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Full text of "In der heimat des polarmenschen; die zweite Thule-expedition, 1916-18. Mit 76 bunten einfarbigen abbildungen und 10 karten"

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In ber Heimat 
bes Polarmenſchen 


Die zweite Thule⸗ Expedition 
1916-18 


Mit 76 bunten 
einfarbigen Abbildungen 


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2. Leipzig / F. A. Brockhaus / 1922 


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Vorwort 


von Admiral Sir Lewis Beaumont. 


gr der Heimat des Polarmenſchen“ iſt der Bericht Knud Ras- 
” muſſens über ſeine letzte Expedition an die dem Pol zunächſt⸗ 
liegenden Geſtade Nordgrönlands. Seit dem Jahre 1910, als er 
in der Nordſternbai für ſeine Tätigkeit die erſte Grundlage und 
auch eine Handelsſtation unter dem Namen Thule ſchuf, hat ſich 
Rasmuſſen wiederholt in tätigſter Weiſe mit der Erforſchung Nord- 
grönlands beſchäftigt. Er unternahm Schlittenreiſen über das 
Inlandeis nach der Nordoſt- und Nordküſte Grönlands; ſie brachten 
wertvolle Ergebniſſe, durch die mancherlei geographiſche Fragen 
geklärt und die Entdeckungen früherer Forſchungsreiſenden auf der 
Oſt⸗ und Weſtſeite endgültig miteinander verknüpft wurden. 
Knud Rasmuſſen kann mit Recht ein beſonders hervorragender 
und außergewöhnlicher Erforſcher dieſer Gebiete genannt werden. 
Er iſt in Grönland geboren und lebte dort in ſeiner Jugendzeit. 
Sein Leben unter den Grönländern und Eskimos, ſeine vollendete 
Kenntnis ihrer Sprache, ſeine Bewunderung ihres Weſens, ihres 
Mutes und ihrer Treue und ſein inniger Wunſch, der Geſchicht— 
ſchreiber ihres Urſprungs, ihrer Überlieferung und ihrer künftigen 
Entwicklung zu ſein, haben ihn in weitem Maß mit der Begeiſte⸗ 
rung des Forſchers erfüllt und ihm den Glauben beigebracht, daß 
es möglich ſei, mit kärglichen Mitteln und beſchränkten Hilfs— 
quellen das Werk zum Abſchluß zu bringen, das von vorher— 
gegangenen, viel reicher ausgeſtatteten Expeditionen begonnen 
worden war. Aber dieſe Vorteile wären ohne Nutzen geweſen, wenn 
nicht Knud Rasmuſſen die perſönliche Eignung zum Forſcher 
beſäße. Jede Seite ſeines Reiſeberichts zeigt ſeine hohe Befähigung 
und Überlegung, ſeine Geſchicklichkeit und Verwegenheit als Führer, 
glänzenden Mut und große Ausdauer, die ihn über eine Zeit der 


IV : 5 Vorwort. 


ſtärkſten Prüfung und höchſten . inen 
haben. Seine feſte Haltung und ſein Beiſpiel waren es, die er 
Expedition auf der Rückreiſe vom Tode retteten. 2 

Den Leſern, die mit der natürlichen Beſchaffenheit der un⸗ 
geheueren, als Grönland bekannten Landmaſſe nicht vertraut ſind, 
wird es dienlich ſein, zu erfahren, daß die Bewohner des größeren 
Südteils als Grönländer, die im Norden der Melvillebucht als 
Polareskimos oder arktiſche Hochländer bezeichnet werden. Zwiſchen 
beiden bildet das Inlandeis eine Barre, ſo daß die Verbindung 
zwiſchen ihnen nur zu Schiff erfolgen kann. 

Der Polarmenſch iſt uns bisher nie ſo eingehend geſchildert 
worden, mit einem ſo wahren und warmen Verſtändnis ſeines 
Lebens und ſeines Weſens, als Rasmuſſen es in ſeinem Buche tut. 
Er ſpricht als einer von ihnen, der ihr Leben lebte, ihre Erfah⸗ 
rungen teilte und deren Volk er ſich eng angeſchloſſen hat. Darum 
iſt es kein Wunder, daß nie vorher ein Forſcher ſo unbeſchränkt 
und in folder Ergebenheit Dienſte von den Polarmenſchen emp⸗ 
fing, als es Rasmuſſen beſchieden war. Es iſt notwendig, auf 
dieſen Punkt beſonders hinzuweiſen, da Rasmuſſen in ſeinem Be⸗ 
richt ihn voll Beſcheidenheit als ganz natürlich anſieht und keinerlei 
Nachdruck darauf legt. Frühere Expeditionen nach dieſen Gegen⸗ 
den nahmen wohl ein oder zwei Eskimos als Jäger und Hunde⸗ 
treiber mit; ſie machten ihre Erfahrungen mit arktiſchem Leben unter 
großen Koſten — und zeitigten doch nur geringe Ergebniſſe. 
Peary, der ſich 24 Jahre lang geduldig und zielbewußt bemühte, 
die Geheimniſſe des Polarbeckens zu enthüllen, gelangte Schritt 
für Schritt zur Kenntnis des Charakters der Eskimos, ihrer Be⸗ 
fähigung zur Jagd und ihres wundervollen Inſtinkts bei Reiſen. 
Aber Rasmuſſen ift der einzige, der eine bedeutende und erfolg⸗ 
reiche Expedition ganz nach Eskimoart ausgerüſtet und geführt hat 
und ſie auf der langen, abenteuerreichen Reiſe mit Hilfe der 
Jagd nach Eskimoart erhalten hat. Nur die Verbindung euro⸗ 
päiſcher Führereigenſchaft mit Fähigkeiten und Lebensbedingungen 
der Eingeborenen machte eine ſo weitausgedehnte Forſchungsreiſe 
überhaupt möglich. 

Das Intereſſe an dem Reiſebericht iſt groß, und der Titerartiibl 
Reiz der Schilderungen ebenſo wie die unparteiiſche Verteilung von 
Licht und Schatten, die ſich durch den ganzen Bericht zieht, ſorgen 


Borwort. V 


dafür, daß dies Intereſſe nicht gemindert wird. Es iſt das Kenn⸗ 
zepichen eines Führers, daß er ſeine Abteilung bei guter Laune er⸗ 
halt; es ilt die Pflicht des Geſchichtſchreibers, zu zeigen, wem Ver⸗ 
antwortung und Entſchluß in ſchwierigen Lagen zufielen. Mit 
Recht iſt das Unternehmen ein großes Wagnis genannt worden, 
aber Rasmuſſen, vom Geiſte des wahren Forſchers erfüllt, ſagt: 
die Gefahr, die man auf ſolchen Expeditionen läuft, ſtand 
mir klar vor Augen. Aber wenn man ſich auf eine Reiſe begibt, 
beſchäftigen ſich die Gedanken niemals mit den möglichen Ge- 
8 fahren. Jeder Polarreiſende kennt das Riſiko, wenn er ſein Heim 
verläßt, um den Fuß auf unbekannte Ufer zu ſetzen. So war es 
auch bei uns der Fall. Alle meine Kameraden begrüßten meine 
Pläne voll Begeiſterung, und jeder von ihnen war einzig und 
allein erfüllt von dem einen Gedanken an den ſicheren Erfolg.“ 
In dieſem Geiſte zogen fie hinaus. 
ee Die Arbeit, die feine Vorgänger auf dem Gebiet der ark— 
tiſchen Forſchungsreiſen geleiſtet haben, würdigt Nasmuſſen in 
Be beſonders hochherziger Weiſe. Er zeigt, daß er ihre Schwierig⸗ 
keiten kannte, obwohl dieſe nicht die ſeinen waren, und 
was jeine Vorgänger erreichten, erkennt er bereitwillig an und 
bewundert es. Diejenigen von ihnen, die heute noch leben, haben 
ihrerſeits die Freude, ohne Zögern zu ſagen: Was Rasmuſſen und 
ſeine Gefährten zur Kenntnis des Polargebiets beigetragen haben 
durch ihre genaue Aufnahme der Küſtenländer, der Fauna, Flora 
und des geologiſchen Baues des nordweſtlichen Teils von Grön— 
lland, ſowie deren Verknüpfung mit den Entdeckungen an der 
- Dftküfte, ſetzt den Arbeiten derer die Krone auf, die ſich vor ihm 
im ſelben Arbeitsfeld abgemüht haben, und ſeine glänzende Tat 
ſtellt ihn für alle Zeiten in die vorderſte Reihe der Polarforſcher. 


Inhalt. 


Seite 
Vorwort von Admiral Sir Lewis Beaumont III 
11 ᷣ ⁵ D ¼ ¼ .,.. er 1 
Erſtes Kapitel. Leben und Geſchichte der Polareskimo s. 9 
Zweites Kapitel. Von Thule zum Humboldtgletſ cher. 42 
Drittes Kapitel. Vom Waſhingtonland nach Hall⸗Landʒqße 89 
Viertes Kapitel. Von Kap Sumner bis Dragon Point 115 
Fünftes Kapitel. Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord nach dem Nordenſkiöldſjord 130 
Sechſtes Kapitel. Das Lager am Eulenneſ tt. 166 
Siebentes Kapitel. Kap Salor bis zu Lockwoods Stein mall 180 
Achtes Kapitel. Vom De⸗Long⸗Fjord bis Kap Saloe r 200 
Neuntes Kapitel. Über ſchmelzendes Eis nach dem Sommerial. . . . 220 
Zehntes Kapitel. Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord zum St.⸗George⸗Fjord. 237 
Elftes Kapitel. Die Rückreiſe über das Inlandeis. 269 
Zwölftes Kapitel. Auf dem Wege nach Entſaa rr 303 
Dreizehntes Kapitel. Der Wettlauf mit dem Tod 324 
Vierzehntes Kapitel. Ein Gedenkblatt . . . 2... 2.2 nn. 337 
Fünfzehntes Kapitel. Heim nach Thule 352 
JJ%%%0%0%0000000000 ᷣͤ ͤᷣ⁰y æt BEES Se DER ERE. 360 

Textabbildungen. 

Aufriß und Grundriß des Winterhaufes eines Polareskimos 28 
Eine von Hayes’ phantaſtiſchen Bärenjagdeennnnnnn˖nnd 55 
Dies fährt quer durch Eisberge 2... ne ee 55 
— %, ee ee ne 
Fleiſchkönig Majag. Zeichnung von Harald Molle. 63 
Seltſame Weſen tauchen aus dem Dunkel aur. 71 
Durchſchnitt durch eine Fuchsturmfalle. Nach der Zeichnung eines Eskimos 81 
Unſer Führer Tornge. Zeichnung von Harald Moltfe . ee 82 
Lemming, an einer Polarweide knappernd. Zeichnung von E. Ditlevſen . 162 
emig Zeichnung von E. Ditlevſe n 162 
Polarfuchs mit einem erbeuteten Lemming. Zeichnung von E. Ditlevſen „ 163 
Lemming, Futter eintragend. Zeichnung von E. Ditlevſen 165 
Ajako mit ſeinem Seehund. Zeichnung von Knud Kyhnn 186 


Der Bootsmann in friſch erlegtes Wild gekleidet. Zeichnung von Knud Kyhn 187 
Landſchaft beim Jewell⸗Inlet. Zeichnung von Harald Moltke nach Skizze von Koch 191 


Abbildungen. VII 


Fat Seite 
Setting: , .. .. un. neun. 198 
Blick auf die Eliſoninſel. Zeichnung von Lauge Koch 215 
Lemminge, vom Polarfuchs überraſcht. Zeichnung von Knud Kyhn. .. 216 
Hermelin auf der Haſenjagd. Zeichnung von Knud Kyh,?nn 217 


Flußdelta beim MeMillantal. Zeichnung v. Harald Moltke nach Skizze v. Koch 223 
Das Sommertal. Zeichnung von Harald Moltke nach Skizze von Koch. . 231 
Gletſcherabſchluß des Sommertals. Zeichnung v. Harald Moltke n. Skizze v. Koch 235 
Raubmöwe mit Jungem. Zeichnung von E. Ditlevſen 249 
Die Gegend, in der Hendrik vermißt wurde. Zeichnung von Harald Moltke 
. p ne 251 
Nyeboeland vom Inlandeis aus. Zeichnung v. Harald Moltke nach Skizze v. Koch 279 
Hunde mit Handſchuhen als Stiefel. Zeichnung von Harald Moltke. 285 
Die Abſtiegſtelle. Zeichnung von Harald Moltke nach Skizze von Koch.. 299 


Eein Menſch! Schau, dort ift ein Menig! Zeichnung von Harald Moltke. 311 


Männer, Frauen, Kinder eilten heraus. Zeichnung von Harald Moltke. . 317 
Der Ort, an dem Koch die Hilfsſchlitten traf. Zeichnung von Harald Moltke 


JJ ß ĩĩ SAS NERE SEE 335 
| Einſchaltbilder. 

ᷓJJy%4J%%'o. “ !PBœZ—F ENT ESE NER Nes r Titelbild 
J%%ͤ pn ²² m ̃̃ my dd. re , ĩ ĩ REN 16 
. ᷣ , ̃ œ JJ. 17 
Der Teufelsdaumen an der Küſte ſüdlich von Thule. ......... 32 
Das Expeditionsſchiff „Danmark“ im Hafen von Thule 33 
ider Sorbiiernbai aue 88 48 
f dd,, ĩ ĩ ͤ ( ĩ ĩͤ ĩ ( A 
Bunte Tafel. Schneehüttenlager am Eisberg. Von Harald Moltfʒte . 56 
Polareskimos in Fuchspelzkleidern )) ( 64 
— ee re 65 
Bunte Tafel. Küſtenberge des Inglefieldlandes. * Achton Friis. 80 
Ein junger bärtiger Seehund als Beute 96 
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yJJJ%%%%%J0// j / ĩĩ ĩĩ es, un. 113 
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Frohe Jugend und verſonnenes Alte 144 
Die Hunde GR BEGREBER ne ee ESS 145 
and entlang OT 160 
JJ % ĩ ĩ ĩĩ , ĩ ĩͤ a 161 

Bunte Tafel. Schneeeule beim Schutze des brütenden Weibchens gegen 
ea Ryan 2... ĩð ͤ ĩð nn... 168 
Kap Eonftitution . n VVV 176 


ß / ĩ ĩ ĩ r 177 


VIII Abbildungen. . 
FRE DE SE Bee 

Dit drei ien Noſchussheenanm.n. 192 
Raft in der Mündung des Viktoriafjo rde. 193 
Ajako bei Beaumonts Steinmalllc. 208 
%%% .. er we 209 
17171777 EDN 37 u: 
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Landſchaft bei Kap Ramfay . ©... .. % ET „ 
nach Moſchusoche nnd” 8 241 
Über den Sherard⸗Osborne⸗Fiord ee. „ 
ber feifee ee en PE SEERE 257 
Aufbruch zur Moſchusochſenjagd im Mac Millantalll. 272 
Plötzlicher Angriff eines Moſchusochſen auf einen Hundʒd .. 273 
Dr. Thorild Wulff auf dem Wege durch das Waſſer. 288 
Durch Schmelzwaſſerſeen, die mit dünnem Eis überzogen ſind . . 2 280 
Ein geduldiges Opfer des Photographen 304 
Die Moſchusochſen nähern ſich langſam und furcht los 305 
Steilrandiges Land hält uns aufn „ 
Am Rande des Abgrundes der Teufelsſchluchhh te. „ 
Die Teufelsſchluc t e ar 336 
Das Haus der Crockerland⸗Expedition in Eta hh 3867 
Bunte Tafel. Kolonie Holſtensborg in Südgrönland. Von Chriſtine 

Deſchman]]]m]mn]nmd ee ET E AREO RESEN 344 

Karten. 5 

Der Schauplatz der II. Thule⸗Expeditin¶ . » .. 2.2 2... en 
Von Thule zum Humboldigletiher -. . .. TE 2 22 2 nn. 4383 
Vom Humboldtgletſcher zur Newmanbaait:t:᷑ :e: 91 
Von Kap Sumner bis Dragon Poinrt 3 116 
Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord bis zum De⸗Long⸗Fjorrd 147 
Das Gebiet des De⸗Long⸗ Fjorde 2 mr een 203 
Die Nordküſte von Grönland mit dem Independencefjord und dem Peary⸗ 

kanal vor und nach der II. Thule⸗ Expedition 271 
Der eg zun Ent.. 8 304 
ni Nach elf,... 8 e ;) 


Weill DS RE SE ASS AS ER SS SE SRRRRER 367 


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Einleitung. 


m Jahre 1910 gründete ich in der Nordſternbai in Nordgrön⸗ 
land eine arktiſche Station, von der aus ich die Gebiete er⸗ 
forſchen konnte, die bisher noch nicht genau genug unterſucht 
worden waren. Das erſte von dieſer Station aus erzielte Er⸗ 
gebnis war die erſte Thule⸗Expedition. Die verſchiedenen Expe⸗ 
ditionen, die in der Folge von dieſer Station als Stützpunkt aus⸗ 


| gingen, benannte ih nad) Thule, dem Namen der Station. 


Auf der erſten Thule⸗Expedition im Jahre 1912 war der 
Reiſeweg quer über das grönländiſche Inlandeis, vom Clements⸗ 
Markham⸗Gletſcher an der Mündung des Inglefieldgolfs an der 
Weſtküſte Grönlands zum Danmarkfjord auf der Oſtküſte, geführt 
worden. Wir erzwangen uns den Weg durch den Independence⸗ 
fjord in das Grönland mit Pearyland verbindende Landgebiet, 
und durch unſere Kartenaufnahmen ſtellten wir feſt, daß der 
Kanal nicht vorhanden war, den Peary glaubte zwiſchen dem In⸗ 
dependencefjord auf der Nordoſtſeite und dem Nordenſkiöld⸗Einlaß 
auf der Nordweſtſeite entdeckt zu haben. 

Infolge der langen Reiſe, die mehr als 1000 Kilometer weit 
quer über das Inlandeis führte, und infolge der Umſtände, die in 
der Nähe des Danmarkfjords das Vordringen erſchwerten, gelang es 
uns nicht ganz, von dem kürzlich entdeckten Adam⸗Biering⸗Land bis 
in die Nachbarſchaft des Nordenſkiöld⸗Einlaſſes und des Sherard⸗ 
Osborne⸗Fjords vorzuſtoßen. Zu der Zeit, als die Entſcheidung 
über den Antritt des Rückmarſches getroffen wurde, hatten wir 
mehr als vier Monate auf andauernden, ſehr anſtrengenden 
Reiſen durch unbekannte Gebiete verbracht. Sowohl für uns als 
auch für die Hunde hielten wir es für notwendig, die Heimreiſe 
über das Inlandeis nach meiner Station Thule an der Nordſtern⸗ 
bai zu verſuchen und die Erforſchung der noch unbekannten Teile 

Grönlands auf die Zeit zu verſchieben, wenn die Arbeit mit neuer 
Kraft wieder aufgenommen werden konnte. 
Rasmuſſen. 1 


2 Einleitung. 


Im Winter 1914 war der erſte Verſuch gemacht worden, unſere 
Pläne auszuführen. Peter Freuchen, der Kartograph meiner 
erſten Thule⸗Expedition, war der Leiter. Bei dem Aufſtieg auf 
das Inlandeis fiel er aber in eine Gletſcherſpalte, und er mußte 
infolgedeſſen zurückkehren, und ſpäter konnte er nicht mehr teil⸗ 
nehmen, da ſein Theodolit für die kartographiſchen Aufnahmen 
durch den Fall zerſtört worden war. 

Da dieſe Expedition beſtändig als eine nichterfüllte Forderung 
meiner arktiſchen Station erſchien und da ſie aus verſchiedenen 
Gründen erledigt werden mußte, bevor ich meine ethnographiſche 
Reiſe zu den nordamerikaniſchen Eskimos antrat, die mehrere 
Jahre dauern ſollte, entſchloß ich mich, die Reiſe im Jahre 1916 
durchzuführen. 

Als die Hauptaufgabe dieſer Thule⸗Expedition galt, die 
letzten noch unbekannten Gebiete der Nordküſte Grönlands auf der 
Strecke zwiſchen dem St.⸗George⸗Fjord und dem De⸗Long⸗Fiord 
zu erforſchen und kartographiſch aufzunehmen. Wir wollen uns 
dabei vor allem bemühen, in das Land zwiſchen dem Norden⸗ 
ſkiöld⸗Einlaß und dem Independencefjord einzudringen. ' 


Die Erforſchung der Gebiete, die wir bereiſen wollen, wird 


neben den länderkundlichen Ergebniſſen ſehr intereſſante volks⸗ 
kundliche Probleme bieten. So iſt es z. B. für die Theorie der 
Eskimowanderungen von Bedeutung, feſtzuſtellen, ob in den ge⸗ 
nannten mächtigen Fjorden Winterhäuſer der Eskimos zu finden 
ſind. Bekanntlich wurden auf Pearyland zwar Zeltringe, aber nie 
Winterhäuſer gefunden. Die Nordgrenze des Winterhauſes liegt 
an der Oſtküſte Nordgrönlands bei der Sophus⸗Müller⸗Spitze 
und an der Eskimoſpitze, auf Amdrup⸗ und Holmland, während 
ſie an der Weſtküſte ſich in der Nähe des Humboldtgletſchers und 
des Hazenſees auf Grantland befindet. Aus dieſem Grund iſt zur 
gründlichen Kenntnis der Eskimowanderungen die Unterſuchung 
der großen Fjorde der grönländiſchen Nordküſte erforderlich. 
Von den geologiſchen Aufgaben, mit denen die Expedition 
zu tun haben wird, will ich nur die eine erwähnen: Während ganz 
Weſt⸗ und Oſtgrönland im letzten Jahrhundert geologiſch durchforſcht 
worden iſt, blieben das verbindende Glied zwiſchen der Oſt⸗ und 
Weſtküſte, die Strecke zwiſchen dem Sherard-Osborne⸗Fiord und 
Pearyland, ſowie deſſen unbekannte Fjorde unerforſcht. Bevor 


: Einleitung. 3 


; dieſe Gebiete nicht unterſucht worden ſind, iſt es unmöglich, 
ein vollſtändiges Bild von Grönlands Aufbau zu geben. Und da 
die Küſten und Fjorde hier oben am Nordende Grönlands noch 

J auf die kartographiſche Aufnahme warten, kann der Schlußſtein 
der geologiſchen Erforſchung erſt durch die Bereiſung jener Ge⸗ 
biete gelegt werden. 

Neben der hier entwickelten Aufgabe ſind auf der ganzen Reiſe 
> ſorgfältige meteorologiſche Tagebücher zu führen und botaniſche 
und zoologiſche Sammlungen anzulegen. 
Wie die erſte Thule⸗Expedition, wird auch dieſe Reiſe ganz 
2 Eau Eskimoart eingerichtet, jo daß wir uns durch Jagd ernähren 
können, während wir gleichzeitig unſere wiſſenſchaftlichen Aufgaben 
verfolgen. 
g 5 Die Koſten werden durch meine Station in Thule gedeckt, die 
Aunter der Aufſicht eines Komitees ſteht, das ſich zuſammenſetzt 
aus den Herren 
et Ingenieur M. Ib Nyeboe, Vorſitzender, 
Großhändler Chr. Erichſen, 
Lektor Chr. Rasmuſſen. 


OB Die von der Station aus zu leiſtende wiſſenſchaftliche Arbeit 
er hat es wünſchenswert gemacht, daß wir mit den Männern der 

SER Wiſſenſchaft in engere Beziehungen traten. Es wurde daher ein 
. wiſſenſchaftliches Komitee gebildet; es beſtand aus den Herren 


Profeſſor Dr. H. Jungerſen, 
. Kapitän J. P. Koch, 
55 Profeſſor O. B. Böggild, 
BUSTE Profeſſor H. P. Steensby, 
Muſeumsinſpektor Dr. C. H. Oſtenfeld. 


Anfänglich hatte ich die Abſicht, die Reiſe mit nur einem Ge⸗ 
fährten auszuführen, mit dem däniſchen Geologen Lauge Koch. 
Wir verließen Kopenhagen am 1. April 1916 und kamen Mitte 
8 en nach Thule. Anhaltende Stürme und ungewöhnlich ſchwie⸗ 
rige Reiſeverhältniſſe zwangen uns aber, die Reiſe bis zum Früh⸗ 
jahr 1917 zu verſchieben. Inzwiſchen lief im Sommer das alte 
Expeditionsſchiff „Danmark“ meine Station Thule an, auf dem 
Wege nach Etah, wo fie die amerikaniſche Crockerland⸗Expedition 
5 en wollte, die mehrere Winter dort zugebracht hatte. An 


4 Einleitung, 


Bord der „Danmark“ war ein ſchwediſcher Gelehrter, Dr. Tho⸗ 
rild Wulff, deſſen Arbeitsfeld anfänglich nur die Gegenden 
um den Smithſund und um die Melvillebucht umfaßte. Als aber 
Dr. Wulff davon hörte, daß wir unſere Expedition auf das nächſte 
Jahr verſchoben hatten, meldete er ſich voll Begeiſterung als Teil⸗ 
nehmer an der Schlittenreiſe im Frühjahr an. 

Sein Ruf als Botaniker und ſeine eingehende Kenntnis der 
arktiſchen Pflanzenwelt empfahlen, ihn als Mitglied in die ge⸗ 
plante Expedition aufzunehmen, die in Gebiete führen ſollte, in 
denen Fachleute noch nicht tätig geweſen waren. 

Die Expedition blieb den Winter über in meiner Station 
Thule und übte ſich fleißig auf Schlittenfahrten, die bis Etah im 
Norden und Uperniwik im Süden führten. Es hieße nur die Er⸗ 
fahrungen anderer Expeditionen wiederholen, wenn ich unſere 
Exkurſionen beſchreiben wollte, die wir von Oktober bis Februar 
ausführten, während wir auf das Wiedererſcheinen der Sonne 
warteten. 

Da nicht von allen Leſern meines Buches genügende Reit; 
niſſe über die Polareskimos anzunehmen find, will ich den Verſuch 
machen, eine kurze Schilderung des Volkes zu geben, deſſen 
Mittel und Wege zur Erhaltung des Lebens und deſſen Reiſe⸗ 
technik die Grundlage waren, auf der ſich unſere große Reiſe auf⸗ 
baute. 

Mit gelegentlichen Unterbrechungen lebte ich unter dieſem Volk, 
den arktiſchen Hochländern, ſeit 1903, und ich habe gelernt, ſie ebenſo 
hoch zu ſchätzen als ich ihre große Geſchicklichkeit bewundere, das 
Leben in dieſen rauhen Gebieten zu führen. Zunächſt wird es aber 
angemeſſen ſein, einen 1 über meine Expedition und deren 
Plan zu geben. 

Die wiſſenſchaftliche Ausrüstung der Expedition war denkbar 
einfach, wie es auf einer langen Schlittenreiſe erforderlich iſt. Wir 
führten mit uns einen Theodoliten, drei Aneroidbarometer, ein 
Siedebarometer für Höhenbeſtimmungen, ein Maximum⸗ und ein 
Minimumthermometer, verſchiedene Weingeiſt⸗ und Quedjilber- 
thermometer, einen Windmeſſer und ein Hygrometer. Dr. Wulff 
ſchließlich brachte alles Nötige zum Einlegen und Trocknen der 
Pflanzen mit. 

Während der Vorbereitungen zu dieſer Reiſe, deren Ernſt 


Einleitung. 5 


keiner von uns unterſchätzte, arbeitete ich einen ſchriftlichen 
Vertrag aus, der am 14. Februar von allen Teilnehmern unter⸗ 
ſchrieben wurde. Nur der nachſtehende Teil wird hier intereſſieren, 
der übrige Inhalt, der ſich auf die Reiſewege und Reiſeanordnun⸗ 
gen bezieht, war ſelbſtverſtändlich. 

„Obwohl ich voll überzeugt bin von der Schwierigkeit, eine 
Expedition vor ihrem Abmarſch in Abteilungen zu gliedern, habe 
ich es doch für notwendig erachtet, dieſe Gliederung vorzunehmen. 
Sie, meine Kameraden, erhalten dadurch einen feſten Punkt, von 
dem Sie bei der Planung der verſchiedenen Expeditionsarbeiten 
ausgehen können. 
„Die Expedition beſteht aus: 


Dr. Thorild Wulff, Botaniker und Biologe, 

Lauge Koch, Geologe und Kartograph, 

Hendrik Olſen, einem früheren Teilnehmer an der 
Danmark⸗Expedition, 

Ajako, 

Naſaitſordluarſuk, genannt der Bootsmann, 

Inukitſog, genannt Harrigan, 

und aus mir als Ethnograph und Leiter der Expedition. 


„In einer früher vorgelegten Arbeitsüberſicht ſind alle bevor⸗ 
ſtehenden Aufgaben niedergelegt. 

„Für alle Anordnungen für Reiſen und Reiſewege bin ich 
als Leiter ganz allein zuſtändig. Ich will Ihnen aber in der Tat 
in Ihrem beſondern Tätigkeitsbereich alle jene Freiheiten zu⸗ 
geſtehen, die die Umſtände erlauben, und Sie ſollen, jo oft Ihre 
Arbeit es verlangt, von der Jagd befreit ſein. 

„Von vornherein will ich mit Nachdruck darauf hinweiſen, daß es 
während der Dauer der Expedition Anterſchiede zwiſchen Ihnen 
und der Stellung der Eskimos nicht geben darf. Die Eskimos find 
Mitglieder der Expedition, mit den gleichen Rechten und Pflichten 
wie die wiſſenſchaftlichen Teilnehmer, und niemand außer dem 
Expeditionsleiter darf über ſie verfügen.“ 

Veerſchiedene große und reichausgeſtattete Expeditionen waren 
ſchon in den Gebieten, die wir aufſuchen wollen. Aber keiner von 
ihnen war es geglückt, eine gründliche Kenntnis des Landes heim⸗ 
zubringen, obwohl gerade dort der Schlüſſel liegen müßte für 


6 Einleitung. 


manche Probleme, die ſich auf die See und Geſchichte eg 


Grönlands beziehen. 

Die Erklärung liegt darin: Die Entfernungen zwiſchen bin ein- 
zelnen Arbeitsfeldern find rieſig; die Bodenbeſchaffenheit iſt Schlecht, 
und in den Fjorden iſt der Schnee bodenlos. Aus dieſem Grund haben 
diejenigen Forſcher, die mit einer ſogenannten guten Ausrüſtung 
für die Reiſe verſehen waren, nicht vorwärtskommen können. 
Ihre ſchweren Gepäcklaſten erlaubten ihnen keine freie Bewegung, 
und ſie zogen es daher ſtets vor, den Reiſeweg in einiger Ent⸗ 
fernung vom Land auf dem eigentlichen Polareis fortzuſetzen; 
denn dort war ein ſicheres Vorwärtskommen möglich. 

Mit andern Worten: Die reiche, gute Ausſtattung, die ſonſt 
ſtets als ein entſchiedener Vorteil angeſehen werden mußte, iſt 
hier eine Belaſtung, die es dem Forſcher nicht erlaubt, ſo raſch 
vorwärtszukommen, als es die für die Reiſe günſtige Jahreszeit 
verlangt. 

Diejenigen, die es unternehmen, die Karte von Grönland 
zum Abſchluß zu bringen, müſſen daher mit der gewöhnlichen 
Praxis der Expeditionen vollſtändig brechen und müſſen ſich ganz 


auf die Jagd verlaſſen. Nur dadurch können die Schlitten leicht 
gemacht werden und können ihren Weg in die tiefen Fjorde hinein SAR 


durch den Schnee erzwingen. 


Fur uns gab es darum keine Wahl. Die Aufgaben, die in 


uns geſtellt hatten, waren alle ſchwierig und bedeutend, und ſo⸗ 2 


lange ſie nicht erfüllt waren, konnte man die Erforſchung Grön⸗ 
lands nicht als abgeſchloſſen anſehen. 7 

Dieſe Arbeit lag auf dem Wege der internationalen Aare: 
forſchung, die bisher nur von den großen Nationen in die Hand 
genommen war. Es war uns darum zu tun, daß däniſche Forſcher 
ſie abſchloſſen, da in den verfloſſenen 200 Jahren die Führung 
in der Erforſchung unſerer fen Kolonie in der Hand von Dänen 
gelegen hatte. 

Die Umriſſe für unſere Arbeit waren von unſern Vorgängern 
gezogen, und wir wußten von vornherein, daß wir irgendwelche 
große geographiſche Überraſchungen nicht zu erwarten hatten. Nur 
die Krumen von der Tafel der früheren reichen Expeditionen 
ſollten wir ſammeln. Unſere Rolle war darum in etwas der 
vergleichbar, die der kleine Polarfuchs ſpielt, der überall an den 


S 
Warmn 55 


Einleitung. 7 


Küſten der Arktis den Fußtapfen des mächtigen Eisbären folgt, 
in der Hoffnung, etwas Gutes möchte auch für ihn übrigbleiben. 

Und doch war unſere Aufgabe keineswegs undankbar, denn 
uns war es beſchieden, die Steine zu heben, die andere hatten 
liegen laſſen! 

Die Strecke, die wir von unſerm Stützpunkt in Thule bis zum 
Sherard-Osborne- Fjord zurückzulegen hatten, maß 1000 Kilo⸗ 


meter. Unjere Vorgänger, deren Schiffe in der Lady⸗Franklin⸗ 
Bai und bei Kap Sheridan überwinterten, hatten nur 300 Kilo- 
maeeter zu marſchieren. Für die angegebene Entfernung hatten wir ge⸗ 
mnmuügend Proviant mit, aber dann mußte die Jagd die Nahrung liefern. 


Die Erfahrungen, die ich 1912 auf der erſten Thule⸗Expedition 


gewonnen hatte, gaben mir das Recht, einen ſolchen Plan als 
wohlbegründet anzuſehen. Vor allem rechnete ich auf die Moſchus⸗ 

2 ogchſenjagd, die man in den ausgedehnten Landſtrecken erwarten 
sæ durfte, die auf den amerikaniſchen Karten rund um die Fjorde 
und an ihrem Innenende erſcheinen. Außerdem gab es auch See- 

hunde. Die Polareskimos, die auf den Expeditionen Pearys die 

Fiaiordmündungen überſchritten hatten, berichteten mir, das Eis 

ſei hier von folder Beſchaffenheit, daß man im Juni und 
JaJuli mit Sicherheit auf Seehunde rechnen dürfe; Atemlöcher ſeien 


nicht ſelten beobachtet worden. Dieſe Mitteilungen in Verbindung 
mit meinen eigenen Erfahrungen aus dem Independencefjord, 
wo wir in einer ähnlichen geographiſchen Lage viele Seehunde 


gefunden hatten, veranlaßten mich ſchließlich zu meinem Entſchluß. 


Die Gefahr, die man auf ſolchen Jagdexpeditionen läuft, 


tand mir klar vor Augen. Aber wenn man ſich auf eine Reiſe 
begibt, beſchäftigen ſich die Gedanken niemals mit den möglichen 
Geefahren. Jeder Polarreiſende kennt das Riſiko, wenn er ſein 
Heim verläßt, um den Fuß auf unbekannte Ufer zu ſetzen. So 
war es auch bei uns der Fall. Alle meine Kameraden begrüßten 


meine Pläne voll Begeiſterung, und jeder von ihnen war einzig 


É und allein erfüllt von dem einen Gedanken an den ſicheren Erfolg. 


Knud Nas muſſen. 


DE 
K-FAREWELL| 49° 


— — | 
Der Schauplatz der II. Thule Expedition. 


Er ſtes Kapitel. 
Leben und Geſchichte der Polareskimos. 


Die erſte Entdeckung. 


5 m nördlichſten von allen Erdenbewohnern leben die Polar⸗ 
: A eskimos, deren geniale und einfache Jagdmethoden ihr rauhes 
und kahles Land in eine von den Weltoaſen verwandelt haben, 
wo wirklich glückliche Menſchen hauſen. 

Der erſte hiſtoriſche Bericht, den wir von ihrem Land haben, 
ſtammt aus dem Jahr 1616, als es von Baffin entdeckt wurde. 
Baffin ſah jedoch dort keine Menſchen, und erſt im Jahr 1818 
kam James Roß in Verbindung mit einem Eskimovolk, von dem 
man bisher nie etwas gehört hatte. 5 

Noch jetzt lebt in dem Stamm eine dunkle Erinnerung an die 
Prophezeiung einer Frau namens Möwe, die vorausgeſagt hatte, 
vom Meer her werde ein großes Boot mit hohen Maſten erſcheinen. 
Und ganz richtig, an einem Sommertag, als das Wintereis eben 
aufgebrochen war und das ſteile Kap Vork nur durch einen 
ſchmalen Eisſtreifen vom Meer getrennt dalag, kam ein Schiff 
und legte an der Eiskante an. Es war ein Wunder von Scharf⸗ 
ſinn, eine ganze Inſel aus Holz, die fig mit Flügeln über das 
Meer hin bewegte und viele Häuſer und Räume in der Tiefe 
hatte, die mit lärmenden Menſchen erfüllt waren. Kleine Boote 
hingen an den Seiten, und als dieſe mit Männern beſetzt ins 
Waſſer gelaſſen wurden und das Schiff umgaben, ſah es aus, als 
habe das Ungeheuer lebendige Junge geboren. 

Dieſer Beſuch erweckte zunächſt große Angſt und Entſetzen, aber 
dann viel Freude. Man wollte nicht glauben, daß die weißen 
Männer richtige Menſchen wären. Man nahm vielmehr an, es 
ſeien Geiſter der Luft, die zu den „Inuits“ herabgeſchwebt waren. 
Das Schiff blieb nur kurze Zeit liegen, dann ſtach es wieder in 


10 Erſtes Kapitel. 


See; ſeine weißen Flügel glänzten in der Sonne, und bald war es 
wieder am Horizont verſchwunden. 

Roß' Erſcheinen bei den freundlichen, unvorbereiteten Eslimos : 
war wohlgeeignet, Aufſehen zu erregen, und ich will deshalb die 
obige phantaſievolle Schilderung durch einen kurzen Bericht aus 
dem Reiſebericht der Expedition ergänzen. 

Es wird erzählt, man habe, während das Schiff an der Eis 
kante lag, plötzlich zum großen Erſtaunen aller an Bord Befind⸗ 
lichen draußen auf dem Eis menſchenähnliche Geſchöpfe erblickt; 
ſie waren in Tierfelle gekleidet, trugen langes ſchwarzes Haar 
und liefen unter merkwürdigen Bewegungen neben ihren Hunde⸗ 
ſchlitten her. Sie waren dem Schiff ſchon ganz nahegekommen, 
als plötzlich ein Manöver mit den großen weißen Segeln vor⸗ 
genommen wurde; dies hatte zur Folge, daß ſie augenblicklich 
kehrtmachten und, anſcheinend von Schrecken gepackt, nach dem 
Lande flüchteten. 

Nun vergingen ein paar Tage, in denen man vom Schiff aus 
alle erdenklichen Anſtrengungen machte, um mit den Eskimos in 
Verbindung zu kommen; aber ohne Erfolg. In ſeiner Verzweif⸗ 
lung darüber ließ Roß ſchließlich auf einem Eisberg mitten zwiſchen 
Küſte und Schiff eine hohe Stange mit einer Flagge errichten, 
auf die Sonne und Mond gemalt waren über einer Hand, die 
eine Heidepflanze hielt. An die Stange wurde außerdem ein 
Beutel mit Geſchenken gehängt. 

Leider fiel dieſe Liſt nicht auf guten Boden. Waren die Es⸗ 
kimos vorher ſchon ängſtlich geweſen, ſo gerieten ſie nun ganz in 
Schrecken über dieſe geheimnisvolle Stange mit der flatternden 
Fahne, hinter der ſie irgendeine gefährliche Kriegsliſt vermuteten. 
Neugierig umkreiſten ſie ſie einige Zeit, aber als ſie ſich die merk⸗ 
würdigen Zeichen und die freundlich vorgeſtreckte Hand genügend 
angeſehen hatten, verſchwanden ſie wieder eiligſt nach dem Land. 

Da dieſer Verſuch mißglückt war, heißte man am großen Maſt 
des Schiffes eine weiße Flagge, und gleichzeitig wurde der unter 
der Mannſchaft befindliche Grönländer Sachäus mit einer kleinen 
weißen Flagge in der Hand aufs Eis hinausgeſchickt. Die Es⸗ 
kimos ſchienen jedoch kein Verſtändnis für die freundlichen Ab⸗ 
ſichten dieſer Maßnahmen zu beſitzen, und man würde möglicher⸗ 
weiſe noch andere ſchlaue Experimente gemacht haben, die ſie nur 


7 A VOHERS UF RUE 7 
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2 2 7 iz 8 N . be. 


Leben und Geſchichte der Polareskimos. i 11 


noch mehr verwirrt und erſchreckt hätten, wenn ſich nicht Sachäus 
als Herr der Lage gezeigt und Roß um die Erlaubnis gebeten 


hätte, allein und unbewaffnet zu ſeinen Stammesgenoſſen zu gehen. 


Auf dieſe Weiſe gelang es endlich, die Verbindung herzuſtellen. 
Die große Begegnung zwiſchen den Polareskimos und dem 


ar Südgrönländer fand an einer großen Rinne im Eis ſtatt, fo daß 
zwiſchen beiden für alle Fälle ein natürliches Hindernis lag. 


Nicht ohne Mühe konnte Sachäus ihnen klarmachen, daß es 


friedliche Leute ſeien, die zu ihnen kämen. Die Eskimos waren 
Er gerade dabei einzuwilligen, ihm an Bord zu folgen, da zeigte ſich 
Roß in feinem Eifer, mit den merkwürdigen Menſchen zuſammen⸗ 
zutreffen, plötzlich in voller Offiziersgala auf dem Eiſe. Dieſe 
pPhantaſtiſche Erſcheinung eines Menſchen hätte die Eskimos bei- 


nahe wieder verſcheucht. Aber da die Freundſchaft mit Sachäus 


nun einmal eingeleitet war, und nachdem man den erſtaunten 


Wilden erklärt hatte, die merkwürdige Tracht ſei nur ein 
äußerliches Zeichen dafür, daß der große Mann der Herr über 


Se alle die weißen Männer ſei, ließen fie ſich beruhigen und kamen 


an Bord. 
Es gereicht den Eskimos in hohem Grad zum Ruhm, daß ſie 


ſich trotz all des Unverſtändlichen, das fie ſahen, doch an Bord 


und in die Kajüte des Chefs hineinlocken ließen, und daß ſie auf 
die vielen Fragen, die an ſie gerichtet wurden, kluge und würdige 
Antworten gaben, die Sachäus verdolmetſchte. Man mag ſich 
vorſtellen, welchen Eindruck es auf ſie gemacht haben muß, als 
man, vermutlich um fie zu amüſieren, ein grunzendes ſchottiſches 


Schwein auf Deck losließ, auf dieſe Menſchen, die nur gewöhnt 
waren, es mit wilden Tieren zu tun zu haben! Oder als 
man eine Taſchenſpielervorſtellung vor ihnen veranſtaltete und 
ſſie ſich in einem Hohlſpiegel betrachten ließ. 


Roß faßt ſeine Eindrücke in den beachtenswerten Worten zu⸗ 
ſammen, daß ſie alle mit Liebe voneinander und von ihrer 


kg = Familie ſprechen und daß fie im ganzen ein glückliches Leben 
zu führen ſcheinen, ohne Kenntnis von Krankheit und Krieg. 
= * * 


* Ex 
Schon als Kind hatte ich in Grönland von den Polar⸗ 


eskimos viel gehört, aber meiſt waren es uralte Sagen von wilden 


Menſchenfreſſern und gefährlichen Jägern, die hoch oben in der 


12 Erftes Kapitel, 


Heimat des Nordwindes „ganz am Ende der Welt" wohnten, 
wo immer Nacht herrſcht und wo kein Sommer das Eis des 
Meeres zum Schmelzen bringt. 

„Dieſe Menſchen muß ich kennenlernen“, war mein Ent⸗ 
ſchluß als zwölfjähriger Knabe, und dieſer Entſchluß, von dem 
ich mich auch ſpäter nicht losmachen konnte, hat dazu geführt, 
daß ich nach wiederholtem Aufenthalt unter ihnen, ſozuſagen 
als einer der ihren, als Freund und Jagdkamerad, in ihren Stamm 
aufgenommen worden bin. 

Es gibt keinen Jäger unter ihnen, mit dem ich nicht zuſammen 


gejagt hätte, und wohl kaum ein Kind, das ich nicht dem Namen 


nach kennte; denn der Stamm zählt kaum mehr als 250 Köpfe. 


Eskimos als Nordpolfahrer. 


Dieſe Menſchen, die keine bleibende Stätte haben, ſondern 
wie ihr Jagdwild auf Zügen und Wanderungen leben, ſind die 
geborenen Polarfahrer. Von Kindheit an werden ſie in einer 
unbarmherzigen Kälte abgehärtet, und das Beſchaffen der 
Nahrung ſetzt ſie faſt täglich den gewaltigſten körperlichen An⸗ 
ſtrengungen und plötzlichen Gefahren aus, die die Geiſtesgegen⸗ 
wart ſchärfen und die Todesverachtung zu einer Selbſtverſtänd⸗ 
lichkeit machen; dies alles bewirkt, daß ſie als unübertreffliche 
Begleiter auf Polarreiſen zu betrachten ſind. 

Dieſe Erfahrung machten Kane, Hayes, Hall, Nares, Peary, 
die Crockerland⸗Expedition und nicht zuletzt ich ſelbſt, und bei all 
den Expeditionen der letzten 75 Jahre, die durch die oben ge⸗ 
nannten Namen gekennzeichnet ſind und deren Ziel die Erforſchung 
und die Aufnahme der nördlichſten Teile unſerer Erde war, find 
die Eskimos in verſchiedener Weiſe beteiligt geweſen und haben 
ihren Einſatz gegeben, der nicht unterſchätzt werden darf. 

Im folgenden werde ich namentlich bei Peary verweilen, 
weil ſeine arktiſchen Reiſen einen Abſchnitt in der Geſchichte der 
Polareskimos darſtellen. 

Es iſt nicht wenig, was die Eskimos Peary ſchulden, aber 
auf der andern Seite würde ohne die Hilfe dieſer Eskimos Pearys 
Name wahrſcheinlich einen ganz andern Klang haben als heute. 
Denn ſie haben ihn auf allen ſeinen Reiſen begleitet, ſie haben 
Haus, Land und Familie verlaſſen und ihre ganze Exiſtenz für 


— — 


Leben und Geſchichte der Polareskimos. 13 


die Verwirklichung der phantaſtiſchen Reiſepläne eines fremden 
Mannes eingeſetzt. 

Dieſer Einſatz des Lebens für die Löſung von Aufgaben, 
worin ſie ſelbſt oft nur ein Kennzeichen der vielen ſonderbaren 
Ideen der weißen Männer ſahen, zeigt zur Genüge, welchen Über- 
fluß an Todesverachtung, welchen Uberſchuß an Mut die Eskimos 
beſitzen, wenn ſie erſt einem Mann ihren Beiſtand zugeſagt haben. 

Das ſind keine Leute, die den Kopf hängen laſſen und davon⸗ 
laufen, wenn ſie Gefahren und der ewigen Hoffnungsloſigkeit der 
Eispreſſungen begegnen. 

Die Eskimos ſind ein Wandervolk, das immer nach Ver⸗ 
änderung und Überraſchungen trachtet; ſie ſind ein Volk, das liebt 
herumzuſtreifen, neue Jagdgebiete, neue Möglichkeiten und „ver⸗ 
borgene Dinge“ zu ſuchen. 

Sie ſind geboren mit der Neigung und dem Wiſſensdurſt des 
Entdeckers und ſie beſitzen alle die Eigenſchaften, deren der For⸗ 
ſcher unter dieſem Himmelsſtrich bedarf. 

Sobald eine Eskimofamilie neues Land in Beſitz genommen 
hat, kennt ſie in erſtaunlich kurzer Zeit alles Land auf Meilen 
in der Runde, Wege, Richtwege, Ebenen, Berge, ja alle die ver⸗ 
ſchiedenen Naturumſtände, die ein Jäger kennen muß, um ſeine 
Beute zu ſuchen und zu finden. Sie ſtudieren das Inlandeis und 
finden bequeme Aufſtiege und Schlittenwege nach andern Küſten 
und andere Möglichkeiten, und das Meer umſchließt für ſie bald 
keine Geheimniſſe mehr in all den Fragen, die die Wanderungen 
der Seetiere und deren Lieblingsaufenthalt betreffen. 

Der Jäger liebt es überhaupt, vom Alten fortzukommen und 
in die volle aufregende Spannung zu geraten, die mit dem Jagen 
und Suchen unter fremden Verhältniſſen verbunden iſt. Er ver⸗ 
ſteht dieſe Eigenſchaften und Neigungen auch bei andern zu 
ſchätzen. 

Ich vergeſſe niemals die freudige Überraſchung, die es unter 
den Jägern des Stammes erregte, als ich im Frühjahr 1907 


mit Oſarqag bei ihnen angefahren kam und erzählte, ich ſei auf 
dem Wege nach Ellesmereland. Ich hätte noch nie einen Mo⸗ 


ſchusochſen geſehen, und nun habe mich das Verlangen gepackt, 
Moſchusochſenfleiſch zu koſten. Ihrer Meinung nach muß näm⸗ 
lich hinter jeder Handlung eines Menſchen ein vernünftiger Grund 


14 Erſtes Kapitel. 


ſtecken. — Oh, wie ſie mich da verſtanden! Sie wußten, daß 2 | 
„zwei Sonnen“ her war, jeit ich mein Land und meine Heimat 
verlaſſen hatte, und daß ich noch immer mit demſelben Ziel vor 


Augen unterwegs war. Das flößte ihnen Achtung ein. Ich war 


froh und gerührt, als der alte Geiſterbeſchwörer Maſaitſiag mich 
willkommen hieß und ſeiner Freude Ausdruck gab, daß ich in 
meinem Land meine alten Jagdkameraden nicht vergeſſen habe. 
Dann erklärte er, daß alle jungen Jäger des Stammes wetteifern 
würden, mir das Land zu zeigen, das ich noch nicht kannte, und 
die Tiere, die ich noch nicht erlegt hätte. — Es geſchah, wie er 
verſprochen hatte. Zwei der beſten Männer des Stammes er⸗ 
klärten ſofort, ſie würden mit mir gehen. Da gab es keine Be⸗ 
denklichkeiten, und keine Vorbereitung war notwendig; ein Eskimo 
iſt immer für eine weite Reiſe gerüſtet. Schon am nächſten Mor⸗ 
gen begannen wir die 2000 Kilometer lange Schlittenreiſe, jagten 
mehrere Monate lang zuſammen und erlebten die merkwürdigſten 
Dinge. Wir reiſten miteinander wie gute Kameraden. Von einer 
Bezahlung für die lange Zeit, die ſie zuſammen mit mir weit weg 
von ihren Familien verbrachten, war nicht die Rede. Nein, dies 
war ja nur ein Abſchnitt in ihrem Leben, und um alles in der 
Welt wollten ſie nicht meine bezahlten Diener ſein. 
So war es auch mit ihrer Teilnahme an Pearys Reiſen, ſo 
lange ſie ſich in Gegenden bewegten, wo Land war. Intereſſant 
iſt es deshalb zu ſehen, welchen Standpunkt ſie einnahmen, ſobald 
die eigentlichen Nordpolreiſen begannen. — Auf den erſten Expe⸗ 
ditionen willigten ſie nämlich mit Freuden ein, nach Norden zu 
ziehen, weil ſie meinten, die Reiſe könnte den Erfolg haben, daß 
man neue Menſchen, unbekannte Jagdfelder oder doch zum Auf⸗ 
enthalt geeignetes Land fände. Aber ſpäter, als man ihnen klar⸗ 
machte, daß alle die lebensgefährlichen Anſtrengungen nur einem 
geographiſchen Punkte galten, einem Ort weit draußen in dem 
öden Preßeis, wo es weder Menſchen noch Wild noch Land gab, 
da erſchienen ihnen die Strapazen unendlich zwecklos, und ihre 
Teilnahme bekam jetzt ganz neue Beweggründe. Zum Teil war es 
der Reſpekt vor Peary; man hat mir oft erzählt, daß er „ſeine 
Fragen ſtellte, mit einem ſo ſtarken Willen, ſeinen Wunſch zu 
erreichen, daß es unmöglich war, nein zu ſagen“; zum Teil war 
es natürlich auch der Wunſch, ſich Büchſen, Holz und Meſſer als 


Lehen und Geſchichte der Polareskimos. 15 


Entgelt für die Teilnahme zu erwerben. Aber ihr perſönliches 
A E Intereſſe für die Löſung der Aufgabe, ihr privater Ehrgeiz, vor⸗ 
wuärtszukommen, war jetzt ganz ausgeſchaltet. Zwanzig Jahre 
hindurch hatte Peary das Gebiet der Polareskimos als Baſis 
ſeiner Expeditionen benutzt, und während dieſes knappen Menſchen⸗ 
alters haben dieſe Eskimos den Sprung von der Steinzeit zur 
Gegenwart mit ihrer techniſchen Kultur gemacht. 
Als Peary zum erſtenmal hier herauf kam, war der Stamm in 
= der Hauptſache noch völlig unberührt. Gewehre kannte man faſt 
gar nicht, die vornehmſte Waffe zu Land war der Bogen, zur 
i See die Harpune. Lange bevor Peary ſeine letzte Reiſe abſchloß, 
hatten alle Fangleute die modernſten Hinterladerwaffen unſerer 
® Zeit. Die alten Meſſer, die aus Stücken Meteorſtein beſtanden, die 
Fe mühſam in Renntierhaut oder Narwalzähne eingefaßt waren, 
waren durch den feinſten Stahl erſetzt, und ihre Schlitten, die 
früher aus Walfiſchknochen verfertigt waren, die man mit großer 
Kunſtfertigkeit zu Kufen zuſammengebunden hatte, beſtanden jetzt 
aus feinſtem Eſchen⸗ und Eichenholz. 
Sicherlich gab es lange vor Pearys Ankunft einen lebhaften 
Tauſchhandel mit den ſchottiſchen Walfängern, aber etwas wie 
eeine Büchſe war doch eine große Seltenheit. Der Handel mit 
den Walfängern ſcheint überhaupt mehr vom Zufall abhängig 
geweſen zu ſein, und man muß daher zugeſtehen, daß Peary den 
Stamm auf ſeine jetzige Stufe im Gebiet des Erwerbslebens ge⸗ 
hoben hat. Vor der Einführung der modernen Waffen war es 
ſelbſtverſtändlich, daß die Polareskimos den Launen der ver⸗ 
ſchiedenen Jahre im allerhöchſten Grade unterworfen waren. 
Ihre eigenen primitiven Waffen waren ſchöne, zweckmäßige Er- 
findungen, aber ihr Gebrauch war eine Kunſt, und wenn Wetter⸗ 
unnd Eisverhältniſſe oder der Zug der Jagdtiere ungünſtig aus- 
fielen, ſo geſchah es daher nicht ſelten, daß ſchlimme Winter kamen, 
in denen es ſchwer fiel, ſich durchzuſchlagen. Peary führte den 
Verſtand des weißen Mannes in ihr Erwerbsleben ein, und 
damit geſchah ſelbſtverſtändlich ein ganz außergewöhnlicher Fort⸗ 
ſchritt in ihrem materiellen Daſein. 
Aber die Eskimos vergaßen nicht, Peary zu vergelten, was fie 
glaubten, ihm ſchuldig zu ſein. Auf ſeinen beiden letzten Reiſen 
nach dem Nordpol folgten ihm nicht weniger als 70 bis 80 


16 Erſtes Kapitel. 


Eskimos, Männer, Frauen und Kinder, ſowie mehrere hundert 
Hunde auf der „Rooſevelt“ nach der Nordſpitze von Grantland; 
es waren die beſten jungen Männer des Stammes. Kann man ſich 
im Grunde vorſtellen, daß ein Volk ein ernſteres und umfang⸗ 
reicheres Opfer für die wiſſenſchaftliche Forſchung bringt als hier, 
wo es ihr alle ſeine beſten Kräfte zur Verfügung ſtellte? 

Aber Peary beſaß auch ſelbſt Eigenſchaften, die es ihm er⸗ 
möglichten, ein ſolches Abkommen mit ſeinen Helfern zu treffen. 
Seine große perſönliche Ausdauer, ſeine oft erprobte Furchtloſig⸗ 
keit, ſeine Begabung, Jahr für Jahr ſolche Anordnungen zu 
treffen, daß ein guter Ausgang geſichert war, erregte die vorbe⸗ 
haltloſe Bewunderung der Eskimos. Mit einem Mann wie Peary 
etwas zu wagen, erſchien ihnen als Spaß, mit dem großen Peary 
mit ſeinem ſtarken Willen, dem mächtigen Herrn mit dem uner⸗ 
ſchöpflichen Reichtum, mit Piulerſſuag, der beim Stamm ſicher 
einſt einen Sagenkreis um ſich bilden wird. 

Bei meinem Verkehr mit den Polareskimos habe ich oft Ge⸗ 
legenheit gehabt, ſie von ihm erzählen zu hören, und immer ſind 
ſie bei ihren Berichten voll Anerkennung und Stolz, daß ſie mit 
ihm geweſen ſind, wenn man auch oft das Gefühl hat, daß der 
Reſpekt vor ihm größer war als die Liebe. Ich will hier einen 
kleinen Zug wiedergeben, den mir der junge Odag erzählte, der 
an allen Nordpolreiſen Pearys teilgenommen hatte. 

Es war im Jahr 1906, dem Jahr, als Peary 87° 14 er⸗ 
reichte und einen vorläufigen Rekord für den nördlichſten 
Punkt aufſtellte. Sechs Eskimos begleiteten ihn; dieſe hatten 
ihm ſchon mehrere Tage zugeſetzt, fie müßten jetzt umkehren, 
wenn ſie nicht alle auf dem Rückweg verhungern wollten. 
Aber Peary blieb hartnäckig dabei, ſie müßten noch einige Zeit 
aushalten. Sie hatten viel Mißgeſchick gehabt. Offenes Waſſer 
hatte fie aufgehalten, fürchterliche Schneeſtürme in beißender 
Kälte hatten alles Vorwärtskommen verboten; aber ſo oft das 
Wetter ſich nur ein wenig beſſerte, war Peary, wie Odag erzählte, 
ſofort aus der Schneehütte herausgeeilt und hatte ſich auf den 
Weg nach Norden gemacht, immer nach Norden durch das be⸗ 
rüchtigte Preßeis ſich durchſchlagend, den Weg für die Schlitten 
und die erſchöpften Hunde bahnend, die von den Eskimos ge⸗ 
trieben nachkamen. Peary war ununterbrochen unterwegs, lang⸗ 


Rasmuſſen. 


Eskimos auf Beſuch. 


Schlittenfähre bei Aperniwik. 


Leben und Geſchichte der Polareskimos. 17 


ſam gegen den Sturm ankämpfend, während die Schlitten hinter 
ihm herkrochen. An einem Abend nach einem folden Tage war 
es, als die Sehnſucht nach Land, nach Frau und Kindern und 
nach der köſtlichen Jagdbeute weit unten im Süden die jungen 
Jäger ſo mächtig ergriff, daß ſie in ihrer verzweifelten Fahrt 
nach Norden nur noch Tod und Untergang ſahen. Sie hatten 
nicht viel davon geſprochen, aber Odag meinte, ſie hätten einander 
ſo ſeltſam angeſehen, und es ſei ihm aufgefallen, daß ſie ſich nicht 
recht getrauten, das Wort Land auszuſprechen. Dann hatte er es 


gt nicht länger aushalten können, und er war in die Schneehütte ge- 
SE gangen, wo Peary lag und ſchlief, und hier hatte er geſagt: 


ich komme, um mit dir wegen des Schicksals meiner 
Kameraden zu ſprechen; denn jetzt bedeutet ein weiteres Vor⸗ 


dringen Tod für uns alle zuſammen, und ich weiß ja, daß du 
nicht umkehren willſt. Schicke meine Kameraden zurück. Sie 
werden mit Hilfe des Kompaſſes ſchon Land finden können. Dann 


will ich mit dir zuſammen weiterreiſen, damit du nicht allein 


e dolltt.“ 


Odag fuhr fort: 
„Da blickte Peary mich ſo ſeltſam betrübt an, und es kam 


in i mir vor, als ob zum erſtenmal, ſolange ich mit ihm gereilt war, 
in ſeinen ſtrengen Augen ein gütiger Ausdruck läge, und indem 


er mir auf die Schulter ſchlug zum Zeichen, daß er mich ver⸗ 


ſtſtanden habe, erwiderte er: Ich bin froh über deine Worte, 
. Odag, aber es iſt nicht notwendig, morgen kehren wir um; denn 
ſſieh, Odaa, auch ich will jetzt noch nicht ſterben, weil ich ein 

andermal das Ziel erreichen will, das ich jetzt aufgeben muß.“ 


Dieſe kleine Epiſode ſcheint mir Pearn ebenſo zu charakteriſieren 


wie den jungen Bärenjäger, der nicht davor zurückſchreckte, fein 
Leben für die hohen Pläne feines Herrn zu opfern. 


Übrigens hört man durchaus nicht nur ernſte Dinge von ihnen, 


und nichts war unterhaltender für mich während der vielen Un- 


f wettertage im Sommer und Winter, als den Berichten der 


Eskimos von Not und Gefahr zu lauſchen, die jetzt in der 


Erinnerung immer auf eitel Vergnügen hinausliefen. Å 
„Ach ja, das war damals, als wir gezwungen waren, unjere 


a Bunde weit vom Lande entfernt mitten auf dem Eis draußen roh 
zu eſſen, während unſere gewaltigen Fleiſchvorräte zu sne an 


Rasmuſſen. 


18 Erſtes Kapitel. 


unſern Wohnplätzen verfaulten.“ Derartige kleine Schlußbemer⸗ 
kungen ſchließen ihre ganze launige Selbſtironie ein; denn für 
einen Eskimo wird es immer etwas ungeheuer Lächerliches ſein, 
daß man ſich vom Land weg ins kalte Preßeis des Polarmeeres 
hinauslocken läßt, nur um ſich vorwärtszuſchlagen, ſtändig den 
Tod in der gewaltigen, weißen, alles Lebens baren Wüſte vor 
Augen. i 

Wie bezeichnend iſt es für den Freiluftgeiſt des Eskimos, für 
ſeine Jägernatur und ſeinen unbeugſamen Ehrgeiz, daß ein Mann, 
der ſeine Leiden bei den Strapazen einer Reiſe als etwas Sen⸗ 
ſationelles auffaßte, ſich unter ſeinen Landsleuten ſofort lächerlich 
machen würde. Nein, hat man ſich einmal in das Zufallsſpiel 
einer Reiſe begeben, ſo hat man alles, was ſich ereignet, als Mann 
zu nehmen, das will ſagen, mit einem breiten Lächeln. Ich habe 
alte Eskimos von lebensgefährlichen Lagen erzählen hören, und 
die Zuhörer bogen ſich vor Lachen. : 

Wir hochentwickelten Kulturmenſchen ſtoßen hier bei den 
Naturvölkern, die wir ſonſt mit unſerer ganzen gnädigen Über⸗ 
legenheit beehren, auf eine rätſelhafte, humorvolle Todesver⸗ 
achtung, in der die Begriffe Gefahr und Komik beinahe zuſammen⸗ 
fallen. Man beachte zum Beiſpiel, wie ein paar Familien, 
die bei der vorletzten Expedition Pearys an den großen Seen 
bei Fort Conger zurückgeblieben waren, den langen Weg nach 
Hauſe bis züm Kap⸗York⸗-Diſtrikt zurücklegten. 

Mit Geſpannen von zwei und drei Hunden, ohne Reiſepro⸗ 
viant, brachten die Männer ihre Frauen und Kinder den faſt 1000 
Kilometer langen Weg ſüdwärts erſt über den Kennedykanal nach 
dem Land nördlich des Humboldtgletſchers, und dann an Glet⸗ 
ſchern und Land entlang, immer wie Raubtiere um ihre Nahrung 
kämpfend. Ein paar Frauen hatten neugeborene Kinder im Ruck⸗ 
ſack, andere waren im vorgeſchrittenen Stadium der Schwanger⸗ 
ſchaft, wieder andere gebaren Kinder, während ſie Schritt für 
Schritt auf dem gefährlichen, mühſamen Weg vorwärts wanderten, 
die Schlitten ſtoßend und ziehend, bis zu ihren Wohnplätzen. 
Und ſie kamen an, völlig unberührt von dem Kampf ums 
Leben, überſprudelnd von guter Laune wie nie zuvor, ſtrotzend 
von Geſundheit bis zum jüngſten Säugling. 

Aber jeder, der die Karte anſieht, wird verſtehen, welche 


Leben und Geſchichte der Polareskimos. 19 


hervorragende Tat dieſe Familien vollbracht haben. Hier hat die 
Jägerſchlauheit der Eskimoraſſe und ihre kräftige Konſtitution 
einen ihrer ſchönſten Triumphe gefeiert. Es iſt dies ein Blatt 
in der Geſchichte der Nordpolreiſen, das auch der kennen ſollte, 
der den Nordpol nur vom Hörenjagen kennt. 

Es war im Jahr 1907. Ich kam damals mit zwei Eskimos 
von Ellesmereland her, als wir in der Nähe von Kap Inglefield 
auf eine Schlittenſpur ſtießen. Wir waren nicht einen Augenblick im 
Zweifel, daß fie von der Nachhut des großen Heeres Pearys 
ſtammen mußte, das im Angriff auf den Nordpol war. Ihr 

Schickſal war den ganzen Winter hindurch das Geſprächsthema 
ihrer Stammesgenoſſen geweſen. Wir hatten zwei Spuren vor 
uns; die eine rührte von einem Geſpann von vier Hunden her, 
die andere von drei Hunden, und es war deutlich zu ſehen, daß 
die Hunde ganz erſchöpft waren, denn keiner von den Reiſenden 
hatte auf dem Schlitten ſitzen können. Wir ſtellten die Spuren 
von zwei Männern und zwei Frauen feſt, und zwiſchen ihnen 


LE ſahen wir winzig kleine Eindrücke von Kinderfüßen. Die Kinder 


konnten höchſtens 5 oder 6 Jahre alt ſein. Die Spuren kamen vom 
Humboldtgletſcher herunter und wieſen nach Etah hinab. 
i „Sieh, die Kleinen haben den weiten, weiten Weg gehen 
müſſen“, ſagte einer der Eskimos, als er die kleinen Spuren fab. 
„Unſere Frauen gebären ſtarke Kinder!“ rief der andere, 
indem er im Lauf die Spuren unterſuchte. 
Wir beſchloſſen ſogleich, umzuwenden und zum Wohnplatz bei 
Anoritog zu fahren, da doch die Möglichkeit beſtand, daß noch 


mehr unterwegs und in der Nähe wären. Man konnte nicht 


ahnen, was dieſe Menſchen durchgemacht hatten und in welcher 
Verfaſſung ſie waren. In größter Spannung erreichten wir unſer 
Ziel. Nein, keine Menſchenſeele. Wir kehrten alſo wieder um und 
fuhren nach Etah, dort endlich trafen wir ſie: zwei Familien, 
Odag mit Frau, einem kleinen fünfjährigen Sohn und einem 
Säugling; Agpalinguag mit Frau, einer kleinen Tochter und 
einem neugeborenen Kind. 

Dieſe Polarfahrer ſahen alle aus wie Leute, die von einer 
kleinen Vergnügungsreiſe kamen, wohlgenährt und ſtrahlend vor 
Geſundheit. Die Frauen und die Kleinen kamen ganz ſicher eben 


von einer Fußtour von etwa 1000 Kilometer, die Mütter 
2 * 


20 Erſtes Kapitel. 


mit den kleinen Kindern auf dem Rücken, und alle waren ſie über 
einen Monat eine Beute der Kälte und der fegenden Schneeſtürme 
draußen auf dem Eis geweſen. Und wenn es irgendwo ſtürmt in 
Grönland, dann iſt es unterhalb des Humboldtgletſchers; dort 
herrſcht ein Wind, der beißen kann. Noch acht Familien waren 


unterwegs. Zwei Schlitten waren etwas zurückgeblieben, weil die 


Frauen, die mit waren, unterwegs Kinder bekommen hatten. und 
dies alles erzählten ſie ruhig und ohne alle Aufregung. 

Nie habe ich mich als Polarfahrer ſo klein gefühlt wie gegen⸗ 
über dieſen Frauen, die mit Säuglingen an der Bruſt Reiſen 
unternahmen, die manch einem weißen Mann das Leben ge⸗ 
koſtet hätten. 


Der Kampf um die Nahrung. 


Die rauhe Natur, die den Polareskimo in einen ruheloſen 
Kampf ums Daſein hineinzwingt, lehrt ihn raſch, das Leben 
von der praktiſchen Seite zu nehmen, mit anderen Worten: 
Zum Leben brauche ich vor allem Nahrung! Und da er ſo glück⸗ 
lich geſtellt iſt, daß ſeine Form des Nahrungserwerbs, die Jagd, 
zugleich ſeine größte Leidenſchaft iſt, ſo kann man mit Recht 
ſagen, daß er ein glückliches Leben führt, zufrieden mit dem Los, 
das ihm das Schickſal gab. Er wird mit den Eigenſchaften ge⸗ 
boren, die für ſeinen Erwerb erforderlich ſind, und die Fertigkeit 
im Gebrauch der Geräte, die ihn ſpäter zum Meiſter machen, 
erreicht er im Spiel, während er heranwächſt. Kommt dann der 
Tag, da ſeine Kräfte ſich mit denen der Erwachſenen meſſen 
können, dann nimmt er ſich ein Weib und tritt damit in die Reihe 
der Jäger ein. 

Der Schlitten und das Kajak ſind nun die Haupt 
worauf ſein ganzer Erwerb ſich aufbaut. Aber während der 
Schlitten bei jeder Art Fang zehn Monate im Jahre benutzt 
wird, läßt das ſtrenge Klima des Landes die Verwendung des 
Kajaks nur eine ganz kurze Zeit zu; denn der Sommer dauert 
nicht länger als von Ende Juli bis in die erſten Tage des 
September. | 

Als Kajakruderer kann ſich der Polareskimo mit feinen füd- 
grönländiſchen Stammesfreunden nicht meſſen. Sein Kajak iſt groß 


Leben und Geſchichte der Polareskimos. 21 


und plump und verträgt keinen Seegang, da ſeiner Ausrüſtung 
der Ganz⸗ und der Halbpelz fehlt, der zur Bedeckung des Mann⸗ 
lochs dient, es kann alſo nicht bei jedem Wetter ohne Gefahr 
zu ſinken ausfahren. 

Das Meer iſt indeſſen in der Regel mit Eisſchollen erfüllt, 
die den Wellengang dämpfen, und die Gelegenheit, in der Dünung 
zu rudern, iſt nicht zu oft gegeben. 

Die Hauptwaffe des Kajaks iſt die Harpune mit Fangleine 
und Blaſe; was ihm an Seetüchtigkeit fehlt, wird durch die ver⸗ 


blüffende Geſchicklichkeit erſetzt, mit der es der Polareskimo ver⸗ 


ſteht, ſeiner Beute auf den Leib zu rücken, ſo daß er ſie ohne 
Wurfholz mit Leichtigkeit aus größter Nähe harpuniert. 

Die Tiere, die vom Kajak aus gejagt werden, ſind: Walroſſe, 
Narwale, Weißwale, bärtige Seehunde und gewöhnliche Yiord- 
ſeehunde. 

Außer der Jagd auf Seetiere wird auch die Vogeljagd im 
großen Stil betrieben; denn die ganze Küſte von Kap Melville 
bis nach Etah hinauf iſt mit wenigen Unterbrechungen der Brut⸗ 
platz für Millionen von Krabbentauchern, die in ſo großen Maſſen 
auftreten, daß ſie mit Leichtigkeit aus Verſtecken zwiſchen den 
Steinen mit Keſchern gefangen werden können. 

Der Krabbentaucher iſt ein kleiner Alk ungefähr von der Größe 
eines Stars. Die Tiere halten ſich in der Regel auf Bergen auf, 
die aufs Meer hinausgehen, und hier ſammeln ſie ſich in ungeheueren 
ſchwimmenden Flotten, ſich tummelnd und nach kleinen Krabben 
tauchend, die ihre Nahrung bilden. Ihre Brutplätze haben ſie 
auf gleichmäßig anſteigenden Bergabhängen, wo ſie alle Stein⸗ 
haufen lebendig machen. Sie ſitzen hier in dichten Schwärmen 


And bedecken das Geſtein. Ihr ſingendes Zirpen und fröhliches 
Pfeifen ſammelt ſich zu einem einzigen, mächtigen Ton, der die 
ganze Landſchaft zum Klingen bringt, und wenn dieſe Scharen 


einmal auffliegen, fegen ſie über Land und Meer wie ein Un⸗ 
wetter. 
| Dieſer kleine Vogel ſpielt eine große Rolle im Haushalt des 
Eskimos; denn jeder, der ein wenig Energie beſitzt, kann ſich einen 


Wintervorrat ſammeln, der für die ganze Polarnacht ausreicht. 
Außerdem kann man aus den kleinen weichen Bälgen Unterkleider 


anfertigen, die, auf dem bloßen Körper getragen, weich und warm ſind. 


22 | Erftes Kapitel. 


Außer den Krabbentaucherbergen gibt es drei große Alken⸗ 
berge, zwei an der Parker⸗Snow⸗Bai und einen an der Saunders⸗ 
inſel. Große Mengen von Alken, Möwen, Lummen und Sturm⸗ 
vögeln ſchwärmen hier auf den Leiſten in den ſteilen Abſtürzen, 
und namentlich die fleiſchigen Alke werden hundertweiſe mit Netzen 
gefangen und für die dunkle Zeit aufbewahrt (1. Oktober bis 
1. Februar). 

Schließlich liefert der Eidervogel in einzelnen Diſtrikten einen 
willkommenen Beitrag zum Haushalt im Sommer und im Herbſt. 

Der große Reichtum an Krabbentauchern, von dem die Rede 
war, hat noch einen andern Nutzen. Dieſe Vögel locken viel Blau⸗ 
füchſe heran, die ſich an den Brutplätzen ihre Nahrung ſuchen, 
nicht nur im Sommer, ſondern zum großen Teil auch im Winter; 
denn der ſchlaue Fuchs denkt nicht allein an das Heute, ſondern 
legt Depots für den Winter an, namentlich in der Legezeit und in 
der Zeit, in der die Jungen noch nicht flügge ſind. Beim Be⸗ 
ſuch der Felſen ſieht man nicht ſelten einen Fuchs vorſichtig mit 
Eiern im Maul daherkommen, und wenn man ihm folgt, ent⸗ 
deckt man recht bedeutende Lager, die er mit Moos und Torf⸗ 
ſtücken bedeckt. 

Dieſe Füchſe wurden früher in verſchieden gebauten Fallen 
gefangen; jetzt fängt man ſie in ſtählernen amerikaniſchen Fallen. 

Nach dieſer Überſicht über die Ausſichten im Sommer will 
ich auch kurz über die Winterjagd berichten. 

Schon Ende September überziehen ſich Fjorde und Buchten 
mit Eis, und im Oktober beginnt die Jagd auf dem Eis. Liegt 
das Eis einige Zeit ſchneefrei, ſo wird auf dem Glatteis ein 
reicher Seehundfang betrieben. Der Jäger bindet ein Stück Bären⸗ 
fell unter ſeine Füße und gleitet ſo ganz lautlos über das Eis, nur 
hier und da bleibt er ſtehen, um zu lauſchen; denn er nähert ſich 
den Seehunden ausſchließlich mit Hilfe des Gehörs. Wenn die 
Seehunde heraufkommen, um Luft zu holen, puſten ſie Jo laut 
durch das Luftloch im Eis, daß man es auf beträchtliche Ent⸗ 
fernung hört. Der Jäger geht nun dem Laut nach, indem er ſorg⸗ 
fältig darauf achtet, ſich nur zu bewegen, ſolange der Seehund 
atmet. Sobald dieſer innehält, bleibt der Jäger ſofort ſtehen, 
da der Seehund ihn ſonſt hören würde. Der Seehund hält ſich 
in der Regel lange an ſeinem Luftloch auf, um ſoviel Luft wie 


Leben und Geſchichte der Polareskimos. 23 


möglich in ſeine Lungen aufzunehmen, ehe er wieder in die Tiefe 
taucht. Dadurch bekommt der Jäger während des Atemholens 
Zeit, dicht an das Luftloch heranzukommen. Der Seehund wird 
mit großem Geſchick durch eine kleine Offnung harpuniert, die 
nicht größer iſt, als daß die Spitze der Harpune gerade durch— 
geht. Man begreift, daß der Jäger mit großer Sicherheit zielen 
muß. So ſcharf ſind die Sinne des Eskimos, daß er ſelbſt nachts 
in der Lage ilt, feine Beute aufzuſpüren und ſie im Mondſchein 
zu töten. 

Dieſe Weiſe, Fjordſeehunde und bärtige Seehunde zu fangen, 
liefert nur kurze Zeit einen reichen Ertrag, gilt aber für eine der 
unterhaltendſten Arten der Fängerei. 

Bei Neueis werden an verſchiedenen Stellen Walroſſe ge⸗ 
fangen. Es iſt dabei gleichgültig, ob Schnee fällt oder nicht, 
da dieſe großen Tiere nicht ſo feine Sinne haben wie die See⸗ 
hunde. 

Im November iſt das Eis zwiſchen der Saunders⸗ und der 
Wolſtenholme⸗Inſel nicht dicker, als daß das Walroß es mit 
ſeinem Schädel durchſtoßen kann, wenn es bei ſeiner Suche nach 
Muſcheln heraufkommt, um Atem zu holen. Die Eskimos 
ſchleichen ſich dann heran, während es Luft ſchöpft, und ſobald es 
harpuniert iſt, wird die Fangleine blitzſchnell im Eis feſtgemacht. 
Jetzt iſt das Walroß gefeſſelt und es muß, ſo oft es Luft ſchöpfen 
will, ſtets zum ſelben Luftloch zurückkehren; es wird dann mit 
Lanzen getötet. 

Im Herbſt ſind die Walroſſe fett und fleiſchig, und der Fang 
gibt daher eine Ausbeute, die weſentlich mehr Ertrag bringt als 
die kleinen Seehunde; das bedeutet etwas in einer Haushaltung, 
wo der Erwerb zum größten Teil des Winters ſo gut wie 
darniederliegt, und wo nicht bloß die Menſchen ſatt werden 
ſollen, ſondern auch die Schlittenhunde, von denen ein einzelner 
Mann bis zu zwanzig Stück beſitzt. 

Die Jagd, die der Eskimo höher als alle anderen ſchätzt, 
bleibt die Bärenjagd. Ich richtete einmal folgende Frage an einen 
alten Mann: 5 

„Sage mir mal, was hältſt du für die größte Freude in 
deinem Leben?“ Er antwortete: „Eine friſche Bärenſpur zu kreu⸗ 
zen und allen andern Schlitten voraus zu ſein.“ 


24 Erſtes Kapitel. 


Kaum ſind Sonne und Licht zurückgekehrt, ſo ziehen die 
Männer, die Fleiſch genug haben, um ihre Frauen und Kinder 
allein zu laſſen, oft für Monate auf die Bärenjagd aus, der 
Kälte und jeder Art von Wetter trotzend und mit Schneewehen 
als Lagerplätzen vorlieb nehmend. Die Südgrenze für dieſe Bären⸗ 
jagden reicht bis Kap Holm hinab, während man im Norden 
häufig den Humboldtgletſcher paſſiert. Schließlich gibt es auch 
viele, die über den Smithſund von Anoritog zur Piminſel 
überſetzen und der Küſte von Ellesmereland faſt hinab bis zum 
Jonesſund folgen. Hier kann man Greiſe ſehen mit weißem 
Haar, Männer, die in ihrem Jägerleben alles erlebt haben, was 
die Natur ihnen bieten konnte, Jäger, die längſt aufgehört haben, 
ihre Taten zu zählen, junge Männer und halberwachſene Knaben; 
alle ſieht man vom Jagdfieber gepackt, ſobald nur die Ausſicht 
beſteht, den weißen König der Polarwüſte herauszufordern. Und 
für einen einzigen Zweikampf auf Harpunen werden alle die 
vielen erfolgloſen und ſchweren Strapazen vergeſſen, die dieſem 
großen Augenblick vorausgingen. 

Ah, eine Bärenſpur, weit vorn ein kleiner gelber Punkt in dem 
weißen Schnee, und dann gute Bärenhunde, die wie das Un 
wetter über das Eis hinſauſen können, ſo daß man alle andern 
überholt, das iſt einer der Höhepunkte des Lebens, von denen 
jeder junge Polareskimo träumt. 


* * 
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Von Mai bis Mitte Juli kommt die Zeit, in der die See⸗ 
hunde aufs Eis kriechen, um ſich in fauler Frühjahrsträgheit zu 
ſonnen. Dann rückt ihnen der Eskimo auf den Leib und har⸗ 
puniert ſie, ehe ſie ſich ſo weit gefaßt haben, daß ſie erwachen 
und durch ihre Luftlöcher unter das Eis gleiten. Sollte es aber 
trotzdem geſchehen, daß der Schlaf zu leicht iſt und das Tier er⸗ 
wacht, ſo verſteht jeder Jäger die Kunſt, Laute und Bewegungen 
des Seehundes ſo naturgetreu nachzuahmen, daß dieſer glaubt, 
einen Kameraden vor ſich zu haben, der in Wärme und Wohl⸗ 
behagen daliegt und ſeinen Pelz im Schnee putzt. So täuſchend 
fährt der Eskimo in ſeiner Annäherung fort, daß der aufgeſtörte 
Seehund ſich raſch wieder niederlegt und ſich dem Schlaf hingibt, 
aus dem er nie mehr erwachen ſoll. 


Leben und Geſchichte der Polareskimos. 25 


Bei dieſer Art des Fangs wurden früher ausſchließlich Har⸗ 
pune und Fangleine verwendet; jetzt benutzt man dagegen die 
Flinte und das Schießſegel, das aus dem ſüdlichen Grönland 
eingeführt iſt. Dieſes Schießſegel beſteht aus einem Stück weißen 
Schirting, groß genug, um einen kriechenden Mann zu decken. 
Es wird auf dem kleinen Schlitten aufgeſpannt, den man auf dem 
Bauch liegend mit dem Gewehr vor ſich herſchiebt, bis man auf 
Schußweite an die Beute heran iſt. j 

Die Utut⸗Jagd, wie die oben geſchilderte Art Seehunde zu 


fangen heißt, liefert den Grundſtock für die ſehr wichtigen Winter⸗ 
x vorräte, die eine ſorgenfreie Dunkelzeit gewährleiſten jollen. 


Von dem Landwild hatte das Renntier vor der Zeit der 
5; Peary⸗Expeditionen große Bedeutung, nicht nur wegen des 
Fleiſches, ſondern auch der Felle wegen. Dieſe wurden nicht allein 


90 als Pelze, ſondern auch als Decken für die Schlafbänke verwendet. 


Aber leider war das Jagdgebiet nur klein, und die Eskimos waren 
noch nicht lange im Beſitz der amerikaniſchen Magazingewehre, als 
der ganze Beſtand ausgerottet war. Jetzt iſt es eine große Selten⸗ 


| i heit, daß man ein Renntier zu ſehen bekommt. 


Hafen gibt es dagegen in verſchiedenen Diſtrikten reichlich. Ihr 

Fleiſch gilt als Delikateſſe, und die Felle ſind unentbehrlich zur 
Herſtellung der Strümpfe. Man jagt fie mit gutem Erfolg ſowohl 
mit der Büchſe wie mit Schlingen. 

Ein Landwild, das im eigenen Gebiet der Polareskimos nicht 
vorkommt, das aber trotzdem in den letzten Jahren angefangen 
hat, eine außerordentlich große Rolle zu ſpielen, iſt der Moſchus⸗ 
ochſe. Überall auf der Strecke vom Humboldtgletſcher bis hinab 
zu den ganz ſchmalen Landſtreifen in den Bergen bei Kap York 
findet man ihre Knochen. Aber kein jetzt lebender Eskimo kann 
Beſcheid geben, wann die letzten Moſchusochſen hier erlegt worden 


ind. 


Solange es Renntiere genug gab, verachtete man die Häute 


i “v2 der Moſchusochſen als Schlaffelle, da man fie unpraktiſch fand 


und ſie wegen ihrer langen Haare ſchwer rein zu halten waren. 
Noch heute zieht man Bärenfelle vor, die immer als die feinſten, 
haltbarſten und zweckmäßigſten gelten. Aber leider iſt nicht jeder 


1 ø ein großer Bärenjäger, und daher nimmt man jetzt auch mit dem 
Moſchusochſen vorlieb. 


26 Erſtes Kapitel. 


Jedes Jahr im April und Mai zieht man daher auf große 
Moſchusochſenjagden aus, am liebſten durch Ellesmereland bis 
nach Heibergland. Dieſe Jagden erſtrecken ſich oft über ein paar 
Monate. Man läßt ſich an den Orten nieder, wo man die Tiere 
erlegt hat, um die Felle zu trocknen, und da man in jeder Jagd⸗ 
zeit mit etwa zwei Dutzend Jägern rechnen muß, wird man kaum 
in der Annahme fehlgehen, daß jedes Jahr etwa 300 Moſchus⸗ 
ochſen ihr Leben laſſen müſſen. Man mag beklagen, daß dieſem 
eigenartigen Großwild die Ausrottung droht, da die Eskimos 
keine Selbſtbeſchränkung beſitzen. Doch iſt dieſe Zeit noch nicht 
nahe; denn einzelne Herden in dieſen Gegenden zählen bis zu 
200 Tieren, die einen großen Berg beleben können — ein impo⸗ 
nierender Anblick, den keiner vergißt, der ihn erlebt hat. 


Frauen und Kleider. 


Der Polareskimo beginnt und endet ſein Leben auf Reiſen. 
Schon als Neugeborener begleitet er ſeine Mutter im Ruckſack. 
Niemand nimmt Rückſicht darauf, was für eine Jahreszeit ilt; 
oft muß das jammernde Kleine über wilde Gletſcher, durch 
Dunkel und Kälte getragen werden, und meiſt endet die Tragreiſe 
in einer kalten, eben errichteten Schneehütte. Kein Wunder, daß 
Mann und Frau häufig von Gicht vor der Zeit gekrümmt ſind 
und nicht mehr weiter können. Das ſind die natürlichen Folgen 
all der Tage, die man in Schneewehen bei plötzlichen Schnee⸗ 
ſtürmen verbringen mußte, oder Erinnerungen an die vielen Male, 
da man auf Renntierjagden oder Vogelfang vom Unwetter über⸗ 
raſcht wurde und wochenlang ſeine Zuflucht in einer feuchten, 
kalten Felſenhöhle nehmen mußte. 

Bei einem ſolchen Hintergrund iſt es verſtändlich, daß keine 
Menſchen der Zweckmäßigkeit ihrer Kleidung eine ſolche Aufmerk⸗ 
ſamkeit geſchenkt haben wie dieſe. Das Klima ihres Landes ver⸗ 
langt es, und es iſt deshalb unumgängliche Hauptbedingung, daß 
derjenige, der hier der Jagd obliegen will, entſprechend geklei⸗ 
det iſt. f 

Die Aufgabe der Frau iſt es, die Kleider des Mannes zu 
nähen und inſtand zu halten; ſie iſt nicht minder wichtig als die 
Beſchaffung der täglichen Nahrung. Nicht umſonſt ſagt daher auch 


Leben und Geſchichte der Polareskimos. 27 


der Polareskimo, daß ein Mann als Jäger das ilt, was ſeine 
Frau aus ihm macht. Aber die Frau weiß auch, wie hoch ihr 
Einſatz vom Mann geſchätzt wird, und kein Lob kann ihr mehr 
ſchmeicheln, als wenn man ihre Arbeit bewundert. Zum Glück 
liefern ihr auch die Tiere mit den wärmſten Pelzen der Welt die 
Stoffe für die Kleidung. Auf dem Körper wird zunächſt ein 
leichtes, weiches Vogelbalghemd mit den Federn nach innen ge⸗ 
tragen, darüber im Frühjahr, Sommer und Herbſt ein Seehund⸗ 
pelz mit den Haaren nach außen. Im Winter wird dieſer ſo⸗ 
genannte „Netſeg“ mit einem Blaufuchspelz vertauſcht, der 
ebenfalls mit den Haaren nach außen getragen wird; ſicher die 
leichteſte und dabei wärmſte Kleidung, die es gibt. Als Beinkleider 
benutzen die Männer Bärenfelle, eine Art Kniehoſen, die bis 
unterhalb des Knies reichen. Aus hübſchen, weißen, vom Froſt 
gebleichten Seehundfellen ohne Haare werden die Stiefel ange⸗ 
fertigt, die mit Haſenfellen gefüttert ſind. Auf langen Schlitten⸗ 
reiſen benutzt man auch langhaarige Stiefel aus den Vordertatzen 
des Bären oder aus dem Fell von den Vorder- und Hinter⸗ 
beinen des Renntieres. — Die Kleidung der Frau weicht nicht 
weſentlich von der des Mannes ab. Der Hauptunterſchied beſteht 
darin, daß die Beinkleider aus Fuchsfellen beſtehen und kürzer 
als die des Mannes ſind, ſo daß die Stiefel faſt die Länge des 
Beines bekommen. Der Unterſchied in den Pelzen iſt nur durch 
kleine Abweichungen im Muſter oder in der Art der Felle, die 
von verſchiedener Farbe zuſammengeſetzt ſind, angedeutet. Die 
Fuchspelze kommen ſelten ins Haus, ſondern werden außer dem 
Hauſe in einer kleinen Steingrotte aufbewahrt. Die ziemlich zarten 
Felle werden auf dieſe Weiſe nicht den häufig wechſelnden Tem⸗ 
peraturveränderungen ausgeſetzt, die fie bald zerſtören würden. — 
Der Hausanzug in den ſehr warmen Häuſern und Zelten beſchränkt 
ſich auf Stiefel und Hoſen; der Oberkörper iſt nackt, ein Negligg, 
das nichts mit Koketterie zu tun hat, denn oben auf der Pritſche 
find oft über 20 Grad Wärme, während am Boden eine Tem⸗ 
peratur von null Grad oder einem Grad darunter herrſcht. 


Haus und Zelt. 
Die Winterwohnungen beſtehen aus kleinen Häuſern mit 
einem Kuppeldach, die mit großer architektoniſcher Geſchicklichkeit 


28 Erftes Kapitel. 


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Aufriß und Grundriß des Winterhauſes eines Polareskimos. 


A Schlafpritſche, B Pritſchen für Fleiſch, O Lampen, D Fußboden, E Innere Steinlage, F Außere 
Steinlage, 6 Raſendecke, H Raum über den Pritſchen, I Hausgang, J Keſſel mit Fleiſch, L Fenſter⸗ 
ſcheibe aus Darmhaut, M Kochgeſchirr, O Luftloch, P Platz zum Trocknen, R Raum unter den Pritſchen. 


aus großen, flachen Steinen ſo aufgebaut ſind, daß die Steine 
ſich ſelbſt ohne Stützen tragen. Die Häuſer ſind in der Regel nur 
für eine Familie berechnet. Als Eingang dient ein ſehr niedriger 
Gang; durch ihn kriecht man in den Wohnraum hinein, den man 
von unten her durch eine ſchmale Offnung betritt. Trotz der primi⸗ 
tiven Anlage und dem geringen Platz können dieſe Hütten, deren 
Wände mit hellen Seehundfellen bekleidet ſind, doch außerordent⸗ 
lich behaglich wirken. Die Steinpritſche, die den größten Teil der 
Stube einnimmt, iſt immer mit einer dicken Lage duftenden Heus 
bedeckt; darüber ſind Bären⸗ oder Renntierfelle ausgebreitet. Licht 
und Wärme ſpenden zwei bis drei Tranlampen aus Stein, die mit 
ihren langen Moosdochten eine Hitze entwickeln können, der das 
Adamskoſtüm entſpricht, das im Hauſe üblich iſt. Die Pritſche 
iſt ſelten breiter, als daß vier Menſchen nebeneinander darauf 


Leben und Geſchichte der Polareskimos. 29 


ſitzen oder liegen können, und die Decke iſt ſo niedrig, daß man 
nur ſelten aufrecht zu ſtehen vermag. Dem Eingang gegenüber 
befindet ſich ein Fenſter aus zuſammengenähten Darmhäuten. 
Mitten darin iſt immer ein kleines rundes Guckloch. Oben an der 
Decke befindet ſich ein anderes Loch, durch das die ſchlechte Luft 
abziehen kann; es wird die Naſe des Hauſes genannt. 

Außer den feſten Winterhäuſern hat man auch das Schnee⸗ 
haus. Der Bauſtoff dazu ſind große Schneeblöcke, die mit langen 
Meſſern aus feſtgepackten Schneewehen ausgeſchnitten werden. 
Dieſe Schneehäuſer ſind mit großer Kunſtfertigkeit gebaut; das 
Innere iſt ganz wie bei den Steinhäuſern mit Fellen an den 
Wänden und an der Decke eingerichtet. Kein Blockhaus in der 


N. % Welt kann ſich an Wärme mit einem dichten Schneehaus meſſen. 


Der kurze Sommer iſt die Zeit für das Freiluftleben im Zelt; 
auch hier trifft man die geräumige Steinpritſche, die mit allem 
Zubehör ein vortreffliches Lager für die Nacht gibt. Die Fell⸗ 
zelte beſtehen aus zwei Lagen von Seehundfellen übereinander 
und halten daher bei jeder Art Wetter mit Leichtigkeit den Regen 
ab. Auch hier brennen die Tranlampen, die dem Zelt eine folde 
Temperatur verleihen, daß man darin wohnen bleibt, bis Ende 
September der Winter den Herbſt ablöſt. 


Wohnplätze, die der Wind getauft hat. 


Die feſten Wohnplätze erſtrecken ſich von Kap Seddon in der 
Melvillebucht bis faſt zum Humboldtgletſcher. Da der Stamm 
ſo wenig Köpfe zählt, haben die Jäger guten Ellenbogenraum, 
und zu gleicher Zeit ſind dem Wild ausgezeichnete Bedingungen 
für ſein Gedeihen und ſeine Vermehrung geboten; denn dieſe kleine 
Handvoll Jäger iſt über eine Strecke von 800 Kilometer verſtreut. 
Die Polareskimos ſelbſt teilen ihre Wohnplätze nach dem Wind 
in folgende Bezirke ein: 
Nigerdlit: die dem Südweſtwind am nächſten wohnen. 
Akunarmiut: die zwiſchen den Winden wohnen. 
Orqordlit: die in Lee des Südweſtwindes wohnen. 
Avangnardlit: die dem Nordwind am nächſten wohnen. 
Unter „Nigeg“ verſteht man nicht nur den Südweſtwind, 
ſondern begreift darunter auch die milden Föhnwinde, die ganz 


30 Erſtes Kapitel. 


plötzlich vom Inlandeis herabkommen und mit einem Schlag 
mitten im kälteſten Winter die Temperatur über Null bringen. 
Davon will ich ein Beiſpiel anführen. 

Einſt fuhren wir Ende Januar nach einer Reiſe über die 
Melvillebucht mit zwanzig Schlitten auf dem Weg nach Thule 
am Land ſüdlich des Petowikgletſchers entlang. Das Wetter war 
gut, und da infolgedeſſen die Tagereiſe ſehr lang geweſen war, 
war ich ein wenig müde und legte mich auf den Schlitten, um 
einen kurzen Schlaf zu tun, während ein Junge, den ich mit hatte, 
die Hunde lenkte. Unmittelbar bevor ich die Augen ſchloß, hatte 
ich noch bemerkt, daß es oben in einigen Schluchten in der Nähe 
des Inlandeiſes zu ſtieben anfing. Aber da ſich ſonſt keine An⸗ 
zeichen von Unwetter am Himmel ſehen ließen, achtete niemand 
von uns weiter darauf. 

Ich hatte kaum fünf Minuten geſchlafen, als ich auf die 
brutalſte Weiſe geweckt wurde. Als ob eine mächtige Fauſt mich 
packte, ſo hob es mich vom Schlitten und warf mich aufs Eis. 
Ich bekam einen ſo heftigen Schlag auf den Rücken, daß ich nicht 
gleich imſtande war aufzuſtehen. Als es mir ſchließlich glückte, 
auf die Knie zu kommen, ſah ich, daß all die vielen Schlitten, 
die einen Augenblick vorher in einer langen Reihe gefahren waren, 
zu einem großen Haufen zuſammengefegt waren, wie Hobelſpäne 
bei einem Windſtoß. So plötzlich und heftig hatte der Föhn ſeine 
erſten Windſtöße als Vorläufer für den aufziehenden Sturm ge⸗ 
ſandt. Da es ganz unmöglich war aufrecht zu ſtehen, geſchweige 
denn zu fahren, ließen wir uns mit Schlitten und Hunden ans 
Land blaſen, bis wir bei einer Schlucht an einem breiten Eisfuß 
ein wenig Schutz vor dem Wind fanden, wo wir die Schlitten 
vertäuen und die Hunde anbinden konnten. Kaum war dies ge⸗ 
ſchehen, als der Föhn auch ſchon von den Bergen und dem 
Inlandeis auf uns unter Sturmgebraus herabſtürzte, das uns den 
Untergang der Welt befürchten ließ. Mit ſolcher Gewalt preßte 
der ungeheure Winddruck auf das dicke Wintereis, daß die Wellen 
augenblicklich durch den Gezeitengürtel emporſchlugen. Nach einer 
halben Stunde ſah man durch das Dunkel große, weiße, 
ſchäumende Riſſe im Eis, und ein paar Stunden nach dem Aus⸗ 
bruch war dort, wo wir eben mit den Schlitten gefahren waren, 
offenes Meer. 


Leben und Geſchichte der Polareskimos. 31 


Man kann die Bedeutung verſtehen, die der Wind für ein 
Jägervolk ſpielen muß, deſſen Exiſtenz vom Meere abhängt. 

Der Südweſtwind entſcheidet über das Schickſal des Sommers; 
denn bläſt er zu häufig, ſo füllt ſich die Melvillebucht und die 
ganze Nordweſtküſte mit Packeis, was rauhes Wetter und ſchlechten 
Fang zur Folge hat. Nur im Herbſt zeigt dieſer Wind wohltätige 
Wirkungen; denn er läßt das Eis zeitig feſt werden und führt 
auf ſeinen Eisſchollen eine Menge Eisbären über die Baffinbucht 
nach dem Land. 

Zu „Nigerdlit“ gehören alle Wohnplätze bei Kap York und 
ſüdlich davon. Das hauptſächlichſte Jagdtier an dieſen Orten iſt 
der Seehund. Aber das, was die Leute dorthin lockt, ſind vor 
allem die vielen Bären in der Melvillebudt. 

Der Kap⸗Nork⸗Diſtrikt hat keinen eigentlichen Sommer, und 
der Winterfang kann daher alle zwölf Monate des Jahres hin⸗ 
durch betrieben werden; nur muß man ab und zu einen Gletſcher 
überſchreiten. Das ſelten offene Waſſer bietet eine ſchlechte Kajak⸗ 
jagd und keine Winterdepots. Ein Vorteil iſt es daher, daß man 
den kleinen Krabbentaucher hat, der in Millionen auf allen Bergen 
ringsherum niſtet. Als Wintervorrat werden dieſe Vögel in ganz 
eigentümlicher Weiſe konſerviert. Im Mai und Juni werden ſie 
mit Haut und Haar in große, friſch abgezogene Seehundfelle ein⸗ 
gelegt, die ſo abgezogen ſind, daß nur eine kleine Offnung am Kopf 
und den Hinterfüßen bleibt, die leicht zuzuſchnüren iſt. Sobald ein 
ſolches Fell gefüllt iſt, wird es ſorgfältig mit Steinen bedeckt, 
ſo daß die Strahlen der Sonne es nicht erreichen können; dies 
würde das Fleiſch bitter machen. Die Vögel gehen in leichte 
Fäulnis über, und gleichzeitig durchdringt der Speck des Felles 
das Fleiſch. Dieſes Gericht, das für eine außerordentliche Deli- 
kateſſe gilt, wird allen Gäſten im Lauf des Winters als das 
Beſte angeboten, was man ſeinen Freunden vorſetzen kann. 

Mag alſo hier ein gewiſſer Fleiſchmangel herrſchen, ſo gibt es 
andere Dinge, die nach der Meinung des Südweſtbewohners 
beſſer ſind. 

Hier gibt es große Mengen von Blaufüchſen, ſo daß die 
Leute, abgeſehen davon, daß ſie ſich leicht Pelze im Überfluß ver⸗ 
ſchaffen können, immer über viele „Verkaufsfüchſe“ verfügen. 
Dann hat man hier die Bärenfelle, die nicht bloß warme 


32 Erſtes Kapitel. 


Hoſen und herrliche Pritſchenfelle, ſondern auch bares Geld liefern. 
Ferner ſchwelgt man das ganze Jahr in ſpannenden Jagderleb⸗ 
niſſen, und einen Mann von Kap Vork zu treffen, it daher immer 
ein Erlebnis. 

Alles dies gibt ihnen alſo einen gewiſſen Nimbus; aber die 
Leute von der Leeſeite, die nicht geringer ſein wollen, begnügen 
lig in der Regel damit, einzuräumen, daß die Kap⸗Yorker wohl 
die beſten Kleider und die beſten Pritſchenfelle im ganzen Diſtrikt 
haben, „aber“, ſo fügt man hinzu, „ihre Häuſer ſind kalt, weil 
fie nur Seehundſpeck für ihre Lampen haben. Ihre Hunde ſind 
mager und ſtruppig im Pelz, weil ſie nicht mit Walroß⸗ und 
Narwalfleiſch gefüttert werden, und ſchließlich lieben ſie es trotz 
all ihrer Tüchtigkeit außerordentlich, zu unſern wohlgefüllten 
Fleiſchlagern heraufzukommen, um ihre Hunde zu füttern und ſich 
in Matag ſelbſt richtig ſatt zu eſſen, wenn een ſich in 
der Dunkelheit meldet.“ 
| „Akunarmiut“ umfaßt den Diſtrikt in der Gegend des jetzigen 
Thule. Der Haupterwerb iſt hier die Walroßjagd, aber auch 
Seehunde und Narwale werden in großer Zahl erlegt. Von großer 
Wichtigkeit für den Erwerb iſt es hier, daß das Eis zwiſchen der 
Saundersinſel und Dalrymple Rock am Schluß des Oktober und 
Anfang November feſt wird und eine gleichmäßige, ebene Fläche 
bildet, denn dann halten ſich die Walroſſe lange bei den großen 
Atemlöchern auf, die ſie mit ihrem Schädel brechen. 

Dieſe Jagdſaiſon iſt eine ſchöne und ſpannende Zeit — ein 
Wettlauf vom Morgen bis zum Abend. Da gilt es, als erſter 
mit dem Schlitten draußen an den Fangplätzen zu ſein. Daher 
kann man zeitig am Morgen oder richtiger in der Nacht einen 
Schlitten nach dem andern über das Eis hinfliegen ſehen wie einen 
eiligen Vogel, der ins Dunkel hinausfliegt. Es iſt nicht klug, in 
großer Geſellſchaft zu jagen, denn das gibt kleine Beuteanteile. 
Darum verteilt man ſich jo weit wie möglich, und man kann in, 
dem weißen Dunkel die Umriſſe vieler pelzgekleideter Jäger ſehen, 
die ſich mit Harpune und Leine unter dem Arm über das Eis 
verteilen, um ihr Glück zu verſuchen. Wenn dann ein Walroß 
harpuniert iſt, fo ſieht man viele mit Bärenfellhoſen bekleidete 
Geſtalten herzueilen, um an der Freude über den Fang und an der 
Verteilung teilzunehmen. Ohne Schwierigkeit wird das ſchwere 


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Leben und Geſchichte der Polareskimos. 33 


Tier vermittelſt eines primitiven Flaſchenzuges auf das Eis ge 
zogen. 

Leider ſchlägt dieſe Walroßjagd oft fehl, und man kann den 
Diſtrikt daher nicht zu den guten Ernährungsgebieten rechnen. 

„Orqordlit“, das Gebiet der Leeſeitenbewohner, umfaßt den 
ganzen Diſtrikt um den großen Inglefieldgolf. Hier liegen eine 
Menge Wohnplätze. Die Jagdverhältniſſe ſind überall ſo glän⸗ 
zend, daß immer Fleiſch im Überfluß zu haben iſt. 

In der Fiordmündung gibt es hier den ganzen Sommer hin⸗ 
durch, auf dem Neueis im Herbſt und während der hellen Zeit 
im März, große Mengen von Walroſſen. Wenn offenes, nach 
einem Sturm entſtandenes Waller zufriert, entwickelt ſich hier 
eine Jagd, die der oben geſchilderten entſpricht. 

Außer den Walroſſen ſind es große Schwärme von Narwalen 
und Weißwalen, die hier vorbeiziehen und vom Kajak aus ge- 
fangen werden. Dieſe großen fleiſchreichen Tiere verſchaffen den 
Leebewohnern mächtige Wintervorräte. Der fette Speck des Nar⸗ 
wals und des Weißwals liefert bekanntlich weit mehr Licht und 
Wärme als Seehund⸗ und Walroßſpeck. Dieſe Diſtrikte können ſich 
mit Recht rühmen, daß ſie die größten und wärmſten Häuſer haben. 
Ihre Hundemeute iſt außerordentlich groß, und die Hunde ſelbſt 
ſind fett und haben glänzende Pelze. Füchſe ſind dagegen in ein⸗ 
zelnen Diſtrikten ſelten, und Krabbentaucher gibt es nur bei Kiatak, 
Igdluluarſſuit und Nege. Aber der Herbſt ilt hier weit trockener 
als weiter ſüdlich, und man kann daher faſt immer auf eine lange 
Periode der Glatteisjagd rechnen, die die Fleiſchdepots zum Über⸗ 
quellen bringt. 

Das einzige, was wirklich mangelt, ſind Bärenfelle, die mit 
Recht für unentbehrlich angeſehen werden. Ohne warme Bären⸗ 
fellhoſen iſt es nämlich unmöglich, im Winter lange Reiſen zu 
unternehmen, und ohne Bärenjagden bekommt man keine ordent⸗ 
lichen Felle für die Pritſchen. Von den Jägern der Windſeite 
werden die Leebewohner mit einiger Bosheit als „Küchenjäger“ 
bezeichnet, die trotz all ihres Fleiſchreichtums und ihrer fetten 
Hunde ſich Bärenfelle von den „richtigen“ Jägern einhandeln 
müſſen. 

„Avangnardlit“, „die dem Nordwind am nächſten wohnen“, 
ſchließt die Wohnplätze Etah und Anoritoq ein. — a hat 


Rasmuſſen. 


34 Erſtes Kapitel. 


vortreffliche Bedingungen für die Walroßjagd und iſt zugleich ein 
einziger ſingender Vogelberg, auf dem die Krabbentaucher hauſen. 
Dieſe gibt es nicht bei Anoritog; als Erſatz dafür erbeutet man 
hier außer Walroſſen eine große Menge von Narwalen, die, wo 
ſie erlegt werden, dem häuslichen Leben im Winter immer ein 
beſonderes Gepräge geben. An beiden Plätzen iſt die Bärenjagd 
ausgezeichnet, ſowohl im Norden als im Weſten, und die Lebens⸗ 
bedingungen ſtimmen faſt in jeder Weiſe mit denen der Südweſt⸗ 
bewohner überein. Wind haben ſie auch im Überfluß, nicht nur 
Südweſtwind, ſondern auch Nord- und Nordoſtwind, der hier 
mit ungeheurer Gewalt auftreten kann. Im Gegenſatz zum Süd⸗ 
weſtwind reinigt er die Küſte vom Eis und er iſt daher der Wind, 
den man ſich beſonders wünſcht, wenn Schiffe zu erwarten ſind. 


Ein Wandervolk. 


Der vorige Abſchnitt handelte von den Wohnplätzen inner⸗ 
halb des Diſtrikts. Aber man darf darum nicht glauben, daß 
die Polareskimos ein anſäſſiges Volk ſind, denn es gibt wenig 
Menſchen in der Welt, die in höherm Grad ein Wanderleben 
führen. Die Steinhäuſer ſtehen nur an der Küſte, errichtet von 
alten, längſt vergeſſenen Geſchlechtern. Da das Baumaterial Stein 
iſt, kann der Zahn der Zeit ihnen nichts anhaben, und es bedarf 
daher nur einer kleinen jährlichen Ausbeſſerung, damit ein Frem⸗ 
der in ein ſolches Haus einziehen kann, nachdem es Frühling und 
Sommer hindurch gelüftet worden iſt. 

Kein Polareskimo bleibt länger als ein oder zwei Jahre an 
einer Stelle wohnen; dann erwacht ſeine Sehnſucht, in neue Ver⸗ 
hältniſſe zu kommen und in andern Jagdgebieten zu jagen. Jedes 
Frühjahr erweckt die Wanderluſt, und zu der Zeit, in der die 
Natur ſelbſt das Joch des Winters abſchüttelt, erwacht in den 
Menſchen die Luſt, aufzubrechen und den Scharen der Zugvögel 
nachzuziehen, die verkünden, daß der Sommer im Lande iſt. 

Die Wanderungen ſind in Wirklichkeit nichts anderes als ein 
Tauſch der Häuſer in großem Stil. Denn ebenſowenig wie der 
Seehund im Meer oder das Renntier auf dem Land einen Be 
ſitzer hat, ebenſowenig folgt irgendein Recht aus dem Umſtand, 
daß man ein Haus bewohnt hat. Wenn Pualuna auszieht, um 
ſich anderswohin zu begeben, ſo iſt es nicht länger ſein Haus, und 


Leben und Geſchichte der Polareskimos. | 35 


wenn Maja dieſen Wohnplatz wählt, kann er ruhig hinein⸗ 
ziehen. . N 
All die Spannung, die ſich faſt jedes Frühjahr einitellt, 
wenn man einen Beſchluß faſſen ſoll, wo man nächſten 
Winter jagen will, und all die heitere Aufbruchsſtimmung, 
die alle ergreift, geht wie ein befreiender Ruf zum Aufbruch 
durch das ganze Land, das viele Monate in Kälte und 
Dunkelheit gelegen hat. f 

In der Regel ziehen die, die auf der Südweſtſeite oder dem 
Nordwind am nächſten gelebt haben, nach den Plätzen der Lee⸗ 
ſeite, um ein paar Jahre im Überfluß zuzubringen und ſich in 
Ruhe und Gemächlichkeit neue Hunde zu verſchaffen. Dafür zieht 
dann mancher eingefleiſchte Leeſeitenbewohner nach Norden oder 
Süden, um ſich mit Pritſchenfellen und glänzend weißen Bärenfell⸗ 
hoſen zu verſorgen. So leben dieſe Menſchen ihr Leben auf der 
Grundlage einer genialen Erwerbskultur, deren ſinnreiche An⸗ 
paſſung an das rauhe Land ſie zu den ſorgenfreieſten Menſchen 
der Erde macht. Nirgends lebt man wie hier nach einem einfachen 
und praktiſchen Kommunismus, der allen das gleiche Recht und 
gleiche Chancen gibt. Selbſt die Launen des Glücks hat man 
verſucht auszuſchalten, indem man alle große Jagdbeute in Teile 
zerlegt, die jedem zufallen, der an einem Jagdtag nicht das Glück 
gehabt hat, als erſter einen Narwal zu harpunieren. Durch dieſes 
Verteilungsſyſtem erhält jeder Jäger Fleiſch, wenn er ſich nur in 
der Nähe des glücklichen Jägers aufhält. Dies ſcheint das Ergeb⸗ 
nis menſchlich geſtimmter Erfahrungen zu ſein, die man im Kampf 
ums Daſein in einer kargen Natur gemacht hat. 

Und noch eins! Nicht alle ſind von Natur gleich ſtark und 
geſchickt, und es ſind daher oft nur die Auserwählten, die im⸗ 
ſtande ſind, die Gelegenheit wahrzunehmen und die erſte Harpune 
auf ein unverletztes Walroß zu werfen. Zieht das Tier aber erſt 
an der Fangleine die große Fangblaſe mit ihrem ſchweren Schlep⸗ 
per durchs Waſſer, ſo kann ſelbſt der weniger Geſchickte mithelfen, 
das Tier totzuſchlagen. Dadurch gewinnt er ſeinen rechtmäßigen 
und auch reichlichen Anteil an der Beute. Um ſeine Stellung als 
Erwerber in dieſer Gemeinſchaft zu behaupten, iſt daher nur eines 
erforderlich, und das iſt Fleiß. Den Faulen, der nicht mit Hand 


anlegen will, läßt man ſeine eigenen Wege gehen. 
3 * 


36 Erſtes Kapitel. 


Kann man in einer Gemeinſchaft dem Ideal näherkommen, 
daß die Faulheit die einzige Quelle der Armut iſt? 

So leben die Eskimos froh miteinander, behandeln ihre 
Frauen und Kinder gut und fühlen ſich familienweiſe durch ein 
Band der Anhänglichkeit verknüpft, das ſich oft in ergreifender 
Weiſe zeigt. 


Primitive Lebensanſchauungen. 


Auch die kürzeſte Skizze über die Polareskimos darf nicht 
ſchließen, ohne mit einigen Worten auf ihre eigentümlichen primi⸗ 
tiven Lebensanſchauungen hinzuweiſen. 

Die Polareskimos glauben an keinen Gott, den man anbetet, 
ſondern ihren religiöſen Vorſtellungen liegen eine Reihe ſagen⸗ 
hafter Erzählungen und traditioneller Gebräuche zugrunde, die 
man als Überlieferungen aus den allerälteſten Zeiten betrachtet. 
Die Vorfahren haben darin ihren ganzen Reichtum an Lebens⸗ 
erfahrungen niedergelegt, damit die, die nach ihnen kommen, nicht 
dieſelben Fehler begehen und denſelben Irrtümern verfallen ſollen 
wie ſie ſelber. 

Dieſe Erzählungen ſind als die Saga des Inuitvolkes anzu⸗ 
ſehen, die von Geſchlecht zu Geſchlecht von den Alteſten an die 
Jüngſten des Stammes weitergegeben werden. Teils ſind es ein⸗ 
fache Schilderungen, teils Belehrungen für die, die ſich den For⸗ 
derungen der Tradition nicht unterordnen wollen; teils ſind es 
auch Berichte von Helden, die ſich in allen möglichen Gefahren be⸗ 
währt haben als leuchtende Beiſpiele für kommende Geſchlechter. 

Oſarqag, ein kluger, intelligenter Mann, erklärte mir einmal 
ſeine eigene Auffaſſung in folgenden Worten: 

„Unſere Erzählungen ſind Erlebniſſe von Menſchen, und daher 
ſind es nicht immer ſchöne Dinge, die man zu hören bekommt. 
Aber es geht nicht an, eine Erzählung auszuſchmücken, damit ſie 
für den Zuhörer angenehm it, wenn ſie gleichzeitig wahr ſein 
ſoll. Die Zunge ſoll ein Echo deſſen ſein, was geſchildert wird, und 
darf ſich nicht nach Laune und Geſchmack eines Menſchen richten. — 
Dem Wort des Neugeborenen ſchenkt niemand Vertrauen, aber die 
Erfahrungen alter Geſchlechter enthalten Wahrheit. Wenn wir 
unſere Sagen erzählen, fo ſprechen wir nicht aus uns ſelber, 
ſondern die Weisheit der Väter ſpricht aus uns.“ 


* 


Leben und Geſchichte der Polareskimos. 37 


Als Beiſpiel für dieſe Sagen will ich hier die wiedergeben, 
die davon handelt, wie einſt „vor langer, langer Zeit“ die Men⸗ 
ſchen entſtanden. In ihrer barocken Kraft und tiefen Urſprüng⸗ 
lichkeit iſt ſie ein gutes Beiſpiel für die Phantaſie der Eskimos. 
Ich überſetze ſie hier ſo genau wie möglich, nach einem Diktat der 
alten Eskimofrau Arnaruluk: 

„Unſere Vorväter haben viel über die Entſtehung der Menſchen 
vor langer, langer Zeit geſprochen. Sie verſtanden es nicht ſo 
wie du ihre Worte in Strichen aufzubewahren, ſie konnten nur 
erzählen, die Menſchen, die vor uns lebten. Sie erzählten von 
vielen Dingen, und darum wiſſen wir etwas von dieſen Dingen, 
von denen wir immer wieder haben ſprechen hören, ſeit wir klein 
waren. 

„Alte Frauen pflegen ihre Worte nicht ſorglos zu vergeuden, 
und wir glauben ihnen. Das Alter kennt keine Lüge. 

„Damals, vor langer, langer Zeit, als die Erde entſtehen 
ſollte, ſtürzte ſie oben vom Himmel herab, Erde, Berge und 


Steine: ſo entſtand die Erde. 


„Als die Erde da war, kamen die Menſchen. Man erzählt, 
daß die Menſchen auf der Erde entſtanden. Kleine Kinder kamen 
aus der Erde heraus; ſie kamen aus den Weidengebüſchen hervor, 
bedeckt mit Weidenlaub. Und ſo lagen ſie zwiſchen den Zwerg⸗ 
büſchen mit geſchloſſenen Augen und ſtrampelten. Sie konnten 
nicht einmal kriechen. Ihre Nahrung erhielten ſie von der Erde. 

„Dann erzählt man von einem Mann und einer Frau; die 
Frau näht Kinderkleider und wandert über die Erde hin. Da 
findet ſie die kleinen Kinder, kleidet ſie und bringt ſie nach Hauſe. 


5 So entſtanden viele Menſchen. 


„Als es nun viele geworden waren, wollten ſie Hunde haben. 
Ein Mann geht mit einem Hundegeſchirr in der Hand aus, ſtampft 
auf die Erde und ruft: ‚Hof! Hof! hof!‘ Da ſprangen die Hunde 
— aus Hügeln und kleinen Hügelchen hervor. Sie ſchüttelten ſich 
ordentlich, denn fie waren voller Sand. So bekamen die Men- 
ſchen Hunde. | 

„Aber die Menſchen vermehrten ſich, und es wurden immer 
mehr und mehr. Damals, vor langer, langer Zeit, kannten ſie den 
Tod noch nicht und wurden ſehr alt. Zuletzt konnten ſie nicht mehr 
gehen, wurden blind und mußten liegen. 


38 Erſtes Kapitel. 


„Sie kannten auch die Sonne nicht, fie lebten im Dunkelm. 
Niemals wurde es Tag. Nur in den Häuſern drin hatten ſie 
Licht. Sie brannten Waſſer in den Lampen; damals konnte 
Waſſer brennen. 

„Und weil die Menſchen nicht zu ſterben wußten, wurden es 
gar zu viele, und die Erde wurde überfüllt. — Da kam eine mäch⸗ 
tige Meeresflut; viele ertranken, und der Menſchen wurden 
weniger. Spuren von dieſer Meeresflut findet man auf hohen 
Berggipfeln, wo man oft Muſcheln finden kann. 

„Jetzt, als die Zahl der Menſchen ſich verringert hatte, be⸗ 
gannen zwei alte Frauen miteinander zu reden: 

„„Laß uns ohne Tag ſein, wenn wir nur ohne Tod find‘, jagte 
die eine; ſie hatte wohl Angſt vor dem Tod. 

„„Nein“, ſagte die andere, wir wollen Licht und Tod haben.‘ 
Als die alte Frau dieſe Worte ausſprach, geſchah es alſo. 

„Das Licht kam, die Freude und der Tod. 

„Weiter wird erzählt, als der erſte Menſch ſtarb, bedeckte 
man die Leiche mit Steinen, aber die Leiche kehrte zurück. Sie 
verſtand es gewiß nicht, richtig zu ſterben. Sie hob ihren Kopf 
von der Pritſche und wollte aufſtehen. Aber eine alte Frau ſtieß 
ſie zurück: 

„„Wir haben genug zu ſchleppen, unſere Schlitten ſind klein.“ 

„Sie waren nämlich im Begriff zur Jagd aufzubrechen, und 
ſo mußte der Tote in ſeine Steinkammer zurückkehren. 

„Als die Menſchen nun das Licht erhalten hatten, konnten 
ſie Jagdausflüge unternehmen und brauchten nicht länger von der 
Erde zu eſſen. Und mit dem Tod kamen Sonne, Mond und 
Sterne. — 

„Denn wenn die Menſchen ſterben, ſteigen ſie zum Himmel 
auf und leuchten auf.“ 


+ * 


* 


Die Gebräuche, die vor der Zeit der Miſſion eine außerordent⸗ 
lich große Rolle ſpielten, laſſen ji mit einer Sammlung unge- 
ſchriebener Geſetze vergleichen, die die Menſchen belehren, was man 
unter gewiſſen beſonderen Verhältniſſen beobachten muß und wo⸗ 
nach man ſich richten kann. Dieſe Gebräuche beziehen ſich wie 
bei allen Naturvölkern hauptſächlich auf Geburt und Tod. 


Leben und Geſchichte der Polareskimos. 39 


All dieſe Lebensregeln, die uns bisweilen unpraktiſch und kind⸗ 
lich erſcheinen, werden mit großer Autorität von den Geiſter⸗ 
beſchwörern gehandhabt. Dieſe entſprechen den Medizinmännern 
anderer Naturvölker und ſind beſtimmt, als Vermittler aufzutreten 
zwiſchen den Menſchen und den Kräften, die ins Leben eingreifen. 
Sie können das durch ihre Vertrautheit und Bekanntſchaft mit 
Dingen, die gewöhnlichen Menſchen verborgen ſind. Nicht jeder 
kann darum Geiſterbeſchwörer werden, denn nicht allen wollen 
die Geiſter dienen; es gehören ganz beſondere Anlagen dazu und 
eine Art von Berufung, die fern von den Menſchen in der großen 
Einſamkeit der Berge erfolgt. Die Natur denkt man ſich erfüllt 
von unſichtbaren Weſen und übernatürlichen Kräften, den ſoge— 
nannten Tornarſſuit. Dieſe können die Geiſterbeſchwörer ſo weit 
unter ihren Willen beugen, daß ſie ſie als Hilfsgeiſter zu ver⸗ 
wenden vermögen, die man unter Beobachtung geheimnisvoller 
Zeremonien meiſt bei gelöſchten Lampen und unter ſeltſamen, 
ergreifenden Zaubergeſängen anruft. 

Dieſe Geiſterbeſchwörer waren keineswegs Betrüger und 
Schwindler, wie man ſo oft geneigt war anzunehmen, ſondern als 
Kinder ihrer Zeit glaubten ſie ſelbſt feſt an den Ernſt ihrer 
Miſſion. Die Bedeutung der Geiſterbeſchwörer lag in dem Um⸗ 
ſtand, daß ihrer Religion die Verehrung einer Gottheit fehlte; 
darum kam der Schwache und Angſtliche und ſuchte Zuflucht bei 
dem, der die myſtiſchen Kräfte der Natur zu beherrſchen wußte, 
die leicht verletzt ſind und die gefährlich ſind in ihrem Zorn. Als 
Beiſpiel für die Gebräuche ſei angeführt: 

Die Menſchen, die einen Toten begraben haben, müſſen ſich 
in ihrem Haus oder Zelt fünf Tage ruhig verhalten. In dieſer 
Zeit dürfen ſie ſich ihre Nahrung nicht ſelber zubereiten oder das 
gekochte Fleiſch zerteilen. Sie dürfen nachts die Kleider nicht ab- 
legen oder ihre Pelzkappen niederſchlagen. Wenn die fünf Tage 
um ſind, müſſen ſie Hände und Körper ſorgfältig waſchen, um die 
Unreinheit loszuwerden, die ſie ſich durch Berührung des Toten 
zugezogen haben. — Die Eskimos ſelber geben folgende Be 
gründung für die Beobachtung der Gebräuche: å 
Wir find bange vor den unbekannten böſen Mächten, die den 
Menſchen mit Krankheit und anderm Unglück heimſuchen. Die 
Menſchen müſſen Buße tun, weil die Säfte der Toten ſtark ſind 


40 Erſtes Kapitel. 


und ihre Macht ohne Grenzen iſt. Wenn wir nicht Rückſicht 
nehmen auf alles, worüber wir ſelbſt nicht Herr ſind, glauben wir, 
daß große Schneemaſſen auf uns herabſtürzen und uns zermalmen 
würden, daß ſich gewaltige Schneeſtürme erheben, die uns ver⸗ 
nichten würden, daß wilde Stürme das Meer aufwühlen, wenn wir 
uns im Kajak weit draußen auf der See befinden. Man kann ſich 
aber auch ſtärker im Leben machen, widerſtandsfähiger gegen Ge⸗ 
fahr und erfolgreicher in den Wechſelfällen des Geſchicks, wenn man 
Amulette und Zauberformeln anwendet. 

Das Amulett iſt ein Beſchützer gegen Gefahr, das ſeinem Eigen⸗ 
tümer gewiſſe Eigenſchaften verleihen kann, ja unter beſtimmten 
Umſtänden ihn ſogar in das Tier, von dem das Amulett ge⸗ 
nommen iſt, verwandeln kann. Ein Amulett von einem Bären, 
der nicht durch Menſchenhand gefallen iſt, verleiht Unverwund⸗ 
barkeit, eins von einem Falken gibt Erfolg im Erlegen der Beute, 
der Rabe macht genügſam, der Fuchs ſchlau. Oft trägt man 
auch ein „Porog“ aus einem Stein einer Feuerſtelle, weil dieſer 
ſich ſtärker als das Feuer erwieſen hat; oder man reibt den Spei⸗ 
chel eines Alten um den Mund eines Kindes, oder man ſetzt ihm 
einige von deſſen Läuſen auf den Kopf, um damit die Lebenskraft 
des Alten auf den Jungen zu übertragen. 

Die Zauberformeln ſind „alte Worte, die aus den älteſten 
Zeiten ſtammen, als die Säfte der Menſchen ſtark waren und 
die Zungen Macht hatten“. Sie können auch aus ſcheinbar ſinn⸗ 
loſen Worten beſtehen, die alte Männer geträumt haben. Sie 
vererben ſich von Geſchlecht zu Geſchlecht, und der Träger be⸗ 
trachtet ſie als ein unſchätzbares Gut, das er nicht von ſich geben 
darf, ehe er den Tod nahen fühlt. Sie ſind meiſt unüberſetzbar 
und können daher in dieſem kurzen Überblick nicht wiedergegeben 
werden, da dieſer nur das Allernotwendigſte zum Verſtändnis 
dieſer merkwürdigen Menſchen geben ſoll, die uns in den folgenden 
Schilderungen ſo oft begegnen werden. 

Von den religiöſen Überlieferungen der Polareskimos mag 
ferner erwähnt werden, daß der Menſch eingeteilt wird in eine 
Seele, in einen Körper und in einen Namen. 

Die Seele, die unſterblich it, exiſtiert außerhalb des Menſchen 
und folgt ihm, wie uns der Schatten in Sonnenſchein folgt. Sie 
iſt ein Geiſt, der ganz wie ein Menſch ausſieht; nach dem Tod des 


Leben und Geſchichte der Polareskimos. 41 


Menſchen fährt ſie zum Himmel auf oder in das Meer hinab, 
wo ſie ſich zu den Seelen der Vorväter 1 An beiden Orten 
iſt gut ſein. 

Der Leib iſt die Wohnung der Seele; er iſt vergänglich, in⸗ 
ſofern alles Unglück und alle Krankheit ihn trifft. Beim Tod 
bleibt all das Böſe im Körper zurück, und man muß daher große 
Vorſicht in der Behandlung der Leichen beobachten. 

Auch der Name iſt eine Seele, mit der ein gewiſſer Vorrat 
von Lebenskraft und Geſchicklichkeit verknüpft iſt. Der Menſch, 
der nach einem Verſtorbenen genannt wird, erbt die Eigenſchaften 


des Betreffenden. 


