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WUO UEYN
32101 063968893
1575
.49/
19192
Princeton Üniversity.
N
Jahrbücher
für die
deutsche Armee und Marine.
Verantwortlich geleitet
Keim,
Generalmajor.
1914
Juli bis Dezember.
QB
BERLIN SW 11.
Verlag von Georg Bath.
Bernburger Straße 24/25.
-piutod in vusıtalıy
mm ë — a”
Druck von A. W. Haıyn’s Erbon (Curt Gerber), Potsdam.
Inhalts - Verzeichnis.
Seite
Balck, Das französische Exerzierreglement vom 20. April 1914. . . . . 218
-— Die Felddienstordnung (Service Les armees en campagne) vom 2. Dezember 1913 1
— Die geschichtliche Entwickelung der neuen französischen Taktik . . . 317
— Kuropatkin und seine Unterführer . . . . . 109
Beckmann, Das neue französische Reglement für die E
formationen der Infanterie . . : Co nenn. 260
Buddecke, Preußens Kriegsrüstung 1864 . . . . cd 1
Das französische Heer unmittelbar vor dem Kriege im eigenen Lichte . . 3907
Die bisherige russische Kriegs- und Kampfführung . . . 2. 2 2.2.2. F4
Föringer, Gegen den Hochschuß . . . » 2 2 2 2 2 2 20a . 242
v. Hagen, Belle-Alliance . . . T ee y 534
Hübner, Der Feldzug der Franzosen Pr Taza ee audy a le 108
Keim, An unsere Leser . . . Be ee ee. DE
v. Keller, Das moralische E lenient in der Taktik un a a e 249
Klingelhöffer, Über das Begleiten des Infanterieangriffs durehrieanderen
Waffen, insbesondere die Artillerie . . . 114
v Neymann, Zum 25 jährigen Jubiläum des Modeen deuifächen Schie B-
wollpulvers. . . yoe an. 63
Obermair, Übersicht der Taszösiachen Küstenbeteitirungen ee 138
Frhr. von der Osten-Sacken und von Rhein, Die Heere unserer
Gegner . . ee ee ee an 414,445
v. Richter, Das russische Feldheer und der me. im König-
reich Polen . . . zaas 36l
— Die Schießvorschrift für die Feldartillerie vom . Jaunt 1914 ©.. 56
— Einiges über den bisherigen Anteil der Feld- und schweren Artillerie an
den Gefechten der Monate August bis Oktober 1914 . . . . . 467
— Höhe der mutmaßlichen Verluste im jetzigen Kriege . . . . . . . 326
— Leichte Geschütze zum Begleiten des Infanterieangrifis . . . . . . . 2#
Sanitätshunde . . . . u Be a end El
Schmidt, Die neue Gefschtevorschnift für die Piecke intant s g a AIR
Sperling, Das große Vermächtnis der Zeit vor 100 Jahren für unser Heer.
(Gedanken über die innere Weiterentwickelung unseres Heerwesens.) . 120
Spohr, Ein Wort über die „Deutsche Reitvorschrift 1912" . a er. 5362
(REC AP): , 496537
IV Inhalts-Verzeichnis.
Seite
Frhr. v. Welck, Die Neuorganisation der französischen Kavallerie. . . 157
— Ein Blick auf Verwendung und Tätigkeit der Kavallerie im Kriege . . 329
von Wenninger, Die Manöverordnung 1914. (Eine Entwickelungsstudie.) 24
Woelki, Befestigungen und übermächtige Angriffsmittel . . . . . . . 338
— Um Forts und ihre Intervalle II . 2 2 2. 2 2 2 2 nenn.
— Zum derzeitigen Festungs- und Stellungskrieg . . . 202.429, 49
v. Zwehl, Die R des krirgerischen Erfolges ee er 388
Umschau . . . . Be ae eo E a oa w a 70. 173
Bücherbesprechungen . E E E T E 94, 199, 310, 371, 439, 511
Ausländische Zeitschriften . . . 2 2 2 2 222200020. o L04, 213. 443
Seewesen . . . u 106
Verzeichnis der zur "Besprochung een Bücher Fer . 107, 215, pm 513
I.
Die Felddienstordnung (Service des armeés
en campagne) vom 2. Dezember 1913.
Von
Balck,
Generalmajor und Inspekteur der Feldtelegraphie.
Von der Auffassung ausgehend, daß nicht allein die Art der
Ausführung, sondern auch die Grundsätze in Anwendung der tak-
tischen Vorschriften verschieden sind in einem höheren und einem
niederen Truppenverbande, wird als untere Grenze für diese Trennung
die Infanterie- und die Kavalleriedivision angesehen. Ich kann mich
dieser Auffassung nicht anschließen, die Grundsätze für die Truppen-
verwendung sind die gleichen für einen stärkeren und für einen
schwächeren Truppenverband, nur die Art der Ausführung kann ver-
schieden sein infolge der Stärke, Zuweisung von Kolonnen und Trains
und infolge der größeren oder geringeren Vielgestaltigkeit der Kampf-
mittel. Eine Infanteriedivision besteht aus zwei bis drei Infanterie-
brigaden, einem abgezweigten Teile der Korpskavallerie, der Divisions-
artillerie, einer oder mehreren Geniekompagnien, der Sanitätskompagnie.
Eine Kavalleriedivision besteht grundsätzlich aus drei Kavallerie-
brigaden, einer reitenden Artillerieabteilung zu drei Batterien, einer
„groupe cycliste“, einem Geniedetachement auf Rädern, Telegraphen-
und Sanitätsformationen.
Im Vergleich zu der Felddienstordnung von 1895 zeigen die
Vorschriften über Befehle (ordres) und Weisungen (instructions) eine
erhebliche Annäherung an die bewährten Vorschriften der deutschen
Felddienstordnung, können demnach hier übergangen werden. Eine
besondere Ausgestaltung haben die Vorschriften über den Ver-
bindungsdienst (liaison) in der Truppe erfahren. Auf Märschen
weit ab vom Feinde schicken die Brigaden zum Divisionsstabe, die
Jahrbücher für die deutsche Armee und Mariue. Nr. 514, l
2 Die Felddienstordnung (Service des armées en campagne) vom ?. Dez. 1913.
Regimenter zum Brigadestabe einen berittenen Offizier als „agent de
liaison“, bei Märschen gegen den Feind und im Gefecht schickt jede
Untereinheit zur nächst höheren Befehlsstelle einen oder mehrere
„agents de liaison“ (berittene Offiziere, Reiter, Radfahrer oder
Ordonnanzen), ebenso schickt der Führer zu jeder räumlich getrennten
Unterabteilung, und wenn er es für geboten hält, auch zu jeder
Nachbarabteilung einen Nachrichtenoffizier mit den erforderlichen
Radfahrern und Meldereitern. Fernsprech- und Winkerverbindung ist
bei jedem Halt (im Gefecht und bei den Vorposten) aufzunehmenr
nach Anordnung der Führung kann in der Unterkunft auch die be-
reits vorhandene Fernsprechverbindung ausgenützt werden.
