, lockeren Moränen⸗
ſteinen beſtand. Viele größere und kleinere Seen erfüllten die
Landſchaft, die ſo gut wie ohne Pflanzenwuchs war, und oft ſahen
wir uns gezwungen, große Umwege einzuſchlagen. Noch ein Fluß
war zu durchwaten; wir find jetzt gut in der Übung, und naſſe
Füße haben wir die letzten zwei, drei Monate lang gehabt.
Dritter Tag.
27.—28. Auguſt. Heute verſuchten wir zu ſchlafen, ſo gut
es ging. Wie gewöhnlich jeder unter ſeinem Stein. Aber
es war faſt zu kalt in der naſſen Kleidung, die noch dazu vom
Rauhreif bedeckt wurde, ſo daß wir am ganzen Körper weiß waren.
So oft ich einnickte, träumte ich von zu Hauſe. Solche Träume,
die während des Schlafes ſchön und angenehm ſind, lähmen beim
Erwachen in ganz eigentümlicher Weiſe. Sobald man aufſteht,
kommt einem die Umgebung immer doppelt rauh und hoffnungs⸗
los vor. Auf der andern Seite erwecken ſie auch ein ſo lebendiges
Gefühl davon, was man denen ſchuldet, die auf unſere Rückkehr
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Auf dem Wege nach Entſatz. 307
warten, daß man unwillkürlich die Zähne zuſammenbeißt und
dem Unglück Trotz bietet, das unſere Kräfte aufreibt.
Gegen 7 Uhr hob ſich der Nebel ein wenig. Sogleich ſind
wir wieder auf den Beinen und eilen aufwärts nach Stellen, wo,
wir etwas Nahrung finden können. Ein zäher Wille, auszuhalten,
macht uns beide ſtark. Obgleich wir bald zwei Tage nichts zu
eſſen gehabt haben, fühlen wir doch keine Müdigkeit.
So oft wir eine tiefe Schlucht paſſieren, ſpähen wir vergebens
nach einem kleinen weißen Fleck, einem Haſen. Auf Renntiere
wagen wir nicht mehr zu hoffen.
Als wir wieder einmal eine ungewöhnlich hoffnungsloſe
Steinwüſte vor uns ſehen, machen wir miteinander aus, daß wir
noch zwei Tage ohne Nahrung fortſetzen können; dazu, das fühlen
wir beide, ſind wir imſtande, aber dann müſſen wir in beſſeren
Jagdgründen ſein. Bei dieſer Erörterung ſage ich zu Ajako:
„Selbſt wenn wir uns unter die Arme faſſen müſſen, um uns
gegenſeitig zu ſtützen, wenn wir anfangen vor Erſchöpfung zu
taumeln, wollen wir doch fortfahren zu gehen. Wir wollen nicht
ablaſſen, ſolange wir noch kriechen können.“
Ajako nickt und antwortet:
„Wir wollen ausmachen, daß keiner von uns mehr vom Eſſen
ſpricht.“
Dann ſtehen wir auf und wandern weiter.
Wir kamen an einem großen See in Weſtſüdweſten vorbei,
der mitten auf dem Berg gelegen iſt. Mit ſeinem Abfluß haben,
wir glücklicherweiſe nichts zu tun; wir nehmen den Weg durch eine
Talſchlucht, wo wir wie an andern fruchtbarern Stellen eine Menge
Renntierknochen und Geweihe finden.
Ungefähr mittags erblicken wir vor uns einen kleinen, weißen
Punkt und bleiben beide wie angewurzelt ſtehen: Ein Haſe! Fleiſch
in den Topf, Fleiſch in den Magen, Mark in die Knochen!
Eine halbe Stunde ſpäter ſitzen wir an einem großen flam⸗
menden Feuer und kochen den Haſen. Alle Mühe iſt vergeſſen, alle
Müdigkeit iſt aus den Gliedern gewichen. Sobald wir gegeſſen
haben, gehen wir weiter, aber erſt wollen wir unſer Mahl halten.
Das Glück iſt uns günſtig geweſen, der Haſe iſt fett wie ein junges
Renntier, mit dickem, weißem Fett um Nieren und Becken! Und
das Blut haben wir in die Suppe geſchüttet; oh! das ſoll
20 *
308 Zwölftes Kapitel.
aber ſchmecken! Aber nun, da wir das Fleiſch geſehen haben,
iſt es, als ob der Hunger erwache und wütend in unſern Därmen
reiße; daher eſſen wir die Eingeweide gleich roh, während wir
darauf warten, daß es im Keſſel ins Kochen kommt.
* *
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Eine halbe Stunde von unſerer Kochſtelle kommen wir an
einen See, der vermutlich der bekannte Eisbergſee hinter Kap
Ruſſell iſt, wo die Hilfsſchlitten mit den Kameraden zuſammen⸗
treffen ſollen. Der See geht dicht bis an den Gletſcher heran,
und ein paar ſehr große Eisberge ſchwimmen darin herum. Die
erſten 100 Kilometer haben wir jetzt zurückgelegt! Das wirkt
mächtig auf das Tempo, das wir anſchlagen, und unwillkürlich
beſchleunigen wir unſere Schritte.
Um den See zu überſchreiten, müſſen wir über drei ziemlich
große Ausflüſſe. Der erſte iſt tief, und das Waſſer geht uns bis
über die Knie. Wieder werden wir naß. Aber was ſchadet's,
wenn wir nur vorwärtskommen; geradeaus vorwärts und ja
nicht aufgeben! N
Auf der Südſeite des Fluſſes kommen wir auf ganz neues
Gelände, das den Jägerinſtinkt in uns beiden weckt. Hier geht
es ermüdend und langſam beſtändig auf und ab durch Schluchten
und Täler, über grobe Steinhaufen. Aber das Land iſt fruchtbar.
Wir erblicken Wieſen in den Flußtälern und fruchtbare Abhänge,
die bekleidet ſind mit Polarweide und Heidekraut, Moos und
Gras und was ſonſt ein Renntier locken kann. Aber vergebens
ſpähen wir uns die Augen aus dem Kopfe; nirgends iſt ein
lebendes Weſen zu ſehen.
Bis 10 Uhr abends ſind wir unterwegs; dann kommen wir
an einen Fluß, der im Gegenſatz zu all denen, die wir bisher über⸗
ſchritten haben, auf das Inlandeis zu läuft. An dem einen Ufer
ſpielen fünf junge Haſen, von denen wir drei ſchießen. Wieder
wird ein großes Feuer angemacht, das in der Dämmerung
leuchtet; wir wollen von allen drei Haſen Blutſuppe kochen, die
uns Wärme für die Nacht geben ſoll. Gerade jetzt nach Mitter⸗
nacht kommt wie gewöhnlich der Nebel herangeſchlichen. Es iſt
1 Uhr nachts, als wir uns ſchlafen legen, nachdem wir 15 Stunden
ununterbrochen marſchiert ſind. Man fühlt es im Körper, daß
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Auf dem Wege nach Entſatz. 309
wir heute die Nahrung bekommen haben, die wir brauchen; denn
obgleich bei zunehmender Dämmerung der Nebel wie gewöhnlich
dichter und dichter wird und der Schnee wieder anfängt zu fallen,
merken wir doch nichts von der Kälte, und dabei liegen wir auf
der nackten Erde.
Vierter Tag.
Wieder ein grauer, trüber Tag. Aber der Humor iſt glänzend
wie nur je, als wir um 9 Uhr vormittags aufbrechen, zum erſten⸗
mal, ſeit wir die Kameraden in der Advancebai verlaſſen haben,
nach einem langen, feſten Schlaf.
Aber jetzt beginnt es ſchlimm mit unſerer Fußbekleidung aus⸗
zuſehen, die wir ſeit dem St.⸗George⸗Fjord nicht haben trocknen
können. Die Nähte platzen infolge der beſtändigen Durchnäſſung,
die Kamiker wollen nicht mehr feſt an den Füßen ſitzen.
Ferner gehen unſere Sehnenfäden zum Nähen zu Ende, und wir
haben nur noch eine einzige Nähnadel. Wir wünſchen uns daher
von Herzen für einen Tag Sonnenſchein und ein Renntier, nicht nur
wegen des Talges und Fleiſches, ſondern auch wegen der Sehnen⸗
fäden.
Nach Etah müſſen es noch gut 100 Kilometer ſein, wir werden
ſie ſicher in drei Tagen ſchaffen.
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Es fällt uns heute ſchwer, in den richtigen Tritt zu kommen.
Wir ſind es nicht gewöhnt, ſatt und ſchwer zu ſein, und außerdem
ſind wir in eine falſche Tageseinteilung geraten, denn jetzt mar⸗
ſchieren wir, wenn es warm iſt, und ſchlafen in der Nachtkälte.
Wir wandern daher in aller Gemächlichkeit, da wir verſuchen
wollen, 24 Stunden hintereinander zu gehen und uns nicht vor
morgen vormittag zur Ruhe zu legen.
Die Bahn wird immer beſſer und ebener. Wir paſſieren eine
ſteinige Schlucht, wo wir von einem Block zum andern ſpringen
müſſen, ſo daß uns unſere Fußſohlen brennen. Nachdem wir ſie
durchſchritten haben, gelangen wir auf eine Ebene, die ſich weit
und frei vor uns ausdehnt; ſie iſt von kleinen Flußläufen durch⸗
ſchnitten und mit einzelnen, fruchtbaren Grasflächen bedeckt, die
ſich ſonnengelb von den dunkeln, rötlichen Steinhaufen abheben.
310 Bwötftes Kapitel.
Hier überfällt uns wieder der Nebel. Es iſt 4 Uhr nachmittags,
und da wir einen Ausblick nach vorwärts haben, lagern wir uns
an einer Felswand und hoffen, daß der Nebel ſich bald legt.
Wir treffen den Eidervogel.
Während ich im Halbſchlaf daſitze, höre ich plötzlich, wie Ajako
aufſpringt, und ich traue meinen eigenen Ohren nicht, als ich ihn
rufen höre:
„Inugſſuag! Takuk, inugſſuag!“
Es gab mir einen Ruck: Ein Menſch!l Wo? Wer? Woher?
Und in demſelben Augenblick bin ich auf den Beinen.
Eine kurze Strecke vor uns ſehe ich einen Mann ganz deutlich
aus dem Nebel auftauchen, einen Renntierjäger mit einem kleinen
Bündel auf dem Rücken, einem Fell und vielleicht gar mit
etwas Fleiſch!
Man kann ſich vorſtellen, welchen Eindruck es auf uns zwei
Wanderer machte, die ſich wie Schiffbrüchige über das ſteinige
Moränenland hinſchleppten, ſo plötzlich der Rettung und der erſten
Begegnung mit Menſchen nach ſechsmonatiger Abweſenheit gegen⸗
überzuſtehen!
Wir ſtießen beide einen Freudenruf aus. Der Mann blieb
ſtehen, lauſchte und erblickte uns, als wir den Ruf wiederholten.
Ein paar Minuten danach trafen wir zuſammen und ſahen,
daß es Miteg, „der Eidervogel“, war, der von Kukat, einem der
Wohnplätze des Inglefieldgolfes, zur Renntierjagd hierherge⸗
kommen war. Mit ihm waren bis vor ein paar Stunden Qulu-
tana, Ajakos Schwager, und Ileritog, feine Schweſter, ſowie Aſſar⸗
panguag, Majaqs Sohn, beiſammen geweſen; dann hatten fie
ſich entſchloſſen, jeder in ſeiner Richtung zu jagen. Ihre Hunde,
drei Geſpanne, lagen etwa 10 Stunden vor dem Ort unſerer
Begegnung, in der Mitte zwiſchen der Marſhallbai und Renslaer
Harbour. Wahrhaftig, das waren gute Nachrichten!
Natürlich gab der Eidervogel ſeine Jagd auf, um uns zu
helfen. Indeſſen wollten wir verſuchen, mit Ajakos Schwager
und Schweſter in Verbindung zu kommen; wir zündeten daher ein
großes Feuer von Kaſſiope an und feuerten in verſchiedenen
Richtungen Signalſchüſſe ab. Mehrere Stunden verbrachten wir
mit vergeblichem Suchen. Aber der Nebel verhinderte ſie, den 4
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Auf dem Wege nach Entſatz. 311
Rauch zu ſehen, und wegen der vielen Schluchten konnten ſie unſere
Schüſſe nicht hören. Renntierjäger ſtreifen ja meilenweit umher,
und Panguag hatte dem Eidervogel geſagt, er wolle, falls er
Erfolg mit feiner Jagd habe, möglicherweiſe eine Woche lang
fortbleiben. Hätten wir dieſe drei Menſchen erreichen können, ſo
hätte eine Möglichkeit vorgelegen, ſofort zu den Kameraden
zurückzukehren und ihnen Hilfe zu bringen. Dies mußten wir alſo
aufgeben; wir ſetzten daher unſere Wanderung fort, um zum
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Ein Menſch! Schau, dort iſt ein Menſch!
Lagerplatz des Eidervogels zu gelangen, diesmal in beträchtlich
raſcherem Tempo als am Vormittag.
Unterdeſſen hatten wir den Eidervogel ausgefragt über alles,
was es aus dem halben Jahr unferer Abweſenheit zu erzählen
gab; jetzt ſtürmten die neuen Eindrücke nur ſo auf uns herein.
Die größte Neuigkeit war die, daß ein neues Schiff nach der
Crockerland⸗Expedition geſandt worden war, geführt von Pearys
berühmtem Kapitän Bartlett. Er war durch Eis und alle Art
Wetter ſchon im Anfang des Sommers heraufgekommen. Kapitän
Bartlett hatte die „ Danmark“ an einem Punkt in der Nähe von Kap
Parry getroffen, wo ſie umgekehrt war, ohne nach Etah weiter⸗
312 Zwölftes Kapitel,
zugehen. In Thule und in den Wohnplätzen ringsum ſtand alles
gut, und unſere Hilfsſchlitten waren zurückgekommen.
* *
*
Aber der Krieg? Wußte er davon etwas?
Ja, das tat er. Die Matroſen hatten berichtet, daß er
ſchlimmer als je wütete. Die weißen Männer wären dabei,
einander auszurotten. Viele große Wohnplätze ſeien nur noch
Steinhaufen, bevölkert von hungernden Witwen und vaterloſen
Kindern. Ein furchtbarer Blutdurſt habe die Weißen ergriffen.
Niemand ginge mehr auf Jagd und Reiſen, man morde ſich nur
gegenſeitig. Und mehr als je brauchten die weißen Männer ihre
Klugheit und ihr Wiſſen dazu, einander zu vernichten.
Nirgends war Schutz und Sicherheit in ihren Ländern. Man
griff ſich an auf der Oberfläche der Erde, vom Himmel her,
auf dem Meer und aus der Tiefe des großen Waſſers; oft ſchöſſe
man blindlings auf weite Entfernung und tötete Menſchen, die
man nie geſehen, mit denen man keine Feindſchaft habe.
Immer mehr Länder nähmen jetzt teil. Jetzt Jet auch Bearns
Land (Amerika) mit im Krieg. Peary ſelber ſei Herr über die ge⸗
worden, die in der Luft kämpften. Auf Kapitän Bartletts Schiff
ſei ein Arzt geweſen, der habe erzählt, er ſei mit oben in der Luft
geweſen; dort war es ſo kalt, daß er jetzt eifrig dahinter her war,
ſich Fuchspelze zu kaufen, die er bei ſeiner nächſten Luftreiſe ver⸗
wenden wollte. y
Das Land, „das jo viele angegriffen hatten“ (Deutſchland), ſei
noch nicht überwunden, und das, obgleich es kaum noch einen Ort in
den Ländern der weißen Männer gebe, der nicht dagegen kämpfte.
In einem der kriegführenden Länder ſei ein großer Mann er⸗
ſtanden, der alle ſeine Landsleute dazu bewogen habe, ihm zu
gehorchen, obgleich er nur ein gemeiner Soldat war (Kerenffi).
Jetzt ſei er Herr im Lande geworden. Bevor dies geſchah, ſei die
Rede davon geweſen, daß der Krieg aufhören würde. Aber jetzt
wüte der Männermord wilder denn je, und es ſei zweifelhaft, ob
jemals wieder Schiffe ins Land der Menſchen (Grönland)
kommen würden. '
* *
Auf dem Wege nach Entſatz. 313
Die Kunde von all dieſen Neuigkeiten wirkte auf uns, als ſeien
wir in einen Wirbelſturm gekommen! Geſtern noch zwei einſame
Wanderer, die im öden Land einen beſcheidenen Kampf um ihr.
eigenes und ihrer Kameraden Leben kämpften, heute wieder in
Verbindung mit geordneten Geſellſchaftsverhältniſſen, vielleicht im
Augenblick den idealſten der Welt, und damit auch ſofort mitten
in den Schrecken des Krieges. Und doppelt überwältigend wirkte
es, die Neuigkeiten durch dieſen naiven und menſchlichen Bericht
eines Mannes zu erfahren, den der ziviliſierte Kulturmenſch als
einen primitiven Wilden bezeichnet. Unſer eigener Kampf, neues
Land für die Wiſſenſchaft zu gewinnen, unſere Leiden und Stra⸗
pazen, wie ſchwindet das alles zuſammen gegenüber den Seufzern
von Millionen, von denen jetzt die blutende Welt widerhallt!
Wird irgend jemand Zeit haben, innezuhalten und der Arbeit,
die wir geleiſtet haben, ſeine Aufmerkſamkeit zu ſchenken?
Das waren die Gedanken, die mir durch den Kopf gingen,
während wir nach dem Lagerplatz des Eidervogels marſchierten,
bald über die ſcharfen Blöcke der Schutthaufen ſpringend, bald
durch kleine Flüſſe watend oder über weiche Grasflächen eilend,
die den empfindlichen Fußſohlen eine willkommene Ruhe boten.
* *
*
Es war beinahe 2 Uhr morgens, als wir die Moräne er⸗
reichten, auf der die Renntierjäger ihr Lager hatten. Im leb⸗
haften Gefühl der Freude und des Dankes, daß jetzt unſere Not
überſtanden iſt, pflücke ich hier eine ſchöne, blühende Mohnblume
zur Erinnerung an den Tag. Es iſt faſt ſo, als ſei ich zu Hauſe.
Doch ehe wir zur Ruhe gingen, öffneten wir das Fleiſchdepot
des Eidervogels und kochten Seehundfleiſch mit Speck, das mit
einem Appetit verzehrt wurde, wie ihn nur einer kennt, der lange
mit Hunger und leerem Magen gekämpft hat.
* *
*
Die erſte Frage, die ſich aufdrängte, nachdem wir Menſchen
getroffen hatten, war die, ob es irgendwie möglich ſei, ſofort zu
den Kameraden zurückzukehren. Wie ſchon erwähnt, würde es
hoffnungslos geweſen ſein, auf die Geſellſchaft des Eidervogels
zu warten. Denn Qulutana, der ein ſehr eifriger Jäger war, hatte
314 Zwölftes Kapitel.
ausdrücklich erklärt, ſeine Jagd könne ſich lange hinziehen, wenn
er nicht gleich Wild fände. Wir nahmen ſogleich eine Prüfung
des vorhandenen Proviants vor und fanden, daß nur ein kleines
Stück Fleiſch von einem bärtigen Seehund da war, das höchſtens
zu einer Mahlzeit für ſieben Mann reichen würde. Dieſes Stück
Fleiſch gehörte dem Eidervogel; außerdem hatte er ein Stück
Speck, das für die Fütterung feiner Hunde beſtimmt war. Qulu⸗
tana hatte hier am Ort überhaupt kein Fleiſch. Von früheren
Jagden her beſaß er eine Anzahl alter Depots im Lande oben,
mit denen er gerechnet hatte. Aber wo ſie lagen, davon hatte der
Eidervogel nicht die geringſte Ahnung.
In dem Gelände nach Kap Agaſſiz hin konnten uns auch die
Hunde nicht von Nutzen ſein. Das Land war ſchneefrei und
mit Schlitten nicht zu befahren, und auf dem Inlandeis waren
noch die vielen Flüſſe, mit denen man ſich lieber nicht einließ.