Ich begann dieſen Abſchnitt mit der Behauptung, daß der 


Polareskimo keine Gottverehrung kenne. Das tut er auch nicht in 


dem Sinn, wie wir es aus andern Religionen wiſſen. Er begnügt 
ſich damit, ſich vor dem großen Unbekannten zu beugen, und ſcheut 
ſich nicht einzuräumen, daß er nichts weiß und daß ſein Glaube 
möglicherweiſe falſch iſt. Die Erkenntnis ſeiner Beſchränkung und 
ſeine vollkommene Ehrlichkeit in dieſem Punkt tritt hier ebenſo 
unfehlbar zutage wie auf allen andern Gebieten. Aber wenn 
ihm auch die Gottverehrung durch ſeine einfache Religion verſagt 
iſt, die ihm von ſeinen Vätern überliefert wurde, ſo iſt ihm das 


Gefühl der Andacht doch durchaus nicht fremd. Und indem ich dies 


niederſchreibe, ſchweifen meine Gedanken zu den vielen Männern 
und Frauen in jener Gegend zurück, die ich an den Winterabenden 
ernſt und ſchweigend zu den Gräbern ihrer Angehörigen habe 


wandern ſehen. Hier können ſie Stunde für Stunde ſitzenbleiben 


in einer Andacht ohne Worte, die ſicher kein geringerer Ausdruck 


für das Gefühl menſchlicher Ohnmacht iſt als bei den höheren 
Kulturvölkern Anrufung und Gebete. 


Zweites Kapitel. 
Von Thule zum Humboldtgletſcher. 


Die Überwinterung der Expedition. 


SY Art, wie die Expedition den Winter verbrachte, iſt raſch 
erzählt. — Die Ankunft der „Danmark“ und die Überwinte⸗ 
rung waren uns plötzlich über den Hals gekommen. An Stelle 
von fünf weißen Männern waren wir auf einmal 23, und viele 
Vorkehrungen waren aus dieſem Anlaß zu treffen. 

Es wurde ſogleich beſtimmt, daß Koch ſüdwärts nach Taſiuſſag 
reiſen ſollte, wo ſich ihm in der dunkeln Zeit beſſere Arbeits⸗ 
bedingungen boten als hier. Wir machten uns daher Mitte 
Oktober auf den Weg über das Inlandeis nach der Melvillebucht, 
und Dr. Wulff erhielt ſeinen erſten Unterricht im Fahren mit 
Hunden, indem er mich nach Kap Vork begleitete; ich ſelber 
wollte mit Koch bis nach Uperniwik gehen. 

Auf dieſer Reiſe, die in ihrer erſten Hälfte noch bei ſchwin⸗ 
dendem Tageslicht ausgeführt wurde, hatten wir ausgezeichnete 
Gelegenheit, die im Frühjahr aufgenommene Karte zu ergänzen. 
Die Reiſe verlief nicht nur ergebnisreich, ſondern auch angenehm. 
Wir hatten ſchönes Wetter mit erträglicher Kälte und richteten 
unſere Tagereiſen nach dem Feſtwerden des Neueiſes ein. Oft 
ſtießen wir auf offenes Waſſer, und während wir auf das Eis 
warteten, unternahmen wir in der Gegend des Inlandeiſes ſpan⸗ 
nende Eisbärenjagden. Vier Bären mußten ihr Leben laſſen und 
verſchafften uns nicht nur vortrefflichen Reiſeproviant, ſondern 
auch Felle für die lange Reiſe im Winter. 

Während der ganzen Zeit übte ſich Dr. Wulff täglich im 
Fahren mit Hunden und ſchien ſich raſch an die ihm völlig un⸗ 
gewohnte Lebensweiſe zu gewöhnen. 


Von Thule zum Humboldtgletſcher. 43 


Anfang Januar fuhr ich zwei Mitglieder der Crockerland⸗ 
Expedition, Mr. Eckblaw und Dr. Hunt, nach Uperniwik, von 
wo ſie ihre Reiſe nach Süden fortſetzen wollten. Dieſe Reiſen 
boten uns ein vortreffliches Training. Während unſerer vielen 


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Von Thule zum Humboldtgletſcher. 


Streifzüge hatten die fleißigen Frauen des Stammes warme 
Renntierpelze, Bärenfellhoſen und mit Haſenfell gefütterte See⸗ 
hundsfell⸗Kamiker genäht. Was die Kleidung anlangte, konnten 
wir ruhig einer Überwinterung entgegenſehen, wenn ſie nötig ſein 
ſollte. 


44 Zweites Kapitel. 


Aufbruch von Thule. 


Während alle Vorbereitungen zu einer weiten Reiſe ein großer 
Ernſt beherrſcht, liegt im Gegenſatz dazu über der Abfahrt 
und dem Abſchied von den Hausgenoſſen die lichteſte Feſtſtimmung; 
man geht ſeinem Schickſal und ſeinen Abenteuern immer mit erwar⸗ 
tungsvoller Freude entgegen. So auch jetzt, als endlich alle 
Schlitten beladen und mit Hunden beſpannt neben der alten 
„Danmark“ bereitſtanden. Ein eigentümlicher Zufall fügte es, 
daß Mylius⸗Erichſens altes Schiff heute den inter arne unjerer 
Abreiſe bildete. 

6. April. Zur Feier des Tages waren wir zum Abſchieds⸗ 
frühſtück an Bord eingeladen, und die Eskimoteilnehmer der 
Expedition beteiligten ſich mit ihren Frauen ebenfalls an dem Feſt. 
Der Führer der „Danmark“, Kapitän Hanſen, hatte getan, was 
er vermochte, und unſer Appetit machte den Herrlichkeiten des 

Schiffes keine Schande. | 
Aber die Unruhe ſaß uns in den Gliedern, und alle dachten 
wir nur daran fortzukommen; Wulff und Koch waren ſchon 
einen Tag vorher vorausgefahren. Für mich war es notwendig, 
nachdem alles in Ordnung war, die letzte Nacht allein zuzubringen, 
um noch einmal alle Liſten und Aufzeichnungen der Dinge, die 
nicht vergeſſen werden durften, durchzugehen. Dazu gehört voll⸗ 
kommene Ruhe, denn es ſchwebt die Drohung über einem, daß ein 
einziges vergeſſenes kleines Ding nicht zu beſchaffen iſt, wenn man 
es Hunderte von Meilen vom Depot entfernt vermißt. Darum 
verbringen die meiſten Expeditionsleiter vor der Abreiſe eine 
ſchlafloſe Nacht. Um ſo ſtärker fühlt man zum Entgelt die Be⸗ 
freiung und den Tatendurſt, wenn endlich alles in Ordnung und 
zur Abfahrt bereit iſt. 

Draußen auf dem Eis liegen die ungeduldigen Hunde und 
warten auf das Abfahrtsſignal; heulend und kläffend zerren ſie 
am Geſchirr, und an jedem Schlitten muß ein Mann Wache 
halten, damit unſere Geſpanne nicht dem Gang der Ereigniſſe vor⸗ 
greifen und über das Eis vorwärtsſtürmen, ehe die Kutſcher zur 
Abfahrt bereit ſind. Ach, dieſe übertriebene Lebensfreude wird 
leider bald von ihnen weichen, wenn fie nicht länger in der Nähe 
des Wohnplatzes ſind, wo immer reichlich ſpeckige Walroßhaut 


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Von Thule zum Humboldtgletſcher. 45 


für ſie abfällt! Dieſer lärmende Eifer, dieſe überſtrömende Energie 
wird raſch gedämpft werden, wenn jeder Tag nur viele Stunden 
einförmigen Mühens und abgemeſſene Rationen bietet. Aber heute 
kennt der wilde Jugendmut keine Grenzen. Er ſtrömt über nach 
der Ruhe und dem Kraftfutter vieler Tage. Alles iſt in Feſt⸗ 
ſtimmung! 

Ein Prachtwetter herrſcht. Die Sonne ſteht hoch über dem 
weißen Schnee. Die Eisberge des Fjords glitzern im Licht, und der 
Baſalt der Randberge bei Kap Parry erglänzt in heiteren Farben. 

Die Mannſchaft des Schiffes geht voll Intereſſe herum und 
betrachtet mit Kennermiene die wohlverſchnürten Schlitten. Dieſer 
und jener geht zu den Hunden und ſtreichelt ſie. Das Aufbruchs⸗ 
gewimmel zwiſchen den vielen Schlitten und alle die geſchäftigen 
Menſchen wirken ähnlich wie das Durcheinander auf einem Markt⸗ 
platz! 

Endlich iſt der Abſchied zu Ende. Die Männer rufen ihren 
zurückbleibenden Frauen ein letztes Lebewohl zu, dann ſpringt jeder 
auf ſeinen Schlitten, und im Galopp geht es über den Fjord hin, 


die erſten beſcheidenen Kilometer auf das Ziel zu, das wir uns 


für das nächſte halbe Jahr geſteckt haben. In einer Stunde iſt 
die „Danmark“ außer Sicht, und der am Wohnplatz gelegene 
Berg Umanag zeichnet ſich als kleiner Kegel weit im Hintergrund 
vom Horizont ab. Die Hunde, die in ausgezeichneter Verfaſſung 
ſind, ſtrecken ſich, als gälte es das Leben, und obgleich die Laſten 
ſchwer ſind, geht es in ſauſender Fahrt vorwärts. Die Bahn auf 
dem Eis iſt gut, und die blankgeſchliffenen Eiſenkufen der Schlitten 
ſingen über dem gefrorenen Schnee. Wir brachen gegen 4 Uhr 
nachmittags auf und ſchon um 2 Uhr morgens haben wir die 
erſten 15 Meilen bis Netſilivik zurückgelegt, wo wir unſere Ka⸗ 
meraden treffen. 

7. April. Netſilivik iſt ein kleiner Wohnplatz von drei Häu⸗ 
ſern, und nur die Herzensgüte der Eskimos macht es möglich, daß 
wir alle ein Dach über den Kopf bekommen. Wir ſind 15 Mann 
in jedem Haus, und in den erſten Stunden iſt alles in größter 
Verwirrung. Die Hunde werden auf dem Eis feſtgebunden; ein 
Zelt wird aufgeſchlagen, und eine wohlverdiente Taſſe Kaffee auf 
dem Primuskocher gekocht. Unterdeſſen erhalten die Hunde ihr 
Futter aus den überfüllten Fleiſchdepots des Wohnplatzes. 


46 Zweites Kapitel. 


Ein Blick durch die Ausgucköffnung des kleinen Darmhaut⸗ 
fenſters des Hauſes zeigt, daß unſere Kameraden mit allen ihren 
Begleitern noch im ſüßeſten Schlaf liegen. Es iſt drückend heiß 
in den überfüllten Steinhäuſern, und ich beſchließe daher, in 
Iterfiluks Haus, das eine Viertelſtunde entfernt liegt, einen kleinen 
Morgenbeſuch abzuſtatten. Iterfiluk iſt eine redſelige Witwe von 
50 Jahren und eine gute Freundin von mir. Im Laufe des Win⸗ 
ters iſt ſie oft in Thule geweſen, um Stiefel für die Mitglieder 
der Expedition zu nähen, und ſie empfängt mich daher jetzt mit 
lautem Willkommensruf, als ich durch den Hausgang hinein⸗ 
krieche und erſt entdeckt werde, als ich auf ihrem fettigen Stein⸗ 
fußboden erſcheine. Auch ihr Haus iſt mit Reiſenden angefüllt, 
und während ihre Gäſte ſchlafen, ſitzt ſie ſelber ſplitternackt bei 
ihrer Lampe wie eine der klugen Jungfrauen, die darüber wachen, 
daß das koſtbare Licht in der Nacht nicht ausgeht. Denn hier 
oben gilt es für eine Schande, wenn die Gäſte des Hauſes bei 
erloſchenen Lampen und in Kälte erwachen. Auch ich muß nach 
der Sitte des Landes meine Kleidung abwerfen und preſſe mich 
zwiſchen Iterfiluk und eine von ihren Freundinnen, die dicke Kiajuk, 
die dasſelbe paradieſiſche Koſtüm wie die Wirtin trägt. Lange 
ſaß ich da und ſchwatzte mit ihnen, bis die Müdigkeit und die 
Atmoſphäre in der Hütte mir die Kräfte raubten, ſo daß auch 
ich, vom Schlaf übermannt, zu den übrigen Gäſten hinſank. 

Indeſſen durften wir nur wenige Stunden ſchlafen. Wir mußten 
weiter, denn wenn man für viele Hunde Futter braucht, gehört es 
zum guten Ton, daß man raſch durch die Wohnplätze fährt. Schon 
am Mittag desſelben Tages machten wir uns daher auf die Fahrt 
nach dem Wohnplatz Ulugſſat auf der Northumberlandinſel. 

Jeder Wohnplatz hier oben beſteht in der Regel aus drei bis 
fünf kleinen Steinhäuſern. Wenn man daher gelegentlich an einen 
Platz mit zehn bis zwölf Häuſern kommt, ſo wirken dieſe auf uns 
wie eine Hauptſtadt auf einen Landbewohner. Man erwirbt hier 
wohl eine beſondere Fähigkeit, ſich auf das Gewohnte einzuſtellen, 
und die Tatſache, daß wir zu dieſer ungewöhnlich großen Stadt 
kamen, überwältigte uns daher völlig. An den Faſſaden der 
Häuſer ſah man überall Fleiſchſtapel, die aus Schneeblöcken ge⸗ 
baut und mit köſtlichem friſchen Walroßfleiſch beladen waren, 
das rot gegen den weißen Schnee leuchtete. 


Von Thule zum Humboldtgletſcher. 47 


Auf dem Eisfuß lagen alle Hunde des Platzes in einer Reihe, 
ein Geſpann neben dem andern; bei unſerer Ankunft ſtießen ſie ein 
wildes Geheul aus. Nach alter geheiligter Tradition, die den 
Beſuchsſchlitten höfliche Zurückhaltung auferlegt, machten wir alle 
auf dem Meereis halt, etwas vom Eisfuß entfernt. Bei den 
Häuſern auf dem Land oben ſtanden alle Eskimos und blickten 
ſchweigend, aber voll Intereſſe auf uns herab. So vergingen 
lange Minuten; erſt dann machten beide Parteien in Überein⸗ 
ſtimmung mit den Sitten des Landes ihrer Freude Luft. 

In Ulugſſat war leicht Quartier zu erhalten, und die Haus⸗ 
wirte wetteiferten, uns einzuladen. Aber bevor wir hineingingen, 
um für unſere eigene Bequemlichkeit zu ſorgen, wurden all die 
Geſpanne, die mit auf die Reiſe ſollten, ſorgfältig aus den Fleiſch⸗ 
depots der reichen Wirte gefüttert; dies war im Grunde eine große 
Verſchwendung, da die Hunde ſonſt nur jeden zweiten Tag Futter 
erhalten; aber wenn man vor einer Expedition ſteht, erlaubt 
man ſich ſolche Ausſchreitungen. 

Die Häuſer in Ulugſſat hatten alle möglichen Ausmaße. Da 
war der Palaſt des großen Tornge, deſſen Inneres in zwei Seiten⸗ 


pritſchen mit Platz für mindeſtens 20 Schlafende geteilt war; 


es war ein gemütlicher Raum, im Innern ganz mit Holz aus= 
gekleidet und von drei ſtrahlenden Tranlampen feſtlich erleuchtet. 
Leckeres Fleiſch und glänzende Narwalshaut waren einladend auf 
dazu eingerichteten Plattformen von flachen Steinen neben den. 
Lampen hingelegt. Dies war das Haus des großen Jägers. 
Daneben befand ſich die Höhle der alten Simigag, deren Haus- 
gang ſo ſchmal war, daß es mir trotz aller erdenklichen Verſuche nicht 
glückte, mich hindurchzupreſſen, um ihr einen Beſuch abzuſtatten. 

Simigag, „die Vollgepfropfte“, iſt die älteſte Frau des Stam⸗ 
mes und gibt ſich noch für den Hausgebrauch damit ab, Hilfs⸗ 


geiſter herbeizurufen, wenn das Schickſal ihr oder dem Wohn⸗ 


platz ungünſtig geſinnt iſt. Im übrigen iſt ſie ein lebendiges Buch 
für alle, die gern alten Sagen und Märchen lauſchen. Und Simi⸗ 
gag ziert ſich niemals. i 


Beim Ankauf des Fleiſches. 
In Ulugſſat verging der Nachmittag mit dem Einkauf von 
reinem Fleiſch für Menſchen und Hunde. Es wurde ein ſehr 


48 | Zweites Kapitel. 


arbeitsreicher Tag, da wir ſelber überall dabei ſein mußten. Es 
handelte ſich namentlich darum, die beſten Fleiſchſtücke zu bekom⸗ 
men und am liebſten Stücke, an denen die Haut bereits vom 
Fleiſch abgezogen iſt. | 

Dann mußten eine Menge Kamiker und Fauſthandſchuhe, die 
im Laufe des Winters den Frauen des Platzes in Auftrag ge⸗ 
geben waren und die jetzt abgeliefert werden ſollten, unterſucht 
und bezahlt werden. Zwiſchen all dieſen unaufſchiebbaren Ge⸗ 
ſchäften fanden die unvermeidlichen Fleiſchfeſtmähler aus Anlaß 
unſerer Abreiſe ſtatt. Wie wohlgemeint ſie auch waren, ſo waren 
ſie doch an dieſem Tag etwas anſtrengend: vierzehnmal Walroß⸗ 
fleiſch an einem Tag iſt eine Leiſtung, die geſchafft ſein will. Wohl 
half es etwas, daß das Fleiſch auf verſchiedene Weiſe ſerviert 
wurde, einmal friſch und gekocht, anderes friſch gefangen und ge⸗ 
froren, wieder anderes in Fäulnis und gefroren. Das letztere 
klingt übel, aber ſchmeckt vortrefflich. Dieſes der Gaſtfreundſchaft 
gebrachte Opfer machte uns alle ſo eßmüde, daß wir nicht ohne 
Sehnſucht der Nachtruhe entgegenſahen. 

In Ilanguags, „des kleinen Gefährten“, Haus wurde unter 
großer Beteiligung zur Trommel geſungen. Ich verſuchte, dort 
einen Beſuch zu machen, mußte mich aber raſch wieder zurück⸗ 
ziehen, weil die Wärme ſo erſtickend war, daß man bald ganz 
in Schweiß gebadet war. Aber nichtsdeſtoweniger wurde mir am 
nächſten Morgen erzählt, die Sänger hätten die ganze Nacht 
durch ausgehalten. Hier waren auch viele Schlitten zur Stelle, 
auf denen die Bevölkerung der umliegenden Wohnplätze herbei⸗ 
geſtrömt war, um mir Fleiſch zu bringen und uns zu begleiten. 
Voll Begeiſterung improviſiert man bei einer ſolchen Gelegenheit 
Sängerfeſte, auf denen jeder Sänger ausſchließlich ſelbſtkompo⸗ 
nierte Weiſen zur Trommelbegleitung ſingt. 

Spät am Abend, lange nachdem meine Hausgenoſſen zur Ruhe 
gegangen waren, hörte ich knirſchende Schritte auf dem gefrorenen 
Schnee draußen. Bald darauf ging die Tür auf, und nachdem 
ſie ſich ſorgfältig davon überzeugt hatte, daß alle andern ſchliefen, 
trat die alte Simigag ein und ſetzte ſich neben mein Kopfkiſſen. 
Es ſei ihre Abſicht, ſagte ſie, mir den Schlaf leichter zu 
machen. Sie wollte mir mit kleinen Zauberformeln und Sagen⸗ 
erzählungen den Weg ins Land der Träume bahnen. Aber 


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mufjen. 


8 


Ra 


, wis un dog ang 


Von Thule zum Humboldtgletſcher. 49 


zunächſt wollte ſie mir den guten Rat einer alten Frau mit auf 
die Reiſe geben; denn ſie glaubte, daß die Jahre den Alten gewiſſe 
Kräfte verleihen, die ſie auf die Jüngeren übertragen könnten, 
und ſie ſtünde noch in meiner Schuld von unſerer letzten Be⸗ 
gegnung her. Ich hatte ſie einmal in mein Haus von einem 
Vogelberg gerettet, auf dem ein wenig galanter Schwiegerſohn ſie 
einſtweilen ausgeſetzt hatte. Jetzt wollte ſie vor meiner Abreiſe Ver⸗ 
geltung üben. — Sollte es wahr ſein, daß das Alter den Worten 
alter Menſchen Kräfte verleiht, die auf die jungen übertragen 
werden können, ſo mußte die alte Simigag eine Kraftquelle von 
Rang ſein. Sie war nicht nur die älteſte Frau des Stammes, 
rotäugig, zahnlos, kahl, bucklig, von Gicht gekrümmt, beinahe 
blind, alſo im Beſitz all der Spuren, die ein langes und hartes 
Leben hinterlaſſen konnte, obendrein war ſie ſo häßlich und ſo 
dürr, daß es von ihr hieß, ſie könnte nicht verſinken, ſelbſt wenn. 
man ſie ins Meer würfe. Und doch lebten in ihrem Bewußtſein 
noch friſch und klar die Erinnerungen an die Zeit, da ſie jung war 
und ihre Kräfte ſich auf ganz andere Gebiete erſtreckten. 

Sie hatte, wie ſie ſelbſt erzählte, eine ungewöhnlich helle 
Haut gehabt und langes helles Haar, das wie ein Waſſerfall um 
ihren nackten Körper ſtand. Dabei war ſie groß und üppig, und 
zu all dieſen Vorzügen kam ein ſorgloſes und heiteres Tempera⸗ 
ment. Die Männer ſtritten ſich um ſie, und all dieſe Werbungen 
hatten zu verſchiedenen Ehen geführt. Schließlich war ſie bei 
einem Mann gelandet, der den Namen „die kleine Gurgel“ führte. 
Mit ihm war ſie mehrere Jahre lang verheiratet geweſen; aber 
das war zu der Zeit, als die weißen Männer noch unregelmäßig 
„das Land der Menſchen“ beſuchten und Flinten und andere 
Hilfsmittel für die Jagd unbekannt waren. Der Gebrauch des 
Kajak war in Vergeſſenheit geraten, und man pflegte daher im 
Sommer, wenn das Meer eisfrei war, bei den Vogelbergen zu 
lagern. Im Winter hungerte man in der Regel tüchtig; denn es 
gehören viele Krabbentaucher dazu, um einen Vorrat zu ſammeln, 
der über die Polarnacht reicht. | 

Einſt, als die Jagd fehlgeſchlagen war und alle hungern 
mußten, war ihr Mann plötzlich aus ihrer Steinhütte verſchwun⸗ 
den, wo es ihm nicht länger gefiel; merkwürdig genug, war mit 


ihm ihr ganzer Zuwachs an jungen Hunden verſchwunden. Dieſer 
Nas muſſen. 4 


50 Zweites Kapitel. 


Umſtand hatte den Argwohn Simigags erregt. Sie lief in die 
Berge und ſpürte den Mann auf; ſie fand ihn, wie er ſich an den 
jungen Hunden gütlich tat, die er auf einem flachen Stein ge⸗ 
braten hatte. 

Dieſe Handlung, die weniger darum Argernis erregte, weil 


die jungen Hunde getötet waren, die ſie auf ihrer nächſten Früh⸗ 


jahrsreiſe hätten ziehen ſollen, ſondern hauptſächlich, weil der 
Mann ſie heimtückiſch allein verzehrt hatte, ohne ſeine hübſche 
Frau zu der Feſtmahlzeit einzuladen, war die Veranlaſſung zur 


Scheidung. Dann war die „Vollgeſtopfte“ wieder eine Zeitlang 


von Hand zu Hand gegangen, bis ſie ſich mit Kajog, genannt 
der „Gelbe“, verheiratete, mit dem ſie in Glück und Herrlichkeit 
bis zu ſeinem Tode gelebt hatte. 

Jetzt ſaß alſo dieſe verwitterte und in guten und böſen Tagen 
geſtählte Frau neben meinem Kopfkiſſen und wollte mich teil⸗ 
nehmen laſſen an den Erfahrungen, die ein langes Leben ihr ge⸗ 
geben hatten. 

Auf einer langen Reiſe tue es not, ſich mit den Geiſtern, die 
in Bergen und Abgründen herrſchen, gut zu ſtellen; aber auch die 
Einſamkeit habe ihre Kräfte, vor denen ſich Menſchen in acht 


nehmen müßten, daher käme ſie jetzt die letzte a mit ein paar 


Zauberliedern zu mir. 

„Sieh,“ ſagte ſie, „dieſe Zauberlieder ſind ſo arm und unbe⸗ 
deutend, eine Sammlung kurzer, ſinnloſer Worte. Aber was tut 
das? Wir Menſchen verſtehen doch nur ſo wenig von dem Großen, 
dem man begegnet, wenn man in die Gegenden hinauskommt, wo 
man allein iſt mit der ſchweigenden Welt.“ 

So lautete ihre Erklärung und Entſchuldigung. Während fie 
ergriffen wie eine heidniſche Prieſterin ihre Lieder mit ihrem 
zahnloſen Mund ſummte, lag ich in meinen Felldecken neben ihr 
und lauſchte. Hier iſt das Lebenslied für den, der zu leben 
wünſcht: ; 

Der Tag erhebt ſich 

aus ſeinem Schlaf. 

Der Tag erwacht 

mit dem Morgengrau. 
Auch du erheb dich, 

auch du erwache 

mit dem kommenden Tag! 


Von Thule zum Humboldtgletſcher. 51 


Sie murmelte die Worte flüſternd und wie entrückt in ihrer 
Ekſtaſe, bis ſie ji in mein Bewußtſein eingeprägt hatten. 

Nun folgte der Geſang, der von Männern geſungen wird, die 
ſchwer und langſam fahrend in Lebensgefahr geraten. 


Bi» Vorwärts, vorwärts! 

* Schlitten, Kufen, Reiſewerkzeug! 

i Deine dicken Wangen mußt du ſchmieren, 
| Daß fie leichter laufen können. 


Wenn die Jagdtiere ſich unſichtbar machen und man hungern 
muß, ſingt man: 
Hei — aus der Tiefe 
Seetiere fing ich, 

Hei — Hei 

Walroſſe tötete ich 

Aus der Tiefe, 

Hei — Hei 

Narwale harpunierte ich, 
Schwarzſeitige Seehunde jagte ich, 
Aus der Tiefe — — — 


So erzielt man einen guten Fang. 


3 Und To ſagte fie Formeln her, durch die der Nebel ſich lichten 
u ließ, Bärengeſänge, die Bären herbeiloden, Trinkgeſänge, die dem 
1 Durſtigen Waſſer verſchaffen, und Geſänge, die bei der Berg⸗ 
beſteigung geſungen werden — alle nützlich für den, der nach 
. unbekannten Ländern reiſt. 


Der Berggeſang war das letzte, was ich hörte, dann über⸗ 
wältigte mich die monotone Stimme, und als ich nach ein paar 
Stunden Schlafs die Augen aufſchlug, war die alte Simigag 
ad längſt zurück in ihre beſcheidene Höhle geſchlichen. Ich ſprang 
5 von der Pritſche herab und blickte durch das Guckloch, um nach 
5 dem Wetter zu ſehen. Es iſt taghell, ſelbſt jetzt mitten in der 
Nacht, der Himmel iſt klar ohne eine einzige Wolke und wölbt ſich 
wie eine blaue Kuppel über das Land und das weiße Eis. Eine 
ſchwache Röte meldet, daß es nicht weit bis Sonnenaufgang iſt, 
aber noch iſt es zu zeitig zum Aufbruch. 

8. April. Am nächſten Tag fuhr ich mit Ajako im ſtrahlenden 
Sonnenſchein weiter nach dem Wohnplatz Igdluluarſſuit, während 
die andern alle direkt nach Neqe fuhren. Wir brauchten noch ein 
paar Hilfsſchlitten und mehr Fleiſch, und bei Igdluluarſſuit 

4 * 


52 Zweites Kapitel. 


wohnte Sipſu, ein ausgezeichneter Jäger und erfahrener Schlitten⸗ 
reiſender, den ich ſehr gern für den letzten Begleitſchlitten mit mir 
bis Fort Conger haben wollte. 

9. April. Am folgenden Tag ſammelten ſich die Begleit⸗ 
ſchlitten mit allem Fleiſch, was herbeigeſchafft war, bei Nege; 
das aufgeſtapelte Fleiſch bildete einen ſtattlichen Haufen. Zu 
ſeinem Transport ſtanden uns 27 Schlitten und 354 Hunde zur 
Verfügung. Um zu begreifen, warum wir wegen unſerer ſechs 
Schlitten einen ſolchen Troß in Bewegung ſetzten, muß man. 
folgendes wiſſen: 

Wie oben erwähnt, war unſere ganze Ausrüſtung nach Eskimo⸗ 
art eingerichtet; ſo war es auch mit dem Proviant der Fall. 
Walroßfleiſch iſt ein vortreffliches Hundefutter, aber es hat den 
großen Nachteil, daß es 65—70 Hundertteile Waſſer enthält. 
Dies macht es ſehr ſchwer für den Transport. Während man 
von Pemmikan ein Pfund für Hund und Tag rechnet, muß man 
Walroßfleiſch oder ⸗haut etwa drei Pfund für den Tag oder fünf 
bis ſechs Pfund jeden zweiten Tag rechnen, und außer unſern 
eigenen Hunden mußten ja auch die Geſpanne der Begleitſchlitten 
gefüttert werden. 

Unſer Vorgehen war fo geplant, daß uns im ganzen 
15 Schlitten bis zum Humboldtgletſcher, 13 bis zum Kap Con⸗ 
ſtitution und 8 bis Thank God Harbour folgen ſollten, und erſt 
hier ſollten die Laſten unter Einrechnung des Arbeitsaufenthalts 
unterwegs ſo verringert ſein, daß die ſechs für die weite Reiſe be⸗ 
ſtimmten Schlitten den Reit übernehmen könnten. 

Das Fleiſch, das im voraus beſtellt war, lag auf dem Eisfuß 
für uns bereit; ich hatte es nur zu bezahlen und dann die Laſten 
zu verteilen. Die Bezahlung, die man begehrte, beſtand in der 
Regel in Pulver, Blei und Zündhütchen. Dieſe Seite der Sache 
ließ ſich leicht und raſch ordnen, man kommt leicht mit den Eskimos 
überein, wenn es ſich um Proviant für große Expeditionen auf un⸗ 
beſtimmte Zeit handelt. Einem ſolchen Unternehmen gehört ihre 
Sympathie. Schwieriger iſt es, das Fleiſch auf die 27 Schlitten 
zu verteilen; denn hierbei hat man nicht nur auf die Stärke der 
Geſpanne, ſondern auch auf die Beſchaffenheit der Schlitten Rück⸗ 
ſicht zu nehmen. 

Sobald alles geordnet war, brach der bunte Schlittenzug auf. 


Von Thule zum Humboldtgletſcher. 53 


Die eifrigen Hunde ſprengten unter Peitſchenknall über das Eis 
und waren bald hinter dem nächſten Vorſprung verſchwunden. 
Unſer Weg ging die erſten Meilen über das Meereis etwa bis 
Kap Alexander, wo ſelbſt im ſtrengſten Winter das Waſſer be⸗ 
ſtändig offen iſt. Dieſes Waſſer mußten wir durch einen Umweg 
über das Inlandeis umgehen. | 

Der Aufbruch fand um 4 Uhr ſtatt, und abends gegen 7 Uhr 
erreichten wir die Stelle des Gletſchers, wo der Aufſtieg be⸗ 
ginnen ſollte. Hier machten wir alle halt, um uns die übliche 
Taſſe Kaffee zu kochen, womit man ſich hier erfriſcht. Der Über⸗ 
gang pflegt ſelten mehr als ein paar Stunden zu dauern, iſt aber 
ungewöhnlich ſchwierig. Erſt ſchleppt man ſich ſchweißtriefend die 
ſteile Böſchung hinauf, dann gerät man in 300 Meter Höhe in 
den Wirbel eines beißenden Nordwindes, der bei klarem Wetter 
immer auf der Höhe von Kap Alexander wütet. Das Schnee⸗ 
geſtöber iſt hier dicht wie engliſcher Nebel, verdammt kalt und oft 
ſo heftig, daß es, wenn man von Süden kommt, faſt unmöglich 
iſt, mit den Hunden gegen den Wind zu fahren. Kein Wunder 
daher, daß es Sitte iſt, ſich vorher mit einer Taſſe guten ſtarken 
Kaffees zu ſtärken. 

Es war ſchwierig, die ſchweren Schlitten auf den Gletſcher 
hinaufzubringen, der immer hart und glatt geweht iſt. Aber da 
viele hilfreiche Hände zugriffen, verlief der Übergang ziemlich 
glatt. Die Stürme und das Schneegeſtöber nahmen wir mit gutem 
Humor hin, in dem Bewußtſein, daß wir das ruhige Wetter, das 
den Reiſenden immer auf dem Meereis erwartet, doppelt ge⸗ 
nießen würden. 


Als Gäſte bei der ameriraniſchen Expedition. 


10. April. Um 4 Uhr morgens kamen wir mit unſerm ganzen 
Gefolge in Etah an, wo wir gerade gegenüber dem Hauptquartier 
der Crockerland⸗Expedition unſer Lager auf dem Eis aufſchlugen. 

Trotz der zeitigen Ankunft wurden wir von Kapitän Comer, 
der ein Frühaufſteher iſt, herzlich empfangen. Er bat uns ſogleich 
ins Haus einzutreten, wo Mr. Me Millan uns zum Frühſtück 
einlud, eine Einladung, der wir aber erſt ein paar Stunden 
ſpäter folgen konnten, nachdem das umfangreiche Lager aufge⸗ 
ſchlagen war. | 


54 Zweites Kapitel. 


Drei Tage waren wir die Gäſte unſerer amerikaniſchen Kolle⸗ 
gen und genoſſen in dieſer Zeit viel Freundlichkeit. Urſprünglich 
ſollte ſich unſer Aufenthalt nur auf einen Tag erſtrecken, aber 
Sturm und Unwetter zwangen uns, den Beſuch zu verlängern. 

Mr. Me Millan war während unſeres Aufenthalts jo liebens⸗ 
würdig, uns etwas Pemmikan und Keks zu überlaſſen, was eine 
ausgezeichnete Ergänzung unſerer eigenen Vorräte bildete. 


Hayes’ Expedition 1860 —1861. 

Der Wohnplatz Etah liegt an der Mündung des kleinen 
Foulkefſords und iſt im Laufe der Zeit Zeuge der Ankunft 
und Abreiſe vieler Expeditionen geweſen. Nicht weit ſüdlich von 
hier überwinterte Hayes bei Port Foulke 1860 —1861, und die 
Schiffbrüchigen der „Polaris“ errichteten ihr zeitweiliges Winter⸗ 
haus eine Meile nördlich von hier hinter der Littletoninſel. 

Auch Peary hat ein paarmal den Winter hier verbracht, und 
endlich ilt es jetzt das fünfte Jahr, daß die Crockerland⸗Expedition 
hier unter dem Befehl von Me Millan liegt. Bei dieſer Gelegenheit 
möchte ich der Expedition von Hayes ein paar Worte widmen, 
während von der Polaris⸗Expedition ſpäter die Rede ſein wird. 

Dr. Hayes, der als Arzt an der Expedition von Kane teil⸗ 
genommen hatte, hatte eine Reiſe nach Grinnell⸗Land unternommen, 
die in Verbindung mit den übrigen Ergebniſſen dieſer Expedition 
in ihm den Glauben befeſtigt hatte, es müſſe ſich in der Nähe des 
Nordpols ein offenes Polarmeer finden. Seine eigene Expedition, 
deren Aufgabe es war, die Entdeckungen auf der Weſtſeite des 
Smithſundes und des Kennedykanals weiter zu verfolgen, führte 
nicht zu den gewünſchten Reſultaten und intereſſiert uns in dieſem 
Zuſammenhang nicht, da ſie unſere Route nicht berührt. Intereſſant 
und erwähnenswert iſt nur die Art, wie er von den Eskimos 
ſpricht, denen alle, die in dieſen Breitengraden gereiſt ſind, ſo un⸗ 
endlich viel verdanken. Man mag Pearys Reiſebeſchreibungen 
aufſchlagen, wo man will, überall wird man ſehen, wie der große 
Polarfahrer ſich immer in Bewunderung vor dieſem Volk beugt, 
das zu verſtehen ſein Landsmann Hayes zu klein war. 

Gleich zu Anfang macht ſich Hayes die Worte eines ſeiner 
Matroſen zu eigen: es handle ſich um Weſen, die nur wenig über 
den Hunden, die ihre Schlitten ziehen, ſtehen; dann fährt er fort: 


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Von Thule zum Humboldtgletſcher. 


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Eine von Hayes’ phantaſtiſchen Bärenjagden. 


„Die Eskimos ſind in Wahrheit eine höchſt merkwürdige 
Menſchenart, und ſie ſind ein noch intereſſanteres Studienobjekt als 
meine Hunde, obgleich ſie nicht ſo nützlich ſind wie dieſe; den 
Hund kann man doch wenigſtens mit feſtem Willen und einer 
langen Peitſche regieren, während das Menſchentier ſich durch kein 
Mittel leiten läßt. Man könnte ſie mit Recht in allem und jedem 


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Hayes fährt quer durch Eisberge. 


56 Zweites Kapitel. 


ein negatives Volk nennen, ausgenommen in ihrer Unzuverläſſig⸗ 
keit, dieſe iſt abſolut poſitiv.“ 

Es iſt nicht nötig mehr anzuführen, und es liegt keine Ver⸗ 
anlaſſung vor, dieſem Ausſpruch anders zu begegnen als durch die 
Wiedergabe von ein paar Abbildungen aus Hayes' Buch, die 
von einer geradezu phantaſtiſchen Unzuverläſſigkeit ſind. 

Übrigens iſt Hayes nicht der einzige, der Superlative ge⸗ 
braucht; die Erinnerungen an ihn, die noch heute bei dem Stamm 
lebendig ſind, geben ihm darin nichts nach. 


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Hayes auf Walroßjagd. 


Hayes gilt für den größten Dieb, der jemals ihr Land be⸗ 
ſucht hat, und wenn er bei dieſen Diebſtählen mit heiler Haut 
davonkam, ſo lag es nur an dem Umſtand, daß die Macht auf 
ſeiner Seite war. 

Es herrſchte während ſeiner Überwinterung ein ſehr großer 
Mangel an Hunden, da der Beſtand durch eine Hundekrankheit 
beinahe ausgeſtorben war. Nichtsdeſtoweniger „kaufte“ Hayes 
den Eskimos ungefähr alle Hunde ab, die zum Schiff kamen, und 
ſeine Bezahlung war ſo willkürlich, daß die Eskimos es mit 
Recht für Gewalt anſahen, da die Dinge, die ſie für ihre unent⸗ 
behrlichen Zugtiere erhielten, unbedeutende Kleinigkeiten waren, 
nach deren Beſitz ſie nie den geringſten Wunſch geäußert hatten. 


7 


* 


Moltke. 


Harald I 


neehüttenlager am Eisberg. 


Sch 


Von Thule zum Humboldtgletſcher. 57 


Trotz alledem ſpielt ſich Hayes beſtändig als der große Wohl⸗ 
täter des Stammes auf. 

Die Epiſode, die am klarſten in der Erinnerung lebt und am 
meiſten beſprochen wird, iſt ein Genieſtreich, den Hayes auf der 
Kane⸗Expedition ausführte. Nach einer mißglückten Bootsfahrt 
hatte Hayes mit einigen Begleitern ſein Quartier im Boothſund 
aufgeſchlagen, wo ſie in ihrer Hilfloſigkeit fortwährend Beſuche 
von Eskimos empfingen, die ſie mit Fleiſch verſorgten. Da ihre 
eigene Kleidung abgenutzt war und ſie ſich außerſtande ſahen, ſich 
etwas Neues zu verſchaffen, heckten ſie folgenden Plan aus: 
Dr. Hayes ſollte den Gäſten eine ſtarke Doſis Opium geben, und 
während dieſe nichtsahnend ihren Rauſch ausſchliefen, wollten ſie 

ihnen die Kleider ausziehen, ihre eigenen Fetzen daneben legen, 
und dann, in die Fellanzüge der Eskimos gekleidet, deren Hunde 
ſtehlen und nach Norden zu ihrem Schiff flüchten. Der Plan 
gelang, und der Bericht der Eskimos wird Wort für Wort in 
Kanes Werk von Dr. Hayes ſelbſt ſogar mit einer gewiſſen 
Schadenfreude beſtätigt. 

Eine weitere Charakteriſtik des Mannes, der ein Volk, von 
deſſen Hilfe er zweimal abhängig war, als Menſchentiere be⸗ 
zeichnete, dürfte überflüſſig ſein. 

* * 
* 

. 11.—12. April. Die Tage in Etah verfürzten wir uns mit 
allerhand Zeitvertreib. Teils vertieften wir uns in die ſehr reich⸗ 
haltige Bibliothek der Crockerland⸗Expedition, teils machten wir 
Beſuche bei den Eskimofamilien des Platzes, die alle gute Be⸗ 
kannte von uns waren, und jeder Abend endete unweigerlich mit 
einem Ball, der bis zu den Morgenſtunden dauerte. Die Ameri⸗ 
kaner beſaßen ein prachtvolles Grammophon, an dem wir die 
ganze Zeit über viel Freude hatten. Es hatte ein ausgeſuchtes und 
ſehr reichhaltiges Repertoire, für jeden Geſchmack etwas, ſo daß 
wir bald Geſänge von Opern der ganzen Welt, geſungen von 
Caruſo, Alma Gluck, Adelina Patti und andern genoſſen, bald 
Runs muſikaliſchen Ausſchweifungen hingaben, indem wir durch 
Tangos und One Steps Abwechſlung in das Programm brachten. 
Die Leute in der Heimat, denen die wirkliche Muſik zugänglich 
iſt, entweder von ihnen ſelbſt oder von Künſtlern ausgeführt, 
rümpfen gern die Naſe über unſere Freude am Grammophon, die 


58 Zweites Kapitel. 


in der Regel als Mangel an muſikaliſchem Geſchmack gilt. Ich 


betrachte mich nicht als unmuſikaliſcher als die meiſten Leute und 
doch geſtehe ich, daß auch ich zu denen gehöre, die das Grammo⸗ 
phon hochſchätzen. Überall, wo ich es angetroffen habe, entweder 
im Winterlager unter den Eskimos oder bei däniſchen Familien 


in unſern grönländiſchen Kolonien, hat es uns immer einen ganz 


eigenartigen wehmütigen Gruß gebracht von all dem, was wir 
hier oben entbehren müſſen, und ich habe manch einen Menſchen 
getroffen, den man ſonſt nicht der Sentimentalität beſchuldigen 


konnte, der aber mit Gewalt die Bewegung unterdrückte, die die 


Muſik des Grammophons hervorrief. 
| * * 
* 

Die drei unfreiwilligen Ruhetage riſſen ein tüchtiges Loch in 
unſern Fleiſchvorrat. Aber eines Tages, als ich überlegte, was wir 
uns weiter erlauben könnten, wenn das Unwetter anhielte, tauchte 
ein Mann namens Majagq auf, der alle Beſorgnis aus meinem 
Gemüt verſcheuchte. Er hatte Frühjahr und Herbſt bei Renslaer 
Harbour verbracht und erzählte, daß er dort noch beträchtliche 
Fleiſchdepots beſitze, die er der Expedition zur Verfügung ſtelle, 
wenn wir ihm nur Munition dafür gäben; darauf gingen wir 
ſelbſtverſtändlich mit Freuden ein. 

Endlich, am 13. April nachmittags, iſt das Wetter ſo, daß 


von Aufbruch die Rede ſein kann. Zwar weht noch ein ganz 


gewaltiger Sturm, aber da Wind hier in Etah unter allen Um⸗ 
ſtänden zum guten Wetter gehört, machen wir uns fertig und fahren 
gegen den Wind an. Gegen Morgen erreichen wir Anoritog und 
lagern uns für die Nacht. 


Eisbär, der Sohn der Witwe. 

Durch eine Laune des Schickſals hat Anoritog einen Namen 
erhalten, der „die Windumſauſte“ bedeutet. Dabei iſt dieſer kleine 
Wohnplatz, der als Winterquartier für die fingierte Nordpol⸗ 
expedition des Dr. Cook eine Weltberühmtheit erlangt hat, die 
einzige Stelle in der Umgebung von Etah, wo immer abſolute 
Windſtille herrſcht. 

Anoritoqs Name ſtammt aus einer alten Sage von einer ge⸗ 
wiſſen Anoritog, die einen Bären aufzog. Eine Eskimofrau, 
Arnajag, erzählt die Geſchichte wie folgt: 


Bon Thule zum Humboldtgletſcher. 59 


Es war einmal ein Mann namens Angutdligamag, der 
niemals ſelbſt auf die Jagd zog. Er begnügte ſich damit, ab und 
zu aufs Eis hinaus zu gehen, und traf er hier einen Mann, der 
einen Seehund hinter ſich herſchleppte, ſo erſchlug er ihn und nahm 
den Seehund als ſeine eigene Beute mit nach Hauſe, und davon 
lebte er. Seine Landsleute wagten nicht, ſich gegen ihn aufzu⸗ 
lehnen, weil er ſehr ſtark war, und ſo kam es, daß er viele Jahre 
ungeſtraft von Raub und Mord lebte. Aber eines Tages fand 
man, daß es doch zu weit ging, und man einigte ſich, eine Liſt 
gegen ihn anzuwenden. 

„Höre, Angutdligamag,“ ſagte man, „du weißt nicht, welchen 
Spaß es macht, gemeinſam mit andern auf die Jagd zu gehen; 
du ſollteſt es nur einmal verſuchen, ſo würdeſt du ſicher jeden 
Tag mitkommen wollen.“ 

Als Angutdligamag das hörte, zog er am nächſten Tag mit 
allen Jägern des Lagers aus. Aber da er des Lebens außerhalb 
des Hauſes ganz ungewohnt war, ſtellte er ſich ſehr ungeſchickt an, 
und ſeine Kameraden mußten ihm bei allem, was er tat, helfen. 
Abends ſollte er ſich in einer Schneehütte ſchlafen legen, aber auch 
da wußte er nicht, wie er ſich anſtellen ſollte. 

„Wie legt man ſich in einer Schneehütte zur Ruhe?“ 

„Man ſchläft am beſten, wenn man das eine Bein aus der 
Hoſe herauszieht“, antworteten die andern. 

Das tat er und fiel bald in einen tiefen Schlaf. Aber ſobald 
ſeine Kameraden ſahen, daß ſein Hinterteil entblößt war, ſprangen 
ſie herzu und jagten einen Wurfſpieß hinein, und Angutdligamag, 
der brüllend vor Schmerz in die Höhe ſprang, jagte die Spitze nur 
tiefer hinein und ſtarb. Darauf gingen ſeine Kameraden nach Hauſe. 

„Was iſt aus Angutdligamag geworden?“, fragte ſeine 
Mutter, die den Namen Anoritog, „die Windumſauſte“, hatte. 

„Wir haben ihn erſchlagen“, antworteten die andern. 

„Wenn ihr eine trächtige Bärin fangt, ſo gebt mir die Frucht, 
damit ſie mein Kind werde“, bat die Frau. 

Und eines Tages, als die Jäger eine trächtige Bärin gefangen 
hatten, brachten ſie die Frucht nach Hauſe zu der Frau. Sie zog 
das Junge mit Tran aus ihrer Lampe auf, und es wurde bald 
ſo groß, daß es Seehunde für ſie fangen konnte. Den Bären 
nannte man nach der Mutter Anoritoqs Sohn. 


60 Zweites Kapitel. 


Im Winter, als die große Dunkelheit kam, konnte der 
Bär nichts mehr ſehen und keine Seehunde fangen, und 
ſo machte er ſich daran, die Fleiſchdepots der Menſchen zu 
beſtehlen. 

„Du ſollſt nicht ſtehlen“, ſagte die Pflegemutter bekümmert. 
„Deine Vettern werden dich ſtellen, und die Menſchen werden dich 
töten.“ 

Mit den Vettern des Bären waren die Hunde gemeint. 

„Oh, ich flüchte vor dem Wind,“ ſagte BE Bär, „dann können 
die Hunde mich nicht wittern.“ 

Aber eines ſchönen Tages nahm es doch ein ſchlimmes Ende. 
Die Hunde ſtellten ihn, und die Menſchen töteten ihn. 

Viele Tage wachte die Frau in ängſtlicher Erwartung; denn 
obgleich niemand ihr etwas erzählte, fürchtete ſie, daß dieſes Tier, 
das ſie liebgewonnen hatte, getötet worden ſei. 

b Eines Tages, als ſie ihn wie gewöhnlich ermahnt hatte, nicht 
zu ſtehlen, hatte ſie ihm die eine Seite mit Ruß von ihrer Lampe 
geſchwärzt. 

„Nun kann ich doch jederzeit Gewißheit erhalten, wenn er ge⸗ 
tötet werden ſollte“, hatte ſie geſagt. 

Sie bat nun ihre Gefährten, ſie möchten ausfahren und an 
andern Orten nachfragen, ob ein Bär mit einer rußgeſchwärzten 
Seite getötet worden ſei. Es dauerte auch nicht lange, ſo kamen 
die Schlitten zurück und erzählten ihr, ein ſolches Tier ſei bei 
einem der Nachbarplätze erlegt worden. 

Groß war die Trauer der Frau, als ſie erfuhr, daß ihr 
Pflegeſohn tot ſei. Weinend verließ ſie ihr Haus, ſetzte ſich auf 
eine Landſpitze in der Nähe des Wohnplatzes, und indem ſie 
ihre Blicke über das endloſe Eis ſchweifen ließ, das bis jetzt das 
Jagdfeld des Bären geweſen war, ſang ſie: 


Vergebens ſpäht die Wartende, 
vergebens weint die Trauernde. 

Hart iſt des Weibes Los, 

das Tränen vergießt ohne Troſt, 
ſchwer iſt das Los der Frau, 

die den einzigen Sohn überlebt. 

Bär! Bär! Kommſt du niemals zurück? 
Bär! Bär! 


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Von Thule zum Humboldtgletſcher. 61 


Tage und Nächte vergingen, ohne daß die Frau Nahrung zu 
ſich nehmen mochte. Schluchzend ſang ſie ihr Lied, bis die Tränen 
auf ihren Wangen erſtarrten und ihr Körper zu Stein wurde. 

Man ſieht noch leibhaftig ihre Geſtalt auf der Landſpitze beim 
Wohnplatz. Ihr Mund iſt mit einer Schicht von erſtarrtem 
Speck bedeckt; denn es heißt, daß es eine glückliche Bärenjagd gibt, 
wenn man vor dem Aufbruch die Bärenmutter mit Speck füttert. 
In ſtillen Winternächten, wenn die Nordlichter ihr geiſterhaftes 
Spiel am Himmel treiben, ſieht man alte Jäger unter einem Vor⸗ 
wand in die Berge gehen, und am nächſten Tag zeigen friſche 
Spuren im Schnee, daß die Bärenmutter Beſuch gehabt hat: 
ihr Geſicht glänzt von Speck. 


Das erſte Polareis. 


Gegen Morgen, als wir eben erwacht waren und den Primus⸗ 
kocher angezündet hatten, wurden wir von Hundegebell und frem⸗ 
den Stimmen draußen überraſcht. Es waren zwei junge Leute, 
die von einer glücklichen Moſchusochſenjagd in Ellesmereland 
zurückkamen, wo ſie zuſammen 40 Tiere erlegt hatten. Sie ver⸗ 
ſorgten uns reichlich mit friſchem Fleiſch und Talg. Dann zog 
jeder nach ſeiner Richtung weiter. 

Von Anoritoq nach Renslaer Harbour hatten wir eine ſchwere 
und anſtrengende Tagereiſe. Die Strecke von Kap Inglefield bis 
Kap Ingerſoll legten wir durch ſtark aufgepreßtes Eis zurück. 
Zu dieſer Zeit des Herbſtes, wenn das ganze Kanebecken aus 
großen treibenden Schollen beſteht, kann die Strömung ſehr hart 
gegen das Land gerichtet ſein, und während neues Eis entſteht, 
wird gleichzeitig eine Menge Eis dort, wo die treibenden Schollen 
zuſammenfrieren, emporgepreßt. Dieſe Preßeisrücken können oft ſo 
hoch ſein, daß man ſich nur mit Axten den Weg bahnen 
kann. Die ſchwerbelaſteten Schlitten müſſen langſam und vorſichtig 
geleitet werden, damit ſie nicht plötzlich durch einen Fall aus 
mehreren Metern Höhe zerſplittert werden. Oft bleiben ſie in ver⸗ 
zweifelten Stellungen hängen, jo daß ein paar Männer zugreifen 
müſſen, um ſie wieder loszubekommen. Das iſt eine heiße und be⸗ 
ſchwerliche Arbeit, die indeſſen zu ſo vielen komiſchen Situationen 
führt, daß die Beſchwerden immer mit größtem Humor ertragen 
werden. N 


62 Zweites Kapitel, 


Ungefähr bei Kap Ingerſoll gelangten wir auf einen Eisfuß, 
der ſich in etwa 60 Meter Breite vor uns wie eine ſchöne, leicht 
fahrbare Landſtraße ausdehnte. Über uns hatten wir die hohen 
roten Sandſteinfelſen mit dem gleichmäßig abfallenden ſchnee⸗ 
bedeckten Schutt am Fuß und den ſteilen Abſtürzen oben am 
Gipfel. Die Strahlen der Abendſonne wurden vom Schnee und 
den rotgefärbten Felſen zurückgeworfen; dieſe ſchöne Landſchaft vor 
Augen, fuhren wir in raſchem Trab bis zum Wohnplatz bei Rens⸗ 
laer Harbour, der bei den Eskimos Aunartog heißt. 

Das Innere dieſer Bucht macht einen außerordentlich freund⸗ 
lichen Eindruck. Das Land beſteht hier aus ſchönen abgerundeten 
Höhen aus hellem Granit, auf denen überall, wo der Schnee weg⸗ 
geweht iſt, Moos und Gras hervorgucken. An der Küſte ſtehen 
die eleganten, hochragenden Sandſteinfelſen auf beiden Seiten wie 
ein majeſtätiſches Tor zu der kleinen Bucht, in der die Eskimos 
eine Wohnſtätte gefunden haben. Der rötliche Ton, der nament⸗ 
lich bei Sonnenuntergang über den Küſtenfelſen ruht, bildet einen 
wirkungsvollen Gegenſatz zu dem grauweißen Gneis im Innern 
der geſchützten Bucht, von der aus ſich ein ebenes, gleichförmiges 
Hochplateau wie eine große Ebene bis zum Inlandeis hinauf 
erſtreckt. 

Majags Fleiſchgruben. 

Wir waren alle ſehr neugierig, wie Majag ſein Verſprechen 
einlöſen würde. Er hatte von Fleiſchmaſſen geſprochen, aber die 
Begriffe der Eskimos von Maſſen ſind oft recht unterſchiedlich. 
Sobald wir das Lager aufgeſchlagen und die Hunde feſtgebunden 
hatten, gingen wir mit Majag nach dem kleinen Vorgebirge, wo 
er ſein Lager hatte. Mit berechtigtem Stolz wies er über die 
Ebene hin und ſagte: „All das Fleiſch, das hier liegt, gehört 
jetzt dir! Mögen deine Hunde ſtark werden von meinem Fang!“ 

Ich ſah ſogleich, daß der Mann keineswegs übertrieben hatte, 
ja, daß es uns ſogar ſchwer fallen würde, alles das zu brauchen, 
was er uns angeboten hatte. Hier gab es wirklich Seehundfleiſch 
in großen Mengen. Während die Zelte der Expedition errichtet 
und Schneehütten gebaut wurden, machten wir uns daran, die 
großen Steine von den Fleiſchgruben zu wälzen, um zu den See⸗ 
hunden zu gelangen. Wir bekamen 35 große fette Seehunde und 
vier köſtliche bärtige Seehunde. 


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Von Thule zum Humboldtgletſcher. 63 
Es war ein ſo großer Zuſchuß zu dem Fleiſch, das wir bereits 
hatten, daß wir beſchloſſen, einen Ruhetag zu machen, nur um 


die Hunde mit ſo viel Fleiſch vollzuſtopfen, als ſie nur bewältigen 
konnten. Im übrigen benutzten wir den freien Tag, den der Über- 


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Fleiſchkönig Majag. Harald Moltke. 


fluß uns geſchenkt hatte, dazu, um die hiſtoriſche Stelle, zu der 


uns Majags Fleiſchgruben geführt hatten, näher zu ſtudieren. 


Majag iſt einer der beſten Jäger des Stammes und verläßt 
nur ungern die Gegend um Kap Vork herum, wo die Bären⸗ 
jagden in der Melvillebucht ihre Anziehungskraft ausüben. Aber 
voriges Jahr hatte er mit ſeiner Frau und ſeinem halberwachſenen 


64 Zweites Kapitel. 


Sohn ausgemacht, daß ſie wieder einmal ihre Kleider richtig aus⸗ 
lüften wollten. Sie hatten jo lange bei Kap York gewohnt, 
daß ſie anfingen, vom Feſtliegen zu riechen. So wee ſie ſich 
zu dieſem großen Umzug entſchloſſen. 


„Der Eidervogel.“ 


Anoritog war damals 50 Jahre lang nicht bewohnt geweſen. 
Der letzte Mann, der ſich hier niedergelaſſen hatte, hieß „der 
Eidervogel“. Er wohnte urſprünglich weiter ſüdlich, dort wo es 
viele Menſchen gab und wo man nicht an Ode und Sehnſucht 
nach Menſchen zwiſchen den Wohnſtätten litt. Aber ein Jäger 
des Ortes hatte verſucht, ihm ſeine Frau, die ſehr ſchön war, zu 
rauben, und da die Frau keinen genügenden Reſpekt vor den 
Rechten des Eidervogels zu haben ſchien, hatte dieſer ſich ſchließ⸗ 
lich entſchloſſen, weiter nach Norden zu ziehen. Aber auf ihrem 
Weg durch die Wohnplätze traf ſie Krankheit, und die Jagd ſchlug 
fehl. Dies geſchah in Zeiten, wo das böſe Geſchick plötzlich und 
unerbittlich über den Menſchen herfallen konnte. Damals hatte 
man die Sitte, den, der nicht mitfolgen konnte, in zufällig men⸗ 
ſchenleeren Häuſern, an denen man vorbeikam, zurückzulaſſen. Ge⸗ 
wöhnlich waren das die Kinder. Fenſter und Türen wurden 
mit großen Steinen bedeckt, die die Ermatteten nicht lüften 
konnten, und ſo ließ man ſie lebendig begraben zurück. Dies tat 
man nicht aus Bosheit, ſondern es war eine geheiligte Tradition 
unter dem umherſtreifenden Jägervolk. Weinend und laute Weh⸗ 
rufe ausſtoßend, ſuchte man ſich ſo raſch wie möglich von den 
zum Tode Verurteilten zu entfernen, die in kurzer Zeit verhunger⸗ 
ten und erfroren. — Auf dieſe Weiſe ließ der Eidervogel eins 
ſeiner Kinder nach dem andern zurück. Nur ein Kind, ihr Lieb⸗ 
lingskind, hüllten ſie in Felle ein und nahmen es auf dem Schlitten 
mit. Aber als ſie unterwegs infolge von Krankheit, Hunger und 
Erſchöpfung faſt den Verſtand verloren, forderte der Eidervogel 
ſchließlich ſeine Frau auf, das Kind vom Schlitten herabzuwerfen, 
damit es einen raſchen und ſchnellen Tod in der Kälte erlitte. 
Und das tat ſie auch. 

Zu ſpät bereuten ſie am nächſten Tag ihre Herzloſigkeit, und 
aus Gram über ihre eigene Unmenſchlichkeit ſetzten ſie die Reiſe 
immer weiter nach Norden fort bis nach Anoritog, wo ſie viele 


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Eskimomutter. 


Von Thule zum Humboldtgletſcher. 65 


Leute trafen, die in Wohlſtand lebten. Aber die Trauer bedrückte 
ihr Gemüt, ſo daß ſie das Zuſammenſein mit andern Menſchen 
nicht ertragen konnten, und ſie begaben ſich noch weiter nach Norden, 
bis ſie ſich endlich bei Aunartog niederließen. Hier lebten ſie allein 
ohne Gefährten viele Jahre, ohne jemals Beſuchsreiſen zu andern 
Menſchen zu unternehmen. Die wenigen, die bei ihnen einkehrten, 
erzählten immer von ihrer großen Gaſtfreiheit, aber niemals 
öffneten ſie den Mund zu einem überflüſſigen Wort, niemals ſah 
man ein Lächeln auf ihren Lippen. Einſt, als man ſie zu be⸗ 
ſuchen kam, fand man beide tot. Es war Fleiſch genug in ihren 
Fleiſchgruben, und daraus ging hervor, daß ſie freiwillig ver⸗ 
hungert waren, um ihren Kindern, die ſie ſelbſt getötet hatten, 
in den Tod zu folgen. 

Seit der Zeit des „Eidervogels“ haben keine Menſchen mehr 
bei Renslaer Harbour gewohnt; die Stätte hat einen ſchlechten 
Ruf. Erſt jetzt, im Jahre 1916, war Majag dort hingezogen; aber 
obgleich die Beute des Frühjahrs und Sommers ſo überreich 
war, daß alle ſeine Fleiſchgruben mit Seehunden gefüllt waren, 
zog er doch im ſelben Herbſt, ohne zu überwintern, aus Sehnſucht 
nach Geſellſchaft nach Etah zurück. Majag zog es vor, ſich fern 
von ſeinen Fleiſchdepots kümmerlich durch die dunkle Zeit durch⸗ 
zuſchlagen, und ſeine Landsleute ſagten daher von ihm, er ſei ver⸗ 
rückt. Aber die Einſamkeit hatte ſo ſchwer auf dem Orte gelaſtet, 
wo die Gebeine des „Eidervogels“ liegen, daß er vorzog, in 
Armut unter Menſchen zu leben. 


Der Wohnplatz „Frühlingsanfang“. 


Der Wohnplatz Aunartoq, der Ort, wo der Frühling zeitig 
beginnt, hatte nur drei Häuſer, die alle ſehr alt waren. Auf dem 
Platz, wo die Häuſer geſtanden hatten, fand ich ein Stück von 
einem Schlitten, der ſcheinbar aus Walfiſchknochen angefertigt war. 
Auch ein Walfiſchkopf war in die Mauer eingebaut. Es war ſelt⸗ 
ſam zu ſehen, daß ſelbſt hier weit im Norden an Stellen, wo das 
Eis ſelten ganz weggeht, der Wal ebenſo wie an den übrigen Orten 
im Smithſund eine hervorragende Rolle geſpielt hat. Außer den 
hier genannten Funden gab es Knochen vom Walroß, Bären, 


Moſchusochſen und ferner einen Überfluß von abgenagten 
Rasmuſſen. 5 


66 Zweites Kapitel. 


Seehundsknochen. Viele Fleiſchgruben von der gewöhnlichen Form 
und Größe waren rings um die Häuſer angelegt. ; 

Ich war etwas erjtaunt, keine Renntierknochen zu finden. 
Dieſes friedliche Landſtück zwiſchen dem Meer und dem Inland⸗ 
eis hat jedenfalls früher die Lebensbedingungen für eine Menge 
Renntiere geboten. Natürlich kann die Erklärung dafür ſein, daß 
der Ort nicht in einer Zeit bewohnt war, in der das Renntier von 
den Polareskimos gejagt wurde. So merkwürdig es klingt, das 
Renntier galt bei dem jetzigen Stamm für ein unreines Tier, 
das man nicht eſſen dürfe. Erſt nach 1864, als eine Einwan⸗ 
derung aus der Baffinbucht viele neue Sitten einführte, lernte 
man das Renntier als Jagdtier betrachten, und es iſt ſeitdem mit 
ſolcher Gründlichkeit gejagt worden, daß es faſt ausgerottet iſt. — 
Die Jagdverhältniſſe bei Renslaer Harbour ſind kurz geſagt fol⸗ 
gende: 

Jedes Frühjahr werden eine Menge Seehunde und bärtige 
Seehunde mit der Utut⸗Methode auf dem Eis erbeutet. Die 
Utut⸗Jagd dauert hier tatſächlich den ganzen Sommer, da das 
Eis in der Regel in den Buchten liegenbleibt. Erſt gegen Mitte 
Auguſt wird das Schmelzwaſſer auf dem Eis ſo tief, daß der 
Fang unmöglich wird. In den letzten Jahren iſt das Eis längs des 
Landes nicht aufgebrochen, nur rings um die Vorgebirge haben 
ſich breite Rinnen gebildet. Gelegentlich kommen auch Walroſſe in 
dieſe Rinnen hinein. Weiter im Land drinnen gibt es viele Haſen, 
hier und da auch Renntiere. — 

* * 
* 

Sobald unjere Arbeit bei den Fleiſchgruben fertig war und 
die Seehunde für unſere Reiſe in paſſende Stücke zerlegt waren, 
feierten wir nachmittags ein Feſt. Wir mußten unſerer Freude 
über den Überfluß, in den wir durch Majags Fleiſchvorräte ge⸗ 
langt waren, Ausdruck geben. 

Die Feſtlichkeiten wurden mit einer Filmaufnahme eingeleitet, 
die unter allen Mitſpielern großes Glück machte. Sie geſchah bei 
Majags Hütte, und auch eine Anzahl unſerer beiten und größten 
Hunde durfte daran teilnehmen. Die Handlung des Stückes 
war ſo einfach wie möglich. Sie ſtellte nur die Ankunft vieler 
Beſucher bei Majag dar, der ſeine Gäſte mit Lächeln und ein⸗ 
ladenden Bewegungen zu den Fleiſchhaufen führte, die wir eben 


Von Thule zum Humboldtgletſcher. 67 


aus ſeinen Depots zuſammengetragen hatten. Dann wurde eine 
glänzende Feſtmahlzeit eingenommen. 

Die Aufführungen amüſierten die Eskimos wohl, erſchienen 
ihnen aber zugleich als etwas Seltſames und Merkwürdiges, und die 
Auftretenden ſchienen den Worten Ajakos, der von ſeinem Beſuch 
in Dänemark im Jahr 1914 her die Sache kannte, daß die 
Bilder einmal lebendig werden würden, nicht viel Glauben zu. 
ſchenken. Man beachtete ſeine Erklärungen nicht beſonders und 
ging leicht darüber hinweg, da man Ajafo nicht des leichtſinnigen 
Umgangs mit der Wahrheit beſchuldigen wollte. 

Wulff, der die Kamera handhabte, tat dies in einer Weiſe, 
daß die Stimmung noch weiter durch allerhand Zurufe erhöht 
wurde, mit denen er die Auftretenden fortwährend ſtimulierte; 
leider müſſen noch anderthalb Jahre vergehen, ehe die Reſultate 
ans Tageslicht kommen. 

Nach dieſem Gaſtmahl im Bild kam eine richtige Mahlzeit 
vom verfaulten Fleiſch des bärtigen Seehundes. Der bärtige 
Seehund wird gewöhnlich in einzelne Beuteanteile zerlegt; be⸗ 
ſonders eifrig trachtet man nach den Hauptpartien, aus denen die 
unentbehrlichen Lederriemen angefertigt werden. Aber Majag 
hatte hier eine ſo glänzende Jagd gehabt und bereits ſolche Men⸗ 
gen von Riemen ausgeſchnitten, daß die letzten bärtigen Seehunde, 
die er gefangen hatte, ſamt der Haut und dem Speck zerteilt 
worden waren. Dies bewirkt, daß die großen Speckſtücke, die 
man zeitig im Frühjahr in Steinhütten vergräbt, die ein gutes 
Stück in die kalte Erde hinabreichen, nur einen ganz leichten 
Hauch von Fäulnis bekommen. Kein Sonnenſtrahl darf zu dem 
Fleiſch hinabdringen, das, wenn die ſpärliche Wärme des Sommers 
vergangen iſt, etwa das Ausſehen von halbgetrocknetem geräu⸗ 
chertem Fleiſch annimmt und ganz vortrefflich ſchmeckt. Da man 
ſehr ſelten das Fleiſch des bärtigen Seehundes in dieſer Art ſer⸗ 
viert bekommt, war der Appetit glänzend. Auch unſere Hunde 
erhielten ihren Anteil, und obgleich ſie 185 an der Zahl waren, 
bekamen ſie doch ſo viel, wie man in ſie hineinſtopfen konnte, 
ohne Gefahr zu laufen, daß ihre inneren Organe platzten. Nach 
dem Fleiſch wurde Kaffee aufgetragen, und darauf eine kleine 
Unterweiſung im Schneeſchuhlaufen erteilt, die durch die vielen 


Lachſalven, die ſie auslöſte, die Verdauung nach der gewaltigen 
5 > 


68 Zweites Kapitel. 


Mahlzeit aufs beſte förderte. Nur wenige von den Eskimos 
waren nämlich geübt, auf Schneeſchuhen die Hügel hinabzufahren, 
und da die Fahrt meiſtens in Purzelbäumen endete, ſo war für 
gute Gymnaſtik des Zwerchfells geſorgt. 

Es war ein unvergeßlicher Abend. Bald ſoll die Mitternacht⸗ 
ſonne erſcheinen, aber noch ſinkt die Sonne für einige Minuten 
unter den Horizont, und das bewirkt dann dieſe wunderbare Be⸗ 
leuchtung, die Abendröte über den Sandſteinfelſen und über dem 
weißen Schnee. Dieſe Stimmungen verſchwinden, ſobald das ein⸗ 
förmigere Licht der Mitternachtſonne Tag und Nacht ſcheint. Die 
Landſchaft iſt wundervoll, nicht nur weil die Küſte mit dem breiten 
Eisfuß und den ſchönen Randbergen an und für ſich anziehend iſt, 
ſondern auch, weil das ganze Kanebecken mit der wechſelnden Fläche 
des Packeiſes eine wilde und großartige Ausſicht nach Norden ge⸗ 
währt. Jeden Abend beim letzten fliehenden Sonnenlicht ſieht man 
die Berge auf Grinnell⸗Land wie brennende phantaſtiſche Schlöſſer 
am weſtlichen Horizont. 


Kanes Expedition 1853 — 1856. 


Ein eigenartiges lächelndes Behagen liegt über dieſer kleinen 
Bucht, in der die Brigg „Advance“ überwinterte. 

Das Gelände, das in grasreichen Ebenen ſich bis zum In⸗ 
landeis erſtreckt, die moosbewachſenen Gneishügel, auf denen in 
dem kurzen Sommer ein Reichtum an Leben und Blumen her⸗ 
vorſprießt; die Seehunde, die Möwen, die Eidervögel, die Haſen 
und die wilden Renntiere, die in den Schluchten weiden, aus denen 
friſche Gebirgsflüſſe das Land bewäſſern, alles dies gibt nicht nur 
den Eindruck von Leben und feſtlicher Schönheit, ſondern läßt auch 
ſo viel Gutes im Kampf um die Nahrung erwarten, daß man un⸗ 
willkürlich die Gegend und die Landſchaft liebgewinnt. Dies war 
jedenfalls unſer Eindruck. 

Auf Kanes Expedition wirkte das alles dagegen wie die wil⸗ 
deſte Ode am Ende der Welt. Auf die Jagdtiere, die ihnen 
Nahrung und Geſundheit hätten geben können, konnten ſie nicht 
rechnen, da ihnen die Fangmethoden unbekannt waren, und ſie 
ſahen daher die Landſchaft und ihr eigenes Schickſal aus der 
Stimmung heraus an, die der ſalzige Proviant und der Skorbut 


ſchufen. 


Von Thule zum Humboldtgletſcher. 69 


Kanes Hauptquartier hier in Renslaer Harbour iſt für uns nur 
ein ganz vorläufiger Aufenthalt auf dem Wege nach den Küſten, 
nach denen wir ſtreben. Und doch gibt es trotz aller Unterſchiede 
zwiſchen dieſen erſten Pionieren und uns gewiſſe Berührungspunkte. 

Der amerikaniſche Arzt Dr. Eliſha Kent Kane leitete eine 
der letzten großen Expeditionen, die auszogen, um nach Sir John 
Franklin zu ſuchen. Er war in Wirklichkeit einer der erſten, der mit 
den alten unpraktiſchen Prinzipien der Schiffserpeditionen brach 
und in vielen Richtungen Pläne und Reiſemethoden anwendete, 
die ſpäter mit großem Erfolg von andern geübt wurden. Bisher 
hatten alle arktiſchen Expeditionen ausſchließlich praktiſche Auf⸗ 
gaben gehabt, inſofern als das Ziel aller Unterſuchungen die 
Entdeckung einer Durchfahrt vom Atlantiſchen zum Stillen Ozean 
war, eines Seeweges, der eine Umwälzung in den Handelswegen 
zur Folge haben ſollte. Bekanntlich zeigte es ſich ziemlich raſch, daß 
eine ſolche Durchfahrt wohl vorhanden war, aber niemals prak⸗ 
tiſche Bedeutung gewinnen konnte, wegen der gewaltigen Eis⸗ 
hinderniſſe, die zu überwinden waren. 

Aber die Luſt zu Entdeckungen in dem arktiſchen Märchenland 
kühlte ſich nicht ab, obwohl ſich herausſtellte, daß man ſich keine 
Hoffnung auf nutzbringende Reſultate machen könne. Als die 
praktiſchen Ziele verſagten, traten die rein wiſſenſchaftlichen Auf⸗ 
gaben in den Vordergrund, und Dr. Kane war einer der erſten, 
der unter der neuen Fahne auszog. Allerdings nahm man den 
verſchwundenen Franklin in das Programm auf und reiſte unter 
den Auſpizien der Geographiſchen Geſellſchaft von New Pork und 
des Smithſonian⸗Inſtituts von Waſhington. Aber ſchon die Art, 
wie Kane ſeinen Plan entwarf, zeigte, daß er ſelber keine Hoff⸗ 
nungen hegte, Spuren der vor ſieben Jahren verſchwundenen Ex⸗ 
pedition zu finden. 

Der Weg, den Kane wählte, zeigt denn auch zur Genüge, 
daß es vor allen Dingen neue Entdeckungen ſind, die ihn lockten. 
Er wollte der „Terra firma“ oder mit andern Worten der grön⸗ 
ländiſchen Küſte nach Norden folgen. Er glaubte an die Theorien 
vom offenen Polarmeer, das eventuell Schiffe ohne Eishinderniſſe 
über den Nordpol führen könne; er ſetzte voraus, daß Grönland 
ſich ſehr weit nach Norden erſtreckt, und nahm ſehr richtig an, daß 
deſſen Nordſpitze das Land ſein muß, das dem Nordpol am 


70  Biweites Kapitel. 


nächſten liegt. Die Küſtenreiſe ſollte ferner die Expedition inſtand 
ſetzen, ſich ſelbſt durch Jagd zu ernähren, und endlich hoffte man 
auf ein Zuſammenarbeiten mit den Eskimos. Sobald man, ſei es 
mit dem Schiff oder mit Booten, ins offene Polarmeer vorge⸗ 
drungen war, wollte man in weſtlicher Richtung Streifzüge nach 
der Franklin⸗Expedition unternehmen. 

Wie man ſieht, umfaßte dieſer Plan in erſter Linie die Unter⸗ 
ſuchung und kartographiſche Aufnahme bisher unbekannter Küſten⸗ 
ſtrecken. Dazu kam, daß Kane der allererſte war, der Reiſen auf 
die Jagd und auf ein Zuſammenarbeiten mit der Bevölkerung 
des Landes gründete. 

Nach einer abenteuerlichen, wechſelvollen Seefahrt erreichte Kane 
im Herbſt 1853 Renslaer Harbour auf etwa 78° 307 nördlicher 
Breite. Dies war der nördlichſte Punkt, auf dem jemals eine Über- 
winterung ſtattgefunden hatte, und dieſer Umſtand trug nicht wenig 
dazu bei, der Expedition ſelber zu imponieren. Aber die Polar⸗ 
nacht wirkte entmutigend und hinderte an Ausflügen, bis man. 
ſpäter von den Eingeborenen des Landes lernte, daß man auch das 
Mondlicht mit Erfolg zu kleinen Reiſen benutzen kann. 

Leider war die Expedition ſehr unzweckmäßig verproviantiert. 
Die Hauptnahrung ſcheint aus Salzfleiſch beſtanden zu haben, und 
dies hatte zur Folge, daß faſt alle an Skorbut erkrankten. 

Tatſächlich hatte der Zufall ſie in ein ausgezeichnetes Jagd⸗ 
gebiet geführt. Aber der Mann, den die Expedition als Jäger 
aus Südgrönland mitgebracht hatte, mußte ſich erſt mit den Ver⸗ 
hältniſſen vertraut machen. Es war dies der junge Hans Hen⸗ 
drik, der ſpäter durch ſeine Teilnahme an mehreren andern Polar⸗ 
expeditionen ein berühmter, unentbehrlicher Jäger und Hunde⸗ 
führer wurde. Außer Hans begleitete die Expedition auch ein 
däniſcher Handwerker, Carl Peterſen, der in Nordgrönland geboren 
und mit der Winterjagd vertraut war und gute Vorbedingungen 
dafür beſaß, ein nützliches Mitglied zu werden. Aber man ließ 
die Jagdausſichten dieſer fremden Gegend ganz unbenutzt, bis man 
plötzlich und unerwartet an einem Wintertag im April den Be⸗ 
ſuch von einer Schar Eskimos erhielt. Kane gibt eine unterhal⸗ 
tende, naive Beſchreibung dieſer erſten Begegnung, die die Ein⸗ 
leitung zu entſcheidenden Reformen in der Reiſetechnik der Expe: 
dition bildete. Ein Mann der Beſatzung der „Advance“ war 


Bon Thule zum Humboldtgletſcher. 71 


gerade geſtorben, und man ſaß früh am Morgen da und wachte 
bei dem toten Kameraden, als die Deckwache in die Kajüte ge⸗ 
ſtürzt kam und rief, es ſeien Leute da, die vom Land her an⸗ 
riefen. 


Kanes erſte Begegnung mit den Eskimos. 


Kane erzählt in ſeinem Werk: 

Ich ging hinauf, begleitet von allen, die noch imſtande waren, 
das Fallreep hinaufzuklettern. Da ſahen wir auf allen Seiten 
unſerer felſigen Bucht ringsumher auf der Schneeküſte wilde, 


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Seltſame Weſen tauchen aus dem Dunkel auf. 


ſeltſame, aber augenſcheinlich menſchliche Weſen aus dem Dunkel 
der Klippen auftauchen. Als wir uns auf Deck verſammelten, 
ſtiegen ſie auf die vorſpringenden Eisblöcke am Land, einzeln 
und in die Augen fallend, wie die Opernſtatiſten in einem Halb- 
kreis aufgeſtellt. Sie ſchrien und riefen, um unſere Aufmerkſamkeit 
auf ſich zu lenken oder vielleicht nur, um ihrem Erſtaunen Luft 


zu machen. Aber ich konnte aus ihrem Geſchrei nichts anderes 


heraushören als „Hoah ha ha!“ und „Ka kaah!“, immer von 
neuem wiederholt. 

: Es war hell genug, daß ich ſehen konnte, daß ſie keine Waffen 
ſchwangen, ſondern nur heftig mit Kopf und Armen geſtikulierten. 


12 Zweites Kapitel. 


Bei näherem Zuſehen zeigte ſich, daß ſie weder an Zahl noch an 
Größe ſo furchteinflößend waren, wie einigen von uns anfänglich 
ſcheinen wollte. Kurz und gut, ich war überzeugt, die eingeborene 
Bevölkerung vor mir zu haben, und ſo rief ich Peterſen aus ſeiner 
Koje als Dolmetſcher zu mir und ging unbewaffnet und mit der 
offenen Hand winkend auf eine hohe Geſtalt zu, die ſich bemerk⸗ 
lich machte und eine größere Schar um ſich verſammelt zu haben 
ſchien, als die andern. Der Mann verſtand augenſcheinlich die Be⸗ 
wegung, denn er faßte plötzlich Mut, ſprang auf das Eis hinab 
und ging mir entgegen. 

Er war faſt einen Kopf größer als ich ſelber, außerordentlich 
kräftig und wohlgebaut, von ſchwärzlicher Hautfarbe und durch⸗ 
dringenden ſchwarzen Augen. Er trug eine Jacke mit Kapuze aus 
weißen und blauen Fuchsfellen, die mit einer gewiſſen Phantaſie 
zuſammengeſetzt waren, und Stiefelbeinkleider aus weißem Bären⸗ 
fell, die am Fuß mit den Krallen des Tieres abſchloſſen. 

Ich kam bald zu einem Verſtändnis mit dieſem kecken Diplo⸗ 
maten. Wir hatten kaum unſere Unterhaltung begonnen, als ſeine 
Landsleute ſich um uns ſcharten, wahrſcheinlich auf ein Zeichen 
von ihm. Aber es war nicht ſchwierig, ihnen verſtändlich zu machen, 
daß ſie bleiben ſollten, wo ſie wären, während Metek mit mir an 
Bord ging. Dadurch hatte ich den Vorteil, mit einer wichtigen 
Geiſel zu verhandeln. 

Obgleich es das erſtemal war, daß Metek einen weißen Mann 
geſehen hatte, ging er ohne Furcht mit mir; ſeine Landsleute 
blieben auf dem Eis zurück. Hickey bot ihnen an, was wir für 
unſere größten Delikateſſen anſahen, Scheiben von gutem Weiß⸗ 
brot, Schweinefleiſch, ſowie große Stücke weißen Zucker; aber ſie 
weigerten ſich es anzurühren. Sie hegten offenbar keine Furcht vor 
offener Gewalt von unſerer Seite. Ich entdeckte ſpäter, daß 
mehrere von ihnen ganz allein den Kampf mit einem Bären oder 
Walroß aufnehmen konnten und daß ſie uns für eine blaſſe, kränk⸗ 
liche Geſellſchaft hielten. 

Zufrieden mit der Unterredung in der Kajüte, gab ich Be⸗ 
ſcheid, dem Reſt den Zutritt zu erlauben, und obgleich ſie nicht 
wiſſen konnten, wie es ihrem Anführer ergangen war, nahm ein 
halbes Dutzend die Einladung mit lärmender Bereitwilligkeit an. 
In der Zwiſchenzeit hatten andere, wie um uns Geſellſchaft zu 


Von Thule zum Humboldtgletſcher. 73 


leiſten, ſolange der Beſuch dauerte, etwa 56 ſchöne Hunde und 
die dazugehörigen Schlitten vom Landeis geholt und ſie in 
200 Fuß Entfernung von der Brigg angebracht, indem ſie ihre 
Spieße feſt in das Eis rammten und die Hunde mit Seehund— 
riemen daran feſtbanden. Die Tiere verſtanden dieſes Manöver 
ſehr gut und legten ſich ſogleich nieder. Die Schlitten waren aus 
kleinen Stücken poröſer Knochen angefertigt und in bewunderns⸗ 
werter Weiſe mit Lederriemen zuſammengebunden; die Kufen, die 
wie polierter Stahl blinkten, beſtanden aus blank geputztem Elfen⸗ 
bein von den Stoßzähnen des Walroſſes. 

Die einzige Waffe, die ſie trugen, waren Meſſer, die in den 
Stiefeln ſteckten. Dagegen waren ihre Spieße, die auf den 
Schlitten feſtgebunden waren, recht ſchreckeneinflößende Waffen. Der 
Schaft beſtand aus einem Horn des Narwals oder auch aus den 
Schenkelknochen eines Bären, je zwei und zwei zuſammengebunden. 
Sie hatten kein Holz. Ein einziger verroſteter Faßreifen von 
einer angetriebenen Tonne hatte wohl den ganzen Stamm mit 
Meſſern verſorgt. Aber die ſcharf geſchliffenen Spitzen an ihren 
Spießen waren unverkennbar aus Stahl und mit nicht geringer 
Geſchicklichkeit an dem zugeſpitzten Knochenſchaft feſtgemacht. Ich 
erfuhr ſpäter, daß ſie das Metall durch Handel mit den ſüd⸗ 
licheren Stämmen erwarben. 

Als fie erſt die Erlaubnis erhalten hatten, an Bord zu: 
kommen, waren ſie ſehr wild und ſchwierig im Zaum zu halten. 
Sie ſprachen immer zu dreien oder vieren auf einmal, zueinander 
oder zu mir, lachten herzlich über unſere Unwiſſenheit, weil wir 
ſie nicht verſtanden, und ſprachen dann weiter wie vorher. Sie 
waren unabläſſig in Bewegung, gingen überall hin, verſuchten 
Türen zu öffnen, zwängten ſich durch dunkle Gänge zwiſchen 
Fäſſern und Kiſten hindurch und wieder ans Tageslicht, voll 
Eifer, alles, was ſie ſahen, zu befühlen und zu erproben, und baten 
um alles, was ſie in die Hand bekamen, oder verſuchten, es zu 
ſtehlen. Es war um ſo ſchwieriger, ſie in Schach zu halten, weil ich 
in ihnen nicht den Glauben erwecken wollte, als ob wir die ge⸗ 
ringſte Furcht vor ihnen hätten. Es gab Zeichen für unfern 
kampfunfähigen Zuſtand, die ihnen verborgen bleiben mußten. 
Namentlich war es notwendig, ſie von der Hütte an Deck fern⸗ 
zuhalten, wo der tote Körper des armen Baker lag, und da es 


74 Zweites Kapitel. 


fruchtlos war, mit ihnen zu verhandeln und ſie zu überzeugen, ſo 
mußten wir zuletzt, um ſie zur Ordnung zu rufen, unſere Zuflucht 
zu einem „höflichen Gebrauch der Fäuſte“ nehmen, den, wie ich 
glaube, die Geſetze aller Länder dulden. 

Unſere ganze Stärke wurde gemuſtert und in Bereitſchaft ge⸗ 
halten; aber obgleich eine gewiſſe Unhöflichkeit in dem Drängen 
und Puffen lag, womit die Schiffspolizei ſich durchſetzte, ging 
das Ganze doch in aller Gutmütigkeit vor ſich, und unſere Gäſte 
fuhren fort, ein und aus und um das Schiff herumzulaufen, 
brachten Proviant und fütterten ihre Hunde auf dem Eis; das 
dauerte die ganze Zeit bis in den Nachmittag hinein, dabei 
errafften ſie, was ſie konnten. Dann warfen ſie ſich wie müde Kinder 
hin, um zu ſchlafen. Ich gab Befehl, daß der Laderaum für ſie 
hergerichtet würde, und Morton breitete ein großes Büffelfell 
in der Nähe des Kohlenfeuers im Schiffsküchenofen aus. 

Am Morgen drängten ſie wegzukommen; aber ich hatte Be⸗ 
fehl gegeben, ſie zurückzuhalten, um noch ein Abſchiedsgeſpräch 
mit ihnen zu halten. Dies führte zu einer Übereinkunft, kurz gefaßt 
in den Ausdrücken, damit ſie leicht zu merken ſei, und vorteilhaft 
für beide Teile, damit ſie von beiden gehalten würde. Ich ver⸗ 
ſuchte ihnen begreiflich zu machen, welch ein mächtiger Geiſt ſie 
bei ſich aufgenommen habe, und wie wohlgeſinnt er ſich ihnen 
zeigen würde, ſolange ſie ſeinen Befehlen gehorchten, und als vor⸗ 
läufiges Zeichen meiner Gunſt kaufte ich von ihnen alles Walroß⸗ 
fleiſch, was ſie entbehren konnten, und vier von ihren Hunden 
und bereicherte ſie zum Entgelt dafür mit Nadeln und Perlen 
und einem Schatz von alten Faßdauben. 5 

In ihrer überwältigenden Dankbarkeit verſprachen ſie dafür 
feierlich, daß ſie in einigen Tagen mit mehr Fleiſch zurückkommen 
würden und daß ich ihre Hunde und Schlitten auf meinen Aus⸗ 
flügen nach Norden benutzen dürfte. Darauf gab ich ihnen Die 
Erlaubnis zu gehen. In weniger als zwei Minuten hatten fie 
ihre Hunde vorgeſpannt, knallten mit ihren anderthalb Meter 
langen Peitſchen aus Seehundsriemen und verſchwanden über das 
Eis in ſüdweſtlicher Richtung mit einer Schnelligkeit von ſieben 
Seemeilen in der Stunde. 


* * 


Von Thule zum Humboldtgletſcher. 75 


Es muß wahrhaftig auf die vom Skorbut geſchwächten Männer 
ganz eigentümlich gewirkt haben, den wilden Kindern dieſes 
Landes gegenüberzuſtehen, die von Geſundheit ſtrotzten und ohne 
jede Schwierigkeit ihre Nahrung und Kleidung aus der Wüſte zu 
beziehen ſchienen, über der ſoeben die Polarnacht gebrütet hatte; 
dieſer ſelben Wüſte, die fo niederſchlagend auf die zivilifierten 
Bleichgeſichter wirkte und ſie ſo hilflos machte gegenüber dieſer 
rauhen Natur, die ſie nicht kannten. Ganz richtig ſah Kane 
ſofort, daß hier etwas für die Expedition zu lernen war. Mit 
Hilfe ſeines ſüdgrönländiſchen Dolmetſchers verſuchte er ſogleich, 
ein formelles Übereinkommen zu ſchließen. Es wirkt paradox, 
daß er gleich in einigen von ihnen Diplomaten zu ſehen glaubt, 
die er durch Verträge binden will, ganz wie bei zwei Nationen 
im Bereich der Ziviliſation. Sicher ſind die Eskimos ihrerſeits 
ebenſo verwundert geweſen über die ſeltſamen Einfälle der Ex⸗ 
pedition, wie die Amerikaner erſtaunt waren über die Bewohner 
des äußerſten Nordens. 

Kane hatte an ihren Werkzeugen, Schlitten und andern Ge⸗ 
räten raſch geſehen, was dieſen Menſchen fehlte, und er ſah bald 
ein, daß er, wenn er mit ihnen tauſchen und ihnen das geben 
könnte, was ſie brauchten, wahrſcheinlich darauf rechnen durfte, 
ſie als Begleiter und Führer für die Reiſen zu gewinnen, die er 
noch vorhatte. 

Leider ſcheint raſch der Hochmut und Argwohn 85 zivili⸗ 
ſierten Menſchen erwacht zu ſein, und zum großen Erſtaunen der 
Eskimos wurde an Bord ſogleich eine Ordnungspolizei organi⸗ 
ſiert, die ſie aus den Räumen hinauswarf, in denen man ſie nicht 
haben wollte. Es muß höchſt eigentümlich auf die freundlichen 
Gäſte gewirkt haben, die ja nur mit der ganzen Gier ihres Weſens 
nach neuen Entdeckungen dieſes merkwürdige Fahrzeug, auf das 
ſie gekommen waren, unterſuchen wollten. Und daß man ihnen, 
als ſie genug von der Gaſtfreundſchaft unter Polizeiaufſicht hatten 
und ſich zu entfernen wünſchten, plötzlich die Abreiſe verbot und 
ſie zwang, an Bord des Schiffes zu bleiben, bis die diploma⸗ 
tiſchen Verhandlungen abgeſchloſſen waren, hat ſie ſicher mit 
ſteigender Verwunderung erfüllt. 

Als Beweis ſeiner beſonderen Gunſt kaufte Kanes alles, was 
ſie an Walroßfleiſch hatten, und dazu noch vier Hunde; dafür 


76 Zweites Kapitel. 


erhielten ſie ein paar Nadeln und Perlen und alte Faßdauben. 
Komiſch wirkt es daher, wenn man die Tradition unter den 
Eskimos damit vergleicht. Sie berichten, daß die erſten Beſucher 
auf der „Advance“ dem Herrn des Schiffes einige ihrer Hunde 
und all ihr Walroßfleiſch ſchenkten, wodurch ſie gezwungen waren, 
ihre erſte Frühjahrsjagd auf Bären aufzugeben. Nach der Auf⸗ 
faſſung der Eskimos waren ſie es alſo, die als Wohltäter auf⸗ 
traten, und nicht Kane. 

Die Eskimos wurden ja vortrefflich ohne Hilfe fertig, während 
die weißen Männer ſich in ein Land verirrt hatten, wo ſie jetzt 
an Bord ihrer eingefrorenen und unbrauchbaren Schiffe krank 
lagen und mit dem Tode kämpften. Zum Glück für die Ameri⸗ 
kaner bildete dieſe Begegnung die Einleitung zu einem ſehr leb⸗ 
haften Verkehr, bei dem die Eskimos zu jeder Zeit für friſches 
Fleiſch ſorgten; dadurch wurde die Expedition von einer ſtarken 
Dezimierung durch den Skorbut gerettet. Schließlich traten die 
Eskimos als Führer und Lenker von Hundeſchlitten auf, führten 
die weißen Männer in dem Diſtrikt herum, den fie in⸗ und aus⸗ 
wendig kannten, machten ſie mit den Eigentümlichkeiten der Jagd 
und ihren Methoden vertraut und gaben ihnen ſolche Auskünfte 
über die Eisverhältniſſe auch weiter im Süden, daß Kane im 
Frühjahr 1855, als das Schiff noch immer vom Eis einge⸗ 
ſchloſſen war, ſich entſchloß, in offenen Booten ſüdlich nach Uper⸗ 
niwik zu ziehen. : 

Wenig angebracht ſcheint daher die Kleinlichkeit, die die Expe⸗ 
dition den Eskimos gegenüber bewies. Es waren ja doch nur 
Kleinigkeiten, die verſchwanden, wenn man auch zugeben muß, daß 
dieſe Polareskimos, die nicht gewohnt waren, in Verbindung mit 
„hohen Geiſtern“ zu kommen, gelegentlich lange Finger machten. 
Die Expedition reſpektierte dafür auch nicht die Fleiſchdepots der 
Eskimos. Doch waren dies ja alles nur Bagatellen, die kaum 
ein ſo maſſives Vorgehen rechtfertigten, wie Kane es einſchlug. 
Er war kleinlich genug, an Bord ein Gefängnis für ſeine Retter 
einzurichten, und ſelbſt, wenn er ſie nie körperlich abſtrafen ließ, 
ſperrte er ſie doch in die dafür eingerichteten Zellen ein. Überhaupt 
hatte er die ſeltſame Idee gefaßt, es ſei praktiſch, den Eskimos den 
Glauben beizubringen, er, der Herr des großen Schiffes, ſei kein 
Menſch, ſondern ein großer Geiſt. Er glaubte, damit die „Wilden“ 


Von Thule zum Humboldtgletſcher. 77 


am leichteſten in Schach halten zu können. Dies war ein voll⸗ 
kommenes Mißverſtändnis. Die Eskimos haben im Gegenteil 
gedacht, daß man ſich gegen eine Macht, die nicht kleinlich ſein 
konnte, bedeutend mehr herausnehmen dürfe als einem ganz ge- 
wöhnlichen Menſchen gegenüber. Da konnte man ſich wohl 
erlauben, dieſe oder jene Kleinigkeit mitzunehmen, die für den 
großen Geiſt kaum eine Rolle ſpielen konnte. So hatte das Ver⸗ 
hältnis ſich entwickelt, bis Kane ſo ausgeſprochen menſchliche Züge 
offenbarte, daß man es ſpäter für zweckdienlich hielt, das Eigen⸗ 
tumsrecht in höherem Grade zu achten. Folgendes kleines Zitat 
iſt ein ſprechendes Beiſpiel für Kanes merkwürdige Auffaſſung: 

„Man muß wohl auf dieſe Eskimos aufpaſſen, ſie gleichzeitig 
aber mit Freundlichkeit behandeln, wenn auch mit ſtrenger Hand⸗ 
habung unſeres Polizeireglements und mit einiger Vorſicht hin⸗ 
ſichtlich der Unverfrorenheit, mit der ſie an Bord kommen. Keine 
Abſtrafung iſt erlaubt, weder ihrer ſelbſt noch in ihrer Gegenwart, 
und die Schußwaffe darf nur Verwendung finden, wenn es gilt, 
einen ernſten Angriff abzuſchlagen. Ich habe indeſſen Befehl ge⸗ 
geben, daß, falls dieſe Eventualität eintritt, überhaupt nicht ge⸗ 
feuert werden darf. Der Reſpekt vor der Flinte beruht bei dem 
Wilden auf ſeiner Vorſtellung von ihrer Unfehlbarkeit; man kann 
Blutvergießen vermeiden, indem man einen Hund tötet oder auch 
nur verwundet; aber auf keinen Fall darf man ſeine Kugeln ver⸗ 
geuden, das iſt weder politiſch noch human.“ 

Das Folgende iſt eine Probe aus dem Kontrakt des Schiffes 
mit den Eingeborenen. Wie man ſieht, hatten nur die Eskimos 
Verpflichtungen: 

„Wir verſprechen, nicht zu ſtehlen. Wir verſprechen, euch 
friſches Fleiſch zu bringen. Wir verſprechen, euch unſere Hunde 
zu verkaufen oder zu leihen. Wir verſprechen, daß wir euch auf 
euren Reiſen begleiten, ſo oft ihr es wollt, und euch Orte zu zeigen, 
wo Wild zu finden iſt.“ 

An anderer Stelle geſteht Dr. Kane, daß ſie für die Jagd 
wirklich unſchätzbaren Rat von den Eskimos empfangen haben. 
Ihre Hunde galten zeitweiſe als gemeinſamer Beſitz, und oft 
kamen die Eskimos von ſelbſt und brachten Fleiſch für die hung⸗ 
rigen Hundegeſpanne der Expedition, wenn die Jagd ungünſtig 
ausgefallen war. Kane fährt fort: 


78 Zweites Kapitel. 


„Auch uns ſelbſt gaben ſie Fleiſch in den kritiſchen Perioden. 
Aber wir waren auch imſtande, viel für ſie zu tun, und ſie lernten 
ſchließlich uns ausſchließlich als Wohltäter zu betrachten.“ 

Es iſt unleugbar, daß Kane in feiner ſelbſtſichern Überſchätzung 
der Eigenſchaften des weißen Mannes die Rollen einigermaßen 
vertauſcht. Unter allen Umſtänden kann ich feſtſtellen, daß noch 
in unſern Tagen die Tradition von Dr. Kanes Überwinterung 
bei den Eskimos beſteht, die berichtet, daß die weißen Männer die 
Sitten der Inuits ſehr ſchlecht verſtanden und daher oft Veran⸗ 
laſſung zu Irrtümern gaben, die das Zuſammenleben mit ihnen 
erſchwerten. Sie konnten in ihrem Zorn unberechenbar ſein, und es 
fiel ihnen offenbar ſchwer zu begreifen, daß die Eskimos auch 
Menſchen waren wie ſie ſelbſt. 

Der wertvollſte Beiſtand, den die Eskimos der Expedition 
leiſteten, war ſicher der Transport der Schiffsboote und des 
Reiſeproviantes bis zum offenen Waſſer in der Umgebung von 
Etah, als Kane ſich im Frühjahre 1855 entſchloß, nach Süden zu 


ziehen. N 
* * 


* 


Wenn man berückſichtigt, daß zu jenen Zeiten jede Erfahrung 
in der Überwinterung in ſo nördlichen Gegenden vollkommen 
fehlte, muß man in vielen Punkten die Arbeit der Expedition 
anerkennen. Die Strecke von Etah bis nach Waſhingtonland 
wurde kartographiſch aufgenommen; der Humboldtgletſcher wurde, 
wenn auch ſehr unvollſtändig, unterſucht, und man ſammelte gute 
und zuverläſſige Nachrichten über das Tierleben und die Jagd in 
dieſen Gegenden. 

Die längſte Schlittenreiſe wurde von Morton und Hans bis 
nach Kap Conſtitution unternommen, jedoch ohne eine zuver⸗ 
läſſige wiſſenſchaftliche Kontrolle. Die Reſultate dieſer Reiſe 
trugen noch weiter dazu bei, das Mißverſtändnis von einem 
offenen Polarmeer aufrechtzuerhalten. Kane ſelbſt gehörte zu 
den Vorkämpfern dieſer Theorie, und er ſchreibt darüber in 
ſeinem Buch: 

„Ein offenes Meer nahe dem Pol oder ſogar ein offenes 
Polarbecken iſt lange Zeit eine aktuelle Theorie geweſen. Schon 
ſeit der Zeit von Barents abenteuerlichen Reiſen 1595 hat man 


Von Thule zum Humboldtgletſcher. 79 


offenes Meer öſtlich von den nördlichſten Vorgebirgen von 
Nowaja Semlja geſehen. Die holländiſchen Walfänger bei Spitz 
bergen unternahmen ihre abenteuerlichen Kreuzfahrten durch Eis 
in Gebiete von offenem Waſſer hinein, das ſeine Lage und Aus⸗ 
dehnung mit den Jahreszeiten und den herrſchenden Winden wech— 
ſelt; eine jo hoch angeſehene Autorität wie Dr. Scoresby kam 
ſogar mit Andeutungen, daß die Bewegungen des Eiſes in der 
Umgebung des Nordpols vermutlich offenes Waſſer in der Nähe 
des Poles ſelbſt andeuten müſſen. Baron Wrangel ſah, gerade- 
ſo wie er ſich gedacht hatte, 40 Meilen von der Küſte des 
arktiſchen Aſien entfernt, einen gewaltigen Ozean ohne Grenzen. 
Endlich hat auch Kapitän Parry jüngſt proklamiert, daß ſich 
offenes Waſſer im Wellingtonſund finde; und mein Vorgänger, 
Kapitän Inglefield, meldete, daß er das offene Polarbecken vom 
Maſt ſeines kleinen Schiffes aus geſehen habe, nur 15 Meilen 
von dem Eis entfernt, das unſer Vordringen im Frühjahr darauf 
hinderte.“ 

Kane meinte, alle dieſe mehr oder minder illuſoriſchen Ent⸗ 
deckungen ſeien durch Mortons Reiſe beſtätigt worden. Dieſer 
wurde nämlich in ſeinem Vordringen nach Norden durch den. 
Kennedykanal von offenem Waſſer aufgehalten, das ſich von Kap 
Jackſon nach Norden über den 80. Breitengrad hinaus erſtreckte. 
Von einer Höhe von einigen hundert Fuß hatte er hier im Norden 
offenes Waſſer geſehen, ſo weit das Auge reichte, während der 
feſte Eisrand im Süden bei dem 80. Breitengrad ungefähr quer 
über das Kanebecken verlief. Morton und Hans hatten das Ge- 
fühl, daß ſie, je weiter ſie nach Norden reiſten, beſtändig einem 
milderen Klima entgegenrückten. Der Schnee ſchmolz auf den 
Klippen, Scharen von Seevögeln kreiſten über dem offenen 
Waſſer, Pflanzen, die jetzt noch infolge der Jahreszeit in ihrem 
Wachstum beſchränkt waren, ſchienen Miene zu machen, ſich zu 
entfalten, und das Waſſer hatte eine höhere Temperatur als 
weiter ſüdlich. Alle dieſe Entdeckungen deuteten darauf hin, daß 
näher am Pol ein milderes Klima herrſchen müſſe. i 

Dieſe Beobachtungen wurden am 25. Juni, alſo bei vorge- 


rückter Jahreszeit, gemacht und waren auch inſoweit richtig, als 


man ſehr gut von einem offenen Polarmeer ſprechen kann, das 
nach Norden bis zum Ende des Robeſonkanals reicht. Verſchiedene 


80 Zweites Kapitel. 


Schiffe ſind im Laufe der Zeit durch dieſes offene Meer ge⸗ 
drungen, ſo die „Polaris“, die „Discovery“, die „Alert“ und 
Pearys „Rooſevelt“ ſogar zu wiederholten Malen. Aber dieſe 
Theorien haben den Haken, daß das „offene“ Meer aus dicht 
zuſammengepacktem Treibeis von mächtigem Kaliber beſteht, 
ſobald man in das wirkliche Polarmeer hinauskommt. Von dort⸗ 
her geht durch die obenerwähnten Kanäle durch das Kanebecken 
zum Smithſund und zur Baffinbai hinab eine heftige Strömung, 
die ihre größte Kraft gerade in der Umgebung von Kap Con⸗ 
ſtitution hat, wo die ſchmaleren Kanäle ſich in das breite Kane⸗ 
becken entleeren. Daher wird das Wintereis in dieſen Gegenden 
ſehr raſch entfernt, und infolgedeſſen entſteht hier zeitig im Sommer 
offenes Waſſer. Dieſes rein örtliche Meer war die Urſache, daß 
die Theorien von einem offenen Nordpolarmeer ſich noch viele 
Jahre nach Kanes Expedition am Leben erhielten. 

Wenn auch ein grundlegendes Mißverſtändnis in dieſer Ent⸗ 
deckung Kanes lag, hat ſie doch Bedeutung durch die verſchiedenen 
Expeditionen, die ſpäter von England und von Amerika ausge⸗ 
ſandt wurden, um die hocharktiſchen Rätſel näher zu erforſchen — 
Expeditionen, die in hohem Grad dazu beitrugen, die Kenntnis 
der nördlichſten Gegenden unſerer Erde zu vertiefen. 


Der Fjord des großen Blutbades. 


Am 16. April wurde die Reiſe nach Norden auf dem breiten, 
leicht zu befahrenden Eisfuß fortgeſetzt, der ein raſches Vorwärts⸗ 
kommen geſtattete. 

Ein Eisfuß bildet ſich nur in Gegenden, in denen die Ge⸗ 
zeiten in genügendem Maße herrſchen. Wenn das Meer zur 
Ebbezeit fällt, iſt ſchon Ende September die Kälte ſo ſtark, daß 
die Küſte bis zur Hochwaſſergrenze hinauf von einer Eisrinde 
überzogen wird, mit einer dünnen Eisſchicht für jede Ebbezeit. Im 
Laufe des Oktober und November hat der Eisfuß ſeine volle 
Dicke erreicht; er bildet dann einen längs der Küſte verlaufenden 
Gürtel, ein Eisband, das allen Verzweigungen der Küſte folgt. 
Der Eisfuß iſt oben eben und zeigt den höchſten Waſſerſtand im 
Verlauf des Jahres an. Nach dem Meereis zu fällt er in einer 
ſteilen Wand ab. ö 


Sedubigbelleibug sd aBaagusılng 


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Von Thule zum Humboldtgletſcher. 81 


Wo die Küſte aus ſteilen Felſen beſteht, iſt der Eisfuß ganz 
ſchmal, weil er an ſolchen Stellen an den Felswänden hängt und 
nicht von unten geſtützt wird. Wo die Küſte dagegen flach iſt, ſtützt 
er ſich auf den Meeresgrund und kann ſehr breit werden. Nirgends 
hat er eine ſolche Breite wie hier an den Küſten des Kanebeckens, 
wo er 60—100 Meter mißt. 

Es war ein Feſt für uns alle, in vollem Galopp auf dieſer 
geſegneten Landſtraße dahinzufahren. Wir folgten dem Fuß 
der ſchönen Sandſteinfelſen, die mit ihren warmen roten Farben 
unſern Weg flankierten und in ihren friſchen Farbentönen wie 
rote Wangen vom weißen Schnee abſtachen. Meerwärts hatten 
wir die emporgepreßten Eisſchollen des Kanebeckens, tiefen Schnee 
und ſchlechte Schlittenbahn. Während wir oben daran vorbei⸗ 
fuhren, durch die Gezeitenchauſſee aller Schwierigkeiten enthoben, 


Durchſenite durch eine e 
Nach der Zeichnung eines Eskimos. 
knallten wir übermütig mit der Peitſche, froh, daß all dies Teufels⸗ 
zeug dort unten unſerm Vorwärtskommen kein Bein ſtellen konnte. 
Vor uns tauchte bereits Waſhingtonland auf. e war April⸗ 
ſonne und gute Laune. 

Bei Kap Taney kamen wir an vier großen Turm⸗ und ſechs 
gewöhnlichen Fuchsfallen vorbei. Die erſtgenannten ſind hier 
oben weit verbreitet, im übrigen Weſtgrönland dagegen unbekannt. 
Eine Turmfalle iſt etwa 170 Zentimeter hoch in Form einer 
Steinpyramide gebaut. Sie heißt bei den Polareskimos „Uvdli⸗ 
ſat“, das bedeutet, eine Falle, die man mehrere Tage ohne Auf⸗ 
ſicht ſtehen laſſen kann. Die Füchſe werden darin folgendermaßen 
gefangen. 

Man legt faulendes Seehundfleiſch auf den Boden der Stein⸗ 
pyramide, die hoch und ſo gebaut iſt, daß ſie unten geräumig und 
oben ſehr eng iſt. Die Offnung wird mit Weidenzweigen bedeckt, 


die mit Blut eingeſchmiert ſind, um nicht das Mißtrauen des 
Rasmuſſen. . 6 


82 Zweites Kapitel. 


Fuchſes zu erregen. Wenn ein Fuchs in die Falle hinabſpringt, 
kann er nicht wieder heraufkommen, und ſo können ſich oft im 
Laufe einiger Tage mehrere Füchſe in der Falle fangen. — 

Bei der Marſhallbai teilten wir uns in zwei Abteilungen. Elf 
Schlitten fuhren mit Dr. Wulff am weiteſten draußen über den 
Eingang der Bucht, wo die Bahn am beiten war, während 
Koch und ich mit zwei andern Schlitten ins Innere der Bucht 


Harald Moltke. 


Anſer Führer Tornge. 


hineinfuhren, um nach Eskimoruinen zu ſuchen. Als Führer 
hatten wir den großen Tornge mit uns, der im Jahre 1915 ſelbſt 
hier gewohnt hatte. Es war das Verlangen nach Renntierjagd, 
das ihn in dieſe nördliche Gegend gelockt hatte. Die Renntier⸗ 
jagd iſt nächſt der Jagd auf Bären das Spannendſte, was ein 
Eskimo kennt. Es gilt wohl für vornehmer, einen Bären zu er⸗ 
legen, aber ſonſt iſt die Renntierjagd die eleganteſte, mit der ſich 
keine vergleichen kann. Die wilden Renntiere ſind ſehr ſcheu. Es 
iſt ſehr ſchwierig, ſich ihnen auf Schußweite zu nähern, und es iſt 


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Von Thule zum Humboldtgletſcher. 83 


dazu nicht nur Gewandtheit und Liſt, ſondern auch eine unglaub⸗ 
liche Ausdauer erforderlich. Als Jagdtier geben ſie nicht nur 
zartes und wohlſchmeckendes Fleiſch mit köſtlichem Talg, ſondern 
auch die Felle ſind ſehr geſucht. 


* * 


* 


Der Ort, wo Tornge überwintert hatte, wird von den 
Eskimos „Inugarfigſſuag“ oder der „Fjord des großen Blut⸗ 
bades“ genannt. Wie an alle andern Orte, wo menſchliches 
Treiben ſeine Spuren hinterlaſſen hat, ſo knüpft ſich auch an dieſe 
Gegend eine Sage. Tornge erzählte: 

Zu den Zeiten, in denen es viel Menſchen gab und alle Länder 
bewohnt waren, waren auch hier im Innern von Qagaitſut in der 
Nähe der Advancebai nicht weit von dem großen Gletſcher viele 
Häuſer. 

Hier geſchah es einmal, daß zwei Knaben miteinander rauften; 
die Großväter ſtanden dabei und ſahen zu. Plötzlich ergriff der 
eine von den Alten Partei und begann den einen der Knaben 
durchzuprügeln. Der andere Großvater war jo aufgebracht 
darüber, daß ſein Enkel Prügel bekam, daß er hinging und den 
Enkel des erſteren totſchlug. Aber nun ſchlug der erſte Großvater 
den Enkel des zweiten tot, und der Mord an den beiden Knaben 
war die Veranlaſſung, daß alle Bewohner des Platzes Partei 
ergriffen, und das erſte, was ſie taten, war, daß ſie die beiden 
Großväter totſchlugen. Dieſer Anfang machte die Leute wild und 
wurde die Urſache zu einer ſinnloſen Schlächterei. Ein Wahnſinn, 
den niemand erklären konnte, hatte die Wohngenoſſenſchaft er⸗ 
griffen, und ſie reiſten alle miteinander nach Süden, plündernd 
und mordend, ſo daß all die kleinen Buchten, die die Schlitten 
paſſieren mußten, voll von ermordeten Menſchen lagen. All die 
Toten lagen da und zeichneten ſich ſchwarz gegen das weiße Eis 
ab, ganz wie Seehunde, die ſich an einem Frühlingstag ſonnen. 


Wie lange man einander totſchlug, weiß niemand, aber auf einmal 


entdeckte man, daß man fo weit in die Raſerei gekommen war, daß 

man ſich ohne jede Urſache gegenſeitig nach dem Leben trachtete, 

und ſo hielt man inne, zerknirſcht über das Unrecht, das man be⸗ 

gangen hatte. Die Flucht nach Süden wurde jedoch fortgeſetzt, 
6 * 


84 Zweites zn 


bis man Länder erreichte, wo die Sonne wärmer und die Winter⸗ 
nacht nicht ſo lang war. — 

Der größte der Fjorde, wo die meiſten Menſchen lagen, 
erhielt ſpäter den Namen „Fjord des großen Blutbades“. 

Eine einfache und naive Eskimogeſchichte über die Entſtehung 
des Krieges — naiv, aber doch ewig wahr, wo Menſchen einander 
totſchlagen. 

Dieſe alte Sage erzählte Tornge uns als Einleitung zu der 
Geſchichte ſeiner Aberwinterung. Er war unterrichtet über alles, 
was den Wohnplatz und ſeine Jagdverhältniſſe betraf, und mit 
großer Anſchaulichkeit entrollte er uns ein Bild des Lebens, das 
er geführt, ſo daß alle ſeine großen und kleinen Freuden uns 
lebendig vor Augen ſtanden. 

Das Wintereis bleibt in der Regel bis zum Herbſt unbeweglich 
liegen. Ende Auguſt oder Anfang September — ſo ſpät, daß 
ſich ſchon wieder dünnes Eis bildet — ſchmelzen die Flüſſe runde 
Becken an ihrer Mündung, und eine Rinne, die ſich ſchon im 
Sommer vor Kap Ruſſell bildet, erweitert ſich und wird breit. 
Das iſt hier das ganze offene Meer. 

Weiter im Land drin gibt es viele Haſen und Stenutieie, 
Tornge hatte mit feinen drei Wohngefährten im Laufe des Herb- 
ſtes nicht weniger als 100 Stück erlegt. Sie waren weit ins Land 
hinaufgezogen, bis zu einigen großen Seen, die nahe dem Inland⸗ 
eis gelegen waren, und da hatten ſie in kleinen Steinhütten die 
Monate Auguſt und September verbracht. Dieſe Steinhütten ſind 
primitive Häuſer, deren Mauer aus Stein beſteht, während das 
Dach durch ein Zelt gebildet wird. Frauen und Kinder ſchließen 
ſich dieſen Jagden an und bleiben bei den Steingrotten, während 
die Männer jagen. 

Der Aufenthalt in der Umgebung der Marſhallbai bot die 
ſchönſten Jagderinnerungen, die Tornge in ſeinem Leben gehabt 
hatte. Nur eine Unbequemlichkeit hatte die Überwinterung, daß 
man ſich ſchwer genügend Hundefutter verſchaffen konnte, da See⸗ 
hundfleiſch keine ausreichende Ernährung darſtellt. Man vermißte 
Narwale und Walroſſe, das iſt derbere Koſt. 

An Vogelwild gab es viel Eidervögel und Möwen an allen 
Offnungen des Meeres, an den Landſeen Eisenten und Lummen. 

Bei einer Renntierjagd fand man Lachs oben auf dem Gipfel 


Von Thule zum Humboldtgletſcher. 85 


von Kap Ruſſell in etwa 300 Meter Höhe. Der See war nicht 
beſonders groß, und doch fing man eine Menge Lachſe; einige 
von ihnen waren faſt ſo groß wie ein Arm. 

An dem Wohnplatz zählte ich im ganzen 18 alte Häuſerruinen 
und viele Zeltringe und Fleiſchgruben. Tornges Haus war auch 
ſo eine alte Hausruine, die ausgebeſſert worden war. In der Mauer 
fanden ſich eine Menge Walknochen, in den Küchenabfällen Reſte 
von Walroſſen, bärtigen Seehunden, gemeinen Seehunden, 
Moſchusochſen, Renntieren, Füchſen und Haſen. Ferner hatte 
man Angelhaken aus Renntiergeweih gefunden. 

Tornges Haus war groß und ſchön gebaut. Es war von dem 
Typus, den man „Samiſulik“ nennt, mit einem großen Hauptraum 
und einem kleineren Nebenraum, beide mit Pritſchen. In dem 
kleineren Nebenraum hatten ſein Schwiegerſohn und ſeine Tochter 
gewohnt. Ein Stück oberhalb fand ſich eine ungewöhnlich große 
RNuine, deren innere Seite einen Umkreis von gut 30 Meter hatte. 

Dies deutet darauf hin, daß die Jagdverhältniſſe auch in früherer 


Zeit ideal geweſen ſind. Der Vorſprung, auf dem die Häuſer 


lagen, war voll Gneis, der von vielen üppigen Raſenflächen 
durchzogen war. Der Platz machte einen freundlichen, anheimeln⸗ 


2 den Eindruck. Waller gab es genug, ſowohl in Bächen wie in 


Seen. 

Drei Kilometer vom Feſtland entfernt liegt ein kahler, ziemlich 
zugänglicher Gneisholm von etwa 200 Meter Breite und 500 
Meter Länge. Auf dem kleinen Holm fanden wir nicht weniger 
als zehn Häuſer. Dieſe merkwürdige Wahl des Wohnplatzes iſt 
wahrſcheinlich auf den leichteren Zugang zum offenen Waſſer bei 
3 Kap Rufjell und Kap Taney zurückzuführen; möglicherweiſe iſt 
aauch das Eis vor der Inſel beſſer für die Utut⸗Jagd geeignet. 

Den Holm nannten wir Avortungiaginſel, nach Tornges 
Tochter, die als erſte die Ruinen entdeckt hatte. 

Auf einem andern kleinen Holm, eine Strecke weiter nach dem 
Land zu, fanden ſich ebenfalls Plätze, wo Häuſer geſtanden haben. 
Man kann die Zahl der Häuſerruinen, die aus einer früheren 
Eskimoanſiedlung ſtammen, allein hier in dieſer verhältnismäßig 
kleinen Bucht auf etwa 60 veranſchlagen. Außer an den hier 
erwähnten Wohnplätzen finden ſich alte Siedlungen auch bei Kap 


Nuſſell, Kap Wood, in der Dallasbai und im Innern der 


86 Zweites Kapitel. 


Advancebai. Auf die Strecke Anoritog — Kap Agaſſiz kommen 
alſo mindeſtens 100 Häuſer, eine überraſchende Zahl. Sicher 
iſt es eine gute Eisjagd im Frühjahr und Herbſt und eine für 
dieſe Gegenden ungewöhnlich gute Landjagd geweſen, die ſo viele 
Menſchen verlockt hatte, ſich hier niederzulaſſen. Das Land in der 
Nähe der Küſte wirkt ja auch in dieſer Wüſte wie eine richtige 
Oaſe, und man muß ſchon weit ſüdlichere Gegenden aufſuchen, um 
ein ſo breites Umland zu finden. 

Mit Ausnahme der Häuſer auf dem Gneisvorſprung bei 
Tornges Wohnſtätte, wo das Material für den Hausbau günſtig 
iſt, waren alle übrigen Häuſerruinen an dieſer Küſte bemerkens⸗ 
wert durch ihre Kleinheit. Die bei Kap Wood beſtanden aus 
acht Häuſern in einer Reihe, die auf Schutt gebaut waren. Der 
Wall, der den Umkreis des Hauſes gebildet hatte, war deutlich 
zu erkennen; er war aus größeren und kleineren Steinen zuſammen⸗ 
geſetzt. Alles deutete darauf hin, daß man Mühe gehabt hat, 
Material zu beſchaffen. Reſte von Torfwällen fanden ſich über⸗ 
haupt nicht, auch keine Spur von Vegetation. Das Land war 
abſolut unfruchtbar, und in der ganzen Umgebung war kein Torf 
zu finden. Der Platz machte den Eindruck, als ſei es eine „Ver⸗ 
ſuchsſtation“ geweſen. Die Jagdverhältniſſe ſind ausgezeichnet ge⸗ 
weſen. An einem großen Stein bei den Häuſern ſah man noch den 
Ruß vom Herdfeuer. Überall, wo es ſich tun ließ, wurden die 
Ruinen gemeſſen, aber von einer eigentlichen Ausgrabung konnte 
natürlich keine Rede fein, da wir Anfang April bei 30° Kälte 
vorbeikamen, wo alles von tiefem Schnee bedeckt war. 

Am 18. April erreichten wir die Dallasbai, von wo aus wir 
ungefähr bei Kap Kent in die Peabodybai hinausfuhren, um 
nach Waſhingtonland überzuſetzen. 

Die erſte Tagereiſe ergab eine Entfernung von 56 Kilometer, 
obgleich wir die erſten 20 Kilometer uns durch tiefen Schnee 
durcharbeiten mußten. An einigen Stellen fuhren wir auch über 
ſchwierige Schollen von altem Eis, das ganz den Charakter des 
Randeiſes auf dem Inlandeis hatte. Dieſe Schollen, die viele 
Sommer den Strahlen der Sonne ausgeſetzt ſind, haben eine 
rauhe Oberfläche mit tiefen Löchern und wirken wie ein aufge⸗ 
wühltes Meer, auf dem die ſchweren Schlitten wie Schiffe in 
hohem Seegang auf- und niederſchaukeln. 


De en re ee AT > Te er EEE 


Von Thule zum Humboldtgletſcher. 87 


Ungefähr in der Mitte der Bucht bauten wir am 19. April ein 
Schneehüttenlager. Wir hatten hier zum erſtenmal eine vortreff⸗ 
liche Ausſicht über den Humboldtgletſcher, Grönlands größten 
Gletſcher, der von Dr. Kane fo ſehr gerühmt wurde. Unſere 
Erwartungen waren infolge ſeiner maleriſchen Schilderung aufs 
höchſte geſpannt, und da dieſe wirklich ein Bild geben von einer 
Phantaſie, die von dem großen Unbekannten überwältigt wird, 
will ich Kane, der als erſter weißer Mann dieſe Gegenden er⸗ 
blickte, das Wort geben: 

„Ich will nicht verſuchen, die Wirklichkeit durch blühende Be⸗ 
ſchreibungen zu verbeſſern; vom Niagara und vom Meer entwerfen 
die Menſchen immer nur phantaſievolle Schilderungen. Meine 
Aufzeichnungen ſprechen ungekünſtelt von der langen ewig⸗ 
ſtrahlenden Berglinie und der blendenden Eisfläche. Die Eisklippe 
ſtieg wie eine maſſive Glaswand 300 Fuß hoch über die Meeres⸗ 
fläche empor und verlor ſich nach unten in einer unbekannten, 
unergründlichen Tiefe, und ihre gewölbte Oberfläche, 60 Meilen 
lang von Kap Agaſſiz bis Kap Forbes, verlor ſich in einem 
unbekannten Raum, nicht mehr als eine eintägige Eiſenbahnreiſe 
vom Pol entfernt. Das Innere, mit dem ſie in Verbindung 
ſtand und von dem ſie ausging, war ein unbekanntes mer de 
glace“, ein Eismeer, ſoweit man ſehen konnte, von unbegrenzten 
Dimenſionen. 

„Ich hatte im ſtillen erwartet, auf einen ſolchen Rieſenglet⸗ 
ſcher zu ſtoßen, wenn ich jemals das Glück haben würde, Grön⸗ 
lands Nordküſte zu erreichen; aber jetzt, als er vor mir lag, konnte 
ich es kaum faſſen. Hier war eine plaſtiſche, bewegliche, halbfeſte 
Maſſe, die alles Leben vernichtete, Klippen und Inſeln ver⸗ 
ſchlang und ſich in unwiderſtehlichem Fortſchreiten den Weg hinab 
zu dem zugefrorenen Meer bahnte.“ 


* * 
* 


Die Wirklichkeit war eine große Enttäuſchung. Gewiß hatte 
der Gletſcher eine mächtige Ausdehnung, denn er iſt etwa 100 Kilo⸗ 
meter breit. Aber für den, der gewohnt iſt, unter den abenteuer⸗ 
lichen Gletſchern der Melvillebucht zu reiſen, die, wenn ſie nur 
einmal nieſen, ſchimmernde Berge von Eis ins Meer hinausſchleu⸗ 
dern, war der Humboldtgletſcher nur ein gutmütiger Zufluß zu 


88 Zweites Kapitel. 


einem halbtoten, kaum produzierenden Eisſtrom. Der Gletſcher⸗ 
rand, der ſo gut wie ohne Spalten allmählich wie eine Land⸗ 
ſtraße nach der Peabodybai abfiel, hatte an den meiſten Stellen 
eine Höhe, die 50 Meter nicht überſtieg. An manchen Stellen 
lief er eben ins Waſſer aus, ſo daß man ihn mit Leichtigkeit von 
einem Boot aus hätte beſteigen können. Eine Unterſuchung ergab 
auch, daß das Waſſer in einem großen Teil des Kanebeckens ſehr 
ſeicht iſt, und daß die kleinen Eisberge, die eigentlich nur den 
Charakter von Sikuſſagſtücken haben, auf Grund ſtanden. Eine 
Meſſung ihrer Höhe ergab ſogar, daß die Peabodybai 56 Kilo⸗ 
meter ſeewärts nicht tiefer war als 40 Meter. 

Die Advancebai beſteht aus einer Reihe niedriger Holme, 
und in die Küſtenſtrecke von Kap Agaſſiz an ſind viele kleine ſeichte 
Buchten eingeſchnitten, ſo daß hier eine verhältnismäßig geringe 
Hebung im Kanebecken große Landſtrecken freilegen würde. Die 
Natur des Humboldtgletſchers verſteht man erſt richtig, wenn man 
ihn als eine Fortſetzung des ruhigen, ſpaltenfreien Inlandeiſes be⸗ 
trachtet, das ſich nach Inglefieldland herabſenkt. Es iſt daher 
nicht richtig, den Humboldtgletſcher als einen Gletſcher zu charak⸗ 
teriſieren, er ſtellt vielmehr nur einen ebenen Eisrand dar, bis: 
zu dem das Meer hinaufreicht. 

Wenn der Gletſcher indeſſen ſo einen gewaltigen Eindruck auf 
Kane und ſeine Leute gemacht hat, ſo war dies ſicher eine Folge 
ſeiner Ausdehnung. Es iſt auch zuzugeben, daß er, als Eisſtrom 
betrachtet, in ſeiner gleichmäßigen ruhigen Mächtigkeit impoſant 
wirkt, ſelbſt wenn ſein freundlicher runder Rücken ganz anders 
ausſieht, als man es von dem größten Gletſcher Grönlands er⸗ 
warten ſollte. : 8 


Drittes Kapitel. 
Vom Waſhingtonland nach Hall⸗-Land. 


. haben mir oft erzählt, ſie ſeien auf der 
andern Seite „des großen Gletſchers“ in ein Land gekommen, 
ganz unähnlich den ihnen bekannten Gegenden. An vielen Stellen 
ſeien die Klippen grauweiß, an andern ſeien ſie am Fuß ſchwarz 
wie Kohle, und nur an wenigen Stellen ſehe man Pflanzen und 
Gewächſe im Innern der unfruchtbaren Täler. 

Haſen kämen hier und da von den Hochflächen der Gebirge 
herabgeſprungen, und gelegentlich geſchehe es, daß die Hunde plötz⸗ 
lich Großwild wittern, wie man meinte, Moſchusochſen; aber trotz 
vieler Streifzüge ins Innere habe man nie welche gefunden. Was 
uns indeſſen am meiſten intereſſierte, war die Angabe der Bären⸗ 
jäger, daß ſich an vielen Stellen an den großen Vorgebirgen 
ſtarke Strömungen fänden, wo ſich das Eis ſchon früh im Jahr 
öffne. Hier ſollten ſich viele bärtige Seehunde befinden, die eine 
für uns willkommene Proviantvermehrung bedeuten würden. 