In der neuen Vorschrift sind im Titre III die Vorschriften über
„Marsch und Unterkunft“ zusammengefaßt.
Die Marschkolonne besteht aus den fechtenden Truppen,
den trains de combats, d. h. den Gefechtsbagage (Munition, Schanz-
zeug, Sprengmittel und Sanitätsmaterial), sie folgen der Truppe un-
mittelbar, im Divisionsverbande am Schlusse der fechtenden Truppen,
jedoch vor der Nachhut, trains regimentaires — große Bagage —
in mehrere Staffeln gegliedert.
Parcs(Kolonnen) undConvois(Trains)bilden eine Kolonne für sich.
Hervorgehoben wird, daß es ebensowenig eine gleichmäßige
Marschordnung wie eine für alle Fälle gleichförmige Gefechtsordnung
gibt. Der Führer befindet sich beim Vormarsch grundsätzlich bei
der Vorhut, der nächstälteste Offizier als Führer des Gros, am An-
fange desselben. Vor dem Aufbruch sind Aufschriften in der bis-
herigen Unterkunft zu beseitigen und Papiere zu vernichten. Diese
Vorschrift ist von besonderer Wichtigkeit und verdient auch Nach-
ahmung bei uns:
Art. 68: „Es ist verboten, auf dem Marsche oder im Quartier
irgendein Stück Papier zurückzulassen, ohne es zu vernichten. Fragen
von der Armee nicht zugehörigen Personen sind nicht zu beantworten.
In Privatbriefen hat man sich aller Angaben über Truppenbewegungen
zu enthalten, auch die Namen der Orte, in denen die Briefe geschrieben
sind, sind nicht zu erwähnen.“ Die Bestimmung der Deutschen F.O. 394
spricht nur davon, daß es nötig werden kann, die Bezeichnung der
Quartiere einzuschränken !).
1) Am 16. November 1870 wollen die Franzosen beim Angriff auf
Viabon den Armeebefehl des Großherzoggs von Mecklenburg vom
13. November gefunden haben (Lehautcourt, Orleans, S. 204) Am
12. August 1870 fand eine Oftizierpatrouille auf Schloß Urville zahlreiche
Briefumschläge und einen an Marschall Bazaine gerichteten Brief es
schichte des Ulanenregiments Nr. 9, S. 21).
Die Felddienstordnung (Service des armées en campagne) vom 2. Dez. 1913. 3
Vor dem Marsch ist nur bei kleineren Verbänden (früher grund-
sätzlich niemals) eine Versammlung vorher statthaft, bei breiter Unter-
bringung der Kolonne wird ein „point initial“ (Marschanfangs punkt)
bezeichnet, der auf Anordnung des Führers, wenn nötig unter Ver-
teilung der Anmarschwege, von den einzelnen Teilen überschritten
wird, bei schmaler Unterbringung längs der Marschstraße, gleichviel
ob in größerer oder geringerer Tiefe, erfolgt der Aufbruch zu einer
von der Führung festgesetzten Uhrzeit. Die Anschauungen über den
„point initial“ haben auch in den Vorschriften anderer Heere Auf-
nahme gefunden (z. B. Italien, Rußland, England); nicht berücksichtigt
ist aber, daß die Unsicherheit der taktischen Lage vielfach eine Ver-
sammlung vor Beginn des Marsches fordern kann, um eine Verwendung
der Truppe nach verschiedenen Richtungen zu ermöglichen (F.O. 336).
Vielleicht ist diese Begründung einer Versammlung vor Beginn des
Marsches nicht berücksichtigt, um alle Führer zu erziehen, ihren Ent-
schluß nicht von dem Eingang von Meldungen abhängig zu machen.
Die Bestimmungen über die der französischen Armee eigentümlichen,
in den letzten zehn Minuten einer jeden Stunde abgehaltenen „haltes
horaires“, die sich automatisch bei den Bataillonen, Eskadrons und
Batterien vollziehen, haben eine Änderung dahin erfahren, daß sie nicht
mehr obligatorisch sind (früher „grundsätzlich“), in Erwartung eines
Gefechtes soll es vom Führer abhängen, ob und wann er seine Truppe
ruhen lassen will. Die Vorschriften über den „Grand’ halte“ (ent-
weder gleichzeitig für die ganze Kolonne oder nacheinander an
geeigneter Stelle) und „long r&pos“ haben keine Änderung erfahren.
Grundsätzlich wird die rechte Straßenseite gehalten, Abteilungen, die
aus der Kolonne ausbiegen, haben die folgenden Abteilungen zu be-
nachrichtigen. Mannschaften, die ausnahmsweise aus der Kolonne
austreten, übergeben ihre Waffen dem Nebenmann. Die Ein-
gliederung der Truppen auf Kriegsmärschen erfolgt nach der
voraussichtlichen Notwendigkeit ihrer Verwendung auf dem Ge-
fechtsfelde. Die Artillerie so weit nach vorwärts, als mit ihrer Sicher-
heit vereinbar ist, dann wird aber darauf hingewiesen, daß sie so
weit von den vorderen Teilen zurückgehalten werden muß, daß sie
in der Marschkolonne nicht dem feindlichen Feuer ausgesetzt ist, daß
sie nicht gezwungen ist, um in günstige Stellungen einfahren zu
können, Kehrt machen zu müssen. Vorhuten unter der Stärke eines
Infanterieregimentes erhalten nur ausnahmsweise Artillerie; die deutsche
F.O. 170 kennt diese Einschränkung nicht, die russische „Ustaw“ rät,
Vorhuten, schwächer als zwei Bataillone, Artillerie nicht zuzuteilen.
Im Gros soll . durch Eingliederung der Artillerie möglichst wenig der
Infanterieverband zerrissen werden, in langen Artilleriekolonnen sind
1*
4 Die Felddienstordnung (Service des armées en campagne) vom 2. Dez. 1913.
Infanterieabteilungen einzuschieben. Die Anwendung breiter Marsch-
formen wird bei genügender Breite der Straße und günstigen Witterungs-
verhältnissen empfohlen; hinzugefügt wird aber: „Jedoch erhöht
dieses die Anstrengung und setzt die Marschgeschwindigkeit herab.“
Die entfaltete, sich gegen den Feind bewegende Division wird nur
durch eine einzige Vorhut gesichert (gleiches geschieht auch beim
Marsch in mehreren Kolonnen), jedoch hat jede Kolonne für ihren
Schutz durch eigene Sicherung zu sorgen. Die Division gliedert sich
im „rassemblement articulé“, in die Vorhut, in mehrere, den Bedürf-
nissen angepaßte Gruppen des Gros (Infanterie querfeldein Artillerie
und Fahrzeuge auf den Straßen) mit ihren Sicherungsabteilungen.
Das Gros hat bei einem Halt der Vorhut nicht auf diese eng auf-
zuschließen, die Truppe würde damit ihre Bewegungsfreiheit einbüßen.
Bei geringer Entfernung vom Feinde kann die Division auch schon
im ‚rassemblement articulé“ ihren Unterkunftsraum verlassen.