Würden wir alſo jetzt unſern Kameraden zu Hilfe eilen, ſo
würden wir ohne Schlitten, ohne Hunde und ohne irgendwie zu⸗
reichende Lebensmittel bei ihnen ankommen. Daß ſich bei einem
raſchen Marſch nicht mit einer ordentlichen Jagd rechnen ließ,
hatten wir eben erfahren.
Nach der Karte und nach dem Weg, den wir mit Rückſicht auf
das Gelände hatten zurücklegen müſſen, mußten es mindeſtens
150 Kilometer bis zu dem alten Zeltlager ſein. Wir hatten bis
hierher bei der höchſten Eile, die uns unſere Kräfte überhaupt ge⸗
ſtatteten, vier volle Tage gebraucht, und es war eine große
Frage, ob es uns möglich ſein würde, die Strecke wieder in der⸗
ſelben Zeit zurückzulegen, und dann war es für uns unaufſchieb⸗
bar notwendig, unſere Stiefel zu trocknen. So konnten alſo leicht
neun, zehn Tage vergehen, ehe wir wieder zu unſerm alten Lager
zurückgelangen konnten. Es war außerordentlich zweifelhaft, ob
Dr. Wulffs Abteilung dann noch ſtillag. Jedenfalls würde das
gegen die Verabredungen ſein, die wir, ehe wir uns trennten, bei
unſerm Expeditionsrat getroffen hatten. Verfehlten wir ſie in
dem unwegſamen Gebirgsgelände bei dem Verſuch, ihnen einen
Entſatz zu bringen, der unter allen Umſtänden nicht wirkungsvoll
genug ſein konnte, weil er ihnen nur einen friſchen Mann mit ganz
ungenügendem Proviant und daneben zwei ganz erſchöpfte Leute
brachte, ſo würden wir nichts anderes erzielen, als die wirklich
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Auf dem Wege nach Entſatz. 315
ausreichende Hilfe, die von Etah kommen konnte, zu verhindern;
das würde unverantwortlich ſein. Ich beſchloß daher ohne Zögern,
die Reiſe nach Etah fortzuſetzen.
; Fünfter Tag.
209. Auguſt bis 1. September.
Mittag, 29. Auguſt. Mit dem geſtrigen Tag ſcheint die Spannung
der Expedition beendet zu ſein. Wenn nur die Kameraden nicht zu
viel Widerwärtigkeiten zu überwinden haben! Ich ſelbſt ſtehe ſchon
: heute vor dem Abſchluß, zum erſtenmal ſeit langer Zeit in ruhigem
Waſſer.
Jetzt gilt es nur noch, ſo lange auszuhalten, daß Etah ohne
Schlaf erreicht werden kann und daß dort die Hilfsſchlitten aus⸗
gerüſtet und abgeſchickt werden können.
Bei unſern Vorbereitungen zum Aufbruch entſchloß ich mich
ohne weiteres, die Hunde der abweſenden Renntierjäger zu ent⸗
führen. Ich weiß, daß ſie mir verzeihen werden, ſobald wir uns
begegnen, und außerdem werden ihnen ja die Hunde umgehend
von Etah zurückgeſchickt. Leider kann keiner von den Jägern leſen,
wir müſſen daher unſere Zuflucht zur Bilderſchrift nehmen. Die
Aufgabe wird auf die Weiſe gelöſt, daß Ajako eine Karte der
Küſte zeichnet, unſern letzten Weg über das Inlandeis nach der
Peabodybai einträgt und in der Bai vier Männer zeichnet; dann
ſieht man drei Mann bei dem Lagerplatz der Renntierjäger und
zwei Schlitten, die nach Etah fahren, und endlich darunter alle
Hilfsſchlitten, die nach dem großen See am Inlandeis eilen.
Dann fangen wir die Hunde ein. Die meiſten ſind frei und
recht biſſig und ſcheinen nicht ſonderlich begeiſtert davon zu ſein,
ſich von Fremden einfach ſtehlen zu laſſen. Aber es gelingt
uns doch, und im Verlauf einer Stunde haben wir fie alle vor⸗
geſpannt.
| Dann treten wir das letzte Stück der Reife an, das hier nur
ganz ſummariſch wiedergegeben werden ſoll, da wir jetzt wie große
Herren mit friſchen Geſpannen reiſen.
Die Tage verlaufen wie folgt:
29. Auguſt. Erwachen 10% Uhr vormittags. Kochen, eſſen
und fangen die Hunde ein. Aufſtieg zum Inlandeis 3 Uhr nach⸗
mittags.
316 Zwölftes Kapitel.
30. Auguſt. Werden um 12 Uhr nachts von einem plötzlichen
Sturm und Schneetreiben überfallen. Warten einige Stunden
im Schutz der Schlitten. Fahren dann weiter, da es aufklart.
30. Auguſt. Um 2 Uhr nachmittags auf dem Etahlande im
Nordſturm. Die Schlitten werden am Gletſcherrand zurückge⸗
laſſen. Nach einer ſehr anſtrengenden Wanderung über die Berge
kommen wir um 9 Uhr abends zum Wohnplatz.
In der Nacht zum 31. Auguſt und dem darauffolgenden Tag
werden die Hilfsſchlitten ausgerüſtet, am 1. September reiſen
ſie ab.
Ankunft in Etah.
Als ein unvergeßliches Ereignis hebt ſich die Ankunft in Etah
von dem Hintergrunde ab, den die Erlebniſſe der letzten fünf
Monate bilden.
Alle Bewohner von Etah waren in das Haus der Crockerland⸗
Expedition eingezogen. Da niemand draußen war, kamen wir bis
dicht heran, ohne entdeckt zu werden. Aber dann erblickte man uns
durch die Fenſter, und nun wälzten ſie ſich heraus, Männer, Frauen
und Kinder, wie Lava bei einem vulkaniſchen Ausbruch, und über⸗
wältigten uns mit lauten Willkommenrufen in einem jubelnden
Durcheinander!
In demſelben Augenblick, da wir die Schwelle zwiſchen Tod
und Leben, zwiſchen der großen, ſchweigenden Ode und dem kleinen,
ſorgloſen Wohnplatz überſchritten hatten, waren wir plötzlich in 5
einem Gedränge von Menſchen. Der Lärm war betäubend. Von
allen Seiten lachte man uns entgegen. Herzliche Worte klangen
uns in die Ohren, Fragen regneten auf uns herab, und es war,
als ob hohe Wogen über unſern Köpfen zuſammenſchlügen und
uns verſchlängen.
* *
*
Das Winterhaus der Croderland-Expedition iſt jo gebaut,
daß man von außen durch einen Vorraum, der die Breite des
ganzen Hauſes hat, in eine geräumige Stube kommt; ſie hat etwa
in der Mitte einen Ofen, und iſt teils als Küche und Eßzimmer,
teils als Wohnſtube eingerichtet mit Sitzplätzen an den Wänden.
Von hier führen Türen rechts und links und im Hintergrund nach
ſechs kleinen Räumen.
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Auf dem Wege nach Entſatz. 317
In den kleinen Stuben wohnten jetzt ſechs Familien, die in
Frieden und Eintracht mit der gemeinſamen Küche im Hauptraum
lebten. Alle dieſe reſpektablen Hausfrauen wetteiferten, uns auf
einer großen, langen Tafel, die mitten in der Wohnſtube ſtand,
etwas zu eſſen vorzuſetzen. Es war eine Tafel, reich beſetzt mit
Überbleibſeln von der reichen Crockerland⸗Expedition. Ein paar
kamen mit Pemmikan, andere mit Keks, Schüſſeln wurden auf⸗
getragen mit Kartoffeln, eingemachten Tomaten, Bohnen und
Schinken, Hafergrütze mit Sirup, gebratenen Haſen, gekochtem
Seehundfleiſch, Möwen in Reisſuppe mit getrockneten Rüben und
Spinat, Tee und Kaffee king
hinterher, mit echtem ame⸗ , 2 | re
rikaniſchen Tabak.
Das Ganze wirkte auf N
uns wie eine Halluzina⸗ Ill |
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Hungerperiode zu narren
pflegten. Als die Wirk⸗
lichkeit allmählich greifbar
wurde durch den kräftigen
Duft, der uns in die
Naſe ſtieg, war es uns,
als erlebten wir eins Harald Moltke
von Aladins Abenteuern. Männer, Frauen, Kinder eilten heraus.
Dieſer Überfluß benahm uns den Atem. Hier war etwas für einen
Appetit, der geſchärft worden war durch eine ein halbes Jahr
durchgeführte Zwangswirtſchaft und durch den anſtrengenden End⸗
ſpurt der letzten 34 Stunden. Die Schwierigkeit war nur die: an
welchem Ende des Tiſches lohnte es ſich am meiſten anzufangen?
* *
*
Ich war mir unterdeſſen klar darüber, daß wir zunächſt mit
dem Eſſen ſehr vorſichtig ſein müßten, da unſer Magen lange Zeit
nur ſpärliche und ganz eintönige Koſt gewöhnt war. Trotz aller
Proteſte ſeitens unſerer Wirte und Wirtinnen, trotz des Wolfs⸗
hungers, der durch den köſtlichen Duft der vielen, langentbehrten
Herrlichkeiten noch verſchärft wurde, hielt ich an mich und machte
318 Zwölftes Kapitel.
einen ehrlichen Verſuch, ſowenig wie möglich zu eſſen. Denn wie
ärgerlich, wenn unſere Ankunftsfreude von einer elenden, pro⸗
ſaiſchen Kolik beeinträchtigt würde!
Es war ein Feſtmahl nach den beſten europäiſchen Muſtern.
Selbſt Orcheſtermuſik fehlte nicht. Ein eben angekommenes, nagel⸗
neues Grammophon war mitten in dem Überfluß aufgeſtellt und
gab ein großes, abwechſlungsreiches Repertoire zum beſten, das
ſich von Wagner bis zu den jüngſt importierten Tangos aus
Argentinien und Paris erſtreckte.
Wir fühlten, daß ſich die Pforte des Lebens wieder weit auf
getan hatte. Und wenn wir auch nur bei den alleräußerſten Vor⸗
poſten der Menſchheit im Norden waren, hatten wir doch ein
Echo aus der ganzen Welt vernommen, der wir ſelber angehörten.
unwillkürlich mußte ich die Augen ſchließen, um mich wieder etwas
zu ſammeln; ich fühlte, wie es in den Schläfen hämmerte und wie
das Herz klopfte. Und als das Orcheſter nach einer kleinen Pauſe
das Menuett aus „Don Juan“ zu ſpielen anfängt, ſchwindet Etah
ganz aus meinem Bewußtſein. Ich bin im Pfarrhaus zu Lynge
und höre nicht länger das Grammophon. Es iſt meine Schweſter,
die auf dem alten Klavier das Menuett ſpielt. Ein Fenſter in den
Garten hinaus ſteht offen. Eine milde Briſe läßt die Weinranken
an die Scheiben ſchlagen. Ein Duft von Sommer und Blumen
ſtrömt herein, und ich höre das bekannte, geliebte Sauſen im Laub
der großen Lindenbäume. Um mich her ſitzen alle, die ich lieb⸗
habe, und lauſchen andächtig der lieblichen Melodie Mozarts. —
Wieder eine kleine Pauſe, dann ſpielt die Muſik von neuem.
Jetzt ſind es Reminiſzenzen aus Chopin, eine Phantaſie über eine
Mazurka, ein Walzer und die berühmte Polonäſe. Die Szene iſt
jetzt eine andere: Ich bin daheim in meinen eigenen Zimmern,
meine Frau ſitzt am Flügel; wir find allein mit den Kindern. Ein
tiefer Friede hat ſich auf unſer Gemüt geſenkt, eine Dämmerungs⸗
ſtimmung, in der die Stille nur unterbrochen wird, wenn ein
Wagen durch die Straßen rollt oder wenn ein Automobil vorbei⸗
faucht.
Wieder muß ich die Augen ſchließen, um das Bild feſtzuhalten.
Wie ein fernes Summen höre ich unſern Eskimofreund Ajako
von den Walroßjagden des Sommers erzählen; wie durch einen
Nebel ſehe ich die Frauen des Hauſes, die ſich jetzt, da ihre Haus⸗
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Auf dem Wege nach Entſatz. 319
frauenpflichten erfüllt ſind, auf ihre Schlafbänke geſetzt haben,
um ihren unruhigen Kleinen den Mund mit dem Überfluß ihrer
Brüſte zu füllen.
Eine Tür ſpringt auf, und Geheul der Schlittenhunde über⸗
tönt für einen Augenblick die Muſik. Faſt hatte ich vergeſſen, daß
noch zwei Weltmeere zwiſchen den Heimwehviſionen und der Gegen⸗
wart liegen. — Ich bin wieder in Etah. Jetzt heißt es für die
Kameraden zu arbeiten, die noch oben in Inglefieldland liegen
und auf Hilfe warten. Die Schlitten müſſen ausgerüſtet und ſo⸗
fort abgeſandt werden.
Eine Enttäuſchung. |
Sobald [id die erſte durch die Ankunft entſtandene Verwirrung
gelegt hatte, mußte ich mir, ehe ich etwas unternehmen konnte,
einen Überblick über unſere jetzige Lage verſchaffen und feſtſtellen,
was eigentlich für die Ausrüſtung der Hilfsexpedition vorhanden
war. Es waren nur zwei Briefe für mich da, einer von Peter
Freuchen in Thule und einer von Kapitän Comer. Freuchens
Brief trug kein Datum; er war vermutlich urſprünglich mit der
„Danmark“ geſchickt. Neben verſchiedenen Neuigkeiten aus Thule
teilte er mir auch mit, daß er mir eine Kiſte mit Proviant und
verſchiedenen Leckereien ſchicke, darunter ein Faß Bier, das zur Feier
. unſerer Ankunft getrunken werden ſollte. Der Brief war ganz
Freuchen, freundlich und herzlich. Die erſte Botſchaft von Freund
zu Freund, die ich hier empfing. Aber leider hatten die lieben
Amerikaner vergeſſen, die Sendung auszuladen, die namentlich in
unſerer jetzigen Lage doppelt willkommen geweſen wäre.
Kapitän Comer, der ebenfalls einen warmen Willkommengruß
geſchickt hatte, berichtete, der bekannte Eismeerfahrer „Neptun“
habe die Crockerland⸗Expedition aufgeſucht. Der „Neptun“ hatte
die „Danmark“ etwa bei Kap Parry getroffen und die auf ihr
befindlichen Expeditionsgüter übernommen. Die „Danmark“ war
darauf nach Südgrönland zurückbeordert worden. Außer dieſem
Brief hatte der aufmerkſame Kapitän ein paar Zeitungen mit
den letzten Neuigkeiten zurückgelaſſen, die ſelbſtverſtändlich nicht
weniger willkommen waren als der Brief ſelbſt.
Von dem Chef der Crockerland⸗Expedition Mr. Donald
Me Millan war kein Wort für mich da, was mich offengeſtanden
320 Zwölftes Kapitel.
enttäuſchte, da ich ihm nach unſerer Abreiſe zweimal Briefe mit
dem Hilfsſchlitten geſandt hatte.
Noch eine Enttäuſchung ſollten wir erfahren. Als wir Thule
verließen, hatte man nichts davon gewußt, daß das Komitee der
Crockerland⸗Expedition noch ein Schiff — das fünfte der Expe⸗
dition — nach Me Millan ausſchicken würde. Unter der Voraus⸗
ſetzung, daß die „Danmark“, wie es von Haus aus angeordnet
war, die Reiſe nach Etah machen würde, hatte ich Kapitän Hanſen
gebeten, unſer Motorboot mit nach Etah zu nehmen. Allerdings
hofften wir beſtimmt darauf, daß „Kap York“ kommen und uns
holen würde. Wenn ſie ausblieb — alles war ja infolge der
Kriegsverhältniſſe ganz unſicher —, ſo hatten wir Petroleum
genug, um im Motorboot der Station über die Melvillebudt,
zu fahren und in Südgrönland in Verbindung mit einem der
Schiffe der Grönländiſchen Handelsgeſellſchaft zu kommen. Jetzt
zeigte ſich aber, daß der Führer des „Neptun“, der erwähnte
Kapitän Bartlett, ſich ſtrikte geweigert hatte, das Motorboot,
das wir ſo ſicher in Etah zu finden hofften, mitzunehmen. Jetzt,
da alle Arbeit beendet war, würden wir uns nur ſehr ungern
einer neuen Überwinterung in Nordgrönland ausſetzen; das würde
für uns ein ganzes verlorenes Jahr bedeuten.
Da ich in einer von Kapitän Comers Zeitungen zufällig von
der reichen Proviantausrüſtung geleſen hatte, die mit dem
„Neptun“ an Mr. Me Millan gelangt war, fragte ich die Es⸗
kimos, ob dieſer nicht ein paar Kiſten für uns hinterlaſſen habe,
ſo daß wir in der Zeit, die es uns koſten würde, von Etah nach
Thule zu kommen, nicht von allem entblößt waren. Me Millan
wußte ja, daß wir von der Nordküſte von Grönland über das
Inlandeis nach den Wohnplätzen hier kommen würden. Als er⸗
fahrener Polarforſcher wußte er, daß wir faſt ohne alles hierher
zurückkommen würden; es war alſo begreiflich, daß wir bei unſern
langen Märſchen oft die Möglichkeit erörtert hatten, daß unſer ameri⸗
kaniſcher Kollege einige Rückſicht auf unſere Lage nehmen würde.
Eine ſolche Hoffnung war um ſo mehr angebracht, als wir nicht
nur während unſerer langen Nachbarſchaft gut miteinander be⸗
kannt geworden waren, ſondern einander auch bei verſchiede⸗
nen Gelegenheiten ausgeholfen hatten, wie es Sitte iſt, wenn
weiße Männer ſich außerhalb der Grenzen der Ziviliſation
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Rasmuſſen.
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Auf dem Wege nach Entſatz. 321
begegnen. Für alle Fälle hatte ich indeſſen vor meiner Abreiſe
Kapitän Hanſen gebeten, ein kleines Depot für uns anzulegen,
falls er Etah verließe, ehe wir da waren. Da die „Danmark“
gar nicht in Etah geweſen war, war es eine doppelte Enttäuſchung,
daß wir weder Proviant noch Motorboot vorfanden.
Doch zurück zum Augenblick! Wir ſind ja jetzt unter Menſchen,
und die Eskimos am Wohnplatz, die mit der Expedition während
ihres Aufenthaltes hier verknüpft geweſen ſind, haben als Be⸗
lohnung die Reſte von MeMillans altem Überwinterungs⸗
proviant erhalten, der im weſentlichen aus Hunde⸗Keks, getrock⸗
netem Gemüſe, Bohnen und Salzfleiſch in reichlichen Mengen
beſtand. Hilfreich und freigebig wie immer, haben ſie mir alles,
was ich wünſchen konnte, zur Verfügung geſtellt. Aber es wäre
doch weſentlich angenehmer geweſen, ſelbſt etwas zu haben, und
ſei es auch noch ſo wenig.
* *.
*
Immer wieder habe ich auf meinen Reiſen die Erfahrung
gemacht, daß man den beſten Eindruck von den Eskimos bekommt,
wenn man als armer Mann, der nichts beſitzt, zu ihnen kommt.
Hat man große, reiche Vorräte, ſo können ſelbſt die beſten Freunde
bei dem, was ſie für einen tun, auf eine Bezahlung ſpekulieren.
Hat man dagegen nichts, ſo tun ſie doch alles für einen mit der⸗
ſelben Freude und Freigebigkeit, nur von ihrem guten Herzen
getrieben.
So auch jetzt, obwohl ſie ſelber ihre Vorräte nötig brauchen,
da die Sommerjagd auf Walroſſe ganz fehlgeſchlagen iſt. Aber
ſie ſind freigebig wie immer und wetteifern miteinander, mir alles
zur Verfügung zu ſtellen. Einſtimmig ſchallt es mir entgegen:
„Alles hier iſt dein, unſer Haus, unſer Proviant und unſere
Hunde: uns ſelber kannſt du ſchicken, wohin du willſt, um deinen
Kameraden zu helfen. Mit Freuden machen wir uns alle auf
den Weg!“
Ich unterſuche ſofort den Proviant und ordne alles für die
Entſatzſchlitten. Die ganze Nacht und der nächſte Tag vergehen
mit Vorbereitungen. Schlitten und Hunde ſind den ganzen
Sommer nicht gebraucht geweſen, ſo daß vieles nachzuſehen und
zu erneuern iſt. Endlich, am 1. September, um 12 Uhr mittags,
Rasmuſſen. 21
322 Zwölftes Kapitel.
iſt alles fertig; ſechs Mann und fünf Schlitten brechen auf. Das
Gepäck wird in zwei Booten, die Hunde auf dem Landwege nach
dem Ende des Foulkefjords gebracht. — Schon am nächſten Tage
werden ſie unten im Renntierlande ſein. Sie haben den Be⸗
fehl, nicht weiter als bis zu dem großen See mit den Eisbergen
zu gehen, den Ajako und ich nach zwei Tagemärſchen erreichten.