Nicht ohne Spannung näherten wir uns dieſem Land, das bei 
den Eskimos den Namen „Akia“, d. h. „das Land auf der andern 
Seite des Gletſchers“ trägt, während die Amerikaner es Waſhington⸗ 
land getauft haben. 
| 20. April. Die Bahn über die ganze Peabodybai war gut 
geweſen, und wir konnten daher, nachdem wir 66 Kilometer zurück⸗ 
gelegt hatten, unſer Lager an einem Eisberg vor den Klippen der 


Caßbai am Abend des 20. April bei Schneewetter und beginnen- 


dem Sturm aufſchlagen. Am nächſten Morgen erwachten wir 


= bei demſelben Wetter, aber da wir alle ungeduldig danach ver- 
langen, weiter nach Norden zu kommen, haben wir keine Zeit, auf 


das Wetter Rücksicht zu nehmen. Lauge Koch geht bei Kap 
Clay ans Land, ich ſelbſt fahre auf dem Eisfuß rings um die 


90 Drittes Kapitel. 


Caßbai herum, um zu ſehen, ob ich dort drinnen Winterhäufer 
finde, als eine Fortſetzung der Häuſer, die wir in überraſchend 
großer Zahl bei unſerer Fahrt am Inglefieldland entlang ange⸗ 
troffen hatten. Das Reſultat war negativ. Wir mußten uns 
damit begnügen, eine Anzahl Fleiſchgruben von der gewöhnlichen 
Eskimoart feſtzuſtellen; auch ein vereinzelter Zeltring wurde ge⸗ 
funden, aber er war viereckig und mußte daher von Mortons und 
Hans Hendriks Reiſe ſtammen. g 

Spät abends kamen wir mit ſturmgepeitſchten Geſichtern und 
ſteifen Gliedern zum Zeltlager zurück und entdeckten bald, daß 
etwas Erfreuliches geſchehen ſein mußte. Das Lager war in einem 
einzigen großen Aufruhr. Die Eskimos liefen uns unter lautem 
Rufen entgegen, ſprangen zwiſchendurch in die Höhe und ſchlugen 
ſich auf die Schenkel, was immer ein Zeichen für ein erfreuliches 
Ereignis iſt. Sobald wir in Rufweite waren, erfuhren wir denn 
auch, daß Koch und Inukitſog vor Kap Clay einen Bären ge⸗ 
ſchoſſen und daß der „Stern“ und Majag nicht weit vom Zelt⸗ 
lager zwei andere Bären erlegt hatten. Dieſe Neuigkeiten be⸗ 
deuteten friſches wohlſchmeckendes Fleiſch in den Töpfen für viele 
Tage, und eine Diätveränderung von Walroß⸗ zu Bärenfleiſch 
iſt immer wohltuend. 

Koch hatte neben der glücklichen Bärenjagd auch eine ausge⸗ 
zeichnete geologiſche Ausbeute gehabt und an der unterſuchten 
Küſtenſtrecke Schichten gefunden, die reich an Verſteinerungen 
waren. 

Nichts belebt auf einer Reiſe ſo, wie wenn einer der Kameraden 
Erfolg hat, und da meine eigenen Reſultate an dieſem Tage ziem⸗ 
lich dürftig geweſen waren, beſchloß ich, gleich am nächſten 
Tag die Reiſe nach dem Humboldtgletſcher fortzuſetzen, während 
die Kameraden weiter nach Norden fahren ſollten. Bei einem 
ſo frühen Zeitpunkt der Reiſe war es nicht ratſam, die ganze 
Expedition warten zu laſſen, und darum mußte ich verſuchen, eine 
doppelte Reiſe zu machen und den Vorſprung der andern im Lauf 
der kommenden zwei Tage einzuholen. 

Ich wußte, daß ſich Häuſer in der Nähe befinden müßten; 
denn viele Jäger hatten von ihren Eltern berichten hören, es 
befinde ſich ein Wohnplatz nördlich des Humboldtgletſchers, nur 
wußte niemand wo, und es galt jetzt, den Ort zu finden. Ich 


Vom Waſhingtonland nach Hall⸗Land. 91 


machte mich alſo am nächſten Tag früh auf den Weg, immer 
der Küſte folgend, während alle übrigen Schlitten in langer Reihe 
langſam weiter nach Norden zogen. Auch Koch wünſchte ſeine 
Unterſuchungen bei Kap Clay durch einen neuen Beſuch zu er⸗ 
gänzen, und mit Inukitſog als Begleiter begannen wir unſere 


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Vom Humboldtgletſcher zur Newmanbai. 


Forſchungen, wohl aufgelegt und feſt entſchloſſen, nicht zu weichen. 
Die Unterſuchungen wurden vom Eisfuß aus vorgenommen, ſo 
daß nichts unſerer Aufmerkſamkeit entgehen konnte. Doch das 
Fortkommen war hier oft unmöglich, und auf einzelnen Strecken 
mußten wir auf äußerſt unangenehmem Sikuſſaqeis fahren, ein 
Zeichen dafür, daß die Buchten ſelbſt hier beinahe nie eisfrei ſind. 


92 Drittes Kapitel. 


Endlich, 12 Kilometer öſtlich von Kap Clay, eine Strecke weit 
in der Bentonbai, wurden meine Anſtrengungen von Erfolg 
gekrönt. Der Eisfuß war an dieſer Stelle ſehr hoch und empor⸗ 
gepreßt, aber wie in einer plötzlichen Eingebung machte ich an 
einer der unzugänglichſten Stellen halt und kletterte über ein 
paar halsbrechende Preßrücken in die Höhe. Ich hatte wirklich 
eine Witterung von Häuſern gehabt; denn vor mir lag der Wohn⸗ 
platz, nach dem ich vergebens geſucht hatte. Er beſtand im ganzen 
aus ſechs Winterhäuſern, zahlreichen Zeltringen und großen, 
geräumigen Fleiſchgruben. Die Häuſer ſtanden dicht am Strand 
auf Grus und Kies. Das Material waren ausſchließlich Steine, 
flache und ovale, und obgleich einige Häuſer gar nicht ſo klein 
waren, konnte man doch deutlich ſehen, daß es ſchwierig geweſen 
war, paſſendes Material zu beſchaffen. Ein wohlgebautes Haus 
erfordert ein mühſames Zuſammenfügen von Mauer und Dach, 
aber hier fand ſich nicht die geringſte Andeutung, daß es ſo etwas 
gegeben hatte. Trotz ſorgfältiger Unterſuchung fand ich keine Spur 
von Vegetation in der Nähe. Eins der Häuſer war viereckig, 
ein ganz einzig daſtehendes Vorkommnis an einem Hausbau der 
Eskimos, woran ſicher das Material ſchuld war. Die übrigen 
hatten die gewöhnliche Bienenkorbform. Wir fanden nur ein be⸗ 
merkenswert großes Haus, ein ſogenanntes „Qarajalik“, das aus 
zwei zuſammengebauten Häuſern mit einem gemeinſamen Eingang 
beſteht. Auch hier waren Walknochen in die Wand eingebaut; 
es ſcheint alſo, als ob ſie unzertrennlich von der Architektur dieſer 
Gegenden ſind. 

Die Fleiſchgruben hatten ganz dieſelbe Form und Größe, wie 
wir ſie in der Melvillebucht gemeſſen und gezeichnet hatten. Die 
Steine waren bei einigen auf die hohe Kante geſtellt, was ſonſt 
nicht üblich iſt. Ferner fanden ſich „Quliſivit“, überbaute Stein⸗ 
körbe, worin man Fleiſch trocknet. Alles dies legte deutlich Zeug⸗ 
nis davon ab, daß der Fang hier gut geweſen iſt. 

Außer den ſchon genannten Häuſerruinen fanden wir zehn 
Zeltringe; einige davon waren ungewöhnlich groß und hatten ſo 
hohe Steinmauern, daß es faſt den Eindruck erweckte, als habe es 
ſich um eine Art Zwiſchending zwiſchen Haus und Zelt gehandelt. 
Es mag ſein, daß der Materialmangel an dieſem Ort zu einer 
Erfindung geführt hat, die für dieſen Ort eigentümlich iſt. 


Vom Waſhingtonland nach Hall⸗Land. 93 


Ich habe ſchon davon geſprochen, welche ausgezeichneten Be⸗ 
dingungen für die Seehundjagd hier beſtehen und immer be⸗ 
ſtanden haben; ſelbſt für die primitiven Jagdwerkzeuge der 
Eskimos iſt es ſicher nicht ſchwierig geweſen, ſich das tägliche 
Fleiſch zu beſchaffen. Hauptſächlich iſt Seehundfang betrieben 
worden. Aber ſicher iſt auch die Jagd auf Eisbären in der Pea⸗ 
bodybai, namentlich im Frühjahr und Herbſt, und auf Renntiere 
und Moſchusochſen in Inglefieldland gut geweſen. 

23. April. Ich war froh, daß die energiſchen Anſtrengungen 
der letzten Tage ein ſo gutes Ergebnis geliefert hatten; denn die 
von mir gefundenen und gemeſſenen Ruinen erweiterten das Ge⸗ 
biet für das Vorkommen von Eskimoruinen bis zu der Gegend 
nördlich des Humboldtgletſchers. Da meine Aufgabe darin be⸗ 
ſtand, Stoff zu einem Beitrag über die Wanderwege der Eskimos 
nördlich um Grönland herum zu ſammeln, war die Einleitung 
ja ſchon recht günſtig. Jetzt galt es nur noch, Wohnplätze im 
weiteren Verlauf unſerer Reiſe feſtzuſtellen, und ſelbſt wenn man 
von vornherein mit Beſtimmtheit vorausſetzen kann, daß die Be⸗ 
ſiedlung auf dem langen Wege längs der ungaſtlichen Küſte nur 
eine ſehr zerſtreute geweſen ſein kann, ſo hatte ich doch Grund, auf 
entſcheidende Reſultate in den großen Fjorden zwiſchen Kap Bryan 
und Kap Waſhington nördlich vom De-Long⸗Fiord zu hoffen. 

Angeregt von dem guten Erfolg ſetzten wir ſogleich unſern 
Kameraden und den Hilfsſchlitten nach, die bereits einen Tag 
Vorſprung hatten. 

Bei Kap Webſter trafen wir Uvpdloriag, der Mitglied der 
erſten Thule⸗Expedition geweſen war. Er war diesmal zur Be⸗ 
gleitung der Hilfsſchlitten angeworben worden, und obgleich er 
eigentlich bis Kap Conſtitution hätte mitkommen ſollen, hatte er 
doch ſchon hier haltmachen müſſen, da ſtarke Iſchiasſchmerzen ihn 
hinderten, den Schlitten durch die Eispreſſungen und über den an 


= einzelnen Stellen ſchwierigen Eisfuß zu lenken. 


Es wehte hier bei dem ſcharfen roten Kap eine friſche Briſe 
mit Schneegeſtöber, und Uvpdloriag war trotz ſeiner Beinſchmerzen 
gezwungen geweſen, ſich eine Schneehütte im Schutz des Berges 
zu bauen. Wir machten halt, und da wir Koch mit dem Sammeln 
von Verſteinerungen ein Stück weiter vorn beſchäftigt fanden, be⸗ 
nutzten wir die Gelegenheit, uns eine kleine Taſſe Kakao zu kochen, 


94 Drittes Kapitel, 


um den Abſchied von dem alten Expeditionskameraden fo feſt⸗ 
lich als möglich zu geſtalten. 

Die ganze Küſte des Waſhingtonlands hatte ebenſo wie Ingle⸗ 
fieldland einen breiten, leicht zu befahrenden Eisfuß, auf den wir, 
da das Meereis bis jetzt gut geweſen war, erſt bei Kap Webſter 
ſtiegen. Nach einſtündigem Aufenthalt ſetzten wir die Reiſe fort. 
Es gelang uns aber leider nicht, an dieſem Tag die Kameraden 
einzuholen; denn als wir nach der Morrisbai kamen, hatten wir 
eine Strecke von 90 Kilometer hinter uns, waren ſelber ſchläfrig 
und durften die Hunde im Anfang nicht ohne Grund überan⸗ 
ſtrengen. 

Die Küſtenberge, die eine Höhe von 200 bis 250 Meter er⸗ 
reichten, waren überall reich an Verſteinerungen und oft von un⸗ 
gewöhnlicher Schönheit. Beſonders die Strecke von Kap Webſter 
nach der Wrightbai machte auf uns einen tiefen Eindruck. Hier 
ſahen wir hohe, phantaſtiſch geformte Kalkfelſen mit grauen 
kalten Farben am Fuß, während die Spitzen in fein abgeſtimmten 
rötlichen Tönen erglühten. Der ganze Aufbau ſelbſt mit ſeinen 
maſſigen Umriſſen führte die Gedanken zurück zu den Burgen des 
Mittelalters; die breiten Einfahrtsportale waren nicht das wenigſt 
Imponierende an dieſer Naturarchitektur. Erſt bei Kap Call⸗ 
hourn wechſelte das Land völlig ſeinen Charakter. Die ſteilen 
Berghänge, die ſo himmelſtürmend wirkten, weil wir auf dem 
Eisfuß dicht unter ihnen dahinfuhren, wurden hier von einem 
Flachland abgelöſt, das langſam und idylliſch anſtieg; zugleich 
wurde der Eisfuß zu einer breiten, ſchneefreien Chauſſee, die die 
Hunde zur größten Kraftentfaltung anſpornte. 

Überall ſpähten wir vergebens nach Wild aus; bisweilen 
witterten die Hunde etwas, ſo daß wir jeden Augenblick erwarteten, 
den ſchwarzen, flatternden Pelz eines Moſchusochſen in einem der 
breitgründigen Täler auftauchen zu ſehen. Aber nichts Lebendiges 
zeigte ſich. In aller Eile wurde das Lager aufgeſchlagen, und 
ſchon nach ſechsſtündiger Ruhe zogen wir weiter und erreichten 
endlich bei Kap Jefferſon unſere Kameraden, die ſich neben 
einem großen, in dieſer Landſchaft paradox wirkenden Korallenriff 
gelagert hatten. 

Es gab ein ſtürmiſches Wiederſehen. Man hatte einen kleinen 
Bären geſchoſſen, der bei unſerer Ankunft ſchon halb verzehrt war. 


Vom Waſhingtonland nach Hall-Land. 95 


Aber auch ein Häschen war, ſo ſchlau es war, dem ſichern Schuß 
Tornges zum Opfer gefallen. Von Intereſſe war auch ein Renn- 
tiergeweih, das man ein Stück landeinwärts gefunden hatte. 

Nach einer kleinen Raſt, während der wir unſern reichlichen 
Anteil an dem jungen Bärenfleiſch erhielten, fuhren wir weiter und 
erreichten am Morgen, nachdem wir in der Lafayettebai eine 
Preßeisſtrecke überſchritten hatten, Kap Conſtitution. 

24. April. Schon in der Lafayettebai hatten die Hunde 
wiederholt Witterung gehabt, und nach wenigen Minuten heftigen 
Galopps waren wir in der Regel auf friſche Spuren geſtoßen. 
Aber da es ſchwer war, den Spuren in den ſtarken Preß⸗ 
rücken zu folgen, wo die Schlitten häufig zwiſchen den Eisblöcken 
umfielen, mußten wir in der Regel die Jagd aufgeben. Jetzt 
war der Jagdeifer der Hunde erwacht, und obgleich die letzten 
Tagereiſen ſehr lang geweſen waren und die Fleiſchladungen der 
Schlitten mindeſtens 500 Kilo wogen, nahm die Eile im Lauf 
der Nacht doch zu, und in der Umgebung der großen Crozierinſel 
vergaßen die Hunde alle Müdigkeit und jagten im Galopp auf 
Kap Conſtitution los. 

Bei der täglichen einförmigen Fahrt iſt es immer der Wille 
des Treibers, der die Hunde vorwärts zwingt. Darin liegt die 
Kunſt bei der Fahrt mit Hunden. Aber wenn etwas Ungewöhn⸗ 
liches geſchieht und die Hunde mit zitternden Naſenlöchern gegen 
den Wind ſtehen, dann iſt es das Tier, das den Menſchen mit 
fortreißt. So am heutigen Tag; auch wir wurden angeſteckt. 

Kaum waren wir an dem Fuß der grauen Felswand ange— 
langt, als die Hunde mit uns davonjagten. Drei ganz friſche 
Bärenſpuren führten vorwärts. Die Hunde, die wiederholt im 
Lauf des Tages genarrt worden waren, ſchienen jetzt feſt ent⸗ 
ſchloſſen, die Bären einzuholen, um die Reiſe mit einer Mahlzeit 
von friſchem Fleiſch zu beſchließen. 

Der Wind hatte an den Berghängen allen Schnee wegge— 
weht, und die Schlitten fuhren mit einer ſolchen Geſchwindigkeit 
über die einzelnen kleinen Preßeisſtücke hinweg, daß ich Angſt 
hatte, die Kufen würden zerſplittern. In einer Bucht zwiſchen— 
Kap Conſtitution und Kap Independence machte ich bei einem 
Eisberg halt, der mir als Lagerplatz geeignet ſchien. Die 
Hunde ſind ſehr mißvergnügt über die Unterbrechung der Jagd 


5 


96 5 Drittes Kapitel. 


und geben ihrer Ungeduld in einem ſtarken Heulen Ausdruck, 
deſſen Echo von den ſteilen Felſen der Bucht widerhallt. 

Eine Strecke hinterher kamen die andern Schlitten. Sobald 
ſie entdeckten, daß ich im Begriff war, abzuladen, gaben ſie ihren 
Hunden das Bärenſignal und kamen mit einer geradezu ver⸗ 
zweifelten Geſchwindigkeit herangefahren. In verſchiedenen Rich⸗ 
tungen verteilten wir uns nun über das Eis; aber auch hier 
war es ſchwer, den Spuren zu folgen, weil der Schnee ſo feſtgeweht 
war, daß die Tatzen der Bären keine Spuren hinterlaſſen hatten. 
Nach vierſtündigem Umherſchweifen mußte die Jagd aufgegeben 
werden, und ein Schlitten nach dem andern kam zum Lagerplatz 
zurück, langſam und zögernd, mit enttäuſchten Treibern und 
ſchlappohrigen Hunden. 

Von den höchſten Zinnen des Kap Conſtitution ſchwebt uns 
ein Falke entgegen; ſtolz und lautlos, die ſpitzen Schwingen in, 
Ruhe ausgebreitet, ſtrich er über uns hin, um uns in ſeinem könig⸗ 
lichen Jagdgebiet willkommen zu heißen. Aber als er unſer Lager 
erreichte und ſeine kleinen kalten Augen auf die Schlittenladungen 
richtete, die wir in unſerm Jagdeifer in wilder Unordnung hinge⸗ 
ſchleudert hatten, hörten wir einen Schrei, der raſch in übermütiges 
Lachen überging. 

Der Falke ſah im Nu, daß er es nicht mit Nebenbuhlern zu 
tun hatte, und um uns ſeine Verachtung zu zeigen, wandte er ſich 
mit einem raſchen Schlag über das Eis hinaus, wo die Bären 
uns entwiſcht waren. 

Wir alle aber ſtanden bei den Schlitten und ſtarrten ihm mit 
ſchlecht verhehltem Neid nach, denn wir wußten, daß der Falke 
in wenigen Minuten mit demſelben ſchallenden Gelächter über dem 
Großwild dahinſchweben würde, das wir faſt einen ganzen Tag 
vergebens verfolgt hatten. 


Die letzten Briefe nach Dänemark. 


25. April. Zum letztenmal haben wir hier ein großes Lager. 
Fünf Hilfsſchlitten ſollen jetzt zurückkehren, und wir behalten nur 
zwei bei uns, die uns weiter bis zu Halls Grab begleiten ſollen. 

Mit den Schlitten ſoll eine letzte Poſt nach Hauſe geſandt 
werden; denn einer der Moſchusochſenjäger, die wir bei Anoritog 
trafen und der weiter unten bei Kap Seddon im ſüdlichen Teil 


Na gv qungesc 1aßyang aaßunl u13) 


Rasmuſſen. 


Jvm1vIG 29169113) 


Vom Waſhingtonland nach Hall-Land. 97 


der Melvillebucht wohnt, hat verſprochen, auf unſere Briefe zu 
warten. Von Kap Seddon werden ſie von einem der Walfänger 
Ende Mai weiter nach dem Diſtrikt Uperniwik gebracht, und von 
dort gelangen ſie im Lauf des Sommers nach Dänemark. 

Hier in unſerm Lager herrſcht bittere Kälte und ſtarker Wind; 
aber trotz alledem wird a an den Vorbereitungen gearbeitet, 
und die ſchon recht großen Sammlungen von Verſteinerungen 
werden für ihre Reiſe nach Süden zweckmäßig verpackt. 
Nachmittags iſt alles fertig, und um nicht unnötig Proviant 
und Hundefutter zu verzehren, machen ſich die Hilfsſchlitten eiligſt 
auf den Heimweg. Der Abſchied iſt haſtig und formlos, wie es 
unter Jägern Sitte iſt; aber wir wiſſen, daß ihre Gedanken ſich 
oft mit unſerm Geſchick beſchäftigen werden, denn es ſind alles 
Leute, die ihr Leben auf langen Fahrten verbracht haben, und ſie 
wiſſen aus Erfahrung, wie raſch Gutes und Schlechtes im Leben 
des Jägers wechſelt. 

Da iſt der große Tornge, der nach einer mißglückten Nord⸗ 
polreiſe einen Winter lang bei dem mächtigen Hazenſee in 
Grantland um ſein Leben gekämpft hat; da iſt der ſchöne Pua⸗ 
luna, der die abenteuerlichen Überwinterungen bei Kap Sheridan 
mitgemacht hat, und ſchließlich Majag, der kühne Jäger, der bei 
Renslaer Harbour als der nördlichſte Provianthändler der Welt 
tätig war. 

Beim Abſchied von dieſen Männern ereignete ſich etwas, was 
mich tief rührte. Zu denen, die hier umkehren, gehört nämlich auch 
der junge Inukitſog, der ſeine Feuertaufe bei der erſten Thule⸗ 
Expedition empfangen hatte. Wir hatten einander einſt in ſchwie⸗ 
riger Lage gelobt, daß wir nie mehr auf eine ſolche Reiſe aus⸗ 
ziehen würden. Inukitſog hielt ſein Gelübde, ich brach das meinige. 
Unwillkürlich mußte er bei den Abſchiedsſcherzen, wie ſie die 
Eskimos lieben, daran denken und er wird auf einmal ernſt und 
geht zu ſeinem Hundegeſpann, das als das ſtärkſte und aus⸗ 
dauerndſte im ganzen Stamm bekannt iſt. Ohne ein Wort zu 
ſagen, wählt er drei der ſchönſten und beſten Hunde aus, kommt 
damit zu mir und bittet mich, ſie mit den drei ſchlechteſten in 
meinem Geſpann zu tauſchen. Nur wer den Wert der Schlitten⸗ 
hunde von Grund aus kennt, kann verſtehen, welchen Freund⸗ 
ſchaftsdienſt Inukitſog mir damit leiſtete. 


Rasmuſſen. 7 


98 Drittes Kapitel. 


Unmittelbar nach der Abfahrt der Hilfsſchlitten machten wir 
uns ſpät am Nachmittag ſelbſt zum Aufbruch bereit und fuhren in 
der kühlen, ſonnenhellen Nacht an der John-Brown⸗Küſte entlang 
weiter nach Norden. Ununterbrochen ſtoßen wir auf Bärenſpuren, 
aber durch die vielen mißglückten Verſuche belehrt, beſchloſſen 
wir, die Hunde zu ſchonen. Der Jagdeifer ermüdet fie ſtark, be⸗ 
ſonders wenn das Ergebnis negativ iſt. 

Im Kennedykanal draußen treffen wir auf hohe, ſchwere 
Eispreſſungen, durch die wir uns mit der Axt den Weg bahnen 
müſſen. Es iſt mehrere Jahre altes Polareis, das in den Kanal 
hineingetrieben iſt und durch Sturm und Wind noch weiter 
zuſammen gemahlt iſt. Auf breite Strecken müſſen wir über das 
berüchtigte Sikuſſaqeis, das für ſchwer beladene Schlitten ſo be⸗ 
ſchwerlich iſt. Richtig ging hier einer in Stücke. Wir binden ihn 
mit Lederriemen zuſammen und beſchließen, uns nach dem Land 
durchzuſchlagen; es gelingt, und zu unſerer Freude treffen wir hier 
leicht zu befahrendes und gutes Neueis an. 

26. April. Dank der guten Bahn gelangen wir bis zur Südweſt⸗ 
ſeite des Kap Bryan, wo wir bei einem beginnenden Schneeſturm 
vormittags um 10 Uhr das Lager aufſchlagen. Trotz der be⸗ 
deutenden Verzögerung durch die Eispreſſungen haben wir in 
14 Stunden 66 Kilometer zurückgelegt. Die ganze Nacht hin⸗ 
durch hatten wir Ausſicht über die ſteilen Küſtenberge von 
Grinnell-Land, die ſich mit ihren gletſcherumhüllten Zinnen wie eine 
Geiſtererſcheinung über dem langweiligen Preßeis des Kennedy⸗ 
kanals erhoben. 

Der Schneeſturm verſchaffte uns den erſten langen, ungeſtörten 
Schlaf ſeit der Abreiſe von Etah. Allerdings drohten die hef⸗ 
tigen Windſtöße, die von den 300 Meter hohen Bergen herab⸗ 
kamen, oft das Zelt über unſern Köpfen zu zerreißen. Aber das 
dünne Tuch widerſtand den Angriffen des Sturms trefflich, und 
wir hatten es in unſern Schlafſäcken warm und behaglich und 
genoſſen doppelt die Süße der Ruhe, die ein Lohn der ehrlichen 
Anſtrengung ift. 

27. April. Etwas nach Mitternacht erwachten wir und rafften 
uns ſo weit auf, um uns eine erfriſchende Taſſe Kakao zu bereiten. 
Aber da der Sturm noch immer über die Zelte wegpeitſchte und 
an Stärke zuzunehmen ſchien, ließen wir dem Schlaf wieder ſeinen 


Vom Waſhingtonland nach Hall⸗Land. 99 


Willen und ſchliefen gut und feſt bis zum Morgen. Dann brachen 
wir zur Weiterfahrt auf. Durch die Erfahrung des geſtrigen 
Tages gewitzigt, hielten wir uns immer ſo nahe dem Land wie 
möglich und fuhren zuweilen, wo es ſich machen ließ, auf dem 
Eisfuß. Die Bahn war auf unſerm Weg erträglich, dagegen 
befand ſich im Kanal draußen noch mehr aufgepreßtes Eis als 
am vorhergehenden Tag. 

Ungefähr in der Höhe von Kap Bryan hatten wir das Preß⸗ 
eis hinter uns, und hier auf dem beinahe ſchneefreien Eis, das 
offenbar erſt ſpät im Herbſt feſtgeworden war, hatten wir 
wieder gute Fahrt. In der Höhe der Hannahinſel fanden 
wir die Reſte eines Seehunds, der halb von einem Bären 
gefreſſen war. 

Der Beſſelsfjord wurde bei friſcher Briſe durchquert; der 
kleine, eigentümliche Einſchnitt, der von allen Seiten von ſteilen 
Bergen umgeben iſt, die nur hier und da von herabhängenden 
Gletſcherzungen unterbrochen werden, machte auf uns einen 
düſteren, öden Eindruck. Bei Kap Morton machten wir halt, 
und da der Sturm noch immer zuzunehmen ſchien, gaben wir 
einer augenblicklichen Schlappheit nach und ſchlugen das Lager 
auf, obwohl wir eigentlich beabſichtigt hatten, an dieſem Tag 
noch den Petermannfjord zu überſchreiten. 

Es ſollte ſich indes am 28. April ſpäter am Tag heraus⸗ 
ſtellen, daß unſere Faulheit nur ein Beweis dafür war, daß wir 
die Augen im Rücken hatten; dies ging ſo zu. 

Sobald die Hunde gefüttert und die Zelte ſorgfältig verſteift 
waren, damit ſie dem Sturm widerſtehen konnten, beſchloß Koch 
mit Inukitſog einen kleinen Ausflug in das Innere der Bucht 
in unſerer Nachbarſchaft zu unternehmen. Auf beiden Seiten von 
hohen Bergen umgeben, lag der Grund der Bucht einladend vor 
unſern Augen mit hohen, terraſſenförmigen Strandlinien, die ſich 
wie ein Amphitheater bis zu einem breiten toten Gletſcher er⸗ 
ſtreckten. i 

Hier fanden Koch und Inukitſoq ein Stück oberhalb der 
Strandlinie ein altes Depot von der Nares⸗Expedition aus den 
Jahren 1875 — 1876. Es beſtand aus ſechs Kiſten, von denen 
jede vier 9⸗Pfund⸗Doſen auſtraliſches Hammelfleiſch enthielt; 


es war friſch und wohlſchmeckend, als ſtamme es von geſtern. 
Fe 


100 Drittes Kapitel. 


Neben den Kiſten lag eine zerbrochene Tonne mit der Auf- 
ſchrift: 
55 Arctic Service 

H. M. S. “Discovery” 


Sugar. 


Leider war ein naſchhafter Bär uns zuvorgekommen, und das 
war um ſo betrüblicher, als gerade Zucker eine von uns allen 
ſtark begehrte Ware war. Nun müſſen wir uns mit dem unge⸗ 
wöhnlich guterhaltenen Boiled Beef begnügen. 

Längere Zeit konnten wir es uns wohl ſein laſſen an Lebens⸗ 
mitteln, die arktiſchen Kollegen zugedacht waren, die hier reiſten, 
ehe einer von uns geboren war. Unſern Dank den braven 
Engländern, die ſie hier deponierten; unſer Kompliment der Firma, 
die dieſe haltbare Ware herſtellte. 

Außer dem Hammelfleiſch fanden wir eine große Bllechkiſte 
mit 20 Kilogramm Talg, ſo daß auch die Hunde ihren Anteil 
an der unerwarteten Feſtmahlzeit erhielten. 


* * 
* 


Noch einen Tag, den 29. April, hielt uns der heftige Sturm 
feſt. Obgleich der Schnee feſt und das Eis an vielen Stellen 
blank ſchien, wurde der Schnee doch zeitweiſe ſo ſtark empor⸗ 
gewirbelt, daß die hohen Berge auf der entgegengeſetzten Seite 
des Petermannfjords im Schneegeſtöber vollkommen verſchwanden. 
Endlich gegen Abend legte ſich der Wind ſo weit, daß wir auf⸗ 
brechen und den Fjord überſchreiten konnten. | 
Dieſer Fjord wirkt in feiner Umgebung ſeltſam und fremd- 
artig. Überall fallen die Berge an der Küſte ſteil nach dem Eis 
zu ab, und mit ihren dunklen, bräunlichen Farben heben ſie ſich 
düſter und ernſt von dem ebenen, weißen Inlandeis ab, das 
überall wie eine weiße Nebelbank hinter dem Küſtenland empor⸗ 
taucht. An vielen Stellen innerhalb des Fjords ſchieben ſich Gletſcher⸗ 


zungen zwiſchen den Bergen herab, aber nirgends ſcheinen 


ſich Eisberge zu bilden. Überhaupt kann man ſagen, daß das 


Eis hier oben auf den nördlichſten Breitengraden ſich von dem 


Eis weiter im Süden dadurch unterſcheidet, daß man nirgends 
wirkliche Eisberge findet. Auch die Stücke, die hier und da vom 
Humboldtgletſcher kalben, gleichen mehr großen Polareisſtücken. 


r 


Vom Waſhingtonland nach Hall⸗Land. 101 


Sie können an einzelnen Stellen eine gewiſſe Ausdehnung erlangen, 
aber nie ſahen wir ſie in einer Größe, die den Namen Berg ver⸗ 
diente, ſo wie wir ſie von den Gletſchern beim Inglefieldgolf, 
Wolſtenholmeſund und der Melvillebucht kennen. 


Schon nach einigen Stunden Fahrt zeigte es ſich, daß wir recht 
getan hatten zu warten, während der Sturm herrſchte. Denn 
ſelbſt jetzt, als das Schneegeſtöber ganz aufgehört hatte, wehte 
es doch jo ſtark aus dem Innern des Fjords, daß wir oft Mühe 
hatten, uns auf den Füßen zu halten, wenn föhnartige Wind⸗ 
ſtöße über uns hinwirbelten. Der Himmel war unheimlich pracht⸗ 
voll: er war mit großen ballonförmigen Wolken bedeckt, die in 
einem orkanartigen Sturm dahinjagten. Das Eis ſchien unbe⸗ 
weglich feſt gelegen zu haben, da es ganz aus unebenem Sikuſſag 
beſtand. Alle Augenblicke wehte uns der Wind auf große Teiche 
hinaus, die ſich aus dem Schmelzwaſſer des Sommers gebildet 
hatten — große Seen bis zu einem Kilometer Länge mit ſpiegel⸗ 
blankem friſchem Eis, wo weder wir noch die Hunde feſten Fuß 
faſſen konnten. Widerſtandslos wurden wir hinausgetrieben und 
glitten willenlos bis zum entgegengeſetzten Ufer, die Schlitten 
voran, die jämmerlich heulenden Hunde hinterher. Hier hieß 
es, alle Sinne beiſammen haben, damit die Schlittenkufen nicht 
zerſplitterten. Aber wir mußten trotz alledem weiter, denn es wäre 
hoffnungslos geweſen, den Verſuch zu machen, hier draußen ein 
Lager aufzuſchlagen. Nirgends bot ſich ein Schutz für das Zelt. 
Ein vollſtändiger Mangel an Schnee auf dem Eis ließ erkennen, 
daß Sturm hier zur Tagesordnung gehörte. Nach faſt zwölf⸗ 
ſtündigem Kampf mit Wind und Glatteis e wir endlich 
nach der Offleyinſel. 

30. April. Im Schutz der kleinen aber Buben Inſel wurden 

die Zelte errichtet, dann machten wir uns auf die Suche nach 
Moſchusochſen. Das Land beſtand aus dunklem Kalkſtein, war 
völlig unfruchtbar und wirkte düſter. Der Sturm fegte mit ſolcher 
Gewalt darüber hin, daß es oft ganz unmöglich war, gegen den 
Wind anzugehen. Trotz aller Mühe und Ausdauer verlief die 
Jagd erfolglos. Es zeigte ſich keine Spur von Wild, und das 
Land war ſo gut wie von jeder Vegetation entblößt. 


102 Drittes Kapitel. 


In der Nacht kämpften wir uns unter denſelben ſchwierigen 
Reiſeverhältniſſen weiter nach Norden, vom Wind über das blanke 
Eis vorwärtsgetrieben. Erſt eine Meile vor Halls Thank God 
Harbour erreichten wir eine ruhige Zone mit genügendem Schnee, 
und die Hunde, froh wieder feſtſtehen zu können, ſchlugen zu 
unſerer Freude einen ſcharfen Trab an, Jo daß wir ſchon am 
frühen Vormittag bei Halls Grab ankamen, wo wir uns lagerten. 

Auf dieſer letzten Wegſtrecke ſahen wir eine ganze Anzahl 
Atemlöcher von Seehunden; aber obgleich möglicherweiſe eine Jagd 
von Erfolg geweſen wäre, hatten wir doch vorläufig dank der 
vielen Doſen mit dem wohlſchmeckenden Hammelfleiſch, die die 
Nares⸗Expedition jo rückſichtsvoll bei Kap Lucie Marie depo⸗ 
niert hatte, mehr Intereſſe daran vorwärtszukommen, als uns 
friſches Fleiſch zu verſchaffen. 

Das Meereis zwiſchen der Offleyinſel und Halls Grab war 
friſches Herbſteis, in einem breiten Gürtel der Küſte vorgelagert. 
Es ſcheint, als ob ſich hier oben überall offenes Waſſer längs 
der Küſte bildet, vermutlich im Laufe des Auguſt, doch braucht 
man nicht weit in das Hallbecken hinauszukommen, um auf 
Schollen des viele Jahre alten Polareiſes zu ſtoßen, das ebenſo 
wenig einladend für Schlitten wie für Schiffe iſt. Man geht 
kaum fehl, wenn man die Behauptung aufſtellt, daß das Eis im 
nördlichen Teil des Smithſunds, im Kanebecken, Kennedykanal, 
Hallbecken und Robeſonkanal in der kurzen Übergangszeit vom 
Auguſt bis September aufbricht, wenn plötzlich eintretende Herbſt⸗ 
ſtürme mit dem kurzen arktiſchen Sommer kämpfen. Dies wird 
nicht nur durch das Eis beſtätigt, das wir überall beobachten 
konnten, ſondern auch durch die Erfahrungen aller früheren Expe⸗ 
ditionen. Von einem eigentlichen offenen Polarmeer kann da⸗ 
gegen ſelbſtverſtändlich niemals die Rede ſein; denn ſelbſt der Teil 
des Polarmeeres, der unter dem Namen Lincolnſee Grantland 
und die Nordküſte von Grönland beſpült, ſieht im Sommer und 
Winter ungefähr gleich aus. Es bilden ſich wohl an einzelnen 
Stellen Becken mit offenem Waſſer, aber ſie ſind nie von großer 
Ausdehnung und verdanken ihre Entſtehung immer dieſer oder 
jener lokalen Einwirkung. Auf dieſelbe Weiſe können ſich ſchma⸗ 
lere oder breitere Rinnen im Polarpackeis bilden, auch dieſe ſind 
nur örtlich und vorübergehend. 


Vom Waſhingtonland nach Hall-Land. 103 


Jeden Sommer geſchieht es, daß das Packeis, das aus dem 
großen Polarmeer draußen in die relativ ſehr ſchmalen, nach der 
Baffinbucht hinabführenden Kanäle gedrängt wird, allen Wider⸗ 
ſtand überwindet und ſich nach Südſüdweſten Luft zu verſchaffen 
ſucht. Sobald teils infolge des offenen Waſſers an der Küſte, 
teils infolge der Strömung die offenen Eismaſſen in Bewegung 
kommen, beginnt die Drift des Eiſes von Norden her nach der 
Baffinbucht hinab, die periodenweiſe verhältnismäßig offenes 
Waſſer ſchafft. Aber es iſt doch immer ſo, daß man in allen 
Richtungen Maſſen von großen treibenden Schollen ſieht. 

So verhält es ſich mit dem offenen Polarmeer, das bisher 
Nordpolexpeditionen in Verſuchung geführt hat. Natürlich kann 
hier von einer Schiffahrt keine Rede ſein, ſondern nur von einer 
Drift im Eis in der Richtung, in der der Strom geht. 

Dieſe Theorien haben die erſten Pioniere des Nordpols ver⸗ 
lockt, am Land entlang ſoweit wie möglich nach Norden vorzu⸗ 
dringen, und haben ſie zu ſo hoch im Norden gelegenen Über- 
winterungsorten geführt, daß es ihnen ſchon verhältnismäßig 
früh gelang, ein Bild der Natur und des Tierlebens zu geben und 
die Küſten kartographiſch aufzunehmen. 


Bei Halls Grab. 

1. Mai. An einem ſchönen, ſonnenhellen Frühlingstag 
kamen wir bei Halls Grab an und ſchlugen das Lager auf dem 
Eisfuß auf. ' 

Wir waren febr geſpannt, wie die Stelle ausſehen würde, 
von der man ſoviel geleſen hatte und wo eine Polarexpedition 
ſich im Jahre 1871 auf 1872 durch die Zeit der Dunkelheit 
hindurchgekämpft hatte. 

Sobald wir daher die Hunde in gutem Abſtand von den 
Schlitten feſtgebunden hatten, eilten wir einen ſteilen Lehmabhang 
hinauf, der auf eine Hochfläche führte. 

Die Landſchaft hatte ſchöne Linien. Eine ebene Niederung 
von mehreren Kilometern Länge lag wie ein Teppich vor den 
hohen Bergen, aus denen die innern Teile des Polaris⸗ 
vorgebirges beſtehen. Die Ebene führte öſtlich um die Halbinſel 
herum bis zur Newmanbai hinab und ſchien leicht paſſierbar zu 
fein, da fie mit Schnee bedeckt war. 


104 Drittes Kapitel. 


Aber wie öde und unfruchtbar war das Land, das man von 
hier überſchaute! Nirgends gewahrte man die geringſte Andeutung 
von Vegetation. Alles war Grus und Steinſchutt, einförmig und 
kahl. Wir hatten auf Jagdgelegenheit gehofft, bevor wir uns 
von unſerm letzten Schlitten trennten, aber dieſe Hoffnung ſchien 
jetzt ganz eitel. 

Eine kurze Strecke von dem Lehmabhang entfernt fanden wir 
Halls Grab, das ſchon von weitem leicht kenntlich war an der 
Kupferplatte, die vor dem Grab zwiſchen zwei Holzpfählen von 
der Nares⸗Expedition errichtet war, der großen Polarexpedition, 
die dieſelben Gegenden vier Jahre nach Halls Tod paſſierte. 
Die Inſchrift der Platte lautet: 


Sacred to the memory of Geweiht der Erinnerung an 
Captain C. F. Hall Kapitän C. F. Hall 
of the U. S. ship Polaris“ des amerikaniſchen Schiffs 


who sacrified his life in „Polaris“, der ſein Leben opferte 
the advancement of science für die Förderung der Wiſſen⸗ 
on Novbr. 8 th 1871. ſchaften am 8. Nov. 1871. 
This tablet has been erected Dieſe Tafel wurde errichtet 
by the British Polar Expe- durch die engliſche Polarexpe⸗ 


dition of 1875 dition des Jahrs 1875, 

who following in his footsteps die Halls Spuren folgend 
have profited by his Nutzen zog 

experience. aus ſeinen Erfahrungen. 


Ein Bär hatte vor kurzem das Grab beſucht und probiert, das 
Monument zu zerſtören. Das Holz war teilweiſe zerbrochen, aber 
die dicken Pfähle, an denen die Platte befeſtigt war, hatten doch 
dem Angriff widerſtanden; man ſah deutlich die Spuren der 
Zähne. 

Wenige Schritte davon fanden wir zwei weitere Gräber. Bei 
dem einen war die Inſchrift auf einer Holzplatte angebracht und 
war jetzt nicht mehr leſerlich, auf der andern war ſie auf einen 
flachen Kalkſtein geritzt, der indeſſen von einem Bären zerbrochen 
iſt; man lieſt nur das Wort „Discovery“ und das genügt, um 
uns wiſſen zu laſſen, daß es einer von Beaumonts Leuten ge⸗ 
weſen iſt, der hier den großen Schlaf ſchläft. 


Vom Waſhingtonland nach Hall⸗Land. 105 


Die Stimmung über dieſem kleinen arktiſchen Kirchhof mahnt 
auch uns zum Ernſt; die Männer, deren irdiſche Überreſte hier 
ruhen, verloren ihr Leben ja gerade bei dem Verſuch, nach 
Gegenden vorzudringen, die jetzt unſer Ziel ſind. 

Etwas abſeits von den Gräbern liegen die Reſte eines kleinen 
Holzhauſes, das vermutlich als wiſſenſchaftliche Station an Land 
gedient hat. Etwas Holz und ein paar zoologiſche Schaber liegen 
herum, dazu ein großer verroſteter Kachelofen, der hier an dieſer 
Küſte wie ein bizarres Stück Strandgut wirkt. Daneben liegt 
eine Anzahl großer unzweckmäßiger Kochgeſchirre, Töpfe und 
Keſſel, ganz aus Eiſen, die mit ihren 5 bis 10 Kilogramm Ge⸗ 
wicht für das Stück kaum eine angenehme Laſt für einen Hunde⸗ 
ſchlitten ausgemacht haben dürften. 

Unſere Eskimos, deren Spürſinn immer doppelt lebendig iſt, 
wo es die Unterſuchung alter, verlaſſener Wohnplätze gilt, finden 
unter einem Steinhaufen zwei große Büchſen Kaffee, der ſich als 
vorzüglich erweiſt. Ein Reſt Portwein in einer Flaſche hatte 
ebenfalls ſein Aroma bewahrt, trotzdem er faſt fünfzig Jahre den 
Froſtnächten ſo nahe dem Nordpol ausgeſetzt war. Selbſtver⸗ 
ſtändlich wurde er mit Andacht getrunken, wenn auch auf jeden 
einzelnen nicht mehr kam, als um die Zungenſpitze damit zu be⸗ 
feuchten. Etwas Blei kam ebenfalls an den Tag und ein wenig 
grobes Schrot, das zur Haſenjagd für unſere Hilfsſchlitten wohl⸗ 
geeignet war und mit Begeiſterung eingeſteckt wurde. 

Inzwiſchen mußten wir an die Jagd denken, und ſobald wir die 
nächſte Umgebung unterſucht hatten, wurden zwei Jagdpartien aus⸗ 
geſandt, davon eine mit Schlitten und Hunden die Ebene hinab in 
der Richtung nach der Newmanbai; wir hegten eine leichte Hoff⸗ 
nung auf Moſchusochſen, zumal Halls Expedition in dieſer 
Gegend nicht weniger als 26 Tiere erlegt hatte. Ein Fund, der 
bei den Hausreſten auf dem Abhang oben gemacht wurde, ani⸗ 
mierte uns noch weiter; wir fanden hier nämlich eine Vertiefung 
im Boden, die als Schlafplatz ausgegraben war; in ihr lagen 
drei Moſchusochſenfelle, die nicht ſehr alt ſein konnten. Sipſu 
meinte, ſie könnten vom Jahre 1900 ſtammen, als Peary ſich 
mehrfach bei Fort Conger aufhielt. Die andere Jagdpartie wurde 
nach einer großen, breiten Talſchlucht, die ſich in die Polaris⸗ 
halbinſel hineinzog, geſchickt, um nach Hafen zu ſuchen. — Während 


106 Drittes Kapitel. 


die Jäger draußen ſind, wollen wir unſere Spannung beruhigen 
durch eine kurze hiſtoriſche Überjiht über die Expedition, deren 
noch ſichtbare Erinnerungen wir eben geſchildert haben. 


Die Expedition des Kapitäns Charles Hall 1871 —1872. 

North, North, farther and farther North I long to get! 
(Nach Norden, immer weiter und weiter nach Norden ſehne ich 
mich zu kommen.) Dieſer eine Satz enthält Halls ganze Sehnſucht. 
Er war ein großer Enthuſiaſt, der in ſeiner Heimat eine hervor⸗ 
ragende Gabe beſaß, die Leute zu packen und für ſeine Pläne zu be⸗ 
geiſtern. Die beſte Charakteriſtik ſeiner Perſönlichkeit liegt in dem 
oben angeführten Ausſpruch, der aus einem ſeiner Tagebücher 
ſtammt und wo er hinzufügt: 

„Und nie werde ich mich mit meinen arktiſchen Reiſen zu⸗ 
frieden geben, ehe ich nicht den Punkt erreicht habe, wo es weder 
Norden noch Oſten noch Weſten gibt.“ 

Die Expedition, die vom amerikaniſchen Kongreß ausgerüſtet 
war, hatte folgende offizielle Ziele: Entdeckungen, wiſſenſchaft⸗ 
liche Erforſchungen und Handelsziele auf dem Gebiet des Wal⸗ 
fangs. Aber Halls eigene Pläne und ſein ganzer Ehrgeiz gingen 
nur darauf aus, zu verſuchen, durch eine Fahrt über das offene 
Polarmeer den Nordpol zu erreichen. Er brannte vor Begier, 
einen arktiſchen Rekord aufzuſtellen; darin unterſchied er ſich 
nicht von ſeinen Landsleuten, die vor ihm und nach ihm dieſelben 
Gegenden bereiſt haben. 

Hall begab ſich ſportsmäßig gut ausgerüſtet auf dieſe Reiſe. 
Er hatte früher acht Jahre unter den amerikaniſchen Eskimos 
verbracht und ſich eine Reiſetechnik erworben, die ihm bei der 
Schlittenreiſe, die ſich unter allen Umſtänden an die Schiffahrt 
anſchließen würde, von großem Nutzen ſein konnte. 

Leider hatte er nicht die Gabe, ſeine Leute zu wählen; denn 
die Beſatzung war aus verſchiedenen Nationen zuſammengeſetzt, aus 
Deutſchen, Engländern, Amerikanern und Eskimos; alles ſtand oder 
fiel daher mit der Fähigkeit des Führers, auf Diſziplin zu halten. 

Der uneingeſchränkte Chef der Expedition war C. F. Hall 
ſelbſt; aber auch der Führer des Expeditionsſchiffes Sidney Bu⸗ 
dington, der ein Menſchenalter hindurch Walfängerkapitän ge⸗ 
weſen war, beſaß kraft ſeiner großen Erfahrungen eine gewichtige 


Vom Waſhingtonland nach Hall⸗Land. 107 


Stimme an Bord, wenn Anordnungen zu treffen waren. Er 
ſcheint im Gegenſatz zu dem ſanguiniſchen und oft leichtſinnigen 
Hall ein vorſichtiger Mann geweſen zu ſein. Chef der wiſſenſchaft⸗ 
lichen Abteilung war der deutſche Arzt Dr. Emil Beſſels, der 
mit germaniſcher Gründlichkeit eine ausgezeichnete wiſſenſchaftliche 
Arbeit leiſtete trotz der ſchwierigen Arbeitsbedingungen, die ihm 
beſchieden waren, als nach Halls Tod alle Diſziplin an Bord 
zuſammenzubrechen ſchien. Die beiden Eskimos Hans Hendrik und 
Joe, die mit ihren Frauen und Kindern an der Fahrt teilnahmen, 
ſollten ſpäter bei der abenteuerlichen Heimreiſe der Expedition, 
die ſicherlich in der arktiſchen Geſchichte ohne Seitenſtück daſteht, 
von größter Bedeutung werden. 

Mit großer Kühnheit ſchlug man mit der „Polaris“ alle 
früheren Rekorde und gelangte bis 82° nördlicher Breite. Hier 
wurde man ſich darüber klar, daß das offene Meer durchaus 
nicht ſo buchſtäblich zu nehmen war, wie man bisher gemeint 


hatte. Wohl konnte man durch das Kanebecken und den Kennedy⸗ 


kanal und nördlich darüber hinaus gelangen, aber an dem Punkt, 
wo das Land aufhörte und das eigentliche Polarmeer begann, 
ſtieß man auf eine Eisbarre, die kein Schiff durchdringen konnte. 

Am 3. September, ſpät genug für arktiſche Verhältniſſe, mußte 
man umkehren, um einen Überwinterungshafen zu ſuchen; man 
fand ihn auf 81° 38° nördlicher Breite in einer Bucht, der man 
den Namen Thank God Harbour gab. 

Nur notgedrungen hatte Hall auf 82° nördlicher Breite den 
Kurs wieder nach Süden gerichtet, aber Kapitän Budington und 
alle erfahrenen Seeleute an Bord hatten abſolut darauf beſtanden, 


daß es jetzt Zeit ſei, einen Überwinterungshafen zu ſuchen, und dem 


hatte ſich Hall beugen müſſen. 
Ein Schiffsrat wurde gehalten, und Halls Vorſchlag, noch 


weiter in das Packeis einzudringen, wurde einſtimmig verworfen. 


Aber man muß es Hall laſſen, daß er ein Mann des Ent⸗ 
ſchluſſes war. Schon im erſten Herbſt war es ihm geglückt, alle 
früheren Schiffsrekorde zu ſchlagen. Jetzt brannte er vor Begierde, 
Rekognoſzierungen anzuſtellen, und dann ſollte im nächſten Früh⸗ 
jahr, zunächſt ſolange das Eis fahrbar war, mit Hundeſchlitten 
und ſpäter mit dem Schiff von neuem die Probe gemacht werden, 
ob ſich das große Eismeer, das man unter den Schneeſchauern 


108 Drittes Kapitel. 


des Herbſtes vor ſich hatte liegen ſehen, wirklich für die Schiff⸗ 
fahrt öffnen würde. Sobald daher alles für die Überwinterung 
eingerichtet war und der Schnee die ſteinigen Hochflächen des 
umliegenden Landes bedeckte, brach der ungeduldige Hall wieder 
mit zwei Schlitten und 14 Hunden nach Norden auf, nur von 
einem Seemann und den beiden Eskimos Hans und Joe be 
gleitet. ee 

Am 10. Oktober verließ man troß. des ſchwindenden Tagge 
lichts das Schiff; Hall konnte nicht warten. Man folgte dem 
Tiefland, das in öſtlicher Richtung hinten um das Polaris⸗ 
vorgebirge herumgeht. Nach einer mehrtägigen mühſamen Schlitten⸗ 
reiſe, auf der man durch tiefen Schnee nur ganz kurze Strecken 
zurücklegte, kam man endlich in eine große Bucht hinab und ſchlug 
von dort aus wieder den Kurs nach Norden ein. 

Hall, der ein religiöſer Mann geweſen zu ſein ſcheint, benannte 
dieſe Bucht nach einem Pfarrer Newman, der der Expedition 
ein kleines Buch mitgegeben hatte, das drei hauptſächlich 175 Nord⸗ 
polfahrer berechnete Predigten enthielt. 

Man erreichte die Mündung der Newmanbai, wo man bei 
dem hohen Kap Brevoort an der Oſtſeite der Bucht auf offenes 
Waſſer ſtieß. Von dem Gipfel des Berges hatte man Ausſicht 
auf das Land auf der weſtlichen Seite des Robeſonkanals, ein 
großes Land, das ſich, ſoweit das Auge reichte, ausdehnte. Auch 
auf der Oſtſeite des Kanals ſchien ſich Land weithin zu er⸗ 
ſtrecken, aber nahegelegene hohe Berge und Kaps verſperrten die 
Ausſicht. 


Obgleich Hall auf dieſer Exkurſion nicht ſehr weit kam, bekam 


er doch einen guten Überblick über die gewaltige Aufgabe, die 
ſeiner wartete. Nach Norden wollte er wieder ziehen, nach Nor⸗ 
den, immer nach Norden, ſobald nur die Sonne zurückkam und 
lange Reiſen möglich machte. 

Aber es ſollte ihm nicht beſchieden ſein, das Ziel ſeiner Träume 
zu erreichen. Unmittelbar nach ſeiner Ankunft auf dem Schiff, am 
24. Oktober, wurde er von einem Schlaganfall betroffen und 


ſtarb wenige Tage darnach. Hall mit ſeiner großen Begeiſterung 


war die treibende Kraft an Bord geweſen. Mit ſeinem Tod ver⸗ 
lor die Expedition ihren führenden Geiſt, und jeder Gedanke an 
weitere Verſuche, nach dem Nordpol vorzudringen, wurde ſofort 


—— REG 


a = 


Vom Waſhingtonland nach Hall⸗Land. 109 


aufgegeben. Es muß hervorgehoben werden, daß trotz der ſchwie⸗ 
rigen Arbeitsverhältniſſe, die jetzt an Bord herrſchten, Dr. Beſſels 
es fertigbrachte, eine wiſſenſchaftliche Arbeit auszuführen, vor der 
man ſich voll größter Achtung beugen muß. 

Am 12. Auguſt 1872 kam die „Polaris“ wieder vom Eis frei 
und ſteuerte ſofort nach Süden; aber man ſtieß auf ſo große 
Eishinderniſſe, daß man Anfang Oktober noch nicht zu den eis- 
freien Gegenden in der Umgebung von Kap Alexander gelangt 
war. Am 12. Oktober wurde das Schiff von einem heftigen 
Sturm überfallen, und der Glaube, daß man jetzt vor dem Unter⸗ 
gang ſtand, ließ eine Panik an Bord ausbrechen. Kapitän Bu⸗ 
dington ſchien alle Befehlsgewalt verloren zu haben, und Offiziere 
wie Mannſchaften warfen blindlings Lebensmittel auf das Eis 
hinab, im Glauben, daß es ſich nur darum handle, ſich vom Schiff 
auf das Eis zu retten. 

In der Verwirrung, die dabei entſtand, teilte ſich die Expe⸗ 
dition in zwei Teile. Kapitän Budington blieb mit einem Teil 
der Beſatzung auf dem Schiff zurück, während zehn Amerikaner 
und neun Eskimos in dem Glauben, das Schiff ſei dem Unter⸗ 
gang geweiht, ſich auf der Eisſcholle einrichteten. 

Die „Polaris“ widerſtand dem Unwetter und trieb am 19. Ok⸗ 
tober zwiſchen der Littletoninſel und der Cairnſpitze in dünnes Eis 
hinein; hier blieb ſie den Winter durch feſtſitzen. Die Schiffs⸗ 
beſatzung kam bald in Verbindung mit Eskimos, die ihr bei dem 
Transport von Lebensmitteln und Material, die vom Schiff aufs 
Land gebracht werden mußten, unſchätzbare Hilfe leiſteten. In 
kurzer Zeit war eine Hütte für die Überwinterung fertiggeſtellt. 

Am 30. Mai trieb die „Polaris“ ins Meer hinaus, 
und man hatte jetzt keinen Ausweg, als zu verſuchen, ſich in Booten 
nach Uperniwik durchzuſchlagen. Am 3. Juni 1873 brach man auf 
und bereits am 23. war man ſo glücklich, auf der Höhe von 
Kap Vork in Verbindung mit dem ſchottiſchen Walfänger „Ra⸗ 
venscraig“ zu kommen, auf dem die Leute mit großer Gaſtfreund⸗ 
lichkeit aufgenommen und ſpäter nach Dundee gebracht wurden. 

Nicht ſo gut erging es der Abteilung auf der Eisſcholle. 
Steuermann Tyſon ſcheint ein guter Organiſator geweſen zu ſein, 
jedenfalls hat er das Verdienſt, daß ſich in dem höchſt abenteuer 
lichen Lager nicht eine vollkommene Anarchie entwickelte. Es 


110 Drittes Kapitel. 


waren, wie oben gejagt, neun Eskimos, aber es waren Frauen 
und Kinder dabei, und nur zwei Jäger, Hans und Joe. Während 
der ganzen Drift waren es dieſe beiden, die alle friſche Nahrung 
herbeiſchafften und die ganze Mannſchaft retteten. Jetzt, da die 
weißen Männer ſich nicht länger zu helfen wußten, ging man voll⸗ 
ſtändig zu der Reiſemethode der Eskimos über. Da die Eisſcholle 
von großer Ausdehnung war, baute man Wohnhütten aus Schnee, 
und den ganzen Herbſt ſorgte man für genügende Ergänzung des 
Proviants, den man vom Schiff mitgenommen hatte. Aber als 
die dunkle Zeit kam, begann der Mangel. Man hatte nicht nur 
Stürme durchzumachen, die die ſchwimmende Inſel ganz aufzulöſen 
drohten, ſondern die Dunkelheit ſelber hinderte die Jagd in dem 
Grade, daß man ſich, um das Leben zu ſichern, auf ſehr kleine 
Rationen beſchränken mußte. Anfang Januar 1874 war man bis 
72° nördlicher Breite nach Süden gekommen; hier geriet man 
in eine Kälteperiode, in der die Temperatur oft auf 40 Grad unter 
Null ging. Man ſchlug ſich durch, ſo gut es gehen mochte, 
aber alle waren jetzt von all den Leiden, die man jede Stunde 
des Tages durchzumachen hatte, ſtark mitgenommen. Am 2. Fe⸗ 
bruar ſchoß Joe einen großen bärtigen Seehund; in ihrer Freude, 
endlich wieder reichlich Proviant und Speck zu haben, waren einige 
ſo gierig, daß dieſe erſte Mahlzeit ihnen beinahe das Leben ge⸗ 
koſtet hätte. Am Ende des Monats wurde man von einem hef⸗ 
tigen Sturm überfallen, der an der Eisſcholle ſo ſtark wirkte, daß 
ſie auf eine Größe von ungefähr 170 Quadratmeter verkleinert 
wurde; ſie ſtellte nunmehr eine Zufluchtsſtätte dar, die nicht die 
geringſte Sicherheit bot. Man kann ſich denken, mit welchem 
Entſetzen die armen Menſchen daſtanden und zuſahen, wenn die 
See über ihre Eisſcholle hinflutete und jedesmal ein Stück von 
ihrer lebenden Inſel mit ſich fortnahm. 

Am 27. März wurde ein Bär geſchoſſen, und es herrſchte 
wieder Wohlbefinden. Man war jetzt ungefähr auf der Höhe von 
Kap Farewell. Aber jetzt war die Eisſcholle ſo abgebröckelt, daß 
man ſie verlaſſen und in die Boote gehen mußte. Nun lebte man 
noch abenteuerlicher als vorher; man mußte ſich durch ſchaukelnde 
Eisſchollen hindurchkämpfen, beſtändig in Gefahr, daß die Boote 
zerſchmettert würden, und häufig mußte man bei dem vielen 
Manövrieren im Eis den koſtbaren Proviant in Stich laſſen. 


Vom Waſhingtonland nach Hall⸗Land. 111 


Aber gerade, als man auf dem Punkt ſtand, den Kampf aufzu⸗ 
geben, wandte ſich das Glück, indem am 22. April ein Bär 
erlegt wurde. 

Am 28. kam ein Dampfer in Sicht, aber trotz aller Anſtren⸗ 
gungen verſchwand er wieder am Horizont, ohne daß ſie bemerkt 
worden wären. Dieſes Ereignis lähmte die Schiffbrüchigen faſt 
vollkommen; auch am nächſten Tag, als wieder ein Dampfer vor⸗ 
beifuhr, hatte man keinen beſſeren Erfolg. Endlich, am 30. April, 
klärte es ſich nach einem Schneegeſtöber auf, und nun hatte man 
die Freude, ein Schiff ganz in der Nähe zu ſehen. Beinahe wahn⸗ 
ſinnig vor Freude über die bevorſtehende Rettung und aus Angſt, 
man könnte auch diesmal nicht beachtet werden, feuerte man 
Schüſſe ab und verſuchte eine improviſierte Flagge zu heißen. Die 
beiden Grönländer machten ſich in ihren Kajaks auf, um an 
Bord des Schiffes zu gelangen; diesmal hatten ſie Erfolg. Der 
Dampfer, ein Seehundfänger aus Neufundland, nahm die ſchwer⸗ 
geprüften Leute an Bord. Bis dahin waren dieſe Männer, Frauen 
und Kinder in den rauheſten Monaten des Jahres eine Beute 
von Wetter und See geweſen und waren bis zum 53. Breiten⸗ 
grad in die Höhe von Labrador gekommen. Gut ſechs Monate 
waren ſie im Eis getrieben und hatten eine Strecke von 25 Brei⸗ 
tengraden, alſo mehr als 2700 Kilometer, zurückgelegt. 

Man begreift das Aufſehen, das es erregte, als ſie endlich 
am 13. Mai 1874 in St. Johns landeten; kein Wunder, denn 
noch in unſern Tagen gilt dieſes Polarabenteuer für eins der merk⸗ 
würdigſten, das jemals mit glücklichem Ausgang beſtanden wor⸗ 
den iſt. 


Abſchied von unſern letzten Begleitſchlitten. 

Der Aufenthalt bei Halls Grab erhielt eine eigene ſommerliche 
Stimmung infolge des ſtillen, milden Wetters und des warmen 
Sonnenſcheins, der uns nach den drei Tagen Sturm im Peter⸗ 
mannfjord wie ein freundlicher Gruß anmutete. 

Die Sonne ſchien volle 24 Stunden hindurch, am angenehm⸗ 
ſten in der kühlen Nacht mit dem ſchwächeren Licht. Ohne daß 
die Kälte uns ſtörte, konnten wir uns der Tätigkeit widmen, die 
eine Folge des Umſtandes war, daß wir zum letztenmal mit 
Sipſu und Inukitſog zuſammen waren. Sie ſollten uns nämlich 


112 Drittes Kapitel. 


hier verlaſſen, um, auf die Jagd angewieſen, den Weg nach Hauſe 
über Grantland einzuſchlagen; mit ihnen konnten wir zum letzten⸗ 
mal einen Gruß nach Hauſe ſchicken mit dem Beſcheid, wie es 
uns bisher ergangen war. 

Ich habe ſchon erzählt, daß Sipſu in dieſen Geben kein 
Neuling war. Er war ein erfahrener Reiſender, der Peary oft 
auf ſeinen Nordpolreiſen begleitet hatte, und er war wohlbekannt 
mit Grantland, ein ausgezeichneter Fänger, ein ſicherer entſchloſſe⸗ 
ner Jäger, ein ruhiger Mann, auch wenn einmal etwas der Quere 
ging, und ohne Schwanken in einer gefährlichen Lage. Dabei 
war er hilfreich, immer guter Laune, nur angeregt von dem 
Riſiko, das immer mit einer langen Fahrt verbunden iſt, auf der 
der glückliche Ausfall der Jagd der dünne Faden iſt, an dem das 
Leben hängt. 

Sein Begleiter Inukitſog war eigentlich nur mitgekommen, 
weil er Ajakos Bruder war. Er war ein gutmütiger Burſche, der 
ſich auf keinem Gebiete beſonders auszeichnete, aber in Sipſus 
Geſellſchaft immerhin mit Vorteil dazu gebraucht werden konnte, 
die Laſten zu fahren, die auf einem eee zu transpor⸗ 
tieren waren. 

Dieſe beiden Männer ſollten jetzt die og ed Samm⸗ 
lungen, die auf der Strecke von Kap Conſtitution bis zum 
Polarisvorgebirge geſammelt waren, nach Süden bringen. Da 
wir keinen Proviant entbehren konnten, ſollten ſie den Weg über 
Fort Conger, Greelys berühmten Überwinterungsort, nehmen, in 
deſſen Umgebung jederzeit Moſchusochſen zu finden waren. 

Auch wir ſelbſt hatten mit der Möglichkeit gerechnet, das Hall⸗ 
becken zu queren, um uns auf Grantland zu verproviantieren, 
ehe wir den Kurs nordwärts nach den unbekannten, unſichern 
Jagdgebieten nahmen. Aber da wir vorläufig genug Hundefutter 
hatten, gaben wir den Gedanken auf. Wir konnten kaum erwarten, 
dasſelbe gute Eis anzutreffen, das wir an der Küſte des Hall⸗ 
beckens gehabt hatten, wo das große Land, das ſich zwiſchen dem 
Robeſonkanal und dem Sherard-Osborne-Fjord ausdehnt, den 
gewaltigen Druck des Polarmeers abhält. Dort findet ſich nicht 
ein einziger Preßrücken auf dem Eisfuß, der an gewiſſen Stellen 
ſehr breit und leicht zu befahren war, an andern Stellen jedoch 
zu ſchmal war für das Durchkommen mit Schlitten. 


Ein kleines Eskimomädchen. 


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Auftauchendes Walroß. 


Vom Waſhingtonland nach Hall⸗Land. 113 


Gegen Abend kamen die verſchiedenen Jagdpartien zurück. 
Inukitſog und Hendrik, die ungefähr bis zur Newmanbai ge⸗ 
kommen waren, hatten nichts Lebendiges geſehen, nicht einmal 
alte Spuren. Ajako und der Bootsmann, die ſich auf der Halb⸗ 
inſel landeinwärts gewendet hatten, hatten dagegen einige Haſen 
erlegt. 

Zum letztenmal kampieren wir jetzt mit drei Zelten und 
halten ein beſcheidenes Feſtmahl von den friſch geſchoſſenen Haſen. 
Das ſchöne Wetter dauert an, und wir halten uns kaum in den 
Zelten auf; es iſt viel ſchöner draußen im Freien. 

Zwei Steinmale auf den Bergen in der Nähe unſeres Lagers 
werden beſucht, aber keine Berichte gefunden; neben dem einen liegt 
ein großer flacher Stein mit der Inſchrift „A. A. Odell 1872 
N. W. C.“, einem der Maſchinenmeiſter der „Polaris“. 

Die Gegend iſt ſchön, auch wenn die Geſchichte ihre ernſte 
Sprache zu uns ſpricht; es iſt ja ein Friedhof, wo wir lagern, 
und die Männer, deren Geſchick ſich hier vollendete, waren junge 
und mutige Männer, die hier Strapazen begegneten, denen ihr 
Körper nicht gewachſen war. 

Uns gegenüber überwinterte die „Discovery“ 1875 —1876, und 
ein Stück weiter nördlich im ſelben Jahr die „Alert“. Beide 
Schiffe mußten tapfere und unerſchrockene Männer ihrer Beſatzung 
der Erforſchung dieſes Landes zum Opfer bringen. Und nicht 
weit von uns lag die Lady⸗Franklin⸗Bai, wo die Greely⸗Expedition 
überwinterte — eine Expedition, die den Anlaß zu der größten 
Tragödie gegeben hat, die ſich jemals auf e Boben abge- 
ſpielt hat. 

Es iſt teuer erkauftes Land, auf dem wir ſtehen; ſeine Er⸗ 
forſchung hat manchem jungen, willenskräftigen Menſchen das 
Leben gekoſtet. Aber für jeden, der ſtürzte, meldeten ſich andere, 
und ſo rückt unſer Wiſſen von den nördlichſten Gegenden unſeres 
Erdballs beſtändig weiter vor nach Norden. 

Nach Norden, immer weiter nach Norden! 

In weichen, ebenen Linien breitet ſich das Land vor unſerm 
Zeltplatz nach Kap Tyſon hin aus. In ſanften Wellenzügen liegt 
vor unſern Blicken das Land, das nur eine Wüſte von Stein, 
Grus und Sand iſt. 


Bei Kap Tyſon ändert das Bild ſeinen 1 tråd wilde 


RNasmuſſen. 


114 Drittes Kapitel. 


Berge begleiten den Petermannfjord bis zu feinem Ende, wo das 


Inlandeis beginnt, und umrahmen dunkel und drohend das blanke, 
blaue Eis des Fjords. Vor dieſem Hintergrund jagt der Wind 
große treibende Wolken zum Fjord hinaus. Dort ſcheint die 
Luft niemals in Ruhe zu ſein, und während wir weit vor der 
Mündung im goldenen Frühling liegen, tauchen über den Klippen 
im Innern des Fjords ſtarke Unwetterfarben auf und verſchwin⸗ 
den wieder. | 

Wieviel f uchtbarer wirkt dagegen Grantland, das nicht 
weniger hiſtoriſche Land, von dem uns nur der ſchmale Robeſon⸗ 
kanal trennt. Auch hier ſind die Berge von großartigen und 
phantaſtiſchen Formen; aber das ebene Land dehnt ſich nach allen 
Richtungen in weite Fernen aus. Landeinwärts ſieht man durch 
breite Schluchten einen Schimmer der großen Täler, in denen Hun⸗ 
derte von Moſchusochſen an den breiten Flußläufen weiden und 
in denen Tauſende von Haſen ſich wie Lawinen über die Ebenen 
dahinwälzen, neugierige weiße, wollige Herden, die ſo unermeß⸗ 
lich an Zahl ſein können, daß die Erde ſelbſt zu leben ſcheint. 

Dieſe ganze große weiße Landſchaft hat ihren Mittelpunkt 
in der hohen Ballotinſel, die an der Mündung der Lady⸗Franklin⸗ 
Bai ſtolz emporragt wie eine himmelſtürmende Denkſäule des 
Kampfes um den Nordpol. Ein Denkmal hier an der Schwelle, 
wo der Schlachtruf immer war: 

Nach Norden, immer weiter nach Norden! 


Viertes Kapitel. 
Von Kap Sumner bis Dragon Point. 


ir brachen am 2. Mai um 10 Uhr auf und fanden die 

5 ſchlechte Bahn, die wir erwartet hatten. Infolge ihrer 
ganzen Lage muß die Polarishalbinſel wie ein Keil mitten in der 
ſtarken Drift von Eisſchollen wirken, die unter dem Druck der 
ganzen Lincolnſee ſich an dem großen Kap vorbei Bahn brechen 
und in den ſchmalen Robeſonkanal hineingemahlt werden. Um 
12 Uhr nachts hatten wir Kap Sumner faſt erreicht und lagerten 
völlig erſchöpft. Auch die Hunde ermatteten in dem Preßeis merklich, 
und in dem Augenblick, da das Haltſignal ertönte, blieben ſie 
halb übereinander die ganze Nacht liegen, ohne ſich von der Stelle 
zu rühren, wo ſie umgeſunken waren. 

Die Beſchaffenheit des Eiſes ließ erkennen, daß bis weit in 
den Herbſt hinein längs des Landes offenes Waſſer geweſen war. 
Von Halls Grab bis Kap Lupton fuhren wir daher auf ausge⸗ 
zeichnetem Eis, aber hier wechſelte es den Charakter, und da es 
uns nicht möglich war, dem Gezeitengürtel zu folgen, kamen wir 
oft in Preßeisrücken hinein, die ſich in einer Höhe von 10 bis 15 
Meter vor uns auftürmten. Es war undenkbar, über dieſe großen 
Eisblöcke hinwegzufahren, die wie von einer Rieſenhand hingeworfen 
durcheinanderlagen. Stundenlang mußten wir haltmachen, um 
mit den Eisäxten einen Weg für die Schlitten zu bahnen. 

Die Preßeisrücken waren an einigen Stellen hoch ans Land 
hinaufgepreßt und lagen in ſchönen Farben ſpielend wie ein pracht⸗ 
volles Diadem um den Eisfuß, wenn die Strahlen der Sonne 
ſich an den vielen glänzenden Kriſtallen brachen. ; 

Während das Land ſüdöſtlich von Halls Grab niedrig iſt, 
mit einigen abgerundeten Hügeln, erhebt ſich an der Nordküſte 
eine ſteile Klippenmauer mit ſchönen ſchwarzen und braunen 

8 * 


f 
116 Viertes Kapitel. 


Zeichnungen an den gewaltigen Flanken. Ein Schneeſchauer iſt eben 
über die nadelſpitzen Zinnen hingezogen, und ſie bilden nun einen 
weißen, ſtrahlenden Kontraſt zu den tiefer gelegenen dunklen 
Wänden. 

Ein Sturm weht aus Südoſt, und die Windſtöße kommen mit 
einer ſolchen Kraft von den Bergen herab, daß es unmöglich iſt, 
ihrem Anprall zu widerſtehen. Mit großer Mühe gelingt es uns, 
die Zelte zu errichten, und ſobald wir uns durch ein wenig Nahrung 
geſtärkt haben, gehen der kleine Hendrik und ich auf dem Eisfuß 


Nag. brevoen i =? EN x 


FEN ZEN 


55 
Von Kap Sumner bis Dragon Point. 


nach der Newmanbai, um zu rekognoſzieren. Wir klettern auf 
den Eisfuß hinauf und kriechen langſam gegen den brauſenden 
Sturm an. Was wir zu ſehen bekommen, iſt nicht ſehr ermutigend; 
morgen müſſen wir uns wieder mit den Axten Bahn brechen, um 


in die Bucht zu gelangen, wo das Eis eben zu ſein ſcheint. Wir 


erſteigen die Felſen, um einen Überblick über die Stellen zu ge⸗ 
winnen, wo wir uns am leichteſten einen Weg bahnen können, 
und kehren dann zu den Kameraden zurück. Vorübergehend über⸗ 


wältigen uns Müdigkeit und Schmerzen in den windgepeitſchten 


Geſichtern, und wir ſuchen Schutz hinter einem Eisrücken. 


Von Kap Sumner bis Dragon Point. 117 


Während wir vergebens verſuchen, eine Weile zu ſchlafen, 
wenden ſich unſere Gedanken immer wieder zurück zu Markhams 
Reiſe über dasſelbe Polareis, deſſen Eisſpritzer am Land wir jetzt 
durchdringen wollen. 


Markhams Reiſe über das Polarmeer. 


Ich habe an andern Stellen davon geſprochen, welch geringen 
Eindruck uns die Naturerſcheinungen machten, die unſere Vor⸗ 
gänger ſo oft in ſprachloſe Bewunderung verſetzten. Aber hier, 
wo ich das erſtemal in meinem Leben über das mächtige Meer 
des Pols hinblickte, mußte ich ſchweigen, weil mir die Worte 
fehlten, die Stimmung auszudrücken, die das lebende und doch eis⸗ 
gebundene Meer in meinem Gemüt auslöſte. Dieſer unendlich ferne 
Horizont, an dem man nach allen Seiten nur die endloſe weiße 
Eisdecke ſieht, die ohne das Gleichmaß der Ebene unruheerfüllt 
daliegt, iſt wie ein Naturepos, vor dem man verſtummt. 

Und während der Wind um uns ſauſt und die ſteilen Berge 
von Kap Sumner drohend über unſern Köpfen ſtehen, zwingt mich 
die Umgebung, alles wieder zu durchleben, was die zähen Eng⸗ 
länder von der Nares⸗Expedition hier gelitten haben. Vor mir 
habe ich die Nordoſtküſte von Grantland und in einem blauen 
Streifen am Horizont die ſchwachen Umriſſe von Floeberg Beach, 
dem Überwinterungshafen der „Alert“. 

Nares' Expedition 1875—1876 wurde auf Koſten des eng⸗ 
liſchen Staates und der Königin Victoria unternommen und war 
mit allem ausgerüſtet, was man zu jener Zeit für eine Polar⸗ 
expedition als notwendig erachtete; in keinem Punkt hatte man 
Rückſicht auf die Koſten genommen. 

Die Expedition, die am 29. Mai von Portsmouth abreiſte, 
kam mit drei imponierenden Schiffen nach Disko; von hier wurde 
das Schiff „Valorous“ zurückgeſchickt, ſo daß Nares nun über 
zwei große und ſtarke Schiffe, „Alert“ und „Discovery“, verfügte. 
Es war geplant, daß das eine von den Schiffen den 82. Breiten⸗ 
grad überſchreiten und ſich dort einen Winterhafen ſuchen ſollte; 
das andere dagegen ſollte ſoweit wie möglich nach Norden vor⸗ 
dringen. 

Das Ziel der Expedition war der Nordpol, und ſobald man 
an Kap Vork vorbei war, arbeitete man ſich ganz ſyſtematiſch 


118 Viertes Kapitel. 


nordwärts, indem man an allen dafür geeigneten Stellen Depots 
anlegte, die im Falle eines Schiffbruchs benutzt werden ſollten. 
Zugleich errichtete man Steinmale, worin man Nachrichten für 
etwaige Suchexpeditionen niederlegte. Es war eins dieſer Depots, 
das wir bei Kap Morton gefunden hatten. 

Plangemäß nahm die „Discovery“ in der Lady⸗Franklin⸗ 
Bai Winterquartier, während die „Alert“ ſich weiter Bahn brach 
und am 25. Auguſt die Nordſpitze von Grantland erreichte, wo 
man bei Floeberg Beach überwinterte. 

Sogleich bei Froſtbeginn unternahm man verſchiedene Exkur⸗ 
ſionen, kam aber leider bald zu der Erkenntnis, daß die von dem 
weißen Mann erdachte Reiſetechnik in dieſen Breitengraden kaum 
anwendbar ſei. Man hatte in Disko den Grönländer Frederik an⸗ 
geworben und außerdem den jetzt berühmten Hans Hendrik, der als 
Schlittenführer an den Expeditionen von Kanes, Hayes und Hall 
teilgenommen und daher große Erfahrung im Fahren mit Hunden 
hatte. Es war eine energiſche Expedition, die alle Möglichkeit aus⸗ 
nutzen wollte. Schon am 26. September machte ſich Leutnant Aldrich 
mit dem Grönländer Frederik, zwei Matroſen, zwei Schlitten und 
vierzehn Hunden auf, um die Gegend bei Kap Joſeph Henry zu 
unterſuchen. Aber ſchon am 5. Oktober kam er zurück mit nur elf 
Hunden; ein Schlitten war zurückgelaſſen worden, und die Hunde 
waren infolge des tiefen Schnees ſchwer erſchöpft. Aus dieſer 
Rekognoſzierung ſcheint man den voreiligen Schluß gezogen zu 
haben, daß Hunde zu Expeditionsreiſen in dieſen Gegenden un⸗ 
geeignet ſeien. Die Folge war jedenfalls, daß man ſie nicht weiter 
zu Langfahrten benutzte, ſondern es vorzog, die Schlitten von 
Männern ziehen zu laſſen, ein konſervatives Verfahren, das die 
Expedition von Nares teuer zu ſtehen kam. Hätten ſie ſich, ſtatt 
ſich auf ihre eigenen neugebildeten Erfahrungen zu verlaſſen, das 
einzig daſtehende Wiſſen zunutze gemacht, das Hans Hendrik 
ſich durch ſeinen mehrjährigen Aufenthalt unter den Eskimos er⸗ 
worben hatte, ſo wären nicht bloß Menſchenleben geſchont worden, 
ſondern die Expedition hätte auch ganz andere Ergebniſſe gehabt. 

Der Winter wurde vorzüglich überſtanden, und es ſcheint im 
Gegenſatz zu vielen andern Expeditionen hier das beſte Ver⸗ 


hältnis zwiſchen Mannſchaft und Offizieren beſtanden zu haben. 


Man richtete ein Theater ein und ſpielte Unterhaltungsſtücke und 


N 


Von Kap Summer bis Dragon Point. 119 


Schauſpiele, man veranſtaltete einen Unterrichtskurſus für die 
Mannſchaft, und die ganze Dunkelzeit verging mit Unterhaltung 
und nützlicher Beſchäftigung. 8 

Schon Anfang April 1876 begab man ſich auf die großen 
Schlittenreiſen, die im Oſten, auf dem Meer im Norden und im 
Weſten die Aufgaben der Expedition löſen ſollten. Wir wollen 
hier nur Markhams Reiſe ſchildern. 

Es war ſeine Aufgabe, ſoweit wie möglich nach Norden, am 
liebſten bis zum Nordpol vorzudringen. Er brach mit einer Be⸗ 
gleitung von 19 Mann mit Schlitten auf, auf die Proviant und 
Gepäck ſo verteilt waren, daß jeder Mann 110 Kilo zu ziehen 
hatte. Außer den Schlitten wurden zwei Boote mitgeführt, viel 
zu ſchwere und unhandliche Fahrzeuge für eine ſolche Zugſchlitten⸗ 
reiſe. Schon bald nachdem man das Land verlaſſen hatte, wurde 
der erſte Schlitten zurückgelaſſen. Täglich kämpften dieſe Männer 
einen furchtbaren Kampf gegen die natürlichen Hinderniſſe auf 
ihrem Wege und gegen die Kälte, und es dauerte nicht lange, 
ſo fingen ſie an, unter Erfrierungen zu leiden. Aber dieſe über⸗ 
wanden ſie doch einigermaßen; erſt als Krankheit hinzutrat, der 
gefürchtete Skorbut, war die Expedition nahe daran, vollſtändig 
zuſammenzubrechen. Schon am 19. April wurde feſtgeſtellt, daß 
drei von der Mannſchaft von dieſer gefürchteten, ſchrecklichen 
Krankheit befallen waren. Am 24. wurde der 83. Breitengrad 
überſchritten; nicht weniger als fünf Mann waren krank und 
arbeitsunfähig. Am 7. Mai iſt die Lage die, daß drei Mann mit 
dem Gepäck gezogen werden müſſen, während zwei von den Kran⸗ 
ken ſich noch ſelbſt forthelfen können, doch ſo, daß ſie kaum gehen 
können. Am 10. Mai iſt Markham ſich darüber klar, daß es 
hoffnungslos iſt, weiter vorzudringen, und während die Kranken 
zwei Ruhetage erhalten, unternimmt er mit den kräftigſten eine 
Exkurſion, die ihn bis auf 83° 26“ nördlicher Breite führt, den 
nördlichſten Punkt, der je erreicht worden war, ein Rekord, der 
viele Jahre unangefochten bleiben ſollte. 

Die unzweckmäßige Ausrüſtung gehörte der Zeit an, und wir, 
die wir ein halbes Jahrhundert ſpäter kommen, mit all der Er⸗ 
fahrung, die man ſeitdem geſammelt hat, können nur die größte 
Bewunderung hegen für das, was dieſe Menſchen unter den 
größten Leiden ausführten, als ſie ſich durch das unwegſamſte 


— 


120 | Viertes Kapitel. 


Gelände der Welt vorwärts kämpften, an einer Krankheit leidend, 
durch die die Kälte noch unerträglicher wurde. 

Beim Antritt der Rückreiſe mußten fünf Mann gefahren 
werden, während fünf andere nur darum imſtande waren zu 
folgen, weil man die Wegſtrecke, um alles fortſchaffen zu können, 
dreimal zurücklegte. In der Nähe des Landes werden noch drei 
Mann krank, und da nur noch zwei Offiziere und zwei Mann 
übrig ſind, beſchließt man endlich, das andere Boot zurückzulaſſen, 
mit dem man ſich beſtändig abgeſchleppt hatte, in der Erwartung, 
auf offenes Waſſer zu ſtoßen. 

Am 5. Juni wird das Land erreicht, und nach einer Ruhe von 
zwei Tagen hat Leutnant Parr ſo viel Kraft, um die Strecke bis 
zum Schiff zu Fuß zurückzulegen und Entſatz für ſeine Kameraden 
zu holen. Eine Hilfsexpedition wurde augenblicklich ausgeſchickt 
und alle Mann nach dem Schiff gebracht. Aber mehrere waren 
bereits ſo angegriffen, daß ſie trotz aller Pflege ſtarben, nachdem 
ſie den Hafen erreicht hatten. Es waren auserleſene Männer ge⸗ 
weſen, die das Schiff verlaſſen hatten, aus einer großen Mann⸗ 
ſchaft ausgewählt. Aber was vermögen ſelbſt Jugend und Kraft, 
wenn der ganze Körper vom Skorbut untergraben wird! 

Dies iſt in knappen Worten die erſte Reiſe über das Polar⸗ 
eis, das wir jetzt vor uns haben. Die Saga, die hier mit Eis⸗ 
äxten geſchrieben wurde, hat die düſteren Töne, die die Umgebung 
ihr verleihen mußte. Ein großer und ſchöner Rekord war erreicht, 
und Markham hatte für ewige Zeiten ſeinen Namen in die Liſte 
der hervorragendſten Polarforſcher eingeſchrieben; aber hart war 
die Reiſe, und teuer erkauft wurden die Erfolge; denn das große 
kalte Polarmeer fordert ſeine Opfer von jedem, der verſucht, ſeine 
Geheimniſſe zu entſchleiern. 


* * 
sk 


Hendrik und ich erhoben uns, jteif vor Kälte; aber jetzt trieb 
der Wind uns heim, und bald kehrte die Wärme in den Körper 
zurück. Oft werden wir an glatten Stellen gegen die Preßeis⸗ 
rücken geſchleudert, die uns ohne Wohlwollen empfangen, und mit 
wirklicher Freude kommen wir zerſchlagen um 4 Uhr morgens bei 
unſern ſchlafenden Kameraden an. 

Es iſt eine kalte und ungaſtliche Küſte. 


Bon Kap Sumner bis Dragon Point. 121 


3. Mai. Unſere Zelte hatten wir zwiſchen zwei großen Preß⸗ 
rücken dicht am Eisfuß errichtet, um Schutz vor dem Sturm zu 
haben. 

Die Landſchaft wäre düſter geweſen, wenn nicht der warme 
Sonnenſchein darüber gelegen hätte; er gab Leben und Farbe. 
Selbſt die ſteilen Felſen hinter uns mit ihren jähen Abſtürzen 
erhielten durch die Sonne Wärme und Abwechſelung. 

Wir hatten gehofft, bei ruhigem Wetter zu erwachen, weil 
die Windſtöße es ſo beſchwerlich machen, auf dem blanken Eis 
zwiſchen den großen Preßrücken zu manövrieren. Bei Sturm wird 
man unbarmherzig umgeriſſen, und die Hunde, die ihre Klauen im 
Kampf der letzten Tage auf dem Glatteis abgenutzt haben, werden 
in Bündel zuſammengewirbelt und auf die Schlitten geſchleudert, 


wo ſie liegenbleiben, bis eine Pauſe zwiſchen den ſchweren Wind⸗ 


ſtößen Zeit gewährt, wieder ein Stück vorwärtszukommen. 

Dasſelbe Wetter heute wie geſtern; um raſch aus dem 
ſchwierigen Gelände herauszukommen, nehmen wir unſere Kräfte 
zuſammen und erreichen wirklich im Laufe des Tages das große 
ſtark gefaltete Kap Sumner; jetzt können wir uns beim Über⸗ 
ſchreiten der Newmanbai bei beſſerer Bahn erholen. 

Ich ſehe kein Neueis in der Bucht. Alles iſt jahrealtes Polar⸗ 
eis, uneben und hügelig, ſchneefrei und glatt, aber doch einiger⸗ 
maßen leicht zu paſſieren, ohne daß wir zu den Axten greifen 
müſſen. Am ſpäten Nachmittag ſchlagen wir das Lager bei 
Kap Brevoort auf, einem hohen Kalkſteinberg, der wie ein Gegen⸗ 
ſtück zu Kap Sumner ausſieht. Dieſe ſo monumentalen Küſten⸗ 
berge bilden würdige Denkmäler für die beiden Senatoren, die 
Hall mit dieſer Benennung hat ehren wollen. Von ihren Gipfeln 
hat man nicht nur eine Ausſicht über das Polarmeer und die 
nördliche Küſte von Grönland, ſondern man ſieht auch weit in 
das Land hinter der Newmanbai hinein, das gleichmäßig anſteigt 
und nach dem Inlandeis zu in einer großen Hochebene endet. 

Der Erfolg, den Halls Leute auf ihren verſchiedenen Jagd⸗ 
expeditionen hier in der Nachbarſchaft gehabt haben, führt uns in 
Verſuchung, von neuem das Glück zu verſuchen. Die Moſchus⸗ 
ochſen haben ſeit jenen Tagen im Jahre 1871 viele Jahre un⸗ 
unterbrochener Schonzeit gehabt, und zwei Mann werden daher 
ausgeſandt, einen Verſuch zu machen. Ajako und der Bootsmann 


122 Viertes Kapitel. 


ſchweifen ungefähr zehn Stunden in dem ſteinigen Land umher und 
kommen ſpät abends müde und mit ſchmerzenden Füßen zum 
Zelt zurück, ohne ein Zeichen von Wild gefunden zu haben. 

4. Mai. Ein Tag folgt dem andern in dieſer Zeit mit großer 
Einförmigkeit. Alle unſere Verſuche, für uns ſelbſt und für die 
Hunde Wild zu beſchaffen, mißglücken, aber noch haben wir 
ſo viel, daß wir bei vollen Rationen die Reiſe fortſetzen können. 


* sk 
%* 


Es iſt ein monotoner und anſtrengender Kampf, ſich durch das 
Polarpackeis durchzuſchlagen. Stunde für Stunde vergeht in der⸗ 
ſelben Weiſe; bald iſt es die Axt, die die Eisblöcke zertrümmern 
muß, bald ſind es die umgeſtürzten Schlitten, die aufzurichten 
ſind, und endlich die Hunde, die mit eiſerner Diſziplin zwiſchen 
all den ſcharfen und glatten Eisblöcken vorwärts getrieben werden 
müſſen, wo ſie nur ſchwer jo viel Halt finden können, daß es 
gelingt, die Schlitten ohne Aufenthalt durch die ſchwierigen 
Stellen hindurchzupreſſen. 5 

Bei all den großen Kaps läuft das gleiche aufgepreßte Polar⸗ 
eis wie eine ſperrende Mauer auf den Eisfuß hinauf, deren Über- 
windung für uns hoffnungslos iſt; wir müſſen uns daher im Ge⸗ 
zeitengürtel auf Glatteis vorwärtsarbeiten oder müſſen, wenn das 
nicht geht, die ganz vereinzelten Stellen ausſuchen, wo eine ſpäte 
Rinne vom Januar oder Februar einen Arm mit jungem Eis nach 
dem Land zu ausgeſtreckt hat. Doch vermeiden wir ſoweit wie 
möglich, zu weit aufs Meer hinauszukommen, weil dieſe neuen 
Eisrinnen oft blind enden und uns in ein Gewirr von Eis⸗ 
preſſungen führen. 

Im Verlauf des Vormittags paſſieren wir 630 Valley 
(Schlundtal), wo Beaumont und ſeine Leute ihre ſchweren Zug⸗ 
ſchlitten aufs Land zogen, da ihnen auf ihrem Weg bei Kap 
Brevoort offenes Waſſer den Weg verſperrte. Das Tal bildet hier, 
wie der Name andeutet, einen breiten Schlund zwiſchen zwei ſteilen 
Bergen, ein ſteiniges und zerklüftetes Tal, das landeinwärts nach 
dem großen Tiefland bei der Newmanbai führt. Wir, die wir 
unſere Hunde zur Hilfe haben, können nicht anders, als uns in 
tiefer Achtung vor jenen kranken und entkräfteten Männern beugen, 
die ihre ſchweren eiſenbeſchlagenen Schlitten über das unwegſame 


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er 


Von Kap Sumner bis Dragon Point. 123 


Gelände mit den vielen großen Steinen, die vom Schnee entblößt 
daliegen, ſelber ziehen mußten. Mag ſein, daß jene alten Bahn⸗ 
brecher unpraktiſch ausgerüſtet waren, aber welche Zähigkeit und 


welchen Stolz müſſen dieſe ausdauernden und baumſtarken Ma⸗ 


troſen beſeſſen haben, die die Zugtiere der erſten Polarfahrer 
waren! 

Ungefähr beim Repulſehafen gelingt es uns, auf einen Eisfuß 
hinaufzukommen, der ſich befahren ließ. Doch türmen ſich an 
manchen Stellen rieſige Sikuſſaqpreſſungen in Wällen von 10 
bis 30 Meter Höhe empor. Solche Erſcheinungen zeugen von den 
Kämpfen, die alljährlich zwiſchen dem krachenden, vom Strom 
getriebenen Eismeer und den Felswänden, den Vorpoſten des 
Landes, ausgefochten werden. Inukitſog, der auf einer von Pearys 
Nordpolexpeditionen an der Nordküſte von Grantland überwintert 
hat, erinnert ſich, Riſſe und offene Waſſerflächen bis weit in den 
Winter hinein geſehen zu haben. Vor Februar oder März ſcheint 
das Eis hier zwiſchen Grönland und Grantland ſelten feſt und 
zuverläſſig zu ſein. 

Beim Repulſehafen kamen wir an einem Steinmal vorbei, wo 


wir in einer leeren Kognakflaſche folgenden Bericht Pearys fanden: 


8. Juni 1900. 

Komme hier auf meinem Weg nach Fort Conger vorbei. 
Ich verließ Etah am 4. März und Conger am 15. April. 
Erreichte Lockwoods nördlichſten Punkt am 8. Mai, die nörd⸗ 
liche Grenze des grönländiſchen Archipels am 13. Mai; einen 
Punkt auf dem Meereis nördlich davon auf 83° 50“ nördlicher 
Breite am 16. Mai und einen Punkt tiefer an der Oſtküſte in 
etwa 83° am 21. Mai. Über eine Woche folgten uns Nebel, 
Wind und Schnee. Dies machte die Reiſe ſehr ſchwierig und ver⸗ 
zögerte die Rückkehr. Es iſt dies mein ſechzehnter Marſch von meinem 
nördlichſten Punkt und der neunte von Lockwoods nördlichſtem 
Punkt. Paſſierte geſtern die Schwarzhornklippen unter großer 
Schwierigkeit über loſes Eis. An dieſem Punkt iſt jetzt offenes 
Waſſer, und eine Rinne von offenem Waſſer diesſeits von Kap 
Brevoort, die ſich deutlich quer über den Kanal erſtreckt. Bei 
mir ſind mein Diener Matthew Henſon, ein Eskimo, 16 Hunde 
und 2 Schlitten, alle in guter Verfaſſung. 


124 Biertes Kapitel. 


Dieſe Schlittenreiſe iſt ein Teil eines Programms arktiſcher 
Forſchung, die von mir unter den Auſpizien und mit den 
Mitteln des Peary Arctic Club in New York unternommen 


wurde. R. E. Peary, U. S. N. 


Wir waren jetzt von den Eispreſſungen frei und genoſſen die 
ebene Bahn auf dem Eis im Innern des Fjords. Aber leider 
glitten die Schlitten hier ſchwer auf dem Schnee, der voll von 
feinen Sandkörnern und Kies war und unſere Eiſenſchienen ſtark 
hemmte. Nur mit äußerſter Mühe konnten wir die Hunde dazu 
bringen, einen langſamen Trab einzuhalten, der uns indeſſen gut 
vorwärts brachte. Hier auf dieſer Küſtenſtrecke fand Wulff eine 
lebende Steinbrechart mit voll entwickelten Blüten auf zollhohen 
Stengeln. In voller Blüte war ſie plötzlich vom Winter überraſcht 
worden, den ſie über ſich hatte hingehen laſſen, als ob er gar nicht 
exiſtierte, und jetzt, da Frühling und Sonne den Schnee wieder 
ſchmelzen, lebte ſie ruhig weiter. Alle ihre Gewebe waren voll 
Leben, obgleich die Temperatur der Luft 11 Grad unter Null 
betrug und in dieſem Jahr noch kein Tauwetter geweſen war. 

Ungefähr bei den Schwarzhornklippen ſchlugen wir nach zwölf⸗ 
ſtündiger Fahrt unſer Lager auf, da weder die Hunde noch wir 
ſelbſt weiter konnten. Nach einem kleinen Mahl und einer er⸗ 
quickenden Taſſe Tee erſtieg ich mit den Eskimos die Berge, um 
mich zu unterrichten, welche Ausſichten ſich für das Vorwärts⸗ 
kommen am nächſten Tage boten. Das Eis war dasſelbe wie an 
den vorhergehenden Tagen; trotz aller Schwierigkeiten war dies 
eine freudige Überrafhung, denn die Schwarzhornklippen, die ohne 
Andeutung eines Eisfußes ſteil ins Meer abfallen, haben ſehr 
unzuverläſſige Eisverhältniſſe; oft gibt es hier offenes Waſſer. 

Landeinwärts hatten wir eine Ausſicht über ebenes Land mit 
hügeligen Höhen, die faſt ausſchließlich aus Kies, mit Lehm und 
Grus vermiſcht, beſtanden; trotz dieſes Mangels an Vegetation 
wirkte die Ausſicht mit ihren ſanften, ruhigen Linien doch freund⸗ 
lich. Im Hintergrund erhob ſich der mächtige Mount Punch, breit 
und ſolid, mit einer weißen Schneemütze auf ſeinem Scheitel. 

Das Land war ſchneefrei, und vergebens durchforſchten wir mit 
unſern beiden guten Fernrohren alle Ebenen, Täler und Schluchten. 
Nicht ein Haſe, geſchweige denn ein Moſchusochſe war zu ſehen. 


Von Kap Sumner bis Dragon Point. 125 


Von unſerm ſturmumſauſten Ausſichtsberg konnten wir ſehen, 
wie das Land drüben in Grantland ſich wie blaue Nebelbänke 
weit, weit nach Nordweſten in einem Meer von Eis verlor. In 
weiter Ferne erkannte Inukitſog das Kap Sheridan, das der Über- 
winterungshafen von Nares 1875 —1876 war und ſpäter der von 
Peary auf zwei ſeiner Nordpolexpeditionen. 

Wenn man von hier über dieſe große Fläche von zuſammen⸗ 
geſtauchtem, grobem Polareis blickt, mit ihren vereinzelten kleinen 
Tümpeln mit Neueis, ſo muß man die größte Bewunderung für 
den alten engliſchen Seemann hegen, der bereits vor vierzig Jahren 
den Weg für Schiffe ſo nahe zum Nordpol gewieſen. 

* * 

5. Mai. Wie gewöhnlich haben wir unſern Lagerplatz auf 
dem Eis draußen zwiſchen den allerhöchſten Eiswällen gehabt, 
um gegen den wütenden Sturm geſchützt zu fein, der vom Eisfuß 
herabſtreicht und das Zelt mit Schauern von Schnee und Grus 
peitſcht. Nur ungern erhebt man ſich morgens in dieſem ungaſt⸗ 
lichen Land, wenn man den Tag nach einer guten Nachtruhe im 
warmen Schlafſack wieder beginnen ſoll. Jede Tagereiſe fängt 
mit einer kleinen Rekognoſzierung an. Ein oder zwei Mann be- 
geben ſich mit Eishacken bewaffnet ſeewärts, um die erſten Hin⸗ 
derniſſe aus dem Weg zu räumen. Es iſt immer gut, ſo ſchnell 
wie möglich vom Lagerplatz wegzukommen, denn nichts iſt ſo de⸗ 
primierend, als wenn man lange die Stelle ſehen kann, wo man 
zuletzt geſchlafen hat. 

Es zeigte ſich bald, daß wir auf unſerm Weg nach der See 
raſch auf einigermaßen gutes Eis kamen. Allerdings war es altes 
Sikuſſag mit glatten, abſchüſſigen Seiten und heimtückiſchen Ver⸗ 
tiefungen. Aber dieſes alte Eis wechſelt mit leichter Bahn ab, 


und ſo kam es, daß wir zu unſerer großen Überraſchung ſchnell 


über die Stelle wegkamen, wo wir uns auf einen harten Kampf 


| für die Weiterfahrt gefaßt gemacht hatten. In der Nähe von Kap 


Stanton kamen wir wieder auf den Eisfuß hinauf, der an der 
Außenſeite überall einen Wall von 5 bis 20 Meter hohen Eis⸗ 
preſſungen hatte. Die Preſſungen hatten wir damit umgangen, 
aber für die Hunde war es eine ſchwere Arbeit, die Schlitten auf 
dem lehmigen Schnee vorwärtszuziehen. 


126 Viertes Kapitel. 


Auf der geſtrigen Tagereiſe hatten wir die Spuren von zwei 
Polarwölfen geſehen, einem ſehr großen Männchen und einem 
Weibchen, die vor einigen Tagen in derſelben Richtung getrabt 
waren, in der wir uns jetzt vorwärts mühten. Heute haben wir 
wieder dieſelbe Spur, und die Hunde, die die fremden Tiere wittern, 
werden durch die Hoffnung auf eine möglicherweiſe bevorſtehende 
Jagd ein wenig belebt. Auch uns beſchäftigen die Spuren; denn 
wo Wölfe ſind, pflegen in der Regel auch Moſchusochſen zu ſein, 
und wir ſehnen uns alle nach friſchem Fleiſch. An nicht wenigen 
Stellen des Landes ſehen wir Exkremente von Moſchusochſen, 
aber ſie ſind leider ſehr alt und mit Moos bewachſen. 

Vorläufig iſt die einzige Abwechſlung der heutigen Tagereiſe, 
daß wir auf unſerm anſtrengenden und ermüdenden Marſch längs 
der einförmigen, unfruchtbaren Küſte zwei ſchöne Buchten paſſieren. 
Die eine iſt die Handbai mit zwei friedlichen Tälern im Grunde, 
von hohen Bergen umrahmt, die das Idyll noch mehr hervor⸗ 
heben; im Innern der Bucht iſt das Eis eben und macht den Ein⸗ 
druck, als wäre es während der Sommerwärme ganz geſchmolzen 
geweſen. Ebenſo iſt es in der Franklinbai, die mit einer ganz 
ſchmalen Mündung in das Land einſchneidet, um ſich dann ſtark 
zu erweitern. In ihrem Hintergrund erhebt der Mount Punch 
mit dem gemütlich klingenden Namen ſein ſchneebedecktes Käpp⸗ 
chen verwegen bis in die Wolken. 

Der Sturm ſcheint der einzige Gaſt in dieſen rauhen Gegenden 
zu ſein, wo nicht einmal der Schnee ſich wie eine Daunendecke über 
die arme Vegetation legen darf, die eine milde Gabe des Sommers 
für Inſekten, kleine Vögel und umherſtreifende Haſen und 
Lemminge iſt. Doch war hier genug Futter für Moſchusochſen; 
denn überall, wo kleine, ſchluchtenartige Vertiefungen Schutz vor 
dem Schnee bieten oder wo ein Fluß ſich den Weg von einem 
See nach dem Meer herab bahnt, wachſen reichlich Gras und 
Weiden. 

Das Jagdergebnis des Tages beſteht in drei mageren Schnee⸗ 
hühnern. Eins davon war ſo zahm, daß Harrigan ſich ſo nahe 
heranſchleichen konnte, daß er es ohne Mühe mit den Händen 
greifen konnte. Die Schneehühner werden mit unſerm Haferbrei 
zuſammengekocht und verleihen ihm durch die ſcharfe IE 
ſchmeckende Brühe einen neuen, guten Geſchmack. 


Von Kap Sumner bis Dragon Point. 127 


Unſere zwei Zelte ſind unter einem ſteilen Eiswall errichtet, der 
durch den Druck des Meeres zu einer Höhe von 30 Meter über 
den Eisfuß hinaufgepreßt iſt. Dieſer Wall ſieht phantaſtiſch aus 
mit ſeinen vielen kantigen Eisblöcken, die übereinandergeworfen 
ſind und einen wohltuenden Schutz gegen den Wind gewähren. 
Der Platz heißt ſehr paſſend Reſt Point, Raſtſpitze. Die Tagereiſe 
war lang geweſen, 15 Stunden, und wir alle genießen nach der 
letzten Bergwanderung die geſegnete Ruhe, die ſich über unſere 
müden Glieder wie der Regen über einen durſtenden Acker ergießt. 

6.—7. Mai. Es wird 6 Uhr nachmittags, ehe wir zum Ab⸗ 
marſch bereit ſind. Auch heute wieder iſt der Eisfuß ſchwer paſſier⸗ 
bar. Die Schlitten können auf all dem Kies und Sand, der auf 
dem Schnee zuſammengeweht iſt, kaum gleiten, und die Hunde 
haben daher große Mühe, ſie vorwärts zu bringen. Die Küſte 
iſt öde, einförmig und niederſchlagend. Der Eisfuß, dem wir 
folgen, iſt an ſeinem inneren Rand von niedrigen charakterloſen 
Schutthügeln bedeckt, ganz ohne Abwechſlung in der Form, 
die ſonſt anregend wirkt. Alles, was wir um uns ſehen, trägt 
den Stempel des eiſenharten Klimas dieſes Landes. Der ewige 
Sturm hat die ganz geringe Andeutung der Vegetation flach auf 
die Erde gedrückt, nichts hat Zeit gehabt, ſich ein wenig aufzu⸗ 
richten. Alles Leben des Bodens liegt unter dem Joch des Froſtes 
und des Sturms. 

Wir kriechen wie die Schnecken von Landzunge zu Landzunge, 
wo jeder Punkt, den wir vor uns ſehen, dem gleicht, den wir eben 
verlaſſen haben. Die ganze Küſte iſt geſchoren und abgeſtutzt, von 
Preßeisrücken blockiert und in einem Ozean von Eis eingefroren. 

Wir machen zwiſchendurch halt, um den Hunden eine kurze 
Naſt zu gewähren; unterdeſſen wandern wir ſelber über die 
Sandwüſte, ohne daß irgend etwas uns zur Fortſetzung der Reiſe 
ermutigte. Die drückende Einförmigkeit des Todes ſcheint allein 
in dieſer Gegend zu herrſchen. 

Während der Fahrt fällt mein Auge plötzlich auf ein Stück 
Holz, das von Menſchenhand an einer in die Augen fallenden 
Stelle neben einem Steinhaufen angebracht iſt. Obgleich es in 
ſeiner Weiſe Botſchaft bringt von andern Menſchen, die dieſe 
Küſte befahren haben, iſt die Stimmung doch ſo, daß man un⸗ 
willkürlich an Gräber denkt. Ich eile hin, um zu ſehen, ob es 


128 Viertes Kapitel. 


nicht vielleicht eine traurige Erinnerung an Beaumont iſt, entdecke 
aber raſch, daß die Stelle nur der Aufbewahrungsort für ein 
Proviantdepot geweſen iſt, vielleicht die Rettung für die, die es 
hungrig und ermattet auffanden. 

Die Küſte geht ſcharf und gerade nach Nordoſten und ge⸗ 
ſtattet keine Ausſicht nach vorwärts, kleine Vorſprünge verdecken 
beſtändig den Horizont. Aber unter Kap Bryant biegt die Küſte 
plötzlich nach Süden ab und eröffnet mit einemmal einen Aus⸗ 
blick nach Norden. All die Länder, von denen wir monate⸗ 
lang geträumt haben, ſteigen aus dem Eismeer empor und heben 
ſich in phantaſtiſchen Konturen gegen die ſcharfe klare Luft ab. 

Unterdeſſen iſt es 2 Uhr morgens geworden. Die Sonne 
ſteht noch nicht ſo hoch, daß ſie ein nivellierendes und einförmiges 
Licht wirft; ſcharfe Schatten fallen auf die dunkeln Felſenwände, 
und eine feine, zarte Röte zittert noch auf den oberſten Zinnen, 
die mit Eis und Schnee bedeckt find. 

Plötzlich iſt es, als ob die niedrige, traurige Küſte, der 
wir von Reſt Point gefolgt find, hinter uns im Meer verſinke 
und gar nicht mehr exiſtiere. Wir ſehen jetzt weit voraus, und 
mit der weiten Ausſicht ſtellt ſich die Reiſeſpannung ein, die 
immer über tote Punkte hinweghilft. Es iſt, als führen wir plötz⸗ 
lich von neuem Mut beſeelt mit offenem Viſier e Schicksal 
entgegen. REN 

Ganz nahe ſehen wir den St.- George Fidrd, der ſchmal wie 
ein Eisfluß ſich ins Land hineinſchlängelt, von hohen Bergen ein⸗ 
gefaßt, die ſteil gegen das Meereis abfallen und ſich ganz bis 
zum Inlandeis erſtrecken. 

Dragon Point liegt wie ein Keil zwiſchen dieſem ſchmalen 
Fiord und dem breiten, weit imponierenderen Sherard⸗Osborne⸗ 
Fiord, wo die großen Linien mit dem ruhigen Hinterland bei Kap 
May eine ganz andere Stimmung ſchaffen, als ſie der wild 
wirkende St.⸗George⸗Fjord hervorruft. Hier iſt eine Breite und 
eine Tiefe, eine wilde monumentale Größe, die hinreißt, nament⸗ 
lich wenn man ihre Wirkung von dieſem Punkt aus mit der 
übrigen Landſchaft vergleicht. Weit im Meer draußen wie eine 
geballte Fauſt mitten in dem ewigen Eis erkennt man das ſcharfe 
Profil der Beaumontinſel. Selbſt die höchſten Berge ſcheinen 
hier nicht mit Schnee bedeckt zu ſein und bilden daher einen wohl⸗ 


Eskimoſchöne. 


Rasmuſſen. 


Alter Jägersmann. 


Von Kap Sumner bis Dragon Point. 129 


tuenden Kontraſt zu der weißen Unendlichkeit, die ſich vor ihrem 
Fuß ausbreitet. Über dem Tiefland hinter Kap May, wo der 
kegelförmige Mount Hooker den Horizont beherrſcht, tauchen die 
nadelſcharfen Zinnen von Kap Britannia auf der John⸗Murray⸗ 
Inſel in der Mündung des Nordenſkiöldfjords auf. 

Der Himmel iſt blendend rein, die Luft tiefblau und friſch, 
und es iſt, als ob ſelbſt der Wind hier andere Lieder ſinge als 
an den toten Küſten, von denen wir kommen. Nur am äußerſten 
Horizont des Eismeeres ſieht man einzelne Luftſpiegelungen, die 
das ſonnengebadete Packeis zum Himmel emporheben und Ab⸗ 
wechſlung in die Einförmigkeit bringen, die über dem gebundenen 
Meer ruht. Die Unvergeßlichkeit, die Kraft und Gewalt, die 
die Natur hier atmet, wo wir vorläufig haltgemacht haben, um all 
das Neue in Beſitz zu nehmen, verpflanzt ſich unwillkürlich auf 
unſern Willen, und mit der Begeiſterung, die nur Menſchen be⸗ 
kannt iſt, welche die große Heeresſtraße verlaſſen haben, rücken 
wir auf das Land los, das unſer Schickſal in den kommenden 
Zeiten einſchließen wird. 

Der mächtige Eindruck gibt uns neue Kräfte, und froh treiben 
wir die Hunde den Eisfuß hinab, um über das ebene Eis des 
St.⸗George⸗Fjords nach Dragon Point zu fahren. 

Um 5 Uhr morgens betreten wir am äußerſten Vorſprung das 
Land und ſtehen zum erſtenmal ſeit langer Zeit an einem Ort, 
wo die Strahlen der Sonne uns durchwärmen dürfen. Nicht ein 
Lüftchen rührt ſich, und ein kleiner neugieriger Schneeſperling, der 
über unſern Köpfen hinfliegt, heißt uns in unſerm erſten Früh⸗ 
lingslager willkommen. 


Rasmuſſen. 9 


Fünftes Kapitel. 


Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord nach dem 
Nordenſkiöldfjord. 


Beaumont und ſeine Leute. 


V. 42 Jahren im Monat Mai konnte man in derſelben Um- 
gebung, in der wir jetzt weilen, einen merkwürdigen Zug 
kranker Leute ſehen, die ſchwankend und dem Umſinken nahe ſich 
durch den Schnee kämpften, anfangs, um die Karte des Landes 
anzunehmen, ſpäter, um das Leben und die Ergebniſſe der Reiſe auf 
einer ungeheuer mühevollen Wanderung nach Süden zu retten. 
Es waren Beaumont und ſeine Leute von der Nares⸗Expedition. 

Wir haben auf dieſer Expedition viele hiſtoriſche Stätten paſ⸗ 
ſiert, aber hier fühlen wir uns mehr als ſonſt in Berührung mit 
jenen vom Unglück verfolgten Engländern, deren Aufgaben die glei⸗ 
chen waren wie die unſern und deren Spuren wir bis hierher immer 
gefolgt ſind. Gleich bei unſerer Ankunft entdecken wir oben auf dem 
Berg ein Steinmal, das wir beſuchen, und hier finden wir Beau⸗ 
monts Bericht vom 25. Mai 1876 in einer ſchönen, waſſerdichten 
Kupferhülſe deponiert. Außer dem Bericht iſt mit engliſcher Gründ⸗ 
lichkeit eine Originalkarte über die beſuchten und kartographiſch 
aufgenommenen Gegenden niedergelegt. Indem wir dieſen Be⸗ 
richt mitnehmen, damit er ſpäter als polarhiſtoriſches Aktenſtück 
bei der engliſchen Admiralität landen kann, legen wir einen andern 
in dem gleichen Steinmal nieder und ergreifen die Gelegenheit, 
unſere Bewunderung für unjere tapferen Vorgänger auszuſprechen. 
Wie aus Beaumonts Bericht hervorgeht, wurden von der Nares⸗ 
Expedition drei große Schlittenabteilungen ausgeſandt, von denen 
wir Markhams Reiſe ſchon beſprochen haben. Der Vollſtändigkeit 
halber wollen wir daher, ehe wir von Beaumont und ſeinen 


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Vom Sherard⸗Osbornefjord nach dem Nordenſkiöldfjord. 131 


Leuten erzählen, Leutnant Aldrichs Reiſe ſtreifen, die von Floe⸗ 
berg Beach nach Weſten an der Nordküſte von Grantland entlang 
ging. Trotz der großen Schwierigkeiten, mit denen ſie zu kämpfen 
hatten — namentlich war es der Skorbut, der Nares' ganze Expe⸗ 
dition zu vernichten drohte —, gelang es Aldrich doch, bis nach 
der Velvertonbai zu gelangen. Hier fand er es unverantwortlich, 
mit feinen kranken Leuten weiter vorzudringen. Er war bis 85730" 
weſtlicher Länge gekommen und hatte damit faſt die ganze Nord⸗ 
küſte von Grantland aufgenommen. Wäre es ihm geglückt, nur 
noch ein paar Tagereiſen weiter nach Weſten vorzudringen, ſo 
würde er die großen Gebiete erblickt haben, die ſpäter Sverdrup 
entdecken ſollte. Leutnant Aldrich erreichte am 25. Juni das Schiff 
mit ſeinen Leuten, die durch Krankheit und Überanſtrengung ſo 
niedergebrochen waren, daß eine Kataſtrophe hätte eintreten 
können, wenn man nicht das Glück gehabt hätte, ausgeſandte 
Schlitten zu treffen. 

Leutnant Beaumont verließ die „Alert“ am 20. April mit 
einem Trupp von 21 Mann, die vier Schlitten zogen; deren Ge⸗ 
wicht war ſo berechnet, daß jeder Mann 218 Pfund zu ſchleppen 
hatte; eine recht anſehnliche Forderung. 

Im Laufe einer Woche erreichte man den Repulſehafen und 
baute das Steinmal, an dem wir am 4. Mai vorüberkamen und 
wo wir Pearys Bericht fanden. Am gleichen Ort wurde ein 
großes Depot für die Rückreiſe angelegt. Am 27. April zog man 
weiter, nicht länger auf dem Meereis, ſondern auf dem Eisfuß, 
genau wie wir es auch getan hatten. Die Schwarzhornklippen 
werden paſſiert und unmittelbar danach ein neues Depot für die 
Rückreiſe angelegt. Dr. Coppinger verläßt die Expedition, da er 
und ſeine Mannſchaft nach Erreichung der Depots nicht mehr ge⸗ 
braucht werden. Schon am 10. Mai entdeckt man, daß einer der 


Männer Skorbut hat, und Leutnant Nawſon wird mit dem 


Kranken nach dem Schiff zurückgeſchickt. Die andern legen be⸗ 
ſtändig neue Depots an, um ſich den Rückzug zu erleichtern, ſo 
auch eins bei Kap Bryant, das nicht weiter als eine Tagereiſe 
von dem vorhergehenden Depot entfernt iſt. Von hier geht man 
dann über Kap Fulford nach Dragon Point hinüber, wo ſich 
jetzt unſer Lager befindet. 

Da die Krankheit ſich unter den Leuten beſtändig weiter aus⸗ 

9 * 


132 Fi.unftes Kapitel. 


breitet, iſt ſich Beaumont bald darüber klar, daß es ihm nicht 
gelingen wird, weiter nach Norden vorzudringen. Er wünſcht nur 
noch einen hohen Berg an der Oſtküſte des Sherard⸗Osborne⸗ 
Fiords zu beſteigen, um von hier Peilungen nach dem Lande vor⸗ 
zunehmen, das dort liegen muß, das aber vorläufig noch ver⸗ 
borgen iſt. Für dieſen Zweck wählte er einen großen kegelförmigen 
Berg aus, den Mount Hooker, und er ſetzte alle ſeine Energie 
daran, dieſen zu erreichen. Aber überall war der Schnee tief, und 
da die Expedition merkwürdigerweiſe keine Schneeſchuhe und 
Schneereifen mitführte, wurde das tägliche Waten im über knie⸗ 
tiefen Schnee ſo anſtrengend, daß es ihnen ſchließlich die letzten 
Kräfte raubte. Eine Bahn, die auf Schneeſchuhen leicht zu über⸗ 
winden geweſen wäre, wurde entſcheidend für das Schickſal und 
die Reſultate der Expedition. Als die Begleiter nicht mehr weiter 
konnten, ging Beaumont allein vor, um zu ſehen, wie die Verhält⸗ 
niſſe für ein weiteres Vorwärtskommen lägen; hierüber ſchreibt er: 

„Die Küſte, die wir zu erreichen ſuchten, ſchien nicht weiter 
als zwei Kilometer von uns entfernt zu ſein; ich machte mich da⸗ 
her auf, um zu unterſuchen, ob es nicht leichter wäre, am Land ent⸗ 
lang zu reiſen. In drei Stunden kam ich ungefähr anderthalb 
Meilen vorwärts, dann mußte ich es aufgeben.“ 

Hätte Beaumont nur ein Paar Schneeſchuhe gehabt, ſo hätte 
er dieſelbe Strecke in zehn Minuten zurücklegen können. 

Beaumont fährt fort: 

„Meine Kräfte waren faſt ganz erſchöpft, und ich rief die Leute 
an, daß ſie ihre Mittagsmahlzeit einnehmen ſollten. Aber ſelber 
wollte ich lieber drei Mahlzeiten einbüßen, als den ganzen Weg 
zurückgehen.“ . 

Die Expedition hatte ſich jetzt in eine trübſelige Schar von 
Männern verwandelt, die verſuchten, die Schlitten vorwärts⸗ 
zuziehen; bald ſtanden ſie ſtill und arbeiteten nur mit Armen und 
Händen, bald ſchleppten ſie die Schlitten an einem langen Tau, 
bisweilen lagen ſie auf den Knien, um die Schmerzen in ihren 
armen, kranken Beinen zu lindern. 

Am 19. Mai ſchreibt Beaumont: 

„Niemand wird verſtehen können, welche harte Arbeit wir in 
dieſen Tagen hatten. Aber folgendes kann vielleicht einen Eindruck 
geben: Als wir haltmachten, um eine Mahlzeit einzunehmen, 


Bom Sherard⸗Osborne⸗Fjord nach dem Nordenſkiöldfjord. 133 


krochen zwei der Männer lieber 200 Ellen auf allen vieren, als 
daß ſie durch dieſen fürchterlichen Schnee gingen.“ 

Am 22. Mai mußte man die Rückreiſe antreten, ohne Mount 
Hooker erreicht zu haben. Man hinterließ einen Bericht auf einer 
kleinen Inſel, Reef Island, dann einen auf Dragon Point, den 
wir jetzt gefunden haben. Wir beſchloſſen, den Bericht von Dragon 
Point mitzunehmen; der andere, der ſicher zum großen Teil mit 
jenem übereinſtimmen dürfte, ſollte als ein Denkmal engliſcher 
Zähigkeit hier in demſelben Land bleiben, wo die Arbeit aus⸗ 
geführt worden war. In den letzten Tagen des Mai hatte ſich die 
Situation ſo entwickelt, daß alle krank waren, mit Ausnahme von 
Beaumont und Gray. Man mußte daher verſchiedene Dinge, die 
nicht für unumgänglich notwendig anzuſehen waren, zurücklaſſen; 
denn man war jetzt an einem Punkt angelangt, wo die kraftloſen 
Menſchen gefahren werden mußten. Der erſte, der ſtarb, war ein 
Seemann namens Bawl, ein zweiter folgte ihm am 7. Juni. Am 
10. Juni erreichte man das Depot bei Repulſehafen; Proviant 
hatte man genug, aber leider war es ja gerade der Proviant, der 
das ganze Unglück verſchuldete. 

Offenes Waſſer hinderte ſie, zur „Alert“ hinüberzugelangen, 
und man mußte ſich daher entſchließen, bis nach Halls Grab 
hinabzureiſen. Am Tage, nachdem man den Kurs geändert hatte, 
ging es mit einem Seemann namens Dobing zu Ende, und ein 
anderer Mann namens Jones fiel in ſeiner Erſchöpfung ſo un⸗ 
glücklich, daß er nicht die Kraft hatte, weiterzugehen. Wie man 
bei ſo viel Krankheit und Erſchöpfung die Schlitten durch Gap 
Ballen hatte hinaufſchleppen können, iſt uns allen, die wir dieſen 
ſteinigen Paß geſehen haben, ein vollkommenes Rätſel. Der eng⸗ 
liſche Wille, der oft in Halsſtarrigkeit übergehen kann, hat ſich 
hier nicht verleugnet; weil es eben keinen andern Weg gab, waren 
ſie durch die Talſchlucht gegangen. Wir können vor denen, die 
dies ausführten, nur den Hut ziehen. Endlich erreichte man die 
Newmanbai. Hier wollte Beaumont nach Halls Grab gehen, wo 
möglicherweiſe eine Rettungsewebdition ihrer wartete, da es nicht 
möglich war, all die kranken Kameraden auf Schlitten zu ziehen. 
Aber das Glück war ihnen günſtig und rettete die, die noch zu 
retten waren; ſie trafen Leutnant Rawſon, Dr. Coppinger und 
Hans Hendrik mit ſeinem Hundeſchlitten. 


134 Fünftes Kapitel. 


Nach einer langen Rajt bei Halls Grab reiſte Beaumont weiter 
quer über das Hallbecken nach der Lady-Franklin⸗Bai, wo die 
„Discovery“ lag. Nach einer ſehr abenteuerlichen Reiſe auf trei⸗ 
benden Eisſchollen erreichte man endlich am 14. Auguſt das Schiff. 

Alle Schlittenabteilungen waren als vollkommene Wracks 
zurückgekommen, und Kapitän Nares mußte ſich daher entſchließen, 
weitere Unterſuchungen aufzugeben und zu verſuchen, nach Süden 
zu kommen, ſobald die Eisverhältniſſe es geſtatteten. Es gelang 
beiden Schiffen, im Herbſt noch aus dem Eis herauszukommen, 
und in dem erſten Hafen, den ſie anliefen, ſandte Nares ſein be⸗ 
rühmtes Telegramm ab: Der Nordpol iſt unzugänglich. 


Endlich am Arbeitsfeld. 

Jetzt ſoll es alſo im Ernſt beginnen. Unſere Expedition hat 
die erſten tauſend Kilometer zurückgelegt, und wir ſind ſchon in 
die Gegend gekommen, wo wir auf Jagd hoffen können. Wir 
reiſten ab mit Proviant für zwei Monate, die eine Hälfte iſt auf 
dem Wege hierher verbraucht worden, die andere iſt ein Stück 
unterhalb Beaumonts Steinmal deponiert worden. Sie beſteht 
aus Pemmikan, Keks, Kaffee, Hafergrütze, Tee, Zucker, Tabak und 
ziemlich viel vorläufig überflüſſiger Munition. Wir hoffen jedoch 
vor der Abreiſe, mit etwas friſchem Fleiſch für uns und für die 
Hunde unſern Vorrat ergänzen zu können. Noch wiſſen wir nicht, 
von wo aus wir auf der Rückreiſe den Aufſtieg auf das Inlandeis 
unternehmen werden. Aber da die Wahrſcheinlichkeit dafür ſpricht, 
daß es hier an dieſer Stelle geſchieht, erleichtern wir die Schlitten 
von allen überflüſſigen Dingen, um nicht unnötiges Gepäck mit 
uns herumzuſchleppen. Ferner werden zwei Schlitten zurück⸗ 
gelaſſen und die überzähligen Hunde auf die übrigen Schlitten 
verteilt. Um jeden Preis müſſen wir uns ein raſches Vorwärts⸗ 
kommen ſichern, und um uns ſozuſagen das Meſſer an die 
Kehle zu ſetzen, verſehen wir uns nur für drei Tage mit Proviant 
für die Menſchen und mit einer einzigen Futterration, der letzten, 
die wir haben, für die Hunde beim erſten Lager. 

Wir verfügen im Augenblick über ſechs Hundegeſpanne, im 
ganzen 70 Hunde; könnten dieſe nur ein paar Tage Ruhe und 
reichliche kräftige Nahrung erhalten, ſo würden ſie bald alle wieder 
voll arbeitsfähig ſein. Für den Augenblick iſt die Lage für die 


Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord nach dem Nordenſtiöldfjord. 135 


Hunde etwas kritiſch. Der Kampf mit dem Preßeis hat augen⸗ 
ſcheinlich ihr Befinden und ihre Laune beeinträchtigt. Sie haben 
nicht mehr den ſtolzen Gang mit erhobenen Schwänzen. Es iſt 
ein verzagter Ausdruck in ihre Augen gekommen, und die Pelze 
haben nicht mehr den Glanz, der das ſicherſte Zeichen von Wohl- 
befinden und Kraft iſt. Der Schwanz ſchlenkert willenlos zwiſchen 
den Beinen hin und her; wir empfinden es daher als unſere 
Pflicht, ihre Kräfte möglichſt raſch wieder herzuſtellen. 

Eine Rekognoſzierung in der Nachbarſchaft hatte ein nieder⸗ 
ſchlagendes Ergebnis. Wir wandern weit ins Land hinein auf 
einem ſchneefreien, ſteinigen Gelände, doch nirgends finden ſich 
friſche Spuren von Moſchusochſen. Zerſtreute Herden ſcheinen ſich 
vor vielen Jahren hier aufgehalten zu haben, aber nicht einmal 
im Lehm finden wir friſche Spuren. Von Kleinwild gibt es eine 
Menge Haſen, die unglaublich ſcheu ſind, ein untrügliches Zeichen 
dafür, daß hier keine Moſchusochſen leben. Denn überall, wo in 
der Nähe Wölfe umherſchweifen, flüchten die Haſen, ſobald ſie 
etwas Lebendiges entdecken, und Wölfe ſcheint es hier, nach den 
Spuren zu urteilen, nicht wenige zu geben. Wo ſie dagegen mit 
friedlichen Moſchusochſen zuſammenleben, pflegen ſie nie die Ner⸗ 
voſität zu zeigen, ſelbſt wenn man ſie auf dem Kamm eines Hügels 
plötzlich überraſcht. 

Schneehühner ſahen wir oft, aber nur paarweiſe. Sie ſind je⸗ 
doch zu klein, ſo daß wir verzichteten, ſie in größeren Mengen zu 
ſchießen. Ihr weißes Winterkleid, das ſie bis jetzt auf den ſchnee⸗ 
freien Stellen, wo ſie ihr Futter ſuchen, ſo leicht ſichtbar machte, 
hat ſchon angefangen, dem braunen Sommerkleid Platz zu machen. 
Sie erfüllen die Landſchaft mit ihrem Gurren, das zwiſchen dieſen 
ſchweigenden Bergen wie ein Lied in der Einſamkeit wirkt. 