Die Vorschriften über Nachtmärsche, Märsche in Hitze und Kälte
geben zu Bemerkungen nicht Veranlassung, auch die Vorschriften für
Unterkunft haben nur geringfügige Änderungen erfahren, Biwaks-
formen werden nur noch für Kompagnien, Eskadrons und Batterien fest-
gesetzt. Abweichend von unseren Vorschriften wird besonders darauf
hingewiesen, daß es vor allem darauf ankommt, die Mannschaften
unter Dach und Fach zu bringen. ‚Aber, um einen zu schnellen
Verbrauch der berittenen Waffen zu verhindern, darf man kein Mittel
unbenützt lassen, um die Pferde gegen die Unbill der Witterung zu
schützen.“ Bekanntermaßen steht die Deutsche F.O. 374 auf dem
Standpunkt, daß gerade für die berittenen Waffen die Unterkunft in
erster Linie zu erstreben ist.
Im Unterkunftsort werden die Einheiten quer über die Straße ge-
legt, „garde de police“ (Innenwache) und ein „poste central“ (zur Erleich-
terung der Befehlserteilung), bei dem sich Befehlsempfänger einzufinden
haben, werden aufgestellt; jedes Infanterieregiment stellt eine Kom-
pagnie, jedes Kavallerieregiment eine halbe Eskadron und jedes
Artillerieregiment eine Batterie „du jour“ für die Bereitschaft (piquet)
und den Wachtdienst. Ausgänge werden gesperrt und je nach ihrer
Wichtigkeit mit Wachen und Posten besetzt. Um die Nachtruhe der
Truppen nicht durch Ausgabe verspäteter Befehle zu stören, be-
stimmen die Kommandeure, wann die Truppen auf ihren Sammel-
plätzen marschbereit stehen sollen, bei früherem Aufbruch werden die
Befehle durch die beim poste central befindlichen Ordonnanzen
(plantons) übermittelt.
Bemerkenswert sind die Schutzmaßregeln gegen Beob-
achtung von oben. Wird beim Marsch und in der Unterkunft
Die Felddienstordnung (Service des armées en campagne) vom 2. Dez. 1913. 5
die Annäherung eines Flugzeuges bemerkt, so sind hellfarbige oder
gut beleuchtete Stellen der Straße freizumachen, man benützt so viel
als möglich die mit Grasnarbe bedeckten Teile, Bäume gewähren
namentlich an der Schattenseite einen guten Schutz. Infanterie und
Kavallerie können in den Straßengräben marschieren.
Sehr zweifelhaft erscheint die Ausführung dieser Bestimmungen.
Artillerie wird nur in Ausnahmefällen die Straße freimachen können;
unverkennbar hat aber die französische Kolonne vor der deutschen
den Vorzug, daß sich in ihr keine Fahrzeuge befinden, da diese „an
das Ende der Marschkolonne‘ verwiesen sind.
Außerhalb der Straßen ziehen stärkere Massen und Truppen in
Bewegung die Aufmerksamkeit auf sich. Kann man nicht den Schutz
von Wäldern, Baumpflanzungen, Heckenwegen aufsuchen, so müssen
die Formationen so dünn als möglich genommen werden. Im Halten
läßt man die Infanterie knien. Am wenigsten der Beobachtung aus-
gesetzt sind Truppen, die sich in unmittelbarer Nähe von Flächen
verschiedener Bebauung und Färbung befinden (z. B. Grenzlinie zwischen
Sturzacker und Wiese, Feldwege, die durch bestellte Felder führen,
Dorf- und Waldränder. In dem Unterkunftsort verraten Wagenparks
und Feuer die Anwesenheit der Truppe. Regelmäßige Aufstellung der
Fahrzeuglinien ist zu vermeiden, Aufstellen in der Kolonne zu Einem
an Häusern und Hecken, soweit dieses nicht den Verkehr stört, ist
zu erstreben. Kochstellen sind nach Möglichkeit in Gehöfte zu legen.
Titre VII bringt die Vorschriften über den Sicherungsdienst.
Hier ist eine bemerkenswerte Entwickelung festzustellen. F.O. 1883
verlangte nur Aufklärung über die Sicherungszone hinaus, F.O. 1895
betonte die Notwendigkeit des Schutzes gegen Überraschungen, die
vorliegende F.O. fordert von den Sicherungen, dem Führer und der
Truppe die Freiheit des Handelns zu schaffen; ist diese vorhanden,
dann ist auch Schutz gegen Überraschungen gewährleistet. Der Führer
soll Zeit und Raum haben, seine Anordnungen zu treffen, hierzu ist
erforderlich Aufklärung und Vorschieben von Sicherungstruppen, die
Sicherheit der Truppe gegen Überraschungen wird gewonnen durch
die Sicherungstruppen und in Nähe des Feindes durch entsprechende
Gliederung. Fortgefallen ist zwischen der Heereskavallerie und der
Marschkolonne die Kavallerie „du service de sûreté de premiere ligne“
(England: protective mounted troops“); ihre Aufgaben waren vor dem
Feinde nicht zu erfüllen. „Man kann nicht von ein und derselben
Kavallerie verlangen, in bestimmten Richtungen aufzuklären und sich
dem Vorgehen der feindlichen Kavallerie aus allen Richtungen ent-
gegenzustellen“ (Kommissionsbericht).
Beim Vormarsch soll die Vorhut Hindernisse beseitigen, beim
6 Die Felddienstordnung (Service des armées en campagne) vom 2. Dez. 1913.
Zusammenstoß mit dem Feinde ihn angreifen, um ihn zu zwingen,
seine Stärke zu zeigen, Stützpunkte für die Entwickelung des Gros
in Besitz zu nehmen. Die Vorhut ist stark an Infanterie ('/, bis '/,)
und an Kavallerie; Artillerie wird gelegentlich zugeteilt, wenn die
Stärke der Vorhut der Artillerie den nötigen Schutz gewähren kann.
Genieabteilungen werden nach Bedarf überwiesen. Die Vorhut gliedert
sich in pointe: Vorhutkavallerie und Infanterieabteilungen ohne Gepäck;
tête: 'j, bis !/, der Vorhutinfanterie und Genieabteilung, gros de
l’Avantgarde: Haupttrupp.
Gelände, Nähe des Feindes, Stärke und Aufgabe der Vorhut
werden bestimmend sein, wie weit diese vorzuschieben ist; nach
gleichen Gesichtspunkten wird auch die Größe des Abstandes inner-
halb der Vorhut bemessen. Die Vorschrift nimmt Abstand, bestimmte
Zahlen zu nennen. Nach dem Armeegebrauch wird im Divisions-
verbande die ‚‚töte de l’Avantgarde‘ etwa 500, die Vorhut selbst
1500 m vorgeschoben. Beim Vormarsch folgt der Kolonne eine
Nachhut (zwei Kompagnien für eine Infanteriedivision mit einigen
Reitern), sie soll beobachten, was im Rücken der Kolonne vorgeht,
diese gegebenen Falles gegen ein Vorgehen feindlicher Kavallerie decken.