Hier ſoll ein Steinmal gebaut und der Hauptproviant zurück⸗
gelaſſen werden, während die übrigen, die ebenfalls Proviant
mitführen, das Gelände in verſchiedenen Richtungen abſuchen
ſollen. Aber da meine Verabredung mit Dr. Wulffs Abteilung
darauf hinausläuft, daß fie — jedenfalls Harrigan und der Boots⸗
mann — verſuchen ſollen, ſo raſch wie möglich nach Süden bis zu
dieſem See zu kommen, ſo kann es kaum viele Tage dauern, bis
die Helfer mit ihrem Proviant die Verbindung mit unſern
Kameraden hergeſtellt haben.
% *
*
1. September. Ajako und ich ſtehen auf einem Vorſprung und
verfolgen die Boote mit den Augen. Wie wohltuend, wieder
Menſchen zu ſehen, die ihre Kräfte nicht zu ſchonen brauchen!
Alle Eindrücke ſind ſo neu für uns, alles, was wir ſehen, iſt ſo ver⸗
ſchieden von dem, was wir bisher ſchauten!
Vor uns liegen die grasbedeckten Abhänge des Etahlandes,
die, von Millionen von Krabbentauchern reich gedüngt, wie hän⸗
gende Gärten zwiſchen den Schluchten wirken. Nach Weſten das
offene, lebendige Meer, das nicht von der toten Ruhe des Polar⸗
eiſes gefeſſelt iſt, der Geruch des Salzwaſſers und der herbe Duft
des Tanges, den wir mit offenen Nüſtern einſaugen — wie ver⸗
ſchieden von dem flauen Süßwaſſer der Oſtküſte!
Ajako beugt ſich herab, füllt die hohle Hand mit Fjordwaſſer
und führt ſie zum Geſicht hinauf, um die ſalzige Friſche ein⸗
zuatmen und zu fühlen.
In dieſen Tropfen riecht er das Fleiſch von Walroß, Narwal
und Seehunden, das Fleiſch all der fetten Seetiere, die uns jetzt
gute Tage bereiten ſollen. Herrliches Meer! Ich kenne dich
wieder! Jetzt bin ich daheim! |
Ein Seehund ſteckt draußen im Fjord den Kopf empor und 1
ſieht ſich neugierig nach den Booten um, die, ohne ihn zu be:
Fr
ten, re Fahrt 5 e Lange hört man den taktfeſten
lag der Ruder: Lachen miſcht ſich mit den Rufen derer, die an
verſchwinden ſie hinter einer Landzunge, und ringsum wird alles
wieder till.
Der r Bjorbminb, der tagsüber friſch vom er 558
f jollen leuchtet.
1% Ein e ungewohntes Friedensgefühl ſenkt fh über unſer
215
Dreizehntes Kapitel.
Der Wettlauf mit dem Tod.
Dr. Wulff erliegt den Anſtrengungen der Reije.
10. September. Wulff iſt tot! Heute gegen Abend kamen
die Hilfsſchlitten mit Koch, Harrigan und dem Bootsmann zurück.
So hatte er alſo doch nicht mehr die Kräfte, weiterzukommen,
ſondern hatte den Kampf aufgeben müſſen, gerade, als er Land
erreicht hatte und nicht weit von Menſchen entfernt war. Dieſer
letzte Todesfall kam mir ganz unerwartet. Wohl wußte ich, daß
Wulff erſchöpft war; aber das waren wir ja alle miteinander.
Daß es zum Tode führen könnte, daran hätte ich zuallerletzt
gedacht, als Ajako und ich von ihm Abſchied nahmen.
Ein unſagbar tragiſcher Tod! Gerade, als er alle Gefahren
und Strapazen überwunden hatte und endlich gerettet ſchien. Ich
verſtehe es nicht — ich verſtehe es wirklich nicht! —
Und doch iſt es wahr; den Mann, mit dem ich lange Zeit
hindurch Gutes und Böſes geteilt habe, ſoll ich niemals wieder⸗
ſehen! Nun iſt er ebenſo wie Hendrik, ſein Schlittenkamerad, zur
großen Ruhe eingegangen!
de
Sobald mir mitgeteilt wurde, daß ſich Leute aus dem Foulke⸗
fjord näherten, ließ ich die Boote zur Abfahrt klarmachen, während
wir die Vorbereitungen für den Empfang trafen, den wir ihnen
zugedacht hatten. Da mir aber berichtet wurde, einige der Leute
ſeien ganz nahe, ging ich ihnen entgegen, um zu hören, was fie
Neues brächten. Ich war erſtaunt, Koch unter ihnen zu ſehen,
denn es war verabredet worden, daß Koch mit Wulff im Boot
abgeholt werden ſollte; aber als ich näher kam, ſetzte Koch ſich auf
Der Wettlauf mit dem Tod, 325
einen Stein nieder, bleich und wortlos, und die Tränen, die über
ſeine Wangen rollten, erzählten mir alles, was ich zu wiſſen
brauchte. i
Eine Kataſtrophe hatte die Expedition getroffen. Wulff war
tot, im letzten Kampf um das Leben gefallen.
* *
*
Sobald Koch und ich uns nach dem traurigen Wiederſehen
wieder geſammelt hatten, erſtattete er mir Bericht über alles, was
ſeit dem 25. Auguſt vorgefallen war. Im folgenden gebe ich
ſeinen ſchriftlichen Bericht wieder, der alle Einzelheiten enthält.
Kochs Bericht.
| Am 25. Auguſt waren Wulff und ich zum letztenmal mit
Knud Rasmuſſen und Ajako zuſammen. Der Abſchied trug für
Wulff und mich ein feſtliches Gepräge; wir glaubten, daß nun
wieder eine hellere Zukunft vor uns liege. Wir vertrauten darauf,
daß unſere Kameraden Kräfte genug haben würden, um zu Men⸗
ſchen zu gelangen, und die Erfahrungen, die Ajako auf ſeiner Jagd
hier gemacht hatte, bewieſen, daß es in der nächſten Umgebung
genug Haſen für ein paar Ruhetage und für eine langſame
Reiſe in der Richtung nach Etah geben mußte.
Von Ajakos fünf Haſen bereiteten wir im Laufe des 25. zwei
SØ reichliche Gerichte; eine Anzahl der fleiſchigſten Stücke, im ganzen
etwas mehr als ein Haſe, wurde als Reiſeproviant für die Ka⸗
meraden zurückgelegt; jo kam bei unſerm Mahl ein ganzer aus-
gewachſener Haſe auf den Mann. Zum erſtenmal ſeit langer
Zeit fühlte ich mich wirklich ſatt. Nur Wulff hatte wie gewöhnlich
ſeine Ration bis abend 8 Uhr noch nicht aufgegeſſen. Er gab
mir ein Stück, und als ich ablehnte, erklärte er, es ſei ihm ganz
unmöglich, mehr zu eſſen. 5
| Während dieſer Mahlzeit gab er mir eine ausführliche Er⸗
Klärung ſeines körperlichen Befindens. Er gebrauchte zum erften-
mal von ſich den Ausdruck, er ſei im Sterben, eine Bezeichnung,
| die mir damals übertrieben ſchien, da er gleichzeitig meinte, ein
paar Ruhetage und Renntierfleiſch würden ihn wieder reiſefähig
machen.
Er ſprach von der Reife über das Inlandeis wie von einem
326 Dreizehntes Kapitel.
böſen Traum, aus dem man nun erwacht ſei, und wartete auf
die Rückkehr Inukitſogs und des Bootsmanns mit ungeduldigem
Verlangen, denn er betrachtete es als ganz ſicher, daß ſie mit Renn⸗
tierfleiſch zurückkommen würden.
Als ich einwendete, daß wir uns vielleicht noch einige Zeit
mit Haſenfleiſch begnügen müßten, ſchob er dieſe Möglichkeit mit
Unbehagen von ſich und erklärte, er habe ſchon lange Zeit einen
wahren Ekel vor Fleiſch gefühlt. Renntiertalg dagegen würde ihn
bald wieder auf die Beine bringen.
Er ſprach lebhaft und viel, meiſtens von dem Neiſepto
den er auf zukünftigen Reiſen verwenden würde. Gegen Mitter⸗
nacht bat er mich etwas Waſſer zu kochen, das er warm trinken
wollte, ehe er einſchlief, da er an die Finger fror. Dann deckte
er ſich für die Nacht zu, und ich ſelbſt ging zur Ruhe.
Alle dieſe neuen Eindrücke bewirkten, daß ich nicht ſchlafen
konnte. Um 2 Uhr morgens ging ich daher ein Stück bergan.
Ich ging langſam und planlos, eigentlich nur um zu erproben,
wieviel Kräfte ich noch hätte. Die erſten ſteilen Abhänge hinan
koſtete jeder Schritt Energie, und ich mußte mir eingeſtehen, daß
ich ſehr kraftlos ſei. Von der Höhe oben ſah ich einen Haſen und
kletterte wieder zu unſerm Lagerplatz hinab, um ein Gewehr zu
holen. Der Haſe war jedoch ſehr ſcheu, und ich mußte die Jagd
raſch wieder aufgeben und müde und hungrig zum Lager zurück⸗
kehren. Noch immer waren die Jäger nicht zurückgekommen, und
da Wulff wach war, beſchloſſen wir, das Hundefleiſch zu 1
das von dem letzten Tag auf dem Gletſcher übrig war. I.
Wulff wollte nur ein kleines Bein haben, trank aber zwi
große Taſſen von der warmen Brühe.
Um 9 Ahr vormittags des 26. ſchlief ich ein und erwachte erſt,
als Inukitſoq neben mir ſtand.
Das Ergebnis der zweitägigen Jagd war nur ein Haſe ge⸗
weſen, der längſt verzehrt war. Die Jagd war wegen des dichten
Nebels, der beſtändig über dem von ihnen durchſuchten Gelände
gelegen hatte, ganz mißglückt. Der Bootsmann hatte nicht mehr
viel Kräfte übrig, und auch Inukitſog war müde.
Inukitſoq und ich eroberten nun verſchiedene Pläne. Wir
hatten aber nur zwiſchen zweien zu wählen. Entweder wir brachen 0
ſofort auf und bewegten uns langſam in der Richtung auf die
Der Wettlauf mit dem Tod, 327
Marſhallbai zu, wo wir, ſobald die Kameraden Etah erreicht
hatten, erwarten konnten, Menſchen zu treffen; wir konnten kleine
Tagemärſche machen und eſſen, was die Jagd uns lieferte. Oder
Inukitſog und der Bootsmann konnten noch eine Renntierjagd
verſuchen. Dieſer letzte Plan ſchien mir jedoch zu gewagt; noch
zwei Tage ohne Jagd würden eine beträchtliche Erſchöpfung be⸗
deuten, namentlich für die Jäger, die ja, wenn wir ſie nicht be⸗
gleiteten, das Fleiſch raſch zu uns zurückbringen müßten. Nein,
nur eins blieb zu tun. Wir mußten ſelber mitgehen, ſofort auf-
brechen, ſolange wir noch Kräfte hatten, und das Jagdglück ge⸗
meinſam verſuchen.
Ich teilte Wulff das Ergebnis meiner Beratung mit, ſprach
aber ſonſt nicht viel mit ihm, da wir jetzt ſtark beſchäftigt waren,
uns reiſefertig zu machen. Wir ließen alles zurück. Jeder nahm
nur ein Paar Reiſeſtiefel mit und eine Decke. Wulff zog es vor,
ſtatt der Decke ſeinen Renntierpelz mitzunehmen. Ferner nahmen
wir einen Drilling mit etwa 30 Gewehrpatronen und eine Doppel⸗
flinte mit 70 Schrotpatronen mit. Wulff ließ ſeine wiſſenſchaft⸗
lichen Tagebücher und ſeine Sammlungen zurück, ich nahm meine
kartographiſchen und geologiſchen Aufzeichnungen und Skizzen mit.
| Um 4 Uhr nachmittags machten wir uns auf den Weg, aber
ſchon nach 20 Minuten wollte Wulff aufgeben und zu dem alten
Lager zurückkehren. Wir taten alles, um ihn zu bereden, weiter mit⸗
zugehen; hier allein zu bleiben würde den ſicheren Tod für ihn be⸗
deuten, ſofern wir nicht beſſere Jagderfolge erzielten. Es gelang
uns denn auch, ihn mitzubekommen. Eine halbe Stunde ſpäter
ſchoß Inukitſog den erſten Haſen, den wir roh zu eſſen beſchloſſen,
da wir alle ſehr hungrig waren. Ich bat Inukitſog, jetzt und in
Zukunft die Verteilung der Rationen vorzunehmen. Er teilte
den Haſen ſo, daß Wulff das ganze Fleiſch bekam, während wir
andern uns in die Eingeweide teilten, eine Verteilung, der
Wulff energiſch widerſprach. Inukitſog gab Wulff immer mehr
Fleiſch als uns, weil er meinte, er habe es am nötigſten. Erſt
als es ſich jedesmal von neuem zeigte, daß Wulff ſeinen Teil nicht
aufaß, wurden die Portionen gleichmäßiger. Das rohe, friſche
Fleiſch aßen wir alle mit großem Appetit, und Wulff äußerte,
es ſei vielleicht geſünder für ihn als das gekochte, das er ſatt hätte.
Trotz unſeres kleinen Jagderfolgs war ſeine Stimmung doch ſehr
328 | Dreizehntes Kapitel.
gedrückt. Er ſchien auf dem Punkt zu ſein, ganz den Mut zu ver⸗
lieren. Der ſchroffe Übergang von der Ruhe auf den Fellen, mit
der Ausſicht auf Renntierfleiſch und Talg, zu einem neuen Kampf
auf Leben und Tod wirkte rein pſychiſch ſehr ſtark auf ihn ein.
Wir hatten das Depot bei hellem, klarem Sonnenſchein verlaſſen.
Jetzt kam die Nachtkälte, und der Nebel legte ſich über das Land.
Das Gelände, das wir durchwanderten, war ſehr durchſchnitten,
und die Troſtloſigkeit des Nebels und das beſtändige Hinunter⸗
und Hinaufklettern in den Schluchten griffen Wulff ſo an, daß
ich zu fürchten begann, er ſei jetzt daran, den Willen zum Leben
ganz zu verlieren.
Ungefähr um Mitternacht lagerten wir. Inukitſog hatte zwei
junge Haſen erlegt, die wir ſofort kochten. Trotz aller Vor⸗
ſtellungen aß Wulff nur die Hälfte ſeiner Ration und gab die
andere Hälfte dem Bootsmann. „Wenn ich einen Biſſen mehr
eſſe, breche ich alles wieder aus“, erklärte er. Die Haſenbrühe
dagegen trank er mit Wohlbehagen. — Inukitſog ging wieder
auf die Jagd und kam zwei Stunden nach Mitternacht abermals
mit einem Haſen zurück. Auch dieſer wurde gekocht. Wulff hob
ſeine ganze Portion für den nächſten Tag auf, und dann ver⸗
ſchenkte er die Hälfte.
Der Tag war über alles Erwarten günſtig verlaufen. Wir
waren nur ein paar Kilometer gegangen, hatten lange ſchlafen
dürfen und jeder hatte einen jungen Haſen zu eſſen bekommen;
aber Wulff klagte andauernd. Ich begann jetzt zu glauben, daß
ſein Ausdruck, er ſei im Sterben, doch nicht zu ſtark geweſen war.
Aber wie ſollte es uns glücken, die Lebensluſt bei ihm zu wecken,
wenn er nicht eſſen konnte? Nur ein Renntier konnte ihn retten.
Aber wie ſollten wir ihn ſo weit vorwärtsbringen, wenn er ſelbſt
den Mut verlor?
Am nächſten Tag, 27. Auguſt, zogen wir weiter, nach einer
Raſt, die für Wulff und mich 13 Stunden gewährt hatte. Wir
hatten alle gut geſchlafen, auch Wulff. Und doch ſchien er zu
unſerm Kummer heute noch weniger Kräfte zu haben als geſtern.
Obgleich wir ſehr langſam gingen, mußten wir den ganzen Tag
ununterbrochen auf ihn warten. Er klagte heute viel über ſein
Herz und über zunehmende Blutarmut. Immer wieder fragte er
mich nach den Verhältniſſen in däniſchen Sanatorien und ſprach
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Der Wettlauf mit dem Tod. 329.
von Haferſuppe, Eiern, Malzextraft und andern nährenden
Dingen.
Wir hatten zu 4 Kilometer drei Stunden gebraucht. Inu⸗
kitſog hatte bereits den erſten jungen Haſen geſchoſſen. Kurz
darauf ſchoſſen er und der Bootsmann jeder einen Haſen, und auf
Vorſchlag von Wulff machten wir uns gleich daran, ſie zu kochen.
Während wir Brennmaterial ſammelten und kochten, ſchlief Wulff
ununterbrochen. Das dauerte zwei Stunden.
Als die Haſen gekocht waren, wollte Wulff wie gewöhnlich faſt
nichts eſſen. Dagegen trank er etwas Suppe, die ihn wärmte und
anregte. Nach dieſer Mahlzeit ſchliefen wir wieder ein paar
Stunden und ſetzten dann um 7 Uhr abends ſatt und ſchwer unſern
Marſch fort. Nach einer halben Stunde ſchießt Inukitſog einen
Haſen und, ermutigt von dieſem beſtändigen Jagdglück, lagern
wir abends ſchon um 9 Uhr. Der Bootsmann begibt ſich ſogleich
auf die Jagd und kommt um Mitternacht mit einem Hajen zurück.
Zum zweitenmal kochen wir heute Fleiſch — Wulff hat noch von
der vorigen Mahlzeit Fleiſch übrig. Wieder gibt er es weg, da er,
wie er ſich ausdrückt, „einen Ekel vor Fleiſch hat“. Aber wie ſoll
er feine Kräfte wiedergewinnen, wenn er ſich trotz aller unſerer
Vorſtellungen ſtändig weigert, ſeine Rationen aufzueſſen? Er
magert von Tag zu Tag mehr ab. i
i Wieder haben wir einen guten Reiſetag, kurze Entfernungen,
viel Ruhe, viel Fleiſch. Obgleich Wulff über ſein Herz, ſeinen
Magen und über ſeine entſetzliche Entkräftung klagt, macht er doch
beſtändig botaniſche Beobachtungen, die von einer noch erſtaunlich
friſchen Beobachtungsgabe zeugen und von einem Gedächtnis, das
f im ſcharfen Gegenſatz zu ſeinem geſchwächten Körper ſteht. Wenn
= er ſelbſt nicht ſchreiben kann, weil ſeine Finger zu ſteif find, diktiert
er mir, was er niedergeſchrieben zu haben wünſcht. Es belebt ihn
ſichtlich, von Pflanzen zu ſprechen, die er auf dem Wege findet.
Sein botaniſches Intereſſe iſt lebendiger als je, und unverändert
ſein Eifer, ſeine Reſultate zu vermehren. Hier und da ſcheint die
Hoffnung, daß er es trotz alledem ſchaffen wird, in ihm zu er⸗
wachen, das wirkt jedesmal aufmunternd auf ihn ein. Und warum
nicht das Beſte hoffen? Wir haben jetzt in zwei Tagen neun
Haſen geſchoſſen und verzehrt, wir vier Mann! Wir heben
nichts auf, teils weil wir noch zu matt ſind, teils auch weil nichts
330 Dreizehntes Kapitel.
darauf deutet, daß der Wildbeſtand weiterhin geringer wird. Im
Gegenteil! Wir gehen ja dem eigentlichen Renntiergebiet ent⸗
gegen. N
Der nächſte Tag ſollte ganz anders verlaufen als die beiden
vorhergehenden. Die ganze Nacht hatten wir Tauſchnee gehabt,
und tagsüber kamen beſtändig Schneeſchauer. Dies hinderte uns,
die Haſen zu ſehen. Auch die Landſchaft hatte ſich ſtark ver⸗
ändert. Wir kamen jetzt durch tiefe, ſteinige, vegetationsarme
Schluchten. Nach vier Stunden anſtrengenden Marſches beſchloſſen
wir daher, die Randzone des Inlandeiſes zu verlaſſen und in der
Richtung des Meeres ein Land mit ebenerem Gelände und wild⸗
reicheren, fruchtbareren Gegenden zu ſuchen.