Die felſigen Hochebenen im Hinterland des St.⸗George⸗Fjords 
laden vorläufig nicht dazu ein, die Zeit dort mit Jagd zu ver⸗ 
geuden, und die Teile des Sherard⸗Osborne⸗Fjords, die wir vom 
Berg aus mit dem Fernglas unterſuchen konnten, ſind zu unſerer 
Enttäuſchung ſo vereiſt, daß ein Beſuch dort ebenfalls ein zu 
großes Riſiko ſein würde. Ich entſchließe mich daher, die Er⸗ 
forſchung dieſer Fjorde vorläufig aufzuſchieben, bis unſer Daſein 
durch Jagderfolge etwas geſicherter iſt. Allmählich bemächtigt 
ſich unſerer die Spannung, die unzertrennlich verknüpft iſt mit 


136 Fünftes Kapitel. 


dem Eskimoleben und mit den Expeditionen, die nach Jäger⸗ 
weiſe ihre Zukunft von der Jagd in neuen Gegenden abhängig 
machen. 


Die erſten Jagden. 


8. Mai. Wir haben fortwährend Ausſchau gehalten nach dem 
Schnee, der Beaumont und ſeinen Leuten ſo große Schwierigkeiten 
verurſachte, aber erſt heute auf dem Weg nach Kap May finden 
wir ihn. Zum erſtenmal, ſeit wir Thule verlaſſen hatten, geſchieht 
es, daß die Hunde ſich niederlegen und nicht weiter wollen, und 
um die Peitſche nicht allzu fleißig gebrauchen zu müſſen, gehen 
wir lieber auf Schneeſchuhen voran. Die Hunde folgen willig mit 
den ſchweren Schlitten. Alle unſere Schneereifen und Schneeſchuhe 
finden jetzt Verwendung, denn ohne dieſe iſt es ganz unmöglich, 
ſich durch den Schnee zu arbeiten. Wieder müſſen wir Beaumont 
und ſeine Leute bewundern, die unter den unerträglichen Schmerzen 
des Skorbuts auf einer ſolchen Bahn mit ſteifen Beinen und 
ſchmerzenden wunden Füßen, die Rücken und Schultern vom Zug⸗ 
riemen wundgerieben, vorwärts wankten. 

Nach ſechs Stunden mühſeligen Marſchierens und Fahrens 
kommen wir zu einem großen Eisſtück, wo wir haltmachen, da 
ein grauer Nebel von Weſten zum Fjord hineinzieht und alle Aus⸗ 
ſicht verſperrt. Ein feuchter Dunſt hüllt alles ein, und eine rauhe 
Briſe bringt uns einen düſteren Grus vom Eismeer. 

9.—11. Mai. Am folgenden Tag ziehen wir bei gleichem 
Wetter und gleicher Bahn weiter, denn es iſt unmöglich, hier zu 
bleiben. Aber in einiger Entfernung von Kap Man klarte es auf, 
es wird ſchönes Wetter. Wir eilen vorwärts und erreichen nach 
ſechs Stunden Land. | 

Auf beſchwerlichem Preßeis gehen wir um Kap May herum 
und finden hinter der Landſpitze ebenes und ſchneefreies Eis, wo 
die Hunde in Trab fallen und wir ſelber uns zum erſtenmal ſeit 
langer Zeit auf die leeren Schlitten werfen. 

Von früheren amerikaniſchen Expeditionen her wiſſen wir, daß 
jedenfalls vor etwa ſechs Jahren Moſchusochſen in dieſer Gegend 
geweſen ſind; ich beſchließe daher, ernſtlich eine Jagd zu verſuchen, 
denn die Hunde verlieren zu ſehr die Kräfte. Ajako und Inukitſog 
werden durch die Täler nach einigen großen gletſcherbedeckten 


Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord nach dem Nordenſkiöldfjord. 137 


Gebirgszügen geſchickt, die allerdings reichlich vereiſt erſcheinen; Koch 
und ich begleiten ſie ein Stück und entdecken zu unſerer Freude 
bald, daß das Land einen weſentlich reicheren Pflanzenwuchs be⸗ 
ſitzt als die unfruchtbare Küſte zwiſchen der Newmanbai und dem 
Sherard⸗Osborne⸗Fjord. Wir erblicken auch Moſchusochſenſpuren 
im Lehm und eine Menge Exkremente, die nicht ſehr alt ſein 
können. Während die beiden Jäger ihren Weg fortſetzen und 
jeder ſeinen Hund nach ſich zieht, eilen wir zu den Schlitten zurück, 
um ein Stück weiter vorn einen Lagerplatz zu finden. 

Sobald wir ihn gefunden haben, begebe ich mich mit dem 
Bootsmann und Hendrik in die Berge, während Wulff und Koch 
zurückbleiben, um das Zelt zu errichten. 

Eine mühſame Kletterei über Berglehnen aus lauter kleinen 
Steinen, die uns unter den Füßen wegrutſchen, führt auf die 
Höhe einer hochgelegenen ebenen Fläche, die ſich landeinwärts 
erſtreckt. Wir kommen an zwei Skeletten von Moſchusochſen vor- 
bei. Sie ſind jedoch zu alt, um die Spannung, die uns voll er⸗ 
griffen hat, zu beeinfluſſen. Bald haben wir den Rand der jtei- 
nigen Hochebene erreicht; von hier bietet ſich eine Ausſicht über ein 
weites großes Tal, das ſich weit ins Land hineinzieht. Zwei 
große flußartige Bäche liegen noch gefroren auf beiden Seiten des 
Tales, dicht an den hohen Randbergen. In der Ferne ſchimmern 
ein paar große Seen, deren fruchtbare Ufer ſicher dem Wild, das 
wir ſuchen, einen einladenden Aufenthalt gewähren. Das Land 
iſt gewaltig in ſeinem Wechſel zwiſchen Ebenen und Bergen. 
Aber vergebens unterſuchen wir durch das Fernrohr alle uns ſicht⸗ 
baren Schluchtränder, Bachbetten und Talſenken. Wir entdecken 
nichts Lebendiges, und enttäuſcht kehren wir zum Zelt zurück. 

Eine Enttäuſchung ſteigert immer die Ermüdung des Jägers; 
es kam uns vor, als hätten wir Bleigewichte an den Füßen, als 
wir ohne Beute nach Hauſe gingen. Langſam glitten wir die 
Berge hinab, ohne Kraft in unſeren Bewegungen und ohne Humor 
bei der Abfahrt über die großen, ſteilen Schneewehen, auf denen 
wir hinabrutſchten. Aber kaum waren wir in die Nähe des Zeltes 
gekommen, als Wulff den Vorhang beiſeite riß und uns entgegen⸗ 
lief. Ajako hatte die erſten Moſchusochſen der Reiſe erlegt — drei 
Kühe. Mit einem Male kam Leben in uns alle; wie weggeblaſen 
war die Müdigkeit, und wir begannen ſofort den großen Berg 


138 Fünftes Kapitel. 


wieder zu erklimmen, von dem wir eben herabgerutſcht waren, und 
wo die Jäger dabei waren, ihre Beute abzuziehen. Der ſchöne 
Abſchluß einer langen Tagereiſe bedarf keiner Schilderung. Es 
mag genügen zu erwähnen, daß wir alle bei ausgeſuchten Lecker⸗ 
biſſen bis tief in die Nacht hinein ſchwelgten, und der Schlaf, der 
ſich anſchloß, während die ſatten Hunde rings um die Zelte lagen, 
war ebenſo lang wie wohlverdient. 

Wir müſſen jetzt das Land durch planmäßige Jagden ausnützen 
und verteilen uns daher in verſchiedene Trupps. Wulff, Ajako, 
Inukitſog und Hendrik gehen in verſchiedenen Richtungen in das 
große Tal hinein, das wir geſtern von dem Berge überblickt haben. 
Inukitſog hatte auf ſeiner Jagd eine Menge friſcher Spuren und 
Exkremente im Sand und Lehm gefunden. Die Jäger ſcheinen 
alſo ſpannende Ausſichten zu haben, wenn ſie nur aushalten. Für 
die nächſte Umgebung ſind Leute genug auf den Beinen; ich ſelbſt 
begebe mich mit dem Bootsmann in den Viktoriafjord, teils um 
zu jagen, teils um das Land näher zu unterſuchen. Wir haben 
ja den großen Vorteil, daß wir viele ſind, und können uns daher 
im Laufe weniger Tage einen vollſtändigen Überblick über das 
neue Land verſchaffen. 

Bei der Erörterung der erſten Reiſeanordnungen habe ich in der 
Einleitung hervorgehoben, daß wir ſicher im Laufe des Frühjahrs 
Seehundfang erwarten durften, da die Polareskimos, die die 
amerikaniſche Expedition in dieſe Gegend begleitet hatten, uns er⸗ 
zählten, ſie hätten viele Atemlöcher an Orten geſehen, wo ſich 
junges Eis befand. Aber auf eine ſolche Jagd konnten wir vor⸗ 
läufig nicht rechnen, da das Frühjahr noch zu wenig vorgeſchritten 
war. Auf Bären konnten wir ſo weit im Norden kaum hoffen, 
denn die maſſige Beſchaffenheit des Eiſes macht es ihnen zu ſchwie⸗ 
rig, Nahrung zu finden. Eine Spur, die wir bei Kap Many ſahen, 
war die einzige, die wir bisher wahrgenommen haben. 

In den erſten Monaten haben wir alſo nur mit Moſchusochſen 
zu rechnen, und da ſich im Innern des Viktoriafjords nach der 
Karte offenbar große Landgebiete befinden, mache ich mich mit 
dem Bootsmann und unſern beiten Hunden dorthin auf den Weg, 


Vom Sherard⸗Osborne⸗Fiord nach dem Nordenſkiöldfjord. 139 


noch ehe unſere Kameraden marſchbereit ſind. Die Fütterung mit 
friſchem Fleiſch am geſtrigen Tage hatte die Hunde ſehr belebt, 
und wir kommen daher anfangs raſch vorwärts. Wir fahren in den 
ſchmalen Sund zwiſchen dem Feſtland und der hohen Stephenſon⸗ 
inſel hinein, die mit ihren ſteilen, abgeſchloſſenen Bergen, deren 
Inneres von lokalen Gletſchern bedeckt iſt, einen mächtigen Eindruck 
macht. 

Wir waren am Abend aufgebrochen und bei ruhigem, ſchönem 
Sonnenſchein arbeiten wir uns vorwärts, wobei abwechſelnd einer 
die Führung übernimmt. Der Bootsmann, ein Burſche von kaum 
zwanzig Jahren, hat wiederholt eine erſtaunliche Ausdauer be⸗ 
wieſen; er hat eine geſunde und gleichmäßige Art und ſcheint 
für kein Mißgeſchick empfänglich zu ſein, wenn er nur einigermaßen 
die Nahrung erhält, die ſeine jungen Muskeln erfordern. Aber 
ſeine Mahlzeiten ſchätzt er aufs höchſte, und bisweilen ſetzt er uns 
durch ſeinen fabelhaften Appetit in Erſtaunen. 

Auf der Karte iſt eine ziemlich große Inſel hinter der Stephenſon⸗ 
inſel angegeben. Es ſtellt ſich heraus, daß ſie gar nicht exiſtiert. 
Schon 25 Kilometer im Viktoriafjord drin finden wir die Ausſicht, 

die wir ſuchen, und fahren daher in eine Bucht weſtlich von der 
großen Inſel; hier wählen wir uns einen Lagerplatz, um die 
Hunde ruhen zu laſſen, und begeben uns auf Schneereifen weiter 
landeinwärts. Wir ſteigen ſofort auf die Berge hinauf und ſehen 
zu unſerer Verwunderung: dieſer Fjord, der früher als ein mäch⸗ 
tiger Meeresarm geſchildert wurde, als ſo tief, daß man das Land 
in ſeinem Innern nicht zu erkennen vermochte, iſt kaum mehr als 
80 Kilometer lang. Das Innere des Fjords endet in einem breiten 
Gletſcher, der mit ſchwacher Steigung in das Inlandeis übergeht. 
Das große Hochland, das die alte Karte uns hier verſprochen hatte, 
exiſtiert nicht. Weit drinnen nach Nordoſten zeigte ſich wohl Land, 
aber es waren nur ſteile, vereiſte Randberge, die ſich wie ſchmale 
Mauern mit dem Rücken an das Inlandeis lehnten. Auch im Süd⸗ 
weſten ſahen wir tief im Innern ein ſteiles Alpenland mit einzelnen 
breiten Schluchten. Aber der Eingang dazu war verſperrt, da der 
ganze innere Teil des Fjords aus ſchwimmendem Inlandeis be⸗ 
ſtand, das ſich in langſamer Bewegung nach außen befand, ſo 
daß unwegſame Spalten nicht weit von unſerm Ausſichtspunkt 
ſichtbar waren. 


140 Fünftes Kapitel. 


Dieſer Fjord, von dem wir uns ſoviel verſprochen hatten, er⸗ 
mangelt der notwendigen Lebensbedingungen, um unſere wiſſen⸗ 
ſchaftlichen Arbeiten durchführen zu können. Jeder Jagdverſuch 
in dieſem Land würde lebensgefährlich und nutzlos ſein. Wir 
konnten nur auf beſſere Verhältniſſe in der Umgebung des Norden⸗ 
ſkiöldfjords hoffen. Auch in nordöſtlicher Richtung ſahen wir in der 
Ferne Berge auftauchen; aber ſchon von unſerm Standpunkt 
hier war es leicht zu erkennen, daß das Land dort ſich kaum weit 
ins Innere erſtrecken würde, denn der Rücken des Inlandeiſes ſchob 
ſich allumfaſſend über die Gegenden, wo wir erwartet hatten, 
Landjagd zu treiben. 

Nun war nur noch die große Halbinſel zwiſchen Viktoriafjord 
und Sherard-Osborne- Fjord übrig, aber auch ſie verſprach nicht 
viel. Wohl gab es dort einzelne ebene Striche mit niederen hüge⸗ 
ligen Höhen, wie ſie die Moſchusochſen lieben, aber viele kleine 
Lokalgletſcher ſchoben ſich dazwiſchen hinein und töteten alles Leben. 


* . * 
* 


Eine Jagd in der näheren Umgebung lieferte zwei Hajen. Wir 
kochten den einen, ehe wir uns enttäuſcht und müde auf den langen 
Weg zu unſern Kameraden zurückbegaben, die wir nach vierund⸗ 
zwanzigſtündiger Abweſenheit mit unluſtigen und kraftloſen Hunden 
erreichten. ö 

Bei unſerer Ankunft kam Koch aus dem Zelt geſprungen, und 
wir ſahen ſofort an ſeinen Mienen und Bewegungen, daß er gute 
Neuigkeiten hatte. Ajako und Wulff hatten ſechs Moſchusochſen 
erlegt und alle drei Schlitten waren zu den Tieren gefahren. 

Große Freude! 

Gegen Morgen, einem der erſten wirklich ſonnenwarmen Tage, 
kamen die Schlitten mit bellenden, vollgefreſſenen Hunden zurück. 
Inukitſog hatte während der Jagd auf Haſen eine Herde von 
zehn Stück angetroffen, gerade gegenüber von den ſechs ſchon 
erlegten, und wir waren jetzt dabei, ſie ins Lager zu ſchaffen. 
Die Jagd des Tages hatte uns ſechzehn Moſchusochſen gebracht. 

Das war eine noch größere Freude! 

Abends um 8 Uhr fuhren Koch und Inukitſog in den Viktoria⸗ 

fjord, um eine Karte von ihm aufzunehmen. 


Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord nach dem Nordenſkiöldfjord. 141 


Naſt⸗ und Maſttage. 

12.—17. Mai. Das willkommene Fleiſch, das wir nun geſam⸗ 
melt haben, ermöglicht es uns, den Hunden die Ruhe zu gönnen, die 
ſie ehrlich verdient haben. Sie dürfen eine Woche faulenzen und 
ſo viel freſſen, wie ſie können; dann werden ſie wieder brauchbar 
für die Arbeit ſein, die vorläufig unterbrochen iſt. Aber die letzten 
guten Jagdtage bedeuten nicht nur, daß wir im Laufe weniger 
Tage wieder mit guten und willigen Hunden reiſefertig daſtehen, 
wir ſind auch imſtande, ehe wir weiterziehen, hinter uns richtig 
aufzuräumen; denn wir kehren nun zum Sherard-Osborne-Fjord 
zurück, um auch von ihm eine Karte aufzunehmen. 

Heute ſuchen wir einen bequemen Lagerplatz, wo wir das 
Leben nicht zu weit von den erlegten Moſchusochſen genießen 
können. Wir fahren daher den Flußlauf aufwärts, der auf der 
ſüdlichen Seite des Tales nach dem ſchönen, großen See führt, an 
deſſen Ufer das willkommene Großwild hat ins Gras beißen 
müſſen. Die Gegend um den Fluß und den See macht einen 
freundlichen, fruchtbaren Eindruck. Große grasbedeckte Flächen 
ziehen ſich über die wohlbewäſſerten Flächen hin. Auf uns, die 
wir lange Zeit nur öde Steinfelder vor uns gehabt haben, wirkt 
all dies Gras, auf dem hier und da Weiden wachſen, wie ein 
Gruß des Sommers, der ſeinen ewigen Kampf mit dem Eis 
kämpft. 

Maſſenhaft liegen hier die Exkremente von Moſchusochſen; 
alle lehmigen und ſandigen Stellen zeigen Abdrücke ihrer Hufe, und 
alles weiſt daraufhin, daß die erlegten Tiere längere Zeit an 
dieſem See gelebt haben. 

Hinter dem See erſtreckt ſich das Tiefland weit ins Innere in 
einem breiten, ſchluchtähnlichen Tal. Allerdings herrſcht auch 
hier überall, wo man hinſieht, der Stein vor; aber es iſt doch 
deutlich zu ſehen, daß die vielen Bäche, die im Sommer von den 
braunen Bergwänden herabrieſeln, die Umgebungen ſo bewäſſern, 
daß mitten in der Steinwüſte kleine Oaſen entſtehen, wo pflanzen⸗ 
freſſende Tiere ihren Lebensunterhalt finden. Es wimmelt auch 
überall von Haſen, und zum erſtenmal, ſeit wir die heimatlichen 
Fleiſchtöpfe verließen, haben wir das Gefühl, daß wir uns 
hiec ſatt eſſen können, ohne befürchten zu müſſen, ein ſtarker 
Appetit möchte ein zu großes Loch in die Rationen reißen. 


142 Fünftes Kapitel. 


Das Eis auf dem See läßt erkennen, daß wir keineswegs in 
ein ſtilles Tal gekommen ſind. Die Ufer ſind glatt und ſchneefrei, 
und die Schneewehen ſind ſteinhart gepeitſcht und mit Sand und 
Grus durchſetzt. Auf einem ſchneefreien Grasplatz errichten wir die 
Zelte, und es iſt ein herrliches Gefühl, einmal eine Unterlage zu 
haben, die nicht aus kaltem, knirſchendem Schnee beſteht. Die 
nächſten Moſchusochſen werden herangeſchleppt, und die Hunde 
bekommen ein ſo ſolides Futter, daß ihre Magen wie Ballone 
aufgebläht ſind. Stöhnend vor Überſättigung legen ſie ſich hin 


und träumen von den Zeiten, wo es noch nichts gab, was Expe⸗ 
dition hieß. Wir ſelber ergaben uns dem gleichen Materialismus, 
nur mit dem Unterſchied, daß wir ſorgfältiger all die Delikateſſen 


auswählen, die für einen Eskimojäger der größte Genuß 
nach einer glücklichen Jagd ſind. Von den getöteten Moſchus⸗ 
ochſen ſind 14 Kühe und 11 Stiere. Die Stiere haben um Herz 
und Nieren noch ziemlich viel Fett, ebenſo ſind in ihren mächtigen 


Augenhöhlen große Fettanſammlungen; alles dies aßen wir mit 


ganz beſonderem Appetit, da das Fleiſch, von dem wir bisher 
gelebt haben, ſehr mager war. Und Fett braucht man hier oben 
in bedeutend höherem Maße als anderswo. ö 
Die Tage hier im Tal ſind rauh und kalt, und obgleich die 
Temperatur nur zwiſchen 10 und 12 Grad Kälte ſchwankt, wirkt 
ſie bei dem ſtarken Wind doch unangenehm. Er weht faſt ununter⸗ 
brochen und wirbelt Sand und Steine auf, und wenn wir heraus⸗ 
gehen, um Fleiſch zu holen, werden unſere Pelze mit dem ſchmutzigen 
Schnee überſchüttet, der ſich in den Haaren feſtſetzt und faſt 
nicht wieder herauszuklopfen iſt. Wir bleiben daher lieber ſoviel 
wie möglich im Zelt, wo der Tag unter Schmauſen verläuft. Am 
15. Mai, der ungewöhnlich rauh und ſtürmiſch iſt, werden die 
letzten Tiere zum Zelt geholt, und wir ſind bereit, uns wieder auf 
das Meereis hinabzubegeben, wo mehr Schutz und Sonnenwärme 
zu finden iſt als hier in dieſer windigen Gegend. : 
Ein paar von den großen Tieren, die wir oben bei dem Berg: 
niedergelegt hatten, von wo aus der Transport beſonders ſchwierig 
geweſen war, wurden unmittelbar vor der Abreiſe geholt. Auf 
dieſer Tour fanden wir hinter einem großen Stein einen Moſchus⸗ 
ochſen, der uns ein lebhaftes Bild von dem Tierleben hier oben 
gab. Der Ochſe, ein junges Tier, war von einem Wolf verfolgt 


en 


Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord nach dem Nordenſkiöldfjord. 143 


worden, und in ſeiner Angſt vor dem Todfeind hat er ſich nicht 
ordentlich umgeſehen und iſt mit den Beinen zwiſchen zwei große 
Steine geraten. In dieſer hilfloſen Stellung iſt er für den Wolf 
eine leichte Beute geweſen. Mit einem einzigen Schlag war der 
dicke, knorplige Hals aufgeriſſen, und der Riß ging wie mit einem 
Meſſer geſchnitten durch die ganze Bruſt bis zum Zwerchfell, das 
mit einem einzigen Ruck der eiſernen Kiefer des Wolfes auf⸗ 
geſchlitzt war. Dieſer ganze Schnitt war von einem Kenner mit 
einer Sicherheit in der Methode des Tötens ausgeführt, wie ſie 
nur der geübte Verbrecher erreicht. Nur die Zunge, das Herz und 
das Eingeweidefett waren verzehrt; alles übrige Fleiſch war un⸗ 
berührt. Um den Platz ringsum fanden ſich Fuchsſpuren, aber merk⸗ 
würdigerweiſe ſchien Reineke keine größere Mahlzeit von dem 
großen Tier gehalten zu haben. Vielleicht zieht er zarte, weiche 
Lemminge dem zähen Großwild vor. 

Früh am 16. Mai kamen Koch und Inukitſoq vom Viktoria⸗ 
fjord zurück. Sie hatten nicht nur den Fjord unterſucht und auf⸗ 
genommen, ſondern waren überdies ſo glücklich geweſen, ſechs 
Moſchusochſen auf dem Tiefland zu ſchießen, das ich mit dem 
Bootsmann vergebens durchſtreift hatte. Wir können unſere 
Freudenrufe nicht unterdrücken, als wir dieſe Neuigkeiten erfahren, 
denn abgeſehen von der Kartenaufnahme dieſes Fjords hat uns 
der Aufenthalt auf Naresland ſeit dem 9. Mai eine Jagdbeute 
von im ganzen 26 Moſchusochſen und 30 Haſen eingetragen. Jetzt 
it nur noch die Unterſuchung des Sherard-Osborne⸗Fjords übrig. 
Ich halte es darum für das beſte, den Kurs wieder ſüdlich zu 


nehmen, ſobald das Wetter es erlaubt. Gleichzeitig teilen wir die 


Expedition in zwei Abteilungen: eine Jagdabteilung, beſtehend 
aus Dr. Wulff, Hendrik, Inukitſog und dem Bootsmann, geht 
weiter nach Norden nach dem vermuteten Land am Nordenſkiöld⸗ 
einlaß, und eine Vermeſſungsabteilung, beſtehend aus Koch, 
Ajako und mir, kehrt vorläufig zum Sherard⸗Osborne⸗Fjord zurück, 
um die Arbeit dort abzuſchließen. Indes wird beſtimmt, daß 
Hendrik und der Bootsmann uns begleiten, um einen Teil der bei 
Dragon Point zurückgelaſſenen Sachen zu holen, während Inu⸗ 
kitſog in den Viktoriafjord hineinfährt, um den Reſt des 
Fleiſches, das er und Koch dort deponiert haben, herbeizuſchaffen. 
Wulff ſoll im Lager bleiben und in der Umgebung Haſen 


144 Fünftes Kapitel. 


jagen, bis ſeine Abteilung ſich wieder verſammelt hat und reiſe⸗ 
fertig iſt. 

Vorläufig zieht ſtürmiſches Wetter auf, und um uns nicht un⸗ 
nötig in dem Tal mit den allzu kräftigen Lungen aufzuhalten, 
verlegen wir das Lager auf eine kleine Inſel in der Mündung des 
Naresfjords, wo auch unſer ganzes koſtbares Moſchusochſenfleiſch 
untergebracht wird. Während wir andern die fleiſchbeladenen 
Schlitten zum Depotplatz fahren, zieht Wulff es vor, die fünf 
Kilometer nach der kleinen Inſel, die wir Depotinſel nennen, über 
Land zurückzulegen. Obgleich die Entfernung ſo kurz iſt, brauchte 
Wulff doch 14 Stunden, um in dem wütenden Schneetreiben den 
Weg dorthin zu finden. Wir waren außerſtande, nach ihm zu 
ſuchen, da niemand wiſſen konnte, in welche Richtung die Jagd 
ihn geführt hatte. Groß war deshalb unſere Freude, als er end⸗ 
lich mit einer Jagdbeute von zehn Haſen ankam. Haſen gibt es 
hier nicht nur in großen Scharen, ſondern ſie ſind auch erſtaunlich 
zahm im Vergleich zu denen, die wir bisher angetroffen haben. 
Es iſt offenbar, daß ſie gewohnt ſind, mit Moſchusochſen zuſammen 
zu weiden; ſie ſtellen ſich daher die Menſchen ebenſo friedlich ver⸗ 
anlagt vor wie dieſe großen Tiere. 


Zurück nach Dragon Point. 

18. und 19. Mai. Das Unwetter der letzten Tage hatte die 
alte, früher ſo ſchlechte Bahn auf dem Fjord mit einer über einen 
Fuß dicken, weichen, neuen Schneedecke überzogen, ſo daß wir jetzt 
die „Kriſtallzuckereisbahn“ haben, über die ſich Beaumont in 
ſeinem Bericht beklagt. Obgleich die Hunde acht Tage ausgeruht 
haben und in dieſer Zeit mit Fleiſch vollgeſtopft worden ſind, 
dauert es doch nicht lange, bis ſie den Kampf wieder aufgeben. 
Wir müſſen daher wieder mit der alten Geſchichte anfangen und 
auf Schneereifen und Schneeſchuhen den Hunden den Weg voraus⸗ 
gehen; aber das bringt nur langſam vorwärts und ohne die gute 
Laune, die ſonſt bei dem Schlittenzug herrſcht, wenn die Hunde 
freiwillig vorwärts traben. Wir führen 22 Moſchusochſenſchultern 
mit uns; das wird uns hoffentlich inſtand ſetzen, die Arbeit, 
die wir uns vorgenommen haben, auszuführen. Während des 
Aufenthalts im Moſchusochſental haben wir alle die Hunde ge⸗ 
tötet, die wir glaubten entbehren zu können; denn ſelbſt, wenn die 


Frohe Jugend und verfonnenes Alter. 


maaagpniginv daun 218 


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Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord nach dem Nordenſkiöldfjord. 145 


Jagd bisher ſehr günſtig geweſen iſt, iſt es immer ein Vorteil, 
wenn man in dieſer Gegend möglichſt wenig Münder zu ſättigen 
hat, einerſeits, weil die Moſchusochſen in dieſer Zeit ſehr mager 
ſind, andrerſeits, weil die Knochen zu maſſiv ſind, als daß die 
Hunde ſie benagen können. Dazu kommt, daß allen unſern Hunden 
an den Reißzähnen die großen Sägezacken fehlen, weil dieſe, 
wie es bei den Eskimos Sitte iſt, entfernt werden, wenn die Hunde 
jung ſind. Dies hat für Expeditionsreiſende den unſchätzbaren 
Vorteil, daß die Hunde ihr Geſchirr⸗ und Riemenzeug nicht freſſen 
können, wenn der Hunger ſie dazu treibt, denn beides iſt un⸗ 
erſetzlich auf einer Reiſe. Aber dafür büßen ſie auch die Fähigkeit 
ein, ſehr harte Knochen zu freſſen. 


* * 
* 


Es herrſchte herrliches Wetter, aber trotzdem gelang es uns 
nicht, das Depot in einem Zug zu erreichen. Wir mußten auf der 
Hinreiſe mitten im Sherard⸗Osborne⸗Fjord lagern, und erſt am 
19. Mai mittags kamen wir an unſerm alten Lager an. 

Gerade vor unſerer Ankunft im Depot hatten wir die große 
Freude, den erſten Seehund zu ſehen und zu beobachten, wie er 
auf das Eis kroch, um ſich zu ſonnen. Leider wurde er nicht erlegt, 
obgleich Ajako ihm ſehr nahe kam; der Schuß ging über ſeinen 
Kopf weg. Trotz des Mißgeſchicks war es für uns doch ein Er⸗ 
lebnis von allergrößter Bedeutung; denn wenn die Seehunde 
ſchon Mitte Mai anfangen, durch das alte, dicke Polareis herauf⸗ 
zukriechen, ſo haben wir ſicher gegen Ende Juni eine gute Jagd, 
und eine gute Seehundjagd in dieſer Gegend wird unſere Rückreiſe 
im höchſten Grad vereinfachen. ; 

Zwanzig Stunden Haſenjagd ergeben das dürftige Reſultat, 
daß nur einer geſchoſſen wurde. Die Tiere ſind hier ſo ſcheu, daß 
ſie flüchten, lange ehe ein Schuß ſie erreichen kann. Eine Strecke vom 
Lagerplatz entfernt finden wir am Strand das Skelett eines See⸗ 
hunds, der von einem Bären gefangen und gefreſſen war. Bären 
ſcheinen alſo auch ab und zu einen Beſuch hier oben abzuſtatten, 
und es iſt zu hoffen, daß es auch uns einmal glückt, einem ſolchen 
Wanderer zu begegnen. 

Während Hendrik und der Bootsmann zur Depotinſel 
zurückfahren, treffen wir andern die letzten Vorbereitungen zur 

Rasmuſſen 10 


146 Fünftes Kapitel. 


Reiſe in den Sherard-Osborne-Fiord. Zuerſt beobachten wir ihre 
Abfahrt. Langſam, ſehr langſam ſchieben ſich die dunklen Ge⸗ 
ſtalten über das Eis. Der Schnee iſt tief und ſo locker, daß die 


Schlitten trotz der Schneeſchuhe einſinken. Die Hunde ſinken bis 


zum Bauch ein und ziehen den Schwanz nach. Lange können 
wir in dem ſtillen Fjord die verzweifelten Rufe der Lenker hören, 
mit denen ſie die Hunde antreiben. 


In den Sherard⸗Osborne⸗Fjord. 

20.—22. Mai. Das Eis erweiſt ſich fjordeinwärts zu unſerer 
großen Freude beſſer als wir erwarteten, und wir können daher die 
erſten 20 Kilometer ohne Vortraben in behaglichem Zotteltrab 
zurücklegen. Schon 6 Kilometer von Dragon Point ſehen wir 
wieder einen Seehund. Leider kommen wir nicht auf Schußweite 
heran, da er uns gehört hat, ehe wir ihn geſehen haben, und durch 
ſein Atemloch verſchwindet, als wir haltmachen und uns anſchicken, 
zu ihm hinzukriechen. i 

Wir paſſieren die hohe, ſchöne Caſtle⸗Inſel und gelangen nur 
30 Kilometer weit in die St.⸗Andrew⸗Bai hinein, da der Schnee 
weiter drin tiefer wird und die Hunde nicht mehr weiter können. 
Das Eis iſt hier ſehr uneben und hat den Charakter von ſchwim⸗ 
mendem Inlandeis. Oſtlich der Caſtle⸗Inſel treffen wir auf ein 
paar große Preßeisrücken, die parallel mit dem Gletſcher ſenkrecht 
aufs Land gerichtet ſind, ein Zeichen dafür, daß das Eis ſo weit 
draußen unter dem Druck des Hauptgletſchers ſteht. 

Um 9 Uhr abends gehen Koch und Ajako mit dem Theodoliten 
in die Berge, um ein paar Peilungen nach dem St.⸗George⸗ 
Fiord zu verſuchen. Um 3 Uhr morgens kehren ſie wieder zurück. 
Sie haben Ausſicht über das Innere des Fjordes gehabt und ein 
großes ſchneefreies Land hinter dem Fjord in Südweſten entdeckt. 
Sie haben auch einen ebenen Gletſcher geſehen, der zwiſchen ein 
paar großen Bergen in gleichmäßiger und guter Verbindung mit 
dem Hauptgletſcher ſteht. Dieſe Beobachtung verſtärkte in mir 
noch weiter den Vorſatz, ſpäter den Aufſtieg von dieſer Gegend aus 
zu nehmen, wenn die Rückreiſe uns über das Inlandeis führen wird. 

Ajako hat zwei Haſen geſchoſſen, die uns eine delikate Abend⸗ 
mahlzeit geben und es uns ermöglichen, das Moſchusochſenfleiſch 
für die Hunde aufzuſparen. Wir haben nämlich nur eine einzige, 


Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord nach dem Nordenſkiöldfjord. 147 


aber reichliche Futterration mitgenommen und den Reſt für die 
Rückreiſe bei Dragon Point deponiert. | 


Bom Sperard-Osborne-Fjord bis zum De-Long-Fjord, 


Bald nach der Ankunft der Kameraden zeigen ſich zwei ſchnee⸗ 


weiße Wölfe als Silhouetten hoch oben auf einem Hügelkamm. 
10* 


148 Fünftes Kapitel. 


Ihre ſchlanken Körper zeichnen ſich plaſtiſch gegen den klaren blauen 
Himmel ab, und ſie wirken ganz altnordiſch, als ſie ſchnüffelnd und 
witternd voller Verwunderung nach unſerm Lager herabtraben. 
In der Nähe des Eisfußes, ungefähr 500 Meter von unſerm 
Zelt entfernt, bleiben ſie plötzlich ſtehen und folgen ſorgfältig 
unterſuchend eine Stunde lang Kochs und Ajakos Spuren, vor⸗ 
und zurück⸗, hin⸗ und hertrabend und ab und zu ſtehenbleibend und 
witternd. Dann erheben ſie die Köpfe und heulen lange und an⸗ 
haltend einen eigenartigen, melancholiſch und einſam klingenden 
Klagegeſang, der in den Bergen widerhallt. Unſere Hunde ſpitzen 
die Ohren und ſehen erſtaunt nach dem Land, als hörten ſie be⸗ 
kannte, aber vergeſſene Töne. Sie erheben ſich und ſtarren neu⸗ 
gierig nach den Bergen, ſtimmen aber nicht in den Chor ein. Da 
die Wölfe wahrſcheinlich nicht näherkommen wollen, geht Ajako 
mit der Büchſe und einem Hund, einer kleinen mageren Hündin, die 
ſich früher als guter Bärenhund erwieſen hat, ihnen entgegen. 
Der eine der Wölfe, offenbar das Männchen, iſt ſehr groß und 
kräftig, und ſein Trab iſt raſch und geſchmeidig. Der andere iſt 
etwas zarter, aber doch weit kräftiger als ein Hund. Sobald die 
kleine weiße Hündin die ſeltenen Raubtiere erblickt, die die gleiche 
Farbe haben wie ſie ſelbſt, ſtürzt ſie bellend mit erhobenem 


Schwanz angriffsbereit aufs Land los. Und die großen ſchwei⸗ 


genden Einſiedler, die ſo viel ſtärker und noch im Beſitz ihrer 
meſſerſcharfen Zähne ſind, klemmen den Schwanz zwiſchen die 
Beine und flüchten vor ihr in die Berge. Sie haben beide Blut 
ums Maul und kommen vermutlich eben von einem Feſtſchmaus 
von Moſchusochſenfleiſch; ein kleineres Tier würde ſie kaum ſo 
blutig gemacht haben. Eine Stunde ſpäter kommt der kleine 
Hund zurück, dampfend vor Wärme und ſichtlich enttäuſcht, daß 
die Gelegenheit zu einem offenen Kampf ihm entgangen iſt. 


* * 
* 


Es iſt 6 Uhr morgens, als wir nach einem langen und inhalt» 
reichen Tag zur Ruhe gehen. 

Auf der Reiſe fjordeinwärts iſt die Bahn noch ſchlechter; das 
unebene Eis und der Schnee, der tiefer und tiefer wird, je weiter 
wir vorwärtskommen, zehren ſo ſtark an den Kräften der Hunde, 
daß ich beſchließe, das Fahren aufzugeben und den Verſuch zu 


1 
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Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord nach dem Nordenſkiöldfjord. 149 


machen, auf Schneeſchuhen weiterzukommen. Bei einem Landvor⸗ 
ſprung machen wir daher halt und erſchießen vier der ſchlappſten 
Hunde. Dann verfüttern wir das letzte Moſchusochſenfleiſch. 
Eigentlich hatten wir gleich aufbrechen wollen, mußten es aber 
aufgeben, da Koch durch eine mehrtägige Diarrhöe ſo erſchöpft 
war, daß er ruhen mußte; außerdem iſt Ajako ſchneeblind ge⸗ 
worden. Die Tagesleiſtung betrug nur 10 Kilometer, aber die 
Hunde waren auch ungewöhnlich matt und kraftlos. Die einzige 
Aufmunterung, die der Tag bot, war eine Lemmingſpur, die 
zeigte, daß dieſes ſtarke und ausdauernde kleine Tier ſich auf eine 
Wanderung begeben hatte, die es von der einen Küſte des breiten 
Fiords zur andern führen ſollte. 

23. Mai. Um 1 Uhr nachts begannen Koch und ich auf 
Schneereifen und Schneeſchuhen unſere beſchwerliche Wanderung 
durch tiefen Schnee auf Kap Buttreß zu, das wie ein mächtiger 
Wegweiſer an dem Punkt ſteht, wo der Fjord ſich zum ſchmalen 
Kanal verengt, der ſich dann wieder ſtark erweitert. Ajako, der 
jetzt völlig ſchneeblind war, mußte im Zelt zurückbleiben. Die 
Tour war ſehr anſtrengend und koſtete uns 14 Stunden, aber 
wir kehrten mit intereſſanten Ergebniſſen zurück. Der Sherard⸗ 
Osborne⸗Fiord war auf der Karte als der größte von allen 
Fiorden angegeben. Kap Buttreß bezeichnete den halben Weg 
bis zu der inneren Erweiterung, die ſich hier verengte, um ſich dann 
wieder in ihrer vollen Mündungsbreite ein wenig nach Südweſten 
zu wenden in der Richtung nach dem weißen Inlandeis. 

Kap Buttreß iſt ein monumentaler, wilder Hochgebirgskomplex, 
deſſen rieſige gletſcherbedeckte Gipfel im Licht der Sonne in 
glühend roten Farben erſtrahlen. 

Wir waren der Küſte an der Weſtſeite ganz nahe am Lande 
gefolgt und hatten, ſo oft wir nach Oſten ſchauten, einen niedrigen, 
wolkenähnlichen Saum geſehen, der oft den unterſten Teil der 
Küſte verdeckte. Mit ſeinen weißen Farben glich er einer ſchmalen 
Nebelbank, die zitternd über dem Fuß der Berge lag. Erſt als 
wir faſt ganz bei dem großen Kap waren, auf das wir beſtändig 
zuſteuerten, kamen wir plötzlich auf die Nebelbank ſelbſt hinauf 
und entdeckten jetzt, daß das Rätſelhafte niedriges, ſchwimmendes 
Inlandeis war, das ſich bis nach Kap Gray auf der Caſtle-Inſel 
erſtreckte. Dieſes ſchwimmende Inlandeis, das ſich weiter 


150 Fünftes Kapitel. 


draußen nur ein paar Meter über das alte Sikuſſageis erhebt, 
ſteigt ganz gleichmäßig fiordeinwärts an und geht an Kap Butt⸗ 
reb vorbei; es nimmt beſtändig an Dicke zu und hat das Ausſehen 
eines wirklichen Gletſchers. Spalten ſind nicht zu ſehen; inſofern 
könnte dieſer Eisſtrom, der zwiſchen den beiden ſchönen Hoch⸗ 
gebirgspartien ausmündet, einen bequemen Aufſtieg nach dem In⸗ 
landeis darſtellen, wenn man nur nicht riskierte, weiter drinnen 
Spalten anzutreffen. Jedenfalls ſprechen Peary wie Aſtrup davon, 
daß ſie auf dem großen Gletſcher am Ende des Sherard⸗Osborne⸗ 
Fiords den Kurs oft weiter landeinwärts nehmen mußten, um 
die vielen, breiten, tiefen Spalten, die ihnen den Weg verſperrten, 
zu umgehen. . j 

Die Entdeckung dieſer langgeſtreckten Gletſcherzunge, die den 
Sherard⸗Osborne⸗Fjord auf ein Drittel der ihm früher zuge⸗ 
ſchriebenen Größe reduziert, gibt uns außerdem die Erklärung für 
die Gürtel von Preßeis, die wir vor ein paar Tagen auf der Höhe 
von Kap Gray fanden. Dieſer Eisſtrom iſt alſo in gleichmäßiger 
beſtändiger Bewegung nach außen und drückt auf das alte Polar⸗ 
eis, ſo daß Preßeisrücken an Stellen entſtehen, wo man ſonſt 
keine Bewegung im Eis vermutet. 

Südweſtlich von Kap Buttreß ſchneidet ein Fjord ein mit 
einem großen Tiefland, das auf dem weſtlichen Ufer in ein hohes 
Kap ausläuft. Schneeſchuhbucht nannten wir dieſen Einſchnitt, der 
mit dem darüberliegenden Land in tiefem Schnee begraben war. 

Nach Beendigung unſerer Unterſuchungen traten wir den Rück⸗ 
weg an, und bald zeigte ſich, daß Koch, der ſich ſchon in den 
letzten Tagen nicht wohl gefühlt hatte, viel erſchöpfter war, als 
ich geglaubt hatte. Ein paarmal mußte er ſich, ehe wir unſer 
Zelt erreichten, auf dem Eis niederlegen, um nicht in Ohnmacht zu 
fallen, und ſicher gelang es ihm nur mit der alleräußerſten An⸗ 
ſpannung ſeiner Kräfte, die Tour durchzuführen. Sie war auch für 
einen geſunden Mann ſehr ermüdend, da wir uns ununterbrochen 
durch tiefen Schnee durcharbeiten mußten, der ſo weich und fein 
war, daß weder Schneereifen noch Schneeſchuhe uns trugen. 

Während im Innern des Fjords, wo wir uns aufgehalten 
hatten, ſchönes, faſt windſtilles Wetter geherrſcht hatte, war 
draußen in der Mündung in den letzten Tagen böiges Wetter 
mit Schneegeſtöber geweſen. Das Eis war daher teilweiſe weg⸗ 


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ln: 


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Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord nach dem Nordenſkiöldfjord. 151 


geweht, und obgleich die Hunde in den letzten Tagen von ihren 
vier getöteten Kameraden leben mußten, hatten wir doch nicht viel 
Schwierigkeiten, ſie jetzt, da die Bahn beſſer war, zum Laufen 
zu bringen. 

Während des letzten Teils der Reiſe erlebten wir ein kleines 
Abenteuer, das uns ein ordentliches Stück vorwärts brachte. Wir 
entdeckten plötzlich vor uns zwei weiße Geſtalten, die ſich lang⸗ 
ſam auf uns zu bewegten. Anfangs glaubten wir, es ſeien Bären, 
und wir waren ſchon ganz außer uns vor Freude über das Glück, 
das uns Hundefutter verſchaffen und unſere eigenen Fleiſchtöpfe 

füllen ſollte. 

Langſam bewegen ſich die großen weißen Tiere auf uns zu 
und von weitem nehmen ſie ſich ganz aus wie Bären, die ſich 
witternd einem Feind nähern. Kaum haben die Hunde ſie ent⸗ 
deckt, als ſie davonraſen; alle Müdigkeit iſt vergeſſen, und die 
Raubtierinſtinkte, die jo lange unterdrückt geweſen ſind, erwachen 
mit neuer ungeahnter Stärke. Wir fliegen über das Eis hin, wie 
wir es ſeit unſerer letzten Bärenjagd nicht erlebt haben. Leider 
löſt ſich das Ereignis bald in eine tiefe Enttäuſchung auf; es zeigt 
ſich nämlich, daß es zwei Wölfe ſind, die ſich auf das Eis hinaus 
verirrt haben. Als wir etwas näher herankamen, flüchteten ſie in 
derſelben Richtung, die auch wir einſchlagen müſſen. Und ſo kommt 
es, daß wir in voller Karriere den Reſt der Strecke bis zu unſerm 
Depot zurücklegen. 

Jetzt war die Spannung natürlich groß, da die Spuren zeigten, 
daß die Wölfe gerade von dem Depot kamen, wo wir außer 
unſern Kleidern auch einige Moſchusochſenſchultern, die unſere 
Hunde retten ſollten, zurückgelaſſen hatten. Aber glücklicherweiſe 
waren die ungebetenen Gäſte zu feig geweſen, ſich ganz bis an das 
Depot zu wagen; es lag ganz unberührt da, obgleich ſie nach 
den Spuren zu urteilen vom Fleiſchduft angelockt den ganzen 
Tag um das Depot herumgeſchlichen waren. 


Bei Dragon Point. 


24.—26. Mai. Die Bahn über den Fjord kann kaum ſchlechter 
werden, und dabei fängt es wieder an zu ſchneien. Die Spuren, 
denen wir nach Kap May haben folgen wollen und die den 


152 Fi.ünftes Kapitel, 


Hunden die Arbeit erleichtert haben würden, ſind jetzt ganz ver⸗ 
wiſcht. Die Lage iſt nicht ermutigend. Bei der Ankunft in der 
Nacht verfütterten wir das letzte Moſchusochſenfleiſch, und wir 
ſelber haben nur ſehr wenig Proviant, um unſer Leben 
zu friſten, ſofern wir nicht unſer Depot angreifen wollen, 
das uns jedoch vorläufig als Reſerve für die Rückreiſe heilig 
ſein muß. 

Koch begab ſich ſogleich nach unſerer Ankunft zur Ruhe. Er 
hatte den ganzen Tag hohes Fieber gehabt, das ihn noch weiter 
entkräftete. Er war ſchwach, fühlte ſich aber nach einem feſten und 
guten Schlaf am Abend etwas beſſer. So ſehr wir wünſchen, 
von dieſem Ort wegzukommen, der uns keine Lebensmöglichkeiten 
bietet, ſo wage ich doch nicht, die Reiſe fortzuſetzen, ſolange Koch 
ſo angegriffen iſt. Wir müſſen daher noch mehr Hunde ſchlachten 
und ruhig beſſere Zeiten abwarten. Der Schnee ſingt leiſe, aber 
ungemütlich auf unſerm Zelttuch. Er fällt in feinen, dichten 
Flocken, die mit jeder Stunde die Bahn ſchlechter machen. Aber 
die Stimmung, die dieſe Lage erzeugt, in der uns alles der Quere 
geht, findet ihren natürlichen Ausdruck in einem kleinen Vers 
von Sophus Clauſen: 

So iſt das Leben auf und ab, 
ſo iſt das Leben her und hin, 


wem das Geſchick nichts Beſſres gab, 
der trägt ſein Los mit leichtem Sinn. 


Auch den nächſten Tag müſſen wir liegenbleiben; es iſt ſchönes 
aufklarendes Wetter. Aber trotz wiederholter Streifzüge durch 
das Land finden wir kein Wild. Da auch keine Seehunde aufs 
Eis herauskriechen, müſſen wir heute drei arme magere Hunde 
erſchießen. Mit ſchwerem Herzen habe ich den alten „Miteg“ 
erſchoſſen, den „Eidervogel“, den älteſten in meinem Geſpann, 
ein fleißiges und geduldiges Tier, das zog, bis es ermattet 
in den Strängen taumelte. Er war vielleicht der treueſte 
meines Geſpannes und darum auch jetzt der verbrauchteſte, 
der nun mit ſeinem knochendürren Körper ſeine Kameraden ſät⸗ 
tigen mußte. 

Armer „Eidervogel“! 

Ich hätte ihm eine ſichere Rückkehr und ein ſorgenfreies Alter 
gewünſcht. Durch das Hallbecken, durch das vernichtende Preßeis 


Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord nach dem Nordenjliöldfjord, 153 


des Robeſonkanals, über den ſchwierigen grusdurchſetzten Eisfuß 
zwiſchen Kap Brevoort und Kap Bryant, und jetzt zuletzt durch 
den unergründlichen Schnee des Sherard-Osborne-Fiords hatte 
er ſich geduldig und unverdroſſen durchgearbeitet. Er kam nach 
Naresland und durfte ſich an leckerem Moſchusochſenfleiſch ſatt 
freſſen, aber dann mußte er wieder hinaus in die unwegſame 
Gegend, ein ſtummer, ſchweigender und williger Arbeiter im 
Dienſte der Forſchung. Immer fleißig, den geſtutzten Schwanz in 
die Höhe geſtreckt, zog er ſeinen Schlitten, und gerade jetzt, 
da ich im Begriff war, nach unſerm Fleiſchdepot überzuſetzen, 
erlag er der Krankheit — ein Opfer zum Vorteil für ſeine 
Kameraden. 

Schicken wir daher dieſe Worte dem alten Hunde in ſeinen 
ſchmerzloſen Tod nach. Eine Wincheſterkugel durchbohrte ſeine 
Schläfen. Ich habe ihn eben zerlegt und habe noch, während ich 
dies in mein Tagebuch kritzle, den Übelkeit erregenden Geruch 
an meinen Fingern. 


* * 
* 


Als ich kurz danach hinausgehe, um zu füttern, ſtellt ſich 
indeſſen heraus, daß der alte „Miteg“ als Futter gar nichts be⸗ 
deutete; es war abſolut kein Fleiſch an ihm. Er beſtand nur aus 
Knochen, Haut und Sehnen. Wir mußten daher noch zwei Hunde 
ſchlachten, im ganzen fünf, und den Reſt damit füttern, da auch 
die übrigen geſchlachteten Tiere ſo gut wie keinen Nahrungsſtoff 
enthielten. 

Es war eine ekelhafte Schinderarbeit, dieſe Tiere zu ſchlachten 
und zu zerlegen, nicht zum wenigſten deshalb, weil es tatſächlich 
gute Hunde waren, die noch manche Arbeit hätten leiſten können, 
wenn wir nur raſcher beſſere Jagdgebiete erreicht hätten. 

Am 26. abends hat ſich Kochs Zuſtand ſo weit gebeſſert, 
daß wir es wagen, den Fjord zu überſchreiten. Wir machen daher 
alles zum Aufbruch bereit und legen einen neuen Bericht in Beau⸗ 
monts Steinmal nieder. 

Koch darf ſeinen eigenen Schlitten nicht fahren; denn ich 
fürchte, daß ihm die Kräfte dazu noch fehlten. Es iſt eine harte, 
beſchwerliche Arbeit, die Hunde anzutreiben, und das kannibaliſche 
Futter, das wir ihnen bieten, bekommt ihnen ſo ſchlecht, daß ſie oft 


154 Fünftes Kapitel. 


brechen. Ajako und ich verteilen darum den Reſt von Kochs Ge⸗ 
ſpann zwiſchen uns. 

Die Hunde ſind ſo ſchlapp, daß wir kaum hoffen dürfen, auf 
den Schlitten ſitzen zu können; darum machte ſich Koch ein paar 
Stunden vor uns auf den Weg, um einen kleinen Vorſprung zu 
bekommen. Als dann Ajako und ich mit unſern melancholiſchen 
Hunden aufbrachen, verließen wir mit einer gewiſſen Erleichterung 
dieſes Vorgebirge, das jetzt von abgenagten Hundeknochen ſtinkt. 


Weißes Pfingſten. 


27. Mai. Langſam, recht langſam kämpften wir uns zwei Kilo⸗ 
meter in der Stunde vorwärts. Die Hunde laſſen die Schwänze 
hängen und ſind bereit, ſich hinzulegen, ſowie eine kleine Preſſung 
den Schlitten ein wenig aufhält. 

Die erſten vier Stunden ſchlichen wir wie die Schnecken in 
einem feuchten Nebel dahin, auf allen Seiten von einer weiß⸗ 
grauen Wand umgeben. Nichts iſt zu ſehen, nichts, wonach wir ſteuern 
können; wie Blinde tappen wir vorwärts in dem weißen Schlund, 
und die Einförmigkeit macht das Vorwärtskommen noch betrüb- 
licher. 

Aber auf einmal erſcheint die Sonne als eine große mee 
Kugel im Nebel. Im Zenit taucht der Himmel auf wie blaue 
Blumen, die ſich entfalten, und bricht durch die Wolken. Und nun 
verfolgt die Sonne ihren Sieg, die Wolkenränder erglühen, und 
bald erzittert die dichte Nebeldecke in den Strahlen des großen 
Erwärmers. 

Jetzt fangen auch die weißen Gipfel auf dem Kap⸗May⸗ RN 
vor uns an durchzubrechen, zuerſt der kegelförmige Fuſijama: der 
Mount Hooker, und dann die andern Berge Beaumonts, der 
Mount Coppinger und der Farragut, noch mit dem Fuß im Nebel 
watend. Bald leuchtet das Eis in ganz durchſichtigen Silber⸗ 
bändern, die gleich ſchmalen Rauchſtreifen über dem Lande liegen 
und gutes Wetter verheißen. 

So trat im Sherard⸗-Osborne⸗Fjord das prächtigſte Pfingſt⸗ 
wetter mit klarem Himmel und ruhiger Wärme ein. 

Um 5 Uhr mußten wir haltmachen, da die Hunde nicht mehr 
konnten. Wir ſchlugen das Lager auf, heißten die Flagge und 


Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord nach dem Nordenſtiöldfjord. 155 


hielten Feiertag, ein feſtliches Pfingſten mit der feierlichen 
Stimmung, die die Berge und der weiße Schnee über uns 
ausbreitete. 

Es ſind 10 Grad Kälte, aber ſie kommen uns vor wie einer 
der heißeſten Auguſttage in Dänemark, und mit der Wärme in 
unſern Herzen, die all die mächtige Schönheit in uns hervorruft, 
feiern wir Pfingſten nach unſern beſcheidenen Mitteln. 

Wir kochen Tee, den wir zu Drops trinken, und mit dem Ge⸗ 
ſchmack von Johannisbeeren und Kirſchen im Munde denken wir 
unwillkürlich an die weit entfernte Heimat, an die Pfarrhöfe in 
Seeland, die in dieſem Augenblick wie Inſeln zwiſchen dem Grün 
der Bäume und den blühenden Obſtbäumen liegen. Wir riechen den 
Duft der Blumen, wir hören den Geſang der Lerchen und Nachti⸗ 
gallen, das behagliche Brüllen der Kühe auf dem Felde und das 
Lachen pfingſtfroher Menſchen in ſchattigen Buchenwäldern. Wir, 
die einſamen Forſchungswanderer, weltenfern von Angehörigen und 
Freunden, in einem Meer von Licht, das die Augen blendet, 
mitten in dem winterweißen arktiſchen Frühjahr, friſch gefallenen 
Schnee vor unſern Füßen, hinter uns den ſonnenvergoldeten Hori⸗ 
zont der Gletſcher über den braunroten Bergen und das kalte, 
erſtarrte Meer des Nordpols vor unſern Augen. 

Aber wir feiern den Tag, und voll Sehnſucht nach dem 
fruchtbaren Süden, der ſo oft hier oben auf dem Scheitel der 
Erde unſern Gedanken Nahrung gegeben hat, eſſen wir, materiell 
geſinnt wie immer, eine Doſe Mauna Loa, die einzige, die wir 
haben, eingekocht auf Hawai und exportiert aus Honolulu, und 
während wir die dunkeläugigen, blumengeſchmückten Mädchen, die 
die Früchte gepflückt haben, vor uns ſehen, iſt es uns, als ließen 
wir alle Grenzen hinter uns und eroberten die Welt! 

Hawai und das Polarmeer auf 82 Grad nördlicher Breite! 

Und dann kochen wir Moſchusochſenfleiſch aus Naresland, 
trinken nachdem Tee vom Kongo, Kaffee aus Java und rauchen 
Tabak aus Braſilien. Ein feſtliches Pfingſten! 


Nach Kap Wohlgemuth. 


Trotz aller Energie gelingt es uns nicht, die 55 Kilometer von 
Dragon Point bis zur Depotinſel in zwei Tagen zurückzulegen. Wir 
müſſen langſam reiſen und beſtändig auf den kranken Koch 


156 Fi.ünftes Kapitel. 


Rückſicht nehmen, der noch ſo angegriffen iſt, daß er keine langen 
Strecken hintereinander zurücklegen kann. Er ſcheint die reine 
Fleiſchkoſt nicht zu vertragen, auf die wir hier angewieſen ſind. 
Auf dem Marſch kann ihn Müdigkeit und plötzlicher Schwindel über⸗ 
fallen, ſo daß er ſich legen muß, um nicht zu ſtürzen. Glücklicher⸗ 
weiſe nimmt er ſeine Krankheit nicht tragiſch und leiſtet dank 
ſeiner jungen kräftigen Konſtitution ſo zähen Widerſtand, daß 
wir nicht nennenswert aufgehalten werden. Er ſchlägt jedes An⸗ 
gebot, beim Mac⸗Millan⸗Tal haltzumachen, ab, und da er ſelbſt 
meint, Kraft genug zur Fortſetzung der Reiſe zu haben, behelfen 
wir uns mit möglichſt kurzen Raſten, da die Jagdverhältniſſe uns 
zwingen, ſo raſch es geht weiterzureiſen. 

Man muß ſagen, daß die Jagd hier glänzend geweſen iſt. 
Aber wir dürfen uns durchaus nicht von dem guten Reſultat 
irreführen laſſen. Denn wenn man es recht betrachtet, iſt das 
eisfreie Umland nur klein, und die nächſte Umgebung kann daher 
nur eine ſehr begrenzte Zahl Großwild enthalten, ſo daß wir uns 
davor hüten müſſen, das Terrain vollſtändig auszujagen. Aller 
Wahrſcheinlichkeit nach werden wir einmal hierher zurückkehren, 
und da könnte es uns teuer zu ſtehen kommen, wenn wir jetzt auf 
der Reiſe in den Tag hineinlebten, ohne an die Zukunft zu denken. 

Gleich hinter Kap May ſahen wir ſechs Haſen, von denen wir 
zwei erlegten. Eine ſtarke Taſſe Tee wurde bereitet, um uns 
Kraft zu ſchaffen für das letzte Stück Weg nach der kleinen Inſel, 
wo wir zwei Fütterungen Moſchusochſenfleiſch für jedes Geſpann 
deponiert hatten. Haſen ſcheint es hier eine Menge zu geben. 
Aber wir dürfen auf dieſes Wild nicht zu ſtark rechnen. Das Tier 
iſt zu klein und außerdem zu knochig und zu wenig ausgiebig, um 
ſich als Reiſeproviant für eine Inlandreiſe zu eignen. | 


* * 
* 


Die Hunde wittern auf weite Entfernung unſer Fleiſchdepot, 
und wir beſchließen, unſere Reiſe mit einem feſtlichen Galopp, der 
anregend wirkt, ſelbſt wenn man weiß, daß die Veranlaſſung dazu 
künſtlich iſt. Einen Augenblick erfaßt uns eine begreifliche Nervo⸗ 
ſität, als wir entdecken, daß Fuchsſpuren zum Depot führen. 
Glücklicherweiſe iſt Reineke jedoch zu vorſichtig geweſen oder nicht 
hungrig genug, um ſich dem Fleiſch zu nähern, und wir fanden es 


Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord nach dem Nordenſkiöldfjord. 157 


ganz unberührt. Die Reiſe kann daher mit einer wirklich ſoliden 
Fütterung ſchließen, die ebenſo wohlverdient wie notwendig iſt. 

Bei unſerm alten Zeltplatz finden wir einen Haſen, der am 
Ende einer in den Schnee geſteckten Stange baumelt. Wir laufen 
hin und unterſuchen neugierig, ob ſich etwa noch andere Herrlich⸗ 
keiten in einer Blechbüchſe verbergen, die an der gleichen Stelle 
angebracht iſt, und wir finden hier folgenden langen Brief von 
Dr. Wulff, der launig die Erlebniſſe in der Zeit unſerer Trennung 
ſchildert: 


1. Lager bei der Inſel nördlich vom Mac⸗Millan⸗Tal, 18. Mai 1917. 
2 Bruder! 
Deine Abteilung ſtartete 8,30 Uhr vorm. Ich ging 7 Stunden auf die 
Jagd ohne Reſultat. Kam wieder und fand im Innern des Zeltes ein Chaos 
und ein Durcheinander von Haſenwolle und Fleiſchfetzen. Der zurückgelaſſene 
Satanshund hatte den Zugriemen durchgebiſſen und ſich an zwei von meinen 
ſchönen Haſen gütlich getan. Selbſtverſtändlich Prügel, aber in meinem Herzen 
muß ich die Unternehmungsluſt des Hundes bewundern. 

Da ich um 8 Uhr abends eine Temperatur von 16,2 Grad unter Null 
notierte, kochte ich Hafergrütze und kroch in den Schlafſack, den Windſchutz des 

Zeltes und das herrliche Klima des Schlafſackes ſegnend. Wollte eben allen 
Sorgen der Welt entrückt einſchlafen, da ritſch, ratſch zerreißt das Zelt kreuz 
und quer, und ich liege zwiſchen lauter flatternden Fetzen wie in einem hava⸗ 
rierten Zeppelin, von Gott und allen guten Geiſtern verlaſſen an dem öden 
Strand der Lincolnſee. Es war Harrigan, der wiederkam und in wilder 
Karriere das Zelt über den Haufen fuhr. Es koſtete ihn eine gute Stunde 
Flickens in der Kälte, bis das Zelt wieder Form bekommen hatte. Eine Taſſe 
Kaffee beſchloß das Abenteuer, und dann kochten wir das, was der Hund von 
dem letzten Haſen übriggelaſſen hatte. 

19. Mai. Stilles, ſonniges Wetter. Ich 8 Stunden 15 der Jagd im Tal, 
zwei Haſen, Schneehühner, intereſſante pflanzenbiologiſche Temperaturreihen. 
Harrigan blieb den ganzen Tag im Zelt. Gegen Abend ziemlich ſtarker Süd⸗ 
oſtwind mit Schneetreiben und 17 Grad Kälte. 

20. Mai. Das Tal im Südweſten von Kap Wohlgemuth ſcheint, bei klarem 

Wetter im Zeiß⸗Feldſtecher geſehen, von der Bergſeite her ganz mit Gletſchern er⸗ 
füllt zu ſein. — Die Bahn jetzt nach dem Sturm ſehr viel beſſer. Harrigan 
reiſte heute um 1 Uhr nachm. in den Nares⸗Inlet, um Moſchusochſenfleiſch zu holen. 

21. Mai. Petroleum und Zucker zu Ende. Benutze das trockene Wetter, 
um Kamiker und Schlafſack zu trocknen. Der letztere verliert die Haare ſtark. — 
Harrigan kam um 6 Uhr nachm. mit einem Schlitten voller Fleiſch zurück. Hatte 
im Fernrohr drei weitere Moſchusochſen geſehen, die wir wahrſcheinlich expedieren 
werden, wenn der Reſt des Fleiſches geholt wird. 

Ich ging um 10 Uhr nachm. auf die Jagd in das Tal. Kehrte zum Zelt zurück. 

22. Mai. 7,30 Uhr vorm. 7 Haſen und 5 Schneehühner. Zu meiner 


158 Fünftes Kapitel. 


Verwunderung find Hendrik und der Bootsmann noch nicht zurück. Von den 7 Hafen 
erlegte ich 4 Stück auf einmal: Pang, pang, 2 auf jeden Schuß. Ich habe 
ſogleich die Körpertemperatur von allen Haſen und Schneehühnern gemeſſen und 
intereſſante Reſultate erhalten. ; 

Ich ging um 11 Uhr abends am 22. Mai mit Harrigan auf die Jagd. 
Schlechtes Reſultat. Er nichts, ich 2 Schneehühner. Kamen am 23. Mai 
3 Uhr vorm. wieder zum Lager. Hendrik und der Bootsmann jetzt den 6. Tag 
abweſend, fängt an unheimlich zu werden. Wie machen ſie es mit dem Hunde⸗ 
futter? Harrigan beunruhigt ſich ganz und gar nicht, ſondern ſagt nur, ſie 
kommen „by and by“, und damit tröſten wir uns und fluchen über unſere un⸗ 
brauchbaren Primuſſe. i 

Hendrik und der Bootsmann kamen um 10 Uhr vorm. an. Hatten vier 
Tage zum Rückweg vom Depot gebraucht und jeder einen Hund verloren. Sie 
hatten einen Teil des Gepäcks ein Stück im Weſten draußen gelaſſen, das 
Harrigan jetzt holen ſoll. 

24. Mai. Geſtern den ganzen Tag Schneefall und Sieſta im Zelt. Heute 
ſchöner Sonnenſchein. Gegen Abend wieder Schneefall. Harrigan hat ſich auf⸗ 
gemacht, um das Gepäck zu holen, das Hendrik und der Bootsmann öſtlich von 
Kap May zurückgelaſſen hatten. Der Bootsmann begleitet ihn, um zu jagen. 

25. Mai. Sie kamen um 7 Uhr vorm. mit 5 Haſen wieder. Die ganze 
Nacht hat es geſchneit. 10 Grad Kälte. Leichter Schneefall den ganzen Tag. 
Jetzt um 5 Uhr nachm. teilt mir Hendrik mit, daß wir abends nach Kap Wohl⸗ 
gemuth aufbrechen ſollen. Bei Kochs altem Lagerplatz liegen nur noch zwei 
Fleiſchſtücke leine Hunderation), die es ſich nicht lohnt zu holen, und die drei 
Moſchusochſen, die Harrigan von dort aus mit dem Feldſtecher geſehen hatte, 
befinden ſich ſo weit im Fjord drin, daß wir ſie in Frieden laſſen wollen. Wir 
ſetzen alſo die Jagd auf der andern Seite des Fjords fort, und ich lege einen 
Brief an Dich an der Landſpitze bei Kap Wohlgemuth nieder. Harrigans Hunde 
ſind in gutem Zuſtand, aber die andern ſind ſehr mager. Ich laſſe Euch 4 Haſen 
zurück. 5 

Cheer up, boys, und kommt bald nach. 

Wulff. 
Bruder! 


26. Mai. Wir hatten die Schlitten gepackt und waren 10 Uhr nachm. 
reiſefertig, als ſtarker Nebel uns einhüllte und die Reiſe unmöglich machte. 
Der Nebel war den ganzen Tag ſo dicht, daß wir kaum die Hunde ſehen konnten. 
Von den vier Haſen, die ich für Euch bereitgelegt hatte, haben wir drei heute 
als Hundefutter verwenden müſſen. Auch der Bootsmann hat mit einigen Haſen 
gefüttert und Harrigan mit dem letzten Moſchusochſenfleiſch. 

27. Mai. Der Pfingſttag beginnt mit demſelben Nebel und 15,5 Grad unter 
Null. Unter dieſen Umſtänden können wir nicht mehr daran denken, mit allem 
Gepäck weiter als nach Kap Wohlgemuth zu kommen, um uns dort ſofort wieder 
auf die Jagd zu begeben. Wie weit Ihr unter dieſen Umſtänden nachkommen 
wollt, oder das Sichere dem Unſichern vorziehen und das Hundefutter (die zwei 
Fleiſchſtücke), die bei Kochs Lager im Nares⸗Inlet liegen, verwenden und die 


* 
EN 


Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord nach dem Nordenffidldfjord. 159 


drei Moſchusochſen ſuchen wollt, die Harrigan weiter im Innern des Fjords 
geſehen hat, mußt Du ſelbſt entſcheiden. Die Bahn nach Kochs Lager iſt nicht 
die beſte. 

Es iſt mir unter anderem gelungen, ein ſehr hübſches Pflanzenverzeichnis 
von der Mündung des Mac⸗Millan⸗Tals aufzuſtellen und die Vegetations⸗ 
verhältniſſe dort zu beſchreiben. Aber wo iſt der Frühling und der Sommer? 

Bereit zum Aufbruch 2 Uhr morgens. Hei! Wulff. 


Schon am folgenden Tag, am 29. Mai, gelangen wir nach 
Kap Wohlgemuth durch denſelben ſchweren Schnee, den wir bisher 
in den Fjorden angetroffen haben. Es ſcheinen hier viel Nieder- 
ſchläge zu herrſchen, aber nur ſelten Wind. Die Spuren unſerer 
Kameraden ſind für uns eine große Hilfe, aber trotzdem brauchen 
wir elf Stunden, um die 29 Kilometer zurückzulegen. Hier bei Kap 
Wohlgemuth feiern wir den humorvollen Namen, indem wir 
unſern Hunden das letzte Fleiſch geben, das wir beſitzen. Auf 
einem kleinen Schneeſchuhausflug finden wir an einem Schnee⸗ 
ſchuhſtock einen neuen Brief von Wulff. 


2. 27. Mai (Pfingſtſonntag), Kap Wohlgemuth. 
Hei, Chef! 

Starteten vom alten Lager auf der kleinen Inſel heute morgen 2,30 Uhr 
vorm. bei ſtrahlendem Sonnenſchein. ½—3 Fuß lockerer, hinderlicher Schnee. 
Ich ging den ganzen Tag auf Schneereifen voraus, und wir erreichten Kap 
Wohlgemuth 2,30 Uhr nachm., nach genau 12 Stunden, alſo müde. Es ſah 
äußerſt kritiſch für uns aus. Der Bootsmann und Hendrik mußten jeder einen 
Hund, der nicht mehr konnte, auf dem Eiſe zurücklaſſen. Ob ſie ſterben oder 
ſich wieder zum Lager finden, iſt ungewiß. Wir haben keine Spur von Hunde- 
futter mehr. Die Hunde ſind faſt am Ende und mager wie lebende Skelette. 

500 Meter vom Strand bei Kap Wohlgemuth entfernt, entdecke ich in etwa 
2 Kilometer Abſtand ganz oben auf dem Berg ſüdlich des Kaps einen einſamen 
Moſchusochſen. Du kannſt Dir denken, wie das unſere Gemüter belebte. Raſch 
zum Strand, Zelt aufgeſchlagen und Tee und Haſenfleiſch gekocht. Nach zwölf⸗ 
ſtündiger Schneepromenade war ich müde und blieb im Zelt. Die drei andern 
ſtiegen hinauf und erlegten den Moſchusochſen, eine Kuh, die der Bootsmann 
ſchoß. Es war ſein erſter Moſchusochſe. Hundefütterung. Harrigan lud uns 
zum Kaffee ein, den er von Thule mitgenommen hatte. Die beiden zurück⸗ 
gebliebenen Hunde kommen im Lager an. 


28. Mai (zweiter Pfingſtfeiertag). 2 Uhr nachm. 
Trotz Wind und Schneegeſtöber verlegen wir das Lager ein Stück nach 
Oſten um das Kap herum, um in einem Tal, das gleich öſtlich von dem Vor⸗ 
gebirge zu liegen ſcheint, auf die Jagd zu gehen. 
Wulff. 


160 Fünftes Kapitel. 


Am nächſten Tag um die Mittagsſtunde treffen wir bei den 
Kameraden ein, die uns mit ſtürmiſchen Willkommenxrufen be⸗ 
grüßen. Sie haben wieder ſechs Moſchusochſen erlegt, die uns wie 
eine Gabe des Himmels für unſere hungrigen Hunde erſcheinen. 

Harrigan hat geſtern einen Jagdausflug in das Innere des 
Nordenſkiöldfjords unternommen, iſt aber raſch umgekehrt, da 
er ſich darüber klar war, daß das Land kein gutes Jagdgebiet 
ſein konnte. Überall ſah er hohe, ſenkrechte Felswände; die 
wenigen Schluchten, die quer zu den großen kompakten Bergketten 
verliefen, waren Steinwüſten ohne Vegetation. Er iſt nicht weit 
ins Innere gedrungen und wir, die wir uns ſo lange wie möglich 
an die auf den alten Karten verzeichneten Ländergebiete klammern 
müſſen, hoffen, daß der Fjord ſo tief ſein möchte, daß wir in 
ſeinem Innern Land mit Wild finden. 

Eins mußte jedoch gleich entſchieden werden. Nach dem ur⸗ 
ſprünglichen Plan ſollte ein feſtes Hauptlager am Ende des 
Nordenſkiöldfjords errichtet werden, und hier ſollte der Botaniker 
der Expedition in aller Ruhe ſeine Beobachtungen machen, wäh⸗ 
rend wir andern herumſtreiften. Mit Wulff ſollten Hendrik Olſen, 
Harrigan und der Bootsmann zurückbleiben und durch die Jagd 
Vorräte für unſere Rückreiſe beſchaffen. Koch, Ajako und 
ich dagegen wollten nach dem Wildland und dem Nyeboe⸗ 
gletſcher hinüber, den Independencefjord überſchreiten, nördlich um 
Pearyland herumgehen und dem Steinmal von Mylius Erichſen 
bei Kap Glacier, dem von Koch bei Kap Bridgman und Pearys 
Steinmal bei Kap Morris Jeſup einen Beſuch abſtatten. Nach 
reichlich anderthalb Monaten ſollte die Expedition ſich wieder an 
der Mündung des Nordenſkiöldfjords verſammeln und gemeinſam 
die Rückreiſe antreten. 

Aber nach Inukitſoqs Schlittenreiſe in den Fjord muß der Plan 
mit der botaniſchen Station aufgegeben werden, und wir be⸗ 
ſchließen, die Expedition in zwei Abteilungen mit folgenden Auf⸗ 
gaben zu teilen: 

Eine Jagdabteilung ſoll ſogleich nach Norden nach dem De⸗ 
Long⸗Fiord geſandt werden, um in der Gegend nördlich von dort 
bis Kap Morris Jeſup Jagd auf Moſchusochſen zu treiben. Dieſer 
Abteilung ſchließt ſich Dr. Wulff an, um ſoviel wie möglich von 
der Küſte zu Geſicht zu bekommen. 


"Buvyua quuyungdinglogp un 


11 


— en 


* 7 


* 


Rasmuſſen. 


In glattem Trab vorwärts. 


Bom Sherard-Osborne-Fjord nach dem Nordenſkiöldfjord. 161 


Dagegen wollen Koch, Ajako und ich uns ans Ende des 
Nordenſkiöldfjords begeben, eine Kartenaufnahme von ihm 
machen und dann über das Inlandeis die Jagdgebiete bei dem 
Mohntal aufſuchen; von dort wollen wir durch den Independence⸗ 
fjord im Norden um Pearyland herumgehen. 

Alle dieſe Pläne wurden in der beſten Laune erörtert, wäh⸗ 
rend die Kameraden uns, den Neuangekommenen, mit allen mög⸗ 
lichen Delikateſſen von den friſch erlegten Tieren aufwarteten. 
Der Geſprächsſtoff war nach der Trennung der letzten zwölf Tage 
unerſchöpflich, und da wir ſchon am nächſten Morgen wieder jeder 
nach ſeiner eigenen Richtung aufbrechen ſollten, lag über dieſem 
Zuſammenſein eine Herzlichkeit, die mir unvergeßlich ſein wird. 


In den Nordenſkiöldfiord. — Müde Hunde, keine Jagd. 

Die Lage war ernſt, ſofern die Jagd hier verſagen ſollte. 
Aber noch war es Zeit, die Flinte ins Korn zu werfen und die 
Rückkehr anzutreten. Denn ſelbſt wenn eine Möglichkeit beſtand, 
daß die Seehundjagd uns ſpäter Fleiſch verſchaffen könnte, ſo 
waren dieſe Ausſichten mitten in dem alten Polareis ſo unſicher, 
daß man nicht unbedingt mit einem glücklichen Ausfall rechnen 
konnte. Sollten wir uns aber jetzt ſchon rückwärts retten, ſo müßte 
es bei halbverrichteter Arbeit geſchehen, und das wollte keiner 
von uns. — Bei der Abreiſe war uns allen klar geweſen, was 
uns bevorſtand, und die Lage war jetzt bereits ſo, daß unſer 
Leben der Einſatz geworden war für die Aufgaben, die wir löſen 
wollten. Aber zu meiner großen Freude war nicht ein einziger 
unter den Kameraden, weder unter den Männern der Wiſſen⸗ 
ſchaft noch unter den Eskimos, der einen Augenblick im Zweifel 
war, was wir zu tun hatten. Alle waren wir einig, die Expedition 
trotz allem fortzuſetzen, und nicht einer wollte nachlaſſen, ehe wir 
die Verſprechen eingelöſt hatten, die wir ſeinerzeit gegeben hatten, 
als wir Dänemark verließen. 


* * 
* 


Durch ein Meter tiefen, weichen Schnee fuhren wir langſam 
in den Fjord hinein, während unſere Kameraden den Kurs nach 
Kap Salor nahmen, wo ſie ein Depot aus Pearys Zeit zu finden 
hofften. 


Rasmuſſen. | 11 


162 Fünftes Kapitel. 


Es gelang uns nicht, weiter als 17 Kilometer in den Fjord 
5 Ander: Hier ſchlugen wir früh am Morgen unſer Lager vor 
einer breiten Schlucht auf, die ſich 
ins Land hineinzog, und Ajako be⸗ 
gab ſich auf die Suche nach Moſchus⸗ 
ochſen. Acht Stunden trabte er durch 
49 das Land; aber alles, was er fab, 
waren Steine und Gletſcher auf allen 
Berggipfeln. Keine Spur von Mo⸗ 

en ſchusochſen oder Hajen war zu jehen, 

Lemming, an einer und auch Schneehühner ſchienen in dieſer 

Polarweide knappernd. Wüſte nicht zu leben. 

Nachdem er uns dieſe entmutigende Botſchaft gebracht hatte, 
legte ſich der Nebel dicht über Berge und Eis, und wir konnten 
nichts anderes tun, als zu warten, zu warten mit ſehr knappen. 
Rationen für uns ſelbſt und ohne Futter für die Hunde. — Auf 
dem Eis in der Nähe des Zeltes fand ich einen toten Lemming. 
Er war ganz allein durch den tiefen Schnee von der andern Seite 
des Fjords hergekommen. Das energiſche, hartnäckige kleine Tier 
ſchien durch den Nebel gewandert zu ſein; es war bisweilen im. 
Kreiſe herumgegangen und hatte ſich in unregelmäßigen Zickzack⸗ 
linien bewegt; es hatte ſich augenſcheinlich verirrt. Es war beinahe 
unfaßlich, wie dieſes kleine Nagetier, das nicht viel größer iſt als 
ein ausgewachſener Schneeſperling, es fertiggebracht hatte, ſich 
durch den tiefen Schnee zu arbeiten, deſſen oberſte Schicht ſo weich 
war, daß das Tier mit ſeinem kleinen ſehnigen Körper eine tiefe 
und ſicher außerordentlich anſtrengende Furche hat preſſen müſſen. 
All ſeine Pfoten waren abgeſchunden und ſo zerriſſen, daß die 
Zehen mit dem geronne⸗ 
nen Blute zuſammengefroren 
waren. Sicher hat ſich der 
Schnee ebenſo, wie es bei 

unſern Hunden geſchieht, an 

Zu, den Haaren zzwiſchen feinen 

E Ditlevſen Zehen feſtgeſetzt, und das 

Lemming. Tierchen hat ſo energiſch ver⸗ 

ſucht, die Zehen mit den Zähnen zu reinigen, daß Haut und 
Haare dabei abgegangen ſind. An dem einen Fuß befindet ſich 


— Hunden, id mit ſie⸗ 


Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord nach dem Nordenſkiöldfjord. 163 


eine tiefe Wunde, die es ſich nur ſelbſt zugefügt haben kann, und 
der Blutverluſt, den es dabei erlitten hat, iſt ſicher ſchuld an 
ſeinem Tod geweſen. 

Die Eskimos, die die ungewöhnlichen Eigenſchaften des Lem⸗ 
mings, ſeinen Mut, ſeine Ausdauer und Hartnäckigkeit bewundern, 
ſagen von ihm, er habe die Bruſt eines Menſchen, den Bart eines 
Seehundes, die Füße eines Bären und die Zähne und den 
Schwanz eines Haſen — eine Beſchreibung, die ſein Außeres 
treffend charakteriſiert. 


* * 
* 


Am 2. Juni mußten wir wieder vier Hunde ſchlachten, da wir 
noch immer kein Futter haben beſchaffen können. Ajako und Koch 
fahren jetzt mit zehn 


ben; obgleich dies 
noch eine ſchöne Zahl 
iſt, dürfen wir doch 
zunächſt nicht mehr 
von ihnen töten; denn 
wollen wir mit unſerm 
Hundefutter und mit E. Ditlevſen 
unſern Sammlungen Polarfuchs mit einem erbeuteten Lemming. 
auf der Heimreiſe 

fahren und nicht laufen, ſo möchten wir vier Schlitten mit je ſieben 
Hunden als Geſpanne haben. 

Die ſechs Moſchusochſen, die an der Mündung des Fjords 
erlegt worden waren, reichten für unſere 44 Hunde nur für drei 
Fütterungen für jedes Geſpann. Wir haben es daher vorgezogen, 
zwei Fütterungen an dem alten Lagerplatz zurückzulaſſen, um nicht 
ganz mittellos dazuſtehen, wenn wir ſpäter zurückkehren, um Chip⸗ 
Inlet zu überſchreiten. 

Trotz des ungünſtigen, unſichtigen Wetters, das wir gehabt 
haben, iſt es uns doch gelungen, den Nordenſkiöldfjord zu unter⸗ 
ſuchen, da ein friiher Wind ab und zu die Wolken beiſeite⸗ 
geſchoben und uns die notwendige Ausſicht gewährt hat. Die 
Natur entſpricht hier ganz und gar dem Bild, das wir vom Vik⸗ 
toriafjord kennen. Das ganze Umland iſt bis auf einen ganz 

11* 


164 Fünftes Kapitel. 


ſchmalen und nackten Küſtenſaum mit Gletſchern bedeckt, und der 
Fjord, der in dem breiten Inlandeis endet, hinter welchem Nuna⸗ 
take auftauchen, iſt kaum mehr als 20 Kilometer lang. Die Aus⸗ 
dehnung iſt in gewiſſem Grade davon abhängig, wo man das 
eigentliche Meereis aufhören und das ſchwimmende Inlandeis 
anfangen laſſen will. Etwa fünf bis ſechs Kilometer fjordwärts 
von unſerm Lager ſchiebt ſich eine große Eisbergbank querüber, 
ſo daß die Paſſage vollkommen verſperrt iſt. Da dieſe Eisberge 
in einer Höhe von 3 bis 6 Meter bis dicht an den Haupt⸗ 
gletſcher herangehen, mit tiefem Schnee in allen Spalten, und 
augenſcheinlich von dieſem bewegt werden, ganz wie das ſchwim⸗ 
mende Inlandeis im Viktoriafjord, ſo kann man behaupten, daß 
der eigentliche Fjord hier endet. Dieſe Eisberge machen ein. 
weiteres Vorwärtsdringen unmöglich. Es gibt alſo von hier 
keinen Aufſtieg zum Inlandeis, und es iſt ſelbſtverſtändlich, 
daß wir jeden Gedanken, nach dem Independencefjord durchzu⸗ 
dringen, aufgeben müſſen. Es gibt weder einen Weg noch 9 
wir Proviant dafür. 

Sobald Chip⸗Inlet unterſucht iſt, müſſen wir fo raſch wie mög⸗ 
lich den Kameraden nacheilen und uns ſpäter, wenn der De-Long- 
Fiord aufgenommen iſt, nach Süden zu den Seehunden bei 
Dragon Point begeben. 

Unſere geographiſchen Entdeckungen ſind bis jetzt außer⸗ 
ordentlich intereſſant geweſen. Schon jetzt wird es notwendig ſein, 
das Verhältnis zwiſchen Inlandeis und Küſtenland in dem Teil 
von Grönland, den wir bereiſt haben, in ganz anderer Weiſe an⸗ 
zugeben. Wir finden alles in weit größerem Umfang als erwartet 
vereiſt. Aber wenn es auch ſelbſtverſtändlich die Aufgabe jeder 
Expedition iſt, ſoviel Neues wie möglich nach Hauſe zu bringen, 
ſo iſt doch nicht zu leugnen, daß wir um unſerer eigenen Sicherheit 
willen gewünſcht hätten, weniger Korrekturen anbringen zu 
müſſen in all dem ſchönen ausgedehnten Jagdgebiet, das bisher 
auf allen amerikaniſchen Karten verzeichnet geweſen iſt. 


sk * 
* 


Wieder ſehen wir heute einen Lemming, der eine Fjord⸗ 
wanderung verſucht. Er kommt aus der Schlucht neben unſerm 
Lager und nimmt unverzagt den Kurs querüber, dort wo der 


Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord nach dem Nordenſkiöldfjord. 165 


Fjord am breiteſten iſt. Im Verhältnis zu feiner Größe ſchießt 
er mit ſchwindelnder Eile vorwärts und ſchwimmt in ſeltſamen 
Sprüngen durch den Schnee. Oft verſchwindet er ganz in einem 
Tunnel, um weiter vorn aufzutauchen, wie ein Seehund, der Atem 
ſchöpft. — In ſeiner Winzigkeit wirkt er in den gewaltigen Um⸗ 
gebungen, die ihn verſchlingen, mit ſeiner fabelhaften Energie ver⸗ 
blüffend. Einer unſerer Hunde wittert ihn und fährt mit ſolchem 
Ungeſtüm auf ihn los, daß die Stränge zerreißen. Im ſelben 
Augenblick ſteigt eine Schneewolke von der Spur des kleinen 
Wanderers auf, noch ein paar Sekunden kämpft ſich der Lemming 
auf ſeinem Weg vorwärts, dann fühlt er ſich plötzlich hoch in die 
Luft gehoben und verſchwindet noch lebend im Rachen des Hundes. 


E. Ditlevſen 
Lemming, Futter eintragend. 


Sechſtes Kapitel. 
Das Lager am Eulenneſt. 


Die erſte Wanderung in Pearyland. 


4. Juni. Wir hatten keine Wahl. Wir mußten den Norden⸗ 
ſkiöldfjord jo raſch wie möglich verlaſſen. Eine Jagdtour in das 
Gebiet, wo Hendrik und der Bootsmann ihre Moſchusochſen ge⸗ 
ſchoſſen hatten, ergab ebenfalls kein Reſultat. Wir lernten nur 
eine Steinwüſte kennen, die kein Fleiſch für den Kochtopf verhieß, 
und gleich hinter den Küſtenbergen lag das Inlandeis. Da das 
Wetter ſich aufzuklären ſchien, entſchloß ich mich, Chip⸗Inlet zu 
beſuchen; der Fjord ſollte kartographiſch aufgenommen werden; 
dies geſchah am beſten auf der Ausreiſe. Das Land ſah von fern 
gut aus; die Berge hatten ſanfte Abhänge, und viele talähnlide 
Schluchten ſchienen das Land zu durchſchneiden. Mit wenig Hoff⸗ 
nung im Herzen machten wir uns auf den Weg. Der Nebel hielt 
ſich hartnäckig während der ganzen Tagereiſe, bis wir ganz nahe 
am Land waren. Da begann der Himmel ſich langſam aufzuklären 
und durch die Wolken zu brechen, mit reichen Verheißungen für 
den Tag, von dem wir uns ſoviel verſprachen. Schließlich be⸗ 
ſeitigte am Vormittag der Sonnenſchein den feuchten Nebel. 

Ein kaltes, ſchneeweißes Bergland lag in voller Winterkleidung 
vor uns, in ſtrahlender Schönheit, mit kegelförmigen Bergen, 
großen Schluchten und einem ſanft abfallenden Vorland. Kein 
Gletſcher bedeckte das Land; es war endlich ein Stück des erſehnten 
Pearylands und ſchien gute Jagd zu verſprechen. 

Aber es koſtete Zeit, dorthin zu gelangen. Fortwährend 
mußten zwei Mann neben den Schlitten und einer vorausgehen; 
ſo dauerte es zwölf Stunden, ehe wir die 31 Kilometer bis zu 
einem Punkt, der zum Lagern eingerichtet war, zurückgelegt hatten. 


ER 


Das Lager am Eulenneſt. 167 


Wir kochten uns einen Haferbrei und eine Taſſe Tee; dann machten 

ſich Ajako und ich ſogleich ins Land hinein auf. Keiner von uns 
konnte mit Rückſicht auf unſere hungrigen Hunde ſeine eigene 
Müdigkeit beachten. Auf Schneereifen, jeder ſeinen Hund an der 
Seite, ſtiegen wir die Hänge hinan. 

Man ſah ſogleich, daß wir in Pearyland waren; denn jo, 
fruchtbare Oaſen hatten wir bisher noch nicht erblickt. An vielen 
Stellen wuchs dichtes, wohlentwickeltes Gras, nicht nur die elenden, 
mageren Büſchel, die wir zu ſehen gewöhnt waren; überall kräftige 
Polarweide, Mohn, Steinbrech und Kaſſiope, alles jedoch noch 
winterwelk. Brennmaterial war jedenfalls genug da, wenn wir 
nur etwas zu kochen fanden. Zu Beginn der Tour ſchoſſen wir ein 
paar Schneehühner, die wir den beiden hungrigen Hunden gaben, 
die uns bei der Moſchusochſenjagd helfen ſollten. Wir gingen die 
Berglehne entlang fjordwärts und fanden bald eine Menge Exkre⸗ 
mente von Moſchusochſen, aber alle ſehr alt. Vermutlich iſt zu 

dieſer Jahreszeit hier zuviel Schnee. Schneehühner ſahen wir in 
großer Zahl, wir fanden es aber nicht richtig, unſere Munition an 
ſie zu verſchwenden. 


* ** 
x 

Auf einer teilen, maleriſchen Höhe, die nach einer Schlucht hin 
abfiel, entdeckten wir eine Eule, die augenſcheinlich brütete. Denn 
kaum hatten wir ſie erblickt, als eine zweite Eule, die wir nicht be⸗ 
merkt hatten und die ſich weit davon entfernt befand, unſere Auf⸗ 
merkſamkeit vom Neſte abzulenken bemüht war. Zunächſt lief ſie 
über eine große Schneewehe; aber als wir uns nicht täuſchen ließen, 
flog fie auf und begann über uns zu kreiſen, ängſtlich kreiſchend 
und augenſcheinlich ſehr nervös, je mehr wir uns dem Weibchen 
näherten. Da wir indeſſen unſern Gang unangefochten fortſetzten, 
wurde ſie direkt feindlich. Hoch aus der Luft ſtürzte ſie ſich plötz⸗ 
lich blitzſchnell auf uns herab, dicht an unſern Köpfen vorbei, ſo 
gewandt und ſo heftig, daß wir ſie mit dem Gewehrkolben ab⸗ 
wehren mußten. Dann ſtieg ſie hoch, hielt ſich lange kreiſend 
über uns, um plötzlich wieder auf unſere Köpfe herabzu⸗ 
ſtoßen. Ihre Bewegungen geſchahen plötzlich und lautlos mit 
einer unberechenbaren Geſchwindigkeit, und wenn ſie dicht über 
uns hinſchweifte, ſtrich der ſtarke Schnabel an unſern Augen 


168 Sechſtes Kapitel. 


vorbei, und wir mußten uns ducken, um unſere Geſichter vor ihren 
ausgeſtreckten Krallen zu ſchützen. Ganz oben auf dem Hügel ge⸗ 
wahrten wir ein primitives Neſt mit neun weißen Eiern, nicht un⸗ 
ähnlich Hühnereiern, nur etwas kleiner und runder. Das Neſt war 
ſehr einfach; es beſtand nur aus einer Vertiefung in der Erde mit 
ein wenig Gras auf dem Boden. Wir ließen ſie in Ruhe, zur 
großen Verwunderung des Männchens, das nur gewohnt iſt, gegen 
Hermelin und Wolf zu kämpfen, die keine Schonung kennen. 

Ein Stück davon entfernt ſchoß Ajako zwei Haſen, worauf wir 
uns trennten, um jeder in ſeiner Richtung zu jagen. Ich ſtieg berg⸗ 
an, um eine Ausſicht zu erhalten, während er in der alten Rich⸗ 
tung weiterging. 

Der Berg, den ich beſteige, iſt ein 40 Meter hoher Schiefer⸗ 
berg, ſchwarz und kegelförmig, von bröckligem Geſtein bedeckt, das 
dem Fuß nur ſchlechten Halt gewährt. Als ich ſchließlich den 
Gipfel erreiche, bekomme ich eine Ausſicht, die mir faſt den Atem 
raubt. Unwillkürlich muß ich mir die Augen reiben, ehe ich zu 
glauben wage, was ich ſehe. Unmittelbar vor meinen Füßen ent⸗ 
decke ich in der Richtung nach dem Fjordinnern einen großen Wirbel 
mit offenem Waſſer und ein paar ſchwimmende Eisberge. 

Ein ganz ſchmaler, zwei Kilometer breiter Fjord ſchiebt ſich in 
das Land hinein, zunächſt in der Richtung nach Nordweſten nach 
dem Mascart⸗Inlet hin. In dieſer Richtung ſcheint er einen Arm 
abzugeben, wendet ſich dann nach Norden und Nordoſten nach 
der Gegend vom De-Long⸗Fjord und verliert ſich ſchließlich zwiſchen 
den Bergen, ohne daß man das Ende ſehen kann. Aber der Um- 
ſtand, daß wir hier mitten in einem Sikuſſagfjord, faſt auf 83° 
nördlicher Breite, auf eine offene Stelle ſtoßen, deutet darauf hin, 
daß dieſer ſchmale Arm der Teil eines Kanals ſein muß, der ent⸗ 
weder in den Mascart⸗Inlet oder in den Jewell⸗Inlet mündet. In 
der Offnung ſteht ein ſtarker Strom. Ich kann von meinem hohen 
Standpunkt aus deutlich die Wirbel ſehen, die Hauptrichtung 
geht nach Chip⸗Inlet. Auf der feſten Eiskante ſehe ich zu meiner 
großen Überrafhung und Freude zwei Seehunde und im Schnee 
Vertiefungen von einem dritten, der eben getaucht iſt. 

Dieſe überraſchende Entdeckung eröffnet uns ungeahnte Mög⸗ 
lichkeiten. ö b 

Das Land ſelbſt iſt nach allen Richtungen eisfrei, d. h. ohne 


homavyocd, uaq usbob gusꝙpqogt uaquaznig sog soon wg 311333UP9 


NE 


Das Lager am Eulenneſt. 169 


zuſammenhängende Gletſcher; nur ein paar kleine lokale Gletſcher⸗ 
zungen ſchieben ſich von den Zinnen durch die vielen Schluchten 
herab, die die Berge durchſchneiden. Überall ſieht man hier viel 
Schnee. 

Das Ende des Hauptfjords iſt deutlich etwa 30—40 Kilo⸗ 
meter landeinwärts von unſerm Lager ſichtbar, und erſt jetzt 
wird es mir klar, daß wir einen großen, neuen Fjord entdeckt 
haben. Chip⸗Inlet war nicht ſehr tief und ſollte parallel zum 
Nordenſkiöldfjord verlaufen; aber dieſer Fjord exiſtiert gar nicht. 
Dagegen geht nördlich vom Nordenſkiöldfjord ein neuer großer 
Fiord nach Oſten etwa 50 Kilometer nach Pearyland hinein. 
Faſt am Ende des Fjords erkennt man einen großen Berg, der 
quer zur Fjordrichtung ſteht und in das Inlandeis übergeht. Wäh⸗ 
rend alſo die Südweſtſeite des Fjordendes in direkter Verbindung 
mit dem Hauptgletſcher ſteht, erſtrecken ſich große verſchneite, aber 
offenbar eisfreie Landgebiete in nordöſtlicher Richtung. 


* * 
; * 


Als Ajako und ich wieder zuſammentreffen, ſtrahlen unſere Ge⸗ 
ſichter vor Freude über die Entdeckungen, die wir gemacht haben. 
Aber ſelbſtverſtändlich ſind wir augenblicklich hauptſächlich mit 
den Möglichkeiten beſchäftigt, die uns dieſe unerwartete Wirbel⸗ 
ſtrömung mit ihren Seehunden bietet. Wenn das Eis in der 
Nähe der Kante, wo die Seehunde liegen, von dem darunter, 
verlaufenden Strom nicht zu ſehr angefreſſen iſt, bietet ſich uns 
hier eine willkommene Möglichkeit, uns mit Fleiſch zu verſorgen. 
Da jedoch die Seehundjagd am beſten in der Sonnenwärme der 
Mittagsſtunde verſucht werden kann, geben wir die Jagd vor⸗ 
läufig auf, durch unſere traurigen Erfahrungen bei Dragon Point 
belehrt, wo die Seehunde, Gott weiß warum, ſehr ſcheu waren. 
Wir gehen daher ohne andere Beute als die beiden Hafen zum 
Lager zurück. 

Friſche Moſchusochſenſpuren oder auch nur ein Jahr alte 
Exkremente fanden wir nicht; die Lebenszeichen, die wir antrafen, 
ſchienen mehrere Jahre alt zu ſein. Aber es iſt ja möglich, daß 
die Moſchusochſen ſich noch weiter im Innern des Fjordes auf⸗ 
halten, und das wollen wir unterſuchen, ſobald wir uns nur ein 
wenig ausgeruht haben. Vorläufig ſind wir über 30 Stunden 


170 N Sechſtes Kapitel. 


ununterbrochen in Tätigkeit geweſen. Überall ſahen wir eine Menge 
Lemmingbaue und ferner Schneehühner, die je zwei und zwei unter 
lebhaftem Gackern die Paarungszeit feiern. 

Gegen Mitternacht ſind wir wieder beim Zelt. Schon wieder 
müſſen zwei arme Hunde als Futter für die Kameraden ge⸗ 
ſchlachtet werden, eine kümmerliche und wenig ſtärkende Mahlzeit, 
aber immerhin doch eine kleine Magenfüllung, die den, der weiter 
ſoll, am Leben erhält. 


Vom Schneeſturm feſtgehalten. 


Ich habe keine beſondere Luſt gehabt, Tagebuch zu führen, und 


habe mich daher die beiden letzten Tage ausſchließlich auf die 
meteorologiſchen Beobachtungen beſchränkt, die viermal am Tage 
in angenehmer Weiſe die Zeit kontrollieren. 

Schlechtes Wetter und ſchlechte Bahn verfolgen uns ſyſte⸗ 
matiſch. Durch Unmengen von Schnee hatten wir uns durch⸗ 
zukämpfen; auf der letzten Reiſe hatten wir bis zu ein Meter 
tiefen Schnee und mußten Schneeſchuhe unter die Schlittenkufen 
legen. Der lockere Schnee, der in Klumpen unter den Füßen der 
Hunde feſtfriert, ſetzt ihnen ſchlimmer zu als der Hunger. Bei dem 
Verſuch, die ſchmerzenden Pfoten zu reinigen, die oft ſo mit harten 
Eisklumpen beſetzt ſind, daß die Zehen auseinandergeſpreizt 
ſtehen, beißen ſie ſich die Pfoten blutig, wie ich es bei dem kleinen 
Lemming oben geſchildert habe; ſie bringen ſich große Wunden bei 
und hinterlaſſen Blutſpuren auf dem Eis. Dieſe Plage macht es 
ganz beſonders ſchwierig, ſie anzutreiben und raubt ihnen über⸗ 
haupt völlig die gute Laune. ; 

Und jetzt wird die Bahn noch ſchlechter. Der Schneeſturm be⸗ 
ginnt am 5., am 6. wütet er mit noch größerer Gewalt, und der, 
Schnee häuft ſich in großen, tiefen Schneewehen an, in denen die 
Schlitten hängenbleiben werden, wenn wir die Reiſe fortſetzen. 

Es geht nicht anders; wir müſſen, wie die kleine Steinbrech⸗ 
pflanze, die bisweilen in voller Blüte überwintert, die ganze 
Geſchichte verſchlafen und das Unwetter über uns hingehen laſſen, 
als ob wir gar nicht exiſtierten. Nachher iſt Zeit genug, ſich mit 
ſeinen Folgen zu befaſſen. 

Noch am 7. Juni ſcheint der Sturm beſtändig im Wachſen; 
der Schnee peitſcht gegen das Zelttuch, und die Windſtöße drohen 


1 


Das Lager am Eulenneſt. 171 


es in Fetzen zu reißen. Unſere zehn noch lebenden Hunde liegen 
im Schnee draußen; es fällt ihnen offenbar ſchwer, ſich mit all 
dieſem Mißgeſchick abzufinden. Wir dürfen keine mehr ſchlachten, 
wenn wir nicht ohne Vorſpann bleiben wollen. In dieſem Wetter 
auf die Jagd zu gehen, iſt undenkbar. 


Zeltwache mit däniſchen Stimmungen. 


Endlich! Endlich kam die Sonne mit klarem, blauem Himmel 
und erbarmte ſich unſer am frühen Morgen. Gegen 2 Uhr gruben 
wir uns zum Zelt heraus und trafen Vorbereitungen für die Jagd 
und für eine Rekognoſzierungstour, die Koch und Ajako unter⸗ 
nehmen ſollten. Wir lagen tief in großen Schneewehen vergraben, 
ſo daß nur der Firſt des Zeltes ſichtbar war. Es war ganz wie 
zur Mittwinterzeit, und nichts um uns herum gab Zeugnis davon 
daß wir ſchon weit im Juni waren, dem herrlichſten und mildeſten 
aller Sommermonate. 

Von unſern Schlitten iſt nichts zu ſehen; nur die Spitzen der 
Ständer ragen hervor, und von den Hunden ahnt man nur die 
Umriſſe ihrer Leiber im Schnee. Ihre Ruhe iſt unheimlich, und ſie 
zeigt uns leider, daß keiner von ihnen in der Stimmung iſt, den 
Riemen zu durchbeißen und zwiſchen den Schlitten und den Zelten 
auf Raub auszugehen. Sie haben ſich in ihr Schickſal ergeben und 
verſuchen nur, in einen Kreis zuſammengerollt und den Kopf 
zwiſchen Beinen und Schwanz vergraben, ſich warm zu halten. 

Um 4 Ahr machten ſich Koch und Ajako auf den Weg. Ich 
mußte als Wache bei den Hunden im Zelt bleiben; denn die 
Hunde würden dieſes in Fetzen zerreißen, wenn ſie unter 
ſolchen Umſtänden einen Tag ohne Kontrolle verbrächten. Ich 
würde gern mit den andern getauſcht haben, ſtatt noch einen Tag 
in Untätigkeit zu verbringen, aber einer muß das Unangenehme 
auf ſich nehmen. | 

Lange ſtand ich im Schneegeſtöber draußen und ſah den Fort⸗ 
ziehenden nach. Koch ſollte das Innere des Fjords aufnehmen 
und Ajako ſollte jagen, um wenn möglich die traurigen Überreſte 
unſerer Hunde zu retten. 

In gleichmäßigem Marſch gehen ſie in den Fjord hinein, 
wo die Wetterwolken noch über die zerriſſenen Zinnen treiben, 
der eine auf Schneeſchuhen langſam durch die lockeren, friſchen 


172 Sechſtes Kapitel. 


Schneewehen gleitend. Ajako, der unerſchrockene Jäger, deſſen 
aufrechte Haltung und geſchmeidige Bewegungen verraten, daß er 
die Hoffnung, Großwild aufzuſpüren, noch nicht aufgegeben hat, 
iſt in ſeiner Erſcheinung dem Wolfshund nicht unähnlich, den er 
am Riemen mit ſich führt. Wie jener iſt er leicht und muskel⸗ 
ſtark, ausdauernd und hungergewohnt. Und neben ihm ſchreitet 
Koch, breitſchulterig, von kräftigem Bau und zähem Kraft⸗ 
bewußtſein. 

Gute Jagd, ihr Wölfe! Niemals haben heißere Wünſche zwei 
Wanderer begleitet, heute gilt es! Der große Ernſt iſt jetzt über 
uns und unſerm Schickſal. 

Und während ich hier ſtehe, den rauhen Wind im Geſicht, 
und unſere Ausſichten überprüfe, gehen die Gedanken unwillkür⸗ 
lich weiter zu der andern Abteilung, die dasſelbe Wetter gehabt 
hat wie wir. Möge ſie mehr Glück auf der Jagd gehabt haben, 
ehe der Sturm über ſie kam und ihnen das Land verſchloß. 

Mir gegenüber ſitzt ein Schneehuhnpärchen und gackert ver⸗ 
gnügt miteinander; ihr Kleid iſt ganz braun, und ſie ſingen von 
dem Sommer, der jetzt herrſchen ſollte. Ihre unverzagte Gegen⸗ 
wart hebt die Stimmung immerhin ein wenig und lenkt die Ge⸗ 
danken von den unheimlichen, ſturmgetriebenen Wolken ab. 

Ab und zu ſehen ſie forſchend auf das Zelt und den Menſchen 
am Eingang herab, aber ſie brauchen ſich nicht zu ängſtigen, ſie 
dürfen ruhig vor mir den langen, einſamen Tag über ihr Spiel 
fortſetzen. Ich kann für ſo wenig Fleiſch keine Kugel opfern, 
und unſere Schrotflinte haben wir mit Munition für die Rück⸗ 
teile in der Mündung des Nordenſkiöldfjords deponiert. 

Eine Spannung liegt heute über dem Tag, eine Spannung 
von der Art, wie ſie ſich nicht zu oft auf einer Expedition ein⸗ 
ſtellen möchte. 


* * 


* 


Zum erſtenmal feit längerer Zeit haben wir Temperatur 
über Null, 1,2 Grad. Es iſt windſtill, der Himmel iſt beinahe ganz 
wolkenlos. Das milde Wetter verlockt dazu, die Wartezeit mit 
Schreiben zu vertreiben. 

Es iſt jetzt 6 Uhr nachmittags und alſo 15 Stunden her, 
ſeitdem meine Kameraden fort ſind. Sie ſollten ſofort zurück⸗ 


Das Lager am Eulenneſt. 173 


kehren, wenn ſie auf dem Hinweg einen Seehund bei dem 
Stromwirbel fingen. Ihr Ausbleiben iſt alſo kein günſtiges 
Zeichen. 

Ich habe das Gefühl, als ſtehe ich auf einer Schanze, einer 
gegen fünfzehn! 

Die Hunde, im raſenden Hunger, haben ſich faſt alle von ihren 
Strängen und Riemen losgeriſſen und greifen ununterbrochen das 
Zelt an, wo noch ein kleiner Biſſen gekochten Fleiſches aufbewahrt 
wird. Es würde ein ungleicher Kampf geweſen ſein, wenn das 
Leben ihnen nicht Reſpekt vor der Peitſche eingeflößt hätte, die, 
wie ſie wiſſen, ihr lieber Herr immer zur Hand hat. Sie haben 


während des Schneeſturms gelitten, aber das würde nicht viel 


für einen Wolfshund bedeuten, wenn ſie nicht in der letzten Zeit 
zu oft ſchlaffes Hundefleiſch an Stelle wirklicher Nahrung bekommen 
hätten; darum ſind ſie jetzt ſo deſperat und drohend, und ſie 
würden ſich ſicher über mich ſtürzen, wenn ſie es nur wagten. 
Übrigens äußert ſich die Not bei ihnen ſehr verſchieden. Die 
edleren Naturen ſind nicht mehr gierig und zudringlich, ihre 
Augen haben einen unendlich verlaſſenen und melancholiſchen Aus⸗ 
druck bekommen, ſie halten ſich abſeits und ſuchen ſchneefreie 
Flecke am Land auf, wo ſie ſich in die Sonne legen und verſuchen, 
ob die Wärme den Schmerz in ihrem leeren Magen lindert. Die 
Plebejer unter ihnen dagegen haben böſe Augen bekommen; un⸗ 
unterbrochen belagern ſie das Zelt und ſind am Eingang, ſo oft 
ſie glauben, mich überrumpeln zu können. Arme Tiere! Doch was 
können wir anderes für ſie tun, als uns auf tagelangen Jagd⸗ 
touren im Land halb zu Tode zu laufen. Wir ſchonen uns ſelber 
wahrlich auch nicht! 

Der Tag vergeht mir langſam, und ich ertappe mich oft bei 
dem Glauben, daß meine Uhr ſtehengeblieben ſei. Vergebens ver⸗ 
ſuchen die Schneehühner mit ihrem Gackern ein wenig Abwechſlung 
in die Einſamkeit zu bringen. 

Ein Pärchen gurrt zärtlich und warm miteinander über das 
Neſt, das ſie bauen wollen. Ihre gurgelnden Kehllaute erinnern 
mich an den Geſang der Unken in den Teichen von Seeland. Ich 
vergeſſe, wo ich bin, und die Gedanken ſuchen Ruhe im Garten 
von meines Vaters Pfarrhof, wo ich dieſen merkwürdigen Fröſchen 
ſo oft gelauſcht habe, deren reine Glockentöne oft aus dem 


174 ) Sechſtes Kapitel. 


Schlamm des Teiches die Luft in den kühlen däniſchen Sommer⸗ 
abenden mit Wohllaut erfüllten. 

Eine milde Briſe führt den Duft wilder Roſen von der Fried⸗ 
hofsmauer zu mir herüber, und viele alte Erinnerungen werden 
lo lebendig, daß ich mitten im Eiſe das Vergangene wiedererlebe. 
Ich ſehe meine liebe alte Mutter von den Erdbeerbeeten her⸗ 
kommen, die Schürze voller großer roter Beeren; wie gewöhnlich 
ſucht ſie die größten heraus und gibt ſie uns, und es iſt, als 
wäre der Geſchmack doppelt ſo ſüß und koſtbar, wenn man weiß, 
daß jede einzelne ihr Schmerzen in dem alten Rücken gekoſtet hat, 
wenn ſie ſich bückte, ſie zu pflücken. Ich höre auch den feſten, 
etwas ſchweren Gang meines Vaters zwiſchen den Bäumen des 
Gartens. Er macht ſeinen Abendſpaziergang und bleibt immer 
wieder vor den Fruchtbüſchen ſtehen, deren Wachſen und Gedeihen 
er in ſeinem lieben Garten von Tag zu Tag verfolgt. Hier und 
da hört man die Schläge gegen die Kugeln auf dem Krocketplatz 
drüben; der kühle Abendwind rauſcht durch die großen Linden, 
während die weißen Obſtblüten auf die Wege des Gartens 
herabfallen. 


* * 
* 

Während der Mittagshitze kommen die erſten fliegenden Som⸗ 
merzeichen zu mir; ein paar Schmeißfliegen brechen ſummend ins 
Zelt ein und kreiſen über dem unſchuldigen kleinen Stück Ochſen⸗ 
fleiſch, das ich ſo wachſam behüte. Drei neugierige Möwen ſegeln 
auf ihren ſcharfgeſchnittenen Schwingen über das Lager hin und 
verſchwinden in der Richtung des Stromwirbels, und wenn ich 
noch ein paar kleine Schneeſperlinge nenne, die ebenfalls verſucht 
haben, mir Geſellſchaft zu leiſten, ſo bin ich mit der Biologie des 
Tages fertig. 

In dem ſtillen, milden Wetter bringt die Sonne den Schnee 
raſch zum Schmelzen. 

Um 11 Uhr abends kommt Koch nach einer Wanderung von 
25 Stunden zum Zelt zurück. Er hat kein Wild geſehen. Seine 
Entdeckungen beſtätigen vollkommen, was ich jüngſt von dem 
ſchwarzen Schieferberg aus geſehen hatte; wir ſind in einem ganz 
neuen Fjord, der nichts mit Chip⸗Inlet zu tun hat, und der 
draußen von der Route, die man ſonſt eingeſchlagen hat, nicht ſicht⸗ 


Das Lager am Eulenneſt. 175 


bar geweſen. Wir einigen uns, dieſen Fjord J.⸗P.⸗Koch⸗Fiord 
zu nennen. Die große Inſel, die vor der Mündung von Chip⸗ 
Inlet verzeichnet iſt, gibt es ebenfalls nicht. An ihrer Stelle 
haben wir eine hohe bergbedeckte Halbinſel gefunden, die ſich mit 
nicht weniger als 16 Gletſchern zwiſchen dem Nordenfſkiöldfjord 
und dem J.⸗P.⸗Koch⸗Fjord vorſchiebt. Das Land nördlich und öſtlich 
des Fjords iſt teilweiſe eisfrei. Aber es ift eine wilde Alpenland⸗ 
ſchaft, in der man ſich keine größere Hoffnung auf Moſchusochſen 
machen kann. 

Ajako iſt tiefer in den Fjord eingedrungen und iſt um 9 Uhr 
morgens noch nicht zurück. Aber ſolange er fort iſt, iſt ja 
Hoffnung. 


* * 
* 


Hei!!! 

Endlich, am 9. Juni um 9 Uhr, nach genau 30 Stunden net 
Ajako zum Zelt zurück. Er hat zwei Seehunde bei dem Strom⸗ 
wirbel erlegt und drei Haſen. Die Haſen hat er auf dem Rüden; 
die Seehunde dagegen ſind deponiert, da es praktiſch ſein wird, das 
Lager weiter nach der Wirbelſtelle zu verlegen. 

AUnſere Freude über dieſe Meldung war ſo ſtark, daß wir den 
Eindruck hatten, als ſchlügen warme Wellen durch unſer Inneres, 
und wir mußten allen unſern Gefühlen in ſinnloſen Worten Aus⸗ 
druck geben. Jetzt iſt Hoffnung vorhanden, daß wir vorläufig 
einen Teil unſerer Hunde am Leben erhalten können, und es iſt 
auch nicht undenkbar, daß es uns gelingen wird, noch mehr See⸗ 
hunde zu ſchießen. 

Ajako it tief im Fjord drin geweſen, wo er 1 alte 
Exkremente von Moſchusochſen gefunden hat; aber alles deutet 
darauf hin, daß dieſe Tiere vor vielen Jahren die Gegend ver⸗ 
laſſen haben, die ſie wahrſcheinlich nur auf ihrem Weg nach Oſten 
paſſiert haben. Außerdem hat er eine brütende Eule geſehen und 
einen weißen Fuchs, der eifrig auf der Jagd nach fetten Lem⸗ 
mingen war. 

Das ſchöne Wetter hat eine Menge Raubmöwen nach unſerm 
kleinen Lager gelockt; entweder ſtreichen ſie über unſern Köpfen hin 
oder ſie laſſen ſich auf den Hügeln an den Bergabhängen nieder 
und begrüßen von dort mit ſchrillem frohem Schrei den heimnm⸗ 
gekehrten Jäger. 


176 Sechſtes Kapitel. 


Gute Tage am Stromwirbel. 

Das Lager wird jetzt ein paar Kilometer weiter in den Fiord 
hinein verlegt, ſo daß wir von unſerm Zelt eine bequeme Aus⸗ 
ſicht über den kleinen Stromwirbel haben, der vorläufig unſere 
Speiſekammer ſein ſoll. 

10.—13. Juni. Leider werden Koch und Ajako wieder krank. 
Koch hat nach der langen Tour geſtern Übelkeit und Schwindel 
bekommen. Sein Magen ſcheint gegen die ununterbrochene Fleiſch⸗ 
koſt, auf die wir angewieſen ſind, zu proteſtieren; er bekommt wohl 
ab und zu etwas Haferbrei, aber bei den unſicheren Lebens⸗ 
bedingungen müſſen wir ſehr vorſichtig umgehen, und Koch kann 
leider nicht täglich die Mengen erhalten, die ſein Körper zu 
fordern ſcheint. 

Ajako hat ſeine Augen in dem ſcharfen Licht auf der langen 
Fahrt überanſtrengt und iſt wieder ſchneeblind geworden. Daher 
verlaſſe ich, ſobald das Zelt errichtet iſt, die Kameraden und fahre 
nach dem Stromwirbel, um Ajakos Seehunde zu holen. Das 
Wetter iſt ruhig und ſchön, und die milde Witterung hat ein paar 
Seehunde zu einem Sonnenbad heraufgelockt. Leider iſt der eine 
ſehr ſcheu und verſchwindet in der Tiefe, lange bevor ich auf 
Schußweite herangekommen bin; dagegen gelingt es mir, den 
andern zu ſchießen. Jetzt ſind wir obenauf; denn bei den wenigen 
Hunden, die wir noch haben, werden dieſe Seehunde mit all ihrem 
Speck einige Zeit reichen. 

Unſere Freude iſt wie gewöhnlich nicht ganz ohne Wermuts⸗ 
tropfen. Unter den Hunden ſcheint eine ernſte Krankheit aus⸗ 
brechen zu wollen; einige von ihnen bekommen eine Lähmung des 
Hinterkörpers. Möglicherweiſe ſteht das in Verbindung mit dem 
Kannibalismus, auf den ſie zu oft angewieſen waren; offenbar 
enthält das Hundefleiſch ein Gift, das ihnen ſchlecht bekommt; 
es ſteckt jedenfalls in der Leber und in den Eingeweiden. Sie 
brechen häufig nach Hundefleiſch, haben ſtarken Durchfall und ſind 
während der ganzen Tagereiſe ſchlaff und matt. Zwei von ihnen 
haben wir ſchon erſchoſſen, da keine Hoffnung ilt, ihre baldige 
Heilung zu erwarten. 

Noch eins verurſacht uns etwas Sorge, die Schwierigkeit, die 
Hunde dazu zu kriegen, ordentlich zu freſſen. Den Speck, der ihnen 
ſo gut tat und auf den ſie ſich anfangs mit großer Gier ſtürzten, 


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Das Lager am Eulenneft. 177 


wollen fie jetzt durchaus nicht mehr freſſen. Dies hat indeſſen nichts 
mit Krankheit zu tun, ſondern iſt eine bekannte Erfahrung, die alle 
machen, die auf einer Langfahrt zeitweilig genötigt waren, ihre 
Hunde hungern zu laſſen. Kommt man dann endlich an einen Ort, 
wo es Futter in Hülle und Fülle gibt, ſo nehmen ſie nur ein paar 
große, gute Mahlzeiten ein und werden dann ſo wähleriſch, daß 
nur das feinſte reine Fleiſch Gnade vor ihren Augen findet. 

Am 11. Juni fühlt Koch ſich etwas beſſer und begibt ſich 
ſogleich nach dem J.⸗P.⸗Koch⸗Fjord, um die angefangene karto⸗ 
graphiſche Arbeit zu vollenden. 

Am nächſten Tag iſt er wieder ſehr ſchlaff und müde, und da 


= auch Ajako noch immer Schmerzen in den Augen hat, müſſen 


wir noch ein paar Tage hierbleiben, obgleich es zu wünſchen wäre, 
daß wir unſern Kameraden möglichſt raſch nacheilen könnten. 

Sodann mißglückten mehrere Seehundjagden. Die wenigen 
Tiere, die ſich bei dem kleinen Stromwirbel aufhalten, ſind ſo ſcheu, 
daß ſie verſchwinden, ſobald wir uns nur zeigen. Am 14. vor⸗ 
mittags beſchließen wir daher, aufzubrechen und die unterbrochene 
Reiſe fortzuſetzen. 

In der Nacht werden wir durch Eisgänſe geweckt, die paar⸗ 
weiſe über unſer Zelt fliegen, um ſich auf den grasbedeckten Ab⸗ 
hängen niederzulaſſen. Noch lange klingt uns ihr Schrei mit ſeinem 
friſchen, verheißungsvollen Klang in den Ohren. Es ift immer 
etwas Märchenhaftes bei dem ſauſenden Flügelſchlag der Gänſe, 


; : wenn fie auf breiten Schwingen am Horizont verſchwinden. 


Nach Kap Salor. 


14.—15. Juni. Lange hatten wir uns auf den Tag gefreut, 
an dem unſere Arbeit hier drinnen beendet iſt, jo daß wir mit 
gutem Gewiſſen den Kurs nach Kap Salor an der Nordſpitze 
der großen Inſel vor der Mündung des Chip-⸗Inlet richten 
konnten. Hier ſollten wir nämlich, wie McMillan uns ver⸗ 
ſprochen hatte, eins von Pearys Depots finden, das auf ſeiner 
letzten Nordpolexpedition 1908 angelegt war und aus Pemmikan, 
Keks, Zucker und Petroleum beſtand. Das waren Delikateſſen, 
die lockten. 
Wir brechen um 8 Uhr nachmittags auf, und da die Bahn 


zum erſtenmal ſeit längerer Zeit gut iſt, gelingt es uns, in zwölf 
Rasmuſſen. 12 


178 Seechſtes Kapitel. 


Stunden die 40 Kilometer bis Kap Salor zurückzulegen. Wir 
machen öſtlich vom Kap gerade gegenüber Kap Emory halt, wo 
ein Bericht von Wulff für uns liegen ſoll. Es iſt backwarm, 
die höchſte Temperatur, die wir bisher gehabt haben. Bei 2 Grad 
Wärme entkleiden wir uns halb; darauf begeben Ajako und ich uns 
nach dem Depot, das etwa vier Kilometer von unſerm Lager ent⸗ 
fernt liegen ſoll. 

Die Sonne brennt uns ins Geſicht, der Schnee ſchmilzt auf dem 
Eis zu Waſſer und hat in dem alten Polareis ſchon Becken von 
über ein Meter Tiefe gebildet. Schweißtriefend erreichen wir 
das Depot, wo uns eine Blechbüchſe, die am Ende einer auf⸗ 
gerichteten Stange hängt, einen Gruß von den Kameraden bringt. 
Gerade vor uns haben wir eine aufgepreßte Eiskante von zirka 
20 Meter, davor iſt das Eis eben, während das alte Polareis mit 
ſeinen Preßrücken bereits ein paar Kilometer ſeewärts beginnt. 
Auf dem Eisfuß verläuft eine alte Bärenſpur. 

Das Depot war inſofern eine Enttäuſchung, als wir nur drei 
Kannen mit Petroleum und ſechs Doſen Pemmikan fanden. 

Zu unſerer Verwunderung finden wir Moſchusochſen⸗Exkre⸗ 
mente auch auf dieſer Inſel, die faſt ausſchließlich aus hohem Berg⸗ 


- land ohne Spur von Tälern beſteht. Moſchusochſen können ſich 


nur ganz vorübergehend hier aufgehalten haben. Drei Eisgänſe 
kamen weit vom Polarmeer draußen herangeflogen, und an Land 
gackern die Schneehühner. 

Um 11 Uhr ſind wir wieder im Zelt und ſchwelgen nach 
Herzensluſt in Pearys Pemmikan. Dieſer Nordpolpemmikan hat 
im Gegenſatz zum gewöhnlichen eine wunderbare Zuſammen⸗ 
ſetzung: eine Menge Roſinen und Zucker ſind in das Fleiſch und 
Fett hineingeknetet, ſo daß die Maſſe faſt den Charakter von 
Konfekt bekommen hat — jedenfalls könnte kein Marzipan uns 
beſſer geſchmeckt haben. Um zu ſparen, miſchen wir ihn mit 
Hafergrütze und kochen einen dicken Brei, der ſich uns mit einer 
ganz ungewohnten, aber nicht unbehaglichen Schwere in den 
Magen legt. 

Wulffs Brief, der wie gewöhnlich in der einförmigen Tret⸗ 
mühle ein willkommenes Lebenszeichen iſt, geht herum und gibt 
Veranlaſſung zu allerhand Diskuſſionen und Vermutungen. Dann 
kriechen wir in den Schlafſack, um die ungewohnte Sommerwärme 


Das Lager am Eulenneſt. 179 


einmal außerhalb des Zeltes zu genießen. Ein Marſch von 
36 Stunden liegt hinter uns, als wir endlich die Augen ſchließen. 

Aber unſere Nahrung iſt ſchwerer geweſen als die tägliche 
Haſenkoſt, und wir ſchlafen unruhig und wachen oft auf. Daher 
wird Wulffs Brief oft wiederholt, die letzte Neuigkeit ſeit langer 
Zeit; er lautet wie folgt: 


Kap Salor, 2. Juni 1917. 
Bruder! 

Wir brachen am 31. Mai 8,30 nachm. von der Küſte von Naresland auf. 
Anfangs klar und ſonnig. Nach Mitternacht kalter Wind und Nebel. Sehr 
beſchwerlicher, tiefer lockerer Schnee. Harrigan und ich langten am 1. Juni 
10 Uhr vorm. bei Kap Salor an, alſo nach 13½ ſtündiger, mühſamer Arbeit im 
Schnee. Hendrik und der Bootsmann find wegen ſchlechter Hunde zurüd- 

geblieben und kommen erſt um 10 Uhr nachm. an, alſo nach einem Marſch 
von 25½ Stunden. Wir haben eine Doſe von dem ausgezeichneten Pemmikan 
verzehrt, der jetzt gerade acht Jahre alt iſt. Jetzt um Mitternacht iſt freilich 
Nebel, aber um der Hunde willen müſſen wir verſuchen, das Land bei Kap Emory 
zu erreichen, wo wir feiſte Moſchusochſen und zahme Haſen im Überfluß zu 
finden hoffen. Hoffe, daß Koch ſeinen Tabak zur Verteilung im Sommer mit⸗ 
bringt. Ich fange an zu zweifeln, daß wir dieſes Jahr überhaupt einen Sommer 
bekommen. Heute ſind den ganzen Tag 3 Grad Kälte. 

Großes Ereignis! Harrigan hat heute das Hemd gewechſelt!! Das alte 
ſah aus wie die ägyptiſche Finſternis. Hendrik hat heute neue Kamiker angezogen 
und geſchworen, ſie nicht abzulegen, als bis wir Moſchusochſen geſchoſſen haben. 

Wir brechen auf in fröhlicher Laune und voller Blutdurſt und Zuverſicht. 
Am 4. Juni werden es 23 Jahre, ſeit ich Student wurde. Aber ich finde nicht, 
daß die Jahre viel von meinem Gottvertrauen geraubt haben. Ich fühle mich 
im Grunde noch ebenſo voll göttlichen Leichtſinns wie in jenen Tagen. 

Denkſt Du in dieſen Tagen daran, daß die erſten Juniwochen die beſte 
Zeit zum Spargeleſſen ſind; ham⸗ham, wenn man nur daran denkt! Ich hoffe, 
daß wir zur Auſternſaiſon im November wieder daheim ſind. Ens 

Eben kommt der Bootsmann mit unglaublich zähem Moſchusochſenfleiſch, 

und ſerviert — auf Zeitungspapier; das ift meiner Treu die Proſa des 
Lebens auf 83 Grad nördlicher Breite. 

Wir verlaſſen den Ort am 3. Juni, 10 Uhr vorm., im Nebel. 

Wulff. 


12* 


Siebentes Kapitel. 
Kap Salor bis zu Lockwoods Steinmal. 


Begegnung mit Dr. Wulffs Abteilung. 


ir beſchleunigen am 16. Juni die Fahrt, um die Kameraden 
W raſch einzuholen. Wir laſſen uns nicht Zeit, 
auf die Nachmittagskühle zu warten, ſondern machen uns mitten 
in der Sonnenwärme um 9% Uhr bei einigermaßen gutem Eis 
auf den Weg. Den Hunden hat die Ruhe und das fette See⸗ 
hundfleiſch gut getan. Mit den leichten Schlitten geht es raſch 
vorwärts, wenn nur einer von uns vorangeht. Um die Ge⸗ 
legenheit aufs beſte auszunutzen, beſchließen wir, auf der heutigen 
Tagereiſe wieder wenigſtens 40 Kilometer zurückzulegen. 

Schon nach zwei Stunden paſſieren wir Kap Emory, das in 
eine verhältnismäßig niedrige Landzunge ausläuft, wo Ajako in 
einer reich bewachſenen Schlucht einen Haſen ſchießt und eine Brut 
junger Schneehühner fängt. Das Land ringsum iſt ein impo⸗ 
nierendes Alpenland, das ſchneebedeckt und ſteil ſich mit ſpitzen 
Zinnen in einen ſchmalen Fjord hineinzieht. 