Vorschriften über Seitendeckungen und Nachhuten beim Rückmarsch
geben zu Bemerkungen nicht Veranlassung.
Vorposten sollen, ohne ein Gefecht zu suchen, sichern und einem
Angriff des Feindes Widerstand leisten; dieses bedingt enges Zu-
sammenwirken von Infanterie und Kavallerie, namentlich am Tage
soll die Kavallerie die Infanterie ganz oder teilweise im Sicherungs-
dienst entlasten, während in der Nacht die Infanterie die Sicherung
übernimmt, die Kavallerie weiter rückwärts zur Ruhe übergeht. Trotz
der geringen Stärke der Kavallerie hat die französische Vorschrift
diese Anordnung beibehalten. Zuteilung von Artillerie erfolgt nur,
wenn es sich darum handelt, auf weite Entfernungen wichtige Punkte
unter Feuer zu halten. Vorposten sind so weit vorzuschieben, daß
die vorderen Unterkunftsorte dem Artilleriefeuer entzogen sind. Nach
dem beendeten Vormarsch werden die Vorposten ganz (von der
Division an abwärts) oder teilweise von der Vorhut gestellt, bei großer
Entfernung vom Feinde (‚avantpostes loin de l'ennemi“) kann man sich
mit dem örtlichen Schutz der Unterkunft und Vorschieben einzelner
Sicherungen in Richtung auf den Feind begnügen. Im weiteren werden
unterschieden ‚.Avantpostes à petites distances de lennemi“ und ‚Avant-
postes de combat“. Letztere werden beim Erlöschen des Kampfes
ohne Befehl von allen Truppen vorderer Linie ausgesetzt, die Siche-
rungen über die befestigte Verteidigungslinie vorschieben.
Die Felddienstordnung (Service des armees en campagne) vom 2. Dez. 1913. 7
Die Vorposten „a petite distance de l'ennemi“ gliedern
sich in die grand’-gardes (Vorpostenkompagnien) mit ihren Siche-
rungsorganen (Elements de surveillance): Feldwachen (petites postes),
Posten und Patrouillen, dann in die Vorpostenreserve. In
Richtungen, aus denen kein Angriff zu erwarten ist, werden nur
Beobachtungsposten vorgeschoben. Aussetzen der Vorposten findet
unter dem Schutze der Kavallerie oder vorgeschobener Teile der Vor-
hut statt. Vom Vorpostenkommandeur werden Erkennungszeichen
vom kommandierenden General Losung (,,mot d'ordre“) und Erkennungs-
wort (‚mot de ralliement“) bekanntgegeben. Die Vorpostenreserve,
möglichst die Hälfte aller Vorpostentruppen — unter Umständen in
jedem Abschnitt eine, liegt in Alarmquartieren, sonst im Biwak, sichert
sich unmittelbar durch eine Innenwache, steht durch Fernsprecher
und „agents de liaison“ in Verbindung mit den Vorpostenkompagnien,
meist steht sie hinter der durch die Vorpostenkompagnie bezeichneten
Widerstandslinie, die sie beim feindlichen Angriff zu verstärken hat
vor bruchstückweisem Verstärken hat sie sich zu hüten, entschlossen
greift sie mit ganzer Kraft feindliche Abteilungen an, die die areles
rungslinie durchbrochen haben könnten.
Die „grand’-garde“ ist meist eine Kompagnie stark, doch kann die
Stärke nach der Lage verringert oder erhöht werden. Die „grand’-
gardes“ stehen in der „ligne de resistance des avantpostes“, ihre
Aufgabe ist defensiv, nur gelegentlich können sie sich offensiv gegen
Teile wenden, die die Sicherungslinie durchbrochen haben; bei einem
Angriff der Nachbarkompagnien hat sie ihre Aufstellung beizubehalten,
darf die Nachbartruppe nur durch Feuer unterstützen. Die Stärke
der Sicherungen ist so gering als möglich zu bemessen (früher bis zur
Hälfte), die Ausrüstung wird nicht abgelegt, die Truppe biwakiert
oder liegt im Alarmquartier, ein Viertel bildet die Bereitschaft (piquet)
die auch den Posten vor Gewehr stellt. Zur Nachriehtenverbindung
dienen Radfahrer, Winker, berittene Aufklärer (jedes Infanterie-
regiment 12, jedes Jägerbataillon 5 Aufklärer) und gelegentlich Reiter
der Divisionskavallerie.
Die „petites postes‘ unter einem Offizier oder bewährten Unter-
offizier sind nur zur Beobachtung aber nicht zur Sicherung bestimmt,
ihre Stärke wird so gering als möglich bemessen (nur in Einschließungs-
stellungen bis zu einem Zuge). Es darf weder geraucht noch Feuer
angemacht werden, die Leute behalten ihre Waffe in Reichweite, bei
Nacht muß die Hälfte wach bleiben. Verpflegung wird bei den
grand-gardes zubereitet. Die Feldwache (Aufstellung richtet sich nach
den Straßen) sichert sich durch einen oder mehrere Doppelposten
(in letzterem Falle auch noch durch einen Posten vor Gewehr). Ihr
8 Die Felddienstordnung (Service des armées en campagne) vom 2. Dez. 1913.
Gepäck können sie bei der Feldwache lassen, bei Nacht dürfen sie
sich weder niederlegen noch hinsetzen. Ganz besonders eingehend
sind die Vorschriften über das Durchschreiten der Postenkette.
Patrouillen von den Feldwachen und Vorpostenkompagnien,
ausnahmsweise von der Vorpostenreserve vorgeschickt, bestehen aus
drei Mann und einem Führer, sie gehen etwa einen Kilometer über
die Postenlinie hinaus, bei großer Entfernung sind sie stärker zu be-
messen; die Forderung, Gefangene zu machen, wird mehrfach er-
wähnt. Wachsamkeit der Posten wird geprüft durch „Rondes“ (ein
Offizier oder Unteroffizier mit zwei oder drei Mann). Aufstellung
eines Durchlaßpostens kann angeordnet werden, anderen Falles kann
bei großer Nähe des Feindes Durchschreiten der Postenkette verboten
werden.