Wie gewöhnlich brachen wir mittags auf. Im Laufe des
Nachmittags ſchoß der Bootsmann einen jungen Haſen, den wir É
roh verzehrten. Sonſt ſahen wir an dieſem Tage kein Wild. Auf |
dem Gipfel eines jeden Hügels, den wir pajlierten, mußten wir
auf Wulff warten, manchmal ſehr lange, obgleich wir alle ein
großes Intereſſe hatten, raſch in beſſere Jagdgebiete zu kommen.
So kam es, daß wir in 12 Stunden nur eine Strecke von knapp
8 Kilometer zurückgelegt hatten. Wulff war im Laufe des Tages
abermals ſtark außer Gleichgewicht geweſen; er war ſehr reizbar
und einmal auch etwas unklar. Schon an dieſem Tag ſprach er 1
mehrmals davon, es ſei beſſer zu ſterben; dieſe Wanderung ſei É
ſchlimmer als der Tod.
Die ganze Nacht hatten wir unter Schneeſchauern zu ebe
Ich war öfters wach und bemerkte, daß Wulff ſehr unruhig ſchlief
und daß er beſtändig Kautabak kaute, was er trotz unſerer War⸗
nung in der letzten Zeit übertrieb.
Nach zwölfſtündiger Ruhe gingen wir weiter. Niemand von
uns redete viel, aber ich bemerkte gleich, daß eine gewiſſe Ruhe
über Wulff gekommen war. Ich war daher ſehr überraſcht, als
er nach drei Stunden plötzlich ſtehenblieb und ſagte:
„Jetzt kann ich nicht weiter wegen meines Herzens. Wollt ihr
mir einen Platz ſuchen, wo ich liegenbleiben kann? Am liebſten
in der Nähe eines Sees, wo ich etwas zu trinken habe und wo
ihr mich finden könnt, wenn ihr in der allernächſten Zukunft Wild
erbeutet.“ |
Ich hatte den beſtimmten Eindruck, daß dieſem Wunſch der
Der Wettlauf mit dem Tod. 331
reife, wohlüberlegte Entſchluß eines Mannes zugrunde lag. Jeder
Verſuch, ihn zu überreden, war vergebens. Wir hatten uns in
dieſem Augenblick gerade an einem See niedergelaſſen, dicht bei
einer großen Schlucht, die leicht zu finden ſein würde. Aber um
Zeit und eine Möglichkeit, ſein Leben zu retten, zu gewinnen,
wies ich auf einen See hin, der etwa 2 Kilometer weiter davon
entfernt lag. Er billigte meine Wahl, und wir begaben uns dort⸗
hin. Um ihn noch einmal aufzumuntern, ſprach ich davon, wie
nabe wir jetzt bei Menſchen ſeien, und wie die Strapazen, die
wir noch vor uns hätten, klein ſeien im Vergleich zu denen
2 hinter uns.
„Ja,“ jagte Wulff, „zu denken, daß man jetzt die Waffen
ſtreckt, nachdem man fo viel durchgemacht und fo viel Schwierig⸗
keiten überwunden hat! — Nein, lieber noch einen Verſuch
machen! Aber“, fügte er hinzu, „dies heißt trotz alledem zu
ſeinem eigenen Begräbnis gehen.“
Ich teilte ſogleich den Eskimos mit, daß Wulff feinen Ent⸗
ſchluß geändert habe, und wir gaben daher den Kurs nach dem
See auf.
Der Schneefall hatte aufgehört. Ein leichter Wind wehte,
und etwas Nebel lag noch über dem Land. Die Eskimos teilten
ſich, um jeder in ſeiner eigenen Richtung zu jagen. Nach zwei
7 Stunden fam der Bootsmann zurück mit friſchen Renntierexkre⸗
menten, die er aß. Wir ſtanden am Rand einer großen Schlucht.
Hier gingen der Bootsmann und Inukitſog hinab, um nach Renn-
tieren zu ſpähen. Da Wulff wieder ein Stück zurückgeblieben
war, ging ich auf einen Hügel, um ebenfalls nach Wild auszu⸗
ſchauen. Wulff hatte ſich niedergeſetzt. Aber als er mich erblickte,
rief er mir zu: „All right, geht nur hinunter in die Schlucht, ich
komme gleich.“
Dies taten wir. Unten in der Schlucht hatten die Jäger
unterdeſſen die Renntierſpuren verloren, und wir ſetzten uns nieder
und beſchäftigten uns damit, Weiden und Wurzeln zu kauen,
während wir warteten.
Als Wulff zu uns herabkam, war das erſte, was er ſagte:
„Ja, liebe Kameraden, hier will ich mich zur Ruhe legen; ich
denke, der große Stein auf der andern Seite des Fluſſes wird
mir Schutz gewähren.“
332 Dreizehntes Kapitel.
Er ſprach ganz ruhig, und es war ihm keine Gemütsbewegung
anzumerken. Als ich wieder den Verſuch machte, ihn zu über⸗
reden weiterzugehen, antwortete er beſtimmt und abweiſend:
„Nein, ich kann nicht mehr. Jetzt iſt es Schluß! Tu mir nur
den Gefallen, ein paar Briefe für mich zu ſchreiben, und laß die
Eskimos etwas Waſſer kochen, damit ich etwas Wärme in den
Leib bekomme, während ich dir die Briefe diktiere.“ Damit ſtand
er auf und ging zu dem großen Stein, den er ſich ausgewählt
hatte; hier hatte er ſich hingelegt, als ich zu ihm hinkam.
Vergebens überlegte ich, was geſchehen könnte, um Wulff zu
helfen. Vergebens erörterte ich die Lage mit den Eskimos, die
ſich von ſeinem letzten Beſchluß unbehaglich berührt fühlten. Aber
wir waren ganz machtlos, wenn er ſelber den Kampf aufgab und ſich
weigerte weiterzugehen. Denn in der großen, wildleeren Schlucht
zu bleiben, würde den ſicheren Tod für uns alle bedeuten.
Meine eigene Lage war übrigens nicht ſehr verſchieden von
der Wulffs. Auch ich war ſehr matt, und mein Leben hing voll⸗
ſtändig von der Jagd der Eskimos ab. Ich ſelbſt war zu kraft⸗
los, um zu jagen. Blieb ich mit Wulff in der Schlucht zurück,
ſo galt es nur, zweien ſtatt einem Hilfe zu bringen, falls das
Jagdglück ſich wenden ſollte. Und geſchah dies nicht bald, ſo
würden möglicherweiſe auch die Kräfte der Eskimos ſo weit
ſchwinden, daß ein Entſatz mißglücken mußte. Das würde alſo
nicht nur eine Kataſtrophe für uns alle bedeuten, ſondern auch
unſere teuer erkauften Reſultate würden verlorengehen, weil
niemand uns in dieſer Kluft würde finden können.
Es war nichts zu machen. Wir drei, die wir den Kampf noch
nicht aufgegeben hatten, mußten ohne Wulff den Marſch fort⸗
ſetzen; das war die einzige Ausſicht für uns alle vier. Im übrigen
war ja Wulff vollſtändig klar über die Lage und über ihren
hoffnungsloſen Ernſt. Inukitſog und der Bootsmann hatten ſeit
der Ankunft auf dem Land ununterbrochen gejagt; ſie hatten
keine Anſtrengung geſcheut; oft waren ſie wieder ausgezogen, wenn
wir uns gelagert hatten, und getreulich hatten ſie uns all die
Beute, die ſie erlegten, gebracht. Und das war ja bisher ziem⸗
lich viel geweſen. Aber was konnte das nützen, wenn Wulff das
einzige, was ſie beſchaffen konnten, gekochtes Haſenfleiſch, nicht
mehr eſſen wollte? Und nun hatte er vorgezogen, liegenzubleiben!
Der Wettlauf mit dem Tod. 333
Sobald das Waller warm war und der Trunk ihn erwärmt
hatte, diktierte er mir einen Brief an Knud Rasmuſſen — einen
ausführlichen Brief, der ſeinen letzten Willen enthielt. Dann ſchrieb
er ſelbſt einen Brief an ſeine Eltern und an ſeine Tochter. Ein
einziges Mal ſchien er bewegt, ſonſt war er vollkommen ruhig.
Als er mit den Briefen fertig war, zündete er ſeine Pfeife an
und diktierte mir eine botaniſche Überſicht über die Vegetations⸗
verhältniſſe in Inglefieldland. Das war das letzte, was er tat.
Wir lagen nun da und ſprachen ein wenig miteinander, und als
die Rede auf einen möglichen Entſatz kam, ſagte er: „Ich nehme
an, daß ich, wenn ich ganz ſtilliege, noch ein paar Tage leben
kann. Und wenn ihr in den nächſten Tagen Renntiere erlegt,
werde ich natürlich froh ſein, wenn ihr mich rettet. Aber es iſt
abſolut nutzlos, daß ihr mit Haſenfleiſch zurückkommt. Vergehen
mehrere Tage, und ihr trefft dann Menſchen, ſo können mich ver⸗
mutlich nur Haferſuppe und Portwein retten.“
5 Dann fragte er mich, wie lange ich ſelber noch meinte, aus⸗
halten zu können. Ich antwortete, ich nähme an, daß ich ohne
Jagd die Kraft hätte, noch einen Tag zu gehen, während die
Eskimos möglicherweiſe noch ein paar Tage länger aushalten
könnten.
Wir hatten uns jetzt bei Wulff etwas über zwei Stunden
aufgehalten und da die Eskimos ungeduldig waren, die unter⸗
brochene Jagd wieder aufzunehmen, machte ich mich zum Aufbruch
fertig. Obgleich die Lage ergreifend war, fühlte ich mich doch im
Augenblick des Abſchieds nicht ſonderlich bewegt; dazu war ich
ſelbſt zu erſchöpft und ich war eigentlich nur von dem Gefühl be⸗
herrſcht, daß ich meinem eigenen Tode entgegenging.
Wulff blieb, als wir gingen, ruhig liegen. Seine letzten Worte
zu uns waren: „Ja, dann will ich euch nur zum Abſchied wünſchen,
daß ihr das Ziel erreicht. Wenn ihr in Not geratet, denkt daran,
daß ihr es jetzt ſeid, die unſere Reſultate retten ſollen. Möge das
Glück euch begleiten! Und nun lebt wohl!“
Wieder war Nebel gekommen. Wir hatten Schwierigkeit,
uns zurechtzufinden, und alles kam mir unſagbar troſtlos vor.
Nach drei Stunden klarte es auf und wir hatten Ausſicht nach
der Küſte hinab. Das Land in nächſter Nähe der Küſte war
beinahe ſchneefrei; dorthin richteten wir unſern Marſch. Gegen
334 Dreizehntes Kapitel.
Mitternacht gingen wir zur Ruhe, naß und erfroren vom Durch⸗
waten eines großen Fluſſes.
In mein Tagebuch ſchrieb ich, daß ich am nächſten Tage ver⸗
mutlich ohne Nahrung Kap Scott erreichen werde; dann würde
es auch mit mir zu Ende ſein; aber hier ſei Ausſicht vorhanden,
daß meine Tagebücher gefunden würden. Es war zu kalt, um zu
ſchlafen. Erſt am Vormittag des nächſten Tages hatten wir ein
paar Stunden Schlaf. Zum erſtenmal hatten wir heute bei hellem
Sonnenſchein Ausſicht über das Land. Wir befanden uns an
dem mittleren der drei kleinen Fjorde, die zwiſchen Kap Scott
und Kap Agaſſiz einſchneiden. Wir ſahen auch deutlich Kap
Scott, wo meine Begleiter im Frühjahr drei Haſen geſchoſſen
und Renntierſpuren geſehen hatten. Wir beſchloſſen daher ſofort,
den Kurs nach Kap Scott zu nehmen.
Ich war jetzt ſehr kraftlos. Alle Hungergefühle des Inland⸗
eiſes waren jetzt in verſtärkter Form wiedergekehrt; außer einem
enormen Müdigkeitsgefühl litt ich ſtark an Schwindel, und häufig
wurde es mir ſchwach vor den Augen. Gegen 3 Uhr ſammelten
wir einen Topf voll Pilze und kochten ſie. Das verlieh uns
neue Kräfte für den Weitermarſch.
Es wurde Abend, und noch immer hatten wir kein Wild ge⸗
ſehen. Da fiel unſer Blick auf eine Brut junger wilder Enten, die
auf einem See ſchwammen. Die Eskimos ſchoſſen ſechs davon;
wir kochten ſie und dann gingen wir weiter und ee Kap
Scott etwas nach Mitternacht.
Hier ſchoſſen Inukitſog und der Bootsmann ſechs Salen. Zum
erſtenmal trat die Frage an uns heran, ob wir Wulff zu Hilfe
eilen könnten. Die Sache lag ſo: Wir konnten von Kap Scott
zwei Tage, nachdem wir ihn verlaſſen hatten, aufbrechen und
würden ihn früheſtens nach 24 Stunden erreichen können. Dann
würde Wulff vier Tage ohne Nahrung geweſen ſein. Und wir
hätten ihm nur Haſenfleiſch bieten können, was er ausdrücklich als
nutzlos bezeichnet hatte. Ferner müßten wir, um ihm Entſatz zu
bringen, Nahrung genug für den Hin- und Rückweg haben. Be⸗
reiteten wir uns nun vor dem Marſch ſelber eine Mahlzeit, die
uns bei unſerm ermatteten Zuſtand etwas zu Kräften bringen
könnte, jo würden für die Rettungserpedition nur drei Halen
übrigbleiben. — Da dies ausſichtslos war, mußten wir den Gr =
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Der Wettlauf mit dem Tod. 335
danken aufgeben. Nur ein Renntier heute oder ſpäteſtens morgen
konnte ihn retten! Aber leider traf dieſes Jagdglück erſt ein,
als jede Hoffnung ausgeſchloſſen war, Wulff noch lebend an⸗
zutreffen.
Die folgenden drei Tage bekamen wir ſo viel Haſen, daß wir
täglich reichlich Proviant hatten, aber nie hatten wir einen
ſolchen Überſchuß, daß von einer Hilfsexpedition die Rede ſein
konnte.
ch SE Skizze von Roh
Der Ort, an dem Koch die Hilfsſchlitten traf.
Erſt am 2. September abends ſchoſſen Inukitſoq und der
Bootsmann zwei Renntiere. Aber gleichzeitig legte ſich ein dichter
Nebel über das Land. Jetzt gaben wir jeden Gedanken, zu
Wulff zurückzukehren, endgültig auf, denn wir hätten erſt zehn
Tage nach ſeiner letzten Mahlzeit bei ihm ſein können, und es
war undenkbar, daß er in feinem kraftloſen Zuſtand dem Nacht⸗
froſt und dem Hunger ſolange widerſtanden hatte.
Wir konnten nichts anderes tun, als uns nach Etah durch⸗
zuſchlagen und dem Führer der Expedition möglichſt raſch Mit⸗
teilung von Wulffs Tod zu machen und über die Sammlungen,
die noch an der Abſtiegſtelle lagen, zu berichten. Aber da wir
336 Dreizehntes Kapitel.
noch ſehr müde waren und ich ſehr erſchöpft war, ruhten wir uns
bei Renntierfleiſch zwei Tage aus.
Am 4. September früh am Morgen hörten wir in unſerer
unmittelbaren Nähe Schüſſe. Es war einer der Eskimos, die
Knud Rasmuſſen zu unſerm Entſatz geſchickt hatte; er ſchoß ein
Renntier dicht neben uns. Wir kamen ſogleich mit ihm in Ver⸗
bindung. Am nächſten Tag trafen wir noch einen Mann und
am 6. ſetzten wir uns in Bewegung, um endlich zu den Schlitten
und zu den von Etah geſandten Vorräten zu gelangen, die nicht weit
von unſerm Renntierlager niedergelegt waren. Am 7. September
kamen wir dort an und waren am 10. abends in Etah, wo ich
ſogleich dem Leiter der Expedition einen ausführlichen Bericht
erſtattete.
— —
Ypmplsrinsg AG
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Vierzehntes Kapitel.
Ein Gedenkblatt.
horild Wulffs Leben war jo bunt und abenteuerlich, daß er
„ſelbſt nicht immer vollkommen Beſcheid wußte über die
| henfolge der Begebenheiten, die er bei ſeinem erſtaunlichen
3 Arbeiten und Erlebniſſe zu geben. Aber immer ſchüttelte er
Ind den Kopf und ſagte, er könne aus der Erinnerung aus
Zeit hätte, ſeine Tagebücher und Notizen zu Rate zu ziehen.
Niemand hatte wie er die große Unruhe, die die Vorbedingung
r alles Handeln ift; aber zu ſeinem und unſerm Nachteil fehlte
ihm die Gabe, ſich die geiſtige Ruhe zu erwerben, die ihren Aus⸗
ruck in ſteter Arbeit mit Büchern und Berechnungen findet. Nur
ügen Menſchen ſtand ein jo ausgezeichnetes Denkvermögen, ein
o allſeitiges Wiſſen und eine ſo glänzende Ausbildung zur Ver⸗
gung wie ihm; nie habe ich jemand getroffen, der ſo buchſtäblich
d perſönlich die Erde in Beſitz genommen hatte. Darum können
ebens wird klarmachen, daß er ſich keinen Nachruf durch Worte
verſchaffen brauchte. ;
*
5 *
Thorild Wulff wurde in Göteborg in Schweden am 1. April
N 877 geboren; er wurde 1894 Student und ſtudierte Botanik in
Lund. Schon 1894 machte er ſeine erſte große Reiſe als Mitglied
Rasmuſſen. - 22
338 Vierzehntes Kapitel.
einer ſchwediſch⸗ruſſiſchen Gradmeſſungsexpedition, auf der er den
Stoff zu der Abhandlung „Botaniſche Beobachtungen aus Spitz⸗
bergen“ ſammelte, womit er 1909 den Doktortitel erwarb.
Thorild Wulffs Leben wurde dann ſo ereignisvoll, daß ich mich
auf das, was ich aus ſeinen eigenen Erzählungen noch weiß, nicht
vollkommen verlaſſen kann. Dr. Birger Selim in Stockholm iſt
ſo liebenswürdig geweſen, mir ſeinen ausgezeichneten Nekrolog
aus der Zeitſchrift „Ymer“ zur Verfügung zu ſtellen; daraus iſt
das Folgende entnommen:
Eine Reihe von Jahren verbrachte Wulff ſein Leben auf
Reiſen im Oſten und in den Tropen. Ehe er Europa verließ, hatte
er auf Reiſen nach Deutſchland, Frankreich und England eifrig
alles ſtudiert, was irgendwie mit Leben und Wiſſen zu tun hatte.
In den Jahren 1902 —1903 treffen wir ihn auf einer bota⸗
niſchen Forſchungsreiſe in Vorderindien. Auf dieſer Reiſe widmete
er ji) nicht der Botanik allein, er vertiefte ſich auch jo gründlich.
in die indiſche Architektur, daß eine kleine Schrift, die er darüber
ſchrieb, oft als ein ſchlagender Beweis für ſeine ſchnelle Auf⸗
faſſungsgabe hervorgehoben worden iſt.
Dann läßt er ſich in Stockholm nieder und iſt von 1906 bis 1909
an der Zentralanſtalt für landwirtſchaftliche Verſuche angeſtellt.
In dieſer Zeit, die ein Intermezzo in Wulffs fahrendem Leben
bildet, hatte er reichlich Gelegenheit, ſich mit wiſſenſchaftlichen
Aufgaben zu beſchäftigen, und als Redakteur der Zeitſchrift
„Trädgaͤrden“ bewies er ein hervorragendes Talent, ſeine wiſſen⸗
ſchaftlichen Kenntniſſe durch gutgeſchriebene belehrende populäre
Artikel der Allgemeinheit zugängig zu machen.