Ein paar Kilometer vor Kap Neumayer erblicken wir in einer 
kleinen Bucht plötzlich zwei Schlitten. Wir ſtutzen und können 
kaum Atem holen vor Spannung, als wir entdecken, daß es unſere 
Kameraden ſind, die mit ſtark reduzierten Hundegeſpannen lang⸗ 
ſam, ganz langſam ſich auf uns zu arbeiten. Wulff und Harrigan 
gehen voran, während Hendrik und der Bootsmann mit den 
traurigen Reſten der drei Geſpanne folgen. Wir beſchleunigen die 
Fahrt, und es dauert wenige Minuten, bis wir zuſammentreffen. 
An ihren magern, abgezehrten Geſichtern ſieht man ſofort, daß ſie 
eine harte Zeit hinter ſich haben, ſeit wir zuletzt beiſammen waren. 

Sechzehn Tage lang haben ſie vergebens gejagt; in dieſer 


u 


Kap Salor bis zu Lockwoods Steinmal. 181 


langen Zeit haben ſie ausſchließlich Hundefleiſch verfüttern müſſen. 
Jetzt flüchten ſie, um ihr Leben zu retten, nach Süden, da es 
ihnen nicht möglich geweſen war, den De⸗Long⸗Fjord zu erreichen. 
Sie hatten fortwährend die Zahl ihrer Hunde verringern müſſen 
und fuhren nun mit einem Geſpann von fünf Hunden, das Gepäck 
in ein Seehundfell gepackt; das andere Geſpann von neun Hunden 


kann noch einen richtigen Schlitten ziehen. Es waren alſo nur 


14 von den 27 Hunden übrig, die, auf drei Schlitten verteilt, 
am 2. Juni Kap Salor verlaſſen hatten. 

Bei Low Point hatten ſie ihr Hauptlager gehabt und von 
dort Jagdausflüge bis nach Kap⸗Wycander hinüber unternommen. 
Da ſie nicht die geringſten Spuren von Moſchusochſen geſehen 
hatten, waren ſie jetzt umgekehrt, um die letzten Hunde für die 
bevorſtehende Rückreiſe zu retten. Unſer langes Ausbleiben hatten 
ſie als Zeichen dafür genommen, daß es uns geglückt ſei, über 
das Inlandeis den Independencefjord zu erreichen. Da ſie wohl 
einſahen, daß ſie ſich für eine ſo lange Wartezeit, die ihnen dann 
bevorſtand, nicht Nahrung genug beſchaffen konnten, hatten ſie 


5 ſich entſchloſſen, die Rückreiſe zu verſuchen, ſolange fie ſelbſt noch 
bei Kräften waren und einige Hunde übrighatten. 


Gegen dieſen Plan war nichts einzuwenden, wenn man be- 


3 denkt, welches Mißgeſchick lie verfolgt hatte. Man muß unter 


ſolchen verzweifelten Verhältniſſen nach eigenem Ermeſſen handeln, 
und die verſchiedenen Abteilungen einer Expedition müſſen inner⸗ 
halb gewiſſer Grenzen ſo weit Freiheit haben, daß man nicht alles 
aufs Spiel ſetzt, um Verabredungen einzuhalten, deren Voraus⸗ 
ſetzungen nicht zutreffen. Aber ich war doch froh, daß ich ihnen 
begegnet war, und vorläufig ihre Rückreiſe auf eigene Fauſt ver⸗ 


hindern konnte. 


Wir ſchlugen nun ein Lager auf und erörterten die Lage bei 
eeiner Feſtmahlzeit von Seehundfleiſch, Hafen und reichlichem 
Kaffee. 
Meine Überzeugung war, daß ich alles daranwagen mußte, 
um weiter an der Küſte, wo die Kameraden Schiffbruch erlitten 
hatten, vorzudringen; fo nahe dem Ziel konnte ich mich nicht ent⸗ 
schließen, meinen Plan aufzugeben und die Rückreiſe anzutreten, 
ohne mich ſelbſt davon überzeugt zu haben, daß ein Weiterkommen 
unmöglich ſei. Aber auf der andern Seite galt es auch, nicht 


182 Siebentes Kapitel. 


dummdreiſt etwas zu wagen, was für die ganze Expedition ver⸗ 
hängnisvoll werden konnte. Ferner waren die Ausſichten auf das, 
was uns weiter im Norden begegnen konnte, ſo düſter, daß ich die 
Reiſe nur fortſetzen konnte, wenn diejenigen meiner Kameraden, 
die ich unbedingt mithaben mußte, ſich zu dem Verſuch freiwillig 
meldeten. Hier war ich zu meiner Freude wieder Zeuge, wie ernſt 
ſie es mit den Aufgaben nahmen, für deren Löſung ſie ausgezogen 
waren. Koch und Ajako erklärten ſich augenblicklich bereit, mich 
zu begleiten, und da ich, falls wir noch mehr Hunde verlieren 
ſollten, zwei Mann bei jedem Schlitten zu haben wünſchte, er⸗ 
gänzten wir unſere Abteilung durch den Bootsmann, der keine 
Angſt davor hatte, zu den Küſten zurückzukehren, wo er eben 
gehungert hatte. 

Dann wurde beſtimmt, daß Dr. Wulff, Harrigan und Hen⸗ 
drik einen Verſuch machen ſollten, ihre Hunde mit den Seehunden 
des Stromwirbels zu retten. Sofern wir nicht mit allzu großen 
Schwierigkeiten zu kämpfen hatten, konnten möglicherweiſe beide 
Abteilungen ſchon nach vierzehn Tagen bei Kap Salor wieder 
zuſammentreffen; andernfalls wurde Dragon Point als der Ort 
bezeichnet, wo wir alle vor Beginn der Rückreiſe uns vereinigen 
ſollten. Hierauf trennten wir uns. 

Wulff hatte auf dem Weg, dem wir folgen ſollten, ein paar 
Briefe in Steinmalen niedergelegt, die ihre Lage ſchildern; wir 
fanden ſie alle, und da ſie hierher gehören, gebe ich ſie hier wieder: 


1. Lager direkt ſüdweſtlich von Kap Bennett, 7. Juni 1917. 
Bruder! 

Nachdem wir Kap Neumayer am 5. Juni 2,30 vorm. paſſiert hatten, wo 
ich einen Brief für Dich hinterließ, folgten wir der Küſte in tiefem Schnee bei 
hellem Sonnenſchein bis hierher nach Kap Bennett, wo wir um 6 Uhr vorm. 
auf einem ſchneefreien Fleck am Strand das Zelt aufſchlugen, da die Hunde 
nicht weiter konnten. Vier waren vor Ermattung auf dem Weg umgefallen 
und waren zurückgelaſſen worden, kamen aber ſpäter zum Lager geſchlichen, wo 
drei erſchoſſen wurden, um als Hundefutter zu dienen. Keine Spuren von 
Moſchusochſen auf dem Wege hierher. Die Jagd im Land ergab 16 Schnee⸗ 
hühner und 5 Haſen. Alle Schneehühner hatten große Eier mit Schale. 
Nichts anderes als ſehr alte Moſchusochſenexkremente, die nur ſelten anzutreffen 
ſind. Ich ſammelte eine Anzahl Pflanzen. Am Abend begann ein Schnee⸗ 
ſturm, der am 6. Juni mit voller Kraft anhielt, ſo daß wir den ganzen Tag in 
den Schlafſäcken verbrachten. 

Heute am 7. Juni, Deinem Geburtstag, hat der Wind etwas nachgelaſſen, 


Kap Salor bis zu Lockwoods Steinmal. 183 


aber derſelbe widerliche mit Regen vermiſchte Schnee, der Hunde und Zelt mit 
Eis überzieht. Bleiben auch heute in den Schlafſäcken. Die Hunde freſſen ihre 
Zugriemen und ſind mager wie Skelette. Heute nacht hat der ganze Trupp 
mehrere Angriffe auf das Zelt gemacht, von dem Duft der Haſen angelockt. 

Die Armſten tun mir leid, aber auch für uns ſelber ſieht es nicht gar ſo 
roſig aus. Jetzt blühen daheim Flieder und Goldregen, und hier liegt man in 
Kälte und Schneeſturm im Schlafſack an Grönlands Nordküſte! Hätte man 
wenigſtens eine große Schüſſel mit Erbſen und Speck oder eine noch größere 
mit Pfannkuchen und Erdbeerkompott! Hei! Ich gedenke heute Dir zu Ehren 
für die Jungens einen zoologiſchen Alkoholſchnaps zu brauen, um der Melancholie 
des Wetters die Spitze abzubrechen. Im übrigen iſt die Stimmung all right, 
und der Bootsmann iſt noch immer dick und fett. Der Primus ſummt, und 
Hendrik kocht uns einen Haſen, der große Embryonen enthält. Das Hafermehl 
reicht nur zu einer kleinen Taſſe pro Mann jeden Morgen. Von Kaffee haben 
wir nur noch einen Handſchuh voll, ſowie zwei Pakete Tee. 

Später. Keine Szenenveränderung. Der Geburtstagsſchna ps hatte eine 
großartige Wirkung. Der Bootsmann ſitzt im Schlafſack und ſingt ſeine hei⸗ 
miſchen Zauberlieder. Harrigan ſummt „Tipperary“, und Hendrik ſingt dem 
Schnapsbrauer zu Ehren das ſchwediſche Lied „Unſer Land“. Wir haben jetzt 
trotz unſerer Armut Dir zu Ehren einen ſchmerzhaften Griff in den Kaffeehand⸗ 
ſchuh getan, und das Zelt fängt an nach Mokka, oder wie die Miſchung ſonſt 
heißt, zu duften. Heil Dir, mein Junge!!! Wann haſt Du das nächſte Mal Ge⸗ 
burtstag? Der Schneeſturm bläſt die Begleitung. — Vom „Mittagsſchlaf“ habe 
ich reden hören — jetzt heißt es für uns, nach allen Schwelgereien „Frühſtück 
zu ſchlafen“, 6—7 Stunden, wie es das Wetter verlangt. 

Die Geburtstagsfeier nimmt unerwartete Dimenſionen an. Jetzt haben die 
drei Eskimos, Gott helfe mir, gegen meinen ſchwachen Proteſt Hand an 
unfere „piece de résistance“ gelegt, an die einzige Pemmikandoſe, die unſer 
Strohhalm in der Stunde der Not ſein ſollte. Dieſe fröhliche Gewiſſenloſigkeit 
gefällt meinem Bohemeſinn, und natürlich knabbere auch ich an meinem Anteil 
vom Raub. Aber das Prinzip! — 

Heute abend zwei weitere Hunde erſchoſſen und verfüttert. Der Schnee- 
ſturm dauert an, jetzt ſtärker. 


8. Juni. Die ganze Nacht Schneeſturm, jetzt am Morgen ſchlimmer als 
je. — Eine Sturmmöwe (Larus glaucus) zeigte ſich nachts auf dem Eis beim 
Zelt. Jetzt 2,7 Grad unter Null und Windſtärke 7 bis 8. Nachmittags läßt 
der Sturm nach, und wir ſprechen vom Aufbruch. Zunächſt Haſen kochen und 
eventuell ein Griff in den koſtbaren Kaffeehandſchuh. Ich lege dieſen Bericht 
bei Kap Bennett nieder. Hoffe, Ihr kommt bald nach, und wir haben dann 
gefunden, wo ſich die Moſchusochſen verborgenhalten. Jetzt zeigt ſich die Sonne 
einen Augenblick; ſofort ſteigt die Weltanſchau ung um einige Grade. 

Noch einer von unſern Hunden verendet. Lag tot im Schnee unter den 
andern. Hendrik ſchoß heute in der Nähe des Zeltes ein Schneehuhn, das ein 
Hund ihm wegſchnappte. Wohl bekomm's! Unſere Abteilung hat jetzt noch 
19 Hunde, von denen zwei ſehr ſchlecht ſind. Es weht noch (Windſtärke 3), iſt 


184 Siebentes Kapitel. 


aber klar, ſo daß wir verſuchen müſſen, weiter zu kommen, um eine Kataſtrophe 
mit den Hunden zu verhindern. Paſſieren hier am 8. Juni, 6 Uhr nachm., 
auf dem Wege nach Kap Payer. Wulff. 


Lager direkt weſtſüdweſtlich von Low Point, 12. Juni 1917. 

Knud Rasmuſſen. : 

Bruder! : 

Wir verließen alſo am 31. Mai abends Naresland. Hatten eine beſchwer⸗ 
liche Fahrt nach Kap Salor, wo Harrigan und ich am 1. Juni 10 Uhr nachm. 
anlangten. Pearys Depot enthält drei Kannen Petroleum und ſechs Doſen aus⸗ 
gezeichneten Pemmikan, aber keine Keks. Wir nehmen eine Kanne DI und zwei 
Doſen Pemmikan. Ließen einen Schlitten und alles, was wir entbehren konnten, 
ſowie einen Bericht für Dich zurück. Abmarſch im Nebel am 3. Juni 4 Uhr 
vorm. Paſſierten Kap Emory 6 Uhr vorm., wo ich einen Brief für Dich hinter⸗ 
legte. Wir hatten hier noch 26 Hunde. Weiter an Snow Island vorbei, quer 
über den kleinen Fjord und über die niedrige Landzunge bei Blue Cape. Lager 
ſüdlich von Kap Neumayer auf 83° nördlicher Breite. Hatten ſtarken Nebel 
und fanden keine Spur von Moſchusochſen. 

Abmarſch 6. Juni 1 Uhr vorm. um Kap Neumayer herum, wo ich einen 
Brief an Dich hinterlegte. Die Hunde äußerſt elend. Lagerten bei Kap Bennett 
6 Uhr vorm., hatten hier drei Tage Schneeſturm. Höchſt widerwärtig. Weiter⸗ 
marſch 8. Juni, 6 Uhr nachm. Wir hatten jetzt nur noch 19 Hunde. Bei Kap 
Bennett hinterließ ich einen Brief an Dich. Da die Hunde nicht mehr konnten, 
ließen wir auf einem Eisberg mitten im Mascart⸗Inlet einen Schlitten und 
einen Teil des Gepäcks zurück. Packten das Notwendigſte auf einen Schlitten 
und in ein Seehundfell, das die Hunde leichter über den tiefen Schnee ziehen 
können. Keine Spur von Moſchusochſen. Lager weſtſüdweſtlich von Low Point 
am 9. Juni, 6 Uhr vorm., hier größere Mengen von Haſen und Schneehühnern, 
aber keine Moſchusochſen; ſahen einen Seehund, bekamen ihn aber nicht. 

Am 10. Juni 8 Uhr nachm. reiſten Harrigan und der Bootsmann mit 
Schlitten und 15 Hunden leiner blieb bei dem Zelt) über Jewell⸗Inlet und 
dann zu Fuß nach dem Land bei Kap Wycander. Kehrten am 12. Juni 6 Uhr 
vorm. zurück. Keine Moſchusochſen, keine Seehunde. Wir haben jetzt noch 
14 Hunde. Die andern ſind verendet oder erſchoſſen und verfüttert worden. 
Selber haben wir die ganze Zeit Schneehühner oder Haſen zu eſſen gehabt. 
Ich habe auf ſchneefreien Stellen ziemlich viel botaniſiert. — i 

Unter dieſen Umſtänden die Reife fortzuſetzen ift unmöglich. Wir haben 
uns geeinigt, zu verſuchen, über Kap Salor Dragon Point zu erreichen, um wo⸗ 
möglich durch Seehundjagd eine Anzahl Hunde für die Rückreiſe zu retten. 
Du kannſt wohl begreifen, daß es mir im Herzen wehtut, mein Arbeitsfeld im 
Stich laſſen zu müſſen, gerade wo die Vegetation zu erwachen beginnt. Einige 
Ergebniſſe habe ich ja gewonnen und hoffe, ſie auf der Rückreiſe noch weiter 
zu vermehren. Die Ehre iſt alſo gerettet, und das iſt ja die Hauptſache. Ich 
kann mit gutem Gewiſſen ſagen, daß ich getan habe, was getan werden konnte, 
und daß ich auch keine Möglichkeit unbenutzt gelaſſen habe. 

Aus den Depots bei Kap Salor und Dragon Point nehmen wir unſern 


* 


er 
N 


Kap Salor bis zu Lockwoods Steinmal. 185 


Anteil an dem Rückreiſeproviant und legen auf der Rückfahrt weitere Briefe 
für Dich bei Kap Bennett, Kap Salor und Dragon Point nieder. Dieſer Brief 
wird in ein Steinmal auf der äußerſten Spitze von Low Point gelegt für den 
Fall, daß ihr von Oſten her dorthin kommt. 

Wir wollen die Heimreiſe über das Inlandeis nehmen und den Aufſtieg 
im Innern des St.⸗George⸗Fjords verſuchen. Auch dort werde ich einen Brief 
für Dich deponieren. 

Dann wollen wir den Kurs nach dem Südende des Humboldtgletſchers 
nehmen, daß die Küſtenberge in Sicht bleiben und uns zur Orientierung dienen 
können. 

Hören wir nicht bald von Euch, ſo werden wir verſuchen, mit Hilfe der 

Eskimos in Etah ein Depot für Euch mit Lebensmitteln und Hundefutter in 
der inneren ſüdöſtlichen Ecke der Peabodybai zu errichten, wo ich vermute, 
daß ihr herabkommt. 
Solltet Ihr auch im Herbſt noch nicht zurück ſein, ſo werde ich verſuchen, 
eine Hilfsexpedition zuſtande zu bringen, die unſerm alten Kurs folgen ſoll und 
Euch längs der Nordweſtküſte von Grönland und bei Fort Conger ſuchen ſoll, 
wohin Ihr Euch, wie ich annehme, wenden werdet, um zu jagen, wenn Ihr in 
Schwierigkeiten geratet. 

Sollte ich von Etah oder Thule Gelegenheit zur Heimreiſe finden, ſo reiſe 
ich, da ich ja wenig für Euch ausrichten kann, werde aber vorher Hendrik und 
Freuchen, eventuell Paſtor Olſen (Miſſionspfarrer bei Kangerdlugſſuag) An⸗ 
weiſungen geben. ; : 

Sollte ich vor Euch nach Dänemark kommen, jo werde ich bloß dem Komitee, 
nicht aber der Allgemeinheit Beſcheid über den Verlauf und die Reſultate der 
Expedition geben. 

Hier bei Low Point laſſen wir alles, was wir entbehren können, zurück 
und packen den Reſt auf einen Schlitten. Unſer Lager liegt mehr nach dem 
Buys⸗Ballot⸗Fjord zu. Einen zurückgelaſſenen Schlitten findet Ihr eventuell 
auf einem großen Sikuſſag⸗Berg mitten im Mascart⸗Inlet; dort findet Ihr 
auch die kinematographiſche Kamera. Aus dem Stativ machen wir uns 
Schneeſchuhe. Saal 

Dieſer Bericht wird um Mitternacht im Nebel und Schneetreiben 13. bis 
14. Juni 1917 niedergelegt, Glück auf, Junge! 

Dein Freund 


X Thorild Wulff. 


Es war ſchöner Sonnenſchein geweſen, während wir ruhig 
lagen. Jetzt kam wieder unſer Todfeind, der Nebel, vom Polar⸗ 
meer herangeſchlichen, feucht und kalt, und legte ſich über all das 
Land, das wir erforſchen ſollten. Die Stimmung wurde mit einem⸗ 
mal unſagbar öde und traurig. Nicht zum wenigſten in Anbe⸗ 
tracht der Ausſichten, die wir nach den Ausſagen unſerer Kamera⸗ 
den weiter im Oſten zu erwarten hatten. Es war hoffnungslos, 


186 Siebentes Kapitel. 


die Reiſe bei unſichtigem Wetter fortzuſetzen; wir ſchlugen daher 
das Lager um 10 Uhr abends zwiſchen Kap Neumayer und Kap 
Bennett auf. 

Es galt, der Zukunft ruhig ins Auge zu ſehen und die Ent⸗ 
ſchlüſſe, die zu faſſen waren, noch einmal gründlich zu erwägen. 
Die Lage war in der Tat ſehr ernſt. An Proviant hatten wir nur 
noch ein Stück Seehundfleiſch und ungefähr eine ganze Seehund⸗ 
haut mit Speck. Unſere Hunde konnten nicht ſobald wieder eine 


Ajako mit ſeinem Seehund. 


Hungerperiode aushalten, und ihre Zahl konnte auch nicht gut 
weiter vermindert werden, wenn ſie zwei Schlitten ziehen ſollten. 
Um die trübe Stimmung zu unterſtreichen, fällt das Baro⸗ 
meter ununterbrochen und verſpricht nichts Gutes für das Wetter, 
das wir erwarten können. Während die andern ſchlafen, über⸗ 
denke ich unſere Lage. 
Wird es möglich ſein, auf dieſem Weg vorzudringen, der den 
andern die Hälfte ihrer Hunde gekoſtet hat? Ich bin bereit, den 
Gedanken aufzugeben, bis nach Kap Morris Jeſup oder Kap 
Bridgman zu gelangen, wie es immer mein Ziel geweſen iſt; aber 


Kap Salor bis zu Lockwoods Steinmal. 187 


den De⸗Long⸗ Fjord? Sehr, ſehr ungern! Nur mit ſchwerem Herzen 
wird es geſchehen, wenn ich umkehren ſoll, trotz allem, was ich für 
dieſe Expedition eingeſetzt habe, und ohne das Programm ganz 
durchgeführt zu haben. Gewiß find jetzt die großen Fjorde an der 
Nordküſte aufgenommen, und teuer iſt es uns zu ſtehen gekommen 
wegen des Wildmangels, des Nebels und des tiefen Schnees, 
aber den De⸗Long⸗Fjord? Von unſerm Lager ſind es nur etwa 
100 Kilometer bis zu dieſem Arbeitsgebiet; doch wenn wir keine 
Jagd finden, werden wir vermutlich alle unſere Hunde einbüßen. 
Um 5 Uhr nachmittags : 

koche ich Tee und wede Ajako 
und den Bootsmann, die 
beide aus Herzensluſt ge⸗ 
ſchlafen haben, ohne ſich von 
nicht aufgenommenen Fjor⸗ 
den und unſichern Zukunfts⸗ 
ausſichten ſtören zu laſſen. 
Ich betrachte es als meine 
Pflicht, ihnen die Lage aus⸗ 
einanderzuſetzen und ihnen 
eindringlich klarzumachen, 

welche Bedeutung es für die 
Expedition hat, wenn es 


ihnen gelingt, hier an dieſem : Knud Kyhn 
Ort Fleiſch zu beſchaffen. Der Bootsmann in friſch erlegtes Wild 
Der Nebel liegt noch gekleidet. 


immer über den Berggipfeln. Das Barometer fällt beſtändig, 
gleichmäßig und rückſichtslos, aber eine leichte Briſe hat den Nebel 
etwas gelichtet, ſo daß das Eis und die unterſten Bergpartien ſicht⸗ 
bar ſind; ſo ſchicke ich denn die beiden unverdroſſenen Jäger fort. 

17. Juni. Um 2 Uhr morgens kommen ſie zurück. Ajako 
mit einem Rieſenſeehund, der Bootsmann buchſtäblich in friſch er⸗ 
legtes Wild gekleidet mit einer Gans, drei Haſen und acht Schnee⸗ 
hühnern. 

Wieder iſt eine ernſte Situation überwunden. Nie iſt eine 
Beute nach unſerm Zelt gebracht worden, die eine ſo entſcheidende 
Bedeutung für die Reſultate der Expedition gehabt hat, und ich 
bin wirklich von einer tiefen Dankbarkeit gegen das Schickſal erfüllt, 


188 Siebentes Kapitel. 


das ſich den beiden jungen Eskimos mitten in dieſer Wüſte, in der 
die andern es haben aufgeben müſſen, ſo gnädig gezeigt hat. 

Wir können jetzt, ohne allzuviel zu wagen, die Reiſe nach dem 
De⸗Long⸗Fjord fortſetzen und hier noch zwei oder drei Fütterungen 
für jedes Geſpann deponieren. Wir feiern das Glück mit einem 
Feſtmahl, woran auch die Hunde ihren reichlichen Anteil erhalten, 
und beſchließen am Abend desſelben Tages aufzubrechen. 

Das Polareis, das dicht an die Küſte herangedrängt iſt, iſt 
jetzt von einzelnen Rinnen, ungefähr 4 Kilometer vom Land ent- 


fernt, durchſetzt, und in einer dieſer Rinnen hat Ajako ſeinen See⸗ 


hund erbeutet, der wie gewöhnlich auffällig ſcheu war. 


Nach Kap Mohn. 


18.—20. Juni. Kap Neumayer iſt — jedenfalls bei dem Wetter, 
wie wir es hier gehabt haben — ein ungewöhnlich trübſeliges 
Vorgebirge, das wohl ein paar kleine Täler beſitzt, in denen eine 
ſpärliche Grasvegetation belebend wirkt, das aber ſonſt nichts hat 
wie Steine und wieder Steine, die nicht einmal durch ihre Form 
dem Reiſenden irgendeine Anregung geben. Wir haben hier unſere 
ſpannendſten Stunden verlebt, aber auch andere haben den Ort 
gekreuzt, den Tod auf den Ferſen. Hier war es, wo Peary auf 
ſeiner Nordpolexpedition im Frühjahr 1906 das Land zu ge⸗ 
winnen ſuchte, als er bei ſeinem Vordringen vom Nordende von 
Grantland durch einen ſtarken nach Oſten gerichteten Strom aus 
ſeinem Kurs verſchlagen worden war. 

Ich ſehe über das aufgepreßte und ſchwer begehbare Polareis 
hin, wo der Weg für die Schlitten mit Axten durch die Eiswälle 
gebahnt werden mußte. Hungrige Männer, die ihr Leben mit 
ein paar Biſſen rohen, gefrorenen Fleiſches von halbverhun⸗ 
gerten Hunden friſten mußten, arbeiteten ſich nach den Küſten hin, 
wo auch wir es ſchwer gefunden hatten, uns am Leben zu erhalten. 
Ich muß an meinen Freund Manigſſog denken, der auf dieſer 
Fahrt die Augen erfror und fürs Leben gezeichnet wurde. Ver⸗ 
gebens hatte er verſucht, Schritt zu halten mit den Kameraden, 
die in immer längeren Tagemärſchen um ihr Leben kämpften, je 
mehr ſie ſich Grantland näherten, wo das Schiff und die Rettung 
zu finden war. Als er ſchließlich nicht mehr konnte, wurde er in 


Kap Salor bis zu Lockwoods Steinmal. 189 


| einer kalten Schneehütte mit einem gefrorenen Hundeſchenkel als 


einziger Nahrung zurückgelaſſen, und hier kämpfte er mit dem Er⸗ 
frieren, Tage hindurch ganz allein, bis ihn eine Entſatzabteilung 
vom Schiff erreichte und dem Leben zurückgewann. 

Mit unſerm Zigeunertemperament und dem Fang des geſtrigen 
Tages waren wir ſo glücklich geſtellt, daß wir vorläufig nicht 
im geringſten an die Lebenskonflikte dachten, die hier entſtehen 
konnten. Jetzt gab es für uns wieder nur ein Vorwärts, das 
unſere Loſung ſein ſollte, bis das Ziel erreicht war. Das Wetter 
iſt ſchlecht. Schauer von kaltem, naſſem Schnee treiben beſtändig 
über uns hin und verderben die Bahn. Den ganzen Tag arbeiten 
wir uns vorwärts unter Schneegeſtöber, das ſtundenweiſe die 
ganze Ausſicht benimmt. Da wir aber keine Zeit zu verlieren 
haben, waten wir unverdroſſen durch den Schnee. Wenn es zwiſchen⸗ 
durch einmal hell wird, offenbart ſich vor uns die ſchönſte Land⸗ 
ſchaft. Überall im Mascart⸗Inlet find wir von hohen, kegel⸗ 
förmigen ſchneebedeckten Bergen umgeben, die von vielen Ab⸗ 
wechſlung und Leben bietenden Schluchten durchſchnitten werden. 
Am Ende des Fjords ſehen wir die Stelle, wo der Stromwirbel⸗ 
kanal mündet; damit haben wir die Löſung für das offene Waſſer 
gefunden, das uns anfangs ſo rätſelhaft war. 

Draußen im Mascart⸗Inlet begegnet uns ein unſagbar trau⸗ 
riger Anblick. Wir finden hier auf dem hohen Eishügel den 
Schlitten, den unſere Kameraden zurückgelaſſen haben. Verſchie⸗ 


dene armſelige Kleinigkeiten ſind neben ihm deponiert, um ihn zu 


erleichtern; aber das Ergreifendſte iſt die Leiche eines armen zurück⸗ 
gelaſſenen Hundes, der von Kap Payer aus vergebens verſucht 
hat, der Spur der Fortziehenden zu folgen, bis er erſchöpft dieſen 
Schlitten erreichte, wo ſich nichts Eßbares fand. Mit Aufbietung 
ſeiner letzten Kräfte iſt er auf die Querhölzer hinaufgekrochen, 
wo er bei unſerer Ankunft tot dalag. 

Der Sturm ſcheint ſtändig zuzunehmen; die Windſtöße peit⸗ 
ſchen uns das Geſicht mit naſſem Schnee, und da ſchließlich unſere 
Kleider zu ſehr leiden, müſſen wir gegen unſern Willen ſchon bei 
Low Point das Zelt aufſchlagen. Hier finden wir das Hunger⸗ 
lager der Kameraden, das keiner Erklärung bedarf; überall ſieht 
man die Knochen der vielen Hunde, die ſterben mußten, um von 
ihren Kameraden und den vier Männern verzehrt zu werden, die 


190 Siebentes Kapitel. 


trotz aller Ausdauer nicht imſtande waren, ſich genügend Jagd⸗ 
beute zu beſchaffen. 

Vom Gipfel eines kleinen Berges entdeckten wir ganz nahe an 
Land einen kleinen Seehund, der trotz Wind und Wetter aufs 
Eis gekrochen iſt. Da er auf gutem Eis liegt, glauben wir ihn 
ſchon beim bloßen Anblick erlegt und im Topf zu haben; denn 
keiner von uns zweifelt, daß er im Laufe einer Stunde unſere 
Beute ſein wird. Es zeigte ſich indeſſen bald, daß es ein Tier war, 
das nicht nur fein Leben ebenſo lieb hatte wie wir, jondern, 
das auch die Kunſt zu foppen verſtand. So oft einer von uns 
ſich näherte, plumpſte er durch ſein Atemloch hinab, lange ehe 
wir auf Schußweite heran waren. Doch kaum wandten wir unſere 
Schritte wieder dem Land zu, ſo kroch er wieder herauf, um das 
Spiel zu wiederholen, ſo oft wir die Jagd von neuem aufnahmen. 

Wir begreifen nicht, aus welchem Grund die Seehunde hier, 
wo fie nie gejagt werden, fo ungewöhnlich ſcheu find. Der Um⸗ 
ſtand, daß ihrer nur wenige ſind, kann möglicherweiſe ihre Auf⸗ 
merkſamkeit jedem ungewöhnlichen Laut gegenüber mehr ſchärfen 
als an andern Orten, wo ſie ſich in größeren Mengen aufhalten; 
bisher haben wir immer nur einen Seehund auf einmal geſehen. 
Eisbären, die ihnen nachſtellen, gibt es auch nicht, jedenfalls 
ſo wenige, daß ſie kaum eine Rolle ſpielen können. Es widerſpricht 
auch unſerer Erfahrung, daß dieſe ſie ſcheu machen; denn in der 
Melvillebucht, dem Eldorado der Eisbären, ſind die Frühjahrs⸗ 
ſeehunde zahmer und weniger nervös als an allen andern Orten 
in Grönland. 

Joe und Hans Hendrik machten dieſelbe Entdeckung auf der 
Polaris⸗Expedition; es fiel ihnen ſehr auf, daß die Seehunde 
beim allergeringſten Knirſchen auf weite Entfernung ſich durch ihre 
Atemlöcher hinabfallen laſſen, ſo daß ſie Hall gegenüber die Ver⸗ 
mutung ausſprachen, es müßten Menſchen in der Nähe ſein. 

Wir haben vom Land aus durch das Fernrohr eingehend ein 
paar Seehunde beobachtet, ehe einer von uns die Jagd auf ſie 
begann. Wenn ein Seehund im ſüdlichen Grönland aufs Eis 
hinaufkriecht, um zu ſchlafen, wälzt er ſich eine Viertelſtunde im 
Schnee, ſtreckt ſich dann aus, legt den Kopf aufs Eis und fällt 
in ſo tiefen Schlaf, daß man gewöhnlich vorſichtig auf Schuß⸗ 
weite herankommen kann, ohne ihn zu wecken. Hier im Norden, 


Kap Salor bis zu Lockwoods Steinmal. 


191 


bleibt der Seehund dagegen nur einige Minuten hintereinander 
ruhig liegen, dann hebt er den Kopf und ſieht lig 5 nach 


allen Seiten um, ganz als ob er un⸗ 
unterbrochen irgendeinen Hinterhalt 
erwartete. Wir glauben, es ſind die 
großen und plötzlich einſetzenden Eis⸗ 
preſſungen, die die Tiere ſo furchtſam 
und nervös machen; denn wenn eine 
Preſſung unter dem Druck der Eis⸗ 
maſſen des Meeres plötzlich und un⸗ 
vermutet einſetzt, wird ſie die kleine 
Rinne, in der der Seehund ſich auf⸗ 
hält, ſchließen und ihm den Zugang 
zum Meer und ſeiner Nahrung ver⸗ 
ſperren. Selbſt wenn es einem Gee- 
hund glücken ſollte, durch die Rinne 
zu ſchlüpfen, würde er doch leicht ris⸗ 
kieren, getötet zu werden. Das iſt 
vermutlich der Grund, warum ſie bei 
dem geringſten Laut zuſammenfahren 
und überhaupt nur ganz kurze Zeit 
in Schlaf fallen. 

Nachdem wir eine Menge Zeit 
mit dem neckiſchen Tier verloren hat⸗ 
ten, gaben wir die Eisjagd auf, um 
unſer Glück im Land zu probieren. 
Hier glückte es dem Bootsmann ſehr 
raſch, drei fette, delikate Eisgänſe zu 


erbeuten, die uns Troſt und Erſatz 


boten. 

Wir verbrachten einen Tag bei 
Low Point bei ſehr wechſelndem 
Wetter und einer Temperatur, die ſich 
beſtändig auf 1 Grad unter Null 
hielt. Im Norden iſt der Himmel 
klar, aber fortwährend treiben dichte 


Landſchaft beim Jewell Inlet. 


Harald Moltke nach Skizze von Koch 


Nebelwolken von Nordweſten heran Så hillen alles in einen 
feuchten, grauweißen Schleier. Dann darf die Sonne wieder einige 


192 Siebentes Kapitel. 


Augenblicke ſcheinen, um ebenſo raſch wieder zu verſchwinden. Gegen 
Abend legt ſich ein Nebelband feſt über die Berge im Südweſten, 
aber da der Horizont freibleibt, beſchließen wir aufzubrechen. 

Wir queren Jewell⸗Inlet, das mit ſeinen ſpitzen, hohen Alpen⸗ 
bergen ſehr an Mascart⸗Inlet erinnert. Wir paſſieren Kap 
Wycander, das ſich als eine Inſel herausſtellt, und kommen darauf 
in ein ſanft abfallendes Küſtenland, das nach der Mündung des 
De⸗Long⸗Fjords führt. Alle dieſe glatten Berghänge find ſehr frucht⸗ 
bar und ſcheinen ein Lieblingsaufenthalt von Haſen und Schnee⸗ 
hühnern zu ſein. Ohne die Fahrt zu verzögern, gelingt es uns, vier 
Haſen und ſechs Schneehühner zu erlegen. Aber trotz des Reich⸗ 
tums an Polarweide und Gras finden wir nicht das geringſte 
Lebenszeichen von Moſchusochſen. Der ganze zuſammenhängende 
hohe Bergrücken, der von dem Sund bei Kap Wycander ſich 
in den De⸗Long⸗Fjord hineinzieht, hat an ſeinem Fuß eine große, 
idylliſche Ebene. 

Auf einem vorſpringenden tief gelegenen Punkt finden wir ein 
kleines Steinmal, das zu unſerer Überraſchung einen Bericht von 
Lockwood enthält. 

In einer Rinne, 5 Kilometer vom Land, ſchießt Ajako einen 
Seehund, und wir dürfen ſagen, daß wir jetzt für einen Aufent⸗ 
halt in dem Fjord, in dem unſere Arbeit abgeſchloſſen werden 
ſoll, wohlverproviantiert ſind. 


Lockwoods Reiſe. 


So oft wir an dieſer einſamen Küſte Erinnerungen an Männer 
treffen, die denſelben Kampf für den Fortſchritt kämpften wie wir, 
haben wir den Eindruck, als ob unbekannte Männer uns begrüßen 
und ihre Freundeshand den Kameraden reichen, die ihren Spuren 
folgen. Lockwoods Steinmal liegt auf der großen Ebene, die ſich 
vor einem hohen, Kap Mohn vorgelagerten Bergrücken ausdehnt. 
Es iſt klein und unanſehnlich, nur reichlich ein Meter hoch, und 
zieht daher in keiner Weiſe die Aufmerkſamkeit auf ſich. Dies iſt 
die Erklärung dafür, daß ſowohl Peary wie Me Millan vorbei⸗ 
gefahren ſind, ohne es zu bemerken. Aber wir, die wir jede 
kleine Unregelmäßigkeit im Gelände unterſuchen, in der ſtändigen 
Hoffnung, doch einmal Wild anzutreffen, entdeckten es ſchon auf 
bedeutende Entfernung. Der Bericht war in einer Konſervenbüchſe 


ualposnploxs u? 1317 e 


Rasmuſſen. 


'sqaofjvzoyg sed Bunqunyg a m 31036 


Kap Salor bis zu Lockwoods Steinmal. 193 


untergebracht, die keineswegs waſſerdicht war; nichtsdeſtoweniger 
war die Schrift leicht leſerlich, trotzdem Wind und Wetter 35 Jahre 
lang über das offene Steinmal hingegangen waren. Der Bericht 
enthält mit altnordiſcher Knappheit eine Mitteilung, daß im 
Mai 1882 zwei Amerikaner, Lockwood und Brainard, mit dem 
Grönländer Frederik Kriſtianſen an dieſem Ort vorbeikamen. 

Lockwood war ein Mitglied der Greely⸗Expedition, die 1881 
von Amerika auszog als ein Glied der großen internationalen 
meteorologiſchen Unterſuchung, die in dieſem Jahr über die ganze 
Welt vorgenommen wurde. Die Expedition, die in der Lady⸗ 
Franklin⸗Bai ungefähr bei dem Discoveryhafen überwinterte, wurde 
ſoweit nach Norden von dem Dampfer „Proteus“ gebracht, der 
unmittelbar nach der Landung der Expeditionsmitglieder heim⸗ 
kehrte. Hier wurde das Haus gebaut, das ſpäter unter dem Namen 
Fort Conger berühmt geworden iſt. 

In Amerika waren folgende Anordnungen getroffen, um die 
Verbindung mit den ausgeſandten Gelehrten aufrechtzuerhalten: 
Schon 1882 ſollte ein Schiff hinaufgeſandt werden, und falls es 
ihm nicht gelang, in Verbindung mit dem Überwinterungsort zu 
kommen, ſollten Depots auf Grinnell⸗Land, möglichſt weit im Nor⸗ 
den, angelegt werden. Das Jahr darauf ſollte ein neuer Verſuch 
gemacht werden; mißglückte auch dieſer, ſo ſollte die Entſatz⸗ 
abteilung ſo hoch wie möglich im Smithſund vordringen, um dann, 
wenn das Eis feſtgeworden wäre, mit Hilfe von Schlitten die 
Verbindung mit der Expedition herzuſtellen ſuchen. 

In Godhavn und Uperniwik wurden die beiden Grönländer 
Jens und Frederik Kriſtianſen angeworben, die der Expedition 
während ihrer ganzen Dauer von 1881 bis 1884 die trefflichſten 
Dienſte leiſteten. Die Amerikaner nahmen im Gegenſatz zu Nares’ 
Leuten die Eskimos ganz in ihre Dienſte, und mit Hilfe dieſer 
beiden ausgezeichneten Schlittenlenker gelang es ihnen, alle 
früheren Rekorde zu ſchlagen. 


* * 
* 


Lockwood war ohne Zweifel der intereſſanteſte und bedeu⸗ 
tendſte Mann in Greelys Stab. Am 3. April verließ er Fort 
Conger mit einer Begleitung von zwölf Mann, von denen jeder 


130 Pfund ziehen ſollte, und mit Frederik, der mit ſeinen acht 
Rasmuſſen. 13 


194 Siebentes Kapitel. 


Hunden je 100 Pfund pro Hund transportieren ſollte. Schon 
am 27. April ſchickte Lockwood alle menſchlichen Zugtiere nach 
Hauſe und ſetzte mit Brainard und Frederik die Reiſe nach Norden 
fort. Bei Kap Bryant fand er gleich uns die Ausſicht über das 
Land, das Beaumont mit ſo ſtarkem perſönlichem Einſatz erforſcht 
hatte, und er verſuchte ſofort, den Kurs nach Kap Man zu richten, 
von wo aus die vielen Geheimniſſe des Landes im Norden ſich 
den kranken Engländern geoffenbart haben würden. Kaum war 
man indeſſen ein paar Meilen im Land vorwärts gekommen, als 
man auf denſelben weichen Schnee ſtieß, der Beaumont ſoviel 
Schwierigkeiten bereitet hatte. Kurz entſchloſſen ging Lockwood 
auf dem Meer weiter, ſtatt ſich mit Einzelheiten zu beſchäftigen. 

Schon am 4. Mai erreichte er Kap Britannia, das nach 
Greelys Befehl das Ziel ſeiner Reiſe war. Aber da die Küſte, 
an der er zurückkehren ſollte, gut mit Depots verſehen und die 
Hunde noch keine nennenswerten Schwierigkeiten zu überwinden 
gehabt hatten und daher bei vollen Kräften waren, entſchloß ſich 
Lockwood ohne weiteres, die Reiſe fortzuſetzen, immer in einem 
Abſtand vom Land, der ihm gute Bahn ſicherte. Die Reiſe läßt 
ſich am beſten als eine Rekognoſzierung charakteriſieren; es war 
Lockwood darum zu tun, Land ſoweit wie möglich im Norden zu 
konſtatieren, ohne es näher zu unterſuchen. Daher konnte er gemäß 
der Aufgabe, die er ſich geſtellt hatte, am 13. Mai mit gutem 
Gewiſſen die amerikaniſche Flagge auf der Lockwoodinſel an der 
Mündung des De⸗Long⸗Fiords aufpflanzen. England, das 300 
Jahre lang die Ehre gehabt hatte, ſeine Flagge am weiteſten nach 
Norden getragen zu haben, mußte hier der amerikaniſchen Expe⸗ 
dition weichen. Englands höchſte nördliche Breite, die Markham 
mit 83° 20 26” erreicht hatte, war jetzt von Lockwood mit 83° 
24 geſchlagen. Es war nicht viel, aber es war doch ein Rekord. 
Greely beſpricht dieſes Ereignis in ſeinem Buch wie folgt: 

„Drei Jahrhunderte hindurch hat England die Ehre gehabt, 
den höchſten Punkt im Norden erreicht zu haben. Jetzt hat Lock⸗ 
wood, auf der Arbeit und den Erfahrungen der Engländer fußend, 
ihre Reſultate von drei Jahrhunderten zu Land und zur See 
übertroffen. Mit Lockwoods Namen iſt der ſeines unzertrenn⸗ 
lichen Schlittenbegleiters Brainard verknüpft, ohne deſſen wirk⸗ 
ſame Hilfe und raſtloſe Energie, wie Lockwood ſelbſt ſagt, das 


Kap Salor bis zu Lockwoods Steinmal. 195 


Werk nicht hätte vollendet werden können. Mit berechtigtem Stolz 
blickten ſie an dieſem Tage von dem Ort ihres Erfolges, dem nörd⸗ 
lichſten Punkt (Lockwoodinſel) nach dem troſtloſen Kap, das den 
Namen des großen Waſhington tragen mag, bis kommende 
Generationen es überwinden.“ 

Mir ſcheint, daß Greely hier, ohne im geringſten Lockwoods 


und Brainards Verdienſte zu ſchmälern, auch den Grönländer 


Frederik hätte nennen dürfen. Denn ohne deſſen Hilfe wäre der 


= Rekord niemals aufgeſtellt worden. Es geht auch aus gelegent- 


lichen Außerungen Lockwoods hervor, wie hoch er Frederik als 
Menſch und als Reiſebegleiter ſchätzte. Aber leider kam Lockwood 
ſelbſt nie dazu, ſeine große Reiſe zu ſchildern. i 
. Brainard, der ebenfalls eine ungewöhnliche Ausdauer beſaß, 
3 äußert ſich in ſeinem Tagebuch: „Wir haben eine höhere Breite 
ererreicht als jemals früher ein anderer Sterblicher und wir haben 
Land gefunden, wo man keins vermutete. Wir entfalteten das 
glorreiche Sternenbanner in einer heiteren Briſe mit unbeſchreib⸗ 
lichem Triumphgefühl.“ 
i Schon am 1. Juni, 60 Tage nach dem Aufbruch, waren alle 
Teilnehmer der Expedition in beſter Verfaſſung wieder in Fort 
Conger. | 
Leider muß ich aus Platzrückſichten die Beſchreibung von 
Greelys Expedition bedeutend einſchränken, obwohl ſie die be 
rühmteſte von allen genannt werden muß, wenn man ihr tragiſches 
Los in Betracht zieht. Die Mitglieder entfalteten während ihres 
ganzen Aufenthalts in Fort Conger eine energiſche Arbeit, ſowohl 
landeinwärts wie nach Norden. Am intereſſanteſten iſt die Er⸗ 
forſchung von Grantland, deſſen Inneres damals vollkommen un⸗ 
bekannt war und wo man mit Hilfe kleiner leichter Zugwagen weit 
im Land herumkam. Von großer Bedeutung waren namentlich die 
ethnographiſchen Reſultate inſofern, als man im Innern des 
Landes in der Umgebung des Hazenſees verſchiedene Eskimo⸗ 
wohnplätze feſtſtellte. Greely nahm ſelbſt an den Inlandreiſen teil, 
Hund der Umſtand, daß die Leute im Gegenſatz zu allen ihren Vor⸗ 
gängern infolge einer vernünftigen Diät nicht an Skorbut litten, 
erhöhte in hohem Grad die Arbeitsfähigkeit. 
Allen voran an Energie und Arbeitskraft ſtand Lockwood. 


Im Jahre 1883 begibt er ſich von neuem auf eine Reiſe nach 
13* i 


196 Siebentes Kapitel. 


Norden längs des von ihm entdeckten Landes und erreicht er⸗ 
ſtaunlich raſch die Schwarzhornklippen, wo er jedoch offenes 
Waſſer trifft und umkehren muß. 

Da der Weg hier verſperrt iſt, wählt ſich Lockwood, wieder 
zuſammen mit Brainard und Frederik, einen neuen Weg quer 
über Grinnell⸗Land, das er erforſcht und wobei er auch den großen 
Greelyfjord entdeckt. Man hatte unterdeſſen zwei Überwinterungen 
durchgemacht, ohne in Verbindung mit den Hilfsexpeditionen 
zu kommen, die für die Rückreiſe in Ausſicht geſtellt waren. Da 
unglücklicherweiſe der Befehl gegeben war, die Expedition ſollte, 
wenn ſie nicht mit Schiffen in Verbindung käme, verſuchen, nach 
Süden zu marſchieren, dem Entſatz entgegen, begann man ſich zum 
Aufbruch zu rüſten. Dieſer ſollte äußerſt verhängnisvoll werden 
und den Anlaß zu der größten Tragödie bilden, die ſich je bei 
einer arktiſchen Expedition abgeſpielt hat. 

Dazu kam, daß ſich an Bord zwiſchen einzelnen Mitgliedern 
ſehr unerquickliche Verhältniſſe entwickelt hatten, ſo daß ſogar der 
ſeltſame Fall eintrat, daß der Arzt der Expedition Dr. Pavy 
während des letzten Sommers in Fort Conger wegen Inſubor⸗ 
dination in Arreſt geſetzt wurde. Wenn es Verhältniſſe im Leben 
gibt, in denen ein kameradſchaftliches Zuſammenarbeiten unter 
einer feſten Leitung eine unumgängliche Bedingung dafür iſt, daß 
alles ſo geht, wie es ſein muß, ſo iſt dies auf arktiſchen Expeditionen 
der Fall, wo die wenigen Menſchen, die miteinander leben, aus⸗ 
ſchließlich aufeinander angewieſen ſind. Darum bedeutet ein ſolches 
Vorkommnis für die inneren Verhältniſſe der Expedition ein 
großes Unglück. Es entſtanden auch Streitigkeiten darüber, ob 
man nicht ein paar Schlitten nach der Littletoninſel hinabſenden 
ſollte, wo die Anlegung von Depots verſprochen war. Es iſt 
immer leicht, hinterher, wenn man von den Reſultaten der An⸗ 
ordnungen ausgehen kann, zu kritiſieren, und es läßt ſich nicht 
leugnen, daß ein Plan wie der erwähnte, von den jetzt wohl⸗ 
trainierten Schlittenreiſenden im Verein mit einem der Eskimos 
ausgeführt, ſehr angebracht ſcheinen mußte. Aber Greely war 
dagegen und ſetzte durch, daß er aufgegeben wurde. Es wurde 
beſchloſſen, alle ſollten an der Küſte von Grinnell⸗Land entlang nach 
Süden ziehen, um mit Hilfsſchiffen oder Depots in Verbindung 
zu kommen. 


Kap Salor bis zu Lockwoods Steinmal. 197 


Beim Aufbruch wurde der Befehl gegeben, daß alles Privat⸗ 
eigentum zurückbleiben ſollte; doch wurde jedem der Offiziere er⸗ 
laubt, 16 Pfund mitzunehmen, den Gemeinen dagegen nur 8. 
Ein ſolcher Unterſchied wirkt in hohem Grade übel auf einer 
Expedition, wo nicht der geringſte auf Rang gegründete Unter- 
ſchied gemacht werden darf. Man traf auch die unglückſelige 
Beſtimmung, alle Hunde ſollten bei Fort Conger zurückbleiben, 
wodurch man ſich alle Jagdmöglichkeiten abſchnitt, falls man ge⸗ 
zwungen war, ohne Hilfe von außen eine neue Überwinterung 
vorzunehmen. 

Am 9. Auguſt wurde die Station von allen 25 Mann in 
Booten verlaſſen. Zu dieſem Zeitpunkt war noch für ein Jahr 
Proviant vorhanden, und man wußte auch, daß das Land reich 
an Wild war. 5 

Unter großen Schwierigkeiten erreichte man mit den Booten 
zwiſchen treibenden Eisbergen Kap Sabine etwa 400 Meilen 
von Fort Conger, wo man endlich in einigen Steinmalen Mit⸗ 
teilungen fand über das, was bisher geſchehen war, um der Expe⸗ 
dition zu Hilfe zu kommen. Das erſte Schiff hatte Schiffbruch 
erlitten, das zweite hatte nicht vermocht, durch das Eis genügend 
weit vorzudringen und war daher mit dem ganzen mitgebrachten 

Proviant umgekehrt. In einem andern Steinmal wurde hoch und 
heilig verſichert, daß alles geſchehen werde, was in Menſchenhand 
liege, um die Expedition im folgenden Jahr zu retten. 

Es blieb nichts weiter übrig, als dem Winter entgegenzu⸗ 
gehen, ſo gut man es vermochte. Ein elendes Haus, das eigentlich 
nur aus einem Boot beſtand, das mit dem Kiel nach oben auf⸗ 
geſtellt war, wurde auf der Piminſel errichtet. Ein paar einzelne 
Depots wurden wohl gefunden, genügten aber bei weitem nicht 
für Herbſt, Winter und Frühjahr. Man kann ſich vorſtellen, mit 
welcher Wehmut die Männer an das gute, warme Überwin- 
terungshaus bei Fort Conger zurückdachten, wo ſich ſogar eine 
Kohlenmine ein kleines Stück vom Haus entfernt fand, an all den 
Proviant, der den ganzen Winter gereicht haben würde, und end⸗ 
lich an die Hunde, die die Jäger weit über das Land auf Moſchus⸗ 
ochſenjagden geführt haben könnten. 

Das Hungerlager, wie es ſpäter genannt worden iſt, entrollt 
die tragiſchſten Bilder von menſchlicher Not und Elend. Der 


198 Siebentes Kapitel. 


Herbſt verging noch am beſten. Während dieſer Zeit verſuchte 


Greely die Stimmung der Leute durch Vorleſungen mitten in 
Kälte und Hunger aufrechtzuerhalten. Später fehlten die Kräfte 
zu jedem Widerſtand, und einer nach dem andern erlag unter den 
fürchterlichſten Leiden. Der eine Eskimo, Frederik, ſtarb infolge 
von Überanſtrengung bei einer mißglückten Jagd; der andere, 
Jens, ertrank im Kajak bei einem Verſuch, ſich durch dünnes Eis 
zu arbeiten, um zu einem erſchoſſenen Seehund zu gelangen. Als 
die Expedition dieſe Berufsjäger nicht mehr hatte, ſchien alles 


Rettung der letzten Aberlebenden. 


langſam bergab gegangen zu ſein. Selbſt der energiſche, tat⸗ 
kräftige Lockwood konnte ſich nicht mehr dem Einfluß des Hungers 
entziehen. Gegen das Frühjahr, als das Licht kam und die 
meiſten außerſtande waren, zu gehen, entdeckte man erſt nach, 
der Kataſtrophe, daß man zuſammen mit einem toten Kameraden 
im Schlafſack gelegen hatte. 

Endlich, am 22. Juni 1884, kam das erſehnte Schiff, aber 
da waren von den 24 Männern nur noch ſechs am Leben. Greely 


ſelbſt ſchließt ſeine Reiſebeſchreibung mit den ergreifenden Worten: 


„Gegen Mitternacht des 22. hörte ich die Dampfpfeife der 
Thetis", die auf Befehl von Kapitän Sålen feine Leute zu⸗ 


a 


Kap Salor bis zu Lockwoods Steinmal. 199 


ſammenrufen ſollte. Mein Gehör täuſchte mich nicht, und doch 
konnte ich kaum glauben, daß ein Schiff ſich im Sturm ſo nahe 
an Land wagen würde. 
„Mit ſchwacher Stimme fragte ich Brainard und Long, ob 
ſie Kraft genug hätten hinauszugehen, worauf ſie wie gewöhnlich 
antworteten, daß ſie ihr Beſtes tun würden. Ich bat ſie zurück⸗ 
zukommen und uns zu erzählen, wenn ein Schiff in Sicht wäre. 
Nach 10 Minuten kam Brainard von dem etwa 50 Ellen ent- 
fernten Höhenrücken zurück und teilte in ſehr niedergeſchlagenem 
Ton mit, daß nichts zu ſehen ſei, und daß Long gegangen ſei, 
die Notflagge zu heißen, die vom Wind umgeweht war. Brainard 
kroch wieder in ſeinen Schlafſack, während wir eine ergebnisloſe 
Diskuſſion begannen über den Ton, den wir gehört hatten. Da 
behauptete Bierderbick, das Schiff müßte im Payerhafen liegen, 
was ich nicht glauben konnte; ich meinte, der Pfiff müßte von 
einem Schiff herrühren, das an der Küſte entlang fuhr. Wir 
hatten alle Hoffnung aufgegeben, als wir plötzlich fremde Stim⸗ 
men meinen Namen rufen hörten. Und plötzlich fühlten wir fo 
ſtark, wie unſer entkräfteter Zuſtand es zuließ: unſer Land hatte 
uns nicht im Stich gelaſſen, all die langwierigen Leiden waren 
vorbei und die Reſte der Lady⸗Franklin⸗Expedition waren ge⸗ 
rettet!“ dj 


Aaehtes Kapitel. 
Vom De⸗Long⸗Fjord bis Kap Salor. 


Am Ziel der Expedition. 


. Rekognoſzierung des geſtrigen Tages hatte das Reſultat 
ergeben, daß man von dem hohen 10 Kilometer fjordein⸗ 
wärts liegenden Berg eine Ausſicht über das ganze Gebiet, das 
wir noch aufzunehmen hatten, erwarten durfte. Der Inſel gaben 
wir den Namen Hanne⸗Inſel, während wir den Berg, der die 
Baſis für die Beobachtungen abgeben ſollte, Thuleberg nannten. 

Ohne größere Schwierigkeiten legten wir auf gutem Eis die 
Strecke bis zum Thuleberg zurück, den Koch und Ajako ſogleich 
beſtiegen. Ein heftiger Sturm herrſchte, und wir beobachteten den 
ganzen Tag viele ſich vergrößernde Föhnwolken, die wie große 
Drachen über den Himmel trieben. Schon um 2 Uhr kam Ajako 
mit folgendem Brief von Koch zurück. 


Thuleberg, 21. Juni 1917. 

Ajako und ich kamen auf dem Gipfel, der 780 Meter hoch iſt, früh 
genug an, um eine Mittagsbreite zu nehmen. Der De⸗Long⸗Fjord iſt groß 
und reich an Überraſchungen. Ich will bei Kap Mohn beginnen. Südlich 
davon ein Fjord nach Weſten mit Sund nach dem Polarmeer und einem Tal 
nach dem Sund, ſüdlich von der Hanne⸗Inſel, jo daß ich Waſſer vor 
der Kap⸗Ramſay⸗Inſel ſehe. Dann ein Fjord nach Südweſten mit Tal, vielleicht 
nach dem Mascart⸗Inlet. Ferner ein Fjord nach Süden mit Inlandeis im 
Hintergrund. Dann ein etwa 30 Kilometer langer, breiter Fjord nach Süd⸗ 
oſten, von wo aus zwei Täler nach Oſten führen, von denen das nördlichere 
ſehr weit ins Land hineingeht. Vermutlich iſt hier ein See in der Richtung 
nach dem Frederik⸗Hyde⸗Fjord. Der Wildfjord liegt nördlich von hier wie ein 
Panorama. Die beiden großen neuen Fjorde können mit vertikaler Baſis auf⸗ 
genommen werden. Starker und kalter Wind wird leider die Zeichnung etwas 
verzögern. Aber die Luft über Pearyland iſt andauernd ſehr klar. 


Vom De⸗Long⸗Fjord bis Kap Salor. 201 


Nach dieſem ermutigenden Bericht begebe ich mich ſofort zur 
Vermeſſungsſtation hinauf. Es war eine beſchwerliche, an⸗ 
ſtrengende Wanderung über loſe Steine. Aber als ich endlich 
volle Ausſicht über die Vermeſſungsſtation hatte, fiel ich faſt auf 
den Rücken vor Überraſchung über die gewaltige arktiſche Land⸗ 
ſchaft, die man von hier überblickt. 

Seewärts das Polarmeer, deſſen Macht und Stimmungen 
ich ſchon ſo oft geſchildert habe, landwärts Pearyland, das ich 
vom Independencefjord her kannte, das aber hier, dem erſtarrten 
Meer gegenüber, einen ganz andern Wintercharakter hatte als 
auf der Oſtſeite zur ſelben Jahreszeit. Das Land war überall 
mit Schnee bedeckt und trug Gletſcher auf allen Gipfeln; jede 
Hoffnung, hier ein Jagdland zu finden, das etwa dem Mohntal 
auf Adam⸗Biering⸗Land entſpräche, war im Keim erſtickt. 

Allerdings hatten wir am Fuß des Thulebergs auf einigen 
kleinen grasbewachſenen Abhängen Reſte von ſehr alten Moſchus⸗ 
ochſenknochen gefunden. Aber ſie waren vom Alter verwittert und 
ermutigten uns nicht, unſer Glück in dem Küſtenland der nächſten 
Umgebung zu ſuchen. 

Lockwood, der dieſem Fjord den Namen gegehen hat, iſt, weil 
die Bahn dort günſtig war, ſo weit ſeewärts vorbeigekommen, daß 
er keinen Überblick über den De⸗Long⸗Fjord hatte, den er als einen 
einzelnen großen Fjord anſah, der ſich zwiſchen die Berge von 


d Pearyland hineinſchob. Später iſt Peary ungefähr denſelben Weg 


vorbeigekommen, und nach deſſen Beobachtungen, die ebenfalls 
keine Einzelheiten über den Fjordkomplex geben konnten, hat man 
die Theorie aufgeſtellt, der De-Long⸗Fjord erſtrecke ſich möglicher⸗ 
weiſe ſo weit ins Land hinein, daß er ſich wie ein großer Kanal 
mit dem vermuteten Pearykanal etwa in der Mitte zwiſchen dem 
Nordenſkiöldfjord und dem Independencefjord vereinige. 
Nachdem der große Pearykanal durch unſere Unterſuchungen 
teils auf der erſten, teils auf der zweiten Thule⸗Expedition zu 
einer Mythe geworden war, beſtand noch die Möglichkeit, daß 
der De⸗Long⸗Fjord im Gegenſatz zu dem kleinen Nordenſkiöldfjord 
ſo tief einſchnitte, daß er an ſeinem Ende ein Umland habe von 
der gleichen Art, wie ich es im Innern des Independencefjords ge⸗ 
funden hatte. War dies der Fall, ſo war die Entfernung von hier 
bis zum wildreichen Mohntal im Adam⸗Biering⸗Land ſo kurz, 


202 Achtes Kapitel. 


daß eine Ruhe⸗ und Jagdſtation angezeigt geweſen wäre, die vor 
allem dem Botaniker zugute gekommen wäre. 

Dieſe Überlegungen waren es, die am 31. Mai zu der Teilung 
der Expedition geführt hatten, einer Teilung, die an und für ſich 
kein Bedenken hatte. Denn wir wußten genau, daß man ſich bei 
gutem Eis verhältnismäßig raſch in die Gegend von Kap Morris 
Jeſup retten konnte, wo die Amerikaner zweimal günſtige Ver⸗ 
hältniſſe gefunden hatten. Aber dieſer Plan hatte ſich, wie wir 
ſchon gehört haben, als undurchführbar erwieſen, hauptſächlich, 
weil ein Sturm von ungewöhnlicher Dauer die Hunde der erſten 


Abteilung vernichtet hatte. Koch und mir war das Glück günſtiger 


geweſen, und nun ſtanden wir auf dem Gipfel des Berges, von 
wo aus die Arbeit der Expedition abgeſchloſſen werden konnte. 

Der Fjord war das nördlichſte Ziel unſerer Reiſe. Noch hier, 
bei dem letzten großen Fjord Grönlands, durfte man Über⸗ 
raſchungen und Ergebniſſe erwarten, die ſich an die ſchon ge⸗ 
wonnenen anſchloſſen. Dies war der Grund, daß wir trotz der 
übeln Erfahrungen alles aufs Spiel geſetzt hatten, um dieſen 
Punkt zu erreichen. Jetzt, da wir am Ziel ſtanden und wußten, 
daß unſere Rückkehr durch Seehundfleiſch und ⸗-ſpeck geſichert war, 
fühlten wir die unſagbare Freude, die nur der kennt, der eine 
Arbeit in Angriff genommen und ſie trotz aller Schwierigkeiten 
durchgeführt hat. 

Wir gaben den beiden neuen Fjorden Namen und nannten 
den Fiord nach Südweſten Th.⸗Thomſen⸗Fjord, nach dem Inſpektor 
am Nationalmuſeum, der uns bei unſern Vorbereitungen ſo oft 
mit gutem Rat zur Seite geſtanden hatte. Der große Mittelfjord 
behielt natürlich ſeinen Namen De-Long- Fjord, während der etwa 
30 Kilometer große Fjord nordöſtlich von dem mittleren Arm 
nach Profeſſor Bernhard Böggild, einem Mitglied des wiſſen⸗ 
ſchaftlichen Komitees der Expedition, benannt wurde. — Nicht 
nur die geologiſchen, ſondern auch die kartographiſchen und ethno⸗ 
graphiſchen Unterſuchungen fanden hier ihren natürlichen Abſchluß. 
Die Küſtenſtrecke von dem De-Long⸗Fjord bis Kap Bridgman war 
im Jahr 1900 von Peary bereiſt worden; hier hatten ſich keine 
Abweichungen in den Konturen des Landes in Form von Inſeln 
oder tieferen Einſchnitten ergeben. Hier gab es alſo für uns keine 
Korrekturarbeit auszuführen, hier waren keine Irrtümer möglich. 


Vom De-Long-Fiord bis Kap Sal. 203 


Wenn Peary ſich an andern Stellen, wie bei dem Nordenſkiöld⸗ 
fjord und dem De⸗Long⸗Fiord, ganz zu ſchweigen vom Indepen⸗ 
dencefjord, geirrt hat, ſo habe ich ſchon früher gezeigt, daß dieſe 
Irrtümer begreiflich waren. Bei den großen Strecken, die Peary 
durch vollkommen unbekanntes Land zurücklegen mußte, kann es 


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Das Gebiet des De-Long-Fjords. 


Obere Karte nach unſerer Aufnahme; untere Karte, Stand 
der Kenntnis vor der Zweiten Thule⸗Expedition. 


leicht paſſieren, daß man nichts weiter erreicht, als nur die aller⸗ 
wieſentlichſten Konturen des Landes feſtzulegen, ohne ſich irgend⸗ 
wie auf Einzelheiten einzulaſſen. Letztere Arbeit bleibt den ſpäteren 
Expeditionen überlaſſen. Wir hatten daher keinen Grund, die 
Reeiſe fortzuſetzen, um jo mehr, als wir bei unſerer Abreiſe den 
Fjord hier als unſer äußerſtes Ziel bezeichnet hatten. 
Was mich anbetrifft, ſo hatte auch ich ein Reſultat erreicht, 


204 Achtes Kapitel. 


das ſich durch eine Fortſetzung nicht vertiefen ließ; denn die letzte 
Möglichkeit, daß eine Eskimowanderung jemals nördlich um Grön⸗ 
land herum ſtattgefunden haben könnte, war jetzt durch die Natur, 
wie wir ſie hier bei dem letzten großen Fjord an der Nordweſtküſte 
fanden, abgeſchnitten. Das Umland bietet keine Lebens⸗ 
bedingungen, und die von ſchwimmendem Inlandeis bedeckten 
inneren Teile des Fjords machen den Eskimos die allein rettende 
Seehundjagd unmöglich. 

Trotz all dieſer Erwägungen, die in jedem Punkt unangreifbar 
waren und die uns darauf hinwieſen, ſchleunigſt die Rückreiſe an⸗ 
zutreten, konnte ich mich doch nicht von dem Gedanken losmachen, 
daß ich mit Rückſicht auf die Geſamtwirkung unſerer Arbeit gern 
ganz um Kap Bridgman herumgekommen wäre, das im Jahre 
1907 das Ziel der vortrefflich durchgeführten Schlittenreiſe des 
Kapitäns J. P. Koch geweſen war. Dann erſt hätten däniſche 
Reiſende Grönland ganz umſponnen. Immer wieder mußte ich 
mir ſagen, daß auf dieſer Strecke in der Zeit, die uns zur Ver⸗ 
fügung ſtand, keine Arbeit geleiſtet werden konnte. Aber die Un⸗ 
ruhe wollte doch nicht aus dem Herzen weichen, und die einfache 
Handlung, den Danebrog an der Stelle zu heißen, wo däniſche 
Forſcher die Unterſuchung Grönlands abgeſchloſſen hatten, er⸗ 
ſchien mir als ein ſchöner Abſchluß unſerer langen Reiſe. 

Aber das Ganze war ja nur eine Formſache, ja ich will ſogar 
zugeben, eine Sache der Eitelkeit, und die mußte zurückſtehen vor 
den ernſten Reſultaten, für die ich verantwortlich war. Die erſte 
Abteilung war nach Süden gezogen, um die Reſte ihrer elenden 
Hunde zu retten. Es galt, ſo raſch wie möglich mit ihr in Ver⸗ 
bindung zu kommen. Und man mußte zugeben, daß auch unſere 
eigene Lage nicht günſtig war. Ich habe erzählt, daß Koch im 
Sherard⸗Osborne⸗Fjord krank wurde und infolge der Fleiſchdiät 
dauernd an Verdauungsbeſchwerden litt. Obgleich er mit der ihm 
eigenen Energie feine Arbeit ohne Unterbrechung bewunderns⸗ 
wert ausführte, mußte er doch geſtehen, daß er zeitweiſe ſeine 
Kräfte ſo geſchwächt fühlte, daß er nicht an einer forcierten Tour 
nach Kap Morris Jeſup oder Kap Bridgman teilnehmen konnte. 
Wir hatten oft davon geſprochen, daß Ajako und ich dieſe Reiſe 
allein machen ſollten, während Koch und der Bootsmann mit dem 
einen Hundegeſpann und dem größten Teil des Proviants, den 


Vom De⸗Long⸗Fjord bis Kap Salor. 205 


wir uns verſchafft hatten, langſam nach Kap Salor hinabfahren 
ſollten, wo die ganze Expedition ſich plangemäß wieder zu ſammeln 
hatte. Aber als es zur Entſcheidung kam, wagte ich doch nicht, 
die Expedition unter den ſchwierigen Verhältniſſen, mit denen wir 
zu kämpfen hatten, noch weiter zu teilen. Wir errichteten daher 
am ſelben Tag unſer Steinmal auf dem großen Berg, der uns die 
abſchließende Ausſicht über den letzten noch unbekannten Teil Grön⸗ 
lands gewährt hatte. 


Endlich heimwärts. 


22.—23. Juni. Die plötzliche Ankunft des Frühjahrs hat nun 
den Schnee ſo weit geſchmolzen, daß man anfängt, Waſſer unter⸗ 
halb des Schnees anzutreffen. Dies iſt ein Stadium, das mit 
Recht von allen arktiſchen Reiſenden gefürchtet iſt; denn jeden 
Augenblick wird der Schlitten von dem naſſen Schnee feſtgeſaugt, 
und man kann ihn nur mit äußerſter Mühe wieder losbekommen. 
Die Hunde, die bei dem guten Seehundfutter ſchon wieder die 
Schwänze hochtrugen, werden leider in dieſem Moraſt raſch mut⸗ 
los. Es ſcheint uns daher hohe Zeit, uns auf den Weg nach 
Dragon Point zu machen. 

Sogar unſere Schneeſchuhe, an denen wir ſoviel Freude ge⸗ 
habt haben, werden ſchwer wie Blei von dem naſſen Schnee, der 
daran feſtklebt. Einreiben mit Stearin hilft immer nur für ganz 
kurze Zeit, und die Schneereifen, die uns ſo gut in dem weichen 
Schnee trugen, werden ebenſo wie die Schneeſchuhe in dicke Schichten 
feuchten Schnees eingehüllt und hängen wie Klötze an unſern 
Füßen. 

Wir brachen am 22. Juni um 7 Uhr auf und legten bis 1 Ahr 
die 22 Kilometer nach Lockwoods Steinmal zurück. Dann ſchlugen 
wir das Zelt auf und kochten Haſen, ſoviel wir zu eſſen ver⸗ 
mochten; wir hatten nämlich unterwegs ſieben erlegt, mit einem 
Stück Speck werden dieſe mageren Hajen zu einer Delikateſſe. 
Wir leiden unter der Hitze und gehen halbnackt herum; die Tem⸗ 
peratur hat ſich während des Tages zwiſchen 3 und 6 Grad 
Wärme bewegt. 

Um 9 Uhr abends ſetzten wir die Reiſe fort, nachdem in dieſem 
Lager jeder einen ganzen Haſen verzehrt hat. Die milde Tem⸗ 
peratur hat jetzt einem feuchten, kalten Wetter Platz gemacht. 


206 Achtes Kapitel. 


Das ganze Eis des Polarmeers treibt uns ſeine Kälte ins Geſicht 
und ſchafft nicht gerade eine Johannisfeſtſtimmung. 

Schon jetzt ſcheint Bewegung in das Eis zu kommen; wir 
können deutlich eine Rinne von Kap Mohn bis nach Kap Neu⸗ 
mayer hinüber verfolgen, während eine andere, etwa zwei Kilo⸗ 
meter vom Land entfernt, der Küſte auf Kap Wycander zu folgt. 

24. Juni. Wie wir erwartet hatten, verbeſſerte das kühle 
Wetter die Bahn, und es iſt ein Vergnügen, zu ſehen, wie die 
Hunde vorwärts ſtürmen. 

Wir wünſchen alle, das Johannisfeſt zu feiern; dieſer Wunſch 
ging auf eine hübſche Art in Erfüllung. Als wir eben den 
Bootsmannſund bei Kap Ramſay paſſierten, flog eine große Eis⸗ 
gans über unſern Köpfen daher, umkreiſte uns einmal und ließ 
ſich dann zu unſerer großen Verwunderung ein Stück vor den 
Hunden, gerade in guter Schußweite, nieder. Selbſtverſtändlich 
mußte ſie ihre Neugier mit dem Leben bezahlen und lieferte uns 
einen köſtlichen Feſtbraten, der nach allen Regeln der Kunſt in Fett 
gebraten wurde. — Die Tagereiſe endete um 6 Uhr vormittags 
bei Low Point, wo wir uns wieder für ein paar Stunden von 
dem Seehund zum beſten haben ließen, der hier ſein feſtes Stand⸗ 
quartier zu haben ſcheint. Nach wiederholten, vergeblichen Ver⸗ 
ſuchen entſchloſſen wir uns, von der Notwendigkeit gezwungen, ihn 
am Leben zu laſſen. Die Entfernung des Tages betrug 24 Kilo⸗ 
meter. 

25.—26. Juni. Der erſte Gedanke, jo oft man erwacht, gilt 
dem Eis und der Bahn, die man finden wird. Wir ſtecken jetzt ſo 
in der ſchweren Arbeit, daß man in den erſten Stunden des Tage⸗ 
marſches ſich nur mit einer gewiſſen Schwierigkeit vorwärts be⸗ 
wegt. Man fängt unwillkürlich langſam an — es gilt die Kräfte 
zu ſchonen —, aber gewöhnlich verliert ſich die Steifheit in den 
Gliedern erſtaunlich raſch, und die Reiſe wird in feſtem Tempo 
beſchloſſen. i 

Die Schneeſchmelze iſt jetzt die Küſte entlang in vollem Gange. 
Große Seen liegen unterhalb des Eisfußes, und das Waſſer hat 
ſchon angefangen, ſich einen Ablauf nach den Spalten zu ſuchen, 
die dicht unter Land entſtehen. 

Bei Kap Bennett finden wir wieder ein zuſammengeſtürztes 
Steinmal, worin ein kleiner Bericht von Lockwood niedergelegt 


Vom De-Long-Fjord bis Kap Salor. 207 


war. Vermutlich war während einer Kaffeeraſt ein kurzer Gruß an 
andere Küſtenwanderer hingekritzelt worden, ſonſt ſtand nichts 
Bemerkenswertes auf dem Zettel. 

Nach 12 Stunden einförmigen Marſches auf ſchwieriger Bahn 
über Schnee, unter dem das Waſſer ſtand, gelangten wir nach 
Kap Neumayer, womit wir eine Entfernung von 30 Kilometer 
zurückgelegt hatten. 

Hier zwangen uns wieder Regen und Schnee ſtillzuliegen; um 
in Zukunft nicht zu ſehr unter der ſchlechten Bahn zu leiden, über⸗ 
zogen wir unſere Schneeſchuhe und die Schlittenſchneeſchuhe mit 
Seehundfell, das auf naſſem Schnee ſehr leicht gleitet. 


Am Fleiſchtopf. 

227. Juni. Die Eskimos haben eine Sage, daß auf dem 
Meeresgrund eine alte Hexe lebt, die über alle Jagdtiere herrſcht. 
Sie hat eine verwickelte, umſtändliche Lebensgeſchichte. Urſprüng⸗ 
lich war fie mit einem Sturmvogel in Menſchengeſtalt verheiratet; 
aber auf einer Bootfahrt, auf der man nahe daran war unter⸗ 
zugehen und glaubte, ihr Mann ſei die Urſache des Sturmes, warf 
man ſie über Bord. Als ſie verſuchte, ſich am Rand des Bootes 
feſtzuklammern, wurden ihr die Hände abgehauen, worauf ſie 
unterſank. Auf dem Meeresgrunde entwickelte fie ganz beſondere 
große Eigenſchaften, die ſie zur Herrſcherin über alle Seetiere 
machten. Sie errichtete ſich ein Häuschen, wo ſie nach Menſchenart 
wohnen konnte, und lebte hier herrlich und in Freuden. Eine 
Unbequemlichkeit war aber mit ihren handloſen Armſtümpfen 
verknüpft, ſie konnte ſich das Haar nicht ordnen, noch ſich 
von Ungeziefer reinigen; dabei mußten ihr die weiſen Männer 
unter den Menſchen durch Geiſterfahrten nach dem Meeresgrund 
helfen. In ihrer Freude darüber ſandte ſie große Mengen von 
Jagdtieren nach den Fangplätzen, ſo daß an dem Wohnplatz, der 
ſeinen Geiſterbeſchwörer zu ihr herabgeſandt hatte, Reichtum und 
Wohlſtand herrſchte. Man gab ihr den Namen „der große 
Fleiſchtopf“. 

Obgleich niemand von uns im Beſitz von Gaben iſt, die uns 
eine Geiſterfahrt zu der Quelle des Wohlſtands hinab geſtatten, 
meint Ajako doch, daß wir die Gunſt des Weibes gewonnen haben, 
denn nach mehrſtündiger anſtrengender Reiſe durch Schnee und 


208 Achtes Kapitel. 


Waſſer kamen wir um eine kleine niedrige Landſpitze herum, wo 
wir buchſtäblich ſtrandeten, weil keiner von uns mehr konnte. Wir 
beſtiegen eine Höhe, um einen Überblick über das Land zu er⸗ 
halten, und entdeckten zu unſerer großen Überraſchung, daß nahe 
bei unſerm Lagerplatz eine ganze Anzahl Seehunde lagen. Es 
war das erſtemal, daß uns ein ſolches Glück lächelte; denn die 
Seehunde, die wir bisher erbeutet hatten, waren einzelne Tiere. 
Es wurde ſofort Jagd auf ſie gemacht, und im Laufe einiger 
Stunden hatten wir drei große, fette Seehunde geſchoſſen. End⸗ 
lich konnten wir füttern, ohne ſparen zu müſſen, und die Hunde 
liegen jetzt mit aufgetriebenem Magen da und ſchnappen nach 
Luft vor Sattheit und Wohlbefinden. Außerdem hatte uns 
das freigebige Land, das Blue Point heißt, drei Haſen und ein 
paar Schneehühner geſchenkt. 

Wir ſetzen daher unſere Maſtkur konſequent fort. Die Jagd 
weiterzubetreiben, iſt nutzlos, da wir bei der ſchlechten Bahn 
nicht mehr fortſchaffen können; aber wir ſehen nun unſerm künf⸗ 
tigen Geſchick mit mehr Zutrauen entgegen, und in froher Dank⸗ 
barkeit ſetzen wir der alten Eskimoſage ein Denkmal und nennen 
dieſen Landſtreifen den „Fleiſchtopf“. 

In der heißen Sonne hat niemand Luſt, das Zelt zu er⸗ 
richten. Wir breiteten unſere Schlafſäcke in ein paar länglichen 
Vertiefungen aus, die wir mit Kaſſiope gepolſtert haben, und 
haben damit das weichſte Lager für einen ermüdeten Körper er⸗ 
halten. Wir können gerade noch unſere Pfeifen ausrauchen, ehe 
der Schlaf uns übermannt. Ein Volk Schneehühner läßt ſich 
gackernd bei den Schlitten nieder, aber niemand denkt ans Töten. 


Die Begegnung mit den Kameraden. 


28. Juni. Seit wir den De⸗Long⸗Fjord verlaſſen haben, be⸗ 
ſchäftigen ſich unſere Gedanken fortwährend damit, wie es wohl 
den Kameraden gehen mag; ihr Aufzug mit den ſchwankenden, 
ausgehungerten Hunden war wenig erfreulich geweſen. Wenn ſie 
nicht bald Jagd finden, werden ſie vermutlich alle ihre Hunde ver⸗ 
lieren, und das würde eine Schwierigkeit mehr für die Rückreiſe ſein. 

Es war ungefähr an der Stelle dieſes Lagers, wo wir ſie 
das vorige Mal getroffen hatten; damals war beſchloſſen worden, 
ſie ſollten ſich nach dem Stromwirbel begeben und verſuchen, See⸗ 


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Vom De⸗Long⸗Fjord bis Kap Salor. 209 


hunde zu erlegen. Wir erwarteten nun, in der nächſten Nachbar⸗ 
ſchaft einen Bericht von ihnen zu finden. Aber vergebens ſuchten 
wir an allen vorſpringenden Punkten nach Steinmalen, und da wir 
nichts fanden, begannen wir allmählich zu glauben, ſie befänden 
ſich noch im Innern des Fjords. | 

Auf ſchwerer Bahn ſetzten wir nach Kap Salor hinüber; es 
ging langſam, ſehr langſam mit unſern überſättigten Hunden und 
den fleiſchbeladenen Schlitten. Der Schnee war wie gewöhnlich 
naß und weich; die Schneeſchuhe trugen uns allerdings, aber die 
Hunde ſanken tief ein, und meiſt war Waſſer unter dem Schnee. 
Koch war auf Schneereifen ein Stück voraus, während wir 
andern mit Schlitten und Hunden folgten. Aber je mehr er ſich 
Kap Salor näherte, beſchleunigte er allmählich ſeine Schritte, und 
wir, die wir ſeinen Spuren folgten, konnten ſehen, wie ſeine 
Schritte immer länger und länger wurden. Ein paar Kilometer 
weiter vorn entdeckten wir endlich den Grund für ſeine plötzliche 
Eile; wir erblickten auf einmal das Zelt unſerer Kameraden auf 
dem äußerſten Vorſprung der Eliſoninſel. Auch wir beſchleunigten 
nun unſere Gangart, und vorwärts ging es durch Schnee und 
Waſſer. Mit klopfendem Herzen trabten wir durch den Schnee⸗ 
ſchlamm; ſelbſt die Hunde wurden von unſerm Eifer angeſteckt und 
liefen raſcher. Welchen Neuigkeiten mögen wir entgegengehen? 
Hatten ſie noch Hunde? Oder ſtanden wir vor einer Wanderung 
von 1000 Kilometer mit nur drei Schlitten? 

Man bildet hier oben in der Vereinſamung, ſo weit von andern 
Menſchen entfernt, in dieſen großen ſchweigenden Fjorden eine Ge⸗ 
ſellſchaft für ſich, in der die geringſte Kleinigkeit Intereſſe und Be⸗ 
deutung erhält. 

Kein Wunder daher, daß die Neuigkeit, der wir jetzt entgegen⸗ 
gingen und die ſo entſcheidend für unſere Entſchließungen war, 
uns ungeduldig und nervös machte; denn kein Leben ließ ſich bei 
dem Zelt ſehen, und wir pflegten doch immer, ſo oft wir einige 
Tage voneinander getrennt waren, das Wiederſehen mit Rufen 
und frohen Gebärden zu feiern. Endlich löſt ſich nach längerer Zeit 
die Spannung. Ein Mann zeigt ſich vor dem Zelt und beginnt 
vor Freude über unſern Anmarſch mit den Armen zu fuchteln. 
Wir ſind jetzt auf Rufweite heran; wir machen halt, einen Augen⸗ 


blick herrſcht atemloſe Stille. 
Rasmuſſen. 14 


210 Achtes Kapitel. 


„Wie geht es euch?“ 

„Gut!“ 

„Wie viele Hunde habt ihr noch?“ 

„Neun!“ 

„Habt ihr zu eſſen?“ 8 

„Harrigan hat ſechs Seehunde geſchoſſen!“ 

Jubel und Wiederſehenswirrwarr. 

Dann wurden die Flaggen geheißt, die ſchwediſche und die 
däniſche, und wir feierten das Wiederſehen nach beſtem Expe⸗ 
ditionsbrauch. In beſonderem Raffinement wurde eine Doſe 
von Pearys Pemmikan verteilt, die ungleich allen andern, die ich 
gekoſtet, eine wirkliche Delikateſſe darſtellt, hauptſächlich wegen 
der vielen Roſinen, die ihm den ranzigen Geſchmack nehmen, der 
ſonſt dem Pemmikan immer anhaftet. p 

Unſere Ankunft fand ſchon morgens um 6 Uhr ſtatt; wir 
konnten alſo einen wirklichen Ruhetag halten und alle möglichen 
Zukunftshoffnungen gründlich erörtern. Aber zunächſt mußten wir 
Neuigkeiten miteinander austauſchen. Unjere Schidjale ſeit der Be⸗ 
gegnung bei Kap Neumayer ſind bereits bekannt. Die Erlebniſſe 
der andern gebe ich nach einem Steinmalbericht wieder, den Wulff 
für uns hinterlegt hatte, in dem Glauben, unſer Zuſammentreffen 
werde erſt bei Dragon Point ſtattfinden. 


Lager im J.⸗P.⸗Koch⸗Fjord, 22. Juni 1917. 
Bruder! 

Nach der Trennung am 16. Juni gingen wir über das Vorgebirge öſtlich 
von Blue Point und lagerten auf der Südſeite des Emoryfjords. Erſchoſſen 
zwei Hunde als Futter. Am nächſten Tag mit allem Gepäck durch den „Kanal“, 
der in der Mitte durch eine 10 Meter hohe ſchneebedeckte Landzunge geteilt iſt, 
zu Eurem früheren Zeltplatz im J.⸗P.⸗Koch⸗Fjord. Harrigan hat einen See⸗ 
hund geſehen und erlegt. Einige Tage Schneeſturm hier. Eine 28 ſtündige 
Fahrt mit leerem Schlitten in das Innere des Fjords ergab eine Anzahl Haſen 
und Schneehühner, ſowie zwei Gänſe, aber keine Moſchusochſen oder Seehunde. 
Zwei Hunde ſterben. Wir haben heute am 22. Juni noch zehn Hunde, natürlich 
in äußerſt elendem Zuſtand. Ich habe gute botaniſche Reſultate gewonnen, 
ſo daß Grönlands Nordküſte jetzt botaniſch ganz gut gekennzeichnet iſt. 

Wir verlaſſen heute am 22. Juni abends den Fjord mit dem Depot bei 
Kap Salor als Ziel. — Suche wenn möglich meine Kamera und drei bis vier 
Filmpakete zu retten, ſo daß ich beim Humboldtgletſcher oder in Etah ein paar 
Vegetationsbilder aufnehmen kann, die ich gern haben möchte. — Wir wollen 
alles tun, um wenigſtens ein Hundegeſpann für die Rückreiſe zu retten, aber 


Vom De⸗Long⸗Fjord bis Kap Salor. 211 


es ſieht ſchlecht aus; denn von den zehn vorhandenen ſind drei bereits dem 
Tode nahe. 


23. Juni, Mittſommerabend. 

Ein Hund ſtürzte und wurde geſtern abend ſterbend auf dem Eis zurück⸗ 
gelaſſen. Heute morgen ſahen wir am Südende der Eliſoninſel mehrere See⸗ 
hunde und ſchlugen ſofort das Lager auf der Oſtſeite auf. Endlich haben wir 
heute drei Seehunde erlegt! Die Hunde (jetzt neun an der Zahl) haben eine 
ordentliche Fleiſchfütterung bekommen, die erſte ſeit 24 Tagen. Es ift ja ein 
wahres Wunder, daß ſie dieſe Hungerperiode überlebt haben bei einer Er⸗ 
nährung mit toten, ausgehungerten Kameraden, alten Fell⸗ und Riemenſtücken 
von unſeren Schlittengeſchirren, Stiefeln und Taſchen, Haſeneingeweiden, den 
abgenagten Haſenknochen und unſern Exkrementen. Es tat ordentlich wohl zu 
ſehen, wie dieſe kleinen energiſchen Tiere das ſchöne, blutige Seehundfleiſch 
gierig verſchlangen. Wir hatten am 31. Mai 26 Hunde und heute am 23. Juni 
noch 9, haben alſo während der Hungerperiode 17 Stück verloren. 


\ 24. Juni, Mittſommertag. 
Ich erwache ½2 Uhr früh und friere. Es find draußen 1,5 Grad unter 
Null. Meine Gedanken ſind in dieſen Tagen häufig zu Hauſe in Schweden — herr⸗ 
liche Zeit zu Hauſe! 
Hundepemmikan und eine Pfeife Tabak waren mein Frühſtück. Aber, 
mit Hilfe von Holzſpänen vom Schlitten und von Speck werden wir bald Feuer 
gemacht haben, und dann kochen wir bei Tagesanbruch eine ordentliche Mahl⸗ 
zeit Seehundfleiſch. Ich gäbe viel darum, wenn ich heute ein ordentliches 
ſchwediſches Mittſommerfeſt daheim feiern könnte, mit Sonne und Wärme, 
Blüten und Blättern, Vogelgeſang und Kuckucksruf, ſommerlich gekleideten Damen, 
gutem, reichlichem Eſſen und Trinken uſw. Hätte man nur etwas Brot — 
das letzte Brot habe ich am 5. April an Bord der „Danmark“ gegeſſen. Von 
Pilſener wollen wir lieber gar nicht ſprechen, jo etwas hörte ſchon zu Beginn 
der Zeitenrechnung auf zu exiſtieren. Nein, lieber nicht mehr ans Eſſen denken. 
Wir wollen froh ſein heute, da wir unſere Seehunde von geſtern für uns und 
für die Hunde haben. Wir ſitzen im Schlafſack und bleiben wohl noch den 
ganzen Tag hier; denn wir haben das Zelt in einer ungewöhnlich ſchneereichen 
Gegend aufgeſchlagen, faſt ganz ohne ſchneefreie Flecken. Natürlich findet ſich 
nicht ein Grashalm, nicht eine Flechte oder ein Moos für den Botaniker. Der 
Schnee iſt tief und naß, ſo daß der Schlafſack unſer Zufluchtsort iſt. Wir müſſen 
eine Weile wegen der Hunde hierbleiben, die nach dem langen Hungern ihr 
Mahl in Ruhe verdauen ſollen. Würden wir ſofort weiterfahren, ſo würden 
ſie ſicher die Nahrung wieder ausbrechen, und damit ift in dieſen Zeiten weder 
uns noch den Hunden gedient. 
Die Hunde, die geſtern aus hygieniſchen Gründen nur eine mäßige Menge 
Seehundfleiſch erhielten, haben ſich heute ſatt freſſen dürfen, ſo daß ſie nicht alles 
auffreſſen können, etwas Unerhörtes in dem Leben eines Eskimohundes. Mit 
runden Leibern liegen ſie im Schnee und ſchlafen ſüß und ſatt, was ſie wirklich 
verdienen. Auch wir ſind augenblicklich ganz geſchwollen von Seehundfleiſch, 
14 * 


— — 


212 Achtes Kapitel. 


Leber und Speck. Jetzt Tabak — draußen Graupelwetter — aber im ganzen 
ein den Umſtänden nach ganz erträglicher Mittſommertag. 

3 Uhr nachmittags. Harrigan hat wieder einen Seehund erlegt und noch 
mehrere geſehen. 

25. Juni. Aufbruch vom Seehundlager öſtlich der Eliſoninſel ½2 Uhr 
früh. Ankunft bei dem Depot am Nordende der Inſel ½9 Uhr vormittags. 


Kap Salor, 9 Uhr vormittags. 

Bei dem Seehundlager ließen wir alle Renntierfelle zurück; denn bei dem 
Depot haben wir Moſchusochſenfelle für die Reiſe über das Inlandeis. Die 
Hunde ſind nach den zwei Fütterungen in beſter Laune, und mehrere ſtrecken 
bereits die Schwänze in die Höhe, was ich lange nicht geſehen habe. Aber 
ſchwach ſind die armen Teufel noch immer. 

Lockerer, naſſer, tiefer Schnee. Langſame Fahrt wegen der armen Hunde. 
Holten auf dem Weg die zwei großen Seehunde, die Harrigan auf dem Eis 
zurückgelaſſen hat. Wurden indeſſen zu ſchwer für die Hunde, ſo daß die See⸗ 
hunde liegenbleiben und ſpäter geholt werden müſſen. Wir hatten geglaubt, das 
Depot bei Kap Salor in zwei bis drei Stunden zu erreichen, aber in dieſer 
klaren arktiſchen Luft beurteilt man die Entfernung immer zu kurz, dazu der 
lockere tiefe Schnee und viel Waſſer in den Vertiefungen zwiſchen dem hügeligen 
Sikuſſageis. Kamen erſt 1,9 Uhr vormittags zum Depot, alſo erſt nach 
ſieben Stunden ermüdenden Marſches. Fanden alles in guter Ordnung, ſo wie 
wir es am 2. Juni verlaſſen hatten. Fanden zwiſchen den Steinhaufen auf 
dem Bergabhang einen kleinen, feinen von Moos und Flechten überzogenen 
Zeltplatz im Windſchutz, wo wir uns mit unſern Moſchusochſen⸗ und Seehund⸗ 
fellen ein ungewöhnlich prächtiges Lager einrichteten. Ein großer Schmelzwaſſer⸗ 
ſee am Strande, in den Bergſchluchten gehen beſtändig Stein⸗ und Schnee⸗ 
lawinen unter dem Einfluß der Sonnenwärme nieder. Wir bauen einen kleinen 
Kochofen aus Stein, um mit überflüſſigem Holz zu heizen und auf dieſe Weiſe 
Petroleum zu ſparen. Aus dem Depot nehmen wir Kaffee, Zucker, Hafermehl 
und Petroleum und bereiten uns ein kleines, belebendes Mahl. Mmm, wie das 
ſchmeckte! Luden Schrotpatronen und erbeuteten im Geröll ein paar Schnee⸗ 
hühner. Jede Fleiſchmöglichkeit muß ausgenützt werden. Hier bei Kap Salor 
wollen wir einige Tage bleiben, um zu ruhen und die Hunde aufzufüttern, ſo 
daß ſie wieder einigermaßen zu Kräften kommen. Die zurückgelaſſenen See⸗ 
hunde ſollen geholt, neue Seehunde eventuell, wenn das Glück günſtig iſt, erlegt 
werden, die Schneeſchuhkufen ſollen von dem Schlitten, den wir nicht mehr 
brauchen, entfernt werden, der Proviant für die Rückreiſe ſoll genau zwiſchen 
unſerer und Eurer Abteilung verteilt werden, unſere Sachen ſollen ausgeſucht 
und alles, was entbehrlich iſt, zurückgelaſſen werden. Dann fahren wir nach 
Dragon Point. 

26. Juni, 6 Uhr vorm. nur 1,3 Grad Wärme und etwas Graupelſchnee. 
Heute haben die Hunde wieder eine kräftige Mahlzeit von Seehundfleiſch er⸗ 
halten, ſo daß ſie mit runden, wohlgefüllten Magen im Schnee döſen, eine wohl⸗ 
verdiente kleine Fleiſchorgie nach all dem Hunger. Da wir ſeit einigen Tagen 


Vom De⸗Long⸗Fiord bis Kap Salor. 213 


kein Petroleum mehr haben und alles hier mit Schnee bedeckt iſt, heizen wir 
mit den Querhölzern vom Schlitten und mit Speck. Der Schlitten kann ja 
leicht beim Kap⸗Salor⸗Depot, das nur ein paar Stunden entfernt iſt, wieder 
ausgebeſſert werden. Auch wir ſelber ſind in dieſen Mittſommertagen mit 
Seehundfleiſch und ⸗leber vollgepfropft, und der Speck rinnt uns wollüſtig um 
die Mundwinkel. Hätte man nur ein Pilſener, ſo könnte meinetwegen das 
große Nirwana kommen und das Weltall einhüllen. — Harrigan hat heute 
noch einen Seehund erlegt und mehrere geſehen. Grüße! 

| Freund Thorild. 


29. Juni. Einen Tag lang blieben wir liegen, um zu ver- 
ſchnaufen, jedoch nicht ganz untätig, obgleich es für die Hunde 
das beſte iſt, halb bewußtlos in der Sonne zu liegen und zu ver⸗ 
dauen. Zwei von Harrigans Seehunden werden an der Mün⸗ 
dung des J.⸗P.⸗Koch⸗Fiords geholt, ein anderer liegt auf dem 
Eis vor Kap Salor, vier Kilometer vom Land entfernt. Mitten 
im Packeis liegt hier neben einem recht bedeutenden Stromwirbel 
Neueis, das ſich zwiſchen den maſſiven Preßrücken ſeltſam aus⸗ 
nimmt. KR 

30. Juni. Wir könnten uns verſucht fühlen, einige Zeit hier⸗ 
zubleiben, da der Fleiſchtopf, der nicht weit von hier entfernt iſt, 
günſtige Bedingungen für die Seehundjagd zu bieten ſcheint. 
Aber wir dürfen die Reiſe nach dem St.⸗George⸗Fjord nicht auf⸗ 
ſchieben. Ein Aufenthalt an dem Ort hier könnte nur die vorüber⸗ 
gehende Bedeutung einer Mäſtungsperiode für uns und für die 
Hunde haben; aber bei der ſchlechten Bahn etwas von der 
Beute zu transportieren, iſt undenkbar; außerdem ſind wir ja nach 
den Erfahrungen der letzten Tage unbedingt ſicher, die Seehunde, 
von denen wir ſo oft geſprochen haben, bei Dragon Point zu 
treffen. . | 
Um 5 Uhr morgens erfolgt der Aufbruch; aber bereits um 
9 Uhr müſſen wir auf einer Scholle von trockenem Eis haltmachen, 
. da die Wärme, die jetzt ſchon 3 Grad beträgt, den Schweiß aus 
dem Körper treibt, ſo daß er aus allen Poren rinnt. Gleichzeitig 
ermattet uns der geſchmolzene Schneeſchlamm mit dem tiefen 
Waſſer ſo, daß wir nicht längere Zeit auf einmal fahren können. 
Die Tagereiſe war beſcheiden; das Meßrad am Schlitten zeigt 
8 Kilometer an. 

Nach 12 Stunden machen wir in der Abendkühle einen neuen 
Verſuch, finden aber noch ſchlechtere Bahn. Alle Augenblicke ſitzen 


214 Achtes Kapitel. 


die Schlitten im Moraſt feſt, und wenn die Hunde den Kampf auf⸗ 
geben und ſich hinlegen und uns mit betrübten Augen anſehen, 
haben wir nichts anderes zu tun, als mit Aufbietung aller Kräfte 
die Schlitten wieder aus dem von Waſſer durchſetzten Schnee 
herauszureißen. 

1. Juli. Um die Hunde zu ſchonen, ſchlagen wir das Zelt be⸗ 
reits um 10 Uhr morgens auf; trotzdem wir nur 10 Kilometer 
zurückgelegt haben, find wir alle ſchlapp und müde. Die Eskimos 
nennen eine ſolche Bahn „Putſineg“. — Das Wetter ilt ungewöhnlich 
ſchön; herrliche Farben, blau und rötlich, legen ſich über die wunder⸗ 
bare Landſchaft des Nordenſkiöldfjords. Zum erſtenmal blicken wir 
in dieſen Fjord hinein und gerade von der Stelle, wo Peary ihn 
früher geſehen hat. Wir begreifen, daß er ihn von hier draußen für 
den Eingang zu einem gewaltigen Kanal, der ſich bis zum Inde⸗ 
pendencefjord hinüber erſtreckt, hatte halten können. Man ſieht 
aber von hier aus nur die Küſtenberge an der Mündung, die den 
Eingang zum Kanal bilden. Das Ende kann man überhaupt nicht 
erblicken, weil das den Fjord abſchließende Inlandeis ganz unmerk⸗ 
lich in das Meereis übergeht, und der Fjord ſich daher ſcheinbar 
unendlich weit in das Land hinein erſtreckt. Die Rücken von ein 
paar Nunataken, die wir vom Fjord aus weit drinnen im Inland⸗ 
eis erblicken, wirken von hier aus täuſchend wie eine Fortſetzung 
der Küſtenberge; es hat daher nahegelegen, ſie in Verbindung mit 
dem Fjord auf der Oſtſeite zu bringen. — Wir ſehen über die 
ſchöne Landſchaft nach der Eliſoninſel hin, die in Sonnenſchein ge⸗ 
badet mit dem klaren Himmel über ihrer ſcharfen Silhouette eine 
Ruhe und einen Frieden atmet, der weit entfernt ilt von der Un⸗ 
ruhe, die wir vor einigen Stunden mit unſerer Fahrt verurſachten. 
Da hallte die Luft ununterbrochen wider von bald verzweifelten, 
bald wütenden Zurufen an die Hunde, die völlig verſagten und 
kaum durch das letzte Stück Sumpf bis auf die kleine Inſel zu 
bringen waren, wo Ruhe und das wohlverdiente Kraftfutter ihrer 
warteten. 

Unſer Zelt ſteht auf einer unanſehnlichen kleinen Inſel, der 
wir den Namen Zentruminſel geben, da ſie in den kommenden 
Tagen den Mittelpunkt für die kartographiſche Aufnahme in 
dieſem Fjordkomplex bilden wird. 

2. Juli. Wulffs Abteilung, die von Kap Salor aus einen 


Vom De⸗Long⸗Fjord bis Kap Salor. 


215 


andern Weg gewählt hat, kam erſt heute gegen mittag an. Leider 
hat ſie unterwegs einen Hund verloren, der umſank und nicht 


weiter konnte. Wir haben jetzt noch 20 
Hunde; das wird für die Rückreiſe ge⸗ 
nügen, wenn es uns nur gelingt, ſie bei 
guter Ernährung zu erhalten. 

Ajako und der Bootsmann ſind vor⸗ 
läufig nach der Mündung des Norden⸗ 
ſkiöldfiords geſandt worden, wo wir auf 
der Hinreiſe eine Anzahl Kleidungsſtücke 
und andere Dinge, die wir auf der Reiſe 
nicht brauchten, deponiert haben. Sie kom⸗ 
men in der Nacht mit einer Jagdbeute von 
8 Hafen und einem Schneehuhn zurück. 
Außerdem hat Harrigan eine Strecke von 
dem Zelt entfernt einen Seehund geſchoſſen; 
die Ernährung ſieht alſo vorläufig ſehr 
vielverſprechend aus. 


en * 
* 


* 


Es gibt nichts im Lagerleben, was das 
Gemüt ſo nachdenklich ſtimmt, wie ein 
Feuer, das kniſtert und kracht und deſſen 
Rauch zum Himmel emporſteigt. Man ver⸗ 
ſteht die Opfer der Alten, wenn ſie mit der 
heiligen Flamme und dem Rauch ihre Ge⸗ 
bete in die Luft ſchickten. Auch wir, die 
wir weniger naiv ſind, können uns nicht be⸗ 
freien von der Naturverehrung, die ſolche 
Stimmungen uns aufnötigen. Unſer Sinn 
kommt in Bewegung, wir dichten in Ge⸗ 
danken Lieder, bald friſche und heitere, bald 
ſchwermütige und betrübte; aber wohin die 
Eingebung uns auch führt, in unſerm Sinne 
iſt etwas in Bewegung, was durch das 
Feuer erweckt iſt. Das gilt vor allem in 


Lauge Koch 


Blick auf die Eliſoninſel. 


einer Natur wie dieſer, wo man immer als der Ohnmächtige da⸗ 
ſteht, der gezwungen iſt, einen täglichen Kampf gegen Kräfte zu 


16 85 Nee SARTE 
SOLA e 


216 Achtes Kapitel. 


kämpfen, die ſtärker ſind als wir ſelbſt. Das Leben ſcheint ſtändig 
an einem Faden zu hängen, weil man die kommenden Ereigniſſe 
nie vorausſieht und ſo wenig Gewalt darüber hat; dies drückt 
hier oben mehr als die vielen tiefen Freuden, die man erlebt, den 
Gedanken und Stimmungen ſeinen Stempel auf. 

Ein merkwürdiges Land! Wir haben Juli, und doch ſind 
große Strecken noch ſo mit Schnee bedeckt, daß man ſich am 
liebſten auf Schneereifen oder Schneeſchuhen bewegt. Die Blumen 


Lemminge, vom Polarfuchs überraſcht. 


ſind nicht nur geduldig, ſondern ſie ſetzen auch alle Kraft ein 
gegen ihren Todfeind und ſprießen und blühen an vielen Stellen 
mitten im Schnee. i 

Ein gewaltiges Land! Doppelt gewaltig wirkt es auf den, der 
ſich an ſeinen Küſten entlang kämpft. Der Blick ſchweift über 
breite, offene Horizonte, die durch Fjorde und Buchten über das 
Inlandeis laufen, um in blendender Ferne, die in den Augen 
ſchmerzt, ſich mit dem Himmel zu begegnen. Steile rotbraune 
Felſen ſchießen aus dem Meer auf wie ſperrende Wände, die den 
Ausblick verengen, aber mitten in die nackten Felſen malt die 


Bom De-Long-Fjord bis Kap Salor. 217 


Sonne ihre Farben, fo daß die Armut geadelt wird und zu. 
einem Werk des großen Lichtſpenders wird. 

| Ein Land ohne Herz, wo alles Lebendige hart um Leben und 
Nahrung kämpfen muß. Wie ein gefrorenes Feld von Kälte und 
Ode preßt das Polarmeer ſich an den Küſten hinauf, um ſeinem 
Bruder, dem Inlandeis, zu begegnen, der das kalte Land vom 
Innern der Wüſte her bedeckt. Die armen Seehunde, die aus dem 
llebenſpendenden Meer kommen, kriechen hier und da aufs Eis 
hinauf, werden aber überall von der Rieſenmühle der Eis⸗ 


Knud Kyhn 


Hermelin auf der Haſenjagd. 


preſſungen bedroht und ſtürzen in die Tiefe, ohne Zeit zu haben, 
Himmel und Sonne zu genießen; ſie werden mager dabei, der 
Speck wird dünn; ſie müſſen gegen die Kälte kämpfen, die den 
Fetten nichts anhaben kann; das mächtige Gewölbe über ihren 
Seewegen trennt ſie von ihren Freunden, ſo daß ſie in die tote 
Einſamkeit verbannt ſind. 

Ab und zu ſetzt der Eisbär ſeine Tatzen auf den Schnee des 
Küſteneiſes, aber die Spuren zeigen, daß er landeinwärts geht, mit 
leerem Magen ohne Zutrauen zu dem Eis, das ſtärker iſt als 
er ſelbſt, und ohne daß die Täler, die zu arm ſind, ihm Nahrung 
zu bieten, ihn zum Beſuch einladen. Nur der Moſchusochſe und der 
kleine Lemming, die Verkörperungen der Genügſamkeit, gedeihen 
und werden fett, wie die Haſen, deren Zähne und Magen mit 


218 Aacachtes Kapitel. 


gefrorenen kleinen Pflanzen vorliebnehmen. Und mitten unter 
ihnen geht das ſchlanke Hermelin auf Raub aus, wie ein Bündel 
lebender Muskeln, und überfällt Haſen und Lemminge; ſatt und 
ſtark, ganz unberührt von der Armut des Landes, weil es die 
kleinen Vegetarier die Arbeit für ſich tun läßt. Es iſt das gute 
Raubtier des Landes, weil es offen in ſeiner Feindſchaft iſt, und 
es iſt darum ein glückliches und ſympathiſches Tier trotz ſeiner 
Blutgier. Aber hinter ihm ſchleicht der weiße Wolf daher, immer 
hungrig und mager, obgleich er ſeine Nahrung in denſelben Jagd⸗ 
feldern ſucht, feig und erbärmlich, mit geſenktem Schwanz und das 
Fieber des ſchlechten Gewiſſens in ſeinen Augen, mehr Hyäne als 
Jäger. 

Und dem Leben aller dieſer Tiere liegt ein Wunder zugrunde, 
das Wunder des Landes und der Vegetation; denn in dem einen 
Monat, in dem die Sonne Macht gewinnt, entfaltet ſich die arm⸗ 
ſelige Pflanzenwelt, die das Tierleben ſchafft. Ohne dieſe ver⸗ 
krüppelten Kinder der Sonne keine Moſchusochſen, keine Lem⸗ 
minge, keine Haſen, und ohne dieſe kein Hermelin, kein Wolf — 
ein Kirchhof, in dem nur das Schweigen des Todes brütet. 


* * 


* 


Von unſerm flachen Zeltplatz haben wir eine ausgezeichnete 
Ausſicht über den Nordenſkiöld⸗Einlaß. Ganz von ſelber wandern 
die Gedanken über die ſchmalſte Stelle des Inlandeiſes zum Inde⸗ 
pendencefjord. Von hier aus ſchauten Mylius⸗Erichſen, Hagen 
und Brönlund als die erſten über das Ende des Fjords und 
ſtürzten damit die alte Theorie vom Pearykanal. Und wenn es 
ihnen auch nicht gelang, die neue Entdeckung auf der Karte ein⸗ 
zutragen, ſo legten ſie doch einen Bericht in einem Steinmal nieder, 
der Kunde von ihren Entdeckungen gab. Das tragiſche Geſchick, 
das fie auf der Rückreiſe traf, wo ſie zu einer Aberſommerung an 
einem wildarmen Ort im Danmarkfjord gezwungen wurden, iſt 
allzu bekannt, als daß es hier wiederholt zu werden braucht. Es 
mag genügen, an die heldenmütige Tat zu erinnern, die Jörgen 
Brönlund ausführte, als er vom Depot auf Lambertland Nah⸗ 
rungsmittel für ſeine beiden Kameraden, die nicht weiter konnten, 
holte — ein Opfer, das doch nicht imſtande war, ihnen das Leben 
zu retten. Als Brönlund nach Mylius⸗Erichſens und Hagens Tod 


Vom De-Long⸗Fiord bis Kap Salor. 219 


ſich wieder nach dem Lambert⸗Depot hinkämpfte, um die wiſſen⸗ 
ſchaftlichen Reſultate an einer Stelle niederzulegen, wo ſie auf⸗ 
zufinden wären, ritzte er ſeine und ſeiner Kameraden Todesrunen 
auf ein Blatt feines Tagebuchs mit den wenigen aber ſtolzen 
Worten: 


Umkam am Neunundſiebzig⸗Fjord nach Verſuch Heimreiſe über Inlandeis 
im Novembermonat. Ich komme hierher bei abnehmendem Mond und konnte 
nicht weiter wegen Erfrierung der Füße und der Dunkelheit. — Die Leichen 
der andern liegen mitten im Fjord, vor einem Gletſcher (ungefähr 2½ Meilen). 
Hagen ſtarb am 10. November und Mylius etwa 10 Tage ſpäter. 


Die abſchließende Kartenaufnahme des Innern des Inde— 
pendencefjords und ſeiner nächſten Umgebung wurde auf der erſten 
Thule⸗Expedition ausgeführt, als Peter Freuchen Kartograph 
war. Zur Erinnerung an ſeinen Einſatz zur Erforſchung des nörd⸗ 
lichen Grönlands tauften wir das große Land zwiſchen dem 
J.⸗P.⸗Koch⸗Fjord und dem Nordenſkiöldfjord „Peter-Freuchen⸗ 
Land“. 


Neuntes Kapitel. 


Über ſchmelzendes Eis nach dem Sommertal. 


Eiswaſſerbäder. 


3.—14. Juli. Endlich nach zweimonatiger Unbeſtändigkeit 
ſcheint beſtändiges Wetter einzutreten, das ſich vorausſichtlich 
dieſen Monat halten wird. Glücklicherweiſe — denn wir haben 
nach jeder Tagereiſe, auf der wir in 12 bis 18 Stunden unter 
großen Anſtrengungen die beſcheidene Strecke von 15 bis 16 Kilo⸗ 
meter zurücklegen, eine große Trocknung unſeres ganzen Hab und 
Guts vorzunehmen; wir würden uns nicht zu helfen wiſſen, wenn 
nicht die gute Sonne während unſeres Nachtſchlafes alles wieder 
brauchbar machte, was die abſcheuliche Sommerbahn zerſtört hat. 

Die Reiſe geht durch Eiswaſſer, und nur ausnahmsweiſe 
können wir einen Augenblick auf „trockenem Eis“ verſchnaufen. 
Die Wärme hat das unebene Polareis in ein hoffnungsloſes 
Syſtem von Kanälen und Seen verwandelt, worin einzelne 
Flecken wie Inſeln aus einem einzigen großen Eisſumpf empor⸗ 
ragen. Anfangs ſuchten wir hartnäckig die beſten Stellen aus 
und gingen im Zickzack vorwärts. Das haben wir aber längſt 
aufgegeben, da trotzdem alles triefend naß wird. — Wir waten 
den ganzen Tag bis über die Knie im kalten Eiswaſſer; und 
wie wir ſelbſt bei der Arbeit mit den Schlitten, die ſich beſtändig 


in den Löchern feſtfahren, bis auf die Haut naß werden, geht es 


auch allen unſern Reſerveſachen. Bei den verſchiedenen Stellungen, 
die der Schlitten in den Vertiefungen einnimmt, ſpült das Waſſer 
bald von vorn über den Schlitten, bald von hinten. 

Von der Zentruminſel und dem MeMillantal an der Mün⸗ 
dung des Viktoriafjords ſind wir auf dieſe Weiſe wie die Schnecken 
drei Tage lang dahingeſchlichen, ein dreitägiger Marſch in kaltem 


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Über ſchmelzendes Eis nach dem Sommertal. 221 


Waſſer; es hat oft eine dünne Haut von Neueis, das den 
Hunden die Pfoten zerſchneidet, wenn es in meſſerſcharfe Stücke 
zerbricht. Das kalte Waſſer ſchwächt die Hunde ſehr, die nach der 
Hungerperiode noch nicht richtig zu Kräften gekommen ſind, und 
wir haben zu unſerm Kummer auch einen Hund zurücklaſſen 
müſſen, der ſo erſchöpft war, daß er ſtürzte und nicht wieder 
aufſtand. 
Wenn weder wir noch die Hunde mehr können, ſuchen wir uns 
eine Eisinſel auf und ſchlagen dort das Zelt auf. Ein idealer 
Zeltplatz iſt es ja nie, aber man hat den Troſt, daß man ſich 
nicht lange nach Waſſer zu bemühen braucht, wenn man kochen 
will; man öffnet nur den Zeltvorhang ein wenig und füllt Koch⸗ 
geſchirr und Keſſel. 

Unter dieſen etwas entmutigenden Verhältniſſen feierte Koch 
ſeinen 25. Geburtstag. Wir heißten die Flaggen, die däniſche 
und die ſchwediſche, und kochten eine Extrataſſe ſtarken Kaffees. 
Jeder von uns gab dem Geburtstagskind ein paar Stücken Kandis⸗ 
zucker, eine hochgeſchätzte und im Augenblick außerordentlich koſt⸗ 
bare Ware. Der letzte Vorrat, für die Rückreiſe über das Inland⸗ 
eis berechnet, iſt in Rationen geteilt, und jeder wacht wie ein Raub⸗ 
tier über ſeinen beſcheidenen Anteil. Wir hätten ein Feſt feiern 
können; aber ich ließ mich nicht von der augenblicklichen Feſt⸗ 
ſtimmung fortreißen — aus Vernunftsgründen. Wir haben näm⸗ 
lich wohlſchmeckenden Pemmikan, Hafergrütze und Hirſe, aber das 
ſind Herrlichkeiten, die erſt angebrochen werden dürfen, wenn die 
Inlandeisreiſe beginnt; in dieſer Wüſte werden wir alle Reiz⸗ 
mittel der Ernährung nötig haben. Trotz der Verſuchung ver⸗ 
härtete ich daher mein Herz und ließ nur eine doppelte Ration 
Seehundfleiſch kochen, dabei verſprach ich aber feierlich, den Tag 
zu feiern, wenn wir auf der Rückreiſe auf dem Inlandeis die Höhe 
von 2000 Meter erreicht hätten. 

Die kleinen, langſamen Tagereiſen kommen dem Kartographen 
zugute, und es werden Breiten- und Längenbeſtimmungen und 
Peilungen nach allen hervortretenden Punkten vorgenommen, ſo 
oft ſich die Gelegenheit bietet. 

Bei einem ſolchen Aufenthalt, etwa 13 Kilometer vom 
Me Millantal entfernt, wurde die Küſte ſehr ſorgfältig mit dem 
Fernglas unterſucht. Wir hielten Ausſchau nach Haſen, die jetzt 


222 Neuntes Kapitel. 


auf weite Entfernung als kleine weiße Knäuel ſichtbar ſind. Unfer 
Fleiſchvorrat war aufgezehrt, und Seehunde gab es auf dieſem 
ſchlechten, mit Waſſer bedeckten Eis nicht. — Der Bootsmann und 
ich waren zurückgeblieben, wir waren damit beſchäftigt, unſern 
Schlitten feſtzubinden. Bekanntlich ſind alle Querhölzer mit den 
Kufen durch Lederriemen verbunden, und wenn dieſe oft ins Waſſer 
kommen, ſtrecken ſie ſich, ſo daß die Verbindungen nachgeben und 
der ganze Schlitten zuſammenfällt; in der Regel natürlich im tief⸗ 
ſten Waſſer. Einen Schlitten zuſammenzubinden nimmt eine Stunde 
in Anſpruch und iſt eine langweilige und ſchwierige Arbeit, nament⸗ 
lich mit froſtſtarren Händen! 

Während wir über die abgeladenen Schlitten gebeugt ſtehen 
und uns abmühen, die naſſen und ſchwer zu hantierenden Riemen 
feſtzuziehen, kommt plötzlich Leben in den Haufen vor uns. Die 
Hunde haben bis jetzt müde und teilnahmlos auf den Schlitten 
gelegen, aber nun beginnen ſie wie die Verrückten herumzuſpringen, 
und Harrigan und Ajako laufen weit nach den Seiten, ſpringen 
hoch in die Luft, fuchteln mit den Armen und ſchlagen ſich auf die 
Schenkel, alles bei den Polareskimos Zeichen dafür, daß etwas 
Ungewöhnliches bevorſteht. 

Der Bootsmann und ich ſehen uns einen Augenblick ungläubig 
an, ohne ein Wort zu ſprechen; denn dies konnte ja nur eins be⸗ 
deuten, und während wir daſtehen und ſtarren und nicht recht zu 
glauben wagen, was wir am meiſten hoffen, kommt der Boots⸗ 
mann bedächtig mit dem erlöſenden Wort: „Man narrt nicht 
hungrige, durchnäßte Kameraden, die ſich durchs Waſſer ſchleppen!“ 

Und im ſelben Augenblick ſtoßen wir beide ein dröhnendes 
Gebrüll aus: „Moſchusochſen!“ 

Der Schlitten war im Handumdrehen fertig, und ſo raſch 
die Bahn es zuließ, eilten wir unſern Kameraden nach. Alle Ge⸗ 
ſichter ſtrahlten. Ja, es war wirklich wahr, was wir vermutet 
hatten. Wir überzeugten uns ſelbſt mit dem Fernrohr: vor einer 
kleinen Gletſcherzunge am MeMillantal auf einem hohen Rücken 
oberhalb unſeres alten Frühjahrslagers bewegt ſich ganz deutlich 
eine Herde weidender Moſchusochſen. 

Wir umarmten uns und gebärdeten uns wie Verrückte. Alle 
Würde wurde beiſeite geſetzt; denn das, was wir hier ſehen, be⸗ 
deutete nicht nur Nahrung in Fülle für uns ſelbſt und die Hunde, 


Über ſchmelzendes Eis nach dem Sommertal. 223 


ſondern es war auch gleichbedeutend mit Ruhe und Kleidertrocknen 
für ein paar Tage in dem ſchönen Tal, wo jetzt voller Sommer 
ſein mußte. 

Mit großer Schwierigkeit legten wir die letzte Strecke Wegs 
zurück; was unter günſtigen Verhältniſſen eine Stunde in Anſpruch 
genommen hätte, dauerte jetzt 7, und endlich, nach 13 Stunden 
gründlichen Bades, erreichten wir mit triefenden Kleidern die Küſte. 

Ich kam eine Stunde ſpäter als die andern, da der Schlitten 
zum zweitenmal im Lauf des Tages zuſammengefallen war und 


Harald Moltke nach Skizze von Koch 
Flußdelta beim Me Millantal. 


wieder feſtgebunden werden mußte. Die Kameraden hatten ſchon 
alle ihre naſſen Kleider abgeworfen und nahmen ſplitternackt auf 
einem kleinen fruchtbaren Abhang Sonnenbäder. Das war auch 
wirklich notwendig; denn wir waren am ganzen Leib rot und 
runzlig, als ob wir längere Zeit eingeweicht worden wären; die 
Temperatur wirkte hier auf dem Land mit ihren 5 Grad Wärme 
vollkommen tropiſch. Ich war heiſer vom Antreiben der Hunde, 
die auf der letzten Strecke kaum durch das Waſſer zu bringen 
waren. Dr. Wulff kam mir lächelnd entgegen und erzählte mir, 
er habe in der Stunde, da ſie auf mich gewartet hatten, das Wort 
des heiligen Auguſtin beſtätigt gefunden, „daß die Freude über 


224 Neuntes Kapitel, 


die Seligkeit nicht nur darin beſteht, ſich ſelbſt auf der rechten 
Seite zu wiſſen, ſondern auch und nicht zum wenigſten darin, daß 
man beſtändig die verzweifelten Rufe der Verdammten hören 
könne.“ So hatte es nämlich auf die im Lande befindlichen 
Kameraden gewirkt zu hören, wie ich bald mit jammernden, bald 
mit wütenden Zurufen meine Hunde draußen in dem Hölleneis 
antrieb. 
* 2 * 

Wir waren alle hungrig wie die Wölfe und begaben uns daher 
mit allen Hunden raſch über Land auf die Jagd. Leider wurden 
wir nach einer halben Stunde von einem flußähnlichen Waſſerlauf 
von etwa 400 Meter Breite aufgehalten, und nachdem wir ver⸗ 
ſchiedene verzweifelte Verſuche gemacht hatten, hinüberzuwaten, 
mußte die Jagd bis zum nächſten Tag verſchoben werden, da der 
Fluß ſich nur ein Stück ſeewärts auf dem Eis draußen paſſieren 
ließ. Sich auf dieſes Eis zu begeben, hatte heute trotz Hunger 
und Mordluſt keiner den Mut, nachdem wir eben das Land glück⸗ 
lich erreicht hatten. 

Um den Hunger zu ſtillen, wurde eine Haſenjagd veranſtaltet, 
die einen ausgezeichneten Erfolg hatte. Im Laufe einiger Stunden 
mußten nicht weniger als acht von den kleinen Tieren im weißen 
Pelz daran glauben, und wir ſchlugen ein improviſiertes Lager 
auf, um uns ein wenig auszuruhen, ehe die Moſchusochſenjagd im 
Ernſt begann. Die naſſe Kleidung wurde zum Trocknen ausge⸗ 
breitet, und wir ſchliefen ein, halbnackt, in den verſchiedenſten 
Stellungen, ähnlich einer Horde Flüchtlinge, während all unſer 
Eigentum um uns herum verſtreut lag. 


* * 
* 


Nach fünf kurzen Stunden der Ruhe begaben wir uns wieder 
auf das Meereis und wanden uns an der Mündung des großen 
Fluſſes zwiſchen einer Unzahl von tiefen Kanälen hindurch, in der 
Abſicht, eine Landung einige Kilometer weſtlich von dem Haupt⸗ 
lauf zu verſuchen. Das Eis war hier beſonders ſchlecht; die ganze 
Oberfläche war ſo ſtark im Schmelzen, daß ſie überall das Aus⸗ 
ſehen angenommen hatte, als ſei eine Fläche mit Tauſenden von 
Nägeln dicht nebeneinander, die mit ihren Spitzen nach oben 


Rasmuſſen. 


Lauge Koch. 


— ran 


d naß. 


Der Schnee wir 


Über jchmelzendes Eis nach dem Sommertal. 295 


ſtanden. Die Spur der Hunde wurde raſch blutig von all den 
vielen Nadeln, die ihnen die Ballen zerſtachen; ſogar wir fühlten 
Schmerzen durch die aufgeweichten Sohlen. Mit einem Gefühl 
der Befreiung betraten wir ſchließlich das Land und ſchlugen das 
Zelt in einer kleinen, geſchützten Bucht neben einem freundlich 
rieſelnden Bach auf. Schlitten und Gepäck wurden an Land nieder⸗ 
gelegt, und ſobald wir unſer naſſes Zeug auf den Klippen zum 
Trocknen ausgebreitet hatten, ging es in die Berge nach dem Tal, 
wo wir geſtern die Moſchusochſen geſehen hatten. Wir nahmen alle 
Hunde mit, um ſie dem Kampfplatz ſo nahe wie möglich zu haben. 

Nach einer Stunde Marſch eröffnete ſich uns eine Ausſicht über 
den Kamm eines kleinen Hügels, und kaum hatte ich angefangen, 
die Umgebung zu unterſuchen, als es uns alle wie ein Schlag durch⸗ 
zuckte: kaum 100 Meter von uns weideten friedlich fünf Moſchus⸗ 
ochſen, ohne etwas von den Raubtieren zu ahnen, die in den letzten 
24 Stunden ihren Tod beſchloſſen hatten. Alle Hunde bis auf 


zwei wurden ſorgfältig an große Steine angebunden, ehe ſie das 


wohltuende Wild witterten; denn wenn man die Hunde in 
Maſſen auf einen Moſchusochſen losläßt, ſo ſtürzen ſie ſich, nament⸗ 
lich wenn ſie hungrig ſind, in der Regel ſo dummdreiſt und gierig 
auf ihre Beute, daß ſie Gefahr laufen, aufgeſpießt zu werden; 
jetzt können wir es uns wirklich nicht leiſten, noch mehr 
Hunde zu verlieren. Wir nahmen darum nur die beiden ſchlech⸗ 
teſten mit und näherten uns der Herde. Wir teilten uns in drei 
Abteilungen, und noch ehe uns die Moſchusochſen entdeckt hatten, 
ſtanden wir plötzlich auf drei Seiten wie aus der Erde geſchoſſen 
vor ihnen. ; 

Die Moſchusochſen, die dalagen und wiederfäuten, erhoben 
ſich bedächtig, ohne ſich zu übereilen, und ſtellten ſich wie gewöhn⸗ 
lich in ihrer Schlachtordnung auf, in dem berühmten Karree mit 
der Front nach allen Seiten. So blieben ſie ſtehen, ohne den 
geringſten Verſuch zu machen, zu fliehen, während wir die größte 
Mühe hatten, die beiden Wolfshunde zurückzuhalten, die ſtracks 
auf ſie losſtürzen wollten. 

Es waren fünf Stiere; ſie faßten alle die Situation mit 
erhabener Ruhe auf. Ihre großen, blanken Augen ſtarrten uns 
furchtlos an, und ſie begnügten ſich damit, hier und da verächtlich 
die Mundwinkel ein wenig zu verziehen. 

Ras muſſen. 15 


226 Neuntes Kapitel, 


Sie ſahen phantaſtiſch aus und wirkten auf uns, die wir lange 
Zeit nur Haſen und Lemminge geſehen hatten, groß und gewaltig. 
Sie befanden ſich gerade mitten im Haarwechſel, und die loſe 
Wolle, die in großen zuſammenhängenden Fladen abzugehen ſchien, 
lag auf ihren Mähnen und Rücken wie Büſchel von Trauerflor. 
Ab und zu ſtießen ſie die Luft mit einem ſchnaubenden Laut durch 
die mächtigen Nüſtern aus, dann wieder ſchlugen ſie wie in Un⸗ 
geduld mit den Hufen gegen die Erde, ſo daß uns kleine Steine 
um die Ohren flogen. Im übrigen blieben ſie ruhig ſtehen, ohne 
einen Ausfall zu machen. : 

Da die ſpärlichen und zufälligen Jagden uns bisher keine be⸗ 
ſonders günſtige Gelegenheit zum Photographieren gegeben hatten, 
nahmen wir jetzt alle drei, Koch, Wulff und ich, Aufſtellung und 
knipſten los. Geduldigere Objekte hätte ſich kein Photograph 
wünſchen können, obgleich wir ſehr gründlich zu Werke gingen. 
Sie wurden von allen Ecken und Kanten aufgenommen, von 
10 bis 2 Meter Abſtand, im Profil, en face, in ganzer Figur 
und als Bruſtbild, und erſt als wir fertig waren, ließen wir das 
Todesurteil ergehen. 

Doch wir wollen den Verſuch machen, ſie erſt ein Stück weiter 
nach dem Zelt zu treiben, damit wir es leichter haben, das 
Fleiſch nach dem Meereis hinabzubefördern. So rückten wir ihnen 
denn, die Hunde beſtändig an der Leine, auf den Leib und fingen 
an, mit Steinen zu werfen. Zunächſt ſchienen ſie überraſcht und 
äußerſt empört über dieſe Behandlung, die ihnen offenbar höchſt 
unwürdig vorkam. — Und dann fuhr der Teufel in ſie! Der 
größte der Stiere, allem Anſchein nach der Anführer, ſtampfte 
plötzlich mit den Hinterbeinen ſo feſt auf den Boden, daß ein 
Regen von Kies und Steinen über uns fiel; dann ſtieß er ein 
Gebrüll aus, machte kehrt und galoppierte über die Ebene, hinter 
ihm die ganze übrige Herde. 