Über die Verwendung der Kavallerie wird bestimmt, daß
sie das Aussetzen der Vorposten sichert, durch Aufstellen einzelner
Vedetten die Infanterie am Tage entlastet und die Aufklärung über-
nimmt, schließlich kann sie wichtige Punkte vorwärts der Sicherungs-
linie besetzen, die auch in besonderen Fällen des Nachts besetzt bleiben
können. Während der Nacht kann die Kavallerie bei der Vorposten-
reserve oder weiter rückwärts Unterkunft beziehen. „Es ist zu ver-
meiden, die Kavallerie zum Melde- und Verbindungsdienst zu ver-
wenden, bei Fehlen von optischen und Fernsprechverbindungen fällt
dieses den Radfahrern zu.“
Die Postenlinie soll grundsätzlich niemand ohne Erlaubnis über-
schreiten. Die mit Aufträgen versehenen Offiziere und Abteilungen,
einzelne Soldaten und nicht zur Armee Gehörige, die mit einem Passe
oder Befehle der Militärbehörden versehen sind, haben sich beim
Führer der Vorpostenkompagnie zu melden, der sie bis zur Posten-
linie begleiten läßt. Einzelne Personen, die die Postenlinie durch-
schreiten wollen, werden von den Doppelposten angehalten, diese
haben die Feldwachen zu benachrichtigen. Der Feldwachthabende
läßt diese Personen zur Vorpostenkompagnie bringen. Der Führer
fragt sie aus, läßt sie, wenn nötig, durchsuchen und schickt sie mit
Begleitung zum Vorpostenkommandeur. Ebenso schicken die Führer
der Vorpostenkompagnie etwaige Gefangene zum Vorpostenkommandeur,
nachdem sie dieselben ausgefragt haben. Will während der Nacht
eine Truppenabteilung von außen durch die Postenlinie gehen, so wird
sie von den Doppelposten angehalten und bei der Feldwache gemeldet;
der Feldwachthabende meldet es dem Führer der Vorpostenkompagnie,
der dann persönlich vorkommt. Eine solche Truppe wird nur
durchgelassen, wenn der Führer einen geschriebenen Befehl vorweisen
kann oder zu dem von den Vorposten gedeckten Truppenkörper ge-
Die Felddienstordnung (Service des armées en campagne) vom 2. Dez. 1913. 9
hört. Im anderen Falle sendet der Kompagnieführer den Befehlshaber
der Abteilung unter Begleitung zum Vorpostenkommandeur und läßt
die Truppe in einiger Entfernung warten, während er die Neben-
abteilungen benachrichtigt und sich selbst gefechtsbereit macht.
Welches auch der Grad des so angehaltenen Truppenführers sein mag,
so hat er auf alle Fragen zu antworten, die ihm zum Zwecke der
Feststellung seiner Person vorgelegt werden.
Bei Tage und bei Nacht ruft der Doppelposten an, wenn er
jemand sich nähern hört: „Halte-lä“ (Halt); nötigenfalls wiederholt er
den Ruf. Wer auf ein zweites Anrufen „Halte-lä, ou je fais feu!“
nicht steht, auf den wird geschossen. Wird dagegen gehalten, so ruft
der Posten „Qui vive?“ (Wer da?) und auf die Antwort „France,
ronde“ oder „patrouille“ ruft er „Avance à l’ordre!* (Näher heran zur
Abgabe der Losung). Wenn der Führer nicht allein vortritt, die
Losung nicht richtig gibt oder nicht das vereinbarte Zeichen macht,
gibt der Posten Feuer und zieht sich im Notfalle zurück. Die Losung
muß leise gegeben werden.
Während der Nacht haben Feldwachen, Bereitschaft und
„Garde de police“ vor eintreffenden Patrouillen, Ronden und vor jeder
Truppe Gewehr zur Hand zu nehmen, um Überraschungen vor-
zubeugen, haben die einzelnen Teile ihre Aufstellung zu ändern
(möglichst nach vorwärts), Stellungen in Örtlichkeiten und an Straßen
sind zu bevorzugen, lebhafte Patrouillentätigkeit namentlich in den
ersten Morgenstunden, Legen von Verstecken vorwärts der Sicherungs-
linie wird empfohlen, auch kann es vorteilhaft sein, die Feldwachen
bis dicht an den Posten heranzuschieben, um so durch große räumliche
Trennung zwischen ihnen und den Vorpostenkompagnien diesen die
nötige Zeit zu schaffen, sich gefechtsbereit zu machen. Die Stellungen
bedürfen natürlich sorgfältiger Erkundung und Vorbereitung am Tage.
Eine Stunde vor Tagesanbruch treten alle Teile der Vorposten unter
Gewehr und machen sich gefechtsbereit. Auch in der Unterkunft
treten zur Empfangnahme von Befehlen zu einer vom Führer fest-
gesetzten Zeit Kompagnien, Eskadrons und Batterien marschbereit an,
man will sie auf diese Weise zur Hand haben, will anderseits auch
die Ruhe der Truppen durch den Empfang der spät eintreffenden
Befehle nicht stören.
Nach früheren Vorschriften, die auf das erste Kaiserreich zurück-
gehen und von Napoleon III. in Italien wiedereingeführt wurden,
sollten die Meldungen der vor Tagesanbruch zur Aufklärung ab-
gesandten Aufklärungspatrouillen abgewartet werden '). Die Hoffnung,
1) In England wird dieses heute noch verlangt.
10 Die Felddienstordnung (Service des armées en campagne) vom 2. Dez. 1913.
auf diese Weise Überfälle zu vermeiden, hat sich vor dem Feinde
nicht verwirklicht. Die Gefahr lag nahe, daß gerade diese Aufklärung
flüchtig betrieben wnrde, um die Truppe schnell wieder zur Ruhe kommen
zu lassen. Am 4. August 1870 war ein französisches Rekognoszierungs-
detachement 5'/,° früh vorgeschickt. Dasselbe kehrte zurück, ohne
irgendwelche Anzeichen vom Vorrücken des Gegners entdeckt zu
haben. Demnach waren die französischen Truppen teils mit Abkochen,
teils mit Herbeischaffen von Biwaksbedürfnissen beschäftigt, als plötz-
lich gegen 8'/, Uhr vorm. eine bayerische Batterie auf der Höhe
südlich von Schweigen auffuhr und das Feuer gegen Weißenburg er-
öffnete !).“
Titre V, das Gefecht im Divisionsverbande, muß ganz be-
sonderes Interesse hervorrufen, da die Bedeutung des Angriffs in einer
bisher gänzlich unbekannten Weise betont wird. „Zweck des Kampfes
ist die Vernichtung der feindlichen Streitkräfte, dieses bedingt das engste
und beständige Zusammenwirken aller Waffengattungen.“ Wohl hatte
schon die F.O. 1895 darauf hingewiesen, daß nur der Angriff den Willen
des Feindes zu brechen vermag, aber beide Vorschriften beurteilen die
Berechtigung der Verteidigung unter verschiedenen Gesichtspunkten. F.O.