1909 verläßt er die landwirtſchaftliche Verſuchsanſtalt und
wird Dozent für Botanik an der Hochſchule in Stockholm.
1911 unternimmt er eine Reiſe nach Island. Es war das
zweitemal, daß Wulff die Saga⸗Inſel beſuchte; in der Zwiſchen⸗
zeit hatte er verſchiedene Reiſen nach Lappland gemacht. Auf dieſen
kleinen Ausflügen ruhte er aus und machte Pläne für ſeine größeren
Reiſen. Wenn er es auch liebte, von Zeit zu Zeit wie ein Komet
in den Großſtädten aufzutauchen und eine Zeitlang einen Sturm
im Ententeich zu erregen, ſo mußte doch er, dieſer Mann der Feſte
und der Arbeit, immer Luft unter den Schwingen haben, immer
bereit, davonzuziehen, ſobald die Herbſtſtimmung über ihn kommt.
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Ein Gedenkblatt. 339
Im Juli 1912 wird ihm die Aufgabe geboten, die ihn völlig in
Beſchlag nimmt. Von privater Seite wird ihm ein großes Kapital
zur Verfügung geſtellt, damit er auf einer Reiſe nach China
Sammlungen für das Röhsſche Kunſtgewerbemuſeum in Göteborg
erwerben kann. Aber vorher muß er noch eine Studienreiſe durch
Europa unternehmen, um ſich mit den Sammlungen chineſiſcher
Kunſt in den Muſeen der Hauptſtädte vertraut zu machen. Im
Herbſt reiſt er durch Sibirien, beſucht die Schlachtfelder bei Muk⸗
den und läßt ſich bereits im September in Peking nieder, von wo
aus er Ausflüge in die Mongolei und in das Innere von China
unternimmt.
Auf dieſer Reiſe erhielt er von der ethnographiſchen Abtei⸗
lung des Reichsmuſeums in Stockholm eine bedeutende Geld-
fumme mit der Aufforderung, alles, was für dieſes Muſeum von
Intereſſe ſei, zu ſammeln. Im Jahresbericht des Ethnographiſchen
Muſeums von 1916 wird die Zahl der von Wulff geſammelten
Gegenſtände mit 956 angegeben. Dieſe Sammlung gibt ein voll-
ſtändiges Bild von dem Leben in China, nicht nur vor der Revo⸗
lution, ſondern ſeit den älteſten Zeiten.
Wulffs Aufenthalt in China war reich an Abenteuern; am
häufigſten erzählte er von einer Hilfsez edition, an der er im
Juni 1913 teilnahm, um einen Freund zu retten, den ſchottiſchen
Telegraphiſten Grant, der von mongoliſchen Räubern ge⸗
fangengenommen und fortgeführt worden war. Die Expedition
= erreichte das Räuberlager; aber gerade als ſie erfuhren, daß der
Geſuchte längſt ermordet ſei, wurden ſie ſelbſt gefangengenommen
und ſollten hingerichtet werden. Nach zweitägiger Wartezeit wurde
dem Häuptling des Stammes zufällig mitgeteilt, daß ſich unter
den zum Tode Verurteilten ein Sohn des Direktors Henningſen
von der „Großen Nordiſchen“ befinde. Sobald der Häuptling
dies hörte, wurde das Todesurteil augenblicklich aufgehoben, da
er einmal weitgehende Gaſtfreundſchaft in einer der Stationen
der Großen Nordiſchen Telegraphengeſellſchaft genoſſen hatte.
Die Weißen wurden unter Bewachung weggeſchickt, während man
ihre chineſiſchen Begleiter zurückbehielt und köpfte.
Von China reiſte Wulff 1914 nach Japan, wo er ſich nicht nur
damit begnügte, ſich ein Bild von dem Leben und Treiben der
modernen Japaner zu verſchaffen, ſondern auch nach der Inſel
” 22*
340 Vierzehntes Kapitel.
Veſſo ging, um das ausſterbende Volk der Aino zu studies
Hier gelang es ihm, außerordentlich reichhaltigen Stoff zu lang
meln, nicht nur in Form von Muſeumsgegenſtänden, ſondern auch
in Bildern und Notizen, aus denen leider nie ein Buch entſtanden
ilt. Wulff iſt ſicher der letzte Forſcher geweſen, der das Ainovolk
zu einer Zeit ſtudiert hat, wo noch etwas auszurichten war; r
ſelber pflegte zu betonen, daß der, der nach ihm als Sammler
käme, ohne Reſultate abziehen würde.
Dann reiſte er über Sumatra nach Java, wo er ebenfalls
Sammlungen vornahm, namentlich auf den beiden kleinen Inſelnn
Bali und Lombok, auf denen er ſich bei Ausbruch des Weltkrieges
befand. Anfang Oktober trat er auf dem ſchwediſchen Dampfer en
„Nipon“ die Heimreiſe an.
Im Frühjahr 1916 meldete er ſich als Teilnehmer für die
zweite Thule⸗Expedition nach Nordgrönland; auf dieſer Expe
dition hat er der Wiſſenſchaft das größte Opfer gebracht, das Ar
ein Mann bringen kann.
ge
Der Brief, den Wulff mir durch Koch ſandte, war eine aus- i i
führliche Darlegung feines letzten Willens und betraf teils feine
botaniſchen Reſultate, teils ſein Eigentum in Stockholm.
Er beginnt ſo:
n
„Der beſtändige Hunger und die Strapazen des Sommers und Be
der beinahe vollſtändige Mangel an Nahrung in den letzten Tagen
haben meine Körperkräfte in ſolchem Grade vermindert, daß ich
mit Aufbietung aller meiner Kräfte nicht imſtande bin, Koch und
den Eskimos noch länger zu folgen. Da ihre Rettung davon ab⸗
hängt, daß ſie jo raſch wie möglich beſſere Jagdgebiete erreichen,
bin ich nur eine Laſt für die Geſellſchaft, wenn ich verſuche, mich SR
weiterzuſchleppen. Mit vollkommener Seelenruhe ſage ich daher
Lebewohl und danke Euch für gute Kameradſchaft während der
Expedition, und ich hoffe, daß Ihr Euch ſelber und unſere Reſul⸗
tate retten werdet.“
Mit tiefer Bewegung las ich dieſe reſignierten Abſchieds⸗ 8 å
worte, die in ihrer Schlichtheit die Feierlichkeit des großen Ab⸗
ſchluſſes atmen. Wahrlich, das war der offene und ruhige Blick
—
Ein Gedenkblatt. : 341
des Mannes, der dem Tode entgegenſieht! Bis zuletzt war er da⸗
mit beſchäftigt, das Beſtmögliche aus ſeiner Arbeit heraus⸗
zuholen. Ein heiliges Feuer hat die Beobachtungsgabe des wan⸗
kenden, erſchöpften Wanderers friſch und empfänglich für alle
Eindrücke erhalten; mit Fingern, die ſteif vor Kälte waren, hat er
bis zum allerletzten Tag niedergeſchrieben, was von botaniſchem
Intereſſe war. Und als er ſelbſt nicht mehr ſchreiben kann, diktiert
er beim Abſchied eine kurze Überſicht über die Vegetations-
verhältniſſe des Gebietes, das Zeuge ſeines letzten, hoffnungsloſen
Kampfes um das Leben war. Es iſt als Zuſatz zu ſeinen Tage⸗
buchaufzeichnungen niedergeſchrieben und lautet wie folgt:
: Sämtliche hier erwähnten Pflanzenfundſtellen liegen auf 79° nördlicher
Breite zwiſchen Kap Agaſſiz und 15—20 Kilometer weſtlich davon. Die Vege⸗
tation iſt ungewöhnlich reich und üppig geweſen, von einem ganz andern, luxu⸗
riöſen Typus als an der Nordküſte Grönlands. Mehrere von den aufgeführten
Arten haben ſicherlich hier ihre Nordgrenze. Ich habe weiter nördlich keine
Spur von ihnen geſehen. Eine genaue Unterſuchung der Vegetation zwiſchen
Kap Agaſſiz und Etah vom Juli bis in die erſte Hälfte des Auguſt würde ſicher
ſehr gute botaniſche Ergebniſſe liefern. In meinem ermatteten Zuſtand kann ich
nicht mehr tun.
Hier bedarf es keines Kommentars. Wulff hat in der Art,
wie er Abſchied vom Leben nahm, ſelber ſeinen ſchlichten und kurz
gefaßten Nekrolog geſchrieben, der im Verein mit ſeinen aus⸗
gezeichneten botaniſchen Arbeiten ſeinen Namen bewahren
wird, ſolange ein Intereſſe für die Löſung wiſſenſchaftlicher Auf-
gaben beſteht. Wir alle wollen mit tiefer Wehmut die Fahne
fſenken vor dieſem ſchwediſchen Forſcher, der den Tod auf der
weißen Walſtatt fand, arbeitend, bis er niederbrach.
Harrigans Bericht.
Faoolgender Bericht, den Harrigan nach ſeiner Ankunft in Etah
erſtattete und den ich ſofort nach ſeinem Diktat niederſchrieb,
ſoll hier als Ergänzung zu Kochs Bericht wiedergegeben werden:
An dem Tage, als Wulff es aufgab und ſich ein Lager ſuchte,
o er ſich zum Sterben niederlegen könnte, waren wir alle er⸗
öpft und kraftlos. Wir waren ſehr abgemagert und litten an
Blutarmut. Dies gab ſich deutlich kund an unſern Adern, die faſt
unſichtbar geworden waren, und namentlich durch Schwindel-
342 Vierzehntes Kapitel.
gefühl; ferner fiel es uns ſchwer, uns warm zu halten, namentlich
an Händen und Füßen.
Wären wir auf dem Inlandeis oder auf dem Meer geweſen,
wo wir einen Schlitten gehabt hätten, ſo würden wir verſucht
haben, Wulff zu ziehen, ſo wie wir es ab und zu in den letzten
Tagen auf dem Inlandeis getan hatten; aber hier in dieſem
ſchneefreien Schluchtenlande hätte man ihn höchſtens tragen
können, wozu niemand von uns die Kräfte hatte, oder man hätte
bei ihm bleiben können; aber da im weiten Umkreis kein Wild
war, ſo war auch dies unmöglich. Es hätte für uns ſelber den
Tod bedeutet, ohne daß wir unſerm ſterbenden Kameraden
hätten helfen können. |
Und dann, Wulff wollte nichts eſſen, jedenfalls kein Haſen⸗
fleiſch; von unſerer letzten Beute aß er nur einen Biſſen Haſen⸗
leber, obwohl er ſich am Fleiſch hätte ſatt eſſen können. Darum
konnten wir nichts für ihn tun.
Ich glaube, er war krank, denn in den letzten Nächten ſtöhnte
er oft im Schlaf.
Es blieb nichts anderes übrig, als ihn zurückzulaſſen, ſo wie
er es ſelbſt begehrte. Fanden wir Renntiere an einem Punkt, von
wo aus wir zurückkehren konnten, während er noch am Leben war,
ſo konnten wir ihn vielleicht noch retten. Aber das war jetzt die
einzige Möglichkeit.
Wir pflückten Gras und Heidekraut und bereiteten ihm ein
Lager, ſo weich und warm wir es vermochten; hier legte er ſich
zur Ruhe, ſobald wir fertig waren.
Als wir aufſtanden, um weiterzugehen, nickte er uns lächelnd
zum Abſchied zu. Dieſes Lächeln des armen Mannes, der ſich zum
Sterben hingelegt hatte, war mein letzter Eindruck von Wulff.
Ich glaube, daß er ſehr raſch entſchlafen iſt. ;
* *
*
Inukitſog oder Harrigan, wie wir ihn nannten, war ſicherlich
derjenige, der bis zuletzt durch ſeine Jagd das meiſte tat, Wulff
am Leben zu erhalten. Es ift deshalb von Intereſſe, die Charak⸗
teriſtik zu leſen, die Wulff ſelbſt von dieſem Mann auf einem
Blatt ſeines Tagebuchs gibt, das ohne Zuſammenhang mit den
gewöhnlichen Schilderungen der einzelnen Tage iſt:
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Ein Gedenkblatt. 343
Harrigan, ein ftiller, ſchweigſamer Mann, der ſich jeiner
eigenen Kraft, ſeiner Ausdauer und ſeiner Fähigkeit, ſich in
jeder Lage zurechtzufinden, wohlbewußt iſt, ohne es prahleriſch
zu zeigen. Ein geſchmeidiger, ſchöner, muskulöſer Körper, der mit
der ganzen, leichten, eleganten Harmonie des Sportsmannes und
des Wilden arbeitet. Ein ausgeprägter Sinn für Humor, der ihm
über alle ſchwierigen, widerwärtigen Situationen hinweghilft.
Ein guter Vater für ſein Hundegeſpann und der reine Künſtler,
wenn es gilt, den Weg durch die ſchlimmſten Eispreſſungen zu
finden, ein Pfadfinder im Nebel mit dem ſpontanen kompaß⸗
artigen Ortsſinn des Wilden und ein fabelhaft geſchickter See⸗
hundjäger auf dem Eis mit ſeinem Schutzſegel. Mit einem Wort,
ein feines, wohltrainiertes Exemplar ſeines Stammes, und
das will viel ſagen unter den Polareskimos, die alle ohne Aus⸗
nahmen abgehärtete, geiſtesgegenwärtige Jäger ohne Fehl ſind.
0 * *
*
1 Wenn eine Kataſtrophe wie der Tod Dr. Wulffs eintritt, ilt
es natürlich, daß man ſich im Gefühl der Verantwortung die
Frage vorlegt, ob man hätte andere Anordnungen treffen können.
Aber ſelbſt jetzt, nach ſo langer Zeit, kann ich die Sache in keinem
andern Lichte ſehen, als daß unſer Vorgehen das einzig richtige
war. Koch hat in ſeinem Bericht die Maßnahmen, die er traf, als
lie den Hilfsſchlitten entgegenwanderten, dargelegt in einer Schil⸗
derung, die in ihrer nüchternen Kürze ergreifend iſt. Es iſt da⸗
her nur natürlich, daß auch ich zu dem, was bereits über meine
und Ajakos Reiſe geſagt worden iſt, noch ein paar Worte beifüge.
Es iſt geſchildert, in welchem Zuſtand wir das Land erreichten und
wie notwendig es war, daß wir ſo raſch wie möglich in Verbin⸗
dung mit Menſchen kämen. Ich wählte damals ſelbſt mit Ajako
die gefährlichſte und ſchwierigſte Aufgabe, den längſten Weg mit
der kürzeſt möglichen Raſt zurückzulegen. Und während die andern
ſo langſam vorrücken konnten, wie ihre Kräfte es erlaubten, immer
die wildreichſten Gegenden aufſuchend, war es unſere Aufgabe,
ohne Rückſicht auf Wild in Gewaltmärſchen vorzurücken.
Ich hatte Wulff und Koch in Ausſicht geſtellt, eine langſame
Reiſe mit kurzen Tagemärſchen würde ihnen das, was ſie an Wild
brauchten, geben. Dies traf auch ein mit Ausnahme des einen
Tages, an dem Wulff aufgab.
344 Vierzehntes Kapitel.
Ein einfacher Vergleich gibt ein Bild von den verſchiedenen
Reiſebedingungen, die den beiden Abteilungen geboten waren.
Ajako und ich brauchten von Kap Agaſſiz bis zu dem großen Cis=
bergſee, wo die Erſatzſchlitten erwartet werden ſollten, etwas über
zweimal 24 Stunden, und wir erbeuteten auf dieſer ganzen Strecke
nur einen Haſen. Die andern dagegen brauchten ungefähr 12
Tage, um bis zu dem gleichen Punkt zu gelangen, und erlegten 1
24 Haſen, 6 Enten und 2 Renntiere.
Dr. Wulff hatte ſich auf der ganzen Expedition als raſcher i
und ausdauernder Fußgänger erwieſen. Auf dem Inlandeis
überwand er trotz der ſehr kleinen Pemmikan⸗ und Fleiſchportionen
alle Schwierigkeiten vortrefflich. Erſt als wir ausſchließlich von
Hundefleiſch leben mußten, fiel er zufammen. Und doch bin ich É
davon überzeugt, daß er auch das überwunden hätte, wenn nicht
die Ermattung und Erſchöpfung, die ſich infolge des Überſchreitens
der vielen Gletſcherflüſſe einſtellten, ihm ſeine letzte Energie ge⸗
raubt hätten. Als Blutarmut und Herzſchmerzen hinzukamen, brach
er zuſammen. Erſt dann legte er ſich zur Ruhe, um dem Tod
entgegenzugehen, dem zu entfliehen er nicht länger die Kraft hatte.
Es it meine Überzeugung, daß Wulffs Tod leicht geweſen ift;
denn er hat ſich in einem Zuſtand körperlicher Erſchöpfung be⸗
funden, in dem der Übergang vom Leben zum Tod nicht groß
iſt und in dem der Tod zu einem kommt wie der Schlaf, nach
dem man ſich mehr als nach irgend etwas anderm ſehnt und der så
Heinen beinahe unmerklich aus dem Leben hinausträgt. Seine
härteſten Tage hat Wulff mit uns zuſammen in der Zeit durchlebt, =
die er in den unten wiedergegebenen Tagebuchblättern ſchildert.
Unſere Lebensenergie war nach der Ernährung der letzten paar
Monate auf einem ſo tiefen Punkt angelangt, daß kein weiter
Weg bis zu dem Punkt war, an dem man meint, es ſei im Grunde
alles gleichgültig; auch der Wille erfordert etwas materielle Nah⸗
rung, ſelbſt wenn man eine Zeitlang ſeinen Körper zwingen
kann, Wunder zu verrichten, nur weil man will und ſoll. So⸗
lange man dazu imſtande iſt, iſt es ganz gleichgültig, was man
zu eſſen bekommt, wenn man nur fühlt, daß man dadurch inſtand
geſetzt wird, ſich nach den kurzen Raſten wieder zu erheben.
Man muß ſeinen Geiſt allen Überlegungen, welcher Art ſie
auch ſeien, verſchließen und muß verſuchen, ſeine Gedanken zu =
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Ein Gedenkblatt. 345
zwingen, daß ſie ſich nicht mit unerträglichen Eßphantaſien be-
ſchäftigen. Man muß in einer Weiſe vorwärts ſchauen, daß man
die Hoffnungsloſigkeit des Augenblicks vergißt. Aber Wulff hing
nicht nur ſeinen Eßphantaſien nach, er ſtellte auch in ſeinem Tage⸗
buch Betrachtungen darüber an, wie erſchöpft er ſei und daß
dieſe letzten Wanderungen nach bewohnten Gegenden ſchlimmer
ſeien als der Tod. Gedanken dieſer Art führen nur zu einem Bruch
des Willens und zu einem erſchlaffenden Sichſelbſtaufgeben.
Man findet dann, daß man nur eins im Ernſt wünſcht, näm⸗
lich den Kampf aufgeben und in Frieden ſterben zu dürfen. Denn
jedesmal, wenn man ſich erhebt, um weiterzugehen, kommen alle
Leiden mit erhöhter Macht über einen, und man meint, das
einzig Befreiende würde fein, wenn man ſich, ohne den Um⸗
gebungen einen Gedanken zu ſchenken, niederlegen und Frieden in
einem langen, langen Schlaf ſuchen dürfte. Das Leben unter
andern Menſchen erſcheint einem fo unendlich fern, daß es im
Augenblick ganz gleichgültig iſt; der Tod hat ſeinen Stachel ver⸗
loren, und man nimmt ihn als eine willkommene Notwendigkeit
hin. Hunger fühlt man nicht mehr; der gehört einer Zeit an, in
der man friſch war und Kräfte hatte, Widerſtand zu leiſten; man
fühlt nur eine Mattigkeit, die ſo unermeßlich iſt, daß erſt Ruhe
über einen kommt, wenn man ſich endlich zu dem letzten großen
Schlaf zurechtgelegt hat.
Dr. Wulff befand ſich in dieſem Zuſtand, als er nach einer
ungenügenden Raſt den Kampf ums Leben wieder aufnehmen
ſollte, geplagt von körperlichen Schmerzen, die feinen Willen
lähmten. Aus ſeinen letzten Tagebuchaufzeichnungen erhalten wir
ein ergreifendes Bild des Kampfes, den er durchfochten hat, bis
et der Tod der Stärkere blieb.