Wir gaben ſofort die beiden Hunde frei, die ihnen nachjagten. 
Aber das Ganze war ſo blitzſchnell geſchehen, daß die Stiere 
einen Vorſprung hatten, den die Hunde nur langſam einholten. 
Wir ſelber liefen aus allen Kräften, um in der Nähe und ſchuß⸗ 
bereit zu ſein, wenn die Herde etwa auf dem Gipfel eines Hügels 
haltmachte, um ſich gegen den Angriff der Hunde zu verteidigen. 

Aber die Sache verlief nicht ganz nach unſerer Berechnung. 


Über ſchmelzendes Eis nach dem Sommertal. 227 


Die Stiere rannten um ihr Leben und entwickelten eine ſolche 
Schnelligkeit, daß es faſt ausſah, als ob ein Orkan ſie fortwehte. 
Ganz am Ende der Ebene glückte es dem erſten der Hunde, die 
Herde einzuholen; wir ſahen, daß er verſuchte, ſich in den Schenkel 
deſſen, der am weiteſten zurück war, feſtzubeißen. Aber ſtatt ſtehen⸗ 
zubleiben und ſeine Kameraden im Karree zu ſammeln, um den 
Angriff aufzunehmen, begnügte ſich der Stier, in deſſen Schenkel 
noch der Hund mit ſeinen Zähnen feſthing, damit, ſich blitzſchnell 
umzuwenden, den Hund abzuſchütteln, ihn mit den Hörnern auf 
ſeinen gewaltigen Nacken zu nehmen und ihn wie einen Ball in 
die Luft zu ſchleudern. Der arme Hund wirbelte herum und fiel 
ſchwer zur Erde nieder; ſein Mut koſtete ihm das Leben. 
Unterdeſſen raſte die Herde weiter; auch der andere Hund, ein 
alter erfahrener Bärenjäger, hatte jetzt die flüchtende Herde 
erreicht, und es gelang ihm, den letzten der Herde vor einer 
hohen, ſteilen Schlucht zum Stehen zu bringen. Ajako, der uns 
allen voran war, lief herzu, bereit zu ſchießen. Aber in dem Augen⸗ 
blick, als er die Büchſe erhob, warf der Stier ſich wie eine 
Lawine auf ihn herab, ohne ſich um den bellenden Hund zu küm⸗ 
mern, der vergebens verſuchte, ihn zurückzuhalten. Ich lief aus 


allen Kräften herbei, hörte aber zu meiner großen Freude den 


Knall eines Schuſſes, und dann einen zweiten, und einen Augen⸗ 
blick ſpäter war ich ſelber auf dem Walplatz unten. Noch glühend 
vor Erregung ſtand Ajako neben dem getöteten Stier, deſſen 
furchtbarer, plötzlicher Ausfall ihm bei einem Haar das Leben 
gekoſtet hätte. 

Die vier andern Stiere flüchteten weiter einen Hügel hinauf, 
wo ſie dicht an unſern angebundenen Hunden vorbeikamen. Dieſe 
erhoben ſich wie ein Mann und brachen in wütendes Gebell aus, 
worauf die Stiere, augenſcheinlich verwirrt über die vielen Wölfe, 
abermals die Richtung änderten und nach dem Fluß im Südweſten 


flohen. Ein Nachzügler, der nicht folgen konnte, trennte ſich von 


der Herde und galoppierte nach dem See hinab, wo wir im Früh⸗ 
jahr unſer Lager gehabt hatten; hier wurde er nach einer hitzigen 
Jagd von zwei Hunden, die ſich unterdeſſen losgeriſſen hatten, ein⸗ 
geholt und geſtellt. Während ſie ihn feſthielten, kam der Boots⸗ 
mann und ſchoß ihn nieder. 


Die drei andern dagegen entkamen vorläufig. Aber wenn wir 
15 * 


228 Neuntes Kapitel. 


auch ſicher waren, daß es nur eine Frage der Zeit ſei, bis wir 
ſie wieder finden würden, bereuten wir doch zu ſpät unſere Stein⸗ 
würfe. Es wäre für den Transport entſchieden das beſte ge⸗ 
weſen, die Tiere auf einer Stelle verſammelt zu haben. Jetzt 
müſſen wir uns vorläufig mit dem Humor begnügen, der darin 
lag, daß wir ſie aus ein paar Meter Abſtand photographiert 
hatten, um ſie trotz unſeres Fleiſchmangels entſchlüpfen zu laſſen. 
Übrigens habe ich zum erſtenmal auf meinen vielen Moſchus⸗ 
ochſenjagden erlebt, daß eine angegriffene Herde nicht nach einem 
kurzen Lauf haltgemacht und ein Karree gebildet hatte, um ſo 
den unvermeidlichen Tod zu empfangen. 
* * 


* 

Den zwei getöteten Moſchusochſen war die Haut abgezogen; wir 
hatten alles fette Mark aus den Knochen gegeſſen und waren in der 
milden Stimmung, die ſich nach einer guten Mahlzeit einſtellt. Doch 
läßt ſich nicht leugnen, daß unſere Freude getrübt war; denn drei 
große, köſtliche Tiere der Herde waren vorläufig entkommen, und 
wir hatten doch ſo ſicher damit gerechnet, daß ſie die Baſis für 
einige behagliche Ruhetage in dem ſchönen und ſommerlichen 
Me Millantal werden ſollten. 

Darum waren wir uns auch alle klar darüber, daß etwas 
geſchehen müßte. Wir und die Hunde mußten verſchnaufen, ehe 
wir weiter über den breiten Sherard⸗Osborne⸗Fjord waten 
konnten. Jetzt hatten wir 30 Stunden lang unter ſehr ermüdenden 
Umſtänden große Anſtrengungen zu ertragen gehabt. Nach einigen 
Stunden Schlaf waren wir wieder gute 14 Stunden tätig ge⸗ 
weſen. Aber es war doch wünſchenswert, die Jagd auf die drei 
Moſchusochſen ohne Verzug wieder aufzunehmen, ehe ſie ſich zu 
weit entfernten. | 

Schläfrig und müde waren wir jedoch alle. Während die 
letzte Mahlzeit in der Schlucht gekocht wurde, fiel einer nach dem 
andern in Schlaf. Das Waten vieler Tage in dem kalten Eis⸗ 
waſſer war auch nicht ganz ſpurlos an uns vorübergegangen. Ein 
paar von uns hatten in höchſt unangenehmer Weiſe die Kräfte 
in den Kniemuskeln verloren; beſonders Harrigan und mir war es 
heute bei der Moſchusochſenjagd ſo ergangen, daß wir ein ums 
andere Mal in die Knie ſanken, wenn wir bergab liefen, weil wir 
in unſern Beinmuskeln keine Kräfte mehr hatten. 


über ſchmelzendes Eis nach dem Sommertal. 229 


Unter dieſen Umſtänden war es nur ein einziger Mann, auf 
den ich rechnen konnte; es war der beſte und unermüdlichſte Jäger 
der Expedition, Ajako. Ich habe immer wieder Gelegenheit ge⸗ 
habt, ſeine unſchätzbaren Eigenſchaften für eine Reiſe wie dieſe 
hervorzuheben, ſeine hervorragende Körperkraft, ſeine Ausdauer 
und ſeinen untrüglichen Jägerinſtinkt. Er war es, der die erſten 
Moſchusochſen erlegte, zu einer Zeit, als es anfing, für die Hunde 
kritiſch auszuſehen; er war es, der die erſten Seehunde bei dem 
Stromwirbel erbeutete und den Reſt unſeres Geſpannes rettete, 
und ſchließlich war er es auch, der mitten im Polarpackeis draußen 
vor Kap Neumayer den Seehund aufſpürte, der uns die Reiſe 
nach dem De⸗Long⸗Fjord ſicherte. Dieſem Mann machte ich denn 
auch jetzt den Vorſchlag, die Jagd fortzuſetzen zu einer Zeit, in 
der wir andern vor Überanſtrengung nicht mehr konnten. Die 
Jagd, auf die er jetzt ausziehen ſollte, würde mindeſtens 14 Stun⸗ 
den in Anſpruch nehmen. Ajako nahm meinen Vorſchlag mit 
Lächeln entgegen: Ja, es ſei die ganze Zeit ſeine Meinung ge⸗ 
weſen, daß es das beſte ſein würde, die Jagd unverzüglich fort⸗ 
zuſetzen; damit war die Sache abgemacht. 

Sobald der Inhalt des Topfes gekocht war, ſchütteten wir die 
köſtlichen, in Fett ſchwimmenden Stücke von Zunge und Herzen 
auf einen großen flachen Stein und hielten zuſammen unſere 
Mahlzeit. Dann ergriff Ajako ſein Gewehr; nahm ſeinen Hund, 
der ihn auf allen ſeinen Jagden begleitete, und verſchwand hinter 
dem nächſten Hügelkamm leicht und geſchmeidig, ganz, als ob er 
ſich eben von einer langen und erquickenden Ruhe erhoben hätte. 
Über ſeinem Gang und ſeiner ganzen Haltung lag die Schönheit, 
die nur Jugend und Stärke geben können. 

* 0 ** 

Ungefähr zwölf Stunden ſpäter kam Ajako ſchwankend vor 
Schläfrigkeit zum Zelt zurück. Er hatte nicht nur die drei Moſchus⸗ 
ochſen, die verſucht hatten zu entfliehen, gefunden und geſchoſſen, 
er hatte auch noch drei dazu erlegt. Alle Tiere waren abgehäutet 
und zerlegt, und das Fleiſch war zum Trocknen in die Sonne 
gelegt, damit es nicht durch die Schwärme von Schmeißfliegen 
verdorben würde, die hier überall, wo ein Stück Fleiſch hingelegt 
wird, aus der Erde ſchießen. 


230 Neuntes Kapitel. 


Zu all dieſen Neuigkeiten fügt er lächelnd hinzu, er habe noch 
eine weitere Herde von ſechs Moſchusochſen geſehen, die friedlich in 
der Nähe der Schlachtſtelle weideten, ohne ſich von der Jagd 
ſtören zu laſſen. Er hat es aber für praktiſcher gehalten, dieſe 
letzten Tiere leben zu laſſen, bis das Lager mehr in ihre Nähe 
verlegt wird. 

Zum Überfluß hatte er außer den Herzen und Zungen der 
neuerlegten Tiere zwei köſtliche Eisgänſe auf dem Rücken, die er 
auf dem Rückweg zum Zelt in der Nähe geſchoſſen hatte. Der 
Schlaf, den er ſich nach dieſem Jagdausflug gönnte, währte 
24 Stunden und war ehrlich verdient. 

* 5 * 

Wir verlegten dann unſer Lager 10 Kilometer weiter in ein 
Tal in der Nähe von Kap May, nicht weit von der Stelle, wo 
ſich die toten und lebendigen Moſchusochſen befanden. Der Auf⸗ 
bruch fand bei ſtrahlendem Sonnenſchein ſtatt, und die wohltuende 
Wärme, die in den letzten Tagen auf dem Lande unſere von den 
Watetouren angegriffenen Körper durchwärmt hatte, verlieh uns 
neue Kräfte zu neuen Anſtrengungen. Das war auch nötig; denn 
die 10 Kilometer mußten wir durch Waſſer, Eisflüſſe und über 
unebenes Polareis zurücklegen und wir brauchten dazu 15 Stunden. 
Wir ſchlugen das Zelt unten am Meereis auf und trafen unſere 
Vorbereitungen für die Jagd. 

Der erſten Woche konnten wir vorläufig ruhig entgegenſehen. 
Hier in dem fruchtbaren, waſſerreichen Tal gab es Fleiſch genug 
für Menſchen und Hunde und viel Arbeit für den Botaniker der 
Expedition. 

Zum erſtenmal auf dem ganzen Marſch hatten wir alle bei 
7 Grad Wärme und bei ſchönem, klarem, ruhigem Wetter wirkliche 
Sommergefühle, und wir gaben daher dem Tal einen Namen, 
der für das Ohr eines arktiſchen Reiſenden einen ſüßen Klang hat: 
Sommertal. 


Das Sommertal. 
11.—14. Juli. Sobald unſere Kleider nach der Watetour von 
gestern wieder brauchbar waren, machten wir uns mit den Hunden 
an der Koppel in die Berge auf. Sie ſollten jetzt vier Tage Land⸗ 


Über ſchmelzendes Eis nach dem Sommertal. 231 


aufenthalt genießen, um zu Kräften zu kommen, und in dieſer 
Zeit ſo viel Fleiſch zu ſich nehmen, wie ſie könnten; ſie ſollten fau⸗ 
lenzen, freſſen und fett werden. 

Uneingeweihte werden vielleicht oft den Eindruck haben, 
Schlittenreiſende müßten rückſichtsloſe Tierquäler ſein. Mag ſein, 
daß wir hier und da hart gegen die Tiere ſein müſſen, wenn fie 
bei ſchlechter Bahn die Arbeit aufgeben und ſich weigern, weiter⸗ 
zufahren; aber was ſoll man unter dieſen Umſtänden anderes tun, 
als ſein Herz zu verhärten und die armen Tiere vorwärts zwingen. 
Es iſt ja nur in ihrem eigenen Intereſſe, wenn man ſich bemüht, 
ſie ſo raſch wie möglich aus der übeln Bahn herauszubringen. 


Harald Moltke nach Skizze von Koch 
Das Sommertal. 


Schirrt man einen müden Hund ab, ſo legt er ſich ganz einfach 
an Ort und Stelle hin, um zu ſterben, ohne einen Verſuch zu. 
machen, nachzufolgen. Sind wir alſo auch ab und zu hart gegen 
die Hunde — in Lagen, in denen wir es ſelber nicht beſſer haben 
—, jo kann doch niemand froher ſein als wir, wenn wir zeitweilig 
den treuen Tieren ganz freien Lauf geben und ſie dem Wohlleben 
des Augenblicks und einer unmäßigen Schwelgerei überlaſſen 
können. Wir wählen dann wohlbewäſſerte, geſchützte Stellen für 
ſie aus, am liebſten einen kleinen Bach mit fruchtbarem, weichem 
Erdreich an den Ufern. Hierhin wird ihnen alles Futter gebracht, 
und ſie dürfen volle Revanche nehmen für all die böſen Tage, die 
ſie durchmachen mußten. 

Solche Tage ſind leider ſpärlich wie Oaſen in einer Wüſte, in 
der man meiſt von Tag zu Tag um die Erhaltung des Lebens 


232 Neuntes Kapitel. 


kämpfen muß. Aber dann ſcheut auch kein Schlittenlenker die 
längſten und anſtrengendſten Jagden, um Wild herbeizuſchaffen, 
und mißglückt die Jagd, ſo teilt er gern das wenige, was er für 
ſeinen eigenen Kochtopf beſtimmt hat, mit ſeinem Geſpann. 
Jetzt ſollten alſo unſere 18 Hunde, der Reſt von den 70, mit 
denen wir hier heraufkamen, ein paar Tage in Wohlleben ver⸗ 
bringen. Darum wurden ſie nach dem Sommertal geführt, an 
den Ort, wo Ajako ſein Fleiſchdepot von den ſechs Moſchusochſen 
hatte. Zunächſt ſollte die zuletzt beobachtete Herde getötet wer⸗ 


den. Es ſtellte ſich jetzt heraus, daß es ihrer nur fünf waren und 


nicht ſechs, wie wir urſprünglich angenommen hatten. 


Die Jagd verlief diesmal leicht und ſchmerzlos. Die Moſchus⸗ 


ochſen, ein Stier mit vier Kühen, weideten dicht neben ihren ge⸗ 
töteten Kameraden auf einer fruchtbaren Anhöhe. Wir näherten 
uns ihnen ungeſehen in einem kleinen Tal und ſtanden plötzlich 
und unvermutet vor ihnen. Sobald ſie uns entdeckten, liefen ſie 
zuſammen und ſtellten ſich in ihrer berühmten Schlachtordnung 
auf, dabei gaben ſie in keiner Weiſe Zeichen von Überrafhung oder 
Furcht kund. Ganz ruhig ſahen ſie uns in die Augen und be⸗ 
gnügten ſich damit, ab und zu ihre Hörner an den Steinen zu wetzen. 

Eine ſolche Wildherde tritt wirklich mit imponierender Würde 
auf. Keinen Augenblick fallen ſie aus ihrer bedächtigen Wieder⸗ 
käuerruhe, ſolange die Zuſchauer ſich ruhig verhalten. Sie zeigen 
nicht das geringſte Zeichen von Furcht, wie andere Tiere in 
der Wildnis, z. B. der Bär oder das Renntier, die ſchon auf 
weite Entfernung flüchten. Einen Moſchusochſen zu treffen, heißt 
wirklich ihm begegnen; er bleibt ruhig ſtehen, freilich muſternd und 
forſchend; aber die Begegnung geſchieht wie unter Ebenbürtigen 
mit einer ſchweigenden Würde, die faſt den Charakter einer 
Audienz hat, mitten in der großen, ſtummen Ode, die keinen 
andern Laut kennt als das Brauſen der Flüſſe und den Schrei der 
Vögel. 

Sie ahnen ja nicht, dieſe ſchwarzen, kanahageigen Majeſtäten, 
daß wir zweibeinigen Nippesgegenſtände ſo ein heimtückiſches 
Teufelszeug wie ſchnellſchießende Magazingewehre mit uns führen, 
oder daß die Wolfshunde, die wir anfangs rückſichtsvoll zurück⸗ 
halten, auf ſie gehetzt werden, ſobald ſie verſuchen wollen, ſich 
unſerer aufdringlichen Nähe zu entziehen. 


Über ſchmelzendes Eis nach dem Sommertal. 233 


Wie gewöhnlich wollten wir damit anfangen, ſie zu photo- 
graphieren; aber das paßte dem Stier ganz und gar nicht. Er 
machte ein paar blitzſchnelle Ausfälle, ſo gefährlich und plötzlich, 
daß er ſchleunigſt erſchoſſen werden mußte, damit wir ſeine Frauen 

Hin Ruhe aufnehmen konnten. Sobald dies geſchehen war, mußten 
auch ſie eine nach der andern ins Gras beißen. Man muß ſagen, 
daß ſie den Tod mit derſelben Geringſchätzung der Schmerzen ent⸗ 
gegennahmen wie die großen Stiere. Eine Kugel in die Schulter, 
und ſie ſinken in die Knie, ſtarren uns noch einmal mit ihren 

großen unergründlichen Augen an, gerade als ob ſie gegen die 

ES Heimtücke proteſtieren wollten, einen Feind aus der Entfernung 

und nicht im Nahkampf zu verwunden; dann fangen fie an in 

Schmerzzuckungen zu zittern, bis eine zweite Kugel ihnen mit einem⸗ 

mal den Atem abſchneidet und die gewaltigen Körper mit einem 

ſchweren Seufzer auf den Kiesboden ſtürzen und den letzten Atem⸗ 
zug tun. 
* k Sr Ed 


* 


Å Nachdem das Abhäuten zu Ende war, bekamen die Hunde ſo 
viel Fleiſch, wie ſie bewältigen konnten; dann wurden ſie an einem 
friſch fließenden Bach angebunden, wo ſie ſich einem behaglichen 
Schlaf hingeben konnten, bis ſie imſtande waren, von neuem zu 
freſſen. 

Wir ſelbſt gingen zum Zelt hinab, um uns der wohlverdienten 
Ruhe hinzugeben. Aber wir ſchleppten ſo viel Fleiſch auf dem 
Rücken mit, wie wir tragen konnten. Wir Menſchen haben ja das 
vor den Tieren voraus, daß wir auch an das Morgen denken. 


* * 
* 


Das Sommertal ſteht in unſerer Erinnerung da wie eine Oaſe 
mitten in der Zeit der Not. Hier hatten wir vollen Sommer und 
konnten uns bei jedem Schritt, den wir taten, über die vielen 
ſchönen Blumen freuen, die aus der armen Erde aufſproßten, 
überall, wo es nur eine Möglichkeit gab, Wurzel zu ſchlagen. 
Aber außer den vielen äſthetiſchen Freuden hatten wir auch den 
materiellen Genuß, daß wir reichlichen und wohlſchmeckenden 
Proviant hatten, ſolange der Aufenthalt dauerte. 
Das Sommertal erſtreckt ſich etwa ſechs Kilometer von Norden 


234 Neuntes Kapitel. 


nach Süden, oder vom Meereis nach dem Inlandeis hinauf. Ein 
Fluß, der uns jetzt bei unſerer Abreiſe die größten Schwierigkeiten 
bereiten wird durch das große und tiefe Delta, das er bis weit 
in das Polarmeer hinein geſchmolzen hat, hat das Tal geſchaffen 
und fließt zwiſchen 200 Meter hohen Höhenzügen dahin, deren 
Abhänge ſehr fruchtbar ſind. Von allen Hügeln und Bergen 
winden ſich kleine Bäche zum Hauptfluß hinab, und aus verſchie⸗ 
denen noch nicht geſchmolzenen Schneewehen ſickert das Waſſer 


herab durch ein Gewimmel von gelben, weißen und roten 


Blumen und grünem Gras. 5 

Während wir am Zeltplatz auf dem Meereis nur eine Tem⸗ 
peratur zwiſchen Null Grad und 2 Grad Wärme haben, ſteigt 
die Wärme bei Tag und Nacht auf 10 Grad im Schatten, ſobald 
wir nur ein Stück in das Tal hinaufkommen; in der Sonne können 
wir ſogar bis zu 25 Grad Wärme haben. Das wirkt in der Regel 
ſo ſtark, daß wir ſchattige Stellen aufſuchen müſſen, um nicht gar 
zu ſehr unter der Hitze zu leiden. In ſeltſamem Kontraſt zu all 
dieſer Sommerüppigkeit ſteht das Polarmeer, das ſich mit ſeinem 
auftauenden, weißgrauen Eis nach Norden ausbreitet, ſoweit das 
Auge reicht. 


* * 


sk 


Snorre berichtet irgendwo im „Heimskringla“, daß Hakon 
Jarl, der vor den Gunhild-Söhnen geflüchtet war und ſich bei 
dem Dänenkönig Harald Gormſön aufhielt, während des ganzen 
Winters über ſo viel nachzudenken hatte, daß er ſich zu Bett legte. 
Er lag oft wach und aß und trank nur ſo viel, daß er ſeine Körper⸗ 
kraft behielt. 

Ahnlich geht es mir in dieſer Zeit; ich habe über ernſte Pro⸗ 
bleme nachzudenken, und wenn mir die Verhältniſſe auch nicht er⸗ 
lauben, zu Bett zu gehen, um in voller Ruhe alle Fäden zu ent⸗ 
wirren, fo kann ich doch den alten Wikinger und fein ungewöhn⸗ 
liches Benehmen durchaus begreifen. Oft liege ich in der Nacht 
wach, während die andern ſchlafen, und nie, ſcheint mir, iſt man 
der „Morgenröte der Entſchließungen“ näher, als wenn man in 
voller körperlicher Ruhe in ſeinem Schlafſack liegt und das Ge⸗ 
hirn arbeiten läßt; es läßt ſich nicht leugnen, daß es jetzt für 
den, der die Entſcheidung treffen ſoll, vieles zu überlegen gibt. 


Über ſchmelzendes Eis nach dem Sommertal. 235 


Die ſchlechte Bahn, das ſchmelzende Eis und das viele 
Waſſer, durch das wir durch müſſen, läßt die Frage auftauchen, 
ob es nicht praktiſcher wäre, den Sommer über hier im Tal zu 
bleiben, wo vorläufig reichlich Wild zu finden iſt. 

Meine Kameraden haben mich auch wiederholt gefragt, ob 
ich es nicht für das richtigſte anſehen würde, die Reiſe vorläufig 
einzuſtellen und ſie erſt wieder fortzuſetzen, wenn ſo viel Kälte in 
der Luft ſei, daß das Waſſer auf dem Eis gefröre. Ich habe aber 
die Entſcheidung hinausgeſchoben und daran feſtgehalten, daß wir 
weiterziehen müßten, ſei es auch nur in den allerbeſcheidenſten 
Tagereiſen. In den Tagen, die wir hier gelegen haben, habe 
ich die Lage gründlich durchdacht und meinen Entſchluß gefaßt. 


Harald Moltke nach Skizze von Koch 
Gletſcherabſchluß des Sommertals. 


Wir müſſen die Reiſe fortſetzen und trotz der ſchlechten Bahn, 
die uns augenblicklich entmutigt, müſſen wir alle Kräfte daran⸗ 
ſetzen, eine Stelle am Ende des St.⸗George⸗Fjords zu erreichen, 
von wo aus wir aufs Inlandeis hinaufkommen können. Eine 
Überſommerung hier würde uns leicht dasſelbe Schickſal wie Mylius⸗ 
Erichſen bereiten können; denn man muß hier auf Landjagd rech⸗ 
nen, und wenn die nächſte Umgebung leergejagt iſt, wird es 
ungeheuer ſchwierig ſein, neue Jagdgebiete zu erreichen. Auf See⸗ 
hunde können wir nicht in ſolcher Menge rechnen, daß wir 7 Mann 
und 18 Hunde ſo lange damit ernähren können, bis die Bahn 
beſſer wird, und das wird kaum vor Anfang September der 
Fall ſein. ö 

Setzen wir die Reiſe fort, ſo können wir, falls wir nicht zu 


236 Neuntes Kapitel. 


ſehr vom Unglück verfolgt werden, noch drei Geſpanne von je ſechs 
Hunden auf die Beine ſtellen. Augenblicklich ſind wir alle in voller 
Kraft, aber niemand weiß, in welcher Verfaſſung wir und die 
Hunde ſein werden, wenn wir hier zwei Monate ein Jägerleben 
geführt haben. 

Jetzt können wir auch auf Seehunde bei Dragon Point hoffen, 
im September dagegen durchaus nicht; unſer Fang während der 
Überſommerung müßte alſo einen Überſchuß ergeben, der uns 
außer dem täglichen Bedarf auch Proviant für die Rückreiſe 
ſicherſtellt; dies iſt aber ſehr zweifelhaft. i 

Die Schwierigkeiten, denen wir jetzt begegnen, werden in 
anderer und ernſthafterer Weiſe wiederkehren, wenn wir die Rück⸗ 
reiſe verſchieben. Wir werden ſpäter im Jahr mehr Schnee auf 
dem Inlandeis finden und infolgedeſſen wird unſere Ausrüſtung 
und unſer Proviant ſo mangelhaft werden, daß wir den Weg über 
Fort Conger nehmen und vorläufig dort überwintern müſſen. Alle 
Dispoſitionen würden dadurch nur komplizierter werden. 

Jetzt im Juli und Auguſt haben wir keine beſonders niedrige 
Temperatur auf dem Inlandeis. Wir haben die Sonne, ſo daß 
wir unſere Kleider trocknen können, und wir können die Schlafſäcke 
und anderes entbehren, was unſere Laſten beträchtlich vermindern 
wird. 

Selbſt wenn wir bei Dragon Point keine beſonders gute Jagd 
haben ſollten, kann man es doch verantworten, mit dem Proviant, 
den wir augenblicklich haben, über das Inlandeis zu gehen. 
Schließlich können wir in dieſer Jahreszeit die Reiſe abbrechen 
und auf das Land bei dem Humboldtgletſcher hinabgehen, wo 
die Jagd auf Renntiere und Haſen gut ſein wird. Später im 
Herbſt werden wir wegen der Dunkelheit dieſe Jagdmöglichkeit 
nicht haben. 

Und last but not least: zwei Monate Jägerleben hier, wo 
man ein großes Umland durchſtreifen muß, werden unſere Fuß⸗ 
bekleidung ſtark abnutzen, die ſchon jetzt von dem vielen Waten im 
Waſſer ſehr mitgenommen iſt. 

Alſo — heim ſo ſchnell wie möglich trotz aller Widerwärtig⸗ 
keiten; jeder Tag, der Maget, wird die Schwierigkeiten nur ver⸗ 
mehren! 


Zehntes Kapitel. 


Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord zum 
St.⸗George⸗Fjord. 


Zum letztenmal über den Sherard⸗Os borne⸗Fjord. 


icht ohne Wehmut nahmen wir Abſchied von dem kleinen 

Tal, wo wir und die Hunde vier köſtliche Ruhetage gehabt 
haben. Wir haben alle das Gefühl, daß wir jetzt einem Kampf ums 
Leben entgegengehen, der unſere ganze Kraft erfordern wird. 

Viel Proviant können wir von den elf Moſchusochſen, die hier 
am Ort erledigt worden ſind, nicht mitnehmen. Wir haben 
24 Schultern und Keulen auf die Schlitten geladen; dies würde. 
ja als Menſchennahrung recht lange reichen, aber als Hundefutter 
macht es nicht viel aus, namentlich da es mager iſt. Mehr als 
dieje, Menge können wir nicht transportieren; denn wir haben noch 
andere Dinge zu fahren, und es würde ein Ding der Unmöglich— 
keit ſein, ſchwere Schlitten aus den vielen mit Waſſer gefüllten 
Löchern herauszuziehen, die wir paſſieren müſſen. Übrigens iſt 
die Temperatur im Tal ſo hoch geweſen, daß es unmöglich war, 
das Fleiſch friſch zu halten. Gewaltige Schwärme von Schmeiß⸗ 
fliegen ſind buchſtäblich aus der Erde hervorgeſchoſſen und legen 
ihre Eier überall in dem Fleiſch ab. Ein abgehäutetes Stück, das 
man hinlegt, iſt in wenigen Minuten vollkommen mit Fliegen be⸗ 
deckt. So raſch entwickeln ſich die Larven der Schmeißfliegen, daß 
die fetten und widerlichen Maden in den Augenhöhlen der ge⸗ 
ſchoſſenen Tiere wimmeln. Auch das reine Fleiſch wird in gleicher 
Weiſe verdorben; aber glücklicherweiſe iſt es nicht viel, was ſo ver⸗ 
lorengeht, da wir erſtens unſere Hunde überfüttert haben und 
zweitens ſelbſt ſo viel Mahlzeiten gehalten haben, als ſich über⸗ 
haupt tun ließ. 


238 Zehntes Kapitel. 


Wir ſetzen jetzt alle Energie daran, den Sherard⸗Osborne⸗ 
Fjord zu paſſieren, wie ſchlecht und ſchwierig die Bahn auch ſein 
mag; denn jetzt wollen wir heim. Vorgeſtern ſchickte ich Harrigan 
und Ajako auf eine Rekognoſzierung nach Kap May aus. Ihre 
Beobachtungen beſagten, daß die Strecke von unſerm Lager bis 
zum Kap ſchwierig werden würde, dagegen ſchien der Fjord ſelber 
trotz einzelner Rinnen nicht ganz unmöglich zu ſein. Wir ſpucken 
alſo in die Hände! 

Am 15. Juli um 5 Uhr nachmittags ſind wir zum Aufbruch 
fertig. Wie wir da auf dem Eis ſtehen, bereit uns ins Waſſer zu 
ſtürzen, kommt uns das Sommertal idylliſcher als je vor. Die 
Nachmittagsſonne färbt alle die grünenden Abhänge, im Hinter⸗ 
grund liegt das Inlandeis über dem freundlich rieſelnden Bach 
mit ſchönen roſa Farbentönen. Selbſt das große Eismeer hat 
Feſtkleidung angelegt; einige phantaſtiſche Luftſpiegelungen unter⸗ 
brechen die tote Einförmigkeit des Horizonts und laſſen die ſchön⸗ 
ſten Luftſchlöſſer über der Wüſtenfläche entſtehen. Die Beaumont⸗ 
inſel mit ihren ſcharfen dunkeln Klippen hat ſich über das Eis er⸗ 
hoben und ſchwebt, in lila Farben gehüllt, hoch oben in der Luft. 

Aber wir haben keine Zeit für Stimmungen. Vor uns haben 
wir die alltagsgraue Proſa in Geſtalt der vielen waſſergefüllten 
Becken, durch die wir hindurch müſſen. In den erſten vier Stunden 
arbeiten wir uns durch das große Flußdelta hinaus, wo uns das 
Waſſer oft bis zum Nabel geht. Die Hunde können an den meiſten 
Stellen keinen Grund finden, und wir müſſen ſelber die ſchwere 
Arbeit verrichten, die Schlitten über die tiefen Seen zu bringen. 
Beſonders wenn ſie mit dem Vorderende in den ausgehöhlten 
Eishügeln hängenbleiben, haben wir hart zu arbeiten; wir müſſen 
uns dann hinlegen, die Arme ins Waſſer ſtecken und ſo die 
Schlitten rückwärts aus dem Hindernis herausziehen. 

Um unſere Sammlungen, das photographiſche Material, die 
Tagebücher und anderes vor einer Durchnäſſung zu behüten, 
bauen wir auf den Schlitten eine Etage auf, indem wir zwei 
Ständer auf dem vorderſten Querholz errichten und eine Brücke 
aus Schneeſchuhen zwiſchen dieſen und den Ständern am hinteren 
Schlittenende bauen; dies hilft ausgezeichnet. 

Bei Kap May wird das Eis bedeutend beſſer, und zu unſerer 
großen Überraſchung finden wir auf der erſten Hälfte des Sherard⸗ 


Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord zum St.⸗George⸗Fjord. 239 


Osborne⸗Fjords das beſte Eis, auf dem wir bisher gefahren find. 
Das Schmelzwaſſer ſcheint durchgeſickert zu ſein, und die Becken 
ſtehen daher an den meiſten Stellen trocken oder enthalten jeden⸗ 
falls ſehr wenig Waſſer. Die Hunde traben wohlgemut vor- 
wärts, während ein Mann auf dem Schlitten ſitzt. Ein er⸗ 
mutigender Anblick, den wir ſeit dem 7. Mai nicht gehabt haben. 
Alle tragen ſie jetzt Kamiker und leiden nicht ſehr unter den 
ſcharfen Eisnadeln. Um 6 Uhr ſchlagen wir mitten im Fjord 
das Zelt auf, in der Nähe von der Riffinſel, einer der Beaumont⸗ 
inſeln. Trotz der gelegentlich ſehr ſchwierigen Bahn haben wir 
doch ſchon recht große Ladungen, die für die Heimreiſe berechnet 
jind. Wir haben Petroleum, Pemmikan, Keks, Kaffee, Tee, 
Zucker, Hafergrütze, unſere Kleidung und dazu auf jedem Schlitten 
unſere Moſchusochſenſchultern und Keulen neben Talg und ge⸗ 
ſchmolzenem Mark. Wir brauchen tatſächlich keinen übermäßigen 
Zuſchuß von Seehundfleiſch für jeden Schlitten. Aber vorläufig 
haben wir, merkwürdig genug, noch keine Seehunde geſehen. 
Könnten wir nur für jeden Schlitten zwei Seehunde erbeuten, 
alſo im ganzen ſechs, abgeſehen von dem, was wir während des 
Aufenthalts vor dem Aufſtieg auf das Landeis brauchen, ſo 
könnten wir mit Leichtigkeit das Land bei Kap Agaſſiz erreichen, 
nur etwa 400 Kilometer entfernt vom St.⸗George⸗Fjord. 


* * 
* 


Zum viertenmal kommen wir jetzt auf dieſer Reiſe an den 
Sherard⸗Osborne⸗Fjord. Er ilt unbeſtreitbar der ſchönſte von 
allen Fjorden hier oben, mit dem weiteſten Horizont nach 
außen und dem größten Luftraum nach innen und mit 
ſeinen eigentümlichen geologiſchen Formationen. Ganz draußen 
an der Mündung die Devonperiode hellbraun mit zahlreichen 
Gletſcherzungen, die ſich zwiſchen den hohen vorſpringenden 
Kaps vorſchieben, weiter drinnen die Silurformation, bläulich, 
bleigrau, ſtark in den Farben wechſelnd bei den verſchiedenen Be⸗ 
lichtungen, und ganz im Innern das zartwirkende, zeitweiſe hell⸗ 
rote Algonkium, die eozoiſche Periode, mit den feinen Abtönungen 
der Morgenröte darüber. Und im Hintergrund ſieht man durch eine 
mächtige, breite Pforte bei Kap Buttreß das Inlandeis, das ſich hier 
wie ein weißlicher ſonnenglänzender Nebel am Horizont abhebt. 


240 Zehntes Kapitel. 


In der ſchönen, ſtillen Herbſtſtunde, da ich dies niederſchreibe, 
kurz vor dem Aufbruch nach Dragon Point wird die mächtige 
Ruhe des Fjords hier und da von rollendem Donner unterbrochen, 
der von den vielen kleinen Lokalgletſchern im Innern herkommt, 
die hier auf der Nordoſtſeite des Fjords ungewöhnlich lebhaft zu 
ſein ſcheinen. Unſer Zeltplatz liegt etwa in der Mitte des Fjords. 
Um 7 Uhr nachmittags brechen wir auf mit dem Kurs nach 
Dragon Point. 

Wir behalten glücklicherweiſe die vortreffliche Bahn wie 
geſtern. Die vielen großen Waſſerbecken haben ſich durch die 
Schmelzporen des Eiſes entleert und ſind jetzt an den meiſten 
Stellen ganz leer. Das poröſe Eis mit den ſcharfen Nadeln 
ſchmerzt etwas unter den Füßen, aber die Hunde, die ihre Ka⸗ 
miker tragen, verletzen ſich glücklicherweiſe die Pfoten nicht. Ge⸗ 
legentlich kommen wir über große Seen, die eine Breite von 
2 bis 3 Kilometer haben. Hier reicht das Waſſer gewöhnlich nur 
ein Stück über den Knöchel, iſt aber ſehr kalt, da eine Schicht von 
dünnem Eis darüberliegt, die klirrend bricht, ſobald wir uns 
darauf begeben. Dieſes ſcharfe Neueis, das zwiſchen den Pfoten 
der Hunde zerbricht, beläſtigt ſie etwas, da die vielen kleinen 
Stücke meſſerſcharf ſind; ſie haben die harte Konſiſtenz des Süß⸗ 
waſſereiſes, im Gegenſatz zu der weicheren Zähigkeit des Salz⸗ 
waſſereiſes. Um die ſchlimmſten und größten Seen zu vermeiden, 
fahren wir im Zickzack und kommen daher erſt um 2 Uhr bei 


Dragon Point an, nachdem wir eine Entfernung von 30 Kilo⸗ 


meter zurückgelegt haben. i 

Zu unſerer Überraſchung fanden wir hier einen breiten 
Gürtel von offenem Waſſer zwiſchen dem Land und dem Meer⸗ 
eis; das reichliche Schmelzwaſſer der letzten Tage iſt vom Land 
herabgefloſſen und hat das Eis erweicht. Der Druck des Ge⸗ 
zeitenwaſſers von unten hat das ſeinige dazu beigetragen, das 
Schmelzen zu beſchleunigen, und dieſe Kräfte haben im Verein 
miteinander einen breiten Gürtel offenen Waſſers zwiſchen Land 
und Meereis hervorgebracht. Wir finden eine Stelle, die eine 


Breite von nur 40 Meter hat, und ſetzen mit den Schlitten dar⸗ 


über, die wir mit Fangblaſen ſchwimmtüchtig gemacht haben. 
Zu unſerer unbeſchreiblichen Enttäuſchung haben wir noch nicht 
einen einzigen Seehund geſehen. Der Grund dafür iſt ſicherlich 


Landſchaft bei Kap Namſay. 


ualposnploxe Pru pen 


Vom Sherard⸗Osborne⸗Fiord zum St.⸗George⸗Fjord. 241 


der, daß das Eis infolge der raſchen Schneeſchmelze ſo rauh und 
ſtachlig geworden iſt, daß die Seehunde keine Luſt haben, herauf⸗ 
zukriechen. Aber wir hoffen doch, daß eine einigermaßen ſyſte⸗ 
matiſche Jagd uns einen Ertrag liefern wird, da wir in einem 
Waſſergürtel zwiſchen Land und Eis ſchon verſchiedene Seehunde 
geſehen haben. 

Nach einer raſchen Mahlzeit gehen Harrigan und ich in die 


Berge, um vom Gipfel des hohen Drachenberges aus eine Auf⸗ 


ſtiegſtelle zum Inlandeis zu ſuchen. Der Weg iſt bösartig. Die 
vielen kleinen ſcharfen Steine, die die Berghänge bedecken, ſchneiden 
uns in die Füße, die ſchon von der Reiſe über das Eis wund ſind. 
Dieſe Steine wechſeln mit ſchwerem, weichem Lehmboden ab, der 
jetzt ſo aufgetaut iſt, daß wir häufig einſinken und feſt hängen⸗ 
bleiben, und ſchließlich müſſen wir über ein paar Flüſſe, die eben⸗ 


falls Schwierigkeiten machen. 


Wir beſchließen, den Berg ſüdweſtlich von Dragon Point zu 
beſteigen, und machen auf dem Weg dorthin Jagd auf Haſen. 
Es gibt ihrer nicht wenige, aber ſie ſind alle unglaublich ſcheu. 
Es gelingt uns jedoch, acht zu erlegen, die wir am Fuß des Berges 
niederlegen. 

Wir ſahen einen Seehund auf dem Eis in dem Wirbel an der 
Mündung eines großen Fluſſes, der ſcheinbdar das ganze Land 
bei Dragon Point durchſchneidet. Das Eis, auf dem der See⸗ 
hund liegt, iſt jedoch infolge des Süßwaſſers ſo ſtark aufgetaut, 
daß es ſich für uns als unmöglich erweiſt, auf Schußweite heran⸗ 
zukommen. Es iſt der einzige Seehund, den wir bisher geſehen 
haben. 

Der Aufſtieg geht langſam vonſtatten, da uns die Füße 
brennen vom Gehen auf den kleinen ſcharfen Steinen, die 
eine Marter für unſere Fußſohlen ſind. Erſt um 5 Uhr nach⸗ 
mittags erreichen wir die Höhe eines großen Firngipfels mit 
tiefem und ermüdendem Schnee. Wir befinden uns hier reichlich 
1000 Meter über dem Meer. Aber die Mühe hat ſich gelohnt. 
Wir haben eine herrliche Ausſicht über den Sherard⸗Osborne⸗ 
Fiord, den St.⸗George⸗Fjord und das Land nach allen Rich⸗ 
tungen. Doch ohne ein Auge für das großartige, arktiſche Pano⸗ 
rama zu haben, das in den friſcheſten, hellen Farben des gletſcher⸗ 
und firnbedeckten Landes ſpielt, ſuchen wir nur eins: die vielen 

Rasmuſſen. ; 16 


242 Zehntes Kapitel. 


Zungen, die das Inlandeis nach dem Land hinabſchickt, die uns 
den Aufſtieg und den Heimweg ermöglichen ſollen, und ein⸗ 
ſtimmig ertönt unſer Freudenruf: 

„Die Stelle iſt gefunden!“ 

Ungefähr 40 Kilometer fjordeinwärts ſchiebt das Inlandeis 
einen weißen Zipfel über ſanft abfallende Berge herab, etwa 
5 bis 6 Kilometer vom Fjordeis entfernt. Keine Spalten ſind 
hier zu ſehen, und über den Zinnen im Hintergrund leuchtet der 
gleichmäßige, breite Rücken des großen Gletſchers. Hier wenne 
wir den Verſuch machen. 

Erſt ſpät in der Nacht des 19. kommen wir wieder zum Zelt 
zurück, nachdem wir faſt zweimal 24 Stunden auf den Beinen ge⸗ 
weſen ſind. Hendrik und Koch beſtiegen noch den Drachenberg, um 
eine Beobachtungsſtation mit der Ausſicht auf all dies neue Land 
zu gewinnen. 


Die Seehundjagd mißglückt gänzlich. 

Am 19. Juli kamen im Verlauf des Nachmittags Ajako 
und der Bootsmann von einer dreitägigen Seehundjagd zurück, 
die keinerlei Erfolg gehabt hatte. Sie hatten den Fjord über⸗ 
ſchritten und waren der Küſte bis Kap Bryant gefolgt, wo ſie 
von einem breiten offenen Meer aufgehalten worden waren, das 
ſich weit nach Norden und dann nach Weſten in der Richtung 
nach den Schwarzhornklippen erſtreckte. Keine Seehunde waren 
hier zu ſehen geweſen, vermutlich, weil ſie ſich weiter im Meer 
draußen aufhalten. Dagegen hatten ſie viele in dem breiten, am 
Land entlang führenden Waſſerſtreifen beobachtet. Hier hatten ſie 
ſechs Seehunde geſchoſſen, gerade die Zahl, die ich als Sicherung 
für die Rückreiſe bezeichnet hatte. Aber alle waren ſie wie Stene 
auf den Grund gejunfen. 

Das Benehmen der Seehunde iſt hier an dieſem Fjord und 
vielleicht überhaupt an der ganzen Küſte von Nordgrönland ſo 
verſchieden von dem, was man von allen andern Orten Grön⸗ 
lands kennt, daß wir in eine ſehr ernſte Lage geraten. Überall 
legen ſich in dieſer warmen Sommerzeit die Seehunde auf das 
Eis, und ein ſicherer Schuß liefert eine leichte Beute. So be⸗ 
kamen wir ja auch unſere ſechs Seehunde bei dem „Fleiſchtopf“ 
und bei Dragon Point; aber diejenigen, die wir jetzt im Waſſer 


Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord zum St.⸗George⸗Fjord. 243 


ſchießen müſſen, ſind ſo mager, daß ſie ſofort ſinken. Es iſt mög⸗ 
lich, daß die waſſerbedeckte Eisfläche, auf der das Eis ſcharf und 
glatt iſt, ſie nicht zum Aufenthalt einladet, und daß ſie das offene 
Waſſer im Meer oder in der Nähe von Land und Eis vorziehen. 
Aber unter ganz ähnlichen Eisverhältniſſen und in der gleichen 
Jahreszeit haben wir 1912 im Independencefjord und an den 
früher geſchilderten Fangorten, Marſhallbai und Renſlaer Har⸗ 
bour, geſehen, daß die Seehunde heraufkriechen. Eine Waſſer⸗ 
pantomime, wie ſie hier längs des Landes aufgeführt wird, hat 
keiner von uns je zu Geſicht bekommen. Von unſerm Zeltlager. 
aus ſind im ganzen drei geſchoſſen worden, aber auch ſie ſind ohne 
eine Bewegung auf den Grund geſunken, und trotz aller An⸗ 
ſtrengungen iſt es nicht möglich geweſen, ſie aus dem trüben 
Waſſer aufzufiſchen. Es iſt daher notwendig, daß wir ſchon jetzt 
einen beſtimmten Überſchlag über den von uns deponierten Pro⸗ 
viant machen und über den, den wir uns durch die ſpäteren Jagden 
verſchafft haben. Mehr bekommen wir kaum, und er muß reichen, 
wenn auch nur ganz knapp. 

Ich rechne 12 Reiſetage vom Rand des Inlandeiſes bis zum 
Land bei Kap Agaſſiz an der ſüdlichen Ecke des Humboldt⸗ 
gletſchers; die Entfernung dahin beträgt 400 Kilometer. Rechne 
ich, daß wir vier volle Tage durch ſchlechtes Wetter aufgehalten 
werden, ſo kommen 16 Reiſetage heraus. Aber um für alle Fälle 
gerüſtet zu ſein, müſſen wir für 20 Tage verproviantiert ſein. 

Eine Aufſtellung über das Depot, das wir im Mai hier auf 
der Landſpitze niedergelegt hatten, ergibt folgendes Reſultat: ge⸗ 
walzte Hafergrütze für 20 Tage bei einer einmaligen Zubereitung 
pro Tag, Keks, kleine Roggenkeks, 5 auf den Tag für 20 Tage, 
etwa 50 Pfund Pemmikan, in kleinen Rationen für ſieben Mann 
auf 9 Tage berechnet, außerdem Kaffee und Tee für 20 bis 25 
Tage. Wir müſſen uns Fleiſchproviant für ungefähr 10 Tage 
verſchaffen. Sind das, wie es augenblicklich ausſieht, ausſchließ⸗ 
lich Haſen, ſo rechnen wir für ſieben Mann auf den Tag drei 
Haſen; das beſagt, daß wir 30 Haſen haben müſſen. Da dieſe 
einen wenig ausgiebigen und knochenreichen Proviant bilden, ſo 
zerſchneiden wir ſie und nehmen nur die Hinterkörper mit. ; 

Aber folange wir uns auf dem Meereis befinden, jolange die 
vielen Seehunde im Schmelzwaſſer vor unſern Augen plätſchern, 

16* 


244 Behntes Kapitel. 


haben wir die Hoffnung, daß es uns doch gelingen wird, ein paar 
zu erlegen. Mißglückt die Jagd, ſo ſind unſere letzte Zuflucht die 
Hunde; dies iſt ja leider weder äſthetiſch noch verlockend, aber es 
gibt Verhältniſſe, in denen der Kampf ums Daſein die Linien in 
den zu treffenden Anordnungen vereinfacht, ſo daß die entſtandene 
Lage bis zu einem gewiſſen Grade unſere Gefühle verändert. 

Für die Hunde haben wir 24 Stücke Moſchusochſenfleiſch, meiſt 
Schultern und Keulen, außerdem Haut und Speck von zwei See⸗ 
hunden. Dies, hoffen wir, ſoll für 12 Reiſetage ausreichen, vor⸗ 
ausgeſetzt, daß wir bei dem Aufenthalt im St.⸗George⸗Fjord 
nichts davon verwenden müſſen. Noch ſieht es ſo aus, als ob die 
meiſten der Hunde mit ein wenig Glück das rettende Land ſüdlich 
des Humboldtgletſchers erreichen könnten. Sind wir einmal dort, 
dann befinden wir uns in der Gegend von Etah, dem Jagdgebiet 
der Eskimos, und von da werden wir die letzten 250 Kilometer bis 
zu menſchlichen Niederlaſſungen ſchon ſchaffen. 

Schon jetzt ſind wir uns alle klar darüber, daß die Heimreiſe 
unſere letzten Kräfte erfordern wird; aber wir haben keine Wahl, 
nach Hauſe müſſen wir und fort aus dieſen Gegenden müſſen wir, 
wo das Wild uns keine Exiſtenzmöglichkeiten für einen längeren 
Aufenthalt bietet. 

Ajako und der Bootsmann ſind gleich nach der mißglückten 
Seehundjagd auf die Haſenjagd gegangen und kehren bald 
darauf mit ſieben Haſen zurück. Sie haben auch eine größere 
Schar Hermeline geſehen, wovon ſie eins mitbringen. Um unſer 
Moſchusochſenfleiſch zu ſchonen, füttern wir die Hunde mit Haſen, 
ein Mahl, das ihnen wohl mundet, ſie aber nicht ſonderlich zu 
ſättigen ſcheint. Im Lauf des Tages kommen auch Koch und 
Hendrikſen vom Drachenberg zurück. Koch iſt begeiſtert über die 
ſchöne Ausſicht, die er gehabt hat, und über die vortrefflichen 
Reſultate, die die Bergbeſteigung gebracht hat. 

Der Hungertod lauert jetzt von allen Seiten auf uns, und wir 
entſchließen uns zu einem raſchen Aufbruch. Aber da es ſich am 
beſten lohnt, wenn die Jäger ſoviel wie möglich verteilt ſind, 
wird der Zug ſo geordnet, daß die Expedition ſich vorläufig in 
zwei Abteilungen gliedert. Wulff, Koch, Hendrik und der Boots⸗ 
mann ſollen dem großen Fluß, der das Land durchſchneidet, ſo 
weit aufwärts folgen, bis ſie auf die Höhe des Punktes kommen, 


Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord zum St.⸗George⸗Fjord. 245 


von wo aus wir nach dem Daniel⸗Bruun⸗Gletſcher auf Warming⸗ 
land hinübergehen wollen. Harrigan, Ajako und ich fahren die 
Schlitten nach dem Treffpunkt. 

Während des Aufbruchs ſind alle in beſter Laune. Wir denken 
nicht mehr ſehr daran, daß wir bald unweigerlich an den Hunger⸗ 
pfoten werden ſaugen müſſen. Weit mehr beſchäftigt uns der Ge⸗ 


danke, daß wir endlich den Weg nach Hauſe gefunden haben und 


daß unſer Aufenthalt hier oben mit günſtigen Ergebniſſen ab⸗ 
ſchließen möge. Vor der Trennung halten wir ein heiteres Scheiben⸗ 
ſchießen mit einem Revolver, der zurückgelaſſen werden ſoll, weil wir 
genötigt ſind, alles liegenzulaſſen, was das Gepäck unnötig beſchwert. 


Bei dieſem Scheibenſchießen übertrifft Hendrik wie gewöhnlich 


alle an Witz und Laune und ſteckt uns alle mit ſeinen komiſchen 
Narrenſtreichen an. Gerade, ehe wir uns trennten, geſchah etwas, 
was mir im Augenblick gleichgültig erſchien, womit ſich meine 
Gedanken aber ſpäter viel beſchäftigen ſollten, wenn ich auch die 
getroffenen Anordnungen nicht bereuen konnte. 

Gerade als wir abfahren wollten, kam Hendrik zu mir und 
fragte, ob er nicht von dem Marſch über Land befreit werden 
könnte; er könne nicht ſagen warum, aber er habe recht wenig Luſt 
dazu, und er bat, ob er nicht mit uns über das Eis gehen dürfe. 
Ich erklärte ihm, daß die Verteilung aus praktiſchen Gründen ge⸗ 
ſchehen ſei, da es uns ja darum zu tun ſein, möglichſt viele zur 
Jagd über das Land zu verteilen, und daß die Wanderung über 
Land außerdem viel angenehmer ſein würde als die Fahrt über 
das Eis, die meiſtens durch Waſſerbecken gehen würde. Er ent⸗ 
ſchuldigte ſich dann, daß ſeine Fußbekleidung ſo ſchlecht ſei, daß 


ihm das Gehen auf den vielen Steinen Schmerzen in den Füßen 


verurſachen würde. Ich gab ihm daher ſofort ein Paar meiner 
eigenen Kamiker, die er über die ſeinigen ziehen konnte, ſo daß 
ſeine Fußſohlen geſchützt waren. 

Im ſelben Augenblick kam indeſſen Harrigan, der die Unter⸗ 
haltung gehört hatte, zu uns und ſagte, Hendrik könne ja, wenn 
er ſo ungern über Land ginge, ſeinen Schlitten nehmen, dann 
würde er, Harrigan, mit dem Bootsmann zuſammen auf die 
Haſenjagd gehen. Aber nun hatte unterdeſſen Hendrik ſich anders 
entſchloſſen und erklärte, wenn ich es einmal beſtimmt hätte, daß 
er zu der Abteilung gehören ſollte, die über Land ginge, ſo wäre 


246 Behntes Kapitel. 


es das beite, er füge ſich — und dabei blieb es. Das einzige, was 
mich bei dem kleinen Intermezzo im Augenblick in Erſtaunen ſetzte, 
war, daß Hendrik, der ſich ſonſt immer in ſtrahlender Laune den 
Aufgaben unterzog, die ihm geſtellt wurden, bei dieſer Gelegen⸗ 
heit ſich anfangs geweigert hatte, den ihm zugewieſenen Auftrag 
auszuführen. Aber da er in den letzten Tagen ſich mit ſeiner 
Remingtonflinte als einer unſerer ſicherſten Schützen erwieſen hatte, 
wenn es galt, die ſcheuen, flüchtigen Haſen zu erlegen, war ich trotz 
allem froh, daß es bei der Beſtimmung blieb — ich ahnte nicht, 
welch traurige Kataſtrophe die Folge dieſes Beſchluſſes ſein ſollte. 


Hendrik wird vermißt. 

20.— 24. Juli. Endlich, an einem ſchönen Abend des 20. Juli, 
brachen wir auf, um den Aufſtieg an der Stelle zu verſuchen, die 
wir vom Gipfel des Drachenberges dazu auserſehen hatten. Der 
Aufenthalt bei Dragon Point hatte unſere Hoffnungen in jeder 
Hinſicht enttäuſcht; aber trotz des wenig befriedigenden Proviants 
waren wir doch in ſtrahlender Laune, weil die Sonne beſtändig 
über uns ſchien und unſere Sachen trocknete, während wir 
ſchliefen. 

Unſern Kameraden zuwinkend und die Hunde mit aufmun⸗ 
ternden Zurufen anfeuernd, fuhren wir jetzt mitten auf den Fjord 
hinaus, wo die Verhältniſſe beſſer ſchienen. Es zeigte ſich aber 
bald, daß die Bahn abwechſlungsreicher war, als wir fie je ge⸗ 
habt hatten. Das Eis beſtand aus altem Sikuſſag von unge⸗ 
wöhnlicher Bösartigkeit. Die Schmelzlöcher waren bis zu 3 Meter 
tief und lagen an einzelnen Stellen ſo dicht beieinander, daß nur 
ſchmale Eisrücken ſie voneinander trennten, und dieſe waren ſo 
ſchmal und ſcharf, daß es beinahe unmöglich war, die Schlitten 
hinüberzubringen, ohne daß ſie umſtürzten. Hier und da fanden 
ſich Rinnen, die ganz durch das Eis durchgingen; namentlich dieſe 
Rinnen machten uns viele Mühe, weil die Hunde ſich weigerten, 
hinüberzuſchwimmen. Mit allen Kräften mußten wir die Schlitten 
aufrecht halten, die jeden Augenblick Miene machten, in die 
Seen zu fallen, und es wurde allmählich außerordentlich er⸗ 
müdend, ſie zu ſtützen, da ſie an Gewicht zunahmen, je mehr die 


Ladung ſich mit Waſſer vollſaugte. Trotzdem wir bei allen 


ſchwierigen Stellen einander halfen, ging es doch oft über unſere 


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Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord zum St.⸗George⸗Fjord. 247 


Kräfte, die Schlitten auf dem glatten Eis zu halten, wo wir in 


unſern waſſergefüllten ſchlotternden Stiefeln ausglitten, und wenn 
ſie umſtürzten, blieb uns nichts anderes übrig, als ſchleunigſt ins 
Waſſer zu ſpringen. 

Alles wurde naß; ſogar unſere Heiligtümer, die auf der ganzen 
Reiſe aufgenommenen Filme, Wulffs Pflanzenſammlungen, die 
photographiſchen Apparate mit vielen wertvollen Aufnahmen 
und vieles andere trugen Merkmale von dieſer abſcheulichen Fahrt 
davon. — Nach zwölfſtündigem Marſch durchs Waſſer machten 
wir um 9 Uhr vormittags halt, heiſer vom Anfeuern der Hunde. 
Im ganzen war es uns nur gelungen, 20 Kilometer in den. 
St.⸗George⸗Fiord einzudringen. 

Um 5 Uhr nachmittags war das naſſe Gepäck ſo weit ge⸗ 
trocknet, daß wir die Fahrt fortſetzen konnten; wie es mit unſerer 
Kleidung ſtand, kümmerte uns nicht weiter, denn wir ſollten ja 
doch wieder kopfüber ins Waſſer. | 

Gerade als wir zum Abmarſch bereit waren, erſchien ein See⸗ 
hund in einer Rinne dicht vor unſerer Naſe. Er erhielt augen⸗ 
blicklich eine Kugel in den Kopf, ſank aber trotz aller Eile ſo 
blitzſchnell, daß wir nicht Zeit hatten, ihn zu faſſen. 

Ein Nordweſtwind ſteht auf, und Nebel ſetzt ein. Mit einem⸗ 
mal iſt der Sommer wie aus dem Fjord hinausgeblaſen, und mit 
dem Verſchwinden der Sonne fangen wir an, in den naſſen Klei⸗ 
dern zu frieren, daß uns die Zähne klappern. Vorwärts geht es 
jetzt durch Eis und Waſſer, aber mitten in aller Eile müſſen wir 
jeden Augenblick haltmachen, um die Kamiker der Hunde zu 
erneuern, die in dem rauhen und höckerigen Eis ſich raſch ab⸗ 
nutzen. Ohne ſie würden die Hunde binnen wenigen Minuten 
große Wunden an den Fußſohlen bekommen und für den Reit 
der Reiſe unbrauchbar ſein. Wir müſſen ihnen alſo mit Händen, 
die geſchwollen und ſteif von dem kalten Waſſer ſind, Kamiker 
anlegen. So raſch es geſchehen kann, ſetzen wir unſere Fahrt 
Tiordeinwärts fort, und zu unſerer Freude ſtellt ſich heraus, daß 
die Bahn beſſer iſt als geſtern. Der Wind fährt in recht putziger 
Weiſe rings um den Fjord herum; er kommt auf der ſüdlichen 
Seite als Südoſtwind herein und geht am nördlichen Ufer als 
Nordweſtwind hinaus. Wir ſind mitten im Ring drin, und es 


wirkt geradezu wie ein Karuſſell. 


248 | Behntes Kapitel. 


Wir folgen dem Küſteneis einwärts und werden plötzlich durch 
einen Ruf vom Land her zum Halten veranlaßt. Durch den 
Nebel erkennen wir den Bootsmann, der auf einem großen Stein 
dicht an der Innenſeite des Gezeitenwaſſergürtels ſitzt, wild ge⸗ 
ſtikulierend, wie es die Gewohnheit der Eskimos iſt, wenn ſie dieſe 
oder jene große Mitteilung zu machen haben. Sobald wir näher⸗ 
kommen, begreifen wir denn auch, daß es eine wichtige Neuigkeit 
gibt. Er hat eben einen Seehund geſchoſſen, der jetzt, deutlich ſicht⸗ 
bar, tot im ſeichten Waſſer liegt. Er erzählt ferner, daß er auf 
dem Weg ſieben Haſen geſchoſſen habe. Jetzt kommt Leben in 
uns alle. In Eile wird aus Zeltſtangen eine lange Stange ange⸗ 
fertigt und an der Spitze eine Harpune angebracht, die wir in 
den Seehund hineinſtoßen können, um ihn dann mit Hilfe der 
Fangleine, die an der Harpune feſtgemacht iſt, heraufzuziehen. 
Es iſt das erſtemal, daß der erlegte Seehund an einer Stelle 
geſunken iſt, wo man ihn ſehen kann, und wir ſpüren bereits den 
Geſchmack ſeines köſtlichen Fleiſches und die Wärme des Specks 
im Körper. Eine Fähre wird hergeſtellt — aber im ſelben Augen⸗ 
blick, als die improviſierte Harpune ins Waſſer eintaucht, rollt 
der Seehund wie von einer unſichtbaren Hand gefaßt in die Tiefe 
und verſchwindet! 

Niemand fluchte bei dieſer Gelegenheit, dazu war die Ent⸗ 
täuſchung zu groß, und ſeltſam ruhig ſetzten wir unſern Weg fort, 
um die Kameraden zu treffen. 

Der Bootsmann erzählte, Hendrik ſei unterwegs zurückge⸗ 
blieben, weil er vorgezogen habe, ein Schläfchen zu machen und 
dann die Haſenjagd fortzuſetzen. | 

22. Juli. Um 2 Uhr morgens trafen wir Koch und 
Wulff, die von der langen Tour ziemlich angeſtrengt waren. 
Aber ſobald ſie gekochte Haſen und Kaffee bekommen hatten, 
war die Müdigkeit wie weggeblaſen, und wir konnten von 
neuem die Lage erörtern. Das Land war unwegſam und 
öde geweſen, und obgleich ſich eine große Anzahl Haſen ge⸗ 
zeigt hatte, waren ſie doch alle ſo ſcheu, daß man ſich gar keine 
Hoffnung auf eine Jagd hier machen konnte, die eine Raſt er⸗ 
möglicht hätte. 

Wulff gibt in ſeinem Tagebuch folgende Beſchreibung der 
Wanderung: 5 ; 


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Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord zum St.⸗George⸗Fjord. 249 


„Nach der Trennung von Knuds Abteilung gingen wir in dem großen Tal 
aufwärts, Koch und ich auf der weſtlichen Seite des großen Fluſſes, Hendrik 
und der Bootsmann auf der öſtlichen. Nach mehrſtündiger Wanderung ſchoß 
ich eine Lestris (Raubmöwe), die ſicher weit im Lande drinnen an einem ge⸗ 


frorenen Bergſee ihre Jungen hatte. Wir rupften den Vogel ſofort und verzehrten 


ihn, faſt ehe er erkaltet war. Wir waren raſend hungrig. Später noch eine 
Raubmöwe. Ein ſonniger warmer Tag. 


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Raubmöwe mit Jungem. E. Ditlevſen 


21. Juli. Auf der weſtlichen Seite des Tals gab es auf der Hochfläche in 
der Nähe des Fluſſes, an dem wir dahinſchritten, trotz des äußerſt ſpärlichen 
Pflanzenwuchſes viele Haſen. Ich ſchoß vier Stück, aber die meiſten waren ſehr 
ſcheu und flüchteten ſchon auf ein Kilometer Entfernung. Auch die Jungen 
waren ſehr ſcheu; die Weibchen hatten Milch. Auf der Oſtſeite des Tals hörten 
wir Hendrik und den Bootsmann ſchießen und gewahrten ſie ab und zu in 
weiter Entfernung. Koch erlitt einen kurzen Schwindelanfall bei der Berg⸗ 
wanderung, erholte ſich aber bald. War äußerſt mißgeſtimmt über die bevor⸗ 


ſtehende Heimreiſe und die Schwierigkeiten auf dem Inlandeis. Aber ich ſuchte 
ihn, der müde und hungrig war, zu ermutigen. Die tiefen Canons hinderten 


das Vorwärtskommen beträchtlich, aber wir hielten uns meiſt auf den Berges⸗ 
höhen, um alle ſteilen Talſenkungen zu vermeiden. Die Haſenlaſt wurde ſchließ⸗ 
lich zu ſchwer. Drei Haſen und ein Gewehr ſind im Gebirgsgelände eine volle 
Laſt. Ich nahm die Kaldaunen heraus, die ich als Hundefutter aufhob. Koch 


und ich aßen ſogleich den Kopf mit dem Gehirn, die Zunge, Naſenknorpel, Herz, 


Lungen, Nieren und Fett. Koch ſaugte die Milchdrüſen aus. Man iſt jetzt ſo 
weit „eskimoiſiert“, daß rohes Fleiſch und rohe Eingeweide nicht im geringſten 
Ekel erregen. Nach 19 Stunden erreichten wir die Küſte und hatten einen 
ſchweren, ſteilen Abſtieg. Keine Spur von Knuds Abteilung. 

Da Koch und ich nicht, wie wir erwartet hatten, in der Nähe der Schlitten 
an die Küſte kamen, glaubten wir, daß ſie ſüdlicher vorbeigekommen ſeien, und 


250 Behntes Kapitel. 


zogen am Strande weiter. Auf dem Fjordeis Rinnen und Spalten und ein 
breiter, offener Gezeitenkanal längs der Küſte. Gingen zwei Stunden nach 
Süden, müde und hungrig. Legten uns nachmittags in den Sand und ver⸗ 
ſuchten zu ſchlafen. Aber ich fand es zu kalt. Koch ſchlief ſofort ein. Ich ging 
2%, Stunden weiter an der Küſte nach Süden, ohne eine Spur von Knud zu 
finden, dann wieder zu Koch zurück. — Ein ſtrammer und ermüdender Marſch 
von fünf Stunden. Koch war inzwiſchen erwacht und hatte den Reſt eines 
Haſen aufgegeſſen — roh. Ich hielt ebenfalls ein blutiges Mahl von 
rohem Fleiſch und trank dazu einen Schluck kaltes Waſſer aus dem Bach. Hatte 
im Lauf des Tages meinen Tabaksbeutel verloren — fatal! Jetzt iſt kalte, 
nebelige Nacht. d 

22. Juli, 12,30 Uhr vorm. Bei meiner einſamen Wanderung an der Küſte 
fand ich ein paar ältere Moſchusochſenſchädel und ein ganzes Skelett, ſowie friſche 
Wolfsſpuren im Strandlehm. Beſchloß an der Küſte entlang wieder nordwärts 
zu wandern, da wir glaubten, Knuds Abteilung ſei durch ſchlechtes Eis auf⸗ 
gehalten worden. Sehr müde und erfroren. Endlich hörten wir im Nebel auf 
dem Eis draußen Hundegebell, Büchſenſchüſſe und die Stimme der Eskimos, die 
ihre Hunde antrieben. Bald waren wir mit Knuds Abteilung vereint, um 
2 Uhr vorm. Wir lagerten auf dem Gezeitenkanal, über den Ajako Koch und 
mich trug. Wir waren 31 Stunden auf dem Marſch geweſen und 48 Stunden 
lang ohne Schlaf. 

Wir hatten noch 18 Hunde; ſollten wir dieſe mit Haſen 
füttern, ſo brauchten wir wenigſtens 10 jeden Tag. Das wäre 
immer noch ein recht kärgliches Futter, da in dieſer Jahreszeit nur 
wenig Fleiſch an den knochigen Körpern ſitzt. Wir ſahen daher 
ein, daß die Jagd uns keinesfalls einen Ertrag liefern würde, 
der zur Ernährung der Hunde und unſrer ſelbſt ausreichte und 
dazu noch einen Überſchuß von etwa 30 Halen brächte, die wir 
nach unſerer Berechnung als notwendigen Zuſchuß zum Rückreiſe⸗ 
proviant brauchten. Es gab daher keine andere Wahl, als die 
Reiſe landeinwärts fortzuſetzen, da jede Stunde Aufenthalt gleich⸗ 
bedeutend war mit einer weiteren Verringerung unſeres Proviants. 
Dem Fortbleiben Hendriks ſchenkte zu dieſem Zeitpunkt keiner von 
uns einen Gedanken. Wir waren es unter den wechſelnden Lebens⸗ 
verhältniſſen ſo gewohnt, daß jeder in ſeiner eigenen Richtung jagte 
und auf unbeſtimmte Zeit fortblieb, wenn er meinte, es verlohne 
ſich, daß niemand auf den Gedanken kam, ſich zu ängſtigen. Aber 
zur Sicherheit gingen doch zwei Mann in die Berge hinauf, um 
in verſchiedenen Richtungen zu ſuchen. Aber ſelbſt, als ſie um 
2 Uhr nachmittags, 12 Stunden nach unſerer Ankunft bei dem 
Zelt, zurückkamen, ohne etwas von Hendrik geſehen zu haben, war 


251 


Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord zum St.⸗George⸗Fjord. 


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252 Zehntes Kapitel. 


keiner unter uns, der ſich darüber beunruhigte. Dieſe letzte 
Wanderung ergab einen Ertrag von 11 Haſen, wovon 10 ſogleich 
den Hunden überlaſſen wurden, während wir ſelbſt den letzten teilten. 

Es waren Ajako und Inukitſog, die geſtern in den Bergen ge⸗ 
weſen waren; unmittelbar nach ihrer Ankunft wurde der Boots⸗ 
mann nach der Stelle geſandt, wo ſie ſich am 21. abends getrennt 
hatten. Auch er kehrt nach langer Abweſenheit ohne Reſultat 
zurück. Erſt jetzt beginnen wir für Hendrik zu fürchten, und un⸗ 
unterbrochen durchſtreifen ein oder zwei Mann die Berge und ver⸗ 
ſuchen bei ihrem Durchforſchen des Geländes durch Schüſſe und 
Rufe ſeine Aufmerkſamkeit zu erregen. Der Bootsmann berichtete: 

Nach zehn- bis zwölfſtündiger Wanderung fiordeinwärts, wo⸗ 
bei ſie beſtändig Wulff und Koch auf dem andern Flußufer ſehen 
konnten, waren ſie zu einem großen Stein gelangt, an dem ſie 
ſich zur Ruhe niederlegten und verſuchten, einen Haſen zu 
kochen. Sie waren nicht einen Augenblick im Zweifel ge⸗ 
weſen, welchen Weg ſie einzuſchlagen hätten, und wußten, daß 
ſie jetzt die Stelle erreicht hätten, von wo aus ſie ſich nach 
dem St.⸗George⸗Fjord wenden ſollten. Namentlich Hendrik, 
der mit Koch auf dem Gipfel des Drachenberges geweſen war, 
war wohl orientiert. 

Sie waren beide ſehr hungrig, aber da ſie als Brennmaterial 
nur friſche Weidenſchößlinge hatten, gelang es ihnen nicht, Feuer 
zu machen, und ſie mußten das Kochen aufgeben. Während ſie 
daſaßen, ohne daß einer Luſt hatte, rohen Haſen zu eſſen, ſchlief 
Hendrik ein; der Bootsmann wollte indeſſen ſo raſch wie möglich 
mit uns unten am Eis in Verbindung kommen und weckte ihn 
bald mit dem Beſcheid, daß er jetzt weiterzöge. Darauf ging er 
zum Fluß hinab, der groß und breit war, fand aber doch leicht 
eine Übergangsſtelle, wo das Waſſer ihm nicht höher als bis an 
die Knöchel ging. Auf dem einen Flußufer gewahrte er bald 
ein paar Haſen und begann ſie zu verfolgen. Vorher wandte er 
ſich noch einmal um, um nach Hendrik auszuſchauen, und ſah ihn 
aufrecht neben dem Stein, wo er geſchlafen hatte, ſtehen. Hendrik 
hatte zu dieſer Zeit 4 Haſen erlegt, hatte aber noch 30 Patronen, 
und da der Bootsmann meinte, er würde ſeine Jagd nach andern 
Richtungen fortſetzen wollen, ging er nach dem Fjord hinab in 
der Richtung, die er und Hendrik Wulff und Koch hatten ein⸗ 


Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord zum St.⸗George⸗Fjord. 253 


ſchlagen ſehen. Durch eine Schlucht gelangte er darauf nach einer 
großen und ſteinigen Hochebene, die ihn direkt zum Fjord hinab⸗ 
führte; hier trafen wir ihn, eine Stunde nach ſeiner Ankunft. 


* * 
* 


Die Lage iſt im Augenblick verzweifelt. Wir wiſſen nicht, 
was wir tun ſollen oder wo wir ſuchen ſollen, denn da das Land 
noch ſchneefrei iſt, haben wir keine Spur, nach der wir uns richten 
können, und da Hendrik nach der Anſicht des Bootsmannes ſeine 
Jagd fortzuſetzen ſchien, iſt es ſchwer zu raten, in welcher Richtung 
er gegangen iſt. Doch es iſt undenkbar, daß er ſich verirrt hat, 
namentlich weil es eine Inſel iſt, auf der er ſich befindet. Wir 
neigen am meiſten zu der Annahme, daß er bei der Verfolgung 
von Haſen mit ſeinem Gewehr gefallen iſt und ſich ſelbſt erſchoſſen 
hat. Die Haſen halten ſich hier zwiſchen Schluchten und Steinen 
auf, und in einer ſolchen Ortlichkeit einen verunglückten Mann zu 
finden, iſt ein reiner Zufall. 

Ich muß in dieſer Verbindung an eine Epiſode in der Kolonie 
Chriſtianshaab im däniſchen Grönland denken. Ein Knabe kam 
hier durch einen fahrläſſigen Schuß 3 bis 4 Kilometer von der 
Kolonie entfernt ums Leben. Die ganze Kolonie, die etwa 
80 Menſchen zählte, machte ſich auf, ihn zu ſuchen, aber ohne Er⸗ 
folg. Erſt nach drei Jahren wurde er von ein paar Schneehuhn⸗ 
jägern rein zufällig gefunden; er lag buchſtäblich auf der Haupt⸗ 
ſtraße der Schneehuhn⸗ und Haſenjäger, aber in einem Stein⸗ 
loch, wo nur der Zufall ſeine Entdeckung herbeiführen konnte. 

Vorläufig fahren wir mit Suchen fort. Unterdeſſen geht das 
Viordeis, das wir noch paſſieren müſſen, um nach Warmingland 
zu kommen, ſeiner vollſtändigen Auflöſung entgegen. Um uns 
herum wird das Schmelzwaſſer immer tiefer und bildet an ein⸗ 
zelnen Stellen Löcher, die ganz durch das Eis durchgehen. Jeden 
Tag wachſen die Schwierigkeiten, die mit der Überſchreitung 
eines ſolchen Geländes verbunden ſind. Außerdem iſt die nächſte 
Umgebung leergejagt, und es wird immer ſchwieriger, die Hunde 
einigermaßen in Form zu halten. 

Eine große regendrohende Wolkenbank zieht in Südoſten auf 
und vermehrt das troſtloſe Unbehagen, das im Zelt herrſcht und 
uns alle ſtumm macht. Bei jedem Laut aus den Bergen oben, 


254 Behntes Kapitel. 


wenn ein Stein ſich löſt und herabrollt oder ein Vogel mit feinem 
Schrei die Stille durchbricht, fahren wir zuſammen und laufen 
zum Zelt hinaus, um zu ſehen, ob es nicht der Vermißte iſt, der 
kommt. Sollte jetzt noch obendrein ein Sturm losbrechen, ſo 
wird es wahrſcheinlich unmöglich werden, über den Fjord zu 
kommen; gutes Wetter haben wir ſchon ſo lange gehabt, daß 
eine Wetterveränderung unmittelbar bevorſtehen muß. 

Heute iſt alles Land in der Richtung des großen Fluſſes durch⸗ 
ſucht worden, ebenſo die Küſte, ſoweit man ihr im Hartzſund 
folgen kann. . 

24. und 25. Juli. Der allerletzte Verſuch beſteht darin, daß 
wir uns alle auf einmal über die Strecken der Inſel zerſtreuen, 
wo die Möglichkeit vorliegt, daß Hendrik verunglückt ſein könnte. 
Zwölf Stunden lang ſind wir ununterbrochen unterwegs, einer 
3 bis 4 Kilometer von dem andern entfernt. Die ganze Nacht 
hallt die Landſchaft von unſern Rufen in der großen drückenden 
Stille wider, aber nie tönt eine Antwort oder ein Notſchrei zurück, 
auf den wir bis zum Außerſten geſpannt warten. Unheimlich 
ſchallt Hendriks Name über die Inſel, die jetzt ſein Grab werden 
ſoll. Als wir endlich das Suchen aufgeben müſſen, kehren wir zum 
Zelt zurück und ſchleichen uns müde und wortlos an unſere Plätze. 

Darauf wurde ein Expeditionsrat gehalten und einſtimmig be⸗ 
ſchloſſen, daß nicht mehr für Hendrik getan werden könne und daß 
wir gezwungen ſeien, die Reiſe fortzuſetzen. Die Wolkenberge, die 
vom Südoſten her gedroht hatten, überfielen uns jetzt mit Regen 
und machten den Aufenthalt in unſerm Lager noch unhaltbarer. 

Mit ſchwerem Herzen rüſteten wir uns zum Aufbruch, aber 
vorher bauten wir auf vorſpringenden Punkten drei Gteinmale; 
eins oben auf einem Berggipfel, der von der großen Steinebene 
hinter den Strandbergen ſichtbar war. Dort hinterließen wir einen 
Brief, der angab, welchen Weg wir gefahren wären, und wo 
Hendrik darauf rechnen könnte, in den nächſten Tagen uns zu 
treffen. Ein anderes Steinmal wurde mit dem gleichen Beſcheid 
und einer Karte unten am Hartzſund errichtet, und endlich wurde 
ein Steinmal oberhalb unſeres Zeltlagers gebaut und hier etwas 
Proviant und Kleidungsſtücke niedergelegt, ſo daß der Vermißte 
ohne Schwierigkeit unſer Lager auf Warmingland erreichen konnte, 
wenn er ſich nur verirrt hatte. 


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Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord zum St.⸗George⸗Fjord. 255 


Noch einmal unterſuchten wir die ganze Umgebung, da keiner 
von uns ſich entſchließen konnte, aufzubrechen, und auf unſerer 
Fahrt durch den Fjord durchforſchten wir mit dem Fernglas immer 
wieder das Gelände, das wir in den letzten Tagen durchwandert 
hatten. Als wir von der äußerſten Spitze von Warmingland aus 
landeinwärts nach dem Daniel⸗Bruun⸗Gletſcher wanderten, hatten 
wir ununterbrochen 72 Stunden geſucht. 


Die letzten Tagereiſen auf morſchem Eis. 

Unſer Leben ſtand jetzt auf dem Spiel; das war die brutale 
Wahrheit. Wir wagten uns daher auf ein Eis, das ſo brüchig war, 
daß man es unter andern Verhältniſſen für unmöglich gehalten 
hätte, ſich ihm anzuvertrauen. Aber wir mußten vorwärts, und 
zwar ſo ſchnell wie möglich. Drei von uns mußten beſtändig den 
Hunden vorangehen, die nicht länger durch das Waſſer zu treiben 
waren; dieſes war oft ſo tief, daß die Tiere ſchwimmen mußten. 
12 Stunden nach unſerm Aufbruch wurde ein Seehund in der 
Gezeitenrinne bei Warmingland erlegt. Einige Augenblicke war 
es, als ob wir aus der gedrückten Stimmung, in der wir uns be⸗ 
fanden, herausgeriſſen würden, da die Hoffnung, endlich eine 
Mahlzeit mit Fett zu bekommen, uns aus unſerer Mutloſigkeit 
aufrüttelte. Eine Eisſcholle wurde als Fähre nach der Stelle ge⸗ 
bracht, wo der Seehund geſunken war; es dauerte auch nicht lange, 
bis wir ihn erblickten, da das Waſſer ziemlich klar und nicht be⸗ 
ſonders tief war. In größter Eile wurde unſere Harpune aus den 
zuſammengebundenen Zeltſtangen bereitgeſtellt, aber gerade als 
wir anfangen wollten, den Seehund aufzufiſchen, kamen ein paar 
große Eisſchollen herangetrieben und legten ſich wie eine Toten⸗ 
wache über den geſunkenen Seehund. Es nützte nichts, daß wir 
unſere Nachtruhe opferten und uns verzweifelt bemühten, ihn zu 
bekommen. Der Regen ſtürzte auf uns herab, und das kleine Stück 
des Oberkörpers, das vom Schmelzwaſſer nicht erreicht worden 
war, wurde unbarmherzig durchweicht. 

Es iſt eine bekannte Tatſache, daß wir Menſchen, ſelbſt wenn 
wir in Wirklichkeit jede Hoffnung aufgegeben haben, trotz alledem 
ſolange wie möglich eine kleine, allerletzte Möglichkeit offenlaſſen. 
So hatten wir immer gehofft, Hendrik hätte aus dieſem oder jenem 
unerklärlichen Grunde den Hartzſund überſchritten, und falls dies 


256 Zehntes Kapitel. 


geſchehen wäre, würden wir ihn in Warmingland treffen. Heute 
ſchwand auch dieſe Hoffnung; und jetzt, da Hendriks Tod eine 
Tatſache iſt, müſſen wir das Schickſal, dem er zum Opfer fiel, 
erörtern. Es iſt denkbar, daß er ſchlafend von Wölfen überfallen 
worden iſt. Wir haben auf der heutigen Tagereiſe drei gejehen, 
von denen einer von dem Lande kam, das wir eben verlaſſen 
hatten. Oder er kann auch unvorſichtigerweiſe einen Fluß an einer 
Stelle durchwatet haben, wo dieſer tief und reißend war, und der 
Strom kann ihn mit fortgeriſſen haben. Und ſchließlich beſteht die 
Möglichkeit, die ich oben ſchon angedeutet habe und die wohl die 
wahrſcheinlichſte iſt, daß er ſich bei einem Fall mit ſeinem eigenen 
Gewehr erſchoſſen hat. : 

Auf der heutigen Wanderung machte ich eine noch nicht 
erlebte Erfahrung mit einem Wolf. Bei einem Streifzug über 
Land hörte ich ſchleichende Schritte hinter mir, und als ich 
mich plötzlich umwandte, ſah ich 50 Meter hinter mir ein Paar 
runde leuchtende Augen auf mich gerichtet. In demſelben Augen⸗ 
blick, da unſere Blicke ſich begegneten, erloſch der Glanz in den 
Augen, und das Tier blieb in ſchlaffer Haltung und mit feige 
ſchlenkernden Gliedern ſtehen, ohne jede Spur von Intereſſe für 
mich. Ich war unbewaffnet, hatte nur einen Stock in der Hand, 
und es war faſt, als ob das Tier von meiner abſoluten Ungefähr⸗ 
lichkeit Kenntnis hatte, und doch wagte es nicht, mich anzugreifen! 
Es machte mir Spaß, den Wolf eine Weile auf die Probe zu 
ſtellen; ſobald ich ihm den Rücken zuwandte und ein Stück weiterging, 
verdoppelte er ſeine Schritte und folgte mir. Aber in dem Augen⸗ 
blick, da ich mich umdrehte, erloſch wieder der Blick in ſeinen 
Augen, und er verſuchte Intereſſen zu heucheln, die mit meiner 
Perſon nichts zu tun hatten. Ging ich dagegen rückwärts in meiner 
Richtung weiter, ſo folgte er nie nach, ſondern begnügte ſich damit, 
in derſelben abwartenden, aber ganz gleichgültigen Stellung 
ſtehenzubleiben. So ſah die Verkörperung der Heimtücke aus, 
und mit Schaudern dachte ich an das Schickſal des armen 
Hendrik. 

26. Juli. Wir haben unſern Weg geſtern abend fortgeſetzt, 
nachdem wir einige Stunden an der Stelle, wo wir den Seehund 
verloren haben, ausgeruht hatten, und wir haben uns jetzt wieder 
in zwei Abteilungen geteilt, da ja immer die Möglichkeit beſtand, 


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Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord zum St.⸗George⸗Fjord. 257 


daß wir im Land drinnen etwas Wild fänden. Hier gehen 
Wulff, Koch und ich und ſpähen uns die Augen müde in dem 
gottverlaſſenen Land. Plötzlich werden wir aufmerkſam, daß 
die Schlitten ein Stück in den Fjord hinausgefahren ſind und 
haltgemacht haben. Wir richten ſofort das Fernglas auf ſie und 
entdecken, daß endlich der große Augenblick gekommen war, auf 
den wir ſo viele Tage gehofft hatten. Ein Seehund war oben auf 
dem Eis ein paar Kilometer von den Schlitten entfernt ſichtbar, 
und Inukitſog hatte bereits begonnen, zu ihm hinzukriechen. Es 
verging eine Stunde, in der wir kaum atmen konnten vor 
Spannung, bis unſere Erregung ſich in mächtigen Freudenrufen 
löſte: Inukitſog hatte den Seehund geſchoſſen! 16 Stunden lang 
waren wir wie die Schnecken vorwärts gekrochen, und ſelbſtverſtänd⸗ 
lich benutzten wir dieſe ſeltene und willkommene Gelegenheit, 
um das Lager aufzuſchlagen. Mit großer Mühe ſegelten wir auf 
kleinen Eisſchollen über die Gezeitenrinne, gelangten auf das Eis 
und waren kurze Zeit darauf bei den Kameraden. 

Nun hielten wir eine Feſtmahlzeit nach allen Regeln der Kunſt. 
Unſer Fetthunger wurde mit dem köſtlichen friſchen Speck geſtillt, 
und dann kochten wir eine fette Blutſuppe, die uns ein Gefühl der 
Sättigung gab, wie wir es ſeit dem Sommertal nicht mehr ge⸗ 
habt hatten. Die Hunde erhielten ebenfalls ihren reichlichen 
Anteil an dem Fang, und wir hatten eine Vermehrung unſeres 
Proviantes erlangt, die für uns von der allergrößten Bedeu⸗ 
tung war. 

27. Juli. Wir ſtanden jetzt nicht weit von der Aufitiegitelle 
zum Daniel⸗Bruun⸗Gletſcher. Die Entfernung konnte kaum über 
6 Kilometer betragen. Aber trotz aller unſrer Anſtrengungen 
kommen wir auf dem morſchen Eis in 12 bis 14 Stunden nicht viel 
mehr als etwa 10 Kilometer weiter. 

Früh am Morgen ziehen wir in ſtrömendem Regen fort, 
aber die gute Mahlzeit von geſtern hat ihren Erfolg gehabt. 
Geſtern hatten wir Blutſuppe mit Speck mit einer Taſſe Hafer⸗ 
grütze vermiſcht, was ein vorzügliches Gericht ergab; heute haben 
wir gekochtes Fleiſch. 

Wir ſind alle ſehr mager, und wenn wir auch ſonſt ſonnen⸗ 
verbrannt und geſund ausſehen, ſo hat doch die Arbeit der 


letzten Monate ihre Spuren an uns hinterlaſſen. Unter ſolchen 
Nasmuſſen. 17 


258 Zehntes Kapitel. 


Verhältniſſen bedeutet eine gute Mahlzeit für den Körper dasſelbe, 
wie wenn man Kohlen in einen Kachelofen ſtopft. Wir fühlen trotz 
des kalten Regenwaſſers und der durchweichten Kleidung keine 
Kälte und freuen uns den ganzen Tag über eine innere Wärme, 
die Erinnerungen an die Zeiten weckt, die man ſorglos an den 
heimiſchen Fleiſchtöpfen verbrachte. 

Abends gelangen wir an einen tiefen, reißenden Fluß, der ein 
großes Delta auf dem Eis gebildet hat und daher nicht zu 
paſſieren iſt. Da wir ungefähr an der Stelle ſind, wo wir den 
Aufſtieg aufs Inlandeis verſuchen wollen, ſchlagen wir das Lager 
an Land auf, in der Hoffnung, ſpäter eine Furt zu finden. 


Der Aufſtieg auf Warmingland. 


28. Juli. Obgleich die Temperatur hoch geweſen iſt und das 
Thermometer ſich von Mitternacht bis Mittag zwiſchen Null und 
2 Grad über Null bewegt hat, haben wir doch eine kühle Nacht 
gehabt, weil alle unſere Kleider und Felle naß waren. 

Nie iſt mir eine Nacht ſo endlos lang erſchienen. Schnee und 
dünner Regen wechſelten ab, und ich lag buchſtäblich mit dem Baro⸗ 
meter in der Hand da und ſah beſtändig nach, ob nicht eine kleine 
Veränderung zum Beſſeren einträte. Aber vergebens! Schließlich 
mußte ich mich damit zufrieden geben, daß man im Leben und 
nicht zum wenigſten auf Reiſen die ſchlechten Tage hinnehmen muß 
wie die guten; damit löſte ſich meine unruhevolle Spannung, und 
ich fiel wirklich in einen tiefen Schlaf. 

Gegen Morgen erwachten wir zu einem geſegneten Tage; der 
Regen hatte aufgehört, und zwiſchen ſchweren Sturmwolken kam 
der Himmel zum Vorſchein. Der Drachenberg und der Wyattberg 
tauchen aus dem Nebel auf und ſtehen mit ihren ſcharfen Um⸗ 
riſſen wie mächtige Wächter an der Fjordmündung, wo jetzt alles 
in Wintertracht gehüllt iſt. Später am Vormittag bricht die 
Sonne durch. Es wird ſchönes, ruhiges Wetter, und wir beeilen 
uns, die köſtliche Wärme auszunutzen, um unſere naſſen Sachen zu 
trocknen. 

Der Tag hält, was er verſpricht, je mehr wir uns dem Mittag 
nähern, und es iſt, als ob ſich mit dem guten Wetter alle 
Zukunftsausſichten mit einemmal verändern. Im offenen Waſſer 
des großen Flußdelta kriechen ſieben Seehunde auf das Eis herauf 


A 
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Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord zum St.⸗George⸗Fjord. 259 


und verſprechen eine gute Rückreiſe mit Fleiſch in den Töpfen an 
jedem Wandertag. Ja, nur ein paar davon würden mit ihrem 
leckeren Speck die Situation ganz verändern. 

Wir beſitzen noch 17 gute Hunde, die in wunderbarer Weiſe 
alle Widerwärtigkeiten überſtanden haben; nie ſind die Hunde 
einer Expedition zäher und ausdauernder geweſen als unſere. Nicht 
einmal die Schwimm⸗ und Watetouren des letzten Monats in 
dem eiskalten Waſſer haben ſie ſonderlich angegriffen. 

Die Seehundjagd muß verſucht werden; Inuktiſog kriecht auf 
das Eis hinaus, aber zu unſerer großen Enttäuſchung führt der 
Verſuch zu nichts; das Waſſer auf dem Eis iſt ſo tief, daß die 
Seehunde ſein Plätſchern auf weite Entfernung hören, wie vor⸗ 
ſichtig er ſich auch bewegt, und mit ſchwerem Herzen ſehen wir 
einen Seehund nach dem andern durch das Eis verſchwinden. Aber 
auch dieſe Enttäuſchung wollen wir auf uns nehmen, wenn ſich 
das Wetter nur hält, ſo daß wir unſere Sachen trocknen und den 
Aufſtieg beginnen können. 

Im Laufe des Nachmittags wird ein Seehund in der Ge⸗ 
zeitenrinne geſchoſſen, aber wie gewöhnlich ſinkt er unter. Wir 
wiſſen ja nun durch lange Erfahrungen, wie hoffnungslos es iſt, 
auf dieſer Jagd Munition zu opfern. Aber wir können es doch 
nicht laſſen; es könnte ja doch ſein, daß es einmal glückte. Und 
dieſe Hoffnung wird entſcheidend, ſo oft die runden blanken Köpfe 
mit den großen ſtarrenden Augen auf der Oberfläche des Waſſers 


erſcheinen und uns aus Entfernungen betrachten, die einen ſicheren 


Schuß ermöglichen; aber das Süßwaſſer verhindert, daß die er⸗ 
legten Seehunde ſchwimmen. 

HSGoungrig und mutlos, aber doch mit einer gewiſſen Ruhe 
kehren wir nach dieſer letzten Seehundjagd zum Zelt zurück; denn 
wir geſtehen es uns jetzt offen ein, daß wir jede Hoffnung auf 
eine Proviantvermehrung aufgeben müſſen. Wir müſſen uns mit 
unſerm Geſchick abfinden. Das einzige Lebeweſen, deſſen Spuren 
wir ab und zu zu ſehen bekommen, iſt der heimtückiſche, feige 
Polarwolf, der gewöhnlich den Eisfuß gerade unterhalb des 
Zeltes, während wir ſchlafen, beſucht, um zu ſehen, ob ſich nicht 
etwas zu ſtehlen findet; er leidet ja ebenfalls unter der entſetz⸗ 
lichen Armut des Landes. Auch auf dem Land iſt die Jagd ver⸗ 


ſucht worden, aber Hendriks Inſel ſcheint die Grenze für das Wild 
17* 


260 Zehntes Kapitel. 


zu bilden; dort gab es doch wenigſtens Haſen. Schweren Herzens 
müſſen wir daher zu dem allerletzten Mittel greifen und einen 
unſerer Hunde töten. Es iſt das erſtemal auf der Reiſe. Unſern 
ſpärlichen Gletſcherproviant dürfen wir noch nicht anrühren, und 
ganz ohne Nahrung können wir einer harten Fußtour nicht ent⸗ 
gegengehen. 

Satt wurden wir alſo heute, aber das Fleiſch war ebenſo zäh 
wie der Hund bei lebendigem Leibe geweſen war, und anders wie 
ſonſt hielten wir unſer Mahl ohne Freude. 

Schon am Abend ſchwebt das Mißgeſchick ſchon wieder drohend 
über uns. Große Unwetterwolken ziehen im Südweſten auf und 
treiben in großer Eile über die ſteilen Berge in den Fjord hinein; 
das Barometer fällt ſtark, und zu unſerm Kummer peitſcht der 
Regen wieder gegen das Zelttuch, während unſere Kleider auf 
uns verſchimmeln. Wir beſchweren die Zeltleinwand mit großen 
Steinen, ziehen alle Stützſeile ſtraff und machen uns auf das 
Schlimmſte gefaßt. 


Regen und Schnee. 


29. Juli. Die ganze Nacht hat ein ſchwerer Sturm im Fjord 
gewütet. Glücklicherweiſe haben wir nicht viel davon gemerkt, da 
wir im Windſchutz hinter dem Berg liegen. Und dann hat es 
geregnet wie nie zuvor, leider auch durch das Zelttuch, das nicht 
mehr dicht iſt. Gegen Mittag ſteigt das Barometer ein wenig, 
und der Regen geht in Schnee über. Dieſe Abkühlung pflegt 
Beſſerung zu bedeuten. Das Land um uns herum iſt jetzt ganz 
von Schnee bedeckt und die Stimmung iſt herbſtlich. 


* * 
sk 


Ich halte ſtreng darauf, daß wir den Proviant ſchonen, ſolange 
wir ruhig liegen; wir bekommen alſo heute nichts zu eſſen. Aber 
um 5 Uhr kommt Koch und meldet, daß ſie es in dem andern Zelt 
nicht mehr aushalten könnten. Ich teile alſo ein paar kleine Por⸗ 
tionen Moſchusochſentalg aus und verſpreche ihnen ein wenig 
Hundefleiſch, ſobald der Regen aufhört und wir Feuer machen 
können. Der Schnee fällt jetzt dichter als vorher, aber das 
Barometer ſcheint ſich jetzt aufwärts zu bewegen. 


* * 
* 


Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord zum St.⸗George⸗Fjord. 261 


Einmal am Nachmittag hörte ich vom Lande her ein ſtarkes 
Gletſcherkalben, ein Abbrechen von Gletſchereis in die See, ein 
unheimlicher Ton. Es ſcheint ſich alſo in der Nähe der Aufſtieg⸗ 
ſtelle ein produzierender Gletſcher zu befinden. Vom Drachenberg 
aus glaubten wir mit Sicherheit entſcheiden zu können, daß der 
Daniel⸗Bruun⸗Gletſcher mit dem Hauptgletſcher im Nordoſten in 
Verbindung ſteht, und zwar in der Richtung nach dem Ryder⸗ 
gletſcher im Sherard⸗Osborne⸗Fjord, wo das Inlandeis, ſoweit 
wir ſehen konnten, eben in den Horizont überging. Harrigan und 
ich waren ganz ſicher, daß hier die Bedingungen für den Aufſtieg 
günſtig ſein müßten; wir wollten aber am liebſten vorher rekognoſ⸗ 
zieren. Aber das morſche Eis geſtattet uns keine Unterſuchungen 
weiter fjordeinwärts, und wir müſſen daher alles auf eine Karte 
ſetzen und verſuchen, auf das Inlandeis hinaufzukommen. Wir 
haben keine andere Wahl. Die vielen Haſenjagden haben uns 
viel Munition gekoſtet; es it ein Unterſchied, was man für eine 
Kugel bekommt, ob man einen Moſchusochſen oder einen Haſen 
ſchießt. 

Zu Mittag verzehren wir wieder ein paar Stücke Moſchus⸗ 
ochſentalg. | 


Unwetterſtimmung. 


30.—31. Juli. Die ganzen letzten 24 Stunden hat der Me⸗ 
teorologe Regenwolken und wieder Regenwolken gemeldet bei 
beſtändig fallendem Barometer. Um 2 Uhr morgens kann ich 
es nicht länger aushalten und greife zu meinem Tagebuch, um der 
trüben Stimmung, die uns beherrſcht, Luft zu ſchaffen. Der 
Schnee fällt noch dichter als vorher, und er wird ſich bald zu einer 
ſchlechten und ſchweren Bahn anhäufen. 

Niemand wird ſich wundern, daß es ſchwer iſt, die Zeit tot⸗ 
zuſchlagen; ſchlafen können wir nicht ewig, und mit unſerm Wolfs⸗ 
hunger ſind wir nicht zum Leſen aufgelegt, obwohl unſere Biblio⸗ 
thek noch die Bibel und Bruchſtücke aus Snorres „Heimskringla“ 
enthält. | 

Wir haben noch zwei Zelte; ich habe fie beide errichten laſſen, 
damit unſere Sachen etwas geſchützt find. Wulff, Koch und 
Harrigan hauſen in dem einen, Ajako, der Bootsmann und ich in 
dem andern. Die Stimmung in unſerm kleinen Lager iſt etwas 


262 Zehntes Kapitel. 


düſter. Seltſam unmutig und bedrückt haben wir uns gefühlt, 
ſeitdem unſer kleiner, froher Hendrik auf ſo ſeltſame Weiſe ver⸗ 
ſchwand. An einem Tag wie heute erſcheint alles um uns herum 
ſo trübe. 

Es ſchmerzt uns zu ſehen, wie unſere flinken Hunde mit jedem 
Tag magerer werden; uns ſelbſt geht es auch nicht viel beſſer, 
aber wir begreifen den Zweck und ſind darum bald die reinen 
Hungerkünſtler. 

Vorläufig müſſen wir liegen und warten — warten auf eine 
Ausſicht über den Gletſcher, den wir beſteigen ſollen, warten auf 
die Sonne, die uns unſere naſſen Kleider trocknen ſoll; ſpäter bei 
dem Aufbruch werden wir gewiß alle Kräfte, die wir noch be⸗ 
ſitzen, nötig haben. Alle haben wir ja Angehörige, mit denen wir 
fürs Leben verknüpft ſind; in ihrem Namen und um ihretwillen 
wollen wir unſer Leben teuer verkaufen und nicht nachlaſſen, 
ſolange unſere Beine uns noch tragen. 

Vorläufig heißt es hier ſchweigen und warten; ſchlechte Zeiten 
ſchreiten langſam, das iſt ihre Art. 


sk * 
sk 


Um 6 Uhr morgens zwingt der Hunger uns, einen Einbruch 
in den Gletſcherproviant zu machen. Wir kochen mit gutem Humor 
Haferſuppe auf dem Primus, da es unmöglich iſt, draußen ein 
Feuer anzumachen. Für jeden werden zwei Taſſen Suppe bereitet; 
der gute Haferbrei wärmt unſere Körper wie Feuer und legt ſich 
wie eine Liebkoſung in unſern leeren Magen. 

O, wie das wohltat! Wir ſind alle in einer wunderlichen 
kindlichen Stimmung, die uns an die Geburtstagsſtimmung der 
Kindheit erinnert; dies war die Wirkung von ein wenig ordent⸗ 
licher Nahrung. Jetzt können wir es wieder eine Zeitlang aus⸗ 
halten; denn ſolange wir ruhig liegen, heißt es, die Körperenergie 
auf das geringſte Maß herabzuſetzen. 


* * 
* 


Die Mittagszeit iſt in der Regel die Zeit, in der die Ver⸗ 
änderungen zum Beſſeren eintreten; wir erwarten daher immer die > 
Mitte des Tages mit Spannung; fo auch heute. Um 12 Uhr 


Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord zum St.⸗George⸗Fjord. 263 


klart es auf, und ein paar Seehunde kriechen wie gewöhnlich 
ein Stück vom Zelt entfernt aufs Eis. Sie tummeln und wälzen 
ſich in Wohlbehagen im Schnee, blicken ab und zu nach dem 
Lager herüber, um ſich dann in voller Länge ſchlaftrunken wieder 
auszuſtrecken und mit geſchloſſenen Augen an dem kühlen Herbſt⸗ 
tag ein Sonnenbad zu nehmen. Früher freuten wir uns, wenn ſie 
heraufkamen, jetzt fangen wir an, ſie zu haſſen. 

Harrigan hat nach dem letzten Verſuch erklärt, er ſehe es für 
hoffnungslos an, in dem tiefen Waſſer Seehunde zu jagen; aber 
Ajako, der die Hoffnung nicht aufgeben will, ſolange noch die ge⸗ 
ringſte Möglichkeit vorhanden iſt, erklärt, er wolle es trotzdem 
verſuchen, in das Waſſer hinauszuwaten. Aus dieſem Anlaß kochen 
wir Seehundfleiſch und eine Taſſe Kaffee, und augenblicklich er⸗ 
ſcheint uns die Lage lichter. Ach, wie hängen wir Menſchen doch 
von unſerm Magen ab und von dem bißchen Ballaſt, den er 
fordert! f 
Ich gebe zu, lieber Leſer, daß man materiell geſinnt wird, 
hier oben, wo die Nahrung ſo ſehr die Gedanken beherrſcht. Aber 
das Verlangen nach Nahrung iſt doch keineswegs das allein⸗ 
herrſchende. Viele Gedanken wandern auch zu den nächſten An⸗ 
gehörigen, und es iſt das Heimweh und der Gedanke an ſie, 
die zur Kraftquelle werden. 

Und ſo ertrinkt man in einem Meer von guten Vorſätzen, und 
gelingt es einem, nur einen Bruchteil davon zu verwirklichen, 
ſo wird man ein leuchtendes Beiſpiel für die bewundernde Menſch⸗ 
heit werden. Am feſteſten ſind meine Erinnerungen mit dem Land 
verknüpft; ich habe in den Mietskaſernen in Kopenhagen nie ein 
eigentliches Heimatsgefühl gehabt. 

Eine Großſtadt iſt wie ein Vogelberg, der von Menſchen ge⸗ 
ſchaffen iſt. Er mag für eine Zeit gut ſein, aber dann bekommt 
man genug von dem Wirrwarr und den ſchreienden Alken, den 
pfeifenden Lummen und den gierigen Raubmöwen, und man ſehnt 
ſich von Herzen nach dem einſamen Neſt der Wildente an einem 
ſtillen fernen See oder nach den Schären des Meeres, wo der 
Eidervogel auf den ſchaumgekrönten Wogen reitet. 

Spät am Nachmittag kommt Ajako von der Seehundjagd 
zurück ohne anderes Ergebnis, als daß er bis auf die Haut naß 
geworden iſt. Wir erwärmen ihn mit einer Taſſe Tee und leihen 


264 Zehntes Kapitel. 


ihm von unſerer Kleidung, bis ſeine eigene wieder trocken ge⸗ 
worden iſt. Noch immer fällt der Tauſchnee dicht und uner⸗ 
bittlich! 


Es 


Am nächſten Morgen erwache ich gegen 3 Uhr und höre den 
Schnee nicht mehr gegen das Zelttuch klatſchen; ich ſtürze hinaus 
und ſehe zu meiner großen Freude, daß es aufgehört hat zu 
ſchneien und daß der Himmel klar iſt, obgleich noch tiefe Wolken 
über den Bergen hängen. Die Landſchaft iſt winterweiß, ſo blen⸗ 
dend, daß man kaum die Augen offen halten kann, und ſelbſt das 
morſche, waſſererfüllte Eis iſt unter einer ſchönen Schneedecke ver⸗ 
borgen. Ich koche Kaffee und wecke die Kameraden. Wieder 
ſind ein paar Seehunde auf das Eis heraufgekommen, und wenn 
ſie auch nur wie Irrlichter in einem Moor zu betrachten ſind, ſo 
bieten ſie doch immerhin ein wenig Ausſicht für die Jagd. 

Wir mußten geſtern drei Hunde ſchlachten, da wir kein Futter 
für ſie beſaßen und auch für uns ſelbſt nichts zu eſſen hatten. 
Wir machen ein großes Feuer an und kochen Fleiſch an dem 
ſchönen Morgen. Gegen Mittag verſuchten wir wieder eine See⸗ 
hundjagd, die wie gewöhnlich uns 3 bis 4 Stunden in heftige 
Erregung verſetzte. Es iſt wieder Ajako, der ſeine Haut zu Markte 
trägt; der ganze Erfolg ſind nur naſſe Kleider. Dann benutzen 
wir das gute Wetter dazu, das Gepäck über den großen, reißen⸗ 
den Fluß, an dem wir gelagert haben, zu ſchaffen, und die erſte 
Abteilung fährt es auf dem Neuſchnee bis zum Rand des Inland⸗ 
eiſes, der 6 Kilometer vom Zeltplatz liegt. 


Noch ein Seehund. 


1. Auguſt. Der neue Monat fing ungewöhnlich hoffnungslos 
an. Strömender Regen, kein Hundefutter, wenn wir nicht den 
Gletſcherproviant angreifen wollen, und nur ein paar kleine Stücke 
mageres Hundefleiſch für uns ſelbſt. Mittags trat unvermutet 
eine Regenpauſe ein. Wieder wie gewöhnlich kroch ein Seehund 
gerade vor unſerer Naſe herauf, aber doch in ſolcher Entfernung, 
daß man ihn nicht vom Lande aus ſchießen konnte. Obgleich es 
jetzt nach dem Regen der letzten Tage faſt lebensgefährlich iſt, 
das Eis zu betreten, meldet [ig Ajako doch wieder zum Verſuch. 


Vom Sherard⸗Osborne⸗Fjord zum St.⸗George⸗Fjord. 265 


Auf großen Umwegen bewegte er ſich auf den Seehund zu, weil 
jetzt Eis auf den Schmelzwaſſerlöchern lag, das unter ſeinen Tritten 
mit ſolchem Lärm zerbrach, daß die Seehunde es auf weite Ent⸗ 
fernung hörten. Es koſtete Zeit, auf Schußweite heranzukommen 
und erforderte eine bewundernswerte Geduld. Wenn der Seehund 
plötzlich den Kopf erhob und anfing ſich umzuſehen, mußte Ajako 
in dem tiefen kalten Waſſer ſich auf den Bauch legen und hier 
Minuten vollkommen unbeweglich liegenbleiben, bis der Seehund 
ſich bequemte, weiterzuſchlafen. Die meiſten von uns waren ſo 
geſpannt auf den Ausfall der Jagd, daß wir es nicht aushalten 
konnten, die vielen aufregenden Momente mit anzuſehen; wir 
gingen ins Zelt und legten uns nieder, ohne daß jedoch ein Ge⸗ 
ſpräch in Gang kam. Unſere Gedanken waren ununterbrochen bei 
dem Kameraden, der im Begriff war, ein Meiſterſtück auszuführen. 
Dann knallte der Schuß, und wir ſtürzten aus dem Zelt heraus. 
Der Seehund rührte ſich nicht von der Stelle, und einen Augen⸗ 
blick ſpäter ſtand Ajako neben ihm und hatte ihn an den Hinter⸗ 
floſſen ergriffen. 

Jetzt, wo ich dies niederſchreibe, ſind wir ſelber und die Hunde 
froh und ſatt, und über die Hälfte des Seehunds wird für die 
Gletſcherreiſe aufbewahrt. 

Am nächſten Tag erwachen wir bei einem Himmel, der von 
ſturmdrohenden Wolken flammt, die vor dem Südweſtwind in 
den oberen Luftſchichten raſch vorwärts treiben. Die Temperatur 
iſt hoch, fie bewegt ſich zwiſchen 4 Grad und 8,5 Grad über Null, 
und zwei ſtark entwickelte Nebenſonnen mit Sonnenringen deuten 
darauf hin, daß eine ſtarke Unruhe in der Luft iſt, jo daß wir 
unſern Aufbruch wieder aufſchieben müſſen. Im Laufe des Nach⸗ 
mittags fängt ganz richtig der Regen von neuem an, und wir 
müſſen wie gewöhnlich ins Zelt kriechen. Aber die kleinen, kurzen 
Perioden von Sonnenſchein und einer Temperatur im Schatten 
bis zu 9 Grad Wärme haben uns endlich ermöglicht, die Kleidung, 
die wir auf der Reiſe über das Inlandeis tragen wollen, nach⸗ 
zuſehen und zu trocknen. 

Als alles zur Abreiſe bereit war und wir nur auf gutes Wetter 
warteten, um aufzubrechen, bauten wir an einem großen Fluß ein 
Steinmal zum Andenken an Hendrik. Ergriffen vom Augenblick 
gedenken wir hier unſeres verſtorbenen Kameraden, und während 


266 Zehntes Kapitel. 


die andern neben dem Steinmal mit den Flaggen auf Halbmaſt , 
‚stehen, halte ich folgende Gedenkrede, erſt auf däniſch und dann 
auf grönländiſch: 


Irgendwo in meinem Tagebuch habe ich geſchrieben, daß wir, 
die kleine Handvoll Menſchen, die wir an den rauhen und öden 
Küſten uns miteinander einleben, eine kleine Gemeinſchaft für uns 
bilden. Die große lebende Welt, von der wir auszogen, iſt ſo fern, 
daß ſie für uns nur in unſern Gedanken und in unſerer Sehnſucht 
exiſtiert. i 

Unſer Heim ilt das kleine Zelt, wo wir uns müde und hungrig 
nach den Ereigniſſen des mühevollen Tages ſammeln; unſer Land 
iſt der zufällige Küſtenſtreifen, wo wir uns nachts zur Ruhe legen. 

Wir leben das Leben ſo, wie man es in dieſen Umgebungen 
leben muß, primitiv und einfach; wir tun unſere Arbeit jo ge- 
wiſſenhaft, wie es jeder vermag, und bei der Löſung der Aufgaben, 
die die Expedition uns ſtellt, lernen wir einander tiefer kennen, 
als es Menſchen ſonſt gegeben iſt. 

Die beſten Eigenſchaften eines jeden zeigen ſich hier ebenſo wie 
die minder guten, aber wir helfen einander nach beſtem Vermögen, 
und bei der guten Kameradſchaft und der Arbeitsfreude, die wir 
von Anfang an auf dieſer Expedition hochgehalten haben, iſt es 
gewiß jedem von uns ſo gegangen, daß trotz all der Gegenſätze, 
die in Gemüt und Charakter zwiſchen uns beſtehen, mit jedem Tag, 
der vergeht, mit jedem guten Ergebnis, das wir feiern, und mit 
jeder Schwierigkeit, die wir überwinden, das Gefühl der Zuſam⸗ 
mengehörigkeit wächſt, daß immer neue Bande uns verknüpfen, 
und wir von Tag zu Tag einander höher ſchätzen. 

Was den einen angeht, geht alle an; denn hier, wo wir ganz 
auf uns ſelbſt angewieſen ſind, unterſtehen wir alle dem gleichen 
Schickſal und wir haben gemeinſam ſeine Fügungen hinzunehmen. 

Wenn wir ſchon für gewöhnlich ſo empfinden, wie ſelbſtver⸗ 
ſtändlich iſt es dann, daß ſich dieſe Gemeinſamkeit in noch ſtärkerem 
Grade geltend macht, wenn etwas Ungewöhnliches geſchieht oder 
gar, wenn eine Kataſtrophe eintritt, die einen Kameraden trifft. 

Nie werde ich die Stimmung vergeſſen, die in unſerm Zelt 
herrſchte in den Tagen, da wir nach Hendrik ſuchten und beſtändig 
hofften, er möchte hinter einem Hügelkamm auftauchen. — Eine 


Vom Sherard⸗Osborne⸗Fiord zum St.⸗George⸗Fjord. 267 


unheimliche Stimmung — ein Gefühl trauriger Hilfloſigkeit, nicht 
imſtande zu ſein, etwas zu tun, eine Nervenſpannung, die uns 
zuſammenfahren ließ und die uns aufhorchen machte bei jedem 
ungewöhnlichen Laut, der die große Stille draußen unterbrach. 
Doch vergebens ſuchten wir, umſonſt ſtarrten unſere Augen ſich 
müde über die Berge und Schluchten. Hendrik ſollte nie zurück⸗ 
kehren; er ſollte nimmer die Freude der Heimkehr zuſammen mit 
uns andern genießen. Nimmer ſollte es ihm beſchieden fein, nach 
all den Mühen und Anſtrengungen den Lohn für ſeine treue Hilfs⸗ 
bereitſchaft zu ernten, und ſein frohes Lachen beim Abbrechen des 
Lagers wird nicht mehr in unſern Ohren erklingen. 
Es iſt unnötig, hier bei dieſem beſcheidenen Gedenkzeichen etwas 
über Hendrik ſelbſt zu ſagen. Wir kannten ihn ja alle wie einen 
Bruder, und ihn kennen heißt ihn lieben. 
Wir wiſſen, wie er aus dem Nichts heraus ſich eine Stellung 
geſchaffen hatte, die in ſeinem Volk und in ſeinem Kreis eine 
führende war. Wir wiſſen, mit welcher Treue und mit welchem 
Intereſſe er alle ſeine Pflichten erfüllte. In Thule wird ſein Platz 
leer ſtehen, und es wird ſchwierig ſein, ihn auszufüllen, und nie 
werde ich wieder einen Helfer finden, der in ſo ausgezeichneter 
Weiſe verſtand, die Intereſſen der Station zu ſeinen eigenen zu 
machen. In Thule fand er ein Arbeitsfeld, das ihn ganz erfüllte. 
All ſein Leben hat er auf Streifzügen verbracht — bei der 
Danmark⸗Expedition an der Oſtküſte, wo er in reichem Maße 
Gelegenheit hatte, ſich nützlich und bei allen ſeinen Kameraden 
beliebt zu machen — und ſpäter in verſchiedenen Stellungen an 
ſo weit ausgedehnten Küſten, die ſich von Kap Farewell bis zur 
Nordſpitze Grönlands erſtrecken. 
N Mit dem kleinen elternloſen Knaben ſtarb nicht nur der Grön⸗ 
länder, ſondern der Menſch überhaupt, der die größte Küſtenſtrecke 
ſeines Vaterlandes bereiſt und kennengelernt hatte. 
Jetzt war allmählich Ruhe über ihn gekommen, und er ſollte 
eben die Früchte ſeines vieljährigen Fleißes genießen, Haus und 
Heim gründen und ſich dauernd an dem Wohnplatz niederlaſſen, 
den er ſich weit im Norden gewählt hatte, als das Unglück ihn 
einholte und ihn traf, hier, fern von Verwandten und Freunden. 
Die Polareskimos haben ein Sprichwort, das beſagt, daß kein 
Menſch ſeßhaft wird und keiner Land für immer in Beſitz nimmt, 


268 Zehntes Kapitel. 


ehe der Tod ihn einholt und ſeinen Leib an einen Steinhügel 
feſſelt. Dann erſt ſind Menſch und Land feſt miteinander ver⸗ 
bunden. Ich ſchlage daher vor, daß wir im Sinne dieſes Ge⸗ 
dankens, der ſich auf den gewaltigen Freiheitsdrang des Natur⸗ 
menſchen gründet, dieſer Inſel, auf der Hendrik ſein Grab fand, 
ſeinen Namen geben. 

Hendrik war ein Chriſt. Wir alle wiſſen, wie gern er ſeine 
Geſangbuchlieder ſang, wenn er einmal trüben Sinnes war, und 
darum ſoll auch jetzt, ehe wir für immer das Land aus den Augen 
verlieren, wo er den letzten großen Kampf allein kämpfte, ein 
Vaterunſer in ſeiner Mutterſprache als ein Abſchiedsgruß von 
ſeinen alten Kameraden ertönen. 


* 
1 1 
BA 


Elftes Kapitel. 
Die Rückreiſe über das Inlandeis. 


Lager I. — Daniel⸗Bruun⸗Gletſcher. 


4.—5. Auguſt. Glücklicherweiſe hatten wir nach und nach ſo 
viel Gepäck zum Gletſcherrand hinaufgeſchafft, daß wir den Reſt 
auf einmal mitnehmen konnten. Die Entfernung vom Fluß zu 
den Schlitten betrug 7 Kilometer, die wir in fünf Stunden zurück⸗ 
legten. Ich muß zugeben, daß wir alle nicht in der Verfaſſung 
ſind, in der wir für eine Wanderung von 400 Kilometer ſein 
müßten. Beſonders waren Wulff und Koch nach den verhältnis⸗ 
mäßig raſchen Märſchen ſehr matt und beklagten ſich über die 
kleinen Rationen, auf die ich der kritiſchen Umſtände wegen die 
Expedition hatte ſetzen müſſen. Sie erkennen jedoch die Not⸗ 
wendigkeit dieſer vorläufigen Hungerzeit vollkommen an. Wir 
haben jetzt in halben Rationen berechnet für 20 Tage Rückreiſe⸗ 
proviant und außerdem Moſchusochſenfleiſch, etwas Speck und 
Seehundfleiſch für die Hunde. 

Da uns jetzt der anſtrengende Aufſtieg bevorſteht, kochen wir 
nicht nur einen Topf voll Haferbrei, ſondern auch eine ordent⸗ 
liche Mahlzeit von Seehundfleiſch. Der Pemmikan wird noch nicht 
angerührt, obwohl die Verſuchung groß iſt; wir ſparen vorläufig; 
denn die Lage iſt ziemlich ernſt. Man muß ſich erinnern, daß wir 
nur von einer fernen Höhe aus über unſern Weg nach Hauſe 
einen Überblick getan haben, der uns vorläufig bis zu dieſem 
Punkt geführt hat; erſt in ein paar Tagen wird es ſich zeigen, ob 
es auch wirklich der Hauptgletſcher iſt, auf dem wir ſtehen. Jeder 
Gedanke an eine Rekognoſzierung hatte in der Zeit, als wir uns 
an dem großen Fluß aufhielten, des Wetters wegen aufgegeben 
werden müſſen. 


270 Eklftes Kapitel. 


Wir erſtiegen den Daniel⸗Bruun⸗Gletſcher an einer ſehr ſteilen 
Stelle; nach einem Marſch von 2 Kilometer waren wir bereits in 
einer Höhe von 900 Meter. Hier war kein Fluß, und wir kamen 
erſtaunlich raſch in „trockenem Schnee“ hinauf. Dann lagerten wir, 
und Inukitſog und ich fuhren mit zwei Schlitten und halber Laſt 
weiter zum Inlandeis, um zu rekognoſzieren. Am frühen Morgen 
des 5. Auguſt gelang es uns, 5 Kilometer durch tiefen, 
ſchweren Schnee vorzudringen. Von einer Höhe von zirka 1400 
Meter zeigte ſich uns das Inlandeis, jo weit wir ſehen konnten. 
Nordöſtlich von uns, nur 4 Kilometer ſeitlich von unſerm Kurs, 
verlief allerdings eine große Schlucht mit hohen Bergen auf 
beiden Seiten. Aber ſoweit man von unſerm Ausſichtspunkt be⸗ 
urteilen konnte, war ſie weiter drin ganz mit Schnee erfüllt und 
ging in den Gletſcher über. Am Ende des Fjords ſchob ſich auf 
der Südſeite ein ausgedehntes, langes, ſchmales Land ein, das 
in weiter Ferne den Charakter eines Nunataks annahm und 
ſchließlich ganz in das Inlandeis überging. Zwiſchen dieſer Land⸗ 
zunge und der Schlucht konnten wir einen anſcheinend gangbaren 
Weg erkennen, der ohne Unterbrechung auf den Hauptgletſcher 
zu führen ſchien. Hier machen wir jetzt den Verſuch. Das Gelände 
iſt ziemlich hüglig, und nach dem mehrtägigen Unwetter hat ſich 
viel lockerer Schnee aufgehäuft. Obgleich wir noch nichts Sicheres 
willen, beſchließen wir doch, die Reife landeinwärts fortzuſetzen; 
mit dieſem Entſchluß kehren wir zu den Kameraden zurück und 
wecken ſie mit einer Feſtmahlzeit von Pemmikan, Hafergrütze, 
Keks und Kaffee. 

Folgende Temperaturen haben wir heute an unſern verſchie⸗ 
denen Aufenthaltsorten gemeſſen: Der Fluß am Fjord 5 Grad 
Wärme, das Inlandeis in einer Höhe von 760 Meter 1,2 Grad 
Kälte und der Ausſichtspunkt 1140 Meter über dem Meer 4 Grad 
Kälte. 

Lager II. — Daniel⸗Brunn⸗wGletſcher. 
g 1300 Meter über dem Meer. 

6. Auguſt. Es glückte geſtern, uns auf dem Inlandeis 10 Kilo- 
meter weiterzuarbeiten; aber es geht ſchwer und langſam durch 
den Schnee. Etwas hilft es, daß wir Schneeſchuhe unter die 
Schlitten gelegt haben, aber die Hunde ermüden raſch. 

Trotz allen Rekognoſzierens iſt es uns noch nicht gelungen, 


Die Rüdreife über das Inlandeis. 2071 


Fr ER Y 


Klarheit über die Wegverhältniſſe zu ſchaffen. Aber ſchon der 
Umſtand, daß wir jetzt ſo weit drinnen ſind, daß eine Rückkehr 


Die Nordküſte von Grönland mit dem Independencefjord und dem 
Pearykanal vor und nach der II. Thule-Expedition. 

1 Nyeboeland, 2 Hendrikinſel, 3 Hartzſund, 4 Warmingland, 5 Steensbygletſcher, 6 Porſild⸗Nunatak, 

7 Mitgardſchlange, 8 Teufelsſchlucht, 9 Rydergletſcher, 10 Wulffland, 11 Oſtenfeldgletſcher, 11 Jun⸗ 

; gerſengletſcher, 13 Freuchenland, 14 J.⸗P.⸗Koch⸗Fiord, 15 Th.⸗Thomſon⸗Fjord, 16 O.⸗B.⸗Löggild⸗Fiord. 


272 Elftes Kapitel. 


zum St.⸗George⸗Fjord kaum in Frage kommt, iſt ein ſtarker An⸗ 
reiz. Geſtern verloren wir den toten Fjord aus den Augen; trotz 
ſeiner Schönheit war der Abſchied ohne Wehmut. Das Meereis 
mit ſeinen Tauſenden von großen und kleinen Waſſerlöchern 
erſcheint vom Gletſcher aus wie ein großes Moſaik, bis die 
Entfernung ſo groß wird, daß es als ein kleiner bläulicher Binnen⸗ 
ſee verſchwindet. 

Das Land hinter dem St.⸗George⸗Fjord erſtreckt ſich ſehr 
weit hinein. Vor uns wird der Weg, dem wir folgen müſſen, 
leider ſchon von dunklen Wolken durchſchnitten, die immer ein 
Zeichen dafür ſind, daß dort Land und nicht Eis iſt. Möglich, 
daß ſich noch mehrere Gletſcherbrücken zwiſchen dem Schluchtenland 
nördlich von uns und dem großen neuen Land im Südweſten 
finden. Sollten wir aber auf Land ſtoßen, dann müſſen wir 
ſehen, mit dem Gepäck auf dem Rücken darüber wegzukommen. 

Wir leiden unter der Wärme; denn das Thermometer bewegt 
ſich zwiſchen 2,3 Grad und 4 Grad unter Null. 


Lager III. — Der Bergkeſſel. 
Entfernung 13 Kilometer. 

Was wir die ganze Zeit befürchtet haben, iſt eingetreten; der 
Daniel⸗Bruun⸗Gletſcher ilt nur ein lokaler Gletſcher, allerdings 
von großer Ausdehnung, aber doch von allen Seiten von Land 
begrenzt. | 

Gegen 4 Uhr nachmittags kam quer zu unſerm Kurs Land 
in Sicht. Eine raſche Rekognoſzierung überzeugte uns bald, daß 
es die Schlucht war, die wir ſchon ein paar Tage auf der Nordſeite 
gehabt haben. An der Stelle, wo ich von unſerm Ausſichtspunkt 
aus den Eindruck gehabt hatte, ſie gehe mit Schnee erfüllt in das 
Inlandeis über, biegt ſie plötzlich nach Südweſten ab und vereinigt 
ſich mit dem Land hinter dem St.⸗George⸗Fiord. Die Schlucht, 
die eine Tiefe von 600 —700 Meter über dem Meere hat, it 
überall von nackten, ſteilen Felſen umgeben, die jede Möglichkeit 
eines Abſtiegs auszuſchließen ſcheinen. Inukitſog, der oft einen 
ſichern Inſtinkt verraten hat, wenn es gilt, einen Weg zu finden, 
wurde zur Erkundung vorausgeſchickt. Er iſt eine ungewöhnlich 
ſelbſtändige Natur, immer klar in ſeinen Entſchlüſſen und mit einem 
ſichern Trieb begabt, ſtets das Rechte zu tun. Es gelingt ihm denn 


aun aus Inv ualposnploxe sau Ihadur 13914016 


2 ˙⅛ hehe 


Die Rückreiſe über das Inlandeis. 273 


auch, einen Ausweg zu finden aus der verhängnisvollen Schwie⸗ 
rigkeit, die ſich uns hier entgegenſtellt; nach einigen Stunden 
Schneeſchuhlaufens entdeckt er einen Abſtieg, der, wie es ſich ſpäter 
zeigte, die einzige Stelle in der ganzen Ausdehnung der Schlucht 
iſt. Dieſes Ergebnis, das in der gegenwärtigen Lage Jo viel für 
uns bedeutet, war ein Pfadfinderheldenſtück, das uns davor be⸗ 
wäahrte, nach dem Fjord zurückzukehren. 

Es iſt klar, daß wir nicht gerade mit Begeiſterung von der ſauer 
erworbenen Höhe von 1300 bis 1400 Meter wieder in einen 
wilden, öden Bergkeſſel hinabfuhren, wo wir von vorn an⸗ 

fangen konnten, ſchneefreie Berge zu erklimmen, auf denen ſich 
nicht fahren ließ. Aber die Ausſicht auf die Heimreiſe bringt 
den Humor bald wieder auf die Beine; jetzt endlich ſehen wir 
ganz deutlich den Hauptgletſcher vor uns, der unſer Weg nach 
Hauſe ſein ſoll. 