1895 betrachtet die Verteidigung als ein Mittel, „um den Feind in ein
günstiges Gelände zu ziehen, um ihn dann unter günstigen Bedingungen
bekämpfen zu können.“ Von dieser Auffassung bis zu der vielfach
beobachteten Neigung, daß die Vorzüge einer beliebigen Stellung die
Führung bestimmen könnten, die Verteidigung dem Angriff vorzuziehen,
erst nach glücklicher Abwehr des feindlichen Angriffs selbst zum
Angriff überzugehen, war nur noch ein geringer Schritt, der zu der
bekannten Taktik mit dem Gegenangriff führte?). Die neue Vorschrift
weist darauf hin, daß, wenn auch die Hauptmasse zum Angriff ein-
gesetzt werden soll, die Verteidigung nur dann eine Berechtigung hat,
wenn sie ermöglicht, zur Lösung von Nebenaufgaben Truppen zu
sparen, die dann dem Angriff zugute kommen. Im Angriff und in
1) Gen.St.W. I, S. 179. Weitere Beispiele in Lewal: Tactique de
renseignement l, S. 182 u. ff, v. Caemmerer, Frühjahrsfeldzug 1813,
S. 19, 334.
2) Ganz ähnlich das E.R. f. d. Inf. 1904: „Der Angriff hebt die
moralische Kraft und entspricht durchaus dem französischen Volks-
charakter (s'adapte parfaitement au caractère français). Anderseits ge-
stattet es die gesteigerte Widerstandskraft der Infanterie, im Verteidigungs-
gefecht den Gegner über die eigene Stärke zu täuschen und daher mit
geringen Kräften aufzuhalten. Hierdurch gewinnt die Führung die
Möglichkeit, an einer bestimmten Stelle die Verteidigung zu führen, um
die Hauptmasse der Truppen mit um so größerer Entschiedenheit un-
bedingt angriffsweise zu verwenden.“
Die Felddienstordnung (Service des armées en campagne) vom 2. Dez. 1913. 11
der Verteidigung soll der begonnene Kampf bis zum äußersten Ende,
bis zum Einsatz des letzten Mannes durchgeführt werden. Grund-
sätzlich wird mit der in F.O. 1895, Art. 128 ausgesprochenen Ansicht
gebrochen, nach Beginn des Vorhutgefechtes den Kampf weiterführen
oder verweigern zu können, der Führer einer gegen den Feind
marschierenden Division muß sich schon vor der Berührung klar sein,
ob er kämpfen will oder nicht. Die hierdurch bedingte Trennung des
Kampfes in Einleitung und Entscheidung führte dahin, daß der Angriff
der Vorhut bei dem noch nicht ausgesprochenen Willen des Führers
einen schwächlichen unentschlossenen Anstrich annahm. Zur Klärung
der Begriffe hat zwar auch die neue F.O. diese Trennung beibehalten,
verlangt aber für die Einleitung wie für die Entscheidung dieselbe
Entschlossenheit und Tatkraft beim Angriff. Für die Ausführenden
gibt es nur eine einzige Art des Angriffs mit der Absicht in die
Stellung des Feindes einzudringen.
Die Absicht, erst nach Abwehr des Angriffs selbst zum Gegen-
angriff überzugehen, führte naturgemäß zum Zurückhalten starker
Reserven, die man ängstlich vor den Eindrücken des Kampfes zu be-
wahren suchte bis zur endgültigen Entscheidung, um den Erfolg zu
vervollständigen oder einen Mißerfolg einzuschränken“, das Ver-
wendungsgebiet der Reserve lag somit nicht in, sondern erst nach
der Schlacht. Der Kommissionsbericht wies darauf hin, daß es „ein
unentschuldbarer militärischer Fehler sei, auf die Weiterführung des
Kampfes zu verzichten, ohne alle Hilfsmittel verbraucht zu haben.
Die Infanterie ist die Hauptwaffe, sie kämpft durch Feuer und
Bewegung. „Nur die Vorwärtsbewegung, die zum Kampfe Mann
gegen Mann führt, ist entscheidend und unwiderstehlich, aber gewöhn-
lich muß ein wirksames und kräftiges Feuer den Weg zum Einbruch
in den Feind bahnen. Nur in sehr bedecktem Gelände und des Nachts
kann ein Angriff aus dem Anmarsch bestehen, dem ohne weiteres der
Einbruch mit der blanken Waffe folgt.“ Artilleriefeuer, das nur eine
sehr geringe (minime) Wirkung gegen einen Feind in Deckung hat,
kann daher niemals aus einer Stellung vertreiben. Das Vorgehen der
Infanterie muß den Gegner zwingen, sich zu zeigen und Ziele zu
bieten. Die Artillerie unterstützt das Vorgehen der Infanterie, indem
sie alles vernichtet (kein Wort mehr von Neutralisieren), was ihr Vor-
gehen aufhalten könnte; besonders erleichtert wird dieses, wenn es
gelingt, die feindlichen Batterien niederzuhalten, daher muß die
Artillerie in voller Stärke eingesetzt werden. „aber Zweck des Artillerie-
kampfes ist nur — nach Erlangung des Übergewichts über die feind-
lichen Geschütze — eine größere Batteriezahl gegen die Angriffsziele
der Infanterie einzusetzen“ .... „Die Artillerie bereitet nicht
12 Die Felddienstordnung (Service des armées en campagne) vom 2. Dez. 1913.
mehr die Angriffe vor, sie unterstützt sie.“ Der Divisionskommandeur
bestimmt der Reihe nach die Ziele, die unter Feuer zu nehmen sind,
frontales und Schrägfeuer!) sind zu vereinen. Die Überweisung von
Batterien an den Führer des Angriffs wird nicht mehr verlangt,
sie soll nur noch in stark bedecktem Gelände geboten sein, vielfach
wird ein Angriff gerade aus den Nebenabschnitten durch Artillerie
am wirksamsten unterstützt werden können. „So ergibt sich die
Notwendigkeit für den Divisionskommandeur, die Verteilung der
Batterien und ihrer Aufgaben im Laufe des Kampfes zur Lösung der
der Division gestellten Aufgabe beliebig ändern zu können.“ (Kom-
missionsbericht.) Im Gefecht steht die Artillerie somit grundsätzlich
zur ausschließlichen Verfügung des Divisionskommandeurs, selbst die
für den Marsch bei der Vorhut befindlichen Batterien verbleiben nichts-
destoweniger unter den unmittelbaren Befehlen des Führers der
Divisionsartillerie. Der Divisionskommandeur bestimmt das Maß der
Unterstützung, das die Divisionsartillerie der Vorhut gewährt, die
Aufgaben für die Einleitung und für die Durchführung sowie die ein-
zunehmenden Stellungen.“ (Art. 105).
„Die Kavallerie ist die Überraschungswaffe par excellence, ihre
Schnelligkeit gestattet ihr, überraschend einzugreifen und so die größten
Erfolge zu erreichen... Nur die Attacke zu Pferde und mit der
blanken Waffe gibt schnelle und entscheidende Erfolge, sie ist die
hauptsächlichste Verwendungsform, das Fußgefecht wird nur an-
gewendet, wenn Lage und Geländegestalt vorübergehend, die Reiter
hindern, die Aufgabe zu Pferde zu lösen.“
Die Grundsätze über Führung des Angriffs, die in der „Conduite
des grandes Unités“ gegebenen Gesichtspunkte bedurften für die
Division keiner Änderung. Auch hier herrscht der Grundsatz, überall
angreifen, die Vorhand an sich reißen und bewahren. Stocken des
Angriffs bedingt Festklammern an das erreichte Gelände und so-
fortiges Aufnehmen der Vorwärtsbewegung, sobald dieses nur die Lage
gestattet.