Auszug aus Dr. Wulffs letztem Tagebuch.
Lager XIV, Gletſcherflußtal. 670 Meter über dem Meer.
21. Auguſt. Der letzte Haferbrei, die vier letzten Keks und das
letzte Stück Pemmikan werden zum Frühſtück gekocht. Ein Schlitten,
Schneereifen, Schneeſchuhe, ein Paar Reſerveſtiefel, Axt, Säge, alles
was wir irgend entbehren können, werden zurückgelaſſen, denn wir
haben jetzt nur noch fünf Hunde, mit denen wir im Laufe des
Tages Land bei Kap Agaſſiz zu erreichen hoffen. Es wird
346 Vierzehntes Kapitel.
heute ein recht ſpannender Tagemarſch. Erreichen wir das Land
heute oder nicht? Und treffen wir ſofort Renntiere oder Haſen —
oder ſollen wir uns noch einen Tag oder mehrere an den noch
übrigen ausgemergelten Hunden delektieren?
Eis mit ſehr wenig, gutem hartem Schnee. Eine Anzahl
kleiner, gefrorener Gletſcherbäche und kleine unſchädliche Spalten.
Peabodybai klar im Norden unter uns, eisbedeckt und mit wenig
offenem Waſſer rings um die Eisberge. Alle Mann totmüde,
erſchöpft. Die Hunde mit Kamikern aus unſern Handſchuhen und
aus einem Handtuch, denn das Eis iſt oft ſcharfkantig und mit
Nadelbildung. Bekommen endlich 1,20 Uhr nachmittags Land
gerade im Südweſten vor uns in Sicht. — Irgendein Kap an der
Nordküſte des Etahlandes. Hurra! Gleich darauf Nebel und
ſtrömender Regen. Schlugen 2½ Uhr das Zelt auf.
Lager XV, an einem kleinen Gletſcherfluß.
22. Auguſt. Nach Marſch von 3½ Stunden 12 Kilometer.
Kochten etwas Tee, wovon wir noch ein paar Fingerſpitzen voll
haben. Aber aller Proviant iſt zu Ende. Doch all right, denn
jetzt ſind wir „on the safe side“ des Inlandeiſes und aller ernſten
Schwierigkeiten und wir haben ja noch 5 Hunde zum Eſſen. Abends
wird ein Hund erwürgt. — Großes Hundegericht. Ich laſſe das
Fleiſch erſt kalt werden, es iſt beſſer ſo. Regen, Regen!
* sk
*
½ Uhr früh Mahlzeit von Hundefleiſch. Graues, feuchtes
unbehagliches Wetter. Plötzlich Eisgang im Fluß, der unter Ge⸗
töſe mehrere Fuß anſtieg — deutlich ein Eisſee, der einen Ablauf
gefunden hat. Das Zelt ſtand Gott ſei Dank außerhalb der
Waſſermaſſen.
Aufbruch 5½ Uhr vormittags.
Ein Krabbentaucher erſchien geſtern, er flog von Oſten nach
dem Inlandeis. Heute ſah ich einen in einem Gletſcherfluß
ſchwimmen. Ich bin andauernd erſchöpft, äußerſt abgemagert
und blutarm. Habe ſeit zwei Wochen einen ſchweren Karbunkel
am Geſäß. Beläſtigt mich ſehr beim Marſch und im Schlaf. Be⸗
komme jetzt einen neuen am Oberſchenkel. Das Hundefleiſch ØM
kraftlos, zäh, aber die Lebensrettung. Der Wegmeſſer wird weg ⸗ å
58 7 .
AD
Ein Gedenkblatt. 347
geworfen. Vier Mann ſchieben den Schlitten, die Hunde werden
vorwärtsgeſchleppt.
. . Lager XVII.
Alle ſehr müde. Ich total fertig. Leide an Blutmangel im
Hirn. Gehe mit beſtändigem Schwindelgefühl und Schmerzen
im Magen. Heute ein Hund geſchlachtet. Bloß noch ein Hund
übrig. Kautabak das einzige Stimulans. Drei Eßlöffel Tee
find noch da. Anaufhörlich werden Gletſcherflüſſe durchwatet —
kalt und teufliſch. Dämmerung macht ſich um Mitternacht be⸗
merkbar. Die Sonne jetzt mitternachts unter dem Horizont.
i Lager XVIII, an einem azurblauen Eisſee.
Durchwateten mehrere Gletſcherflüſſe. Den ganzen Tag Nebel,
Regen und Schnee. Kamiker violettrot an den Seiten, wahr⸗
ſcheinlich von unſichtbarer Sphaerella. Lagern wegen dichten
Nebels. Große Eisblöcke begrenzen den See, der Zulauf durch
einen Eiscanon hat. Todmüde. Faſt alle unſere Zeltfelle weg⸗
geworfen. Alles, Kleidung und Zelt durchnäßt. Regneriſch.
Hundefleiſch und Hundebouillon — unſere einzige Rettung. Land
muß jetzt in allernächſter Nähe ſein. Wir Es todmüde und total
erſchöpft.
24. Auguſt. Aufbruch vom Kader XVIII 9% vormittags.
Land in 5 Kilometer Abſtand. Am Ziel. Große Kryokonitlöcher.
Abſtieg ſehr ſteil. Der letzte Hund wird geſchlachtet. Mehrere
Gletſcherflüſſe werden überſchritten. Todmüde, halb bewußtlos.
Erreichen die Gneisklippen 7½ Uhr nachmittags nach genau drei
Wochen Marſch von 400 Kilometer über das Inlandeis. Haſen⸗
und Renntierſpuren.
Lager XIX, Rand des Inlandeiſes 8 Uhr nachmittags.
Windſtille, Nebel, Staubregen. Legen uns auf Bergterraſſen
ſchlafen. Kalt, kein Zelt kann aufgeſchlagen werden. Die drei
Eskimos ſofort auf die Jagd. Unermüdlich. Die ganze Nacht
veritable Kanonenſchüſſe vom Rand des Eiſes, der in einen kleinen
See hinabgeht. L. leucopterus. Die Vegetation auf den Berg⸗
terraſſen herbſtlich. 5 Grad während der Nacht. Rauhreif.
Salix arctica, ganz hellgelb und in Frucht. Luzula confusa,
Saxifraga oppositifolia, cernua, nivalis, tricuspidata, die
letztere üppig, noch in Blüte, blutrot. Papaver, Draba.
348 Vierzehntes Kapitel.
Ajako 6 Uhr vormittags zurück mit fünf Haſen. Mahlzeit
von herrlicher Leber, Herz, Fleiſch und ſtarker Bouillon. Aber ich
habe die Fleiſchkoſt und das ganze gekochte Fleiſch vom letzten
Jahr unglaublich ſatt. Denke nur an Erbſen, Pökelfleiſch, Pfann⸗
kuchen, Kompott, Brot, Obſt, Branntwein, Kaffee, Schokolade.
Eſſe doch aus allen Kräften, um wieder Lebensluſt zu bekommen
und meine Schwäche zu überwinden. Nachts hat ſich Neueis auf
dem Binnenſee gebildet. Fühle mich andauernd ſehr entkräftet. 5
Cassiope, Stellaria longipes, Aspidium fragrans.
Harrigan zwei weitere Haſen, alle drei junge, mit grauen
Köpfen. Einer wurde roh gegeſſen, zwei gekocht. Potentilla nivea,
rubricaulis, emarginata, Dryas breitblättrig, glatt, octopetala-
ähnlich, typiſche integrikolia und var. canescens. Außerſt a
wöhnlich Myrtillus uliginosa, zerjtreute, ausgedehnte Matten.
Salix arctica mit breiten ovalen und ſchmalen, lanzettförmigen
Blättern, ſehr variabel. Pedicularis hirsuta. :
Knud und Ajako brechen um 6 Uhr abends zu Fuß ach
Etah auf (etwa 200 Kilometer). Wählen den ſchnellſten DE 2
über Land, um uns Hilfsihlitten und Proviant zu fjenden.
Myrtillus uliginosa, Pyrola uniflora, Wahlbergella bob,
nicht triflora).
Trinke zum Abendeſſen warmes Waſſer.
26. Auguſt. Koch war während der Nacht ein paar Stunden
auf einem Ausflug ins Land. Hatte vergebens einen Haſen ge⸗
jagt. Ich ſchlaflos, von einem hartnäckigen Karbunkel am Schen⸗
kel geplagt. Klare, kalte Nacht. Eſſen morgens die letzten Reſte
des letzten Hundes. Harrigan und der Bootsmann kommen um
2 Uhr nachmittags nach zwei Tagen vergeblicher Jagd wieder. :
Haben einen Hajen erbeutet, den fie roh gegeſſen haben. Kein
Renntier. Wir müſſen ſogleich nach der Marſhallbai aufbrechen.
Werfen den Theodoliten, zwei Kameras, Verbandſtoffe,
Kleider, alles Entbehrliche weg. Wieder ſteht uns die allerernſteſte
Flucht um unſer Leben bevor. An das Sammeln von Pflanzen
zu denken jetzt unmöglich. Kommen wir mit dem Leben davon,
iſt es großartig. Wir vier Mann haben jetzt abſolut nichts zu
eſſen und entſchieden ſchlechte Jagdausſichten. Alle kraftlos, al
guten Muts. Dieſe Hilfloſigkeit, während die Kräfte ſchwinden,
iſt heimtückiſch. Ich bin jetzt nur noch ein Skelett und werde von
CD i
Ein Gedentblatt. 349
F chaten geſchüttelt. 5½ Uhr nachmittags ſind wir zum Auf⸗
uch nach Weſten bereit. Alles wird zurückgelaſſen. Ich habe
r meinen Renntierpelz und ein Paar Extraſtiefel. Pflanzen,
Filme und Notizbücher liegen am Rande des Inlandeiſes, unter
einem Stein oberhalb der Terraſſe, wo wir die letzten zwei Nächte
chlafen haben. Nehmen nicht einmal Zelt oder Primus mit,
r Gewehr, da todmüde. Dies wird ein Marſch dem Tod ent⸗
gen, wenn kein Wunder geſchieht. Gewehr und Patronen werden
genommen. ;
Harrigan ſchoß einen kleinen Haſen. Lesquerella, Hes-
peris, Cerastium alpinum, Kobresia, C. nard. Eriophorum
polystachyum, Poa cenisia, Trisetum, Hierochloa, Luzula
nivalis, Saxifraga oppositifolia in Blüte, Alsine verna, Silene
Knud, der am 25. Auguſt abends wegging, kann möglicher⸗
weiſe in ſechs bis ſieben Tagen in Etah ſein; dann können uns die
Hilfsſchlitten am Rande des Inlandeiſes um den 4. September
erreichen, und wir könnten am 8. September in Etah ſein. Ge⸗
ttet aus dem Kampf mit dem Hungertod, der ſeit Mitte Mai
dauert hat. Grauenhafte Erinnerung, die dem Leben für immer
te düſtere Farbe gibt. Wenn die Gleichgültigkeit des Todes dem
Leben gegenüber ſich einſtellt und die Mattigkeit überhandnimmt,
verſchwinden ſogar die Eßphantaſien, und die Gedanken beſchäftigen
ich mit denen zu Hauſe und dem ſeltſamen Fazit des Lebens.
Recht guter Schlaf trotz des Karbunkels. Aufbruch 12 Uhr
mittags. Graukalter Nebel. Am Rand des Inlandeiſes entlang.
Erlegten vor 3 Uhr nachmittags drei Haſen, kochten ab. Dann
weiter nach Weſten 7 Uhr nachmittags. Blockterrain. Drumlin⸗
indſchaft. Denke zumeiſt an einen Sanatoriumsaufenthalt für
meinen armen, erſchöpften Körper und meine leidende Seele.
Schleppen uns zwei Stunden in kaltem Nebel über ſchweres,
ſteiniges Felſengelände bis 9 Uhr abends vorwärts. Bekommen
abends noch einen kleinen, grauköpfigen, jungen Segen, 1,4 Grad
unter Null.
Nachtlager auf Moos zwiſchen Steinblöden an einem kleinen
Randſee am Inlandeis, dem wir folgen. Wäre ich nur in einem
Sanatorium! Dies iſt ſchlimmer als der Tod.
Tagemärſche von etwa 6 Kilometer. Heute 5 Kilometer.
350 Vierzehntes Kapitel.
27. Auguſt. Da wir nichts anderes mitgenommen haben als
zwei Gewehre, drei Decken, meinen Pelz, fünf Zündholzſchachteln
und ein Kochgefäß, iſt unſere Ausrüſtung für eine zwei⸗ bis drei⸗
wöchige Herbſtkampagne äußerſt einfach und „eskimoiſch“. Legen
uns um 11 Uhr auf einem Moosabhang ſchlafen. Aufſteigender
Nebel, 0,5 Grad unter Null und etwas Graupelſchnee. Die
Eskimos, die energiſchen Wilden, wieder nach Haſen, kehren zurück.
4 Uhr nachmittags. Die Eingeweide werden wie immer roh
gegeſſen, das Blut wird in die Suppe geſchüttet und dann ein
neues Haſengericht. Herrlich, 4 Haſen an einem Tag für 4 Mann!
— Das bedeutet das Leben für uns. Die Suppe wird aus dem
Kochkeſſel der Reihe nach getrunken, da wir unſere Taſſen zurück⸗
gelaſſen haben. Meine Kräfte, die faſt zu Ende waren, kehren
zurück, und ich hoffe, das Schwindelgefühl in Kopf und Herz zu
überwinden. Aber die letzten Tage bin ich dem Tode näher ge⸗
weſen als dem Leben. Kann mir wieder ein wenig Kautabak
geſtatten, der vorher Gift für meinen leeren Magen war. Hoffe,
daß die Diarrhöe von dem Hundefleiſch ſich jetzt gibt. Der junge
Haſe ſchmeckt ausgezeichnet, wie junges Huhn. Wir machen Feuer
mit Cassiope und noch beſſer mit alten trockenen Zweigen der
Salix arctica, fingerdick. Vegetation für dieſes Jahr zu
Ende. Alles gelb und braun und zur Winterruhe bereit. Früchte
von Cassiope, Saxifraga oppositifolia, tricuspidata, Dryas,
Potentilla, Draba-Arten, Wahlbergella etc. — Wahlbergella
affinis und triflora.
Eine Lumme, Gänſe, Seeſchwalben, Schneeſperlinge in Scharen.
Mitternachtsdämmerung. Gneishügel, Renntierſpuren.
Der Bootsmann in der Nacht wieder einen Haſen. Kalt.
Nebel. Schneefall. Diarrhöe. Elend. Aufbruch 1 Uhr nachmittags
bei Schneetreiben. Colpodium, Cystopteris (gewöhnlich), Lyco-
podium Selago, Rhododendron, Grauzeiſige in Mengen. See⸗
ſchwalben, Falken. Reiches Tierleben und viel Plankton in ver⸗
ſchiedenen kleinen Seen. Saxifraga cernua fußhoch mit End⸗
blättern. Myrtillus uliginosa, blutrot, ſehr gewöhnlich, immer
ohne Beeren. Juncus biglumis, Epilobium latifolia, ohne Frucht,
Hesperis (gewöhnlich) in Frucht, Oxyria, Draba nivalis, hirta,
1
Cardamine bellidifolia. Der Bootsmann einen jungen Hajen. :
4% nachmittags. Schneegeſtöber, Nebel. Teilten die Eingeweide 1
Ein Gedenkblatt. 351
ſofort und eſſen ſie roh, Körper warm. Ja, der ganze Haſe
wurde in vier Stücke geteilt, die roh gegeſſen wurden. Anſtren⸗
gender Marſch bis 12½ Uhr früh, ohne Wild zu finden. Ich halb⸗
tot, fand aber Woodsia.
29. Auguſt. Legte mich zur Ruhe um 7 Uhr nachmittags, denn
ich will nicht hemmend wirken auf die Bewegungsfreiheit meiner
Kameraden, von der ihre Lebensrettung abhängt.
* *
*.
So ſtarb Dr. Wulff, indem er ſich ſelbſt für die Reſultate, von
denen er ſoviel ſprach, opferte. Oft hatte er während des letzten
Teils der Reiſe hervorgehoben, daß die Sammlungen, die wir
unter allen Wechſelfällen mit uns geführt hatten, allmählich ſo
teuer erkauft wären, daß ſie unſerm eigenen Wohlergehen voran⸗
zuſtellen ſeien. Daher traf er in entſcheidender Stunde mit großer
Ruhe ſeine Anordnungen und nahm Abſchied von den Menſchen,
die ſeinem Herzen am nächſten ſtanden. Der Brief an ſeine junge
Tochter war ein letztes Liebeszeichen eines vom Tode gezeich⸗
neten Vaters, beſtimmt für die, die er als Höchſtes in ſeinem
Leben geſchätzt hatte, Worte, ſtolz und zart, die hier nicht wieder⸗
gegeben werden können. Aber den Sohnesgruß von der Schwelle
des Todes an die beiden alten Eltern, die vergebens auf ſeine
Heimkehr warten ſollten, geben wir hier mit ihrer Erlaubnis
wieder als das ſchönſte Denkmal, das man einem ſterbenden
Mann ſetzen kann:
Mit ſteifgefrorenen Fingern nur einen letzten Gruß, ehe ich
mich, erſchöpft von den Mühen der Reiſe, zur Ruhe lege. Ich
erwarte den Tod mit vollkommener Gemütsruhe und habe Frie⸗
den in meinem Herzen. Bis zuletzt habe ich ehrlich verſucht, unſerm
Namen Ehre zu machen, und ich hoffe, daß die Früchte meiner
Arbeit gerettet werden. — Dank für alles Gute, was Ihr mir
ſeit meiner früheſten Kindheit mitgegeben habt als Gabe für die
Lebenswanderung.“
Fünfzehntes Kapitel.
Heim nach Thule.
D. erſten drei Wochen, die wir in Etah verbrachten, waren g
wir ausſchließlich damit beſchäftigt, ſo raſch wie möglich
wieder zu Kräften zu kommen. Als wir unſere Kleider ablegten,
war es unheimlich zu ſehen, wie ſtark der Hunger auf unſern
Körper gewirkt hatte. Wir waren jo abgemagert, daß namen
lich Rippen und Bruſtkorb ſcharf unter der Haut hervortraten.
Aber trotzdem wir ſo weit heruntergekommen waren, wie es wohl
überhaupt möglich war, wenn wir mit dem Leben davonkommen gg
ſollten, war es doch erſtaunlich, wie raj wir uns wieder er⸗
holten. Es war, als ob unſer ganzer Organismus gereinigt und
erneuert worden wäre, denn nach knapp einem Monat waren wir
in beſſerer Form als je zuvor. Wir konnten alle wieder mit friſchen de
Kräften zugreifen, es gab viel zu tun, und vide Ent:
ſcheidungen waren zu treffen. Wir wußten nun, daß kein Schiff
kommen würde, um uns zu holen, und daß wir daher mit Faſſung
einer neuen Überwinterung entgegenzuſehen hatten, einer Warte⸗
zeit, die bei den Lebensbedingungen, die wir uns verſchaffen konnten,
uns kaum Arbeitsmöglichkeiten von einiger Bedeutung bieten
würde. Wir mußten ſo raſch wie möglich nach Süden, denn es
war uns klar, daß ſich ein längerer Aufenthalt in Etah nicht
durchführen ließ.
Der Herbſtfang war den Eskimos gänzlich mißglückt, und es
wäre unverantwortlich von uns geweſen, mehr als unbedingt not⸗
wendig von dem amerikaniſchen Proviant zu verbrauchen, den
unſere Wirte in Beſitz hatten; ſie würden ihn im Laufe des
Winters ſelber ſehr nötig haben. Schon Ende September war
jeder Tag ein Kampf um das Fleiſch. Es gab wohl eine ganze Br.