Lager IV. — Die Teufelsſchlucht. 


Die zurückgelegte Entfernung betrug nur 3 Kilometer; aber 

bekanntlich darf man eine Arbeit nicht nur nach der zurückgelegten 
Weglänge meſſen. Der Transport war mühſam und langwierig. 
Wir ſuchten uns einen Lagerplatz auf der andern Seite des Keſ⸗ 
ſels; ein Schlitten mit doppeltem Geſpann wird vorausgeſandt, 
um zu kundſchaften und mit einem Teil des Gepäcks weiterzu⸗ 
fahren. 
Trotz aller Hinderniſſe ſcheint das Land nicht allzu ſchwierig 
zu paſſieren zu ſein. Teils über Firn, teils über Schneewehen 
kommen wir ſchon heute wieder aus dem Keſſel heraus. Dann, 
gelangen wir auf einen Berg, wo wir das Gepäck in mehrmaligem 
Hin und Her zu einem neuen Firnfeld auf der nordöſtlichen Seite 
des Keſſels hinübertragen müſſen. Hier bleiben wir vorläufig, 
um den Erfolg der Erkundung unſrer Kameraden abzuwarten. 
Die Sonne ſcheint, und wir haben das mildeſte Sommerwetter 
mit einer Wärme bis zu 4 Grad. Es iſt, als ob man 
nach einem böſen Traum einem neuen Tag entgegenginge, den 
leuchtenden Eisblink des Inlandeiſes vor Augen. Der Weg vor⸗ 
wärts zu dem weißen Gletſcher führt heim zu all dem, wonach 
wir nach beendeter Arbeit verlangen. Das Heimweh hat ſich mit 
einemmal gemeldet, jetzt da der Tag nicht länger vom Kampf 
Rasmuſſen. 18 


Be 


274 Elftes Kapitel. 


um die Nahrung verſchlungen wird. Man empfindet es jeden 
Tag als einen Segen, zu wiſſen, daß man etwas zu eſſen bekommt, 
wenn die Rationen auch noch ſo klein ſind. 

Von dem Berg, auf den wir uns heute hinaufgearbeitet 
hatten, haben wir eine großartige Ausſicht über den wilden 
Canon, den wir die Teufelsſchlucht nannten. Auf beiden Seiten 
führten 500 Meter hohe Berge ſteil in ein kahles bräunliches 
Tal hinab, durch das ſich ein kleiner melancholiſcher Bach ſchlän⸗ 
gelt. Der Gletſcher hängt an den Abgründen über wie Wellen, 
die erſtarrt ſind in Entſetzen über die ſtumpfe Unheimlichkeit, 
die über der ſeltſamen Landſchaft hier mitten in dem ewigen 
Winter liegt. 

Kein Zeichen von Leben, kein Vogel, keine Pflanze mildert 


den Eindruck der äußerſten Ode; nur ein paar armſelige Flechten 


haben ſo viel Kraft aus der Sonnenwärme geſogen, daß ſie die 
Steine mit ihrer grauen beſcheidenen Decke bekleiden. Niemals, 
ſcheint mir, habe ich etwas geſehen, ſo fern und losgelöſt von 
allem, wie dieſe Landſchaft; ſie kämpft ihren einſamen zähen 
Kampf mit den Gletſchern, die von allen Seiten drohen, ſie zu 
überſpülen. Doch auch hier ſind im Laufe der Jahrhunderte 


Veränderungen vor ſich gegangen. Wir finden große, ſchöne 


Korallenſtöcke, die Zeugnis davon ablegen, daß auch hier im 
Herzen des Winters einſt ein tropiſches Klima herrſchte, wo die 
Wellen eines lebendigen Meeres von milden Winden getrieben 
munter über die Reſte einer verſchwundenen Zeit hinſpülten. 


* * 


* 

Im Zelt herrſchte heute eine ganz eigenartige Stimmung. 
Vielleicht iſt es die Ausſicht auf beſſeres Wetter, die jetzt endlich 
der Nervoſität ein Ende macht, die ſich unſer während der drei 
Wochen bei dem beſtändig wechſelnden Regen, Schnee und Wind 
bemächtigt hatte. Die außen und innen herrſchende Unruhe iſt von 
einer Sicherheit abgelöſt worden, die Frieden bringt, und ſobald 
wir ein wenig ſtilliegen, zieht unwillkürlich die Idylle in unſerm 
Zelt ein. Auf den forcierten Tagemärſchen iſt keine rechte Zeit 
zu ſtillen Betrachtungen; aber an einem Nachmittag wie dieſem 
atmet man auf bei der Beſchäftigung mit all den Sammlungen, 
die wir uns jetzt bemühen, ſicher heimzubringen. Das Inlandeis 


Die Rückreiſe über das Inlandeis. 275 


iſt nie ein ſicherer Weg; paſſiert hier etwas, ſo verſchwinden alle 
Reſultate ſpurlos, und alle Mühen und der unverdroſſene Kampf 
ums Daſein ſind dann völlig vergebens geweſen. Jetzt ſind die. 
koſtbaren Dinge durch Waſſer und Wirbel, durch Schluchten und 
über Gletſcherränder geſchafft worden, und ſchon taucht eine neue 
Aufgabe auf: ſie ſollen zu Menſchen gebracht werden; das macht 
ſie einem doppelt koſtbar. 

Vor dem Zelt ſitzt Wulff, damit beſchäftigt, die einzige 
Vegetation, die wir hier in der Teufelsſchlucht gefunden haben, 
zu präparieren, graue Flechten, die einzelne Steine bedecken. 
Dieſe Pflanzen, die auf den Steinblöcken wachſen, ſtehen in ihrer 
Genügſamkeit einzig da, und ich bitte Wulff, mir etwas von ihnen 
zu erzählen. . 

Flechten ſind Organismen, die aus einer Alge und einem 
Pilz beſtehen, die einen Bund zu gemeinſamem Haushalt ge⸗ 
ſchloſſen haben. Die Alge iſt derjenige Teilnehmer in der Aktien⸗ 
geſellſchaft, der allein die Fähigkeit beſitzt, organiſche Subſtanz 
aus unorganiſcher Materie zu bilden. Der Pilz dagegen bildet 
die kleinen Luftwurzeln, die die Flechte an der Unterlage feſt⸗ 
halten. Die Farbe der Flechten, ſo wie wir ſie ſehen, iſt alſo 
das Reſultat der Farbe der Alge und des Pilzes. 

Die Flechten ſind äußerſt widerſtandsfähig gegen Trockenheit, 
Wärme und Kälte; ſie können nur in feuchtem Zuſtand wachſen und 
ſind bei Trockenheit im Ruheſtand. Hier in dieſem Klima vege⸗ 
tieren ſie vermutlich nur einige Tage im Jahr, und ein Fleck ſo 
groß wie ein Zehnpfennigſtück kann hier, wo die Vegetation 
350 Tage des Jahres ſtillſteht, mehr als hundert Jahre 
alt ſein. Ihre Hauptnahrung ziehen ſie aus den Verwitterungs⸗ 
produkten des Steines, und das kann nicht viel ſein. Es iſt 
alſo eine Pflanze, die bei all ihrer AUnanſehnlichkeit die Ewig⸗ 
keit vor ſich hat. 


Lager V. — Die Midgardſchlange. 


Bei ſchönem Sonnenſchein brachen wir am 9. Auguſt vor⸗ 
mittags auf und fuhren langſam den großen Firn der Teufels⸗ 
ſchlucht nach Nordoſten hinauf. Wir ſtiegen gleichmäßig aufwärts 
und ſtöhnten unter einer Temperatur von 4 Grad Wärme, ge⸗ 
blendet von dem Licht, das, von dem friſchgefallenen Schnee 

18* 


N Elftes Kapitel. 


reflektiert, uns in den Augen ſchmerzte. In einer Höhe von 1000 
Meter maßen wir die geographiſche Breite. Wir haben jetzt eine 
ſchöne, großartige Ausſicht über das merkwürdige Cafion- und 
Nunatakland, das wir in dieſen Tagen quer zu unſerm Kurs ent⸗ 
deckt haben. Es erſtreckt ſich wie ein Saum von 20 bis 30 Kilo⸗ 
meter Breite oberhalb des Landes hinter dem St.⸗George⸗Fjord, 
mit großen Lokalgletſchern auf der einen Seite und dem Inlandeis 
auf der andern. In einem mächtigen Bogen verſperrte es uns 
den Weg auch in der Richtung auf den Sherard⸗Osborne⸗Fjord, 
wir geben ihm daher den Namen „die Midgardſchlange“. Es gibt 
keinen Weg außen herum: Nach einer kurzen Rekognoſzierung 
beißen wir in den ſauren Apfel; wir verlaſſen den Gletſcher 
und fahren wieder abwärts. Wir fanden eine ſchöne, glatte 
Niederfahrt, und nachdem wir uns mit einer Taſſe Tee ge⸗ 
ſtärkt hatten, begann das Hinaufſchleppen des Gepäcks auf das 
Inlandeis. 

Das Land war trocken und eben, aber unfruchtbar und 
kahl wie eine Wüſte; es wurde nicht von dem kleinſten Fluß 
belebt. Alles war vollſtändig ausgetrocknet, trotz der großen 


Gletſcher, die ſich von beiden Seiten des Landes herabſenkten. 2 


Es gehörte zu den ſogenannten Karſtlandſchaften, wo alles 
Schmelzwaſſer in die Erde verſickert. Wir fanden ein paar 
Mohnpflanzen, von denen einige noch in Blüte waren, 
kleine verkrüppelte Gräſer, Mooſe und Flechten, aber kein 
Tierleben. Nur ein Wolf hatte vor längerer Zeit ſeine 
Spuren im Leben zurückgelaſſen, ungefähr an der Stelle, wo 
wir das Zelt aufſchlugen, um eine Portion Pemmikanbrei zu 
kochen. 

Nach der Mahlzeit kehrten drei Mann zur Abfahrſtelle 
zurück, während Koch und ich fortfuhren, das Gepäck zum Gletſcher 
hinaufzubringen. 

Auf dieſer Wanderung fanden wir einen Moſchusochſenkiefer, 
der über hundert Jahre alt zu ſein ſchien. Unmittelbar neben 
dem Kieferreſt lag ein Stück eines foſſilen Tintenfiſches aus der 
Zeit des Silurmeeres. Zwiſchen dieſen beiden Zeugen eines 
früheren Lebens, dem Moſchusochſen und dem Tintenfiſch, liegt 
vielleicht ein Zeitraum von wenigſtens 10 Millionen Jahren, 
eine hübſche Zeit für eine rege Phantaſie. 


Die Rückreiſe über das Inlandeis. 277 


Vierundzwanzig Stunden dauerte der Transport. Dann waren 
wir alle wieder beim Zelt verſammelt, hungrig und ſchläfrig, aber 
alle in beſter Laune und mit gutem Gewiſſen, im Bewußtſein 
daß wir trotz der ſchwierigen Verhältniſſe 22 Kilometer zurück⸗ 
gelegt hatten, ganz abgeſehen davon, daß über die Hälfte des 
Wegs dreimal gemacht worden war. 

Schlaf iſt ſüß wie Milch und Honig, zumal an einem ſolchen 
Tage. 

Sieben Stunden darnach mußten wir wieder in die Sielen. 
Es iſt ein Wettlauf um das Leben der Hunde, denn wir haben 
nur noch zwei Fütterungen für ſie und noch 350 Kilometer bis zu 
dem Lande ſüdlich des Humboldtgletſchers. 

700 Meter über dem Meer, auf allen Seiten Inlandeis und 
dabei 3 Grad Wärme um 3 Uhr nachmittags. Es dauerte einige 
Zeit, bis wir wieder in Gang gekommen waren, denn unſere Füße 
waren wund von den vielen kleinen, ſcharfen Steinen, und Schul⸗ 
tern und Rücken waren ſteif von den ſchweren Laſten. Aber ich 
muß doch ſagen, daß alle ſich mit beſtem Humor dareinfanden, 
und wir verſuchen gegenſeitig uns anzufeuern durch Scherze über 
die unglückliche Figur, die mancher von uns macht. Es bleibt 
einem nichts anders übrig, als in dieſen Tagen von ſeinem 
Humor zu leben; die Sehnſucht nach der Heimat macht uns zu 
Rieſen, die ſich durch alle Schwierigkeiten Bahn brechen, und wir 
ſchlagen uns erſtaunlich gut durch. Bei unſern kleinen Rationen 
ſchuften wir wie isländiſche Pferde, oder beſſer noch, wie vom 
Hunger geſtählte Kulis. Denn hungrig ſind wir unleugbar nur 
zu bald nach den Mahlzeiten, die wir jetzt mit faſt andächtiger 
Feierlichkeit einnehmen. 

Darum müſſen wir ſo raſch wie möglich aus dieſer Wüſte her⸗ 
aus. Ein trübſeliges, ödes Land; die tiefe Stille wird nicht durch 
den kleinſten Vogelſchrei oder das leiſe Murmeln eines Fluſſes 
unterbrochen; ein merkwürdiges Stück ſchnee⸗ und eisfreien Karſt⸗ 
gebietes, das man, ohne die Einheit der Landſchaft zu unter⸗ 
brechen, mitten in die Libyſche Wüſte verſetzen könnte. 

Wir haben jetzt den Rand des Inlandeiſes fait erreicht; in 
ein paar Stunden wird der mühſelige Transport nur eine Er⸗ 
innerung ſein, und dann beginnt endlich im Ernſt die Reiſe durch 
die nächſte und letzte große Wüſte. 


278 Elftes Kapitel. 


Der Rand des Inlandeiſes. 
588 Meter über dem Meer. 

10. Auguſt. Noch ein letzter reißender Moränenfluß, über den 
wir eine Brücke aus den Schlitten bilden mußten, war zu über⸗ 
winden, dann erreichten wir um 1½ Uhr den Rand des Inlandeiſes. 

Dieſer für die Expedition ſo bedeutſame Augenblick wurde 
durch eine Mahlzeit außerhalb der Rationen und durch eine extra⸗ 
ſtarke Taſſe Kaffee gefeiert. 

Windſtille, klarer Himmel, 1 Grad Wärme, ſatte Menſchen, 
Sonnenſchein im Gemüt. 

Bei der Mahlzeit denken wir an jenen amerikaniſchen National⸗ 
ökonomen, der vorſchlug, nicht Gold, ſondern Nahrungsmittel ſollten 
den Wertmeſſer im Leben darſtellen. Soviel ich mich erinnerte, 
ſchlug er vor, man ſolle eßbares Geld aus Weizen herſtellen, 
denn was nützt einem Millionär ſein Geld in einer Wüſte wie 
dieſe, und was wären wir ohne Nahrung? 


Lager VI. — Auf dem Inlandeis. 
900 Meter über dem Meer. Entfernung 4 Kilometer. 

Lagern um 10 Uhr vormittags, nachdem wir unſere längſte 
Tagereiſe hinter uns haben, davon 10 Kilometer über ſchneefreies 
Land, wo wir den Weg zweimal zu machen hatten. Wir gehen 
um 1 Uhr zur Ruhe, zu müde, um zu ſchreiben. 

Wir wachen um 7½ Uhr auf. Erſt jetzt nach der Ruhe zeigt 
ſich die Empfindlichkeit des Körpers im Ernſt. Die Laſten, die 
wir trugen, hatten ein durchſchnittliches Gewicht von 35 bis 40 
Kilo, und wir hatten ſie ununterbrochen zu ſchleppen, von 4 Uhr 
nachmittags bis 1 Uhr morgens, wo wir das Inlandeis er⸗ 
reichten. Darum ſchmerzt heute die kleinſte Bewegung, aber der 
Himmel iſt rein wie friſchgefallener Schnee. Nicht eine Wolke. Das 
ſchönſte Reiſewetter, alles wieder zu einer langen Tagereiſe heim⸗ 
wärts bereit, damit wir das Schiff und Dänemark vor Eintritt 
des Winters erreichen. 

Die Midgardſchlange liegt jetzt weit hinter uns, und die Höhe, 
die wir erreicht haben, gibt uns die Gewähr, daß wir über alle 
Schwierigkeiten hinweg ſind. Der Gletſcher iſt ideal, eben und 
ſchneefrei, ganz ohne das Spaltenſyſtem, das Peary und Aſtrup 
zwang, ihren Kurs weiter in das Inlandeis hinein zu verlegen. 


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Die Rückreiſe über das Inlandeis. 


Vorläufig ſchlagen wir 
die Richtung nach Süd⸗ 
weſten ein und folgen auf 
dem Rücken des Glet⸗ 
ſchers des neu aufgetauch⸗ 
ten Lande, das ſich vom 


Ende des St.⸗George⸗ 


Fjords nach dem Peter⸗ 
mannfjord hinüber er⸗ 
ſtreckt. Ein wildes, zer⸗ 
riſſenes Land, in dem tiefe 
Schluchten zwiſchen Ber⸗ 
gen und kleinen Gletſchern 
eingeſchnitten ſind, die mit 
ihren gebrochenen und un⸗ 
ruhigen Linien in ſchrof⸗ 
fem, trotzigem Gegenſatz 
zur toten Einförmigkeit des 
Inlandeiſes ſtehen. Wir 
gaben ihm den Namen 
Nyeboeland. 


Lager VII. 
1200 Meter über dem Meer. 
Entfernung 43 Kilometer. 
1112. Auguſt. In 
dieſer Zeit, in der wir oft 
20—24 Stunden hinter⸗ 
einander in Tätigkeit ſind, 


haben wir, um unſere 


Arbeitsfähigkeit einiger⸗ 
maßen in Gang zu halten, 
eine kleine Mahlzeit mit⸗ 
ten während des Tage⸗ 
marſches einführen müſſen; 


279 


Harald Moltke nach Skizze von Koch 


vom Inlandeis aus. 


— 


Nyeboeland 


ſie beſteht aus einer Taſſe Haferſuppe mit einigen Stücken Pem⸗ 
mikan und wird von unſern planmäßigen Morgen⸗ und Abend⸗ 


rationen abgezogen; ſie tut uns außerordentlich gut. 


280 Elftes Kapitel. 


Um 9% Uhr nachmittags ſind wir aufgebrochen, um 10% Uhr 
vormittags ſchlagen wir das Lager auf, nachdem wir 43 Kilo⸗ 
meter auf guter Bahn zurückgelegt haben. Das iſt wirklich eine 
anerkennenswerte Entfernung. Die Schlitten gehen etwas ſchwer, 
und wir ſelber brauchen Schneereifen und Schneeſchuhe. In dieſer 
ewig weißen Umgebung wirken die langen Märſche ſehr monoton, 
aber nicht eigentlich ermüdend, abgeſehen von den erſten drei bis 
vier Stunden. Sobald die Empfindlichkeit des Körpers infolge der 
Bewegung geſchwunden iſt, entwickeln wir eine zunehmende Ge⸗ 
ſchwindigkeit, je mehr wir uns der Zeit nähern, in der wir unſere 
Mahlzeit einnehmen. Wir paſſen uns alſo ganz den Gewohn⸗ 
heiten der Schlittenhunde an. Wir haben jetzt eine ſolche Höhe 
erreicht, daß die Steigung des Inlandeiſes nicht mehr bemerkbar 
it; der Horizont ringsum iſt ohne Abwechſlung, nur hier und da 
paſſieren wir einen kleineren, eisbedeckten Berggipfel. Auf dem 
Eis liegt eine Schicht weicheren Schnees von etwa ein Meter 
Dicke, aber die Oberfläche trägt die Hunde einigermaßen, ſo daß es 
ſie nicht beläſtigt. 

Wir ſind geſpannt, wie lange wir dieſe Bahn behalten werden. 

* A * 

Der erſte Hund ſtürzte heute mitten auf dem Tagemarſch und 
wurde zum Lager gefahren, wo er augenblicklich verfüttert wurde. 
Wir können uns nicht verhehlen, daß die ſchwierigen Gelände⸗ 
und Transportverhältniſſe, die wir auf dem Daniel⸗Bruun⸗Glet⸗ 
ſcher, in der Teufelsſchlucht und auf der Midgardſchlange zu über⸗ 
winden hatten, uns recht angegriffen haben. Man ſieht es uns 
deutlich an, daß wir ſehr mager geworden ſind, aber der Humor 
und der Wille durchzuhalten ſind ganz unerſchüttert. 

Ein großer Vorteil iſt, daß wir reichlich Petroleum mithaben. 
Aber richtigen Proviant haben wir nur für ſechs Tage. Es iſt 
daher wünſchenswert, daß das Wetter uns günſtig bleibe. Wir 
möchten ſehr ungern den Hunden dabei helfen, die gefallenen 
Tiere zu verzehren. Es gilt jetzt, den größten Vorteil aus dem 
Futter zu ziehen, das die Hunde geſtern bekamen. Aus dieſem An⸗ 
laß mußten wir uns mit einem kurzen Schlaf begnügen und nach 
fünf Stunden Ruhe aufbrechen. Ehe wir uns auf den Weg 


7 


1 


Die Rückreiſe über das Inlandeis. 281 


machen, legen wir Eis unter die Schlittenkufen, da die Temperatur 
dafür endlich tief genug iſt. Das Thermometer zeigt 6,5 Grad 
unter Null. 

» Auf dem geſtrigen Tagemarſch wurden wir plötzlich durch den 
Beſuch einer jungen Möwe überraſcht, die ſich hierher verirrt 
hatte. Lange flatterte ſie kraftlos vor den Hunden hin und her, 
bis der Wind ſie erfaßte und ſie tiefer in die Ode und in den Tod 
hinein fortführte. Ein Sturm hatte ſie hierher verſchlagen, und ſie 
hat das Meer nicht wiederfinden können. 


Lager VIII. 
1100 Meter über dem Meer. Entfernung 34 Kilometer. 


12.—13. Auguſt. Auch heute überzogen wir die Schlittenkufen 
mit Eis, nachdem wir erſt Schneeſchuhe untergelegt hatten. Das 
Barometer fällt. Ein ſtarker Südweſtwind treibt die Wolken vor 
ſich her, und wir haben eine Temperatur, die im Laufe des Tages 
zwiſchen null Grad und 2,1 Grad Wärme ſchwankt. 

Während der erſten 20 Kilometer hatten wir eine ebene, feſte 
Bahn, ſo daß wir in ſechs Stunden 28 Kilometer zurücklegten. 
Dann kam der Föhn über uns, den wir ſeit dem Morgen er⸗ 
wartet hatten. Der Schnee wurde raſch weich, die Schlitten liefen 
ſchwer, und die Hunde ſanken ein und wurden bald müde und 
wollten nicht weitergehen, obwohl drei von uns voranſchritten. Wir 
mußten daher nach einer Tagereiſe von 34 Kilometer haltmachen. 

Die Schneeſchuhbahn war den ganzen Tag glänzend geweſen, 
und die Oberfläche des Gletſchers war ſo eben, daß die Schlitten 
denen von uns, die Schneeſchuhe hatten, kaum folgen konnten. 
Unter ſolchen Verhältniſſen ſind für den Geübten norwegiſche 
Schneeſchuhe den kanadiſchen Schneereifen weit vorzuziehen, da 
letztere nur auf der Schneeoberfläche tragen, ohne gleichzeitig den 
gleitenden Schwung über den Schnee zu verleihen. 

Um 2 Uhr bekamen wir das Land am Ende des Petermann⸗ 
fiords in Sicht; es liegt jetzt querab von unſerm Kurs. Es ſpornt 
außerordentlich an, Land in Sicht zu haben, aber leider werden 
wir kaum, wie wir die ganze Zeit gehofft haben, morgen den 
80. Breitengrad überſchreiten, denn bei der hohen Temperatur 
wird die Bahn ſchlecht. Im übrigen haben wir ſchönes, klares, 
windiges Wetter, mit Sommerwärme im Zelt. 


282 Erlftes Kapitel. 


Die aufziehenden Südweſtwolken machten mit ihrer Drohung 
Ernſt. Gerade als wir das Zelt niedergelegt hatten, um aufzu⸗ 
brechen, trat ſo plötzlich ein Wetterumſchlag ein mit tiefen, ſehr 
raſch treibenden Wolken, daß wir aus Furcht, ein Schneeſturm 
möchte uns überraſchen, das Zelt wieder aufrichteten, um die 
weitere Entwicklung der Dinge abzuwarten. Es traten abwech⸗ 
ſelnd Regen und Schneeſchauer ein. Reſigniert benutzten wir das 
Unwetter zu einer kleinen Raſt, der erſten ſeit dem Aufſtieg von 
dem Fluß im St.⸗George⸗Fjord. 


Unſer unfreiwilliger Aufenthalt bringt es leider mit ſich, daß 


wir zwei Hunde ſchlachten müſſen, teils für uns ſelbſt, teils für 
die andern Hunde. Es iſt 12 Uhr nachts, und während ich dieſe 
Zeilen ſchreibe, dringt ein Duft vom Keſſel zu mir herüber, der 
mir durchaus nicht unangenehm iſt. Auf meinen früheren Reiſen, 
fünfzehn Jahre lang, bin ich nie gezwungen geweſen, meine Hunde 
zu eſſen, und habe daher immer mit einem gewiſſen Unbehagen 
und nicht ganz ohne Kritik auf die Expeditionen herabgeſehen, 
die ihre Hunde erſt bis zur letzten Faſer ausnutzten und ſie dann 
ſchließlich aufaßen. Dies kam mir nicht nur unäſthetiſch und un⸗ 
appetitlich vor, es ſchien mir auch mit Kannibalismus verwandt. 
Wie ganz anders jetzt, da wir ſelbſt das Leben mit Hundefleiſch 
friſten müſſen! Das Unäſthetiſche und Unappetitliche exiſtiert 
nicht mehr. 

Der Schneeſturm pfeift um unſer Zelt, und wir fühlen uns 
bei unſerm geringen Proviant unendlich fern von allen Men⸗ 
ſchen. Wir ſind hungrig und ſind ſchon den ganzen letzten Mo⸗ 
nat hungrig geweſen. Darum warten wir nur mit Ungeduld 
darauf, bis das Fleiſch gekocht iſt, daß der Hunger geſtillt werden 
kann. Das Fleiſch ſieht hell und lecker aus, wenn es auch mager 
und ſehnig ilt. Aber wie der Dampf aus dem Keſſel ſteigt und 
das Zelt erfüllt, bilden wir uns ein, es ſei Hammelfleiſch, das 
wir zu eſſen bekommen; der Geruch erinnert daran. Und die Aus⸗ 
ſicht, daß wir alle ſatt werden und uns nicht mehr mit einer 
ſechſtel Portion Pemmikanbrei zu begnügen brauchen, wirkt in 
höchſtem Grad belebend und beruhigend. Der Hund iſt doch nichts 
anderes als ein Haustier, und in der ganzen Welt lebt man ia 
von ſeinen Haustieren! 

Alle kämpfen wir in dieſer Wüſte um unſer Leben. Wir 


— 


c 


Cr 


. 


Die Rückreiſe über das Inlandeis. 283 


arbeiten rückſichtslos, um uns nach beſſeren Jagdgebieten zu retten, 
und da das Recht des Stärkeren bei uns und nicht bei den Hunden 
iſt, ſo ſind wir es, die die Hunde eſſen. In einer Lage wie der 
unſern iſt kaum Raum für Sentimentalität. Sterben ſollen ſie ja 
doch einmal von unſerer Hand — mögen ſie alſo uns und ihren 
Kameraden auf dieſer Expedition, auf der ſie uns bei lebendigem 
Leibe ſo treu gedient haben, auch nach ihrem Tode noch dienen. 

Vielleicht rümpft dieſer oder jener die Naſe über dieſen Ge⸗ 
dankengang. Aber wir haben uns jetzt während eines halben 
Jahres daran gewöhnt, in Dankbarkeit die Nahrung entgegen⸗ 
zunehmen, in welcher Form fie auch zu uns kommen mag. Da⸗ 
her haben wir vielleicht in etwas höherem Grade als andere 
Menſchen Gelegenheit gehabt, unſere Auffaſſung von dem, was 
ein leerer Magen bedeutet, richtigzuſtellen; er kennt nicht viele 
Rückſichten. 


* * 


* 


Das Fleiſch iſt jetzt gekocht, und mag die Mahlzeit auch ple⸗ 
bejiſch ſein, kein Appetit der Welt kann königlicher ſein als 
der unſrige! 


Lager IX. 
765 Meter über dem Meer. Entfernung 44 Kilometer. 


Endlich trat geſtern abend ſchönes, klares Wetter mit einer 
milden ſüdöſtlichen Briſe und einer Temperatur von 1,9 Grad 
unter Null ein. Man kennt den Gletſcher in dieſer Sommer⸗ 
temperatur gar nicht wieder. Auf der erſten Thule⸗Expedition 
hatten wir weiter drin auf dem Inlandeis in der gleichen Jahres⸗ 
zeit eine Temperatur von 20 bis 25 Grad Kälte. Dieſe Wärme, 
die uns in verſchiedener Weiſe wohl zuſtatten kommt, verdanken 
wir natürlich dem Umſtand, daß wir uns in der Nähe des Küſten⸗ 
landes befinden. Bei ſtarker Kälte würden unſere mageren 
Hunde in ihrem dünnen Sommerpelz ſicher erfrieren. 

Wir brachen 7% Uhr nachmittags auf und konnten in raſchem, 
gleichmäßigem Tempo bis 6 Uhr morgens 44 Kilometer zurück⸗ 
legen. Leider haben wir aus ökonomiſchen Rückſichten unſere 
kleinen Mittagsmahlzeiten aufgeben müſſen, da wir die Mittel 
dafür nicht mehr beſitzen. Wir begnügen uns mit einer Taſſe Tee. 


284 Elftes Kapitel. 


Der Gletſcher war feſt wie ein Stubenboden. Die Schlitten 
glitten fein und leicht ohne Reibung, und unſere 11 Hunde 
ſchlugen mit den beiden Schlitten bisweilen ein Tempo an, daß 
wir Schwierigkeit hatten, ihnen zu folgen. In der Höhe des In⸗ 
land⸗Nunataks des Petermannfjords paſſierten wir ein ziemlich ver⸗ 
wickeltes Syſtem großer Spalten, die durch breite Rücken mitein⸗ 
ander verbunden waren, ſo daß ſie uns nicht viele Schwierigkeiten 
boten. Wir mußten den Kurs nur unbedeutend verlegen, um ſie 
zu umgehen. Augenblicklich genießen wir von unſerm Zelt weite 
Ausſicht auf den Nunatak, der auf der Oſtſeite allmählich in den 


Gletſcher übergeht, während er nach außen ein zerſplittertes Vor⸗ 


land nach dem Fjord zu bildet, den wir in prächtiger Vogel⸗ 
perſpektive erblicken, mit blauenden Klippen weit draußen im 
Weſten am Horizont. 


Lager X. 
1010 Meter über dem Meer. Entfernung 41 Kilometer. 

15. Auguſt. Wir mußten heute die Zähne ale 
um unſere 40 Kilometer zurückzulegen. Wir hatten einen heftigen 
Südweſt im Geſicht, und der Schnee beſtand aus lauter feinen, 
kleinen Nadeln, die uns durch unſere Kamiker ſchmerzten und unter 
unſerm Gewicht brachen. Ein mühſamer Marſch. Außerdem ging 
die Reiſe leicht aufwärts, und ſobald wir die geringſte Steigung 
haben, merken wir es ſofort in den Knien, wie entkräftet wir ſind. 

Da die Pfoten der Hunde anfingen ſtark zu bluten, mußten 


wir unſre Handſchuhe opfern und ſie ihnen als N über die 


Füße ziehen. Das half. 

In 900 Meter über dem Meer ſtießen wir auf eine Menge 
kleiner und großer Seen, von denen die größten noch offenes 
Waſſer hatten, das ſich tiefblau und wirkungsvoll in den weißen 
Umgebungen kräuſelte. Es wirkte eigentümlich, hier oben auf dem 
Gletſcher dieſe Becken voll lebendigen Waſſers zu ſehen, Seen, 
die bis zu 300 Meter lang und 100 Meter breit waren. Eine 
Anzahl kleiner Spalten und kleine gefrorene Flußläufe wurden 
überſchritten. ' 

Den ganzen Tag hatten wir im Weiten Waſhingtonland in 
Sicht: hohe, ſteile Berge, die wie eine Mauer ſich vom Inlandeis 
abhoben; ſchöne weiße Gletſcherzungen durchbrachen und ſpalteten 


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Die Rückreiſe über das Inlandeis. 285 


die rotbraunen und gelben Felſen gleich mächtigen Waſſerfällen. 
Durch Senkungen im Lande konnten wir hier und da die ſpitz⸗ 
gezackten Alpen von Grinnell⸗Land wie feine, lilagetönte Wolken⸗ 
bänke erkennen, ein Anblick, der anfeuernd auf den Marſch 
wirkte und angenehm die einförmige Fläche unterbrach, die wir 
ſonſt um uns herum hatten. 8 

Dieſe Reiſe über das Inlandeis, die in den letzten Monaten 
drohend am Horizont geſchwebt hatte, erſcheint uns jetzt im Lichte 


un rr 


Harald Moltke 
Hunde mit Handſchuhen als Stiefel. 
einer angenehmen Überraſchung, einer Abſchiedsbelohnung nach 
allen Widerwärtigkeiten. 


Lager XI. 
1100 Meter über dem Meer. Entfernung 35 Kilometer. 

16. Auguſt. Unmittelbar nach der ſchönen Tagereiſe von geſtern 
zog ein Südweſt mit unſichtigem Wetter auf und blies uns raſch in 
den Schlaf. Gegen Abend flaute er etwas ab, und wir machten uns 
auf den Marſch; aber nach einer Entfernung von 14 Kilometer 
mußten wir infolge Nebels und Schnees vorläufig haltmachen 
und benutzten die Gelegenheit, einen Hund zu ſchlachten, der 
nicht mehr weiter konnte. In der Nacht hatten wir eine Tempe⸗ 
ratur von 7,5 Grad unter Null, und dieſe Abkühlung ſchien zur 
Folge zu haben, daß der Himmel ſich wieder aufklärte, ſo daß wir 


286 Elftes Kapitel. 


die Reiſe fortſetzen konnten, unmittelbar nachdem wir die Mittags⸗ 
höhe genommen hatten, die ergab, daß wir uns auf 79° 45 
nördlicher Breite befanden. Nach einem Marſch von 20 Kilometer 
wurden wir indeſſen wieder von Nebel und Schnee aufgehalten 
und ſchlugen das Lager für dieſen Tag endgültig auf. 


Bei einer Pfeife Tabak. 


17. Auguſt. Es hatte die Nacht heftig geweht. Der Wind 


hatte unſer dünnes, jetzt ſtark vom Wetter angegriffenes Zelt 


gezerrt und gezauſt, und da wir keine Schlafſäcke haben und unſere 


Kleidung von den langen Märſchen ſchweißdurchnäßt iſt, war der 
Schlaf durch häufige Kälteſchauer und heftiges Schlagen mit den 
Füßen unterbrochen. 

Mitten in der Nacht, nach zwei Stunden Schlaf, zünde ich mir 
meine Pfeife an und ſinne ernſthaft über die Lage nach. Wir 
haben jetzt nur noch für zwei oder drei Tage Proviant und dazu 


unſere Hunde, die nicht gerade mehr in der beſten Verfaſſung ſind. 


Das einzige, was wir reichlich haben, iſt Petroleum. Noch eine 
Woche lang werden wir uns mit gekochtem Hundefleiſch durch⸗ 
helfen können, ſofern man das magere Knochenfutter Fleiſch nennen 
darf. Schlimmer iſt es, daß wir ſelbſt in ein paar Tagen uns ins 
Geſchirr legen müſſen, wenn die Hunde nicht mehr können und als 
Menſchenproviant verwendet werden. Wir haben noch neun, aber 
ihre Zahl geht raſch herab. Auch andere Umſtände machen es 
wünſchenswert, daß wir bald Land erreichen. Harrigan trägt eine 
geſchwollene Hand in der Binde; Koch hat eben ein unangenehmes 
Zahngeſchwür überſtanden, wobei das eine Auge ganz zuge⸗ 
ſchwollen war, und er hat jetzt ein raffiniert boshaftes Geſchwür 
unter dem Nagel der einen großen Zehe bekommen. Wulff läuft 
mit einem großen Geſchwür am Geſäß herum, das ich ihm täg⸗ 
lich verbinde. Alle dieſe kleinen, quälenden Übel, die ſich hinzu⸗ 


geſellen zu dem täglichen Halbhunger, der mehr und mehr in ein 


gediegenes Hungergefühl übergeht, machen es notwendig, daß wir 
ſo raſch als möglich Land und Jagd finden. Wir hatten gehofft, 
das Land hinter der Marſhallbai erreichen zu können, aber wir 
werden kaum die 200 Kilometer bis dahin bewältigen können. 
Die Überlegungen dieſer Nacht führen daher zu dem Entſchluß, 


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Die Rückreiſe über das Inlandeis. 287 


den Abſtieg in der Nähe von Kap Agaſſiz zu verſuchen. Von 
da ſind es etwa 250 Kilometer nach Etah mit ſeinen Haſen und 
wilden Renntieren. 

Als ein ferner Lichtpunkt ſteht die Möglichkeit vor uns, mein. 
Schiff „Kap York“ bei Etah zu treffen, und der Gedanke, noch 
in dieſem Herbſt nach Dänemark zu kommen, ſtärkt unſere Energie 
bedeutend. 


Lager XII. 
1130 Meter über dem Meer. Entfernung 21 Kilometer. 

18.—19. Auguſt. Um 8 Uhr morgens machen wir uns auf. 
Aber es ſtellt ſich heraus, daß uns kein guter Tag bevorſteht. 
Schwer und mühſam bewegten wir uns in ſtarkem Schneetreiben 
aus Südſüdweſt gegen den etwas von der Seite kommenden Wind 
vorwärts. Ab und zu waren die Windſtöße ſo heftig, daß man 
auf den Schneeſchuhen ſchwankte. Aber vorwärtskommen müſſen 
wir, denn das Meſſer ſitzt uns an der Kehle! Ein paarmal fehlte 
nicht viel, daß mich die Müdigkeit im Kampf mit den heftigen 
Schneeſchauern überwältigte. Aber es hieß einfach den Schmerz 
verbeißen und weitergehen. Bei unſerm ſchwindenden Proviant iſt 
dies ein unheimlicher Wettlauf. Zähe kämpften wir uns fünf 
Stunden, bis um 1 Uhr, vorwärts. Dann wuchs das Schnee⸗ 
treiben zu einem Sturm an, der uns in weiße Schneewellen ein⸗ 
hüllte. Wir machten halt, wo wir waren, denn jetzt war aller 
Widerſtand vergebens. 

Es war ein Kampf und eine Kunſt, das Zelt in dieſem Wetter 
aufzuſchlagen, aber es gelang. Da es unmöglich war, irgend etwas 
vom Schnee zu befreien, wurde das Gepäck, ſo wie es war, ins 
Zelt hineingeworfen und wir ſelber ſaßen wie Hühner auf der 
Stange im Kreis herum und ließen den Sturm blaſen. So iſt die 
Situation, während ich dies ſchreibe. Der Föhn hat den Schnee 
an unſern Kleidern aufgetaut, und wir ſind alle triefend naß. Der 
feinkörnige „Schneeſand“ des Gletſchers fegt durch die Säume 
des Zeltes herein und bedeckt uns. Wir verſuchen die Sache mit 
Humor zu nehmen, ſingen amerikaniſche Fußballweiſen, die wir 
von Me Millans Grammophon gehört haben, und kochen uns 
dazu einen Topf Pemmikanbrei. 

Nach ein paar Stunden hören die heftigen Böen, die das Zelt 


288 Elftes Kapitel. 


fortzureißen drohten, auf, und der Wind geht in einen ſtetigen, 
beharrlichen Sturm über. Nach dem Brei legen wir uns ſchlafen 
und laſſen den Sturm Sturm fein. 

11 Uhr abends. Dasſelbe Wetter, derſelbe Wind; wir ſchlafen 
weiter. „ 
Erwachen von neuem; aber dasſelbe Wetter, derſelbe Wind. 
Es wird alſo trotz aller Eile ein unfreiwilliger Ruhetag; aber 
während wir bisher an den Tagen, an denen wir ſtillagen, hungern 
mußten, dürfen wir dies jetzt nicht mehr, da es uns bei unſerm 
jetzigen Zuſtand zu ſehr ſchwächt. Wir kochen daher unſere vorletzte 
Taſſe Kaffee und eine dünne Taſſe Pemmikanbrei. Unfer ganzer 
Proviant beläuft ſich auf ein Pfund Pemmikan für den Mann; 
dabei haben wir noch mindeſtens 100 Kilometer bis zum Lande. 
Aber das Barometer ſteigt, und unſere Hoffnung iſt jetzt eine 
baldige Anderung des Wetters. 

Mittags 12 Uhr. 

Dasſelbe Wetter, derſelbe Wind; aber weniger heftig, und das 
Schneetreiben im Abnehmen. Wir haben zwei Hunde ſchlachten 
müſſen, teils um ſelber etwas zu eſſen zu haben, teils um die 
ſieben, die noch übrig ſind, damit zu füttern. Wieder kauern wir 
im Zelt im Kreis um den wärmenden Primus herum, der den 
Topf bald zum Kochen bringen wird. 

3 Uhr. 

Das Barometer, das ein wenig geſtiegen war, fällt wieder, 
und das dichte Schneetreiben um uns herum hindert uns vor⸗ 
läufig, einen Kurs zu wählen. 

1 Uhr morgens. 

19. Auguſt. Dasſelbe Wetter, derſelbe Wind. Trotz aller 
Ungeduld weiterzukommen, ſolange wir noch ein paar Hunde 
haben, bleibt uns nichts anderes übrig, als Winterſchlaf zu halten, 
wie die Bären in die Höhle zu kriechen und ſolange das Unwetter 
anhält, ſoviel wie möglich zu ſchlafen. Selbſt wenn wir mit 
Hilfe des Windes einigermaßen den Kurs einhalten könnten, 
dürfen wir es doch nicht wagen, uns in das Schneetreiben hinaus⸗ 


zubegeben, da wir nicht weit von der Randzone des Humboldt⸗ 


gletſchers entfernt ſein können. Leider haben wir weder das Talent 
des Bären, in unſerer kühlen Höhle zu ſchlafen, noch ſeine Fähig⸗ 
keit, an den Pfoten zu ſaugen. Daher werden wir oft von 


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Dr. Thorild Wulff auf dem Wege durch das Waſſer. 


Rasmuſſen. 19 


$ überzogen find. 


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Durch Schmelzwafferfeen, die mit dünnem € 


Die Rückreiſe über das Inlandeis. 289 


Träumen geweckt, die in maliziöſer Weiſe die Lage betonen. So 
erwachte ich nach folgendem Traum: 

Ich bin in meines Vaters Pfarrhof in Lynge und ſtehe mit 
meiner Mutter im Vorratshaus, wo ſich ein Fach befindet, das 
immer mit Kuchen gefüllt iſt. Meine Mutter hat eben zwei köſt⸗ 
liche Weihnachtskuchen gebacken und ſie in das Fach gelegt; ſie 
duften ſüß nach köſtlichen Ingredienzien und ſtrotzen von Roſinen 
und Zitronat. Die Mutter ſchneidet mir eine dicke Scheibe ab 
und ſagt in ihrer freundlichen Art: „Da, mein Junge, iß ſoviel 
du kannſt.“ Und gerade als ich den Leckerbiſſen zum Munde 
führe, wache ich auf, und all das alte Elend iſt wieder da. 

Um mich her lagen die Kameraden und ſchliefen. Der Wind 
peitſchte die Schneemaſſen über das Zelt hin, und ein erſchöpfter 
Hund lag in dem Schnee draußen und heulte erbärmlich. 

4 Uhr morgens. 

Es weht jetzt faſt kein Wind mehr. Statt deſſen hat es ange⸗ 
fangen zu ſchneien, und unſer kleines Lager iſt wie in einen weißen 
Nebel gehüllt. Auch diesmal werde ich durch einen neckenden 
Traum geweckt; zur Entſchädigung kochen wir Kaffee aus Kaffee⸗ 
ſatz und verteilen auf den Mann je einen halben Roggenkeks. 
Der Kaffee dringt wie eine warme Welle durch unſern Körper, 
und mit einer Pfeife im Munde ſehen wir dem Tag mit friſchem 
Mut entgegen. Es wird ſchon alles in Ordnung kommen. Es iſt 
ja unſer eigener, freier Wille, der uns das Behagen und die Herr- 
lichkeiten der Heimat hat aufgeben laſſen. Aber wie werden wir 
alles genießen, wenn wir einmal heimkommen! 

6 ½ Uhr. 

Vor einer halben Stunde drang ein Sonnenſtrahl durch das 
Zelttuch. Augenblicklich ſprangen wir aus den verſchiedenſten 


Stellungen, in denen wir ruhten, auf und brachen in ein Jubel⸗ 


geſchrei aus. Sogleich wurde der Teekeſſel aufgeſetzt und eine 
ſechſtel Portion, gerade ein Mund voll Pemmikan für jeden, mit 
einem unſerer kleinen Roggenkeks verteilt. Der Horizont ringsum 
liegt noch im Nebel. Aber über unſerm Kopf fängt der blaue 
Himmel an durchzublicken, und wir können hoffen, daß wir gegen 
Mittag Reiſewetter haben. Ein friſcher Klang iſt wieder in den 
Stimmen, und wir ſehen dem kommenden Tag mit froher Span⸗ 
nung entgegen. 
Rasmuſſen. 19 


290 j Elftes Kapitel. 


Lager XIII. 
800 Meter über dem Meer. Entfernung 35 Kilometer. 

19. Auguſt. Dank der ausgezeichneten Bahn, die wir den 
ganzen Tag hatten, ſind wir jetzt 35 Kilometer von unſerm 
Sturmlager entfernt. Der Schnee war nach dem Sturm ſo feſt, 
daß wir weder Schneereifen noch Schneeſchuhe brauchten. Wir 
waren von 10 Uhr bis 8½ Uhr unterwegs. Der eine Schlitten 
wurde von drei, der andere von vier Hunden gezogen; die aus⸗ 
dauernden Tiere hielten ſich vortrefflich. 

Als wir uns nach den Ruhetagen, zu denen uns der Sch 
ſturm gezwungen hatte, wieder in Bewegung ſetzten, waren wir 
anfangs ſehr matt in den Knien. Aber es galt, die Mattigkeit 
zu verbeißen und lange Beine zu machen, namentlich weil die 
Wolken noch ſehr drohend ausſahen und ein neuer Sturm jeden 
Augenblick die Reiſe wieder unterbrechen konnte. Glücklicherweiſe 
blieb es bei der Drohung. Die Wolken trieben vor einem Sturm 
aus Südweſten in raſender Eile über unſere Köpfe hin; erſt ſpäter 
am Tage verminderte ſich die Eile, und der Himmel nahm ein 
ruhigeres Ausſehen an. 

Die letzten 15 Kilometer der Tagereiſe waren wir ſtark von 
Spalten beläſtigt, die anſcheinend lokaler Natur waren, denn ſie 
befanden ſich alle in der Nähe eines Höhenzuges, wo das Eis 
offenbar infolge ſeiner großen, eigenen Spannung geborſten war. 
Sie waren indeſſen von ungewöhnlich heimtückiſcher Art, da ſie 
vollſtändig mit der Oberfläche des Gletſchers verſchmolzen und 
an den meiſten Stellen mit dünnen Brücken bedeckt waren, ſo daß 
es bei dem unſichtigen Wetter ſchwer war, ſie zu ſehen. Wulff 
wäre bei einem Haar hineingeſtürzt, blieb aber glücklicherweiſe mit 
den Armen hängen, ſo daß ich ihn faſſen und wieder heraufziehen 
konnte. Die Spalte war oben ſchmal, erweiterte ſich aber nach 
unten zu einem bodenloſen Schlund. Nach dieſem Schreck ſeilten 
wir uns an und ſetzten den Marſch ohne weitere Hinderniſſe fort. 

Wieder haben wir einen Hund ſchlachten müſſen. 

Schon zu Beginn der Tagereiſe hatten wir im Nordweſten 
Land in Sicht — wahrſcheinlich Kap Forbes und ſeine weſtliche 
Fortſetzung. Gegen 3½ Uhr taucht noch mehr Land auf, und wir 
glauben Kap Webſter zu erkennen. Das Land ſah von hier oben 
aus wie eine Menge kleiner Seen in einem gefrorenen Meer. 


Die Rückreiſe über das Inlandeis. 291 


20. Auguſt. Es war 1 Uhr, als wir zur Ruhe gingen; ſchon um 
7 Uhr mußten wir wieder heraus, um unſere letzte Taſſe Kaffee 
und unſere vorletzte Portion Pemmikanbrei zu kochen. Niemand, der 
nicht ſchon gehungert hat, kann ſich einen Begriff davon machen, 
wie wunderbar richtiges Eſſen unter ſolchen Umſtänden ſchmeckt. 
Die kleinen Roggenkeks, die wir in den letzten Tagen nur als 
Zucker zu Kaffee und Tee benutzt haben, bekommen jetzt ein 
Aroma und einen Wohlgeſchmack, den man gar nicht beachtet, 
wenn man in guten Ernährungsverhältniſſen iſt, und die Hafer⸗ 
grütze, die wir während der Überwinterung häufig mit Ver⸗ 
achtung anſahen, wirkt jetzt geradezu wie eine Liebkoſung. Wir 
ſind uns einig, daß wir für den Reſt unſeres Lebens glücklich ſein 
würden, wenn wir nur immer Hafergrütze zu eſſen hätten. 

Das Wetter war noch immer nicht zur Ruhe gekommen, aber 
da die Sonne um 11 Uhr durchbricht, machen wir uns auf. Den 
ganzen Tag geht es über Glatteis, auf dem eine Schicht Neu⸗ 
ſchnee liegt; die Bahn iſt ſo glatt, daß wir oft fallen, und auch 
die Hunde können trotz der Kamiker nur ſchwer feſten Fuß faſſen. 
Wir paſſieren einzelne ſchmale Spalten und eine Menge ausge⸗ 
trockneter Seebecken und Flußläufe. Der erſte große Flußlauf 
wurde 16 Kilometer von unſerm vorigen Lager entfernt in der 
Höhe von 750 Meter überſchritten. Überall auf unſerm heutigen 
Weg haben wir den Eindruck, als ſei das Inlandeis einem ſehr 
ſtarken Schmelzprozeß unterworfen geweſen; die Oberfläche be⸗ 
ſteht aus lauter kleinen, feinen Körnern, die den Hunden Schmer⸗ 
zen bereiten. Der Weg geht über ebenes Gelände, das ſich im 
Weſten ganz ſchwach nach der Peabodybai hinabſenkt, wohin alle 
Flüſſe ihren Lauf nehmen. 


Lager XIV. 
600 Meter über dem Meer. Entfernung 30 Kilometer. 

Der Himmel droht beſtändig mit Föhnwolken. Die Minimal⸗ 
temperatur war im Laufe der Nacht 5 Grad unter Null, während 
wir vormittags 1 Grad über Null haben. Ein Ring legt ſich 
um die Sonne und ſticht uns mit ſeinen Nebenſonnen blendend 
in die Augen. Es iſt ein ſchöner Anblick, aber unſere Gedanken 
beſchäftigen ſich nur mit ſeiner ſchlechten meteorologiſchen Vorbe⸗ 
deutung. 

19 * 


292 Elftes Kapitel. 


Heute fuhren wir mit zwei Schlitten, jeder mit drei | 


Hunden beſpannt. Wenn wir auch ſelbſt ordentlich mithelfen 
müſſen, jo ſind die Hunde doch eine ſehr ſchätzbare Unterſtützung. 
Wir waren auf der heutigen Fahrt gut vorwärtsgekommen, und 
ſchon um 7 Uhr konnten wir unſer Lager mit der Ausſicht auf 
die Peabodybai aufſchlagen, die faſt ganz mit Eis bedeckt iſt und 


nur einzelne offene Stellen zeigt. Wir befinden uns wahrſcheinlich 


25 Kilometer vom Gletſcherrand entfernt; Waſhingtonland iſt 
faſt auf der ganzen Tagereiſe ſichtbar geweſen. 

Wieder muß ein Hund geſchlachtet werden. Es war der beſte 
Hund, den wir bisher verſpeiſt haben. Aber nichtsdeſtoweniger 
überfiel mich bei der Mahlzeit plötzlich ein Übelfeitsgefühl, fo 
daß ich trotz meines Hungers nicht imſtande war, weiter zu eſſen. 

Nach unſerm Beſteck ſollten wir noch ungefähr 30 Kilometer 
bis zu dem Lande bei Kap Agaſſiz haben. „Dem großen Lande 
ohne Berge“, wie es die Eskimos nennen. Hier wird unſer Elend 
hoffentlich ein Ende haben. Man denke nur: Talg, Fett und 
duftendes Renntierfleiſch und wohl auch leckere Herbſthaſen! 


Lager XV. 
600 Meter über dem Meer. Entfernung 12 Kilometer. 

21. Auguſt. Der Tag beginnt damit, daß wir die letzte Por⸗ 
tion Pemmikanbrei kochen, den wir ſehr dünn bereiten müſſen, 
damit er einmal herum reicht. Aber wie dünn er auch ſein mag, 
er legt ſich doch wie Watte um die Därme und erfriſcht uns mit 


ſeinem gediegenen Geſchmack. Gleichzeitig werden die letzten 


Roggenkeks verteilt, vier auf den Mann. Wenn nur das Wetter 
ſich jetzt hält, ſieht es für uns noch nicht ſo ſchlimm aus, denn wir 
haben noch fünf Hunde, und dieſe Hunde müſſen als Proviant 
genügen, wenn nicht unvorhergeſehene Hinderniſſe unſern Abſtieg 
auf das Land verzögern. Das Wetter verſpricht nichts Gutes. 
Wir haben eine Temperatur von 3 Grad über Null, was auf dem 
Inlandeis niemals ein gutes Zeichen iſt; außerdem ſegeln die 
Wolken, von einem Südweſtſturm getrieben, drohend heran. Wir 


laſſen alles Überflüſſige wie Schneereifen und Schneeſchuhe zurück 


und eilen nur vorwärts. 
N Der Gletſcher iſt feſt und ſchneefrei; er beſteht aus kleinen, 


feinen Nadeln, die uns und den Hunden Schmerzen bereiten. Da 


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Die Rückreiſe über das Inlandeis. 293 


die Tiere allmählich die Handſchuhe durchgeſcheuert haben, müſſen 
wir ihnen Stücke von einem alten Handtuch um die Pfoten wickeln. 


Land voraus! 


Um 1 ½ Uhr erleben wir das große Ereignis des Tages und 
der Reiſe: Land voraus! Unwillkürlich begrüßen wir alle die 
Küſte mit lauten Freudenrufen. Die unheimliche Spannung der 
Reiſe ſcheint zu Ende. Die Expedition iſt wieder auf der ſicheren 
Seite, und man ſieht nach dem Todesmarſch der letzten Tage ein 
glückliches Ende. 

Was tut es, daß unſere Freude ſehr raſch durch unſichtiges 
Wetter und ſtrömenden Regen unterbrochen wird; wir haben jetzt 
das Land geſehen und wiſſen, daß wir die Kräfte haben, es zu 
erreichen. Um 4 Uhr nachmittags ſchlagen wir das Zelt auf, 
und wieder muß ein Hund geſchlachtet werden. Das alles er⸗ 
ſcheint uns nur als eine Geduldsprobe; vor uns liegt ja das Land, 
wo Menſchen wohnen, das geſegnete Renntierland! 

4 Uhr morgens. 

Ein reißender Flußlauf durchbricht plötzlich die Eisdecke neben 


. unſerm Zelt ſchäumend und brauſend in einer Breite von 30 Meter. 


fortzuſetzen. 


Wir ſtürzen heraus in dem Glauben, daß wir ſelber mit weg⸗ 
geſpült werden. Aber glücklicherweiſe iſt es nichts als ein Kraft⸗ 
ausbruch, der raſch von ſelbſt wieder in ſich zuſammenfällt. 

Es hat die ganze Nacht ſtark geregnet; jetzt iſt eine Pauſe in 
den Regenſchauern eingetreten. Wir wollen verſuchen, die Reiſe 


Lager XVI. 
620 Meter über dem Meere. Entfernung 20 Kilometer. 


22. Auguſt. Der Regen und das andauernd milde Wetter 


0 ſcheinen uns mit Unglück zu bedrohen. In allen Senkungen ſind 


große und tiefe Flüſſe aufgetaucht und verurſachen uns die aller⸗ 
größten Schwierigkeiten. Dieſe ſtark ſtrömenden, breiten Gletſcher⸗ 
flüſſe ſind wohl überhaupt das Gefährlichſte, dem ein Gletſcher⸗ 
reiſender ausgeſetzt iſt. Denn gleitet man beim Durchqueren aus 
oder verliert man den Halt bei einem Sprung, ſo wird man auf 
dem blanken, glattgeſchliffenen Boden unweigerlich mit fortge⸗ 
riſſen und wird rettungslos mitgeführt, bis der Fluß einen ins 
Meer ausſpeit. 


294 Elftes Kapitel. 


Namentlich drei große, waſſerreiche Flußläufe koſteten uns viel 
Mühe, da der Strom ſich an mehreren Stellen in acht Flüſſe 
teilte. Wo es ſich tun ließ, bildeten wir Brücken aus den Schlitten 
und erlebten bei dieſen Übergängen die ſpannendſten Augenblicke, 
namentlich wenn die Sammlungen hinübergebracht werden 
ſollten. Sie mußten meiſtens von dem einen Ufer zu dem andern 
geworfen werden. Und da heißt es, auf der einen Seite ſicher 


werfen und auf dem andern Ufer mit der gleichen Sicherheit auf⸗ 
fangen. Ein kleiner Fehlgriff mit der Hand, ein Fehltritt mit dem 


Fuß, und rettungslos wären die Früchte all unſeres Fleißes und all 
unſerer Mühen in den letzten fünf Monaten verloren geweſen. 
Nach zwölf anſtrengenden Stunden, in denen wir einen Zick⸗ 
zackkurs einſchlagen und oft große Umwege machen mußten, hatten 
wir uns 20 Kilometer von unſerm letzten Lager entfernt und 
hätten jetzt eigentlich unten auf dem Lande ſein ſollen, wenn wir 
nur den Tag über einen geraden Kurs hätten einhalten können. 
Auf einem trocknen Höhenrücken hielten wir kurze Raſt mit der 
Abſicht, nach einer Stunde weiterzuziehen. Aber leider ſtellte 
ſich heraus, daß Dr. Wulff an dieſem Tage nicht mehr konnte. 
Schon den ganzen Tag hatte er ſich matt gefühlt und hatte ſchlecht 
ausgeſehen. Doch hoffe ich, daß eine Ruhe von ein paar Stunden 
und etwas Hundefleiſch ihn befähigen werden, den Marſch fort⸗ 
zuſetzen; denn wir haben nur noch drei magere Hunde, und 
niemand kann wiſſen, welche Hinderniſſe die Flüſſe oder der Ab⸗ 
ſtieg auf das Land uns noch in den Weg legen werden. Wir 
ſehen der Lage feſt ins Auge, ohne ſie zu beſchönigen. Die 
geringſte Anſtrengung mit dem Schlitten macht uns ſchwindlig 
und läßt uns in die Knie ſinken, und alle plötzlichen Anſtren⸗ 
gungen laſſen das Blut ganz aus dem Gehirn zurücktreten. 
Der Nebel hat ſich wieder über das Land geſenkt, in das wir 
hinab wollen, ſo daß wir im Augenblick nicht wiſſen, wo wir 
ſind. Den ganzen Tag wateten wir im Waſſer und haben daher 
naſſe, kalte Füße. Eine Menge kleiner Seen haben ſich auf der 
Oberfläche des Gletſchers gebildet, ihr Grund beſteht aus lauter 
ſcharfen ſchmerzenden Firnkörnern. Ein kleiner Krabbentaucher 
kommt munter auf einem ſchäumenden Fluß vom Inlandeis daher 
geſchwommen und iſt offenbar ganz vergnügt über die Rutſchbahn, 
die er nach dem Meer hinab gefunden hat. Auch zwei Eismöwen 


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Die Rückreiſe über das Inlandeis. 295 


haben wir geſehen. Wieder müſſen wir einen Hund ſchlachten und 
verzehren ihn mit gutem Appetit, ohne daß wir in dem ſtillen, 
milden Wetter das Zelt aufſchlagen. 

8 Uhr vormittags. 

Um unſer Gepäck zu erleichtern, haben wir vor ein paar Tagen 
alle Unterlagen weggeworfen und um nicht auf dem blanken 
Gletſcher zu liegen, breiten wir das Zelt aus und legen uns 
darauf. Während der Nacht hat ein dichter Nebel die ganze 
Umgebung unſern Blicken entzogen. Er liegt noch feſt, und obwohl 
wir außerſtande ſind, uns zu orientieren, müſſen wir doch ſehen, 
weiterzukommen. Ein großer, ſtark brauſender Fluß iſt vor uns 
erkennbar; dorthin richten wir vorläufig unſere Schritte. 

2 ½ Uhr nachmittags. 

Der Gletſcherfluß, der ſich als ein weißſchäumender Eisfluß 
von 60 Meter Breite erwies, hätte uns beinahe alle Hoffnung 
geraubt; denn er war an der Stelle, wo wir ihn erreichten, ſo 
tief, daß keine Möglichkeit war, ihn zu durchwaten. Nach einer 
langen Rekognoſzierung gelang es mir, eine Stelle zu finden, wo 
das Waſſer nur bis zu den Hüften ging, und da die Strömung 
hier ſchwächer zu ſein ſchien, machten wir einen Verſuch. Er gelang. 
Nach ein paar Stunden waren alle unſere Sammlungen, Inſtru⸗ 
mente und Tagebücher auf dem andern Ufer in Sicherheit. 

Dieſes Bad mit ſeinen Anſtrengungen und Aufregungen hatte 
uns ſo ſtark angegriffen, daß wir uns wieder eine Mahlzeit be⸗ 
reiteten; zu dieſem Zweck mußten wir den dritten Hund ſchlachten. 
Der geſtern geſchlachtete hatte für uns ſechs Mann und für die 
drei Hunde nur eine kümmerliche Mahlzeit abgegeben. Der Nebel, 
der uns den ganzen Tag feucht und dicht umgeben hatte, ſcheint 
ſich jetzt zu heben. Die Sonne iſt im Begriff durchzubrechen, und 
eine wohltuende Wärme durchſtrömt allmählich unſere Glieder, 
die in dem naſſen Zeug eiskalt geworden ſind. Wir verſuchen 
den Kurs gerade auf das Land im Südweſten zu richten. 


Lager XVII. 
525 Meter über dem Meer. Entfernung 15 Kilometer. 
Nach einer Tagereiſe von 13 Stunden mußten wir an einem 
großen Fluß haltmachen, da uns die Kräfte fehlten, ihn zu über⸗ 
ſchreiten. Verhältnismäßig raſch nach dem Aufbruch von unſerer 


296 Elftes Kapitel. 


geſtrigen Abkochſtelle bekamen wir Land in Sicht. Unſer Kurs iſt 


richtig; wir können kaum noch 20 Kilometer zurückzulegen haben. en 
Aber ein mächtiges Netz von Flüſſen trennt uns vorläufig noch ö 
von Land. Geſtern gegen 8 Uhr mußten wir einen etwa 40 Meter 1 
breiten, tiefen Fluß durchwaten, deſſen Waſſer bis an den Leib É 


reichte; das kalte Waſſer raubte uns die Kräfte, namentlich in 
den Kniemuskeln. — Wir mußten jetzt den Schlitten ſelber ziehen. 
Abends wird wieder ein Hund geſchlachtet, da wir es vorziehen, 
ſein Fleiſch auf dem Schlitten zu transportieren; jetzt iſt nur noch 
einer übrig. ö 


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Lager XVIII. 

430 Meter über dem Meer. Entfernung etwa 10 Kilometer. 
23. Auguſt. Der Fluß, vor dem wir geſtern erlahmten, ließ Ø 
fig überraſchend gut überſchreiten. Nur der Nebel ſcheint nicht 3 
weichen zu wollen. Aber wir hoffen, unſere Richtung iſt die rechte. å 
Eine Menge kleiner Flüſſe werden abwechſelnd unter Regen oder 
Tauſchnee überſchritten. 4 
Um 5 Uhr nachmittags, mitten in dem Nebel und der Hoff- 3 
nungsloſigkeit, erſcheint das erſte Lebenszeichen vom Lande. Eine 
kleine Fliege ſchwirrt mitten im Eis ſummend an uns vorbei! Sie 
wirkt auf uns wie das Olblatt in der Arche Noah, und dieſes 
belebende Ereignis iſt ein guter Schrittmacher. = 
Wir folgen einem Abhang, der nach einer dunkeln Nebelbank ° 
führt, die den Eindruck von Land macht. Raſch kamen wir vor⸗ 4 
wärts, bis wir zu einem großen, ſehr ſchönen Gletſcherſee gelangen, 
in den ſich ein Fluß ergießt, der einen tiefen Cafion in den Gletſcher 
gegraben hat. Der See hat wunderbare Farben, grün am 
Ufer und dunkelblau in der Mitte; am Ufer liegen große, manns⸗ 
hohe Eisblöcke. Der Übergang über dieſen Fluß erforderte unſere 
letzte Kraft. Gleichzeitig wurde der Nebel ſo dicht, daß wir es 
nicht wagten, den Marſch weiter fortzuſetzen. Der Schnee fällt 
dicht, und wir müſſen im Zelt Schutz ſuchen. Unſere naſſe Klei⸗ 
dung wirkt wie ein kalter Umſchlag um unſere Leiber, aber wir 
ſind glücklicherweiſe ſo müde, daß wir raſch in Schlaf fallen. 
Der Gletſcher iſt während der ganzen Tagereiſe ſehr porös geweſen l 
und wies ſcharfe Eiskriſtalle auf und tiefe, runde Kryokonitlöcher, 

die von kosmiſchem Staub herrühren. 


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Die Rückreiſe über das Inlandeis. 297 


Der letzte Tag auf dem Inlandeis. 


24. Auguſt, 12 Uhr mittags. In der Nacht lag ich eine 
Zeitlang wach, um das Wetter zu beobachten. Sobald es ſich 
nur ein wenig aufklärt, müſſen wir weiter, um uns auf das Land 
hinab zu retten. : 

Wulffs zunehmende Erſchöpfung macht uns viel Kummer; 
wenn wir nach einer Raſt drei Stunden gegangen ſind, legt er ſich 
hin und erklärt, daß er nicht mehr kann. Wir machen halt und 
kochen ihm eine Taſſe ſtarken Tee; dadurch belebt, marſchiert er 
wieder mit gutem Humor weiter. Aber er iſt mager wie ein 
Skelett, und ſeine Augen bekommen einen immer matteren Aus⸗ 
druck. Solange wir die kleinen Portionen von Pemmikan hatten, 
hielt er ſich verblüffend gut aufrecht und war faſt immer unter 
den Vorderſten. Das Hundefleiſch dagegen kann er ſcheinbar durch⸗ 
aus nicht vertragen und trotz unſeres Proteſtes gibt er den größten 
Teil feiner Rationen weg. Wir andern können wohl noch einige 
Tage aushalten. Wenn wir nur ſichtiges Wetter bekommen! Wir 
ſind ja tatſächlich ganz dicht bei dem Lande. 

Nach kurzem, erfriſchendem Schlaf fahre ich auf, um nach dem 
Wetter zu ſehen — ich brauche nur das Auge unſerm durch⸗ 


löcherten Zelt zu nähern —; aber jedesmal ſehe ich nur denſelben 


dichten Nebel und Tauſchnee; ringsumher ertönt nur das un⸗ 
heimliche Brauſen der Flüſſe. 

Schließlich bekommt die Müdigkeit die Oberhand über meine 
Wachſamkeit, und ich falle in einen guten, feſten Schlaf, deſſen 
Träume mich, wie immer in dieſer Zeit, aus dem Ernſt des 
Augenblicks herausführen und mir die Wünſche vorzaubern, die 
mich allein vor der drohenden Erſchöpfung aufrecht halten 
können. Als ich erwache, iſt ſchönes Wetter; der Nebel hat ſich 


gelegt, der Himmel ſcheint ſich aufzuklären. Sogleich wecke ich 


die Kameraden und koche eine Taſſe Tee; dann brechen wir um 
91% Uhr vormittags auf. So gut wir können, eilen wir vorwärts 
mit unſerm Schlitten und unſerm Gepäck, und ſchon nach einer 
guten Stunde haben wir Ausſicht über das Land, auf das wir 
zuſteuern. Wir halten den Kurs gerade darauf los; viele Einzel⸗ 
heiten ſind jetzt ſichtbar, und es kann nicht mehr weit bis dahin 
ſein, vielleicht noch eine gute Meile. Das iſt ja keine Entfernung. 


298 Elftes Kapitel. 


Wenn uns nur die großen Flüſſe keine ernſthaften Hinderniſſe 
in den Weg legen! Will es das Unglück, ſo können noch mehrere 
Tage vergehen; wenn wir Glück haben und keine Schwierigkeiten 
beim Abſtieg finden, wird es nur ein paar Stunden dauern. 

Die Spannung iſt aufs höchſte geſtiegen. Jede Erhöhung auf 
dem Gletſcher, die wir überſchreiten, gibt uns eine immer ſicherere 
Überſicht über das Land. Aber dann wälzt ſich der Nebel wieder 
vom weſtlichen Horizont heran, und nach einigen Minuten iſt 
das Land, auf das wir zueilen, vollſtändig verdeckt und in grauen 
Nebelbänken verſchwunden. 

Wieder müſſen wir haltmachen und untätig auf dem Schlitten 
ſitzen, hungrig wie Wölfe. Was nützt es, daß wir im ſtrahlenden 
Sonnenſchein daſitzen, wenn uns die Ausſicht nach vorn geraubt 
iſt! Ich überdenke die Lage und beſchließe, den letzten Hund zu 
ſchlachten. Denn wenn wir vollſtändig von Kräften kommen, 
werden wir zur Jagd unfähig ſein, wenn wir das Land er⸗ 
reichen; lieber alles auf eine Karte ſetzen und das arme Tier 
verzehren. Nun haben wir noch eine Tube Glyzerin übrig. 

3 Uhr nachmittags. 

Der arme Hund iſt verzehrt! Trotzdem das wenige Fleiſch an 
ihm ſchleimig und zähe war, ſchmeckte es uns wie Maſtkalb. 

Da der Nebel immer noch wie eine Mauer vor uns liegt und 
das Land verdeckt, ſende ich Ajako auf eine Erkundung aus. Es 
beſteht nicht viel Hoffnung, daß er bei dieſem Wetter viel Erfolg 
haben wird, aber da er immer wieder gezeigt hat, daß er nie den 
Mut verliert und bisweilen das Unglaubliche, für andere Unmög⸗ 
liche leiſtet, ſetze ich doch mein ganzes Vertrauen auf ihn. Er⸗ 
friſcht von dem Hundefleiſch, geht er raſch bergab, und ſeine junge, 
ſehnige Geſtalt verſchwindet bald im Nebel. Unſer Leben hängt 
von dem Erfolg ab, den er haben wird, darum iſt die Wartezeit 
faſt unerträglich. Findet er den Weg hinab und ſind die Abſtiegs⸗ 
verhältniſſe günſtig, ſo ſind wir gerettet. Trifft er dagegen einen 
ſteilen Abſturz, der uns wieder auf das Inlandeis mit ſeinen 
vielen großen Flußläufen hinauftreibt, ſo wird die Lage ſehr 
kritiſch; denn alles Eßbare, das wir beſitzen, beſteht aus einigen 
Lederriemen und der Tube Glyzerin. 

7 Uhr nachmittags. 

Auf Land! Der Nahrung, dem Leben zurückgegeben! Der 


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Die Rückreiſe über das Inlandeis. 299 


fürchterlichen Umarmung des Inlandeiſes entſchlüpft! Die Expe⸗ 
dition und alle ihre Reſultate in Sicherheit! Nur wer die Span⸗ 
nung der letzten Tage mit durchlebt hat, kann die Gefühle ver⸗ 
ſtehen, die uns durchſtrömen! Ajakos Erkundung nahm folgenden 
Verlauf: 


Harald Moltke nach Skizze vor 


1 Koch. 
Die Abſtiegſtelle. 


Nach mehrſtündiger Abweſenheit tauchte ſeine Geſtalt aus dem 
Nebel auf. Schon aus weiter Entfernung konnten wir aus ſeinem 
Gang und ſeinen Armbewegungen erſehen, daß er gute Nach⸗ 
richten brachte. Er war außer ſich vor Freude! Nicht nur daß 
er einen Abſtieg zum Land gefunden hatte, er war auch ſelbſt auf 
dem Lande geweſen, hatte einen Haſen geſehen und Spuren von 
Renntieren gefunden. Wir empfingen ihn mit lauten Jubelrufen; 


300 Elftes Kapitel. 


einen Augenblick ſpäter waren wir auf dem Weg abwärts durch 
den Nebel. 

Der Abſtieg war ſteil, und wir mußten die Schlitten mit 
Riemen, die unter den Kufen feſtgeſpannt waren, bremſen. Aber 
nach einer kühnen Abfahrt landeten wir an einer ſteilen Klippe, 
zu der eine kleine, ſchmale Gletſcherzunge wie eine Brücke hinüber⸗ 
führte. Meilenweit ſahen wir auf beiden Seiten den Steilrand 
des Inlandeiſes; halb blind vom Eis hatten wir die einzige Stelle 
gefunden, wo eine Landung möglich war. Mit einem unbeſchreib⸗ 
lichen Gefühl des Glückes und der Befreiung ſchwangen wir uns 
alle auf das Land; bald danach war das Gepäck in Sicherheit. 

Nur der Schlitten ſteht jetzt auf dem Inlandeis, das Vorder⸗ 
ende gegen die Felswand gerichtet; wie er dort einſam und ver⸗ 
laſſen daſteht, wirkt er in der Landſchaft wie ein geſtrandetes Schiff. 

Wir haben noch einen Teelöffel voll Tee; raſch wird ein 
Keſſel voll Waſſer gekocht. In unſerm kleinen Lager herrſcht eine 
lebhafte Stimmung, denn in einer halben Stunde ſollen alle 
Jäger auf die Jagd. 


Die Lage wird erörtert. 
Zunächſt halten wir eine Beratung, wie wir es in ernſten 


Situationen gleich der gegenwärtigen immer zu tun pflegen. Wohl 


ſind wir alle einig, daß die Ankunft auf Land unſere Rettung 
bedeutet. Denn in demſelben Land, auf das wir jetzt unſern Fuß 
ſetzen, pflegen die Bewohner von Etah jeden Herbſt Renntiere und 
Haſen zu jagen. Aber andererſeits ſind wir uns auch darüber klar, 
daß die 250 Kilometer, die wir noch bis Etah haben, eine recht 
bedeutende Entfernung darſtellen für Menſchen, die ſo erſchöpft 
ſind wie wir. 

Dr. Wulff erklärt ſofort, daß er nicht gleich weitermarſchieren 
könne. Koch meint ebenfalls, daß er ohne ein paar Tage Ruhe 
die lange Wanderung nicht durchführen könne. Aber verſchiedene 
Umſtände machen es auf der andern Seite notwendig, daß wir 
möglichſt raſch zu Menſchen kommen. Erſtens haben wir nicht 
mehr Munition genug für einen längeren Aufenthalt hier, und 
zweitens ſind unſere Kleider von dem vielen Waſſer ſo verdorben, 
daß unſer Leben gefährdet iſt, wenn wir nicht in Verbindung mit 
Menſchen kommen, ehe die erſte Herbſtkälte eintritt. 


Die Rückreiſe über das Inlandeis. 301 


Wir kommen daher überein, daß Ajako und ich nach Etah 
aufbrechen ſollen, um Entſatz zu holen; wir meinen beide, daß wir 
imſtande ſind, uns dieſe lange Wanderung ohne vorhergehende Raſt 
zuzumuten. — Harrigan und der Bootsmann bleiben zurück, um 
für Wulff und Koch zu jagen, die nicht mehr die Kräfte haben, 
ſelber nach Wild umherzuſtreifen. ö 

Ajako und ich berechnen, daß wir in dem ſteinigen, zerklüfteten 
Land, das von einer Menge großer Flüſſe durchſchnitten wird, 
die Reiſe kaum unter acht Tagen machen können, da wir die Mög⸗ 
lichkeit ſchlechten Wetters in Betracht ziehen müſſen. Dann müſſen 
die Hilfsſchlitten ausgerüſtet werden, was jedenfalls einen vollen 
Tag in Anſpruch nimmt. Die Schlittenausrüſtungen ſind in dieſer 
Jahreszeit noch nicht gebrauchsfertig, und die Vorbereitungen 
werden daher einige Zeit dauern, ſo daß die Hilfsſchlitten kaum 
vor Ablauf von 12 bis 14 Tagen ankommen können. 

Keiner von uns hielt es für ratſam, hier an dieſer Stelle 
ſo lange zu bleiben. Die Umgebung würde raſch von Wild 
entblößt ſein; daher wird es das beſte ſein, das Lager in kleinen 
Tagemärſchen näher nach Etah hin zu verlegen. Auch aus andern 
Gründen iſt dieſes Vorgehen wünſchenswert. 

Ajako und ich müſſen damit rechnen, daß wir beim Zuſammen⸗ 
treffen mit Menſchen ſo vollkommen erſchöpft ſind, daß keiner 
von uns die Kraft haben wird, mit den Hilfsſchlitten zuſammen 
umzukehren; dieſe werden das Lager der Kameraden in dieſer 
Moränenlandſchaft, die voller Seen und Hügel iſt und wo ein 
Ort dem andern völlig gleicht, nur ſehr ſchwierig finden können. 
Es muß daher ein Ort verabredet werden, wo diejenigen, die der 
Entſatz erreichen ſoll, ohne Zeitverluſt gefunden werden können. 
Hier in der nächſten Umgebung iſt es unmöglich, eine ſolche Stelle 
auszumachen; dagegen befindet ſich hinter Kap Ruſſell in der 


unmittelbaren Nähe des Inlandeiſes ein großer See, den Harrigan 


von früheren Renntierjagden her kennt und der auch allen Be⸗ 
wohnern von Etah bekannt iſt. Dorthin ſollen ſich die Kameraden 
in kleinen Tagemärſchen begeben. Erreichen ſie den Ort nicht zu der 
Zeit, in der die Hilfsſchlitten zu erwarten ſind, ſo können die beiden 
Grönländer leicht vorausgeſandt werden, und die Verbindung 
mit der Entſatzmannſchaft wird ſich dann leicht herſtellen laſſen. 

Im übrigen rate ich den Kameraden davon ab, eine zu lange 


302 Eiftes Kapitel. 


Raſt zu halten; denn wenn man es in unſerm ermatteten Zuſtand 
plötzlich unterläßt, den Körper in Bewegung zu halten, wird ſich 
die Müdigkeit mit all ihren Schmerzen doppelt ſo ſtark melden, 
ſobald man die Reiſe wieder fortſetzen muß. Die Munition wird 
folgendermaßen verteilt: Dr. Wulffs Abteilung erhält 80 Schrot⸗ 
patronen und 40 Gewehrpatronen, was man für die Wartezeit 
als reichlich bezeichnen kann, ich ſelbſt nehme eine Wincheſterflinte 
mit 30 Patronen mit. Sobald alle Einzelheiten verabredet ſind, 
gehen alle drei Eskimos unverzüglich auf die Jagd, während wir 
das Gepäck in Ordnung bringen. 

Früh am Morgen des 25. Auguſt gehe ich in die PEN umnad 
den Jägern auszuſpähen. Eine Strecke weit im Lande treffe ich Ajako 
mit der erſten Jagdbeute von fünf Haſen. Die kommenden Tage 
erſcheinen uns wieder in einem helleren Licht. Wenn nur Ajakos 
und meine Kräfte ausreichen, um möglichſt raſch in Verbindung 
mit Menſchen zu kommen und Hilfe für die Kameraden herbei⸗ 
zuſchaffen! 

Seit unſerer Ankunft hat dichter Nebel über dem Land ge⸗ 
legen, aber gegen 6 Uhr nachmittags klart der Himmel etwas auf. 
Um ſogleich die Möglichkeit auszunützen, einen Überblick über das 
Land zu gewinnen, das weder Ajako noch ich kennen, brechen wir 
auf und beginnen die Wanderung. Wir nehmen nur das Aller⸗ 
notwendigſte mit, unſere Kamiker, meine Tagebücher, ſonſt nichts. 

Der Abſchied von den Kameraden vollzieht ſich in beſter 
Stimmung nach einem Feſtmahl von friſch erlegten Haſen. Das 
Lager auf der ſteilen Klippe erſcheint uns wie ein Märchen; wie 
ein gefrorenes Meer wälzt ſich der Gletſcher heran, und wir ſelber 
ſpringen auf den Steinen umher gleich Schiffbrüchigen, die eben ans 
Land verſchlagen ſind. Dr. Wulff hat ſich ein behagliches, kleines 
Lager in einer moosbedeckten Mulde bereitet und winkt uns 
lächelnd ein „Lebewohl“ zu, wobei er ruft: „Vergiß nur nicht 
Pfannkuchen mit den Hilfsſchlitten zu ſenden!“ a 

Harrigan und der Bootsmann ſind noch nicht von ihrer Jagd 
zurückgekommen; ihre lange Abweſenheit ift nicht nur ein treff⸗ 
liches Zeugnis ihrer zähen Ausdauer, ſondern gibt uns auch neue 
Hoffnung, daß es ihnen geglückt iſt, ein Renntier zu erlegen. 
Renntiertalg iſt das, was wir am nötigſten brauchen. 


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Zwölftes Kapitel. 
Auf dem Wege nach Entſatz. 


Erſter Tag. 


25.—26. Auguſt. Aufgelegt und in beſter Stimmung be⸗ 
ginnen Ajako und ich unſere Wanderung. Es iſt ein wohltuendes 
Gefühl, das befreiend und belebend wirkt, durch dieſes große 
Land zu wandern, das von Leben überquillt; jo erſcheint es uns 
jedenfalls nach der Wüſtenwanderung vieler Monate. Überall 
ſprießt ein Blumenreichtum aus der Erde hervor, den man nicht 
müde wird zu genießen. Namentlich jetzt, da der Herbſt allem 
ſeine friſchen, ſtarken Farben erteilte. Am meiſten imponiert 
mir die Kraft, mit der ſich hier die Polarweide entwickelt hat. 
Die großen, ſcharfgeſchnittenen Blätter liegen überall zu unſern 
Füßen, bald wie wilder Wein in rötlichen Farben flammend, 
bald ockergelb leuchtend zwiſchen dunkelrotem Steinbrech und 
grünem Heidekraut. Auch das Heidelbeerkraut, das leider keine 
Beeren trägt, hat leuchtend rote Blätter. 

Das Leben hat für dieſen Sommer ſeinen Höhepunkt erreicht, 
und der Herbſt alles in Feſtkleidung gehüllt. Die Kühle hat ſich 
vor der Kälte gemeldet, die Farben vor dem Schnee, ein letztes 
Aufflackern vor dem Winterſchlaf. 

Überall gehen wir auf dickem, weichem Moos an den kleinen 
bergumkränzten Seen entlang, die uns wie ſchwarze, tiefe Augen 
entgegenblicken. Faſt mit jedem Kilometer kommen wir zu neuen 
Seen, die uns leider oft zu langen, beſchwerlichen Umwegen 
zwingen. Wie ſehr wir auch eilen mögen, der Weg geht in großen 
Biegungen und Windungen ununterbrochen auf und ab, durch 
ſchöne, wilde, aber äußerſt ermüdende Schluchten. 

Im Nordweiten haben wir all die kleinen Inſeln der Peabodybai 


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304 i Zwölftes Kapitel. 


in der dem Humboldtgletſcher zugewandten Ecke. Hiet hängt 
der Nebel noch dicht. Die vielen, vom Gletſcher und vom Land 
herabſtrömenden Flüſſe haben das Eis an der Küſte fortgefpült, 
und zum erſtenmal blicken wir über ein Stück wirklich offenes Waſſer 
hin. Es iſt vollkommen windſtill, und nur die Drift der Eisſchollen | 
im Strom ſchafft ein wenig Bewegung in der mächtigen Land- | 
ſchaft, die der aufſteigende Nebel allmählich unſern Blicken ver- 
hüllt. Die vielen kleinen Gewäſſer und Seen und die Landſchaft 

tief unten an der Schlucht gewähren ein idylliſches Bild, und Ajako 

und ich ſind uns einig darin, daß es ſchön ſein müßte, hier einmal 

zu überwintern. Im Grunde der Advancebai finden ſich auch 
Reſte alter Überwinterungshäuſer. 

Das Meer wimmelt von Seehunden; der Bär beginnt feine 
Wanderung, ſobald das Eis feſt iſt, und überall in den Seen 
muß es Lachſe geben. Die Renntiere traben umher, und Haſen 
ſcheint es auch eine Menge zu geben; ſie ſpringen vor uns auf und 
flüchten vor Verwirrung haſtig hinter den nächſten Berg, ohne | 
zu willen, daß wir ihnen vorläufig nichts tun. Da hier genug ö 
Wild zu ſein ſcheint, haben wir beſchloſſen, erſt am Abend zu jagen, 
wenn der Tagemarſch zu Ende iſt. Wir ſind ſo entkräftet, daß 
ſelbſt die geringſte Laſt uns beſchwert. : 

Von einem Berggipfel haben wir Ausſicht über den 
Humboldtgletſcher. Er erſtreckt ſich ganz ohne Spalten nach 
Norden. Nur die vielen Flüſſe, die wir paſſieren mußten, graben 
tiefe Furchen in ſeine Oberfläche. Man hört das gewaltige Getöſe 
der vielen Waſſerläufe, ſobald man darauf horcht; gut, daß wir 
jetzt auf Land ſind. Der Gletſcher zeigt ſo gut wie keine Be⸗ 
wegung, und nur kleine niedrige Sikuſſagſtücke ſchwimmen in der 
Bucht, deren Eis teilweiſe nicht aufgebrochen iſt. 

Gegen Mitternacht paſſieren wir einen großen, länglichen See 
mit einem ungewöhnlich mächtigen Zufluß. Lange folgen wir 
dem Fluſſe, um einen Übergang zu finden; da er aber überall ſehr 
reißend iſt und ſtark ſchäumt, müſſen wir uns entſchließen, ihn 
zu durchwaten. Ich gleite auf einem glatten Stein aus, falle und 
werde triefend naß. Es iſt nicht gerade behaglich für jemand, der 
in dem naſſen Zeug im Freien liegen muß, ohne etwas über ſich zu 
haben! Aber was tut's! Der Körper, ein geſunder Körper, iſt ein 
geduldiges Werkzeug. 


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Auf dem Wege nach Entſatz. 305 


Gegen Morgen erreichten wir die Hochfläche hinter Kap 
Scott. Etwas vorher müſſen wir einen Fluß durchwaten. Sobald 
wir ihn überſchritten haben, ändert die Landſchaft ihren Charakter. 
Sie wird öder, ſteiniger. Auf einmal ſind alle Haſen wie in die 
Erde geſunken. Um 7 Uhr morgens machen wir nach einer drei⸗ 
ſtündigen Wanderung halt und kochen einen Haſen, den wir unter⸗ 
wegs geſchoſſen haben. Dann rekognoſzieren wir, um, bevor der 
Nebel kommt, klar über die Richtung zu ſein, die wir einſchlagen 
müſſen. Wir befinden uns jetzt auf einer gleichförmigen Hochebene 
ohne die vielen Schluchten und Seen, die wir tagsüber geſehen 


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Der Weg zum Entſatz. 


hatten. Das verſpricht für den Morgen ein weſentlich raſcheres 
Weiterkommen. 

Mittags um 11 Uhr legen wir uns jeder unter einen Stein, um 
einen kleinen Schlaf zu tun, ehe wir wieder ans Werk gehen. 


Zweiter Tag. 

26.—27. Auguſt. Schon um 3 Uhr wachen wir auf, und 
da der Himmel wieder drohend ausſieht, halten wir es für das 
beſte, möglichſt raſch nach beſſeren Jagdgebieten zu eilen. 

Am Anfang der Tagereiſe hat die Hochebene einen freund⸗ 
lichen Charakter, mit Grasflächen und kleinen Seen. An vielen 
Stellen ſehen wir friſche Renntierſpuren, und wir hoffen beſtändig, 
daß das Glück uns lächelt und wir ein Tier erlegen. Dann würden 

Rasmuſſen. 20 \ 


306 Zwölftes Kapitel. 


wir uns eine kleine Raſt gönnen können und Zeit gewinnen, 
unſere naſſen Kleider zu trocknen. Aber als der Abend ſich nähert, 


kommt der heimtückiſche Nebel wieder von Nordweſten heran, 


und gleichzeitig wird die Landſchaft öder. Schließlich hören die 
Grasflächen ganz auf, und wir ſchreiten nur über nackte, ſcharfe 
Steine. | 

In der Nacht gelangen wir an einen großen See, der an das 
Inlandeis grenzt. Das alte Wintereis liegt noch darauf, und nur 
an dem einen Ufer hat ein Fluß, der aus dem See herausfließt 
und mächtig weißſchäumend über gewaltige Steine hinfließt, 
eine Rinne geöffnet. Das ſah nicht einladend aus — der Anblick 
wirkte wie ein Griff an die Kehle. Sollte ich jetzt abermals fallen? 
Das Wetter war feucht und neblig, und ich war von Hunger 
ermattet. 

Aber was am ſchlimmſten ausſieht, geht gewöhnlich am leich⸗ 
teſten. Ohne unnützes Zaudern faßten Ajako und ich uns an den 
Händen, und ſo einander ſtützend ſtiegen wir ins Waſſer. Wir 
wurden tüchtig naß. Aber keiner von uns glitt aus und fiel. 
Dieſer Erfolg belebte und kräftigte uns wie eine Mahlzeit. 

Auf der andern Seite des Gletſcherſees kamen wir in eine 
vollkommene Steinwüſte, die aus lauter kleinen, lockeren Moränen⸗ 
ſteinen beſtand. Viele größere und kleinere Seen erfüllten die 


Landſchaft, die ſo gut wie ohne Pflanzenwuchs war, und oft ſahen 


wir uns gezwungen, große Umwege einzuſchlagen. Noch ein Fluß 
war zu durchwaten; wir find jetzt gut in der Übung, und naſſe 
Füße haben wir die letzten zwei, drei Monate lang gehabt. 


Dritter Tag. 


27.—28. Auguſt. Heute verſuchten wir zu ſchlafen, ſo gut 


es ging. Wie gewöhnlich jeder unter ſeinem Stein. Aber 
es war faſt zu kalt in der naſſen Kleidung, die noch dazu vom 
Rauhreif bedeckt wurde, ſo daß wir am ganzen Körper weiß waren. 

So oft ich einnickte, träumte ich von zu Hauſe. Solche Träume, 
die während des Schlafes ſchön und angenehm ſind, lähmen beim 
Erwachen in ganz eigentümlicher Weiſe. Sobald man aufſteht, 
kommt einem die Umgebung immer doppelt rauh und hoffnungs⸗ 
los vor. Auf der andern Seite erwecken ſie auch ein ſo lebendiges 
Gefühl davon, was man denen ſchuldet, die auf unſere Rückkehr 


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Auf dem Wege nach Entſatz. 307 


warten, daß man unwillkürlich die Zähne zuſammenbeißt und 
dem Unglück Trotz bietet, das unſere Kräfte aufreibt. 

Gegen 7 Uhr hob ſich der Nebel ein wenig. Sogleich ſind 
wir wieder auf den Beinen und eilen aufwärts nach Stellen, wo, 
wir etwas Nahrung finden können. Ein zäher Wille, auszuhalten, 
macht uns beide ſtark. Obgleich wir bald zwei Tage nichts zu 
eſſen gehabt haben, fühlen wir doch keine Müdigkeit. 

So oft wir eine tiefe Schlucht paſſieren, ſpähen wir vergebens 
nach einem kleinen weißen Fleck, einem Haſen. Auf Renntiere 
wagen wir nicht mehr zu hoffen. 

Als wir wieder einmal eine ungewöhnlich hoffnungsloſe 
Steinwüſte vor uns ſehen, machen wir miteinander aus, daß wir 
noch zwei Tage ohne Nahrung fortſetzen können; dazu, das fühlen 
wir beide, ſind wir imſtande, aber dann müſſen wir in beſſeren 
Jagdgründen ſein. Bei dieſer Erörterung ſage ich zu Ajako: 

„Selbſt wenn wir uns unter die Arme faſſen müſſen, um uns 
gegenſeitig zu ſtützen, wenn wir anfangen vor Erſchöpfung zu 
taumeln, wollen wir doch fortfahren zu gehen. Wir wollen nicht 
ablaſſen, ſolange wir noch kriechen können.“ 

Ajako nickt und antwortet: 

„Wir wollen ausmachen, daß keiner von uns mehr vom Eſſen 
ſpricht.“ 

Dann ſtehen wir auf und wandern weiter. 

Wir kamen an einem großen See in Weſtſüdweſten vorbei, 
der mitten auf dem Berg gelegen iſt. Mit ſeinem Abfluß haben, 
wir glücklicherweiſe nichts zu tun; wir nehmen den Weg durch eine 
Talſchlucht, wo wir wie an andern fruchtbarern Stellen eine Menge 
Renntierknochen und Geweihe finden. 

Ungefähr mittags erblicken wir vor uns einen kleinen, weißen 
Punkt und bleiben beide wie angewurzelt ſtehen: Ein Haſe! Fleiſch 
in den Topf, Fleiſch in den Magen, Mark in die Knochen! 

Eine halbe Stunde ſpäter ſitzen wir an einem großen flam⸗ 
menden Feuer und kochen den Haſen. Alle Mühe iſt vergeſſen, alle 
Müdigkeit iſt aus den Gliedern gewichen. Sobald wir gegeſſen 
haben, gehen wir weiter, aber erſt wollen wir unſer Mahl halten. 
Das Glück iſt uns günſtig geweſen, der Haſe iſt fett wie ein junges 
Renntier, mit dickem, weißem Fett um Nieren und Becken! Und 
das Blut haben wir in die Suppe geſchüttet; oh! das ſoll 

20 * 


308 Zwölftes Kapitel. 


aber ſchmecken! Aber nun, da wir das Fleiſch geſehen haben, 
iſt es, als ob der Hunger erwache und wütend in unſern Därmen 
reiße; daher eſſen wir die Eingeweide gleich roh, während wir 
darauf warten, daß es im Keſſel ins Kochen kommt. 


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Eine halbe Stunde von unſerer Kochſtelle kommen wir an 
einen See, der vermutlich der bekannte Eisbergſee hinter Kap 
Ruſſell iſt, wo die Hilfsſchlitten mit den Kameraden zuſammen⸗ 


treffen ſollen. Der See geht dicht bis an den Gletſcher heran, 


und ein paar ſehr große Eisberge ſchwimmen darin herum. Die 
erſten 100 Kilometer haben wir jetzt zurückgelegt! Das wirkt 
mächtig auf das Tempo, das wir anſchlagen, und unwillkürlich 
beſchleunigen wir unſere Schritte. 

Um den See zu überſchreiten, müſſen wir über drei ziemlich 
große Ausflüſſe. Der erſte iſt tief, und das Waſſer geht uns bis 
über die Knie. Wieder werden wir naß. Aber was ſchadet's, 
wenn wir nur vorwärtskommen; geradeaus vorwärts und ja 
nicht aufgeben! N 

Auf der Südſeite des Fluſſes kommen wir auf ganz neues 
Gelände, das den Jägerinſtinkt in uns beiden weckt. Hier geht 
es ermüdend und langſam beſtändig auf und ab durch Schluchten 
und Täler, über grobe Steinhaufen. Aber das Land iſt fruchtbar. 
Wir erblicken Wieſen in den Flußtälern und fruchtbare Abhänge, 
die bekleidet ſind mit Polarweide und Heidekraut, Moos und 
Gras und was ſonſt ein Renntier locken kann. Aber vergebens 
ſpähen wir uns die Augen aus dem Kopfe; nirgends iſt ein 
lebendes Weſen zu ſehen. 

Bis 10 Uhr abends ſind wir unterwegs; dann kommen wir 
an einen Fluß, der im Gegenſatz zu all denen, die wir bisher über⸗ 
ſchritten haben, auf das Inlandeis zu läuft. An dem einen Ufer 
ſpielen fünf junge Haſen, von denen wir drei ſchießen. Wieder 
wird ein großes Feuer angemacht, das in der Dämmerung 
leuchtet; wir wollen von allen drei Haſen Blutſuppe kochen, die 
uns Wärme für die Nacht geben ſoll. Gerade jetzt nach Mitter⸗ 
nacht kommt wie gewöhnlich der Nebel herangeſchlichen. Es iſt 
1 Uhr nachts, als wir uns ſchlafen legen, nachdem wir 15 Stunden 
ununterbrochen marſchiert ſind. Man fühlt es im Körper, daß 


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Auf dem Wege nach Entſatz. 309 


wir heute die Nahrung bekommen haben, die wir brauchen; denn 
obgleich bei zunehmender Dämmerung der Nebel wie gewöhnlich 
dichter und dichter wird und der Schnee wieder anfängt zu fallen, 
merken wir doch nichts von der Kälte, und dabei liegen wir auf 
der nackten Erde. 


Vierter Tag. 

Wieder ein grauer, trüber Tag. Aber der Humor iſt glänzend 
wie nur je, als wir um 9 Uhr vormittags aufbrechen, zum erſten⸗ 
mal, ſeit wir die Kameraden in der Advancebai verlaſſen haben, 
nach einem langen, feſten Schlaf. 

Aber jetzt beginnt es ſchlimm mit unſerer Fußbekleidung aus⸗ 
zuſehen, die wir ſeit dem St.⸗George⸗Fjord nicht haben trocknen 
können. Die Nähte platzen infolge der beſtändigen Durchnäſſung, 
die Kamiker wollen nicht mehr feſt an den Füßen ſitzen. 
Ferner gehen unſere Sehnenfäden zum Nähen zu Ende, und wir 
haben nur noch eine einzige Nähnadel. Wir wünſchen uns daher 
von Herzen für einen Tag Sonnenſchein und ein Renntier, nicht nur 
wegen des Talges und Fleiſches, ſondern auch wegen der Sehnen⸗ 
fäden. 

Nach Etah müſſen es noch gut 100 Kilometer ſein, wir werden 
ſie ſicher in drei Tagen ſchaffen. 

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Es fällt uns heute ſchwer, in den richtigen Tritt zu kommen. 
Wir ſind es nicht gewöhnt, ſatt und ſchwer zu ſein, und außerdem 
ſind wir in eine falſche Tageseinteilung geraten, denn jetzt mar⸗ 
ſchieren wir, wenn es warm iſt, und ſchlafen in der Nachtkälte. 
Wir wandern daher in aller Gemächlichkeit, da wir verſuchen 
wollen, 24 Stunden hintereinander zu gehen und uns nicht vor 
morgen vormittag zur Ruhe zu legen. 

Die Bahn wird immer beſſer und ebener. Wir paſſieren eine 
ſteinige Schlucht, wo wir von einem Block zum andern ſpringen 
müſſen, ſo daß uns unſere Fußſohlen brennen. Nachdem wir ſie 
durchſchritten haben, gelangen wir auf eine Ebene, die ſich weit 
und frei vor uns ausdehnt; ſie iſt von kleinen Flußläufen durch⸗ 
ſchnitten und mit einzelnen, fruchtbaren Grasflächen bedeckt, die 
ſich ſonnengelb von den dunkeln, rötlichen Steinhaufen abheben. 


310 Bwötftes Kapitel. 


Hier überfällt uns wieder der Nebel. Es iſt 4 Uhr nachmittags, 
und da wir einen Ausblick nach vorwärts haben, lagern wir uns 
an einer Felswand und hoffen, daß der Nebel ſich bald legt. 


Wir treffen den Eidervogel. 

Während ich im Halbſchlaf daſitze, höre ich plötzlich, wie Ajako 
aufſpringt, und ich traue meinen eigenen Ohren nicht, als ich ihn 
rufen höre: 

„Inugſſuag! Takuk, inugſſuag!“ 


Es gab mir einen Ruck: Ein Menſch!l Wo? Wer? Woher? 


Und in demſelben Augenblick bin ich auf den Beinen. 

Eine kurze Strecke vor uns ſehe ich einen Mann ganz deutlich 
aus dem Nebel auftauchen, einen Renntierjäger mit einem kleinen 
Bündel auf dem Rücken, einem Fell und vielleicht gar mit 
etwas Fleiſch! 

Man kann ſich vorſtellen, welchen Eindruck es auf uns zwei 
Wanderer machte, die ſich wie Schiffbrüchige über das ſteinige 
Moränenland hinſchleppten, ſo plötzlich der Rettung und der erſten 
Begegnung mit Menſchen nach ſechsmonatiger Abweſenheit gegen⸗ 
überzuſtehen! 

Wir ſtießen beide einen Freudenruf aus. Der Mann blieb 
ſtehen, lauſchte und erblickte uns, als wir den Ruf wiederholten. 

Ein paar Minuten danach trafen wir zuſammen und ſahen, 
daß es Miteg, „der Eidervogel“, war, der von Kukat, einem der 
Wohnplätze des Inglefieldgolfes, zur Renntierjagd hierherge⸗ 
kommen war. Mit ihm waren bis vor ein paar Stunden Qulu- 


tana, Ajakos Schwager, und Ileritog, feine Schweſter, ſowie Aſſar⸗ 


panguag, Majaqs Sohn, beiſammen geweſen; dann hatten fie 
ſich entſchloſſen, jeder in ſeiner Richtung zu jagen. Ihre Hunde, 
drei Geſpanne, lagen etwa 10 Stunden vor dem Ort unſerer 
Begegnung, in der Mitte zwiſchen der Marſhallbai und Renslaer 
Harbour. Wahrhaftig, das waren gute Nachrichten! 

Natürlich gab der Eidervogel ſeine Jagd auf, um uns zu 
helfen. Indeſſen wollten wir verſuchen, mit Ajakos Schwager 
und Schweſter in Verbindung zu kommen; wir zündeten daher ein 
großes Feuer von Kaſſiope an und feuerten in verſchiedenen 
Richtungen Signalſchüſſe ab. Mehrere Stunden verbrachten wir 


mit vergeblichem Suchen. Aber der Nebel verhinderte ſie, den 4 


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Auf dem Wege nach Entſatz. 311 


Rauch zu ſehen, und wegen der vielen Schluchten konnten ſie unſere 
Schüſſe nicht hören. Renntierjäger ſtreifen ja meilenweit umher, 
und Panguag hatte dem Eidervogel geſagt, er wolle, falls er 
Erfolg mit feiner Jagd habe, möglicherweiſe eine Woche lang 
fortbleiben. Hätten wir dieſe drei Menſchen erreichen können, ſo 
hätte eine Möglichkeit vorgelegen, ſofort zu den Kameraden 
zurückzukehren und ihnen Hilfe zu bringen. Dies mußten wir alſo 
aufgeben; wir ſetzten daher unſere Wanderung fort, um zum 


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. Harald Moltke 
Ein Menſch! Schau, dort iſt ein Menſch! 


Lagerplatz des Eidervogels zu gelangen, diesmal in beträchtlich 
raſcherem Tempo als am Vormittag. 

Unterdeſſen hatten wir den Eidervogel ausgefragt über alles, 
was es aus dem halben Jahr unferer Abweſenheit zu erzählen 
gab; jetzt ſtürmten die neuen Eindrücke nur ſo auf uns herein. 

Die größte Neuigkeit war die, daß ein neues Schiff nach der 
Crockerland⸗Expedition geſandt worden war, geführt von Pearys 
berühmtem Kapitän Bartlett. Er war durch Eis und alle Art 
Wetter ſchon im Anfang des Sommers heraufgekommen. Kapitän 
Bartlett hatte die „ Danmark“ an einem Punkt in der Nähe von Kap 
Parry getroffen, wo ſie umgekehrt war, ohne nach Etah weiter⸗ 


312 Zwölftes Kapitel, 


zugehen. In Thule und in den Wohnplätzen ringsum ſtand alles 
gut, und unſere Hilfsſchlitten waren zurückgekommen. 


* * 
* 


Aber der Krieg? Wußte er davon etwas? 

Ja, das tat er. Die Matroſen hatten berichtet, daß er 
ſchlimmer als je wütete. Die weißen Männer wären dabei, 
einander auszurotten. Viele große Wohnplätze ſeien nur noch 
Steinhaufen, bevölkert von hungernden Witwen und vaterloſen 


Kindern. Ein furchtbarer Blutdurſt habe die Weißen ergriffen. 


Niemand ginge mehr auf Jagd und Reiſen, man morde ſich nur 
gegenſeitig. Und mehr als je brauchten die weißen Männer ihre 
Klugheit und ihr Wiſſen dazu, einander zu vernichten. 

Nirgends war Schutz und Sicherheit in ihren Ländern. Man 
griff ſich an auf der Oberfläche der Erde, vom Himmel her, 
auf dem Meer und aus der Tiefe des großen Waſſers; oft ſchöſſe 
man blindlings auf weite Entfernung und tötete Menſchen, die 
man nie geſehen, mit denen man keine Feindſchaft habe. 

Immer mehr Länder nähmen jetzt teil. Jetzt Jet auch Bearns 
Land (Amerika) mit im Krieg. Peary ſelber ſei Herr über die ge⸗ 
worden, die in der Luft kämpften. Auf Kapitän Bartletts Schiff 
ſei ein Arzt geweſen, der habe erzählt, er ſei mit oben in der Luft 
geweſen; dort war es ſo kalt, daß er jetzt eifrig dahinter her war, 


ſich Fuchspelze zu kaufen, die er bei ſeiner nächſten Luftreiſe ver⸗ 


wenden wollte. y 

Das Land, „das jo viele angegriffen hatten“ (Deutſchland), ſei 
noch nicht überwunden, und das, obgleich es kaum noch einen Ort in 
den Ländern der weißen Männer gebe, der nicht dagegen kämpfte. 

In einem der kriegführenden Länder ſei ein großer Mann er⸗ 
ſtanden, der alle ſeine Landsleute dazu bewogen habe, ihm zu 
gehorchen, obgleich er nur ein gemeiner Soldat war (Kerenffi). 
Jetzt ſei er Herr im Lande geworden. Bevor dies geſchah, ſei die 
Rede davon geweſen, daß der Krieg aufhören würde. Aber jetzt 
wüte der Männermord wilder denn je, und es ſei zweifelhaft, ob 
jemals wieder Schiffe ins Land der Menſchen (Grönland) 
kommen würden. ' 


* * 


Auf dem Wege nach Entſatz. 313 


Die Kunde von all dieſen Neuigkeiten wirkte auf uns, als ſeien 
wir in einen Wirbelſturm gekommen! Geſtern noch zwei einſame 
Wanderer, die im öden Land einen beſcheidenen Kampf um ihr. 
eigenes und ihrer Kameraden Leben kämpften, heute wieder in 
Verbindung mit geordneten Geſellſchaftsverhältniſſen, vielleicht im 
Augenblick den idealſten der Welt, und damit auch ſofort mitten 
in den Schrecken des Krieges. Und doppelt überwältigend wirkte 
es, die Neuigkeiten durch dieſen naiven und menſchlichen Bericht 
eines Mannes zu erfahren, den der ziviliſierte Kulturmenſch als 
einen primitiven Wilden bezeichnet. Unſer eigener Kampf, neues 
Land für die Wiſſenſchaft zu gewinnen, unſere Leiden und Stra⸗ 
pazen, wie ſchwindet das alles zuſammen gegenüber den Seufzern 
von Millionen, von denen jetzt die blutende Welt widerhallt! 

Wird irgend jemand Zeit haben, innezuhalten und der Arbeit, 
die wir geleiſtet haben, ſeine Aufmerkſamkeit zu ſchenken? 

Das waren die Gedanken, die mir durch den Kopf gingen, 
während wir nach dem Lagerplatz des Eidervogels marſchierten, 
bald über die ſcharfen Blöcke der Schutthaufen ſpringend, bald 
durch kleine Flüſſe watend oder über weiche Grasflächen eilend, 
die den empfindlichen Fußſohlen eine willkommene Ruhe boten. 


* * 
* 


Es war beinahe 2 Uhr morgens, als wir die Moräne er⸗ 
reichten, auf der die Renntierjäger ihr Lager hatten. Im leb⸗ 
haften Gefühl der Freude und des Dankes, daß jetzt unſere Not 
überſtanden iſt, pflücke ich hier eine ſchöne, blühende Mohnblume 
zur Erinnerung an den Tag. Es iſt faſt ſo, als ſei ich zu Hauſe. 

Doch ehe wir zur Ruhe gingen, öffneten wir das Fleiſchdepot 
des Eidervogels und kochten Seehundfleiſch mit Speck, das mit 
einem Appetit verzehrt wurde, wie ihn nur einer kennt, der lange 
mit Hunger und leerem Magen gekämpft hat. 


* * 
* 


Die erſte Frage, die ſich aufdrängte, nachdem wir Menſchen 
getroffen hatten, war die, ob es irgendwie möglich ſei, ſofort zu 
den Kameraden zurückzukehren. Wie ſchon erwähnt, würde es 
hoffnungslos geweſen ſein, auf die Geſellſchaft des Eidervogels 
zu warten. Denn Qulutana, der ein ſehr eifriger Jäger war, hatte 


314 Zwölftes Kapitel. 


ausdrücklich erklärt, ſeine Jagd könne ſich lange hinziehen, wenn 


er nicht gleich Wild fände. Wir nahmen ſogleich eine Prüfung 
des vorhandenen Proviants vor und fanden, daß nur ein kleines 
Stück Fleiſch von einem bärtigen Seehund da war, das höchſtens 
zu einer Mahlzeit für ſieben Mann reichen würde. Dieſes Stück 
Fleiſch gehörte dem Eidervogel; außerdem hatte er ein Stück 
Speck, das für die Fütterung feiner Hunde beſtimmt war. Qulu⸗ 
tana hatte hier am Ort überhaupt kein Fleiſch. Von früheren 
Jagden her beſaß er eine Anzahl alter Depots im Lande oben, 
mit denen er gerechnet hatte. Aber wo ſie lagen, davon hatte der 
Eidervogel nicht die geringſte Ahnung. 

In dem Gelände nach Kap Agaſſiz hin konnten uns auch die 
Hunde nicht von Nutzen ſein. Das Land war ſchneefrei und 
mit Schlitten nicht zu befahren, und auf dem Inlandeis waren 
noch die vielen Flüſſe, mit denen man ſich lieber nicht einließ. 
Würden wir alſo jetzt unſern Kameraden zu Hilfe eilen, ſo 
würden wir ohne Schlitten, ohne Hunde und ohne irgendwie zu⸗ 
reichende Lebensmittel bei ihnen ankommen. Daß ſich bei einem 
raſchen Marſch nicht mit einer ordentlichen Jagd rechnen ließ, 
hatten wir eben erfahren. 

Nach der Karte und nach dem Weg, den wir mit Rückſicht auf 
das Gelände hatten zurücklegen müſſen, mußten es mindeſtens 
150 Kilometer bis zu dem alten Zeltlager ſein. Wir hatten bis 
hierher bei der höchſten Eile, die uns unſere Kräfte überhaupt ge⸗ 
ſtatteten, vier volle Tage gebraucht, und es war eine große 
Frage, ob es uns möglich ſein würde, die Strecke wieder in der⸗ 
ſelben Zeit zurückzulegen, und dann war es für uns unaufſchieb⸗ 
bar notwendig, unſere Stiefel zu trocknen. So konnten alſo leicht 
neun, zehn Tage vergehen, ehe wir wieder zu unſerm alten Lager 
zurückgelangen konnten. Es war außerordentlich zweifelhaft, ob 
Dr. Wulffs Abteilung dann noch ſtillag. Jedenfalls würde das 
gegen die Verabredungen ſein, die wir, ehe wir uns trennten, bei 
unſerm Expeditionsrat getroffen hatten. Verfehlten wir ſie in 
dem unwegſamen Gebirgsgelände bei dem Verſuch, ihnen einen 
Entſatz zu bringen, der unter allen Umſtänden nicht wirkungsvoll 
genug ſein konnte, weil er ihnen nur einen friſchen Mann mit ganz 
ungenügendem Proviant und daneben zwei ganz erſchöpfte Leute 
brachte, ſo würden wir nichts anderes erzielen, als die wirklich 


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Auf dem Wege nach Entſatz. 315 


ausreichende Hilfe, die von Etah kommen konnte, zu verhindern; 
das würde unverantwortlich ſein. Ich beſchloß daher ohne Zögern, 
die Reiſe nach Etah fortzuſetzen. 


; Fünfter Tag. 

209. Auguſt bis 1. September. 

Mittag, 29. Auguſt. Mit dem geſtrigen Tag ſcheint die Spannung 
der Expedition beendet zu ſein. Wenn nur die Kameraden nicht zu 
viel Widerwärtigkeiten zu überwinden haben! Ich ſelbſt ſtehe ſchon 
: heute vor dem Abſchluß, zum erſtenmal ſeit langer Zeit in ruhigem 
Waſſer. 

Jetzt gilt es nur noch, ſo lange auszuhalten, daß Etah ohne 
Schlaf erreicht werden kann und daß dort die Hilfsſchlitten aus⸗ 
gerüſtet und abgeſchickt werden können. 

Bei unſern Vorbereitungen zum Aufbruch entſchloß ich mich 
ohne weiteres, die Hunde der abweſenden Renntierjäger zu ent⸗ 
führen. Ich weiß, daß ſie mir verzeihen werden, ſobald wir uns 
begegnen, und außerdem werden ihnen ja die Hunde umgehend 
von Etah zurückgeſchickt. Leider kann keiner von den Jägern leſen, 
wir müſſen daher unſere Zuflucht zur Bilderſchrift nehmen. Die 
Aufgabe wird auf die Weiſe gelöſt, daß Ajako eine Karte der 
Küſte zeichnet, unſern letzten Weg über das Inlandeis nach der 
Peabodybai einträgt und in der Bai vier Männer zeichnet; dann 
ſieht man drei Mann bei dem Lagerplatz der Renntierjäger und 
zwei Schlitten, die nach Etah fahren, und endlich darunter alle 
Hilfsſchlitten, die nach dem großen See am Inlandeis eilen. 
Dann fangen wir die Hunde ein. Die meiſten ſind frei und 
recht biſſig und ſcheinen nicht ſonderlich begeiſtert davon zu ſein, 
ſich von Fremden einfach ſtehlen zu laſſen. Aber es gelingt 
uns doch, und im Verlauf einer Stunde haben wir fie alle vor⸗ 
geſpannt. 

| Dann treten wir das letzte Stück der Reife an, das hier nur 
ganz ſummariſch wiedergegeben werden ſoll, da wir jetzt wie große 
Herren mit friſchen Geſpannen reiſen. 

Die Tage verlaufen wie folgt: 

29. Auguſt. Erwachen 10% Uhr vormittags. Kochen, eſſen 
und fangen die Hunde ein. Aufſtieg zum Inlandeis 3 Uhr nach⸗ 
mittags. 


316 Zwölftes Kapitel. 


30. Auguſt. Werden um 12 Uhr nachts von einem plötzlichen 
Sturm und Schneetreiben überfallen. Warten einige Stunden 
im Schutz der Schlitten. Fahren dann weiter, da es aufklart. 

30. Auguſt. Um 2 Uhr nachmittags auf dem Etahlande im 
Nordſturm. Die Schlitten werden am Gletſcherrand zurückge⸗ 
laſſen. Nach einer ſehr anſtrengenden Wanderung über die Berge 
kommen wir um 9 Uhr abends zum Wohnplatz. 

In der Nacht zum 31. Auguſt und dem darauffolgenden Tag 
werden die Hilfsſchlitten ausgerüſtet, am 1. September reiſen 
ſie ab. 

Ankunft in Etah. 


Als ein unvergeßliches Ereignis hebt ſich die Ankunft in Etah 


von dem Hintergrunde ab, den die Erlebniſſe der letzten fünf 
Monate bilden. 

Alle Bewohner von Etah waren in das Haus der Crockerland⸗ 
Expedition eingezogen. Da niemand draußen war, kamen wir bis 
dicht heran, ohne entdeckt zu werden. Aber dann erblickte man uns 
durch die Fenſter, und nun wälzten ſie ſich heraus, Männer, Frauen 
und Kinder, wie Lava bei einem vulkaniſchen Ausbruch, und über⸗ 
wältigten uns mit lauten Willkommenrufen in einem jubelnden 
Durcheinander! 

In demſelben Augenblick, da wir die Schwelle zwiſchen Tod 
und Leben, zwiſchen der großen, ſchweigenden Ode und dem kleinen, 


ſorgloſen Wohnplatz überſchritten hatten, waren wir plötzlich in 5 


einem Gedränge von Menſchen. Der Lärm war betäubend. Von 
allen Seiten lachte man uns entgegen. Herzliche Worte klangen 


uns in die Ohren, Fragen regneten auf uns herab, und es war, 


als ob hohe Wogen über unſern Köpfen zuſammenſchlügen und 
uns verſchlängen. 


* * 
* 


Das Winterhaus der Croderland-Expedition iſt jo gebaut, 
daß man von außen durch einen Vorraum, der die Breite des 
ganzen Hauſes hat, in eine geräumige Stube kommt; ſie hat etwa 
in der Mitte einen Ofen, und iſt teils als Küche und Eßzimmer, 
teils als Wohnſtube eingerichtet mit Sitzplätzen an den Wänden. 
Von hier führen Türen rechts und links und im Hintergrund nach 
ſechs kleinen Räumen. 


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Auf dem Wege nach Entſatz. 317 


In den kleinen Stuben wohnten jetzt ſechs Familien, die in 
Frieden und Eintracht mit der gemeinſamen Küche im Hauptraum 
lebten. Alle dieſe reſpektablen Hausfrauen wetteiferten, uns auf 
einer großen, langen Tafel, die mitten in der Wohnſtube ſtand, 
etwas zu eſſen vorzuſetzen. Es war eine Tafel, reich beſetzt mit 
Überbleibſeln von der reichen Crockerland⸗Expedition. Ein paar 
kamen mit Pemmikan, andere mit Keks, Schüſſeln wurden auf⸗ 
getragen mit Kartoffeln, eingemachten Tomaten, Bohnen und 
Schinken, Hafergrütze mit Sirup, gebratenen Haſen, gekochtem 
Seehundfleiſch, Möwen in Reisſuppe mit getrockneten Rüben und 


Spinat, Tee und Kaffee king 
hinterher, mit echtem ame⸗ , 2 | re 


rikaniſchen Tabak. 
Das Ganze wirkte auf N 
uns wie eine Halluzina⸗ Ill | 
tion, eine von denen, wie ' 
fie uns während unjerer 
Hungerperiode zu narren 
pflegten. Als die Wirk⸗ 
lichkeit allmählich greifbar 
wurde durch den kräftigen 
Duft, der uns in die 
Naſe ſtieg, war es uns, 
als erlebten wir eins Harald Moltke 
von Aladins Abenteuern. Männer, Frauen, Kinder eilten heraus. 
Dieſer Überfluß benahm uns den Atem. Hier war etwas für einen 
Appetit, der geſchärft worden war durch eine ein halbes Jahr 
durchgeführte Zwangswirtſchaft und durch den anſtrengenden End⸗ 
ſpurt der letzten 34 Stunden. Die Schwierigkeit war nur die: an 
welchem Ende des Tiſches lohnte es ſich am meiſten anzufangen? 


* * 
* 


Ich war mir unterdeſſen klar darüber, daß wir zunächſt mit 
dem Eſſen ſehr vorſichtig ſein müßten, da unſer Magen lange Zeit 
nur ſpärliche und ganz eintönige Koſt gewöhnt war. Trotz aller 
Proteſte ſeitens unſerer Wirte und Wirtinnen, trotz des Wolfs⸗ 
hungers, der durch den köſtlichen Duft der vielen, langentbehrten 
Herrlichkeiten noch verſchärft wurde, hielt ich an mich und machte 


318 Zwölftes Kapitel. 


einen ehrlichen Verſuch, ſowenig wie möglich zu eſſen. Denn wie 
ärgerlich, wenn unſere Ankunftsfreude von einer elenden, pro⸗ 
ſaiſchen Kolik beeinträchtigt würde! 

Es war ein Feſtmahl nach den beſten europäiſchen Muſtern. 
Selbſt Orcheſtermuſik fehlte nicht. Ein eben angekommenes, nagel⸗ 
neues Grammophon war mitten in dem Überfluß aufgeſtellt und 
gab ein großes, abwechſlungsreiches Repertoire zum beſten, das 
ſich von Wagner bis zu den jüngſt importierten Tangos aus 
Argentinien und Paris erſtreckte. 


Wir fühlten, daß ſich die Pforte des Lebens wieder weit auf 


getan hatte. Und wenn wir auch nur bei den alleräußerſten Vor⸗ 
poſten der Menſchheit im Norden waren, hatten wir doch ein 
Echo aus der ganzen Welt vernommen, der wir ſelber angehörten. 
unwillkürlich mußte ich die Augen ſchließen, um mich wieder etwas 
zu ſammeln; ich fühlte, wie es in den Schläfen hämmerte und wie 
das Herz klopfte. Und als das Orcheſter nach einer kleinen Pauſe 
das Menuett aus „Don Juan“ zu ſpielen anfängt, ſchwindet Etah 
ganz aus meinem Bewußtſein. Ich bin im Pfarrhaus zu Lynge 
und höre nicht länger das Grammophon. Es iſt meine Schweſter, 
die auf dem alten Klavier das Menuett ſpielt. Ein Fenſter in den 
Garten hinaus ſteht offen. Eine milde Briſe läßt die Weinranken 
an die Scheiben ſchlagen. Ein Duft von Sommer und Blumen 
ſtrömt herein, und ich höre das bekannte, geliebte Sauſen im Laub 
der großen Lindenbäume. Um mich her ſitzen alle, die ich lieb⸗ 
habe, und lauſchen andächtig der lieblichen Melodie Mozarts. — 

Wieder eine kleine Pauſe, dann ſpielt die Muſik von neuem. 
Jetzt ſind es Reminiſzenzen aus Chopin, eine Phantaſie über eine 
Mazurka, ein Walzer und die berühmte Polonäſe. Die Szene iſt 


jetzt eine andere: Ich bin daheim in meinen eigenen Zimmern, 


meine Frau ſitzt am Flügel; wir find allein mit den Kindern. Ein 
tiefer Friede hat ſich auf unſer Gemüt geſenkt, eine Dämmerungs⸗ 
ſtimmung, in der die Stille nur unterbrochen wird, wenn ein 
Wagen durch die Straßen rollt oder wenn ein Automobil vorbei⸗ 
faucht. 

Wieder muß ich die Augen ſchließen, um das Bild feſtzuhalten. 
Wie ein fernes Summen höre ich unſern Eskimofreund Ajako 
von den Walroßjagden des Sommers erzählen; wie durch einen 
Nebel ſehe ich die Frauen des Hauſes, die ſich jetzt, da ihre Haus⸗ 


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Auf dem Wege nach Entſatz. 319 


frauenpflichten erfüllt ſind, auf ihre Schlafbänke geſetzt haben, 
um ihren unruhigen Kleinen den Mund mit dem Überfluß ihrer 
Brüſte zu füllen. 

Eine Tür ſpringt auf, und Geheul der Schlittenhunde über⸗ 
tönt für einen Augenblick die Muſik. Faſt hatte ich vergeſſen, daß 
noch zwei Weltmeere zwiſchen den Heimwehviſionen und der Gegen⸗ 
wart liegen. — Ich bin wieder in Etah. Jetzt heißt es für die 
Kameraden zu arbeiten, die noch oben in Inglefieldland liegen 
und auf Hilfe warten. Die Schlitten müſſen ausgerüſtet und ſo⸗ 
fort abgeſandt werden. 


Eine Enttäuſchung. | 

Sobald [id die erſte durch die Ankunft entſtandene Verwirrung 
gelegt hatte, mußte ich mir, ehe ich etwas unternehmen konnte, 
einen Überblick über unſere jetzige Lage verſchaffen und feſtſtellen, 
was eigentlich für die Ausrüſtung der Hilfsexpedition vorhanden 
war. Es waren nur zwei Briefe für mich da, einer von Peter 
Freuchen in Thule und einer von Kapitän Comer. Freuchens 
Brief trug kein Datum; er war vermutlich urſprünglich mit der 
„Danmark“ geſchickt. Neben verſchiedenen Neuigkeiten aus Thule 
teilte er mir auch mit, daß er mir eine Kiſte mit Proviant und 
verſchiedenen Leckereien ſchicke, darunter ein Faß Bier, das zur Feier 


. unſerer Ankunft getrunken werden ſollte. Der Brief war ganz 


Freuchen, freundlich und herzlich. Die erſte Botſchaft von Freund 
zu Freund, die ich hier empfing. Aber leider hatten die lieben 


Amerikaner vergeſſen, die Sendung auszuladen, die namentlich in 
unſerer jetzigen Lage doppelt willkommen geweſen wäre. 


Kapitän Comer, der ebenfalls einen warmen Willkommengruß 
geſchickt hatte, berichtete, der bekannte Eismeerfahrer „Neptun“ 
habe die Crockerland⸗Expedition aufgeſucht. Der „Neptun“ hatte 
die „Danmark“ etwa bei Kap Parry getroffen und die auf ihr 


befindlichen Expeditionsgüter übernommen. Die „Danmark“ war 


darauf nach Südgrönland zurückbeordert worden. Außer dieſem 
Brief hatte der aufmerkſame Kapitän ein paar Zeitungen mit 
den letzten Neuigkeiten zurückgelaſſen, die ſelbſtverſtändlich nicht 
weniger willkommen waren als der Brief ſelbſt. 

Von dem Chef der Crockerland⸗Expedition Mr. Donald 
Me Millan war kein Wort für mich da, was mich offengeſtanden 


320 Zwölftes Kapitel. 


enttäuſchte, da ich ihm nach unſerer Abreiſe zweimal Briefe mit 
dem Hilfsſchlitten geſandt hatte. 

Noch eine Enttäuſchung ſollten wir erfahren. Als wir Thule 
verließen, hatte man nichts davon gewußt, daß das Komitee der 


Crockerland⸗Expedition noch ein Schiff — das fünfte der Expe⸗ 


dition — nach Me Millan ausſchicken würde. Unter der Voraus⸗ 
ſetzung, daß die „Danmark“, wie es von Haus aus angeordnet 
war, die Reiſe nach Etah machen würde, hatte ich Kapitän Hanſen 
gebeten, unſer Motorboot mit nach Etah zu nehmen. Allerdings 


hofften wir beſtimmt darauf, daß „Kap York“ kommen und uns 


holen würde. Wenn ſie ausblieb — alles war ja infolge der 
Kriegsverhältniſſe ganz unſicher —, ſo hatten wir Petroleum 
genug, um im Motorboot der Station über die Melvillebudt, 
zu fahren und in Südgrönland in Verbindung mit einem der 
Schiffe der Grönländiſchen Handelsgeſellſchaft zu kommen. Jetzt 
zeigte ſich aber, daß der Führer des „Neptun“, der erwähnte 
Kapitän Bartlett, ſich ſtrikte geweigert hatte, das Motorboot, 
das wir ſo ſicher in Etah zu finden hofften, mitzunehmen. Jetzt, 
da alle Arbeit beendet war, würden wir uns nur ſehr ungern 
einer neuen Überwinterung in Nordgrönland ausſetzen; das würde 
für uns ein ganzes verlorenes Jahr bedeuten. 

Da ich in einer von Kapitän Comers Zeitungen zufällig von 
der reichen Proviantausrüſtung geleſen hatte, die mit dem 
„Neptun“ an Mr. Me Millan gelangt war, fragte ich die Es⸗ 
kimos, ob dieſer nicht ein paar Kiſten für uns hinterlaſſen habe, 
ſo daß wir in der Zeit, die es uns koſten würde, von Etah nach 
Thule zu kommen, nicht von allem entblößt waren. Me Millan 
wußte ja, daß wir von der Nordküſte von Grönland über das 
Inlandeis nach den Wohnplätzen hier kommen würden. Als er⸗ 
fahrener Polarforſcher wußte er, daß wir faſt ohne alles hierher 
zurückkommen würden; es war alſo begreiflich, daß wir bei unſern 
langen Märſchen oft die Möglichkeit erörtert hatten, daß unſer ameri⸗ 
kaniſcher Kollege einige Rückſicht auf unſere Lage nehmen würde. 