Beim Begegnungskampfe soll das Streben darauf gerichtet
sein, dem Feinde in der Gefechtsentwickelung einen Vorsprung ab-
zugewinnen, daher angreifen, ohne völlige Klärung der Lage durch
Meldungen abzuwarten.
Beim Angriff eines in Stellung befindlichen Feindes
kommt es zunächst darauf an, die Vortruppen bis auf die feindlichen
I) Französische Artillerieoffiziere glaubten aus dem Balkankriege eine
große Bedeutung des Schrägfeuers auf weiten Entfernungen mit langen
Kanonen folgern zu können.
- -— = nr me r a ee e a,
Die Felddienstordnung (Service des armées en camgagne) vom 2. Dez. 1913. 13
Hauptkräfte zurückzudrängen, das Gros möglichst noch nicht ein-
zusetzen. Die Infanterie des Gros wird im Verbande flügelweise, auf
den Flügeln und bei der allein fechtenden Truppe treffenweise bereit-
gestellt, letzteres auch, wenn es sich voraussichtlich um Führung
mehrerer Angriffe nacheinander handelt. Die Angriffsbreite einer
Division soll in günstigem Gelände 4 km nicht übersteigen. Der
Führer soll keine Zeit zum Handeln verlieren, das Streben nach über-
mäßiger Aufklärung hat den Nachteil, die Vorhand zu verlieren. Das
ist richtig. Patrouillen können die Aufklärung nur bis zu einer ge-
wissen Grenze erreichen, ist diese gewonnen, dann gibt erst das
Gefecht weitere Auskunft. Nicht überflüssig ist die Mahnung, nur
ein einziges Ziel sich zu stecken, dieses klar und unzweideutig allen
Führern anzugeben. Ob der im Sinne des Führers angeordnete Haupt-
und Nebenangriff räumlich oder zeitlich voneinander getrennt ist,
hängt von den vorliegenden Nachrichten ab, noch einmal wird
darauf hingewiesen, daß Haupt- und Nebenangriff nach den gleichen
Grundsätzen ausgeführt werden. Von der Infanterie wird im An-
griffsgefecht verlangt: zur Feuereröffnung so nahe an den Feind heran-
gehen als möglich, schnelle und lange Sprünge, Verstärkungen sollen
die Linie weiter vortragen, Verstärkungen folgen unter Ausnutzung
der Deckungen in geeigneter Form, im offenen Gelände in gleicher
Weise wie die Feuerlinie, gehalten wird nur, um Atem zu schöpfen.
Entschluß zum Sturm kann auch von der Gefechtslinie ausgehen,
während des Sturmes hält die Artillerie das Gelände hinter der
Stellung unter Feuer und bemüht sich möglichst bald, mit einzelnen
Batterien in die genommene Stellung einzufahren.
F.O. 1895 machte die Verteidigung mit nur wenigen nichts-
sagenden Worten ab, sie führten zu einer nach der Tiefe gegliederten
Verteidigung, die in ihren letzten Folgerungen unzweifelhaft dahin
führen mußte, mit zunehmender Minderheit gegen eine Überzahl zu
kämpfen. Rückzugsdefensive aus vorgeschobenen Stellungen bis in
Aufnahmestellungen und Gegenangriffe waren die Merkmale dieses ver-
künstelten Kampfverfahrens. Mit Recht bezweifelten Anhänger der
neuen Richtung in Frankreich, ob es auch möglich sein würde, die
Abwehr auf den Angriff folgen zu lassen. Der Verteidiger ist ge-
bunden, er kann nicht mehr frei über seine Kräfte, wie der Angreifer,
verfügen. Der Gegenangriff ist nur in der äußeren Form mit dem
selbst gewählten Angriff verwandt, da er von dem Willen und den
Maßnahmen des Feindes abhängt, und da diese nur ungenau bekannt
sind, so ist der Erfolg durch tausenderlei Zufälligkeiten bedingt. Man
denke nur an die Schwierigkeiten, die Benedek fand, seinen Angriffs-
gedanken bei Königgrätz in die Tat umzusetzen; selten günstige Be-
14 Die Felddienstordnung (Service des armées en campagne) vom 2. Dez. 1913,
dingungen hatten an diesem Tage noch das II. und IV. Korps der
österreichischen Nordarmee für einen Gegenangriff und doch geschah
nichts, Lehrreich sind auch, im Abwägen des Für und Wider für
Losbrechen des Gegenangriffs die inneren Kämpfe Kuropatkins,
aus denen er auf den Schlachtfeldern von Liauyan und Mukden
einen Ausweg nicht zu finden wußte. Die russische Heeresleitung
verzichtete auf selbstgewählte Ziele, legte sich in Stellungen fest,
ließ dem Gegner völlige Freiheit des Handelns und gestattete ihm
schließlich mit überlegenen Kräften dort aufzutreten, wo es ihm
beliebte. Grundsätzlich ist der selbst gewählte Angriff, der fast immer
dem Feinde das Gesetz vorschreibt, der Abwehr, selbst mit dem daran
schließenden Gegenangriff, vorzuziehen.
Aufgabe der Verteidigung!) ist, auf gegebener Front einen über-
legenen Feind mit schwächeren Kräften aufzuhalten, um mehr Kräfte
in der gewollten und an anderer Stelle vorbereiteten Offensive ein-
zusetzen... Auf Befehl der Führung in die Defensive verwiesen, hat
die Division bis zum äußersten, selbst auf die Gefahr völligen Opferns
auszuhalten, sie muß sich vor unüberlegten und ungerechtiertigten
Angriffen hüten, die ihre Widerstandsfähigkeit schwächen können.“
Nach einheitlichem Plan wird die Stellung gruppenweise besetzt. Die
einzeln auftretende Division kann z. B. einem Regiment die defensive
Aufgabe zuweisen, dann mit dreien den Angriff führen. Jede Gruppe
(Centre de resistance) erhält eine bestimmte Infanteriebesatzung, dann
werden für ihre Verteidigung Artilleriestellungen ausgesucht zum Be-
herrschen des Angriffsraumes und des Zwischengeländes sowie zum
Bekämpfen der feindlichen Artilleriestellungen. Ein eigentlicher Artillerie-
kampf soll vermieden werden, ganze Batterien oder Züge können bis
zum Einbruch als Sturmabwehrgeschütze zurückgehalten werden.
Infanterieschußfeld wird nur bis zu 806 und 1000 m gefordert, er-
wünscht ist, wenn diese Stützpunkte der feindlichen Artilleriewirkung
entzogen sind.“
1) Exerzierreglement 1904: „Die Vorwärtsbewegung allein ist ent-
scheidend und unwiderstehlich, der Angriff drängt sich daher in den
meisten Fällen auf. Die Verteidigung kann aus freien Stücken im ge-
gebenen Falle angewendet werden, um Kräfte zu sparen, den Feind fest-
zuhalten und ihn zum Gefecht in eine vorteilhafte Richtung zu ziehen,
aber dies immer nur, um der Masse zu gestatten, unter günstigen Um-
ständen anzugreifen.