Menge Hajen in der Umgebung, und fie wurden auch von uns SØ
Heim nach Thule. | 353
fleißig gejagt. Aber obgleich die Ausbeute gut war, machte es
doch wenig für uns alle aus, denn wir waren im Expeditionshaus
nicht weniger als 28 Hausgenoſſen. Zweimal am Tage ver-
ſammelten wir uns zu einer großen, gemeinſamen Mahlzeit, zu
der jeder Jäger feinen Beitrag gab. Aber obgleich der Wille zu:
geben gut war, ſahen wir doch ein, daß eine Verteilung auf
andere Ernährungsgebiete vorzuziehen ſei.
Die Expedition hatte jedoch noch zwei Aufgaben zu löſen.
Wir waren uns einig, daß wir ſehr ungern den Diſtrikt verlaſſen
würden, ohne getan zu haben, was wir konnten, um Dr. Wulff
zu begraben. Und dann ſtanden ja noch die Sammlungen der
Expedition an der Abſtiegſtelle bei Kap Agaſſiz, und dieſe mußten
fo raſch wie möglich geholt werden, da wir ſonſt riskierten, daß
Bären oder Füchſe die Depots zerſtörten. Niemand von uns
hatte indeſſen für einen ſofortigen Aufbruch die nötige Kleidung,
und außer einigen Ergänzungen konnte in Etah auch nichts
beſchafft werden. Unſere Ausrüſtung mußten wir daher von
den großen Wohnplätzen der Inglefieldbucht beziehen, wo,
wie wir wußten, immer Überfluß an Fellen war, die
wir dringend brauchten. Folgende Anordnungen wurden daher
getroffen: :
Kod follte bis auf weiteres mit ein paar Familien, die nod)
nicht nach Süden zu gehen wünſchten, in Etah bleiben. Alle
andern dagegen ſollten Etah verlaſſen und weiter im Süden
einen Verſuch mit der Herbſtjagd auf Neueis machen, wodurch
die Proviantfrage für die Zurückbleibenden leichter zu löſen war.
Es gab hier noch bedeutende Vorräte an Getreide, Grieß, Mehl,
Erbſen, Gemüſe und Speck, aber das friſche Fleiſch war knapp,
ſolange unſer ſo viele waren.
Mit den nach Süden fahrenden Schlitten ſollte ich über den
Gletſcher nach Neqe gehen, von wo aus ich, ſobald die Eisver⸗
hältniſſe es erlaubten, die Reiſe beſchleunigt nach Thule fort⸗
ſetzen ſollte. Es war hohe Zeit, daß ich jetzt in meiner Station
Anſtalten traf, wie wir uns am beiten für eine neue Überwin-
terung einrichteten. Unmittelbar nach meiner Ankunft ſollte Peter
Freuchen zu Koch hinaufreiſen und mit ihm die Reiſe nach dem
Inglefieldland machen. Ajako und der Bootsmann, die ſich dieſer
Reiſe anſchließen ſollten, mußten vorläufig nach Igdluluarſſuit,
Rasmuſſen. , 23
354 Fünfzehntes Kapitel.
wo ich Kleider, Hunde und andere Ausrüſtung für fie anſchaffen
wollte. Nur ſo glaubten wir die noch zu löſende Aufgabe durch- 3
führen zu können. a
Ein Verſuch, Dr. Wulff ; zu begraben und unſere Sachen vom
Inlandeis abzuholen, war ſchon gemacht worden. Er war ber
mißglückt, obgleich die Aufgabe in den Händen Ajakos ruhte, der
als erſter nach unſerer Ankunft in Etah wieder zu Kräften ee
kommen war. Es galt, die Zeit vor Eintritt der Dunkelheit zu
benutzen; daher hatte ich ein Hundegeſpann für Ajako geliehen,
der ſich mit zwei andern Schlitten aus Etah am 19. September
auf den Weg machte, wobei er denſelben Weg über das Inlandeis |
einſchlug, auf dem wir gekommen waren. Leider kamen die bee
rüchtigten Herbſtſtürme unmittelbar nach ſeiner Abreiſe, und am
27. September erlebten wir alle die Enttäuſchung, ſie zurückkehren
zu ſehen, ohne daß ſie ihr Ziel erreicht hatten. Ajako erzählte,
ſie ſeien oben auf dem Gletſcher eine ganze Woche durch heftige
Schneeſtürme feſtgehalten worden, und da das Hundefutter ver⸗ N
braucht und ihr eigener Proviant verzehrt war, hatten fie ſich ze
Umkehr gezwungen geſehen. Auf dieſer Reiſe waren Ajako und
ſeine Begleiter hauptſächlich mit einem Walroß verproviantiert
geweſen, das er während ſeines Aufenthalts in Etah erlegt hatte.
Für eine neue Reiſe von längerer Dauer ließ ſich nicht mehr ge⸗
nügend Hundefutter beſchaffen. Dies war der Grund, daß wir
uns gezwungen ſahen, Fleiſch aus beſſer verſorgten Gegenden DE
auf der andern Seite des Inlandeiſes zu holen.
Es war Kochs Aufgabe, ſobald die notwendige Ausrüſtung
beſchafft war, nach Norden zu gehen und die beiden obenerwähnten
Aufgaben zu löſen. Bei Igdluluarſſuit und Ulugſſat gelang es =
mir, durch Borg und Kauf im Laufe einer Woche Ajako und den
Bootsmann mit Hunden und Kleidern auszurüſten. Sie machten
ſich ſofort auf den Weg nach Etah, um die Sammlungen vom
Humboldtgletſcher zu holen, den man von hier auf dem Meereis
erreichen konnte. Kochs Kleider waren dagegen noch nicht fertig,
und da es ſich herausſtellte, daß es längere Zeit dauern würde
als urſprünglich berechnet, mit Freuchen in Verbindung zu
kommen, teilte ich Koch mit, er ſolle Ajako und die andern allein
zu den Sammlungen fahren laſſen und ſolle ſelbſt Freuchens An⸗
kunft abwarten. Mit dieſem ſollte er, wenn ſeine eigene Aus⸗
> er. "Hein 5 Thule. ; 355
üftung fertig ſei, nach der Schlucht nordöſtlich von Kap Scott
ahren, um Dr. Wulff zu begraben.
Die Schlitten wurden aus verſchiedenen Gründen aufgehalten,
d als ſie endlich nach Etah kamen, immer noch ohne Freuden
d ohne beſondere Ausrüſtung für Koch, meinte dieſer, das
geslicht ſei jetzt ſchon ſo ſchwach, daß es höchſte Zeit ſei auf⸗
brechen. Reſolut wie immer, entſchloß er ſich, Ajako zu be⸗
ten; infolge ſeiner abgenutzten Kleidung hatte er auf der
ſe in dem kalten Herbſt außerordentlich viel auszuſtehen. Man
CJ
fee Elah-Thuie
z 78 -
70°
Von Etah nach Thule.
erreichte die Gegend um Kap Scott an einem der letzten Tage
s Oktober. Aber es ſtellte ſich leider bald als unmöglich her⸗
aaus, den Ort zu finden, wo man vor beinahe zwei Monaten von
Wulff Abſchied genommen hatte. Viel Schnee bedeckte das da⸗
mals ſchneefreie Land, Schluchten und Steine waren ſo verweht,
daß der Platz unkenntlich war. Dazu kam, daß man infolge des
hwachen Tageslichts keine rechte Überjiht über das Land ge—
nen konnte. Weitere Nachforſchungen mußten daher auf⸗
gegeben werden, und die Expedition beſchränkte ſich darauf, die
Sammlungen bei Kap Agaſſiz zu holen. Dieſe kamen Mitte
| 23*
*
356 Fünfzehntes Kapitel.
November wohlbehalten in Thule an. Meine eigene Reiſe von Etah
nach Thule, die wegen der frühen Jahreszeit auf mancherlei
Schwierigkeiten ſtieß, will ich im folgenden an der Hand e
Tagebuchaufzeichnungen ſchildern.
* *
*
Am 1. Oktober mache ich mich mit den Etahſchlitten über den
jetzt eisbedeckten Fjord nach dem Gletſcher auf. Der Aufbruch
findet bei wütendem Sturm ſtatt; es ſtürmt immer in Etah, wenn
anderswo klarer Himmel und ſchönes Wetter iſt. Der Sturm
und das Schneegeſtöber begleiten uns bis auf das Inlandeis hin⸗
auf, wo wir nach vierzehnſtündiger Fahrt um 3 Uhr morgens
das Zelt aufſchlagen.
Eine ſehr kalte Nacht.
Da ich keinen Schlafſack habe, erwache ich ſchon nach zwei
Stunden mit klappernden Zähnen und treibe zum Aufbruch. Wir
trinken zur Erwärmung ein paar Taſſen Tee und machen uns um
7 Uhr morgens auf den Weg.
Schönes, ruhiges Wetter, ſchwere Bahn, ziemlich viel Schnee
auf dem Gletſcher. Aber wir nehmen uns vor auszuhalten —
und hielten aus trotz ſchlapper Hunde — und kommen ohne
weiteren Schlaf am 3. morgens um 4 Uhr am Wohnplatz Wege
an. Großer Empfang von lauter Frauen. Die Männer waren
am Tage vor unſerer Ankunft auf Renntierjagd nach dem Ingle⸗
fieldland gezogen.
Auf der See lag, ſoweit wir ſehen konnten, Neueis; nur am 1
Waſſer entlang, ein Stück in den Fjord hinein, war eine offene
Rinne.
Wir blieben einen Tag in Neqe und wurden den ganzen Tag
ununterbrochen aufs herzlichſte in allen Häuſern mit köſtlichem
Mattak bewirtet.
Am 5. morgens mußten wir bei dem Berge Naufjartalik
wieder auf das Inlandeis und gelangten über einen lokalen Gletſcher
abends nach Igdluluarſſuit. Hier wohnte Sipſu, der uns auf der
Ausreiſe bis Halls Grab begleitet hatte; der Empfang war hier,
wo wir zu alten Reiſekameraden kamen, nicht minder herzlich.
Man nähte Kleider für uns, man verarbeitete gute Moſchusochſen⸗
felle zu Schlafſäcken, und ſchließlich wurden Kleider für Koch beſtellt.
Heim nad Thule. 357
Schon ein paar Tage ſpäter verſuchte ich dem Ende des Ingle⸗
fieldgolfes näherzukommen und von da aus über das Inlandeis
nach Thule zu gelangen. Aber leider mußte ich umkehren, weil
das Neueis noch nicht trug. Bei dem Wohnplatz war der Herbſt⸗
fang in vollem Gang, und unſere Begleiter aus Etah nahmen
ſofort daran teil. Ich mußte indeſſen die Reiſe beſchleunigen,
* damit Koch und Freuchen ihre Reiſe antreten konnten, ehe die
Tage zu kurz würden; ſchon am 14. trat ich daher mit Harrigan
den Weitermarſch nach Süden an.
Unſer Weg ging hinten um Qana herum über Iterdlag⸗
ſſuag, dann über drei große Seen und einen kleinen Gletſcher, der
nach Kangerdluarſuk hinabführte. Eigentümlicherweiſe kamen wir
hier weit im Lande drin an einem Fluß vorbei, der vom Inland⸗
eis in den mittleren See lief und deſſen Waſſer vollſtändig ſalzig
Aund ungenießbar war.
Weiter drin kamen wir zwiſchen zwei Gletſchern durch, die
ungefähr bei der Abfahrſtelle nach Kangerdluarſuk zuſammen⸗
ſtoßen. Der gegeneinander gerichtete Druck der Gletſcher hat hier
die Steine des Bodens aufgepflügt, ſo daß es von oben wie eine
mächtige, gepflaſterte Landſtraße ausſieht, die zwiſchen den beiden
Gletſchern verläuft. Ein Stück weiter abwärts, wo die Gletſcher
@ ſich mehr genähert haben, bekommt die emporgepreßte Moräne,
die aus lauter großen Steinen beſteht, den Charakter eines unten
breiten und oben ſcharfen Rückens, der höchſt phantaſtiſch ausſieht.
Vor der Mündung des kleinen Kangerdluarſuk trafen wir
wieder auf das offene Waſſer, das uns das vorige Mal auf⸗
gehalten hatte. Ich faßte daher einen neuen Entſchluß, da ich
um keinen Preis umkehren wollte. Ich wollte verſuchen, wieder
hinauf über den Gletſcher zu gehen, hinten um Quiniſut herum⸗
3 zufahren und auf dieſem Wege den innern Teil des Inglefield⸗
golfes zu erreichen, wo jetzt Eis ſein mußte.
Ein Tag wurde damit verbracht, einen Aufſtieg zum Gletſcher
= zu ſuchen, und es gelang uns endlich, eine Stelle zu finden, von
der aus wir den Verſuch machen wollten, wenn ſie auch nicht ſehr
einladend ausſah. Ein ſteiler Gletſcherrand, auf dem wir bis weit
hinauf Stufen ſchlagen mußten, glattes, blaues Eis, auf dem man
balanciert, unter beſtändiger Gefahr abzurutſchen. Das Ge⸗
päck mußten wir auf dem Rücken über ſteiles Berggelände und
358 Fünfzehntes Kapitel. „
weichen Schnee ein Kilometer weit tragen. Endlich, nach vier
Stunden ſchwerer Arbeit, find wir jo hoch oben, daß wir Schnee
finden und anfangen können zu fahren. Abends bei Einbruch der
Dunkelheit fuhren wir über ſchneefreies Bergland hinab, das mit
großen, loſen Steinen überſät war, die mit uns um die Wette
dahinrollten, wenn der Schlitten oder die Hunde ſie gelockert
hatten. Wir erreichen, einem Flußlauf folgend, die Küſte; am
nächſten Tage ſollte das Eis erprobt werden. Nach einem guten
Nachtſchlaß in warmen Moſchusochſenfellen probierten wir bei Be
Tagesgrauen das Fjordeis. Es konnte uns nicht tragen! =
Warten wollten wir nicht, und ſo mußten wir wieder auf das
Eis hinauf, erſt auf den Gletſcher, etwa an der Stelle, wo die 5
beiden Bergkuppen Qatarſſuit liegen, die ihren Namen tragen,
weil ſie aus der Entfernung zwei umgekehrten Eimern gleichen.
Aber es erwies ſich als unmöglich, vom Gletſcher hinabzuſteigen.
Nach ſtundenlangem Suchen im Schneeſturm, der mit ſo hef⸗
tigen Stößen daherfuhr, daß er uns oft über den Haufen blies,
fanden wir endlich einen Flußlauf, der direkt in den Gletſcher
wie in eine große, künſtliche Höhle hineinging; man ſah von der nl
Offnung aus in einen ſchwarzen, bodenlojen Abgrund. Aber wir
ſagten uns, der Fluß müſſe ſich, als er ſich ſeinerzeit in das In⸗
landeis hineinbohrte, einen Auslauf an der Moräne geſchaffen
haben. Wir ließen uns daher, ein Tau um den Leib, in dieſe Rutſch⸗
bahn hineingleiten und rutſchten ins Dunkle. Es war eine aben⸗
teuerliche Fahrt, die damit endete, daß wir uns plötzlich über der
Moräne in der Luft ſchwebend fanden, wie aus dem Rachen eines
Ungeheuers ausgeſpien. Hier konnten wir das Tau verlängern
und uns zum Fjord hinablaſſen. Auf dieſelbe Weiſe wurden nach
und nach alle Hundeſchlitten transportiert, bis der letzte Mann
die vielen Luftreiſen beſchloß, indem er das Tau doppelt durch ;
ein in den Gletſcher geſchlagenes Loch zog. E
Über gutes Land und zwei mit feinem Schnee bedeckte große
Seen kamen wir zur Küſte hinab und begannen den Abſtieg auf
das Eis. Es war der abenteuerlichſte, den ich je erlebt habe, ſo
ſteil, daß man nur mit größter Gefahr hinabklettern konnte, nach⸗
dem man zunächſt den Schlitten ein Stück heruntergelaſſen hatte.
Der Berg, von dem wir in dieſer Weiſe abſtiegen, war 600 8
hoch.
1 f * 4 a
1
2 fr al
8
Ber
RT eg
Heim nach Thule. 359
Schließlich waren wir unten auf dem Eis und bei Anbruch der
Dunkelheit hielten wir, von Paſtor Guſtav Olſen herzlich emp⸗
fangen, unſern Einzug in die Miſſionsſtation Kangerdlugſſuag.
Es war am 17. Oktober, daß wir zur Miſſionsſtation kamen;
wir raſteten hier ein paar Tage, um nach der ſehr anſtrengenden
Reiſe der letzten Tage ein wenig zu verſchnaufen. Vom Morgen
bis zum Abend wetteiferten alle Bewohner des Ortes, uns feſt⸗
lich zu bewirten, und die Menüs enthielten nicht nur das beliebte
Mattak, ſondern auch Delikateſſen, wie Renntierfleiſch und Lachs.
Mährend unſeres Aufenthaltes wurde ein Gedenkgottesdienſt
für unſere verſtorbenen Kameraden gehalten; dabei ſprach Paſtor
Olſen ſo ergreifend, daß die ganze Einwohnerſchaft, die dem
Gottesdienſt beiwohnte, zu Tränen gerührt war.
Am 21. Oktober nahmen wir wieder Abſchied, und von zwei
Brüdern der Miſſionsſtation begleitet fuhren wir über das ſchnee⸗
freie, ſteinige Land und den großen Lachsſee nach der Olrikbai
3 und von da wieder über das Inlandeis nach Thule, wo wir am
22. Oktober ankamen.
Ankunft in Thule.
Als ob alle Häuſer plötzlich einen Niesanfall bekommen hätten,
ö ftoben aus jedem Haus Menſchen heraus; ſie ſtürmten uns ent-
gegen und umringten uns. Nur Harrigans junge Frau kam nicht
heraus, ſie war von der Freude über unſere plötzliche Ankunft ſo
überwältigt, daß ſie in Tränen ausbrach und nicht imſtande war,
ſich von ihrer Pritſche zu erheben.
Ich ſelbſt eilte zu Freuchen hinab, deſſen Haus eine Viertel⸗
ſtunde vom Wohnplatz der Grönländer entfernt liegt. Er lag
im Bett und las eine ein Jahr alte däniſche Zeitung. Ehe er
wußte, wie ihm geſchah, ſtand ich plötzlich wie aus der Erde ge⸗
ſchoſſen, friſch von der Fahrt, mitten in ſeiner Stube; die Kälte
ſtrömte aus meinen Kleidern.
Dien Blick, den mein alter Freund auf mich richtete, werde ich
nicht vergeſſen, ſolange ich lebe.
Ich war wieder daheim in Thule!
1
Regiſter.
Adam⸗Biering⸗Land 201.
Advancebai 68. 86. 88. 304.
Ajako, Eskimo, Begleiter Rasmuſſens
5. 51. 67. 112. 113. 140. 146. 148.
149. 154. 162. 171. 172. 175. 176.
177. 182. 187. 200. 204. 229. 230.
244. 245. 263. 264. 265. 298. 299.
301. 302. 310. 322. 353. 354; erlegt
die erſten Moſchusochſen 137.
Aldrich, Leutnant 118. 131.
„Alert“, Expeditionsſchiff 80. 113. 117.
118. 131. 133.
Anoritog, Wohnplatz 19. 33. 34. 58. 61.
64. 86; Sage 58. 61.
Aſtrup, Polarforſcher 150. 278.
Aunartog (Renslaer Harbour), Wohn⸗
platz 62. 65.
Baffin 9.
Baffinbucht 31. 66. 80. 103.
Bären, ſ. Eisbären.
Barents 78.
Bartlett, Kapitän 311. 320.
Baſalt 45.
Beaumont, Leutnant, ſpäter Sir Lewis
III V. 122. 130 — 134. 136. 144. 194.
Beaumontinſel 128. 238.
Beaumonts Steinmal 130. 131. 134. 153.
Bentonbai 92.
Beſſels, Dr. Emil 107. 109.
Beſſelsfjord 99.
Blaufuchs 22. 31. 33; Fang in Fallen 22.
Blue Point 208. 210.
Böggild, Profeſſor 3.
Böggildfjord 202.
Bootsmann (Naſaitſordluarſuh, Eskimo,
Begleiter Rasmuſſens 5. 139. 159.
160. 187. 244. 248. 252. 301. 302.
Bootsmannſund 206.
Brainard 193. 194. 195. 196. 199.
Brönlund 218; letzte Tagebucheintragung
219.
Budington, Kapitän 106. 107. 109.
Cairnſpitze 109.
Caßbai 89. 90.