Eine ſolche Hoffnung war um ſo mehr angebracht, als wir nicht 


nur während unſerer langen Nachbarſchaft gut miteinander be⸗ 
kannt geworden waren, ſondern einander auch bei verſchiede⸗ 
nen Gelegenheiten ausgeholfen hatten, wie es Sitte iſt, wenn 
weiße Männer ſich außerhalb der Grenzen der Ziviliſation 


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Auf dem Wege nach Entſatz. 321 


begegnen. Für alle Fälle hatte ich indeſſen vor meiner Abreiſe 
Kapitän Hanſen gebeten, ein kleines Depot für uns anzulegen, 
falls er Etah verließe, ehe wir da waren. Da die „Danmark“ 
gar nicht in Etah geweſen war, war es eine doppelte Enttäuſchung, 
daß wir weder Proviant noch Motorboot vorfanden. 

Doch zurück zum Augenblick! Wir ſind ja jetzt unter Menſchen, 
und die Eskimos am Wohnplatz, die mit der Expedition während 
ihres Aufenthaltes hier verknüpft geweſen ſind, haben als Be⸗ 
lohnung die Reſte von MeMillans altem Überwinterungs⸗ 
proviant erhalten, der im weſentlichen aus Hunde⸗Keks, getrock⸗ 
netem Gemüſe, Bohnen und Salzfleiſch in reichlichen Mengen 
beſtand. Hilfreich und freigebig wie immer, haben ſie mir alles, 
was ich wünſchen konnte, zur Verfügung geſtellt. Aber es wäre 
doch weſentlich angenehmer geweſen, ſelbſt etwas zu haben, und 
ſei es auch noch ſo wenig. 


* *. 
* 


Immer wieder habe ich auf meinen Reiſen die Erfahrung 
gemacht, daß man den beſten Eindruck von den Eskimos bekommt, 
wenn man als armer Mann, der nichts beſitzt, zu ihnen kommt. 
Hat man große, reiche Vorräte, ſo können ſelbſt die beſten Freunde 
bei dem, was ſie für einen tun, auf eine Bezahlung ſpekulieren. 
Hat man dagegen nichts, ſo tun ſie doch alles für einen mit der⸗ 
ſelben Freude und Freigebigkeit, nur von ihrem guten Herzen 
getrieben. 

So auch jetzt, obwohl ſie ſelber ihre Vorräte nötig brauchen, 
da die Sommerjagd auf Walroſſe ganz fehlgeſchlagen iſt. Aber 


ſie ſind freigebig wie immer und wetteifern miteinander, mir alles 


zur Verfügung zu ſtellen. Einſtimmig ſchallt es mir entgegen: 
„Alles hier iſt dein, unſer Haus, unſer Proviant und unſere 
Hunde: uns ſelber kannſt du ſchicken, wohin du willſt, um deinen 
Kameraden zu helfen. Mit Freuden machen wir uns alle auf 
den Weg!“ 

Ich unterſuche ſofort den Proviant und ordne alles für die 
Entſatzſchlitten. Die ganze Nacht und der nächſte Tag vergehen 
mit Vorbereitungen. Schlitten und Hunde ſind den ganzen 
Sommer nicht gebraucht geweſen, ſo daß vieles nachzuſehen und 
zu erneuern iſt. Endlich, am 1. September, um 12 Uhr mittags, 

Rasmuſſen. 21 


322 Zwölftes Kapitel. 


iſt alles fertig; ſechs Mann und fünf Schlitten brechen auf. Das 
Gepäck wird in zwei Booten, die Hunde auf dem Landwege nach 
dem Ende des Foulkefjords gebracht. — Schon am nächſten Tage 
werden ſie unten im Renntierlande ſein. Sie haben den Be⸗ 
fehl, nicht weiter als bis zu dem großen See mit den Eisbergen 
zu gehen, den Ajako und ich nach zwei Tagemärſchen erreichten. 
Hier ſoll ein Steinmal gebaut und der Hauptproviant zurück⸗ 
gelaſſen werden, während die übrigen, die ebenfalls Proviant 
mitführen, das Gelände in verſchiedenen Richtungen abſuchen 
ſollen. Aber da meine Verabredung mit Dr. Wulffs Abteilung 
darauf hinausläuft, daß fie — jedenfalls Harrigan und der Boots⸗ 
mann — verſuchen ſollen, ſo raſch wie möglich nach Süden bis zu 
dieſem See zu kommen, ſo kann es kaum viele Tage dauern, bis 
die Helfer mit ihrem Proviant die Verbindung mit unſern 
Kameraden hergeſtellt haben. 


% * 
* 


1. September. Ajako und ich ſtehen auf einem Vorſprung und 
verfolgen die Boote mit den Augen. Wie wohltuend, wieder 
Menſchen zu ſehen, die ihre Kräfte nicht zu ſchonen brauchen! 
Alle Eindrücke ſind ſo neu für uns, alles, was wir ſehen, iſt ſo ver⸗ 
ſchieden von dem, was wir bisher ſchauten! 

Vor uns liegen die grasbedeckten Abhänge des Etahlandes, 
die, von Millionen von Krabbentauchern reich gedüngt, wie hän⸗ 
gende Gärten zwiſchen den Schluchten wirken. Nach Weſten das 
offene, lebendige Meer, das nicht von der toten Ruhe des Polar⸗ 
eiſes gefeſſelt iſt, der Geruch des Salzwaſſers und der herbe Duft 
des Tanges, den wir mit offenen Nüſtern einſaugen — wie ver⸗ 
ſchieden von dem flauen Süßwaſſer der Oſtküſte! 

Ajako beugt ſich herab, füllt die hohle Hand mit Fjordwaſſer 
und führt ſie zum Geſicht hinauf, um die ſalzige Friſche ein⸗ 
zuatmen und zu fühlen. 

In dieſen Tropfen riecht er das Fleiſch von Walroß, Narwal 
und Seehunden, das Fleiſch all der fetten Seetiere, die uns jetzt 
gute Tage bereiten ſollen. Herrliches Meer! Ich kenne dich 
wieder! Jetzt bin ich daheim! | 


Ein Seehund ſteckt draußen im Fjord den Kopf empor und 1 
ſieht ſich neugierig nach den Booten um, die, ohne ihn zu be: 


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ten, re Fahrt 5 e Lange hört man den taktfeſten 
lag der Ruder: Lachen miſcht ſich mit den Rufen derer, die an 


verſchwinden ſie hinter einer Landzunge, und ringsum wird alles 
wieder till. 
Der r Bjorbminb, der tagsüber friſch vom er 558 


f jollen leuchtet. 
1% Ein e ungewohntes Friedensgefühl ſenkt fh über unſer 


215 


Dreizehntes Kapitel. 
Der Wettlauf mit dem Tod. 


Dr. Wulff erliegt den Anſtrengungen der Reije. 


10. September. Wulff iſt tot! Heute gegen Abend kamen 
die Hilfsſchlitten mit Koch, Harrigan und dem Bootsmann zurück. 

So hatte er alſo doch nicht mehr die Kräfte, weiterzukommen, 
ſondern hatte den Kampf aufgeben müſſen, gerade, als er Land 
erreicht hatte und nicht weit von Menſchen entfernt war. Dieſer 
letzte Todesfall kam mir ganz unerwartet. Wohl wußte ich, daß 
Wulff erſchöpft war; aber das waren wir ja alle miteinander. 
Daß es zum Tode führen könnte, daran hätte ich zuallerletzt 
gedacht, als Ajako und ich von ihm Abſchied nahmen. 

Ein unſagbar tragiſcher Tod! Gerade, als er alle Gefahren 
und Strapazen überwunden hatte und endlich gerettet ſchien. Ich 
verſtehe es nicht — ich verſtehe es wirklich nicht! — 

Und doch iſt es wahr; den Mann, mit dem ich lange Zeit 
hindurch Gutes und Böſes geteilt habe, ſoll ich niemals wieder⸗ 
ſehen! Nun iſt er ebenſo wie Hendrik, ſein Schlittenkamerad, zur 
großen Ruhe eingegangen! 


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Sobald mir mitgeteilt wurde, daß ſich Leute aus dem Foulke⸗ 
fjord näherten, ließ ich die Boote zur Abfahrt klarmachen, während 
wir die Vorbereitungen für den Empfang trafen, den wir ihnen 
zugedacht hatten. Da mir aber berichtet wurde, einige der Leute 
ſeien ganz nahe, ging ich ihnen entgegen, um zu hören, was fie 
Neues brächten. Ich war erſtaunt, Koch unter ihnen zu ſehen, 
denn es war verabredet worden, daß Koch mit Wulff im Boot 
abgeholt werden ſollte; aber als ich näher kam, ſetzte Koch ſich auf 


Der Wettlauf mit dem Tod, 325 


einen Stein nieder, bleich und wortlos, und die Tränen, die über 
ſeine Wangen rollten, erzählten mir alles, was ich zu wiſſen 
brauchte. i 
Eine Kataſtrophe hatte die Expedition getroffen. Wulff war 
tot, im letzten Kampf um das Leben gefallen. 


* * 
* 


Sobald Koch und ich uns nach dem traurigen Wiederſehen 
wieder geſammelt hatten, erſtattete er mir Bericht über alles, was 
ſeit dem 25. Auguſt vorgefallen war. Im folgenden gebe ich 
ſeinen ſchriftlichen Bericht wieder, der alle Einzelheiten enthält. 


Kochs Bericht. 


| Am 25. Auguſt waren Wulff und ich zum letztenmal mit 
Knud Rasmuſſen und Ajako zuſammen. Der Abſchied trug für 
Wulff und mich ein feſtliches Gepräge; wir glaubten, daß nun 
wieder eine hellere Zukunft vor uns liege. Wir vertrauten darauf, 
daß unſere Kameraden Kräfte genug haben würden, um zu Men⸗ 
ſchen zu gelangen, und die Erfahrungen, die Ajako auf ſeiner Jagd 
hier gemacht hatte, bewieſen, daß es in der nächſten Umgebung 
genug Haſen für ein paar Ruhetage und für eine langſame 
Reiſe in der Richtung nach Etah geben mußte. 

Von Ajakos fünf Haſen bereiteten wir im Laufe des 25. zwei 
SØ reichliche Gerichte; eine Anzahl der fleiſchigſten Stücke, im ganzen 
etwas mehr als ein Haſe, wurde als Reiſeproviant für die Ka⸗ 
meraden zurückgelegt; jo kam bei unſerm Mahl ein ganzer aus- 
gewachſener Haſe auf den Mann. Zum erſtenmal ſeit langer 
Zeit fühlte ich mich wirklich ſatt. Nur Wulff hatte wie gewöhnlich 
ſeine Ration bis abend 8 Uhr noch nicht aufgegeſſen. Er gab 
mir ein Stück, und als ich ablehnte, erklärte er, es ſei ihm ganz 
unmöglich, mehr zu eſſen. 5 

| Während dieſer Mahlzeit gab er mir eine ausführliche Er⸗ 
Klärung ſeines körperlichen Befindens. Er gebrauchte zum erften- 
mal von ſich den Ausdruck, er ſei im Sterben, eine Bezeichnung, 
| die mir damals übertrieben ſchien, da er gleichzeitig meinte, ein 
paar Ruhetage und Renntierfleiſch würden ihn wieder reiſefähig 
machen. 


Er ſprach von der Reife über das Inlandeis wie von einem 


326 Dreizehntes Kapitel. 


böſen Traum, aus dem man nun erwacht ſei, und wartete auf 
die Rückkehr Inukitſogs und des Bootsmanns mit ungeduldigem 
Verlangen, denn er betrachtete es als ganz ſicher, daß ſie mit Renn⸗ 
tierfleiſch zurückkommen würden. 

Als ich einwendete, daß wir uns vielleicht noch einige Zeit 
mit Haſenfleiſch begnügen müßten, ſchob er dieſe Möglichkeit mit 
Unbehagen von ſich und erklärte, er habe ſchon lange Zeit einen 
wahren Ekel vor Fleiſch gefühlt. Renntiertalg dagegen würde ihn 
bald wieder auf die Beine bringen. 

Er ſprach lebhaft und viel, meiſtens von dem Neiſepto 
den er auf zukünftigen Reiſen verwenden würde. Gegen Mitter⸗ 
nacht bat er mich etwas Waſſer zu kochen, das er warm trinken 
wollte, ehe er einſchlief, da er an die Finger fror. Dann deckte 
er ſich für die Nacht zu, und ich ſelbſt ging zur Ruhe. 

Alle dieſe neuen Eindrücke bewirkten, daß ich nicht ſchlafen 
konnte. Um 2 Uhr morgens ging ich daher ein Stück bergan. 
Ich ging langſam und planlos, eigentlich nur um zu erproben, 
wieviel Kräfte ich noch hätte. Die erſten ſteilen Abhänge hinan 
koſtete jeder Schritt Energie, und ich mußte mir eingeſtehen, daß 
ich ſehr kraftlos ſei. Von der Höhe oben ſah ich einen Haſen und 
kletterte wieder zu unſerm Lagerplatz hinab, um ein Gewehr zu 
holen. Der Haſe war jedoch ſehr ſcheu, und ich mußte die Jagd 
raſch wieder aufgeben und müde und hungrig zum Lager zurück⸗ 
kehren. Noch immer waren die Jäger nicht zurückgekommen, und 
da Wulff wach war, beſchloſſen wir, das Hundefleiſch zu 1 
das von dem letzten Tag auf dem Gletſcher übrig war. I. 

Wulff wollte nur ein kleines Bein haben, trank aber zwi 
große Taſſen von der warmen Brühe. 

Um 9 Ahr vormittags des 26. ſchlief ich ein und erwachte erſt, 
als Inukitſoq neben mir ſtand. 

Das Ergebnis der zweitägigen Jagd war nur ein Haſe ge⸗ 
weſen, der längſt verzehrt war. Die Jagd war wegen des dichten 
Nebels, der beſtändig über dem von ihnen durchſuchten Gelände 
gelegen hatte, ganz mißglückt. Der Bootsmann hatte nicht mehr 
viel Kräfte übrig, und auch Inukitſog war müde. 

Inukitſoq und ich eroberten nun verſchiedene Pläne. Wir 
hatten aber nur zwiſchen zweien zu wählen. Entweder wir brachen 0 
ſofort auf und bewegten uns langſam in der Richtung auf die 


Der Wettlauf mit dem Tod, 327 


Marſhallbai zu, wo wir, ſobald die Kameraden Etah erreicht 
hatten, erwarten konnten, Menſchen zu treffen; wir konnten kleine 
Tagemärſche machen und eſſen, was die Jagd uns lieferte. Oder 
Inukitſog und der Bootsmann konnten noch eine Renntierjagd 
verſuchen. Dieſer letzte Plan ſchien mir jedoch zu gewagt; noch 
zwei Tage ohne Jagd würden eine beträchtliche Erſchöpfung be⸗ 
deuten, namentlich für die Jäger, die ja, wenn wir ſie nicht be⸗ 
gleiteten, das Fleiſch raſch zu uns zurückbringen müßten. Nein, 
nur eins blieb zu tun. Wir mußten ſelber mitgehen, ſofort auf- 
brechen, ſolange wir noch Kräfte hatten, und das Jagdglück ge⸗ 
meinſam verſuchen. 

Ich teilte Wulff das Ergebnis meiner Beratung mit, ſprach 
aber ſonſt nicht viel mit ihm, da wir jetzt ſtark beſchäftigt waren, 
uns reiſefertig zu machen. Wir ließen alles zurück. Jeder nahm 
nur ein Paar Reiſeſtiefel mit und eine Decke. Wulff zog es vor, 
ſtatt der Decke ſeinen Renntierpelz mitzunehmen. Ferner nahmen 
wir einen Drilling mit etwa 30 Gewehrpatronen und eine Doppel⸗ 
flinte mit 70 Schrotpatronen mit. Wulff ließ ſeine wiſſenſchaft⸗ 
lichen Tagebücher und ſeine Sammlungen zurück, ich nahm meine 
kartographiſchen und geologiſchen Aufzeichnungen und Skizzen mit. 
| Um 4 Uhr nachmittags machten wir uns auf den Weg, aber 
ſchon nach 20 Minuten wollte Wulff aufgeben und zu dem alten 
Lager zurückkehren. Wir taten alles, um ihn zu bereden, weiter mit⸗ 
zugehen; hier allein zu bleiben würde den ſicheren Tod für ihn be⸗ 
deuten, ſofern wir nicht beſſere Jagderfolge erzielten. Es gelang 
uns denn auch, ihn mitzubekommen. Eine halbe Stunde ſpäter 
ſchoß Inukitſog den erſten Haſen, den wir roh zu eſſen beſchloſſen, 
da wir alle ſehr hungrig waren. Ich bat Inukitſog, jetzt und in 
Zukunft die Verteilung der Rationen vorzunehmen. Er teilte 
den Haſen ſo, daß Wulff das ganze Fleiſch bekam, während wir 

andern uns in die Eingeweide teilten, eine Verteilung, der 
Wulff energiſch widerſprach. Inukitſog gab Wulff immer mehr 

Fleiſch als uns, weil er meinte, er habe es am nötigſten. Erſt 
als es ſich jedesmal von neuem zeigte, daß Wulff ſeinen Teil nicht 
aufaß, wurden die Portionen gleichmäßiger. Das rohe, friſche 
Fleiſch aßen wir alle mit großem Appetit, und Wulff äußerte, 
es ſei vielleicht geſünder für ihn als das gekochte, das er ſatt hätte. 
Trotz unſeres kleinen Jagderfolgs war ſeine Stimmung doch ſehr 


328 | Dreizehntes Kapitel. 


gedrückt. Er ſchien auf dem Punkt zu ſein, ganz den Mut zu ver⸗ 
lieren. Der ſchroffe Übergang von der Ruhe auf den Fellen, mit 
der Ausſicht auf Renntierfleiſch und Talg, zu einem neuen Kampf 
auf Leben und Tod wirkte rein pſychiſch ſehr ſtark auf ihn ein. 
Wir hatten das Depot bei hellem, klarem Sonnenſchein verlaſſen. 
Jetzt kam die Nachtkälte, und der Nebel legte ſich über das Land. 
Das Gelände, das wir durchwanderten, war ſehr durchſchnitten, 
und die Troſtloſigkeit des Nebels und das beſtändige Hinunter⸗ 
und Hinaufklettern in den Schluchten griffen Wulff ſo an, daß 
ich zu fürchten begann, er ſei jetzt daran, den Willen zum Leben 
ganz zu verlieren. 

Ungefähr um Mitternacht lagerten wir. Inukitſog hatte zwei 
junge Haſen erlegt, die wir ſofort kochten. Trotz aller Vor⸗ 
ſtellungen aß Wulff nur die Hälfte ſeiner Ration und gab die 
andere Hälfte dem Bootsmann. „Wenn ich einen Biſſen mehr 
eſſe, breche ich alles wieder aus“, erklärte er. Die Haſenbrühe 
dagegen trank er mit Wohlbehagen. — Inukitſog ging wieder 
auf die Jagd und kam zwei Stunden nach Mitternacht abermals 
mit einem Haſen zurück. Auch dieſer wurde gekocht. Wulff hob 
ſeine ganze Portion für den nächſten Tag auf, und dann ver⸗ 
ſchenkte er die Hälfte. 

Der Tag war über alles Erwarten günſtig verlaufen. Wir 
waren nur ein paar Kilometer gegangen, hatten lange ſchlafen 
dürfen und jeder hatte einen jungen Haſen zu eſſen bekommen; 
aber Wulff klagte andauernd. Ich begann jetzt zu glauben, daß 
ſein Ausdruck, er ſei im Sterben, doch nicht zu ſtark geweſen war. 
Aber wie ſollte es uns glücken, die Lebensluſt bei ihm zu wecken, 
wenn er nicht eſſen konnte? Nur ein Renntier konnte ihn retten. 
Aber wie ſollten wir ihn ſo weit vorwärtsbringen, wenn er ſelbſt 
den Mut verlor? 

Am nächſten Tag, 27. Auguſt, zogen wir weiter, nach einer 
Raſt, die für Wulff und mich 13 Stunden gewährt hatte. Wir 
hatten alle gut geſchlafen, auch Wulff. Und doch ſchien er zu 
unſerm Kummer heute noch weniger Kräfte zu haben als geſtern. 
Obgleich wir ſehr langſam gingen, mußten wir den ganzen Tag 
ununterbrochen auf ihn warten. Er klagte heute viel über ſein 
Herz und über zunehmende Blutarmut. Immer wieder fragte er 
mich nach den Verhältniſſen in däniſchen Sanatorien und ſprach 


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Der Wettlauf mit dem Tod. 329. 


von Haferſuppe, Eiern, Malzextraft und andern nährenden 
Dingen. 

Wir hatten zu 4 Kilometer drei Stunden gebraucht. Inu⸗ 
kitſog hatte bereits den erſten jungen Haſen geſchoſſen. Kurz 
darauf ſchoſſen er und der Bootsmann jeder einen Haſen, und auf 
Vorſchlag von Wulff machten wir uns gleich daran, ſie zu kochen. 
Während wir Brennmaterial ſammelten und kochten, ſchlief Wulff 
ununterbrochen. Das dauerte zwei Stunden. 

Als die Haſen gekocht waren, wollte Wulff wie gewöhnlich faſt 
nichts eſſen. Dagegen trank er etwas Suppe, die ihn wärmte und 
anregte. Nach dieſer Mahlzeit ſchliefen wir wieder ein paar 
Stunden und ſetzten dann um 7 Uhr abends ſatt und ſchwer unſern 
Marſch fort. Nach einer halben Stunde ſchießt Inukitſog einen 
Haſen und, ermutigt von dieſem beſtändigen Jagdglück, lagern 
wir abends ſchon um 9 Uhr. Der Bootsmann begibt ſich ſogleich 
auf die Jagd und kommt um Mitternacht mit einem Hajen zurück. 
Zum zweitenmal kochen wir heute Fleiſch — Wulff hat noch von 
der vorigen Mahlzeit Fleiſch übrig. Wieder gibt er es weg, da er, 
wie er ſich ausdrückt, „einen Ekel vor Fleiſch hat“. Aber wie ſoll 
er feine Kräfte wiedergewinnen, wenn er ſich trotz aller unſerer 
Vorſtellungen ſtändig weigert, ſeine Rationen aufzueſſen? Er 
magert von Tag zu Tag mehr ab. i 
i Wieder haben wir einen guten Reiſetag, kurze Entfernungen, 

viel Ruhe, viel Fleiſch. Obgleich Wulff über ſein Herz, ſeinen 
Magen und über ſeine entſetzliche Entkräftung klagt, macht er doch 
beſtändig botaniſche Beobachtungen, die von einer noch erſtaunlich 


friſchen Beobachtungsgabe zeugen und von einem Gedächtnis, das 


f im ſcharfen Gegenſatz zu ſeinem geſchwächten Körper ſteht. Wenn 


= er ſelbſt nicht ſchreiben kann, weil ſeine Finger zu ſteif find, diktiert 


er mir, was er niedergeſchrieben zu haben wünſcht. Es belebt ihn 
ſichtlich, von Pflanzen zu ſprechen, die er auf dem Wege findet. 
Sein botaniſches Intereſſe iſt lebendiger als je, und unverändert 
ſein Eifer, ſeine Reſultate zu vermehren. Hier und da ſcheint die 
Hoffnung, daß er es trotz alledem ſchaffen wird, in ihm zu er⸗ 
wachen, das wirkt jedesmal aufmunternd auf ihn ein. Und warum 
nicht das Beſte hoffen? Wir haben jetzt in zwei Tagen neun 
Haſen geſchoſſen und verzehrt, wir vier Mann! Wir heben 
nichts auf, teils weil wir noch zu matt ſind, teils auch weil nichts 


330 Dreizehntes Kapitel. 


darauf deutet, daß der Wildbeſtand weiterhin geringer wird. Im 
Gegenteil! Wir gehen ja dem eigentlichen Renntiergebiet ent⸗ 
gegen. N 

Der nächſte Tag ſollte ganz anders verlaufen als die beiden 
vorhergehenden. Die ganze Nacht hatten wir Tauſchnee gehabt, 
und tagsüber kamen beſtändig Schneeſchauer. Dies hinderte uns, 
die Haſen zu ſehen. Auch die Landſchaft hatte ſich ſtark ver⸗ 
ändert. Wir kamen jetzt durch tiefe, ſteinige, vegetationsarme 
Schluchten. Nach vier Stunden anſtrengenden Marſches beſchloſſen 
wir daher, die Randzone des Inlandeiſes zu verlaſſen und in der 
Richtung des Meeres ein Land mit ebenerem Gelände und wild⸗ 
reicheren, fruchtbareren Gegenden zu ſuchen. 

Wie gewöhnlich brachen wir mittags auf. Im Laufe des 
Nachmittags ſchoß der Bootsmann einen jungen Haſen, den wir É 
roh verzehrten. Sonſt ſahen wir an dieſem Tage kein Wild. Auf | 
dem Gipfel eines jeden Hügels, den wir pajlierten, mußten wir 
auf Wulff warten, manchmal ſehr lange, obgleich wir alle ein 
großes Intereſſe hatten, raſch in beſſere Jagdgebiete zu kommen. 
So kam es, daß wir in 12 Stunden nur eine Strecke von knapp 
8 Kilometer zurückgelegt hatten. Wulff war im Laufe des Tages 
abermals ſtark außer Gleichgewicht geweſen; er war ſehr reizbar 

und einmal auch etwas unklar. Schon an dieſem Tag ſprach er 1 
mehrmals davon, es ſei beſſer zu ſterben; dieſe Wanderung ſei É 
ſchlimmer als der Tod. 

Die ganze Nacht hatten wir unter Schneeſchauern zu ebe 
Ich war öfters wach und bemerkte, daß Wulff ſehr unruhig ſchlief 
und daß er beſtändig Kautabak kaute, was er trotz unſerer War⸗ 
nung in der letzten Zeit übertrieb. 

Nach zwölfſtündiger Ruhe gingen wir weiter. Niemand von 
uns redete viel, aber ich bemerkte gleich, daß eine gewiſſe Ruhe 
über Wulff gekommen war. Ich war daher ſehr überraſcht, als 
er nach drei Stunden plötzlich ſtehenblieb und ſagte: 

„Jetzt kann ich nicht weiter wegen meines Herzens. Wollt ihr 
mir einen Platz ſuchen, wo ich liegenbleiben kann? Am liebſten 
in der Nähe eines Sees, wo ich etwas zu trinken habe und wo 
ihr mich finden könnt, wenn ihr in der allernächſten Zukunft Wild 
erbeutet.“ | 

Ich hatte den beſtimmten Eindruck, daß dieſem Wunſch der 


Der Wettlauf mit dem Tod. 331 


reife, wohlüberlegte Entſchluß eines Mannes zugrunde lag. Jeder 
Verſuch, ihn zu überreden, war vergebens. Wir hatten uns in 
dieſem Augenblick gerade an einem See niedergelaſſen, dicht bei 
einer großen Schlucht, die leicht zu finden ſein würde. Aber um 
Zeit und eine Möglichkeit, ſein Leben zu retten, zu gewinnen, 
wies ich auf einen See hin, der etwa 2 Kilometer weiter davon 
entfernt lag. Er billigte meine Wahl, und wir begaben uns dort⸗ 
hin. Um ihn noch einmal aufzumuntern, ſprach ich davon, wie 
nabe wir jetzt bei Menſchen ſeien, und wie die Strapazen, die 
wir noch vor uns hätten, klein ſeien im Vergleich zu denen 
2 hinter uns. 
„Ja,“ jagte Wulff, „zu denken, daß man jetzt die Waffen 
ſtreckt, nachdem man fo viel durchgemacht und fo viel Schwierig⸗ 
keiten überwunden hat! — Nein, lieber noch einen Verſuch 
machen! Aber“, fügte er hinzu, „dies heißt trotz alledem zu 
ſeinem eigenen Begräbnis gehen.“ 
Ich teilte ſogleich den Eskimos mit, daß Wulff feinen Ent⸗ 
ſchluß geändert habe, und wir gaben daher den Kurs nach dem 
See auf. 

Der Schneefall hatte aufgehört. Ein leichter Wind wehte, 
und etwas Nebel lag noch über dem Land. Die Eskimos teilten 
ſich, um jeder in ſeiner eigenen Richtung zu jagen. Nach zwei 
7 Stunden fam der Bootsmann zurück mit friſchen Renntierexkre⸗ 
menten, die er aß. Wir ſtanden am Rand einer großen Schlucht. 
Hier gingen der Bootsmann und Inukitſog hinab, um nach Renn- 
tieren zu ſpähen. Da Wulff wieder ein Stück zurückgeblieben 
war, ging ich auf einen Hügel, um ebenfalls nach Wild auszu⸗ 
ſchauen. Wulff hatte ſich niedergeſetzt. Aber als er mich erblickte, 
rief er mir zu: „All right, geht nur hinunter in die Schlucht, ich 
komme gleich.“ 

Dies taten wir. Unten in der Schlucht hatten die Jäger 
unterdeſſen die Renntierſpuren verloren, und wir ſetzten uns nieder 
und beſchäftigten uns damit, Weiden und Wurzeln zu kauen, 
während wir warteten. 

Als Wulff zu uns herabkam, war das erſte, was er ſagte: 
„Ja, liebe Kameraden, hier will ich mich zur Ruhe legen; ich 
denke, der große Stein auf der andern Seite des Fluſſes wird 
mir Schutz gewähren.“ 


332 Dreizehntes Kapitel. 


Er ſprach ganz ruhig, und es war ihm keine Gemütsbewegung 
anzumerken. Als ich wieder den Verſuch machte, ihn zu über⸗ 
reden weiterzugehen, antwortete er beſtimmt und abweiſend: 
„Nein, ich kann nicht mehr. Jetzt iſt es Schluß! Tu mir nur 
den Gefallen, ein paar Briefe für mich zu ſchreiben, und laß die 
Eskimos etwas Waſſer kochen, damit ich etwas Wärme in den 
Leib bekomme, während ich dir die Briefe diktiere.“ Damit ſtand 
er auf und ging zu dem großen Stein, den er ſich ausgewählt 
hatte; hier hatte er ſich hingelegt, als ich zu ihm hinkam. 

Vergebens überlegte ich, was geſchehen könnte, um Wulff zu 
helfen. Vergebens erörterte ich die Lage mit den Eskimos, die 
ſich von ſeinem letzten Beſchluß unbehaglich berührt fühlten. Aber 
wir waren ganz machtlos, wenn er ſelber den Kampf aufgab und ſich 
weigerte weiterzugehen. Denn in der großen, wildleeren Schlucht 
zu bleiben, würde den ſicheren Tod für uns alle bedeuten. 

Meine eigene Lage war übrigens nicht ſehr verſchieden von 
der Wulffs. Auch ich war ſehr matt, und mein Leben hing voll⸗ 
ſtändig von der Jagd der Eskimos ab. Ich ſelbſt war zu kraft⸗ 
los, um zu jagen. Blieb ich mit Wulff in der Schlucht zurück, 
ſo galt es nur, zweien ſtatt einem Hilfe zu bringen, falls das 
Jagdglück ſich wenden ſollte. Und geſchah dies nicht bald, ſo 
würden möglicherweiſe auch die Kräfte der Eskimos ſo weit 
ſchwinden, daß ein Entſatz mißglücken mußte. Das würde alſo 
nicht nur eine Kataſtrophe für uns alle bedeuten, ſondern auch 
unſere teuer erkauften Reſultate würden verlorengehen, weil 
niemand uns in dieſer Kluft würde finden können. 

Es war nichts zu machen. Wir drei, die wir den Kampf noch 
nicht aufgegeben hatten, mußten ohne Wulff den Marſch fort⸗ 
ſetzen; das war die einzige Ausſicht für uns alle vier. Im übrigen 
war ja Wulff vollſtändig klar über die Lage und über ihren 
hoffnungsloſen Ernſt. Inukitſog und der Bootsmann hatten ſeit 
der Ankunft auf dem Land ununterbrochen gejagt; ſie hatten 
keine Anſtrengung geſcheut; oft waren ſie wieder ausgezogen, wenn 
wir uns gelagert hatten, und getreulich hatten ſie uns all die 
Beute, die ſie erlegten, gebracht. Und das war ja bisher ziem⸗ 
lich viel geweſen. Aber was konnte das nützen, wenn Wulff das 
einzige, was ſie beſchaffen konnten, gekochtes Haſenfleiſch, nicht 
mehr eſſen wollte? Und nun hatte er vorgezogen, liegenzubleiben! 


Der Wettlauf mit dem Tod. 333 


Sobald das Waller warm war und der Trunk ihn erwärmt 
hatte, diktierte er mir einen Brief an Knud Rasmuſſen — einen 
ausführlichen Brief, der ſeinen letzten Willen enthielt. Dann ſchrieb 
er ſelbſt einen Brief an ſeine Eltern und an ſeine Tochter. Ein 
einziges Mal ſchien er bewegt, ſonſt war er vollkommen ruhig. 
Als er mit den Briefen fertig war, zündete er ſeine Pfeife an 
und diktierte mir eine botaniſche Überſicht über die Vegetations⸗ 
verhältniſſe in Inglefieldland. Das war das letzte, was er tat. 
Wir lagen nun da und ſprachen ein wenig miteinander, und als 
die Rede auf einen möglichen Entſatz kam, ſagte er: „Ich nehme 
an, daß ich, wenn ich ganz ſtilliege, noch ein paar Tage leben 
kann. Und wenn ihr in den nächſten Tagen Renntiere erlegt, 
werde ich natürlich froh ſein, wenn ihr mich rettet. Aber es iſt 
abſolut nutzlos, daß ihr mit Haſenfleiſch zurückkommt. Vergehen 
mehrere Tage, und ihr trefft dann Menſchen, ſo können mich ver⸗ 
mutlich nur Haferſuppe und Portwein retten.“ 

5 Dann fragte er mich, wie lange ich ſelber noch meinte, aus⸗ 
halten zu können. Ich antwortete, ich nähme an, daß ich ohne 
Jagd die Kraft hätte, noch einen Tag zu gehen, während die 
Eskimos möglicherweiſe noch ein paar Tage länger aushalten 
könnten. 
Wir hatten uns jetzt bei Wulff etwas über zwei Stunden 
aufgehalten und da die Eskimos ungeduldig waren, die unter⸗ 
brochene Jagd wieder aufzunehmen, machte ich mich zum Aufbruch 
fertig. Obgleich die Lage ergreifend war, fühlte ich mich doch im 
Augenblick des Abſchieds nicht ſonderlich bewegt; dazu war ich 
ſelbſt zu erſchöpft und ich war eigentlich nur von dem Gefühl be⸗ 
herrſcht, daß ich meinem eigenen Tode entgegenging. 
Wulff blieb, als wir gingen, ruhig liegen. Seine letzten Worte 
zu uns waren: „Ja, dann will ich euch nur zum Abſchied wünſchen, 
daß ihr das Ziel erreicht. Wenn ihr in Not geratet, denkt daran, 
daß ihr es jetzt ſeid, die unſere Reſultate retten ſollen. Möge das 
Glück euch begleiten! Und nun lebt wohl!“ 

Wieder war Nebel gekommen. Wir hatten Schwierigkeit, 
uns zurechtzufinden, und alles kam mir unſagbar troſtlos vor. 
Nach drei Stunden klarte es auf und wir hatten Ausſicht nach 
der Küſte hinab. Das Land in nächſter Nähe der Küſte war 
beinahe ſchneefrei; dorthin richteten wir unſern Marſch. Gegen 


334 Dreizehntes Kapitel. 


Mitternacht gingen wir zur Ruhe, naß und erfroren vom Durch⸗ 


waten eines großen Fluſſes. 
In mein Tagebuch ſchrieb ich, daß ich am nächſten Tage ver⸗ 
mutlich ohne Nahrung Kap Scott erreichen werde; dann würde 


es auch mit mir zu Ende ſein; aber hier ſei Ausſicht vorhanden, 
daß meine Tagebücher gefunden würden. Es war zu kalt, um zu 


ſchlafen. Erſt am Vormittag des nächſten Tages hatten wir ein 
paar Stunden Schlaf. Zum erſtenmal hatten wir heute bei hellem 
Sonnenſchein Ausſicht über das Land. Wir befanden uns an 


dem mittleren der drei kleinen Fjorde, die zwiſchen Kap Scott 


und Kap Agaſſiz einſchneiden. Wir ſahen auch deutlich Kap 
Scott, wo meine Begleiter im Frühjahr drei Haſen geſchoſſen 
und Renntierſpuren geſehen hatten. Wir beſchloſſen daher ſofort, 
den Kurs nach Kap Scott zu nehmen. 

Ich war jetzt ſehr kraftlos. Alle Hungergefühle des Inland⸗ 
eiſes waren jetzt in verſtärkter Form wiedergekehrt; außer einem 
enormen Müdigkeitsgefühl litt ich ſtark an Schwindel, und häufig 
wurde es mir ſchwach vor den Augen. Gegen 3 Uhr ſammelten 
wir einen Topf voll Pilze und kochten ſie. Das verlieh uns 
neue Kräfte für den Weitermarſch. 

Es wurde Abend, und noch immer hatten wir kein Wild ge⸗ 
ſehen. Da fiel unſer Blick auf eine Brut junger wilder Enten, die 
auf einem See ſchwammen. Die Eskimos ſchoſſen ſechs davon; 
wir kochten ſie und dann gingen wir weiter und ee Kap 
Scott etwas nach Mitternacht. 

Hier ſchoſſen Inukitſog und der Bootsmann ſechs Salen. Zum 
erſtenmal trat die Frage an uns heran, ob wir Wulff zu Hilfe 
eilen könnten. Die Sache lag ſo: Wir konnten von Kap Scott 
zwei Tage, nachdem wir ihn verlaſſen hatten, aufbrechen und 
würden ihn früheſtens nach 24 Stunden erreichen können. Dann 
würde Wulff vier Tage ohne Nahrung geweſen ſein. Und wir 
hätten ihm nur Haſenfleiſch bieten können, was er ausdrücklich als 
nutzlos bezeichnet hatte. Ferner müßten wir, um ihm Entſatz zu 
bringen, Nahrung genug für den Hin- und Rückweg haben. Be⸗ 
reiteten wir uns nun vor dem Marſch ſelber eine Mahlzeit, die 
uns bei unſerm ermatteten Zuſtand etwas zu Kräften bringen 
könnte, jo würden für die Rettungserpedition nur drei Halen 


übrigbleiben. — Da dies ausſichtslos war, mußten wir den Gr = 


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T ² BD... ̃—üñdjʒßß UT 


Der Wettlauf mit dem Tod. 335 


danken aufgeben. Nur ein Renntier heute oder ſpäteſtens morgen 
konnte ihn retten! Aber leider traf dieſes Jagdglück erſt ein, 
als jede Hoffnung ausgeſchloſſen war, Wulff noch lebend an⸗ 
zutreffen. 

Die folgenden drei Tage bekamen wir ſo viel Haſen, daß wir 
täglich reichlich Proviant hatten, aber nie hatten wir einen 
ſolchen Überſchuß, daß von einer Hilfsexpedition die Rede ſein 
konnte. 


ch SE Skizze von Roh 
Der Ort, an dem Koch die Hilfsſchlitten traf. 


Erſt am 2. September abends ſchoſſen Inukitſoq und der 
Bootsmann zwei Renntiere. Aber gleichzeitig legte ſich ein dichter 
Nebel über das Land. Jetzt gaben wir jeden Gedanken, zu 
Wulff zurückzukehren, endgültig auf, denn wir hätten erſt zehn 
Tage nach ſeiner letzten Mahlzeit bei ihm ſein können, und es 
war undenkbar, daß er in feinem kraftloſen Zuſtand dem Nacht⸗ 
froſt und dem Hunger ſolange widerſtanden hatte. 

Wir konnten nichts anderes tun, als uns nach Etah durch⸗ 
zuſchlagen und dem Führer der Expedition möglichſt raſch Mit⸗ 
teilung von Wulffs Tod zu machen und über die Sammlungen, 
die noch an der Abſtiegſtelle lagen, zu berichten. Aber da wir 


336 Dreizehntes Kapitel. 


noch ſehr müde waren und ich ſehr erſchöpft war, ruhten wir uns 
bei Renntierfleiſch zwei Tage aus. 

Am 4. September früh am Morgen hörten wir in unſerer 
unmittelbaren Nähe Schüſſe. Es war einer der Eskimos, die 
Knud Rasmuſſen zu unſerm Entſatz geſchickt hatte; er ſchoß ein 
Renntier dicht neben uns. Wir kamen ſogleich mit ihm in Ver⸗ 
bindung. Am nächſten Tag trafen wir noch einen Mann und 
am 6. ſetzten wir uns in Bewegung, um endlich zu den Schlitten 
und zu den von Etah geſandten Vorräten zu gelangen, die nicht weit 
von unſerm Renntierlager niedergelegt waren. Am 7. September 
kamen wir dort an und waren am 10. abends in Etah, wo ich 
ſogleich dem Leiter der Expedition einen ausführlichen Bericht 
erſtattete. 


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Vierzehntes Kapitel. 
Ein Gedenkblatt. 


horild Wulffs Leben war jo bunt und abenteuerlich, daß er 
„ſelbſt nicht immer vollkommen Beſcheid wußte über die 
| henfolge der Begebenheiten, die er bei ſeinem erſtaunlichen 


3 Arbeiten und Erlebniſſe zu geben. Aber immer ſchüttelte er 
Ind den Kopf und ſagte, er könne aus der Erinnerung aus 


Zeit hätte, ſeine Tagebücher und Notizen zu Rate zu ziehen. 

Niemand hatte wie er die große Unruhe, die die Vorbedingung 
r alles Handeln ift; aber zu ſeinem und unſerm Nachteil fehlte 
ihm die Gabe, ſich die geiſtige Ruhe zu erwerben, die ihren Aus⸗ 
ruck in ſteter Arbeit mit Büchern und Berechnungen findet. Nur 
ügen Menſchen ſtand ein jo ausgezeichnetes Denkvermögen, ein 
o allſeitiges Wiſſen und eine ſo glänzende Ausbildung zur Ver⸗ 
gung wie ihm; nie habe ich jemand getroffen, der ſo buchſtäblich 
d perſönlich die Erde in Beſitz genommen hatte. Darum können 


ebens wird klarmachen, daß er ſich keinen Nachruf durch Worte 
verſchaffen brauchte. ; 
* 

5 * 

Thorild Wulff wurde in Göteborg in Schweden am 1. April 
N 877 geboren; er wurde 1894 Student und ſtudierte Botanik in 
Lund. Schon 1894 machte er ſeine erſte große Reiſe als Mitglied 

Rasmuſſen. - 22 


338 Vierzehntes Kapitel. 


einer ſchwediſch⸗ruſſiſchen Gradmeſſungsexpedition, auf der er den 
Stoff zu der Abhandlung „Botaniſche Beobachtungen aus Spitz⸗ 
bergen“ ſammelte, womit er 1909 den Doktortitel erwarb. 
Thorild Wulffs Leben wurde dann ſo ereignisvoll, daß ich mich 
auf das, was ich aus ſeinen eigenen Erzählungen noch weiß, nicht 
vollkommen verlaſſen kann. Dr. Birger Selim in Stockholm iſt 
ſo liebenswürdig geweſen, mir ſeinen ausgezeichneten Nekrolog 
aus der Zeitſchrift „Ymer“ zur Verfügung zu ſtellen; daraus iſt 
das Folgende entnommen: 

Eine Reihe von Jahren verbrachte Wulff ſein Leben auf 
Reiſen im Oſten und in den Tropen. Ehe er Europa verließ, hatte 
er auf Reiſen nach Deutſchland, Frankreich und England eifrig 
alles ſtudiert, was irgendwie mit Leben und Wiſſen zu tun hatte. 

In den Jahren 1902 —1903 treffen wir ihn auf einer bota⸗ 
niſchen Forſchungsreiſe in Vorderindien. Auf dieſer Reiſe widmete 
er ji) nicht der Botanik allein, er vertiefte ſich auch jo gründlich. 
in die indiſche Architektur, daß eine kleine Schrift, die er darüber 
ſchrieb, oft als ein ſchlagender Beweis für ſeine ſchnelle Auf⸗ 
faſſungsgabe hervorgehoben worden iſt. 

Dann läßt er ſich in Stockholm nieder und iſt von 1906 bis 1909 
an der Zentralanſtalt für landwirtſchaftliche Verſuche angeſtellt. 
In dieſer Zeit, die ein Intermezzo in Wulffs fahrendem Leben 
bildet, hatte er reichlich Gelegenheit, ſich mit wiſſenſchaftlichen 
Aufgaben zu beſchäftigen, und als Redakteur der Zeitſchrift 
„Trädgaͤrden“ bewies er ein hervorragendes Talent, ſeine wiſſen⸗ 


ſchaftlichen Kenntniſſe durch gutgeſchriebene belehrende populäre 


Artikel der Allgemeinheit zugängig zu machen. 

1909 verläßt er die landwirtſchaftliche Verſuchsanſtalt und 
wird Dozent für Botanik an der Hochſchule in Stockholm. 

1911 unternimmt er eine Reiſe nach Island. Es war das 
zweitemal, daß Wulff die Saga⸗Inſel beſuchte; in der Zwiſchen⸗ 
zeit hatte er verſchiedene Reiſen nach Lappland gemacht. Auf dieſen 
kleinen Ausflügen ruhte er aus und machte Pläne für ſeine größeren 
Reiſen. Wenn er es auch liebte, von Zeit zu Zeit wie ein Komet 
in den Großſtädten aufzutauchen und eine Zeitlang einen Sturm 
im Ententeich zu erregen, ſo mußte doch er, dieſer Mann der Feſte 
und der Arbeit, immer Luft unter den Schwingen haben, immer 
bereit, davonzuziehen, ſobald die Herbſtſtimmung über ihn kommt. 


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Ein Gedenkblatt. 339 


Im Juli 1912 wird ihm die Aufgabe geboten, die ihn völlig in 
Beſchlag nimmt. Von privater Seite wird ihm ein großes Kapital 
zur Verfügung geſtellt, damit er auf einer Reiſe nach China 
Sammlungen für das Röhsſche Kunſtgewerbemuſeum in Göteborg 
erwerben kann. Aber vorher muß er noch eine Studienreiſe durch 
Europa unternehmen, um ſich mit den Sammlungen chineſiſcher 
Kunſt in den Muſeen der Hauptſtädte vertraut zu machen. Im 
Herbſt reiſt er durch Sibirien, beſucht die Schlachtfelder bei Muk⸗ 
den und läßt ſich bereits im September in Peking nieder, von wo 
aus er Ausflüge in die Mongolei und in das Innere von China 
unternimmt. 

Auf dieſer Reiſe erhielt er von der ethnographiſchen Abtei⸗ 
lung des Reichsmuſeums in Stockholm eine bedeutende Geld- 
fumme mit der Aufforderung, alles, was für dieſes Muſeum von 
Intereſſe ſei, zu ſammeln. Im Jahresbericht des Ethnographiſchen 
Muſeums von 1916 wird die Zahl der von Wulff geſammelten 
Gegenſtände mit 956 angegeben. Dieſe Sammlung gibt ein voll- 
ſtändiges Bild von dem Leben in China, nicht nur vor der Revo⸗ 
lution, ſondern ſeit den älteſten Zeiten. 

Wulffs Aufenthalt in China war reich an Abenteuern; am 
häufigſten erzählte er von einer Hilfsez edition, an der er im 
Juni 1913 teilnahm, um einen Freund zu retten, den ſchottiſchen 
Telegraphiſten Grant, der von mongoliſchen Räubern ge⸗ 
fangengenommen und fortgeführt worden war. Die Expedition 


= erreichte das Räuberlager; aber gerade als ſie erfuhren, daß der 


Geſuchte längſt ermordet ſei, wurden ſie ſelbſt gefangengenommen 
und ſollten hingerichtet werden. Nach zweitägiger Wartezeit wurde 
dem Häuptling des Stammes zufällig mitgeteilt, daß ſich unter 
den zum Tode Verurteilten ein Sohn des Direktors Henningſen 
von der „Großen Nordiſchen“ befinde. Sobald der Häuptling 
dies hörte, wurde das Todesurteil augenblicklich aufgehoben, da 
er einmal weitgehende Gaſtfreundſchaft in einer der Stationen 
der Großen Nordiſchen Telegraphengeſellſchaft genoſſen hatte. 
Die Weißen wurden unter Bewachung weggeſchickt, während man 
ihre chineſiſchen Begleiter zurückbehielt und köpfte. 

Von China reiſte Wulff 1914 nach Japan, wo er ſich nicht nur 
damit begnügte, ſich ein Bild von dem Leben und Treiben der 


modernen Japaner zu verſchaffen, ſondern auch nach der Inſel 
” 22* 


340 Vierzehntes Kapitel. 


Veſſo ging, um das ausſterbende Volk der Aino zu studies 
Hier gelang es ihm, außerordentlich reichhaltigen Stoff zu lang 
meln, nicht nur in Form von Muſeumsgegenſtänden, ſondern auch 


in Bildern und Notizen, aus denen leider nie ein Buch entſtanden 


ilt. Wulff iſt ſicher der letzte Forſcher geweſen, der das Ainovolk 
zu einer Zeit ſtudiert hat, wo noch etwas auszurichten war; r 
ſelber pflegte zu betonen, daß der, der nach ihm als Sammler 


käme, ohne Reſultate abziehen würde. 


Dann reiſte er über Sumatra nach Java, wo er ebenfalls 
Sammlungen vornahm, namentlich auf den beiden kleinen Inſelnn 
Bali und Lombok, auf denen er ſich bei Ausbruch des Weltkrieges 
befand. Anfang Oktober trat er auf dem ſchwediſchen Dampfer en 


„Nipon“ die Heimreiſe an. 


Im Frühjahr 1916 meldete er ſich als Teilnehmer für die 
zweite Thule⸗Expedition nach Nordgrönland; auf dieſer Expe 
dition hat er der Wiſſenſchaft das größte Opfer gebracht, das Ar 


ein Mann bringen kann. 


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Der Brief, den Wulff mir durch Koch ſandte, war eine aus- i i 
führliche Darlegung feines letzten Willens und betraf teils feine 


botaniſchen Reſultate, teils ſein Eigentum in Stockholm. 
Er beginnt ſo: 


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„Der beſtändige Hunger und die Strapazen des Sommers und Be 


der beinahe vollſtändige Mangel an Nahrung in den letzten Tagen 
haben meine Körperkräfte in ſolchem Grade vermindert, daß ich 
mit Aufbietung aller meiner Kräfte nicht imſtande bin, Koch und 


den Eskimos noch länger zu folgen. Da ihre Rettung davon ab⸗ 


hängt, daß ſie jo raſch wie möglich beſſere Jagdgebiete erreichen, 
bin ich nur eine Laſt für die Geſellſchaft, wenn ich verſuche, mich SR 
weiterzuſchleppen. Mit vollkommener Seelenruhe ſage ich daher 

Lebewohl und danke Euch für gute Kameradſchaft während der 
Expedition, und ich hoffe, daß Ihr Euch ſelber und unſere Reſul⸗ 


tate retten werdet.“ 


Mit tiefer Bewegung las ich dieſe reſignierten Abſchieds⸗ 8 å 
worte, die in ihrer Schlichtheit die Feierlichkeit des großen Ab⸗ 
ſchluſſes atmen. Wahrlich, das war der offene und ruhige Blick 


— 


Ein Gedenkblatt. : 341 


des Mannes, der dem Tode entgegenſieht! Bis zuletzt war er da⸗ 
mit beſchäftigt, das Beſtmögliche aus ſeiner Arbeit heraus⸗ 
zuholen. Ein heiliges Feuer hat die Beobachtungsgabe des wan⸗ 
kenden, erſchöpften Wanderers friſch und empfänglich für alle 
Eindrücke erhalten; mit Fingern, die ſteif vor Kälte waren, hat er 
bis zum allerletzten Tag niedergeſchrieben, was von botaniſchem 
Intereſſe war. Und als er ſelbſt nicht mehr ſchreiben kann, diktiert 
er beim Abſchied eine kurze Überſicht über die Vegetations- 
verhältniſſe des Gebietes, das Zeuge ſeines letzten, hoffnungsloſen 
Kampfes um das Leben war. Es iſt als Zuſatz zu ſeinen Tage⸗ 
buchaufzeichnungen niedergeſchrieben und lautet wie folgt: 


: Sämtliche hier erwähnten Pflanzenfundſtellen liegen auf 79° nördlicher 
Breite zwiſchen Kap Agaſſiz und 15—20 Kilometer weſtlich davon. Die Vege⸗ 
tation iſt ungewöhnlich reich und üppig geweſen, von einem ganz andern, luxu⸗ 
riöſen Typus als an der Nordküſte Grönlands. Mehrere von den aufgeführten 
Arten haben ſicherlich hier ihre Nordgrenze. Ich habe weiter nördlich keine 
Spur von ihnen geſehen. Eine genaue Unterſuchung der Vegetation zwiſchen 
Kap Agaſſiz und Etah vom Juli bis in die erſte Hälfte des Auguſt würde ſicher 
ſehr gute botaniſche Ergebniſſe liefern. In meinem ermatteten Zuſtand kann ich 

nicht mehr tun. 


Hier bedarf es keines Kommentars. Wulff hat in der Art, 
wie er Abſchied vom Leben nahm, ſelber ſeinen ſchlichten und kurz 
gefaßten Nekrolog geſchrieben, der im Verein mit ſeinen aus⸗ 
gezeichneten botaniſchen Arbeiten ſeinen Namen bewahren 
wird, ſolange ein Intereſſe für die Löſung wiſſenſchaftlicher Auf- 
gaben beſteht. Wir alle wollen mit tiefer Wehmut die Fahne 
fſenken vor dieſem ſchwediſchen Forſcher, der den Tod auf der 
weißen Walſtatt fand, arbeitend, bis er niederbrach. 


Harrigans Bericht. 


Faoolgender Bericht, den Harrigan nach ſeiner Ankunft in Etah 
erſtattete und den ich ſofort nach ſeinem Diktat niederſchrieb, 
ſoll hier als Ergänzung zu Kochs Bericht wiedergegeben werden: 
An dem Tage, als Wulff es aufgab und ſich ein Lager ſuchte, 
o er ſich zum Sterben niederlegen könnte, waren wir alle er⸗ 
öpft und kraftlos. Wir waren ſehr abgemagert und litten an 
Blutarmut. Dies gab ſich deutlich kund an unſern Adern, die faſt 
unſichtbar geworden waren, und namentlich durch Schwindel- 


342 Vierzehntes Kapitel. 


gefühl; ferner fiel es uns ſchwer, uns warm zu halten, namentlich 
an Händen und Füßen. 

Wären wir auf dem Inlandeis oder auf dem Meer geweſen, 
wo wir einen Schlitten gehabt hätten, ſo würden wir verſucht 
haben, Wulff zu ziehen, ſo wie wir es ab und zu in den letzten 
Tagen auf dem Inlandeis getan hatten; aber hier in dieſem 


ſchneefreien Schluchtenlande hätte man ihn höchſtens tragen 


können, wozu niemand von uns die Kräfte hatte, oder man hätte 
bei ihm bleiben können; aber da im weiten Umkreis kein Wild 
war, ſo war auch dies unmöglich. Es hätte für uns ſelber den 
Tod bedeutet, ohne daß wir unſerm ſterbenden Kameraden 
hätten helfen können. | 

Und dann, Wulff wollte nichts eſſen, jedenfalls kein Haſen⸗ 
fleiſch; von unſerer letzten Beute aß er nur einen Biſſen Haſen⸗ 
leber, obwohl er ſich am Fleiſch hätte ſatt eſſen können. Darum 
konnten wir nichts für ihn tun. 

Ich glaube, er war krank, denn in den letzten Nächten ſtöhnte 
er oft im Schlaf. 

Es blieb nichts anderes übrig, als ihn zurückzulaſſen, ſo wie 
er es ſelbſt begehrte. Fanden wir Renntiere an einem Punkt, von 
wo aus wir zurückkehren konnten, während er noch am Leben war, 
ſo konnten wir ihn vielleicht noch retten. Aber das war jetzt die 
einzige Möglichkeit. 


Wir pflückten Gras und Heidekraut und bereiteten ihm ein 


Lager, ſo weich und warm wir es vermochten; hier legte er ſich 
zur Ruhe, ſobald wir fertig waren. 

Als wir aufſtanden, um weiterzugehen, nickte er uns lächelnd 
zum Abſchied zu. Dieſes Lächeln des armen Mannes, der ſich zum 
Sterben hingelegt hatte, war mein letzter Eindruck von Wulff. 
Ich glaube, daß er ſehr raſch entſchlafen iſt. ; 


* * 
* 


Inukitſog oder Harrigan, wie wir ihn nannten, war ſicherlich 
derjenige, der bis zuletzt durch ſeine Jagd das meiſte tat, Wulff 
am Leben zu erhalten. Es ift deshalb von Intereſſe, die Charak⸗ 
teriſtik zu leſen, die Wulff ſelbſt von dieſem Mann auf einem 
Blatt ſeines Tagebuchs gibt, das ohne Zuſammenhang mit den 
gewöhnlichen Schilderungen der einzelnen Tage iſt: 


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Ein Gedenkblatt. 343 


Harrigan, ein ftiller, ſchweigſamer Mann, der ſich jeiner 
eigenen Kraft, ſeiner Ausdauer und ſeiner Fähigkeit, ſich in 
jeder Lage zurechtzufinden, wohlbewußt iſt, ohne es prahleriſch 
zu zeigen. Ein geſchmeidiger, ſchöner, muskulöſer Körper, der mit 
der ganzen, leichten, eleganten Harmonie des Sportsmannes und 


des Wilden arbeitet. Ein ausgeprägter Sinn für Humor, der ihm 


über alle ſchwierigen, widerwärtigen Situationen hinweghilft. 
Ein guter Vater für ſein Hundegeſpann und der reine Künſtler, 
wenn es gilt, den Weg durch die ſchlimmſten Eispreſſungen zu 
finden, ein Pfadfinder im Nebel mit dem ſpontanen kompaß⸗ 
artigen Ortsſinn des Wilden und ein fabelhaft geſchickter See⸗ 
hundjäger auf dem Eis mit ſeinem Schutzſegel. Mit einem Wort, 
ein feines, wohltrainiertes Exemplar ſeines Stammes, und 
das will viel ſagen unter den Polareskimos, die alle ohne Aus⸗ 
nahmen abgehärtete, geiſtesgegenwärtige Jäger ohne Fehl ſind. 
0 * * 


* 
1 Wenn eine Kataſtrophe wie der Tod Dr. Wulffs eintritt, ilt 

es natürlich, daß man ſich im Gefühl der Verantwortung die 
Frage vorlegt, ob man hätte andere Anordnungen treffen können. 
Aber ſelbſt jetzt, nach ſo langer Zeit, kann ich die Sache in keinem 
andern Lichte ſehen, als daß unſer Vorgehen das einzig richtige 
war. Koch hat in ſeinem Bericht die Maßnahmen, die er traf, als 
lie den Hilfsſchlitten entgegenwanderten, dargelegt in einer Schil⸗ 
derung, die in ihrer nüchternen Kürze ergreifend iſt. Es iſt da⸗ 
her nur natürlich, daß auch ich zu dem, was bereits über meine 


und Ajakos Reiſe geſagt worden iſt, noch ein paar Worte beifüge. 
Es iſt geſchildert, in welchem Zuſtand wir das Land erreichten und 


wie notwendig es war, daß wir ſo raſch wie möglich in Verbin⸗ 
dung mit Menſchen kämen. Ich wählte damals ſelbſt mit Ajako 
die gefährlichſte und ſchwierigſte Aufgabe, den längſten Weg mit 
der kürzeſt möglichen Raſt zurückzulegen. Und während die andern 
ſo langſam vorrücken konnten, wie ihre Kräfte es erlaubten, immer 


die wildreichſten Gegenden aufſuchend, war es unſere Aufgabe, 
ohne Rückſicht auf Wild in Gewaltmärſchen vorzurücken. 


Ich hatte Wulff und Koch in Ausſicht geſtellt, eine langſame 
Reiſe mit kurzen Tagemärſchen würde ihnen das, was ſie an Wild 
brauchten, geben. Dies traf auch ein mit Ausnahme des einen 
Tages, an dem Wulff aufgab. 


344 Vierzehntes Kapitel. 


Ein einfacher Vergleich gibt ein Bild von den verſchiedenen 
Reiſebedingungen, die den beiden Abteilungen geboten waren. 
Ajako und ich brauchten von Kap Agaſſiz bis zu dem großen Cis= 
bergſee, wo die Erſatzſchlitten erwartet werden ſollten, etwas über 


zweimal 24 Stunden, und wir erbeuteten auf dieſer ganzen Strecke 


nur einen Haſen. Die andern dagegen brauchten ungefähr 12 


Tage, um bis zu dem gleichen Punkt zu gelangen, und erlegten 1 


24 Haſen, 6 Enten und 2 Renntiere. 


Dr. Wulff hatte ſich auf der ganzen Expedition als raſcher i 


und ausdauernder Fußgänger erwieſen. Auf dem Inlandeis 


überwand er trotz der ſehr kleinen Pemmikan⸗ und Fleiſchportionen 
alle Schwierigkeiten vortrefflich. Erſt als wir ausſchließlich von 


Hundefleiſch leben mußten, fiel er zufammen. Und doch bin ich É 


davon überzeugt, daß er auch das überwunden hätte, wenn nicht 
die Ermattung und Erſchöpfung, die ſich infolge des Überſchreitens 


der vielen Gletſcherflüſſe einſtellten, ihm ſeine letzte Energie ge⸗ 
raubt hätten. Als Blutarmut und Herzſchmerzen hinzukamen, brach 
er zuſammen. Erſt dann legte er ſich zur Ruhe, um dem Tod 
entgegenzugehen, dem zu entfliehen er nicht länger die Kraft hatte. 


Es it meine Überzeugung, daß Wulffs Tod leicht geweſen ift; 


denn er hat ſich in einem Zuſtand körperlicher Erſchöpfung be⸗ 


funden, in dem der Übergang vom Leben zum Tod nicht groß 


iſt und in dem der Tod zu einem kommt wie der Schlaf, nach 


dem man ſich mehr als nach irgend etwas anderm ſehnt und der så 


Heinen beinahe unmerklich aus dem Leben hinausträgt. Seine 


härteſten Tage hat Wulff mit uns zuſammen in der Zeit durchlebt, = 


die er in den unten wiedergegebenen Tagebuchblättern ſchildert. 


Unſere Lebensenergie war nach der Ernährung der letzten paar 
Monate auf einem ſo tiefen Punkt angelangt, daß kein weiter 
Weg bis zu dem Punkt war, an dem man meint, es ſei im Grunde 
alles gleichgültig; auch der Wille erfordert etwas materielle Nah⸗ 
rung, ſelbſt wenn man eine Zeitlang ſeinen Körper zwingen 
kann, Wunder zu verrichten, nur weil man will und ſoll. So⸗ 
lange man dazu imſtande iſt, iſt es ganz gleichgültig, was man 
zu eſſen bekommt, wenn man nur fühlt, daß man dadurch inſtand 


geſetzt wird, ſich nach den kurzen Raſten wieder zu erheben. 


Man muß ſeinen Geiſt allen Überlegungen, welcher Art ſie 
auch ſeien, verſchließen und muß verſuchen, ſeine Gedanken zu = 


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Ein Gedenkblatt. 345 


zwingen, daß ſie ſich nicht mit unerträglichen Eßphantaſien be- 
ſchäftigen. Man muß in einer Weiſe vorwärts ſchauen, daß man 
die Hoffnungsloſigkeit des Augenblicks vergißt. Aber Wulff hing 
nicht nur ſeinen Eßphantaſien nach, er ſtellte auch in ſeinem Tage⸗ 
buch Betrachtungen darüber an, wie erſchöpft er ſei und daß 
dieſe letzten Wanderungen nach bewohnten Gegenden ſchlimmer 
ſeien als der Tod. Gedanken dieſer Art führen nur zu einem Bruch 
des Willens und zu einem erſchlaffenden Sichſelbſtaufgeben. 
Man findet dann, daß man nur eins im Ernſt wünſcht, näm⸗ 
lich den Kampf aufgeben und in Frieden ſterben zu dürfen. Denn 
jedesmal, wenn man ſich erhebt, um weiterzugehen, kommen alle 
Leiden mit erhöhter Macht über einen, und man meint, das 
einzig Befreiende würde fein, wenn man ſich, ohne den Um⸗ 
gebungen einen Gedanken zu ſchenken, niederlegen und Frieden in 
einem langen, langen Schlaf ſuchen dürfte. Das Leben unter 
andern Menſchen erſcheint einem fo unendlich fern, daß es im 
Augenblick ganz gleichgültig iſt; der Tod hat ſeinen Stachel ver⸗ 
loren, und man nimmt ihn als eine willkommene Notwendigkeit 
hin. Hunger fühlt man nicht mehr; der gehört einer Zeit an, in 
der man friſch war und Kräfte hatte, Widerſtand zu leiſten; man 
fühlt nur eine Mattigkeit, die ſo unermeßlich iſt, daß erſt Ruhe 
über einen kommt, wenn man ſich endlich zu dem letzten großen 
Schlaf zurechtgelegt hat. 
Dr. Wulff befand ſich in dieſem Zuſtand, als er nach einer 
ungenügenden Raſt den Kampf ums Leben wieder aufnehmen 
ſollte, geplagt von körperlichen Schmerzen, die feinen Willen 
lähmten. Aus ſeinen letzten Tagebuchaufzeichnungen erhalten wir 
ein ergreifendes Bild des Kampfes, den er durchfochten hat, bis 
et der Tod der Stärkere blieb. 


Auszug aus Dr. Wulffs letztem Tagebuch. 
Lager XIV, Gletſcherflußtal. 670 Meter über dem Meer. 


21. Auguſt. Der letzte Haferbrei, die vier letzten Keks und das 
letzte Stück Pemmikan werden zum Frühſtück gekocht. Ein Schlitten, 
Schneereifen, Schneeſchuhe, ein Paar Reſerveſtiefel, Axt, Säge, alles 
was wir irgend entbehren können, werden zurückgelaſſen, denn wir 
haben jetzt nur noch fünf Hunde, mit denen wir im Laufe des 
Tages Land bei Kap Agaſſiz zu erreichen hoffen. Es wird 


346 Vierzehntes Kapitel. 


heute ein recht ſpannender Tagemarſch. Erreichen wir das Land 
heute oder nicht? Und treffen wir ſofort Renntiere oder Haſen — 
oder ſollen wir uns noch einen Tag oder mehrere an den noch 
übrigen ausgemergelten Hunden delektieren? 

Eis mit ſehr wenig, gutem hartem Schnee. Eine Anzahl 
kleiner, gefrorener Gletſcherbäche und kleine unſchädliche Spalten. 
Peabodybai klar im Norden unter uns, eisbedeckt und mit wenig 
offenem Waſſer rings um die Eisberge. Alle Mann totmüde, 
erſchöpft. Die Hunde mit Kamikern aus unſern Handſchuhen und 
aus einem Handtuch, denn das Eis iſt oft ſcharfkantig und mit 
Nadelbildung. Bekommen endlich 1,20 Uhr nachmittags Land 
gerade im Südweſten vor uns in Sicht. — Irgendein Kap an der 
Nordküſte des Etahlandes. Hurra! Gleich darauf Nebel und 
ſtrömender Regen. Schlugen 2½ Uhr das Zelt auf. 


Lager XV, an einem kleinen Gletſcherfluß. 


22. Auguſt. Nach Marſch von 3½ Stunden 12 Kilometer. 
Kochten etwas Tee, wovon wir noch ein paar Fingerſpitzen voll 
haben. Aber aller Proviant iſt zu Ende. Doch all right, denn 
jetzt ſind wir „on the safe side“ des Inlandeiſes und aller ernſten 
Schwierigkeiten und wir haben ja noch 5 Hunde zum Eſſen. Abends 
wird ein Hund erwürgt. — Großes Hundegericht. Ich laſſe das 
Fleiſch erſt kalt werden, es iſt beſſer ſo. Regen, Regen! 


* sk 
* 


½ Uhr früh Mahlzeit von Hundefleiſch. Graues, feuchtes 
unbehagliches Wetter. Plötzlich Eisgang im Fluß, der unter Ge⸗ 
töſe mehrere Fuß anſtieg — deutlich ein Eisſee, der einen Ablauf 
gefunden hat. Das Zelt ſtand Gott ſei Dank außerhalb der 
Waſſermaſſen. 

Aufbruch 5½ Uhr vormittags. 

Ein Krabbentaucher erſchien geſtern, er flog von Oſten nach 
dem Inlandeis. Heute ſah ich einen in einem Gletſcherfluß 
ſchwimmen. Ich bin andauernd erſchöpft, äußerſt abgemagert 
und blutarm. Habe ſeit zwei Wochen einen ſchweren Karbunkel 
am Geſäß. Beläſtigt mich ſehr beim Marſch und im Schlaf. Be⸗ 


komme jetzt einen neuen am Oberſchenkel. Das Hundefleiſch ØM 
kraftlos, zäh, aber die Lebensrettung. Der Wegmeſſer wird weg ⸗ å 


58 7 . 


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Ein Gedenkblatt. 347 


geworfen. Vier Mann ſchieben den Schlitten, die Hunde werden 
vorwärtsgeſchleppt. 
. . Lager XVII. 

Alle ſehr müde. Ich total fertig. Leide an Blutmangel im 
Hirn. Gehe mit beſtändigem Schwindelgefühl und Schmerzen 
im Magen. Heute ein Hund geſchlachtet. Bloß noch ein Hund 
übrig. Kautabak das einzige Stimulans. Drei Eßlöffel Tee 
find noch da. Anaufhörlich werden Gletſcherflüſſe durchwatet — 
kalt und teufliſch. Dämmerung macht ſich um Mitternacht be⸗ 
merkbar. Die Sonne jetzt mitternachts unter dem Horizont. 


i Lager XVIII, an einem azurblauen Eisſee. 

Durchwateten mehrere Gletſcherflüſſe. Den ganzen Tag Nebel, 
Regen und Schnee. Kamiker violettrot an den Seiten, wahr⸗ 
ſcheinlich von unſichtbarer Sphaerella. Lagern wegen dichten 
Nebels. Große Eisblöcke begrenzen den See, der Zulauf durch 
einen Eiscanon hat. Todmüde. Faſt alle unſere Zeltfelle weg⸗ 
geworfen. Alles, Kleidung und Zelt durchnäßt. Regneriſch. 
Hundefleiſch und Hundebouillon — unſere einzige Rettung. Land 
muß jetzt in allernächſter Nähe ſein. Wir Es todmüde und total 
erſchöpft. 

24. Auguſt. Aufbruch vom Kader XVIII 9% vormittags. 
Land in 5 Kilometer Abſtand. Am Ziel. Große Kryokonitlöcher. 
Abſtieg ſehr ſteil. Der letzte Hund wird geſchlachtet. Mehrere 
Gletſcherflüſſe werden überſchritten. Todmüde, halb bewußtlos. 
Erreichen die Gneisklippen 7½ Uhr nachmittags nach genau drei 
Wochen Marſch von 400 Kilometer über das Inlandeis. Haſen⸗ 
und Renntierſpuren. 


Lager XIX, Rand des Inlandeiſes 8 Uhr nachmittags. 
Windſtille, Nebel, Staubregen. Legen uns auf Bergterraſſen 
ſchlafen. Kalt, kein Zelt kann aufgeſchlagen werden. Die drei 
Eskimos ſofort auf die Jagd. Unermüdlich. Die ganze Nacht 
veritable Kanonenſchüſſe vom Rand des Eiſes, der in einen kleinen 
See hinabgeht. L. leucopterus. Die Vegetation auf den Berg⸗ 
terraſſen herbſtlich. 5 Grad während der Nacht. Rauhreif. 
Salix arctica, ganz hellgelb und in Frucht. Luzula confusa, 
Saxifraga oppositifolia, cernua, nivalis, tricuspidata, die 
letztere üppig, noch in Blüte, blutrot. Papaver, Draba. 


348 Vierzehntes Kapitel. 
Ajako 6 Uhr vormittags zurück mit fünf Haſen. Mahlzeit 
von herrlicher Leber, Herz, Fleiſch und ſtarker Bouillon. Aber ich 
habe die Fleiſchkoſt und das ganze gekochte Fleiſch vom letzten 
Jahr unglaublich ſatt. Denke nur an Erbſen, Pökelfleiſch, Pfann⸗ 
kuchen, Kompott, Brot, Obſt, Branntwein, Kaffee, Schokolade. 
Eſſe doch aus allen Kräften, um wieder Lebensluſt zu bekommen 
und meine Schwäche zu überwinden. Nachts hat ſich Neueis auf 
dem Binnenſee gebildet. Fühle mich andauernd ſehr entkräftet. 5 
Cassiope, Stellaria longipes, Aspidium fragrans. 

Harrigan zwei weitere Haſen, alle drei junge, mit grauen 
Köpfen. Einer wurde roh gegeſſen, zwei gekocht. Potentilla nivea, 
rubricaulis, emarginata, Dryas breitblättrig, glatt, octopetala- 
ähnlich, typiſche integrikolia und var. canescens. Außerſt a 
wöhnlich Myrtillus uliginosa, zerjtreute, ausgedehnte Matten. 
Salix arctica mit breiten ovalen und ſchmalen, lanzettförmigen 
Blättern, ſehr variabel. Pedicularis hirsuta. : 

Knud und Ajako brechen um 6 Uhr abends zu Fuß ach 
Etah auf (etwa 200 Kilometer). Wählen den ſchnellſten DE 2 
über Land, um uns Hilfsihlitten und Proviant zu fjenden. 

Myrtillus uliginosa, Pyrola uniflora, Wahlbergella bob, 
nicht triflora). 

Trinke zum Abendeſſen warmes Waſſer. 

26. Auguſt. Koch war während der Nacht ein paar Stunden 
auf einem Ausflug ins Land. Hatte vergebens einen Haſen ge⸗ 
jagt. Ich ſchlaflos, von einem hartnäckigen Karbunkel am Schen⸗ 
kel geplagt. Klare, kalte Nacht. Eſſen morgens die letzten Reſte 
des letzten Hundes. Harrigan und der Bootsmann kommen um 
2 Uhr nachmittags nach zwei Tagen vergeblicher Jagd wieder. : 
Haben einen Hajen erbeutet, den fie roh gegeſſen haben. Kein 
Renntier. Wir müſſen ſogleich nach der Marſhallbai aufbrechen. 

Werfen den Theodoliten, zwei Kameras, Verbandſtoffe, 
Kleider, alles Entbehrliche weg. Wieder ſteht uns die allerernſteſte 
Flucht um unſer Leben bevor. An das Sammeln von Pflanzen 
zu denken jetzt unmöglich. Kommen wir mit dem Leben davon, 
iſt es großartig. Wir vier Mann haben jetzt abſolut nichts zu 
eſſen und entſchieden ſchlechte Jagdausſichten. Alle kraftlos, al 
guten Muts. Dieſe Hilfloſigkeit, während die Kräfte ſchwinden, 
iſt heimtückiſch. Ich bin jetzt nur noch ein Skelett und werde von 


CD i 


Ein Gedentblatt. 349 


F chaten geſchüttelt. 5½ Uhr nachmittags ſind wir zum Auf⸗ 
uch nach Weſten bereit. Alles wird zurückgelaſſen. Ich habe 
r meinen Renntierpelz und ein Paar Extraſtiefel. Pflanzen, 
Filme und Notizbücher liegen am Rande des Inlandeiſes, unter 
einem Stein oberhalb der Terraſſe, wo wir die letzten zwei Nächte 
chlafen haben. Nehmen nicht einmal Zelt oder Primus mit, 
r Gewehr, da todmüde. Dies wird ein Marſch dem Tod ent⸗ 
gen, wenn kein Wunder geſchieht. Gewehr und Patronen werden 
genommen. ; 
 Harrigan ſchoß einen kleinen Haſen. Lesquerella, Hes- 
peris, Cerastium alpinum, Kobresia, C. nard. Eriophorum 
polystachyum, Poa cenisia, Trisetum, Hierochloa, Luzula 
nivalis, Saxifraga oppositifolia in Blüte, Alsine verna, Silene 


Knud, der am 25. Auguſt abends wegging, kann möglicher⸗ 
weiſe in ſechs bis ſieben Tagen in Etah ſein; dann können uns die 
Hilfsſchlitten am Rande des Inlandeiſes um den 4. September 
erreichen, und wir könnten am 8. September in Etah ſein. Ge⸗ 
ttet aus dem Kampf mit dem Hungertod, der ſeit Mitte Mai 
dauert hat. Grauenhafte Erinnerung, die dem Leben für immer 
te düſtere Farbe gibt. Wenn die Gleichgültigkeit des Todes dem 
Leben gegenüber ſich einſtellt und die Mattigkeit überhandnimmt, 
verſchwinden ſogar die Eßphantaſien, und die Gedanken beſchäftigen 
ich mit denen zu Hauſe und dem ſeltſamen Fazit des Lebens. 
Recht guter Schlaf trotz des Karbunkels. Aufbruch 12 Uhr 
mittags. Graukalter Nebel. Am Rand des Inlandeiſes entlang. 
Erlegten vor 3 Uhr nachmittags drei Haſen, kochten ab. Dann 
weiter nach Weſten 7 Uhr nachmittags. Blockterrain. Drumlin⸗ 
indſchaft. Denke zumeiſt an einen Sanatoriumsaufenthalt für 
meinen armen, erſchöpften Körper und meine leidende Seele. 
Schleppen uns zwei Stunden in kaltem Nebel über ſchweres, 
ſteiniges Felſengelände bis 9 Uhr abends vorwärts. Bekommen 
abends noch einen kleinen, grauköpfigen, jungen Segen, 1,4 Grad 
unter Null. 
Nachtlager auf Moos zwiſchen Steinblöden an einem kleinen 
Randſee am Inlandeis, dem wir folgen. Wäre ich nur in einem 
Sanatorium! Dies iſt ſchlimmer als der Tod. 
Tagemärſche von etwa 6 Kilometer. Heute 5 Kilometer. 


350 Vierzehntes Kapitel. 


27. Auguſt. Da wir nichts anderes mitgenommen haben als 
zwei Gewehre, drei Decken, meinen Pelz, fünf Zündholzſchachteln 
und ein Kochgefäß, iſt unſere Ausrüſtung für eine zwei⸗ bis drei⸗ 
wöchige Herbſtkampagne äußerſt einfach und „eskimoiſch“. Legen 


uns um 11 Uhr auf einem Moosabhang ſchlafen. Aufſteigender 


Nebel, 0,5 Grad unter Null und etwas Graupelſchnee. Die 
Eskimos, die energiſchen Wilden, wieder nach Haſen, kehren zurück. 


4 Uhr nachmittags. Die Eingeweide werden wie immer roh 


gegeſſen, das Blut wird in die Suppe geſchüttet und dann ein 
neues Haſengericht. Herrlich, 4 Haſen an einem Tag für 4 Mann! 
— Das bedeutet das Leben für uns. Die Suppe wird aus dem 
Kochkeſſel der Reihe nach getrunken, da wir unſere Taſſen zurück⸗ 
gelaſſen haben. Meine Kräfte, die faſt zu Ende waren, kehren 
zurück, und ich hoffe, das Schwindelgefühl in Kopf und Herz zu 
überwinden. Aber die letzten Tage bin ich dem Tode näher ge⸗ 
weſen als dem Leben. Kann mir wieder ein wenig Kautabak 
geſtatten, der vorher Gift für meinen leeren Magen war. Hoffe, 
daß die Diarrhöe von dem Hundefleiſch ſich jetzt gibt. Der junge 
Haſe ſchmeckt ausgezeichnet, wie junges Huhn. Wir machen Feuer 
mit Cassiope und noch beſſer mit alten trockenen Zweigen der 
Salix arctica, fingerdick. Vegetation für dieſes Jahr zu 
Ende. Alles gelb und braun und zur Winterruhe bereit. Früchte 
von Cassiope, Saxifraga oppositifolia, tricuspidata, Dryas, 
Potentilla, Draba-Arten, Wahlbergella etc. — Wahlbergella 
affinis und triflora. 

Eine Lumme, Gänſe, Seeſchwalben, Schneeſperlinge in Scharen. 
Mitternachtsdämmerung. Gneishügel, Renntierſpuren. 

Der Bootsmann in der Nacht wieder einen Haſen. Kalt. 


Nebel. Schneefall. Diarrhöe. Elend. Aufbruch 1 Uhr nachmittags 


bei Schneetreiben. Colpodium, Cystopteris (gewöhnlich), Lyco- 
podium Selago, Rhododendron, Grauzeiſige in Mengen. See⸗ 
ſchwalben, Falken. Reiches Tierleben und viel Plankton in ver⸗ 
ſchiedenen kleinen Seen. Saxifraga cernua fußhoch mit End⸗ 
blättern. Myrtillus uliginosa, blutrot, ſehr gewöhnlich, immer 
ohne Beeren. Juncus biglumis, Epilobium latifolia, ohne Frucht, 
Hesperis (gewöhnlich) in Frucht, Oxyria, Draba nivalis, hirta, 


1 


Cardamine bellidifolia. Der Bootsmann einen jungen Hajen. : 


4% nachmittags. Schneegeſtöber, Nebel. Teilten die Eingeweide 1 


Ein Gedenkblatt. 351 


ſofort und eſſen ſie roh, Körper warm. Ja, der ganze Haſe 
wurde in vier Stücke geteilt, die roh gegeſſen wurden. Anſtren⸗ 
gender Marſch bis 12½ Uhr früh, ohne Wild zu finden. Ich halb⸗ 
tot, fand aber Woodsia. 

29. Auguſt. Legte mich zur Ruhe um 7 Uhr nachmittags, denn 
ich will nicht hemmend wirken auf die Bewegungsfreiheit meiner 
Kameraden, von der ihre Lebensrettung abhängt. 


* * 
*. 


So ſtarb Dr. Wulff, indem er ſich ſelbſt für die Reſultate, von 
denen er ſoviel ſprach, opferte. Oft hatte er während des letzten 
Teils der Reiſe hervorgehoben, daß die Sammlungen, die wir 
unter allen Wechſelfällen mit uns geführt hatten, allmählich ſo 
teuer erkauft wären, daß ſie unſerm eigenen Wohlergehen voran⸗ 
zuſtellen ſeien. Daher traf er in entſcheidender Stunde mit großer 
Ruhe ſeine Anordnungen und nahm Abſchied von den Menſchen, 
die ſeinem Herzen am nächſten ſtanden. Der Brief an ſeine junge 
Tochter war ein letztes Liebeszeichen eines vom Tode gezeich⸗ 
neten Vaters, beſtimmt für die, die er als Höchſtes in ſeinem 
Leben geſchätzt hatte, Worte, ſtolz und zart, die hier nicht wieder⸗ 
gegeben werden können. Aber den Sohnesgruß von der Schwelle 
des Todes an die beiden alten Eltern, die vergebens auf ſeine 
Heimkehr warten ſollten, geben wir hier mit ihrer Erlaubnis 
wieder als das ſchönſte Denkmal, das man einem ſterbenden 
Mann ſetzen kann: 
Mit ſteifgefrorenen Fingern nur einen letzten Gruß, ehe ich 
mich, erſchöpft von den Mühen der Reiſe, zur Ruhe lege. Ich 
erwarte den Tod mit vollkommener Gemütsruhe und habe Frie⸗ 
den in meinem Herzen. Bis zuletzt habe ich ehrlich verſucht, unſerm 
Namen Ehre zu machen, und ich hoffe, daß die Früchte meiner 
Arbeit gerettet werden. — Dank für alles Gute, was Ihr mir 
ſeit meiner früheſten Kindheit mitgegeben habt als Gabe für die 
Lebenswanderung.“ 


Fünfzehntes Kapitel. 
Heim nach Thule. 


D. erſten drei Wochen, die wir in Etah verbrachten, waren g 
wir ausſchließlich damit beſchäftigt, ſo raſch wie möglich 


wieder zu Kräften zu kommen. Als wir unſere Kleider ablegten, 


war es unheimlich zu ſehen, wie ſtark der Hunger auf unſern 
Körper gewirkt hatte. Wir waren jo abgemagert, daß namen 
lich Rippen und Bruſtkorb ſcharf unter der Haut hervortraten. 


Aber trotzdem wir ſo weit heruntergekommen waren, wie es wohl 


überhaupt möglich war, wenn wir mit dem Leben davonkommen gg 


ſollten, war es doch erſtaunlich, wie raj wir uns wieder er⸗ 


holten. Es war, als ob unſer ganzer Organismus gereinigt und 
erneuert worden wäre, denn nach knapp einem Monat waren wir 
in beſſerer Form als je zuvor. Wir konnten alle wieder mit friſchen de 
Kräften zugreifen, es gab viel zu tun, und vide Ent: 


ſcheidungen waren zu treffen. Wir wußten nun, daß kein Schiff 


kommen würde, um uns zu holen, und daß wir daher mit Faſſung 
einer neuen Überwinterung entgegenzuſehen hatten, einer Warte⸗ 
zeit, die bei den Lebensbedingungen, die wir uns verſchaffen konnten, 
uns kaum Arbeitsmöglichkeiten von einiger Bedeutung bieten 


würde. Wir mußten ſo raſch wie möglich nach Süden, denn es 


war uns klar, daß ſich ein längerer Aufenthalt in Etah nicht 


durchführen ließ. 


Der Herbſtfang war den Eskimos gänzlich mißglückt, und es 
wäre unverantwortlich von uns geweſen, mehr als unbedingt not⸗ 
wendig von dem amerikaniſchen Proviant zu verbrauchen, den 
unſere Wirte in Beſitz hatten; ſie würden ihn im Laufe des 
Winters ſelber ſehr nötig haben. Schon Ende September war 


jeder Tag ein Kampf um das Fleiſch. Es gab wohl eine ganze Br. 


Menge Hajen in der Umgebung, und fie wurden auch von uns SØ 


Heim nach Thule. | 353 


fleißig gejagt. Aber obgleich die Ausbeute gut war, machte es 
doch wenig für uns alle aus, denn wir waren im Expeditionshaus 
nicht weniger als 28 Hausgenoſſen. Zweimal am Tage ver- 
ſammelten wir uns zu einer großen, gemeinſamen Mahlzeit, zu 
der jeder Jäger feinen Beitrag gab. Aber obgleich der Wille zu: 
geben gut war, ſahen wir doch ein, daß eine Verteilung auf 
andere Ernährungsgebiete vorzuziehen ſei. 

Die Expedition hatte jedoch noch zwei Aufgaben zu löſen. 
Wir waren uns einig, daß wir ſehr ungern den Diſtrikt verlaſſen 
würden, ohne getan zu haben, was wir konnten, um Dr. Wulff 
zu begraben. Und dann ſtanden ja noch die Sammlungen der 
Expedition an der Abſtiegſtelle bei Kap Agaſſiz, und dieſe mußten 
fo raſch wie möglich geholt werden, da wir ſonſt riskierten, daß 
Bären oder Füchſe die Depots zerſtörten. Niemand von uns 
hatte indeſſen für einen ſofortigen Aufbruch die nötige Kleidung, 
und außer einigen Ergänzungen konnte in Etah auch nichts 
beſchafft werden. Unſere Ausrüſtung mußten wir daher von 
den großen Wohnplätzen der Inglefieldbucht beziehen, wo, 
wie wir wußten, immer Überfluß an Fellen war, die 
wir dringend brauchten. Folgende Anordnungen wurden daher 
getroffen: : 

Kod follte bis auf weiteres mit ein paar Familien, die nod) 
nicht nach Süden zu gehen wünſchten, in Etah bleiben. Alle 
andern dagegen ſollten Etah verlaſſen und weiter im Süden 
einen Verſuch mit der Herbſtjagd auf Neueis machen, wodurch 
die Proviantfrage für die Zurückbleibenden leichter zu löſen war. 
Es gab hier noch bedeutende Vorräte an Getreide, Grieß, Mehl, 
Erbſen, Gemüſe und Speck, aber das friſche Fleiſch war knapp, 
ſolange unſer ſo viele waren. 

Mit den nach Süden fahrenden Schlitten ſollte ich über den 
Gletſcher nach Neqe gehen, von wo aus ich, ſobald die Eisver⸗ 
hältniſſe es erlaubten, die Reiſe beſchleunigt nach Thule fort⸗ 
ſetzen ſollte. Es war hohe Zeit, daß ich jetzt in meiner Station 
Anſtalten traf, wie wir uns am beiten für eine neue Überwin- 
terung einrichteten. Unmittelbar nach meiner Ankunft ſollte Peter 
Freuchen zu Koch hinaufreiſen und mit ihm die Reiſe nach dem 
Inglefieldland machen. Ajako und der Bootsmann, die ſich dieſer 
Reiſe anſchließen ſollten, mußten vorläufig nach Igdluluarſſuit, 

Rasmuſſen. , 23 


354 Fünfzehntes Kapitel. 


wo ich Kleider, Hunde und andere Ausrüſtung für fie anſchaffen 
wollte. Nur ſo glaubten wir die noch zu löſende Aufgabe durch- 3 
führen zu können. a 

Ein Verſuch, Dr. Wulff ; zu begraben und unſere Sachen vom 
Inlandeis abzuholen, war ſchon gemacht worden. Er war ber 
mißglückt, obgleich die Aufgabe in den Händen Ajakos ruhte, der 
als erſter nach unſerer Ankunft in Etah wieder zu Kräften ee 
kommen war. Es galt, die Zeit vor Eintritt der Dunkelheit zu 
benutzen; daher hatte ich ein Hundegeſpann für Ajako geliehen, 
der ſich mit zwei andern Schlitten aus Etah am 19. September 
auf den Weg machte, wobei er denſelben Weg über das Inlandeis | 
einſchlug, auf dem wir gekommen waren. Leider kamen die bee 
rüchtigten Herbſtſtürme unmittelbar nach ſeiner Abreiſe, und am 
27. September erlebten wir alle die Enttäuſchung, ſie zurückkehren 
zu ſehen, ohne daß ſie ihr Ziel erreicht hatten. Ajako erzählte, 
ſie ſeien oben auf dem Gletſcher eine ganze Woche durch heftige 
Schneeſtürme feſtgehalten worden, und da das Hundefutter ver⸗ N 
braucht und ihr eigener Proviant verzehrt war, hatten fie ſich ze 
Umkehr gezwungen geſehen. Auf dieſer Reiſe waren Ajako und 
ſeine Begleiter hauptſächlich mit einem Walroß verproviantiert 
geweſen, das er während ſeines Aufenthalts in Etah erlegt hatte. 
Für eine neue Reiſe von längerer Dauer ließ ſich nicht mehr ge⸗ 
nügend Hundefutter beſchaffen. Dies war der Grund, daß wir 
uns gezwungen ſahen, Fleiſch aus beſſer verſorgten Gegenden DE 
auf der andern Seite des Inlandeiſes zu holen. 

Es war Kochs Aufgabe, ſobald die notwendige Ausrüſtung 
beſchafft war, nach Norden zu gehen und die beiden obenerwähnten 
Aufgaben zu löſen. Bei Igdluluarſſuit und Ulugſſat gelang es = 
mir, durch Borg und Kauf im Laufe einer Woche Ajako und den 
Bootsmann mit Hunden und Kleidern auszurüſten. Sie machten 
ſich ſofort auf den Weg nach Etah, um die Sammlungen vom 
Humboldtgletſcher zu holen, den man von hier auf dem Meereis 
erreichen konnte. Kochs Kleider waren dagegen noch nicht fertig, 
und da es ſich herausſtellte, daß es längere Zeit dauern würde 
als urſprünglich berechnet, mit Freuchen in Verbindung zu 
kommen, teilte ich Koch mit, er ſolle Ajako und die andern allein 
zu den Sammlungen fahren laſſen und ſolle ſelbſt Freuchens An⸗ 
kunft abwarten. Mit dieſem ſollte er, wenn ſeine eigene Aus⸗ 


> er. "Hein 5 Thule. ; 355 


üftung fertig ſei, nach der Schlucht nordöſtlich von Kap Scott 
ahren, um Dr. Wulff zu begraben. 

Die Schlitten wurden aus verſchiedenen Gründen aufgehalten, 
d als ſie endlich nach Etah kamen, immer noch ohne Freuden 
d ohne beſondere Ausrüſtung für Koch, meinte dieſer, das 
geslicht ſei jetzt ſchon ſo ſchwach, daß es höchſte Zeit ſei auf⸗ 
brechen. Reſolut wie immer, entſchloß er ſich, Ajako zu be⸗ 
ten; infolge ſeiner abgenutzten Kleidung hatte er auf der 


ſe in dem kalten Herbſt außerordentlich viel auszuſtehen. Man 


CJ 


fee Elah-Thuie 
z 78 - 


70° 


Von Etah nach Thule. 


erreichte die Gegend um Kap Scott an einem der letzten Tage 
s Oktober. Aber es ſtellte ſich leider bald als unmöglich her⸗ 
aaus, den Ort zu finden, wo man vor beinahe zwei Monaten von 
Wulff Abſchied genommen hatte. Viel Schnee bedeckte das da⸗ 
mals ſchneefreie Land, Schluchten und Steine waren ſo verweht, 
daß der Platz unkenntlich war. Dazu kam, daß man infolge des 
hwachen Tageslichts keine rechte Überjiht über das Land ge— 
nen konnte. Weitere Nachforſchungen mußten daher auf⸗ 
gegeben werden, und die Expedition beſchränkte ſich darauf, die 
Sammlungen bei Kap Agaſſiz zu holen. Dieſe kamen Mitte 
| 23* 


* 


356 Fünfzehntes Kapitel. 


November wohlbehalten in Thule an. Meine eigene Reiſe von Etah 
nach Thule, die wegen der frühen Jahreszeit auf mancherlei 
Schwierigkeiten ſtieß, will ich im folgenden an der Hand e 
Tagebuchaufzeichnungen ſchildern. 


* * 
* 


Am 1. Oktober mache ich mich mit den Etahſchlitten über den 
jetzt eisbedeckten Fjord nach dem Gletſcher auf. Der Aufbruch 
findet bei wütendem Sturm ſtatt; es ſtürmt immer in Etah, wenn 
anderswo klarer Himmel und ſchönes Wetter iſt. Der Sturm 
und das Schneegeſtöber begleiten uns bis auf das Inlandeis hin⸗ 


auf, wo wir nach vierzehnſtündiger Fahrt um 3 Uhr morgens 


das Zelt aufſchlagen. 

Eine ſehr kalte Nacht. 

Da ich keinen Schlafſack habe, erwache ich ſchon nach zwei 
Stunden mit klappernden Zähnen und treibe zum Aufbruch. Wir 
trinken zur Erwärmung ein paar Taſſen Tee und machen uns um 
7 Uhr morgens auf den Weg. 

Schönes, ruhiges Wetter, ſchwere Bahn, ziemlich viel Schnee 
auf dem Gletſcher. Aber wir nehmen uns vor auszuhalten — 
und hielten aus trotz ſchlapper Hunde — und kommen ohne 
weiteren Schlaf am 3. morgens um 4 Uhr am Wohnplatz Wege 
an. Großer Empfang von lauter Frauen. Die Männer waren 


am Tage vor unſerer Ankunft auf Renntierjagd nach dem Ingle⸗ 


fieldland gezogen. 


Auf der See lag, ſoweit wir ſehen konnten, Neueis; nur am 1 


Waſſer entlang, ein Stück in den Fjord hinein, war eine offene 
Rinne. 

Wir blieben einen Tag in Neqe und wurden den ganzen Tag 
ununterbrochen aufs herzlichſte in allen Häuſern mit köſtlichem 
Mattak bewirtet. 

Am 5. morgens mußten wir bei dem Berge Naufjartalik 
wieder auf das Inlandeis und gelangten über einen lokalen Gletſcher 
abends nach Igdluluarſſuit. Hier wohnte Sipſu, der uns auf der 


Ausreiſe bis Halls Grab begleitet hatte; der Empfang war hier, 


wo wir zu alten Reiſekameraden kamen, nicht minder herzlich. 
Man nähte Kleider für uns, man verarbeitete gute Moſchusochſen⸗ 


felle zu Schlafſäcken, und ſchließlich wurden Kleider für Koch beſtellt. 


Heim nad Thule. 357 


Schon ein paar Tage ſpäter verſuchte ich dem Ende des Ingle⸗ 
fieldgolfes näherzukommen und von da aus über das Inlandeis 
nach Thule zu gelangen. Aber leider mußte ich umkehren, weil 
das Neueis noch nicht trug. Bei dem Wohnplatz war der Herbſt⸗ 
fang in vollem Gang, und unſere Begleiter aus Etah nahmen 
ſofort daran teil. Ich mußte indeſſen die Reiſe beſchleunigen, 


* damit Koch und Freuchen ihre Reiſe antreten konnten, ehe die 


Tage zu kurz würden; ſchon am 14. trat ich daher mit Harrigan 
den Weitermarſch nach Süden an. 

Unſer Weg ging hinten um Qana herum über Iterdlag⸗ 
ſſuag, dann über drei große Seen und einen kleinen Gletſcher, der 
nach Kangerdluarſuk hinabführte. Eigentümlicherweiſe kamen wir 
hier weit im Lande drin an einem Fluß vorbei, der vom Inland⸗ 
eis in den mittleren See lief und deſſen Waſſer vollſtändig ſalzig 


Aund ungenießbar war. 


Weiter drin kamen wir zwiſchen zwei Gletſchern durch, die 
ungefähr bei der Abfahrſtelle nach Kangerdluarſuk zuſammen⸗ 
ſtoßen. Der gegeneinander gerichtete Druck der Gletſcher hat hier 
die Steine des Bodens aufgepflügt, ſo daß es von oben wie eine 
mächtige, gepflaſterte Landſtraße ausſieht, die zwiſchen den beiden 
Gletſchern verläuft. Ein Stück weiter abwärts, wo die Gletſcher 


@ ſich mehr genähert haben, bekommt die emporgepreßte Moräne, 
die aus lauter großen Steinen beſteht, den Charakter eines unten 


breiten und oben ſcharfen Rückens, der höchſt phantaſtiſch ausſieht. 

Vor der Mündung des kleinen Kangerdluarſuk trafen wir 
wieder auf das offene Waſſer, das uns das vorige Mal auf⸗ 
gehalten hatte. Ich faßte daher einen neuen Entſchluß, da ich 
um keinen Preis umkehren wollte. Ich wollte verſuchen, wieder 
hinauf über den Gletſcher zu gehen, hinten um Quiniſut herum⸗ 


3 zufahren und auf dieſem Wege den innern Teil des Inglefield⸗ 


golfes zu erreichen, wo jetzt Eis ſein mußte. 
Ein Tag wurde damit verbracht, einen Aufſtieg zum Gletſcher 


= zu ſuchen, und es gelang uns endlich, eine Stelle zu finden, von 


der aus wir den Verſuch machen wollten, wenn ſie auch nicht ſehr 
einladend ausſah. Ein ſteiler Gletſcherrand, auf dem wir bis weit 
hinauf Stufen ſchlagen mußten, glattes, blaues Eis, auf dem man 


balanciert, unter beſtändiger Gefahr abzurutſchen. Das Ge⸗ 


päck mußten wir auf dem Rücken über ſteiles Berggelände und 


358 Fünfzehntes Kapitel. „ 


weichen Schnee ein Kilometer weit tragen. Endlich, nach vier 
Stunden ſchwerer Arbeit, find wir jo hoch oben, daß wir Schnee 
finden und anfangen können zu fahren. Abends bei Einbruch der 
Dunkelheit fuhren wir über ſchneefreies Bergland hinab, das mit 
großen, loſen Steinen überſät war, die mit uns um die Wette 
dahinrollten, wenn der Schlitten oder die Hunde ſie gelockert 
hatten. Wir erreichen, einem Flußlauf folgend, die Küſte; am 
nächſten Tage ſollte das Eis erprobt werden. Nach einem guten 
Nachtſchlaß in warmen Moſchusochſenfellen probierten wir bei Be 
Tagesgrauen das Fjordeis. Es konnte uns nicht tragen! = 
Warten wollten wir nicht, und ſo mußten wir wieder auf das 
Eis hinauf, erſt auf den Gletſcher, etwa an der Stelle, wo die 5 
beiden Bergkuppen Qatarſſuit liegen, die ihren Namen tragen, 
weil ſie aus der Entfernung zwei umgekehrten Eimern gleichen. 
Aber es erwies ſich als unmöglich, vom Gletſcher hinabzuſteigen. 
Nach ſtundenlangem Suchen im Schneeſturm, der mit ſo hef⸗ 
tigen Stößen daherfuhr, daß er uns oft über den Haufen blies, 
fanden wir endlich einen Flußlauf, der direkt in den Gletſcher 
wie in eine große, künſtliche Höhle hineinging; man ſah von der nl 
Offnung aus in einen ſchwarzen, bodenlojen Abgrund. Aber wir 
ſagten uns, der Fluß müſſe ſich, als er ſich ſeinerzeit in das In⸗ 
landeis hineinbohrte, einen Auslauf an der Moräne geſchaffen 
haben. Wir ließen uns daher, ein Tau um den Leib, in dieſe Rutſch⸗ 
bahn hineingleiten und rutſchten ins Dunkle. Es war eine aben⸗ 
teuerliche Fahrt, die damit endete, daß wir uns plötzlich über der 
Moräne in der Luft ſchwebend fanden, wie aus dem Rachen eines 
Ungeheuers ausgeſpien. Hier konnten wir das Tau verlängern 
und uns zum Fjord hinablaſſen. Auf dieſelbe Weiſe wurden nach 
und nach alle Hundeſchlitten transportiert, bis der letzte Mann 
die vielen Luftreiſen beſchloß, indem er das Tau doppelt durch ; 
ein in den Gletſcher geſchlagenes Loch zog. E 
Über gutes Land und zwei mit feinem Schnee bedeckte große 
Seen kamen wir zur Küſte hinab und begannen den Abſtieg auf 
das Eis. Es war der abenteuerlichſte, den ich je erlebt habe, ſo 
ſteil, daß man nur mit größter Gefahr hinabklettern konnte, nach⸗ 
dem man zunächſt den Schlitten ein Stück heruntergelaſſen hatte. 
Der Berg, von dem wir in dieſer Weiſe abſtiegen, war 600 8 
hoch. 


1 f * 4 a 
1 


2 fr al 
8 


Ber 
RT eg 


Heim nach Thule. 359 


Schließlich waren wir unten auf dem Eis und bei Anbruch der 
Dunkelheit hielten wir, von Paſtor Guſtav Olſen herzlich emp⸗ 
fangen, unſern Einzug in die Miſſionsſtation Kangerdlugſſuag. 
Es war am 17. Oktober, daß wir zur Miſſionsſtation kamen; 
wir raſteten hier ein paar Tage, um nach der ſehr anſtrengenden 
Reiſe der letzten Tage ein wenig zu verſchnaufen. Vom Morgen 
bis zum Abend wetteiferten alle Bewohner des Ortes, uns feſt⸗ 
lich zu bewirten, und die Menüs enthielten nicht nur das beliebte 
Mattak, ſondern auch Delikateſſen, wie Renntierfleiſch und Lachs. 
Mährend unſeres Aufenthaltes wurde ein Gedenkgottesdienſt 
für unſere verſtorbenen Kameraden gehalten; dabei ſprach Paſtor 
Olſen ſo ergreifend, daß die ganze Einwohnerſchaft, die dem 
Gottesdienſt beiwohnte, zu Tränen gerührt war. 
Am 21. Oktober nahmen wir wieder Abſchied, und von zwei 
Brüdern der Miſſionsſtation begleitet fuhren wir über das ſchnee⸗ 
freie, ſteinige Land und den großen Lachsſee nach der Olrikbai 
3 und von da wieder über das Inlandeis nach Thule, wo wir am 
22. Oktober ankamen. 
Ankunft in Thule. 
Als ob alle Häuſer plötzlich einen Niesanfall bekommen hätten, 
ö ftoben aus jedem Haus Menſchen heraus; ſie ſtürmten uns ent- 
gegen und umringten uns. Nur Harrigans junge Frau kam nicht 
heraus, ſie war von der Freude über unſere plötzliche Ankunft ſo 
überwältigt, daß ſie in Tränen ausbrach und nicht imſtande war, 
ſich von ihrer Pritſche zu erheben. 
Ich ſelbſt eilte zu Freuchen hinab, deſſen Haus eine Viertel⸗ 
ſtunde vom Wohnplatz der Grönländer entfernt liegt. Er lag 
im Bett und las eine ein Jahr alte däniſche Zeitung. Ehe er 
wußte, wie ihm geſchah, ſtand ich plötzlich wie aus der Erde ge⸗ 
ſchoſſen, friſch von der Fahrt, mitten in ſeiner Stube; die Kälte 
ſtrömte aus meinen Kleidern. 
Dien Blick, den mein alter Freund auf mich richtete, werde ich 
nicht vergeſſen, ſolange ich lebe. 
Ich war wieder daheim in Thule! 


1 


Regiſter. 


Adam⸗Biering⸗Land 201. 

Advancebai 68. 86. 88. 304. 

Ajako, Eskimo, Begleiter Rasmuſſens 
5. 51. 67. 112. 113. 140. 146. 148. 
149. 154. 162. 171. 172. 175. 176. 
177. 182. 187. 200. 204. 229. 230. 
244. 245. 263. 264. 265. 298. 299. 
301. 302. 310. 322. 353. 354; erlegt 
die erſten Moſchusochſen 137. 

Aldrich, Leutnant 118. 131. 

„Alert“, Expeditionsſchiff 80. 113. 117. 
118. 131. 133. 

Anoritog, Wohnplatz 19. 33. 34. 58. 61. 
64. 86; Sage 58. 61. 

Aſtrup, Polarforſcher 150. 278. 


Aunartog (Renslaer Harbour), Wohn⸗ 


platz 62. 65. 


Baffin 9. 

Baffinbucht 31. 66. 80. 103. 

Bären, ſ. Eisbären. 

Barents 78. 

Bartlett, Kapitän 311. 320. 

Baſalt 45. 

Beaumont, Leutnant, ſpäter Sir Lewis 
III V. 122. 130 — 134. 136. 144. 194. 

Beaumontinſel 128. 238. 

Beaumonts Steinmal 130. 131. 134. 153. 

Bentonbai 92. 

Beſſels, Dr. Emil 107. 109. 

Beſſelsfjord 99. 

Blaufuchs 22. 31. 33; Fang in Fallen 22. 

Blue Point 208. 210. 

Böggild, Profeſſor 3. 

Böggildfjord 202. 


Bootsmann (Naſaitſordluarſuh, Eskimo, 
Begleiter Rasmuſſens 5. 139. 159. 
160. 187. 244. 248. 252. 301. 302. 

Bootsmannſund 206. 

Brainard 193. 194. 195. 196. 199. 

Brönlund 218; letzte Tagebucheintragung 
219. 

Budington, Kapitän 106. 107. 109. 


Cairnſpitze 109. 

Caßbai 89. 90. 

Cassiope, ſ. Heidekraut. 

Caſtle⸗Inſel 146. 149. 

Chip⸗Inlet 163. 164. 166. 169. 174. 
177. 

Comer, Kapitän 53. 319. 

Cook, Dr. 58. 

Coppinger, Dr. 131. 133. 

Crockerland⸗Expedition 3. 53. 54. 311. 
316; Haus 316. 317. 

Crozierinſel 95. 


Dallasbai 85. 86. 

Daniel⸗Bruun⸗Gletſcher 245. 255. 257. 
261. 270. 272. 

„Danmark“, Expeditionsſchiff 3. 311. 
319. 320. 321; in Thule 42. 44. 45. 

Danmarkfjord 218. 


De⸗Long⸗Fjord 93. 160. 168. 187. 192. 


194. 200. 201. 202. 203. 229. 
Depotinſel 144. 
Deutſchland 312. 
Devonperiode 239. 


„Discovery“, Expeditionsſchiff 80. 113. 3 


118. 134. 


Discoveryhafen 193. 

Drachenberg 241. 242. 244. 246. 258. 
Dragon Point 128. 129. 131. 133. 182. 
205. 236. 240. 241. 246. 
Durchfahrt, nordweſtliche 69. 


Eidervogel 22. 
„Eidervogel“, Geſchichte vom 64. 65; 
ſ. a. Miteq. 

Eis, Anderung durch Schmelzen 239. 
2240. 241; Beſchaffenheit 86; Vertei⸗ 
lung durch die Winde 31. 34. 

Eisbären 31. 34. 138. 145. 190. 217. 
288. 304. 

Eisbärenjagd 23. 24. 96. 
Eisberge 100. 164. . 

Eisfuß 47. 62, 80. 81. 94. 112. 125. 
127. 

Eeisgänſe 177. 178. 191. 206. 
ECiliſoninſel 209. 211. 212. 214. 

Emoryfjord 210. 
CErichſen, Großhändler 3. 

Eskimos, Amulette 40; Andenken an 
Verſtorbene 41; Anſicht vom Lemming 
163; Arbeit der Frau 26. 27; Be⸗ 
grüßung 47; der erſte Bericht über 
ſie 9fg.; Beſtandteile des Menſchen 
(Seele, Körper, Name) 40. 41; Bilder⸗ 
ſchrift 315; Einwanderung 66; Er⸗ 
innerung an Hayes 56, an Kane 76. 
78; Expeditionsteilnehmer 5; Fleiſch⸗ 
gruben 90. 92; Geiſterbeſchwörer 39; 
Gutherzigkeit 321; Häuſer 47. 85; 
Hunde, ſ. d.; Jägervolk 13. 14. 20; 
Jugend 26; Kleidung 21. 26. 27; 
Krankheiten 26; Land 9; Leben im 
Haus 46; Lebensanſchauungen 36; 
Nahrung 20; Nordgrenze 2; Religion 
36. 39. 40. 41; Ruinen 85. 86; Sagen 
9. 10. 11. 36. 207, über die Ent⸗ 
ſtehung des Krieges 83. 84, über die 
Entſtehung der Menſchen 37. 38; 
Sängerfeſt 48; Schlitten 20. 73; 
Schneehaus 29; Schneeſchuhlauf 67. 
68; Sitten 64; Steinhütten 34. 84; 
Tauſchhandel 15; Tod 38. 39. 40. 


Regiſter. 


361 


267; Todesverachtung 18fg.; Waffen 
15. 21. 24. 25. 73; Wanderungen 2. 
18. 19. 20. 26. 93. 204; Wandervolk 
34. 35; Winterhäuſer 2. 27— 29. 65. 
90. 92; Wohnplätze 29. 30. 33. 46. 195, 
Einteilung 29. 30; Wohnung 27. 29; 
Zauberformeln 40. 50. 51; Zeichen 
der Freude 90. 91. 222. 248; Zelte 
29; Zeltringe 92. 

Etah 3. 19. 33. 53. 54. 244. 300. 309. 
316. 353. 356. 

Etahland 322. 346. 

Eule 167. 168. 


Felle, verſchiedene Wertung 25. 27. 

Filmaufnahme 66. 67. 

Flechten 275. 

„Fleiſchtopf“, Ortlichkeit 
Sage 207. 

Floeberg Beach 117. 118. 

Föhn 29. 30. 281. 287. 

Fort Conger 18. 112. 193. 195. 197. 

Foulkefjord 54. 

Franklin, Sir John 69. 70. 

Franklinbai 126. 

Frederik⸗Hyde⸗Fjord 200. 

Freuchen, Peter 2. 219. 319. 353. 357. 
359. 

Fuchs 143; Fallen 81. 82. 


Gap Valley 122. 133. 

Geſteine 45. 62. 81. 

Gletſcherdonner 240. 

Gletſcherdruck 357. 

Gletſcherflüſſe 291. 293. 294. 295. 296. 

Gneis 62. 85. 

Grammophon im Polargebiet 57. 58. 

Granit 62. 

Grantland 102. 112. 114. 117. 118. 
125. 131. 195. 

Greely 194. 195. 198. 

Greely⸗Expedition 1881 113. 193. 195 
199. 

Greelyfjord 196. 

Grinnell⸗Land 68. 98. 196. 285. 

Grönland, geologiſche Forſchungen 2. 3; 
kartographiſche Aufnahmen 3. 6. 


208. 213; 


362 


Hall, Kapitän 104; Tod 108. 

Halls Expedition 1871—72 106—111. 

Hallbecken 102. 112. 

Halls Grab 96. 102. 103. 104. 105. 

111. 115. 133. 134. 

Hannah⸗Inſel 99. 200. 

Harrigan (Inukitſoq), Eskimo, Be⸗ 
gleiter Rasmuſſens 5. 97. 99. 111. 
112. 113. 123. 157. 158. 160. 245. 
301. 302. 326. 327. 334. 342. 343; 
Bericht über Wulffs letzte Tage 341. 
342. 

Hartzſund 254. 

Haſen 25. 84. 114. 135. 141. 144. 156. 
217. 218. 241. 243 304. 

Hayes’ Polarexpedition 1860-61 54-57, 

Hayes über die Eskimos 54 fg. 

Hazenſee 195. 

Hendrik, Hans, Eskimo, Begleiter Kanes 
70. 107. 108. 118. 133. 190. 

Hendrikinſel 253. 254. 259. 

Heidekraut (Cassiope) 167. 303. 308. 

Heidelbeere 303. 348. 350. 

Hermelin 218. 244. 

Humboldtgletſcher 20. 24. 25. 29. 78. 


87. 88. 89. 91. 93. 100. 185. 243. 


244. 288. 304. 305. 

Hunde 33. 35. 36. 44 45. 47. 73. 95. 135. 
136. 141. 142. 153. 154. 170. 171. 173. 
177. 180. 205. 211. 212. 213. 221. 222. 
259; Behandlung 231. 232; Fleiſch 
282. 283; Hungerzeit 211; Krankheit 
176. 177; Nahrung 32; Schuhe 239. 
247. 284. 293. 346; Zähne 145. 


Jagdtiere 21. 

Jewell⸗Inlet 168. 184. 192. 

Igdluluarſſuit, Wohnplatz 51. 353. 356. 

Independencefjord 160. 161. 164. 181. 
201. 218. 219 

Inglefield, Kapitän 79. 

Inglefieldbucht 353. 357. 

Inglefieldgolf 33. 101. 

Inglefieldland 93. 94. 

Inlandeis V. 88. 114. 128. 134. 139. 
140. 149. 161. 164. 166. 185. 214. 217. 


Regiſter. 


r RR RENE, 


219. 235. 236. 239. 242. 258. 261. 
264. 270. 273. 274. 277. 278. 280. 


284. 285. 291. 300. 308. 314. 357. 


359; Abſtieg 358; ſchwimmendes 19. et 

146. 149. 150. 164. ØL SER 
Inukitſoq, ſ. Harrigan. 
John⸗Brown⸗Küſte 98. 


J- P.-Koch⸗Fiord 175. 177. 210. ain. 


219; Entdeckung 168. 169. 
Jungerſen, Profeſſor 3. 


Kajak bei den Eskimos 20. 1. 

Kalkſtein 94. 101. 121. Fr 

Kane 87. 88, FE 

Kanes Expedition 1853—56 54. 688g. 75 2 
Arbeit 78; 
Eskimos 71-78. 

Kanebecken 61. 68. 79. 80. 81. 88. 

Kangerdlugſuag, Miſſionsſtation 359. 

Kap Agaſſiz 86. 87. 88. 239. 249. 251. 
334. 341. 

— Alexander 53. 109. ; 

— Bennett 182. 183. 184. 206. 

— Brevoort 108. 121. 122. 123. 

— Bridgman 160. 202. 204. 

— Britannia 129. 194. ER 

— Bryant 93. 98. 99. 128, 194. 249, 

— Buttreß 149. 150. 239. 

— Callhourn 94. 

— Clay 89. 91. 92. 

— Conſtitution 78. 80. 93. 95. 96. 

— Emory 178. 179. 180. 184 

— Forbes 87. 290. 

— Gray 149. 150. 

— Jackſon 79. 

— Jefferſon 94. 

— Independence 95. 

— Ingerſoll 61. 62. 

— Inglefield 61. 

— Joſeph Henry 118. 

— Kent 86. 

— May 129. 136. 133, 151. 154.1506. 
194. 230. 238. 5 

— Mohn 192. 200. 206. 

— Morris Jeſup 160. 202. 204. 

— Morton 99. 118. ee 


erſte Begegnung ae 


Neumayer 180.182. 184. 188. 206. 
RE 


— Ramſay 206. 

— Ruſſell 84. 85. 301. 308. 

— Sabine 197. 

— Galor 161. 177. 178. 179. 184. 209. 
212. 213. 

— Scott 305. 334. 355. 

— Seddon 29. 96. 97. 

— Sumner 115. 117. 121. 

— Taney 81. 85. : 

— Tyjon 113. 

— Waſhington 93. 195. 

— Webſter 93. 94. 290. 

— Wohlgemuth 157. 158. 159. 

— Wood 85. 86. 

— Wycander 181. 184. 192. 206. 

— Pork 25. 31. 

Kap⸗York⸗Diſtrikt 31. 32. 
Karſtlandſchaft 276. 

Kaſſiope, ſ. Heidekraut. 

Kennedykanal 79. 98. 

Koch, J. P., Kapitän 3. 

Koch, Lauge, Geologe, Begleiter Ras⸗ 
muſſens 3. 5. 89. 90. 91. 99. 143. 
146. 160. 161. 171. 172. 174. 176. 
177. 182. 200. 204. 209. 221. 244. 
: 248, 249. 250. 269. 286. 300. 301. 
353. 354. 357; Bericht über Wulffs 
Ende 324 — 336; krank 149. 150. 152. 
153. 154. 155. 156. 

Kommunismus der Polareskimos 35. 36. 
Krabbentaucher 21. 22. 33. 34. 294. 
322. 346; Konſervierung 31. i 
Kriſtianſen, Frederik, Eskimo 193. 194. 
188. i 5 
Kryokonitlöcher 296. 347. 


Lachs 84. 85. 

Lady⸗Franklin⸗Bai 113. 114. 118. 134. 
193. 

Lemming 126. 143. 149. 162. 163. 164. 


| Regiſter. 


165. 170. 217. 218. 


363 


Lincolnſee 102. 115. 

Littletoninſel 54. 109. 

Lockwood 193. 195. 196. 198. 201. 206; 
Bericht 192; nördlichſter Punkt 123. 

Lockwoodinſel 194. 195. 

Lockwoods Steinmal 205. 

Low Point 181. 184. 185. 189. 191. 
206. 


Majag, Eskimo 58. 62. 63. 64. 65. 
67. 97. 

Markham 194; Reiſe 119. 120. 

Marſhallbai 84. 

Mascart⸗Inlet 168. 184. 185. 189. 192. 
200. ; 

McMillan, Donald 53. 54. 177. 319. 
320. 

MeMillantal 156. 157. 159. 220. 221. 
222. 228. 

Melvillebucht IV. 29. 31. 63. 87. 92. 
101. 190. 

Miteg, der „Eidervogel“, Eskimo 310. 
311. 313. 314; Hund 152. 153. 

Mitgardſchlange 276. 278. 

Mohn 167. 276. 347. 

Mohntal 161. 201. 

Moſchusochſen 112. 114. 121. 126. 135. 
136. 137. 138. 140. 141. 142. 145. 
159. 160. 169. 175. 178. 217. 222. 
229. 230. 

Moſchusochſenjagd 7. 25. 26. 225. 228. 
232. 233. 

Mount Coppinger 154. i ” 

Mount Farragut 154. 

Mount Hooker 129. 132. 133. 154. 

Mount Punch 124. 126. 

Möwen 174. 281; ſ. a. Raubmöwe, 
Sturmmöwe. 

Mylius⸗Erichſen 44. 160. 218. 219. 235. 

Myrtillus, ſ. Heidelbeere. 


Nares, Kapitän 134. 193. 

Nares' Expedition 1875—76 99. 101. 
117. 125. 130. 

Naresfjord 144. 

Nares⸗Inlet 157. 158. 


364 


Naresland 143. 

Narwale 32. 33. 34. 

Naſaitſordluarſuk, ſ. Bootsmann. 

Nebenſonnen 265. 291. 

Nege, Wohnplatz 51. 52. 353. 356. 

Netſilivik, Wohnplatz 45. 

Newmanbai 103. 105. 108. 113. 116. 
121. 122. 137. 

Nordenſkiöld⸗Einlaß 143. 218. 

Nordenſkiöldfjord 129. 140. 160. 161. 
163. 164. 166. 169. 201. 203. 214. 
215. 219. 

Nordſternbai III. 1. 

Nunatake 164. 214. 270. 284. 

Nyeboe, Ib, Ingenieur 3. 

Nyeboegletſcher 160. 

Nyeboeland 279. 


Offleyinſel 101. 102. 

Olſen, Hendrik, Eskimo 5. 160. 245. 
246. 248; Steinmal 265; Gedenkrede 
266 — 268; Verſchwinden 248. 250. 
255. 256. 

— Paſtor 359. 

Oſtenfeld, Muſeumsinſpektor 3. 


Packeis 31. 103. 

Papaver, ſ. Mohn. 

Parr, Leutnant 120. 

Parry, Kapitän 79. 

Peabodybai 86. 88. 89. 93. 185. 291. 
292. 304. 346. 

Peary IV. 16. 17. 54. 123. 124. 125. 
150. 188. 201. 202. 203. 214. 278. 
312; und die Eskimos 12. 13. 14. 
15. 54. 

Pearykanal 201. 214. 218; nicht vor⸗ 
handen 1. 

Pearyland 161. 166. 167. 169. 200. 201. 

Pemmikan, Pearys 178. 210. 

Peter⸗Freuchen⸗Land 219. 

Petermannfjord 99. 100. 101. 111. 114. 
279. 281. 284. 

Piminſel 197. 

Polareis 98. 102. 121. 122. 125. 188. 
206. 220. 


Regiſter. 


Polareskimos IV. 4; ſ. Eskimos. 
Polarexpeditionen, frühere, Ausrüſtung 
und Erfolge IV. 5. 6. 
Polarforſcher, däniſche 204. 
Polarforſchung, internationale 193. 
„Polaris“, Expeditionsſchiff 54. 80. 104. 
107. 109. 113. É 
Polarishalbinſel und Vorgebirge 103. i 
105. 108. 115. 3 
Polarmeer 217. 234; offenes 54. 69. 70. | 
78. 79. 80. 102. 103. 107. 242. 
Polarrekorde 16. 107. 119. 123. 194. 
Polarweide 141. 167. 303. 308. 347. 
348. 350. 2 i 
Polarwolf 126. 135. 143. 147. 148. i 
151. 218. 256. 259. 


Preßeis 61. 112, 115. 127. 150. É 
Rasmuſſen, Lektor 3. A 
Raubmöwen 175. 249. 4 


Reef Island 133. : i SB 
Renntier 66. 68. 84. 304. 
Renntierjagd 25. 82. 83. 


Renntierland 293. 322. 4 
Renslaer Harbour 58. 61. 62. 65. 66. 

69. 70. 97; ſ. a. Aunartog. 5 
Repulſehafen 123. 131. 133. al 


Reſt Point 127. 128. 

Robeſonkanal 79. 108. 112. 114. 115. 
„Rooſevelt“, Expeditionsſchiff 80. 

Roß, James, bei den Eskimos 9—11. 
Rydergletſcher 261. 


Salix, ſ. Polarweide. 

Sandſtein 62. 68. 81. 

Saxifrago, ſ. Steinbrech. 

Schiefer 168. 

Schießſegel 25. 

Schmeißfliege 174. 229. 237. 

Schmelzwaſſerteiche 101. 

Schnee, naſſer 205; roter 347. 

Schneehaus der Eskimos 29. 

Schneehühner 126. 135. 162. 167. 170. 
172. 173. 182. 

Schneereifen 281. 

Schneeſchuhbucht 150. 


Regiſter. 365 
bruch von Neqe 52. 53; Ausrüſtung 
4; Begegnung mit Kameraden 180. 
181. 209 fg.; Einrichtung auf Eskimo⸗ 
art IV. 3. 6; in Etah 53. 54. 57. 316; 
Forſchungsgebiet 7; Entſatzexpedition 
für Wulff und Koch 314; Heimkehr 
205 fg.; Hunde, ſ. d.; Komitees 3; 
Lebensmittel 243. 244. 250; Plan 
42. 52. 160. 167. 181. 182. 235; 
Proviant 52; Rettung 299. 300; 
Rückreiſe von Etah nach Thule 353; 
Schlitten 222; Teilnehmer 3. 4. 5; 
Vertrag mit Teilnehmern 5; Teilung 
143. 204. 244. 245. 301. 302; wieder 
in Thule 359; am Ziel 202. 203. 204. 


Schneeſchuhe 205. 281. 

Schneeſperlinge 129. 174. 
Schwarzhornklippen 123. 124. 131. 196. 

er 99, 

Scoresby, Dr. 79. 

Seehunde 7. 31. 190. 191. 217. 240. 

2241. 242. 243. 263. 304. 

— bärtige 67. 

Seehundjagd 22. 23. 24. 25. 66. 138. 
145. 169. 176. 177. 208. 248. 256. 

259. 265; Waffen 24. 25. 

Seen auf Inlandeis 206. 284. 291. 294. 

296. 

Sherard⸗Osborne⸗Fjord 112. 128. 132. 
135. 137. 140. 141. 143. 145. 146. 149. 


150. 154. 238. 239. 241. 261— 276. 
Sikuſſaqeis 88. 91. 98. 101. 123. 125. 


246. 
Silurformation 239. 276. 


Simigag, Eskimofrau, und ihre Zauber⸗ 


lieder 47—51. 


Sipſu, Eskimojäger 52. 111. 112. 356. 


Skorbut 68. 70. 75. 119. 120. 131. 
Smithſund 80. 


Sommertal 230. 232. 233. 237. 238. 


Sphaerella 347. 
Steensby, Profeſſor 3. 


Steinbrech 124. 167. 170. 303. 347. 


348. 349. 350. 
Stephenſoninſel 139. 
Strandlinien 99. 
Sturmmöwe 183. 
St.⸗Andrew⸗Bai 146. 


St.⸗George⸗Fjord 128. 129. 135. 146. 
185. 235. 239. 241. 247. 272. 276. 


279. 
Südweſtwind 29. 31. 


— 


„Teufelsſchlucht 274. 275. 

Thank God Harbour 102. 107. 
Th.⸗Thomſen⸗Fjord 202. 

Thule, Station III. 1. 3. 32. 312. 


Thuleberg 200. 202. 205; Ausſicht 201. 
Thule⸗Expedition, Erſte 1. 2. 3. 219. 
— Zweite, Antritt der Reiſe 3. 4. 44; 

Arbeitsfeld 134 fg.; Aufgabe 2; Auf⸗ 


Tierleben 68. 84. 174. 192. 210. 217. 
218. 304. 350. 

Tornarſſuit, unſichtbare höhere Weſen 39. 

Tornge, Eskimo 47. 82. 83. 84. 85. 97. 

Treibeis, Weg 80. 


Ulugſſat, Wohnplatz 46. 47. 
Utut⸗Jagd 25. 66. 85. 


Vegetation 124. 137. 167. 192. 210. 
216. 218. 234. 276. 303. 308. 341. 
347. 348. 349. 350. 351. 

Verſteinerungen 90. 93. 94. 97. 274. 

Vikloriafjord 138. 139. 140. 143. 164. 
220. 

Vogelberge 21. 22. 34. 


Walfiſch 65. 

Walroſſe 32. 33. 66; Fleiſch 48. 52. 

Walroßjagd 23. 

Warmingland 245. 253. 254. 255. 

Waſhingtonland 78. 81. 86. 89. 94. 
284. 292. 

Weißwale 33. 34. 

Weltkrieg, Nachrichten vom, bei den 
Eskimos 312. 

Wildfjord 200. 

Wildland 160. 

Windverhältniſſe bei Etah 58. 

Wintereis 84. 

Winterhaus 27— 29. 


gelen . + 5. 42. 44, 67. 
140. 143. 144. 160. 180. 182. 
223. 244. 248. 269. 275. 286. 
324. 344; ſein Leben 337340; 


® Berichte 157, 159, 178. 179. 18219. | 


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Wille 340; "zo 324fg. 
letzter Gruß an die 


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