Cassiope, ſ. Heidekraut.
Caſtle⸗Inſel 146. 149.
Chip⸗Inlet 163. 164. 166. 169. 174.
177.
Comer, Kapitän 53. 319.
Cook, Dr. 58.
Coppinger, Dr. 131. 133.
Crockerland⸗Expedition 3. 53. 54. 311.
316; Haus 316. 317.
Crozierinſel 95.
Dallasbai 85. 86.
Daniel⸗Bruun⸗Gletſcher 245. 255. 257.
261. 270. 272.
„Danmark“, Expeditionsſchiff 3. 311.
319. 320. 321; in Thule 42. 44. 45.
Danmarkfjord 218.
De⸗Long⸗Fjord 93. 160. 168. 187. 192.
194. 200. 201. 202. 203. 229.
Depotinſel 144.
Deutſchland 312.
Devonperiode 239.
„Discovery“, Expeditionsſchiff 80. 113. 3
118. 134.
Discoveryhafen 193.
Drachenberg 241. 242. 244. 246. 258.
Dragon Point 128. 129. 131. 133. 182.
205. 236. 240. 241. 246.
Durchfahrt, nordweſtliche 69.
Eidervogel 22.
„Eidervogel“, Geſchichte vom 64. 65;
ſ. a. Miteq.
Eis, Anderung durch Schmelzen 239.
2240. 241; Beſchaffenheit 86; Vertei⸗
lung durch die Winde 31. 34.
Eisbären 31. 34. 138. 145. 190. 217.
288. 304.
Eisbärenjagd 23. 24. 96.
Eisberge 100. 164. .
Eisfuß 47. 62, 80. 81. 94. 112. 125.
127.
Eeisgänſe 177. 178. 191. 206.
ECiliſoninſel 209. 211. 212. 214.
Emoryfjord 210.
CErichſen, Großhändler 3.
Eskimos, Amulette 40; Andenken an
Verſtorbene 41; Anſicht vom Lemming
163; Arbeit der Frau 26. 27; Be⸗
grüßung 47; der erſte Bericht über
ſie 9fg.; Beſtandteile des Menſchen
(Seele, Körper, Name) 40. 41; Bilder⸗
ſchrift 315; Einwanderung 66; Er⸗
innerung an Hayes 56, an Kane 76.
78; Expeditionsteilnehmer 5; Fleiſch⸗
gruben 90. 92; Geiſterbeſchwörer 39;
Gutherzigkeit 321; Häuſer 47. 85;
Hunde, ſ. d.; Jägervolk 13. 14. 20;
Jugend 26; Kleidung 21. 26. 27;
Krankheiten 26; Land 9; Leben im
Haus 46; Lebensanſchauungen 36;
Nahrung 20; Nordgrenze 2; Religion
36. 39. 40. 41; Ruinen 85. 86; Sagen
9. 10. 11. 36. 207, über die Ent⸗
ſtehung des Krieges 83. 84, über die
Entſtehung der Menſchen 37. 38;
Sängerfeſt 48; Schlitten 20. 73;
Schneehaus 29; Schneeſchuhlauf 67.
68; Sitten 64; Steinhütten 34. 84;
Tauſchhandel 15; Tod 38. 39. 40.
Regiſter.
361
267; Todesverachtung 18fg.; Waffen
15. 21. 24. 25. 73; Wanderungen 2.
18. 19. 20. 26. 93. 204; Wandervolk
34. 35; Winterhäuſer 2. 27— 29. 65.
90. 92; Wohnplätze 29. 30. 33. 46. 195,
Einteilung 29. 30; Wohnung 27. 29;
Zauberformeln 40. 50. 51; Zeichen
der Freude 90. 91. 222. 248; Zelte
29; Zeltringe 92.
Etah 3. 19. 33. 53. 54. 244. 300. 309.
316. 353. 356.
Etahland 322. 346.
Eule 167. 168.
Felle, verſchiedene Wertung 25. 27.
Filmaufnahme 66. 67.
Flechten 275.
„Fleiſchtopf“, Ortlichkeit
Sage 207.
Floeberg Beach 117. 118.
Föhn 29. 30. 281. 287.
Fort Conger 18. 112. 193. 195. 197.
Foulkefjord 54.
Franklin, Sir John 69. 70.
Franklinbai 126.
Frederik⸗Hyde⸗Fjord 200.
Freuchen, Peter 2. 219. 319. 353. 357.
359.
Fuchs 143; Fallen 81. 82.
Gap Valley 122. 133.
Geſteine 45. 62. 81.
Gletſcherdonner 240.
Gletſcherdruck 357.
Gletſcherflüſſe 291. 293. 294. 295. 296.
Gneis 62. 85.
Grammophon im Polargebiet 57. 58.
Granit 62.
Grantland 102. 112. 114. 117. 118.
125. 131. 195.
Greely 194. 195. 198.
Greely⸗Expedition 1881 113. 193. 195
199.
Greelyfjord 196.
Grinnell⸗Land 68. 98. 196. 285.
Grönland, geologiſche Forſchungen 2. 3;
kartographiſche Aufnahmen 3. 6.
208. 213;
362
Hall, Kapitän 104; Tod 108.
Halls Expedition 1871—72 106—111.
Hallbecken 102. 112.
Halls Grab 96. 102. 103. 104. 105.
111. 115. 133. 134.
Hannah⸗Inſel 99. 200.
Harrigan (Inukitſoq), Eskimo, Be⸗
gleiter Rasmuſſens 5. 97. 99. 111.
112. 113. 123. 157. 158. 160. 245.
301. 302. 326. 327. 334. 342. 343;
Bericht über Wulffs letzte Tage 341.
342.
Hartzſund 254.
Haſen 25. 84. 114. 135. 141. 144. 156.
217. 218. 241. 243 304.
Hayes’ Polarexpedition 1860-61 54-57,
Hayes über die Eskimos 54 fg.
Hazenſee 195.
Hendrik, Hans, Eskimo, Begleiter Kanes
70. 107. 108. 118. 133. 190.
Hendrikinſel 253. 254. 259.
Heidekraut (Cassiope) 167. 303. 308.
Heidelbeere 303. 348. 350.
Hermelin 218. 244.
Humboldtgletſcher 20. 24. 25. 29. 78.
87. 88. 89. 91. 93. 100. 185. 243.
244. 288. 304. 305.
Hunde 33. 35. 36. 44 45. 47. 73. 95. 135.
136. 141. 142. 153. 154. 170. 171. 173.
177. 180. 205. 211. 212. 213. 221. 222.
259; Behandlung 231. 232; Fleiſch
282. 283; Hungerzeit 211; Krankheit
176. 177; Nahrung 32; Schuhe 239.
247. 284. 293. 346; Zähne 145.
Jagdtiere 21.
Jewell⸗Inlet 168. 184. 192.
Igdluluarſſuit, Wohnplatz 51. 353. 356.
Independencefjord 160. 161. 164. 181.
201. 218. 219
Inglefield, Kapitän 79.
Inglefieldbucht 353. 357.
Inglefieldgolf 33. 101.
Inglefieldland 93. 94.
Inlandeis V. 88. 114. 128. 134. 139.
140. 149. 161. 164. 166. 185. 214. 217.
Regiſter.
r RR RENE,
219. 235. 236. 239. 242. 258. 261.
264. 270. 273. 274. 277. 278. 280.
284. 285. 291. 300. 308. 314. 357.
359; Abſtieg 358; ſchwimmendes 19. et
146. 149. 150. 164. ØL SER
Inukitſoq, ſ. Harrigan.
John⸗Brown⸗Küſte 98.
J- P.-Koch⸗Fiord 175. 177. 210. ain.
219; Entdeckung 168. 169.
Jungerſen, Profeſſor 3.
Kajak bei den Eskimos 20. 1.
Kalkſtein 94. 101. 121. Fr
Kane 87. 88, FE
Kanes Expedition 1853—56 54. 688g. 75 2
Arbeit 78;
Eskimos 71-78.
Kanebecken 61. 68. 79. 80. 81. 88.
Kangerdlugſuag, Miſſionsſtation 359.
Kap Agaſſiz 86. 87. 88. 239. 249. 251.
334. 341.
— Alexander 53. 109. ;
— Bennett 182. 183. 184. 206.
— Brevoort 108. 121. 122. 123.
— Bridgman 160. 202. 204.
— Britannia 129. 194. ER
— Bryant 93. 98. 99. 128, 194. 249,
— Buttreß 149. 150. 239.
— Callhourn 94.
— Clay 89. 91. 92.
— Conſtitution 78. 80. 93. 95. 96.
— Emory 178. 179. 180. 184
— Forbes 87. 290.
— Gray 149. 150.
— Jackſon 79.
— Jefferſon 94.
— Independence 95.
— Ingerſoll 61. 62.
— Inglefield 61.
— Joſeph Henry 118.
— Kent 86.
— May 129. 136. 133, 151. 154.1506.
194. 230. 238. 5
— Mohn 192. 200. 206.
— Morris Jeſup 160. 202. 204.
— Morton 99. 118. ee
erſte Begegnung ae
Neumayer 180.182. 184. 188. 206.
RE
— Ramſay 206.
— Ruſſell 84. 85. 301. 308.
— Sabine 197.
— Galor 161. 177. 178. 179. 184. 209.
212. 213.
— Scott 305. 334. 355.
— Seddon 29. 96. 97.
— Sumner 115. 117. 121.
— Taney 81. 85. :
— Tyjon 113.
— Waſhington 93. 195.
— Webſter 93. 94. 290.
— Wohlgemuth 157. 158. 159.
— Wood 85. 86.
— Wycander 181. 184. 192. 206.
— Pork 25. 31.
Kap⸗York⸗Diſtrikt 31. 32.
Karſtlandſchaft 276.
Kaſſiope, ſ. Heidekraut.
Kennedykanal 79. 98.
Koch, J. P., Kapitän 3.
Koch, Lauge, Geologe, Begleiter Ras⸗
muſſens 3. 5. 89. 90. 91. 99. 143.
146. 160. 161. 171. 172. 174. 176.
177. 182. 200. 204. 209. 221. 244.
: 248, 249. 250. 269. 286. 300. 301.
353. 354. 357; Bericht über Wulffs
Ende 324 — 336; krank 149. 150. 152.
153. 154. 155. 156.
Kommunismus der Polareskimos 35. 36.
Krabbentaucher 21. 22. 33. 34. 294.
322. 346; Konſervierung 31. i
Kriſtianſen, Frederik, Eskimo 193. 194.
188. i 5
Kryokonitlöcher 296. 347.
Lachs 84. 85.
Lady⸗Franklin⸗Bai 113. 114. 118. 134.
193.
Lemming 126. 143. 149. 162. 163. 164.
| Regiſter.
165. 170. 217. 218.
363
Lincolnſee 102. 115.
Littletoninſel 54. 109.
Lockwood 193. 195. 196. 198. 201. 206;
Bericht 192; nördlichſter Punkt 123.
Lockwoodinſel 194. 195.
Lockwoods Steinmal 205.
Low Point 181. 184. 185. 189. 191.
206.
Majag, Eskimo 58. 62. 63. 64. 65.
67. 97.
Markham 194; Reiſe 119. 120.
Marſhallbai 84.
Mascart⸗Inlet 168. 184. 185. 189. 192.
200. ;
McMillan, Donald 53. 54. 177. 319.
320.
MeMillantal 156. 157. 159. 220. 221.
222. 228.
Melvillebucht IV. 29. 31. 63. 87. 92.
101. 190.
Miteg, der „Eidervogel“, Eskimo 310.
311. 313. 314; Hund 152. 153.
Mitgardſchlange 276. 278.
Mohn 167. 276. 347.
Mohntal 161. 201.
Moſchusochſen 112. 114. 121. 126. 135.
136. 137. 138. 140. 141. 142. 145.
159. 160. 169. 175. 178. 217. 222.
229. 230.
Moſchusochſenjagd 7. 25. 26. 225. 228.
232. 233.
Mount Coppinger 154. i ”
Mount Farragut 154.
Mount Hooker 129. 132. 133. 154.
Mount Punch 124. 126.
Möwen 174. 281; ſ. a. Raubmöwe,
Sturmmöwe.
Mylius⸗Erichſen 44. 160. 218. 219. 235.
Myrtillus, ſ. Heidelbeere.
Nares, Kapitän 134. 193.
Nares' Expedition 1875—76 99. 101.
117. 125. 130.
Naresfjord 144.
Nares⸗Inlet 157. 158.
364
Naresland 143.
Narwale 32. 33. 34.
Naſaitſordluarſuk, ſ. Bootsmann.
Nebenſonnen 265. 291.
Nege, Wohnplatz 51. 52. 353. 356.
Netſilivik, Wohnplatz 45.
Newmanbai 103. 105. 108. 113. 116.
121. 122. 137.
Nordenſkiöld⸗Einlaß 143. 218.
Nordenſkiöldfjord 129. 140. 160. 161.
163. 164. 166. 169. 201. 203. 214.
215. 219.
Nordſternbai III. 1.
Nunatake 164. 214. 270. 284.
Nyeboe, Ib, Ingenieur 3.
Nyeboegletſcher 160.
Nyeboeland 279.
Offleyinſel 101. 102.
Olſen, Hendrik, Eskimo 5. 160. 245.
246. 248; Steinmal 265; Gedenkrede
266 — 268; Verſchwinden 248. 250.
255. 256.
— Paſtor 359.
Oſtenfeld, Muſeumsinſpektor 3.
Packeis 31. 103.
Papaver, ſ. Mohn.
Parr, Leutnant 120.
Parry, Kapitän 79.
Peabodybai 86. 88. 89. 93. 185. 291.
292. 304. 346.
Peary IV. 16. 17. 54. 123. 124. 125.
150. 188. 201. 202. 203. 214. 278.
312; und die Eskimos 12. 13. 14.
15. 54.
Pearykanal 201. 214. 218; nicht vor⸗
handen 1.
Pearyland 161. 166. 167. 169. 200. 201.
Pemmikan, Pearys 178. 210.
Peter⸗Freuchen⸗Land 219.
Petermannfjord 99. 100. 101. 111. 114.
279. 281. 284.
Piminſel 197.
Polareis 98. 102. 121. 122. 125. 188.
206. 220.
Regiſter.
Polareskimos IV. 4; ſ. Eskimos.
Polarexpeditionen, frühere, Ausrüſtung
und Erfolge IV. 5. 6.
Polarforſcher, däniſche 204.
Polarforſchung, internationale 193.
„Polaris“, Expeditionsſchiff 54. 80. 104.
107. 109. 113. É
Polarishalbinſel und Vorgebirge 103. i
105. 108. 115. 3
Polarmeer 217. 234; offenes 54. 69. 70. |
78. 79. 80. 102. 103. 107. 242.
Polarrekorde 16. 107. 119. 123. 194.
Polarweide 141. 167. 303. 308. 347.
348. 350. 2 i
Polarwolf 126. 135. 143. 147. 148. i
151. 218. 256. 259.
Preßeis 61. 112, 115. 127. 150. É
Rasmuſſen, Lektor 3. A
Raubmöwen 175. 249. 4
Reef Island 133. : i SB
Renntier 66. 68. 84. 304.
Renntierjagd 25. 82. 83.
Renntierland 293. 322. 4
Renslaer Harbour 58. 61. 62. 65. 66.
69. 70. 97; ſ. a. Aunartog. 5
Repulſehafen 123. 131. 133. al
Reſt Point 127. 128.
Robeſonkanal 79. 108. 112. 114. 115.
„Rooſevelt“, Expeditionsſchiff 80.
Roß, James, bei den Eskimos 9—11.
Rydergletſcher 261.
Salix, ſ. Polarweide.
Sandſtein 62. 68. 81.
Saxifrago, ſ. Steinbrech.
Schiefer 168.
Schießſegel 25.
Schmeißfliege 174. 229. 237.
Schmelzwaſſerteiche 101.
Schnee, naſſer 205; roter 347.
Schneehaus der Eskimos 29.
Schneehühner 126. 135. 162. 167. 170.
172. 173. 182.
Schneereifen 281.
Schneeſchuhbucht 150.
Regiſter. 365
bruch von Neqe 52. 53; Ausrüſtung
4; Begegnung mit Kameraden 180.
181. 209 fg.; Einrichtung auf Eskimo⸗
art IV. 3. 6; in Etah 53. 54. 57. 316;
Forſchungsgebiet 7; Entſatzexpedition
für Wulff und Koch 314; Heimkehr
205 fg.; Hunde, ſ. d.; Komitees 3;
Lebensmittel 243. 244. 250; Plan
42. 52. 160. 167. 181. 182. 235;
Proviant 52; Rettung 299. 300;
Rückreiſe von Etah nach Thule 353;
Schlitten 222; Teilnehmer 3. 4. 5;
Vertrag mit Teilnehmern 5; Teilung
143. 204. 244. 245. 301. 302; wieder
in Thule 359; am Ziel 202. 203. 204.
Schneeſchuhe 205. 281.
Schneeſperlinge 129. 174.
Schwarzhornklippen 123. 124. 131. 196.
er 99,
Scoresby, Dr. 79.
Seehunde 7. 31. 190. 191. 217. 240.
2241. 242. 243. 263. 304.
— bärtige 67.
Seehundjagd 22. 23. 24. 25. 66. 138.
145. 169. 176. 177. 208. 248. 256.
259. 265; Waffen 24. 25.
Seen auf Inlandeis 206. 284. 291. 294.
296.
Sherard⸗Osborne⸗Fjord 112. 128. 132.
135. 137. 140. 141. 143. 145. 146. 149.
150. 154. 238. 239. 241. 261— 276.
Sikuſſaqeis 88. 91. 98. 101. 123. 125.
246.
Silurformation 239. 276.
Simigag, Eskimofrau, und ihre Zauber⸗
lieder 47—51.
Sipſu, Eskimojäger 52. 111. 112. 356.
Skorbut 68. 70. 75. 119. 120. 131.
Smithſund 80.
Sommertal 230. 232. 233. 237. 238.
Sphaerella 347.
Steensby, Profeſſor 3.
Steinbrech 124. 167. 170. 303. 347.
348. 349. 350.
Stephenſoninſel 139.
Strandlinien 99.
Sturmmöwe 183.
St.⸗Andrew⸗Bai 146.
St.⸗George⸗Fjord 128. 129. 135. 146.
185. 235. 239. 241. 247. 272. 276.
279.
Südweſtwind 29. 31.
—
„Teufelsſchlucht 274. 275.
Thank God Harbour 102. 107.
Th.⸗Thomſen⸗Fjord 202.
Thule, Station III. 1. 3. 32. 312.
Thuleberg 200. 202. 205; Ausſicht 201.
Thule⸗Expedition, Erſte 1. 2. 3. 219.
— Zweite, Antritt der Reiſe 3. 4. 44;
Arbeitsfeld 134 fg.; Aufgabe 2; Auf⸗
Tierleben 68. 84. 174. 192. 210. 217.
218. 304. 350.
Tornarſſuit, unſichtbare höhere Weſen 39.
Tornge, Eskimo 47. 82. 83. 84. 85. 97.
Treibeis, Weg 80.
Ulugſſat, Wohnplatz 46. 47.
Utut⸗Jagd 25. 66. 85.
Vegetation 124. 137. 167. 192. 210.
216. 218. 234. 276. 303. 308. 341.
347. 348. 349. 350. 351.
Verſteinerungen 90. 93. 94. 97. 274.
Vikloriafjord 138. 139. 140. 143. 164.
220.
Vogelberge 21. 22. 34.
Walfiſch 65.
Walroſſe 32. 33. 66; Fleiſch 48. 52.
Walroßjagd 23.
Warmingland 245. 253. 254. 255.
Waſhingtonland 78. 81. 86. 89. 94.
284. 292.
Weißwale 33. 34.
Weltkrieg, Nachrichten vom, bei den
Eskimos 312.
Wildfjord 200.
Wildland 160.
Windverhältniſſe bei Etah 58.
Wintereis 84.
Winterhaus 27— 29.
gelen . + 5. 42. 44, 67.
140. 143. 144. 160. 180. 182.
223. 244. 248. 269. 275. 286.
324. 344; ſein Leben 337340;
® Berichte 157, 159, 178. 179. 18219. |
gebuch &
Wille 340; "zo 324fg.
letzter Gruß an die
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