Rußland: „Die Verteidigung ist anzuwenden, wenn die gestellte
Aufgabe durch Angriff nicht zu lösen ist. In der Verteidigung muß man
bestrebt sein, den Feind mit allen Mitteln zu erschüttern, um, nachdem
seine moralischen Kräfte gebrochen sind, zum Angriff überzugehen und
ihn zu schlagen (Ustaw 514).
Die Felddienstordnung (Service des armées en campagne) vom 2. Dez. 1913. 15
„Vorgeschobene Stellungen (avant lignes et positions avancés)
sind in der Verteidigung grundsätzlich zu vermeiden, sie führen nur
zu einer Zersplitterung der Kräfte und zu Teilniederlagen, die die
Moral der in der Hauptverteidigungsstellung verbliebenen Truppen
schwächen.“ Sicherung erfolgt durch Vortruppen (elements de
surveillance), nur bei Unklarheit über Absicht des Feindes durch vor-
geschobene Detachements aller Waffen, die aber rechtzeitig zurück-
weichen sollen.
Die Frage der vorgeschobenen Stellungen, die jahrzehnte-
lang in Frankreich zu ihren Gunsten entschieden war, ist unter dem
Gesichtspunkte zu bewerten, ob durch ihre Besetzung der Bereich der
eigenen Beobachtung und Waffenwirkung vorteilhaft erweitert, die feind-
liche Beobachtung und Erkundung ferngehalten, der eigene Übergang zum
Angriff erleichtert werden kann. Vorstellungen — oft mehrere hinter-
einander — sind zumeist zweckmäßig, falls es sich um Zeitgewinn
handelt, wenn man den Feind über die Lage der eigenen Stellungen
zu täuschen hoffen kann, ihn zu langsamem Angriff gegen die Vor-
stellung oder — in dem Glauben, wieder eine vorgeschobene Stellung
vor sich zu haben — zum übereilten Vorgehen gegen die Haupt-
stellung verleiten kann. Diese Voraussetzungen werden aber durch
den Gebrauch von Flugzeugen eine recht erhebliche Einschränkung er-
fahren, vielfach wird man an Stelle vorgeschobener Stellungen sich
mit recht schwach besetzten Scheinanlagen begnügen können. Die
entscheidungführende Verteidigung wird vorgeschobenen Stellungen zur
Erweiterung der vorgeschobenen Beobachtung seiner Waffenwirkung aus-
nutzen, der Führer wird sie zweckmäßig verwenden, wenn sich die
Möglichkeit bietet, den Angreifer zur Entwickelung in einer falschen Front
zu verleiten, um dann über ihn herzufallen. Vorgeschobene Stellungen
entsprachen durchaus dem ‘Wesen der bisherigen französischen Ver-
teidigung, da sie Gelegenheit gaben, durch Erschwerung der Aufklärung,
Nötigen zum Aufmarsch, Zeitaufenthalt und einen Manövrierraum zu
schaffen für Verschiebung und Verwendung zurückgehaltener Kräfte.
Ihre Vorzüge zeigen sich mehr im Frieden als im Kriege. Wo aber
vorgeschobene Stellungen in ausgesprochener Weise vor dem Feinde
von Vorteil gewesen sind, da läßt sich dieses aber immer auf Fehler
des Angreifers zurückführen, gegen die man sich in gewisser Weise
wappnen kann. Für den Angreifer sind zu vermeiden Zusammenballen
angreifender Truppen und Zeigen dichter Ziele auf mittleren Gefechts-
entfernungen vor Stellen, die besetzt sein könnten. Bei geplantem
Auf- und Vormarsch sind unter größeren Verhältnissen vorgeschobene
Stellungen aber derart umfaßt, daß sie gar nicht recht zur Geltung
kommen und sichere Beute des Angreifers werden. Viel ist erreicht,
16 Die Felddienstordnung (Service des armées en camgagne) vom 2. Dez. 1913.
wenn ihre Besetzung den Angreifer in ungünstiges Gelände hineinlockt.
Anscheinend hatten die Franzosen in dieser Beziehung Schlußfolgerungen
aus den preußischen Kämpfen an der Hallue gezogen.
Auch die russische Verteidigungstaktik rechnete besonders
mit Anlage mehrerer Verteidigungsstellungen hintereinander. Die
Kämpfe des russischen XVII. und X. Armeekorps am Schaho zeigen
den nacheinander sich abspielenden Kampf um eine vorgeschobene
Stellung, in der angesichts der Hauptstellung die Vorhut verblutete,
den Kampf um die eigentliche Stellung und schließlich das Erlöschen
des Kampfes der einzeln geschlagenen Kräfte in der Rückenstellung').
In der neuen Vorschrift wird eingehend die Besetzung eines vor-
geschobenen „Punktes“, aber nicht mehr die Verteidigung einer „vor-
geschobenen Stellung“ besprochen.
Die russische Infanteriegefechtsvorschrift empfiehlt Besetzen vor-
geschobener Punkte, um dem Feinde die Aufklärung zu erschweren,
seine eigenen Maßnahmen aufdecken zu müssen, die Besetzung von
vorgeschobenen Stellungen, die Zuteilung von Artillerie an die Be-
setzung wird bei der größeren Tragweite der Geschütze als überflüssig
bezeichnet. Die Verteidigung vorgeschobener Punkte muß mit voller
Energie, aber nur solange geführt werden, bis man die Stärke der an-
greifenden Kräfte vollständig erkannt hat und den Gegner in seinem
Vordringen nicht mehr aufhalten kann. Die Verteidigung wird aus-
schließlich den zur Besetzung des vorgeschobenen Punktes bestimmten
Truppen überlas:’en; für deren Unterstützung darf den Reserven der
Hauptstellung nichts entnommen werden. Beim Rückzug soll das
Feuer aus der Hauptstellung nicht beeinträchtigt werden.
„Erweist es sich als nützlich, vorgeschobene Stellungen zu be-
setzen,“ sagt die russische Felddienstordnung, „so sind sie derart aus-
zuwählen, daß sie von der Hauptstellung aus zum mindesten mit
wirksamem Artilleriefeuer beherrscht werden können und daß sie die
Gefechtstätigkeit der eigenen Truppe nicht hindern“. Die Feld-
befestigungsvorschrift, die im wesentlichen die Anschauungen des
Obersten Golenkin sich zu eigen machte, der in einer Preisschrift 1908
die russischen Anordnungen der Gruppenbefestigung mit Tiefen-
gliederung festlegte, rechnete mit dem Vorhandensein und dem Aus-
nützen einer vorgeschobenen Stellung.
In den neuen englischen „Field Service Regulations“ hat
man seit 1909 auf vorgeschobene und Scheinstellungen verzichtet,
der Feind soll nicht mehr getäuscht, sondern vernichtet werden, was
aber nicht ausschließt, daß berittene Truppen in günstigen Stellungen
das Vorgehen des Feindes zu verzögern suchen.
1) „Studien zur Schlachtentaktik“, S. 51 u. f.
Die Felddienstordnung (Service des armées en campagne) vom 2. Dez. 1913. 17
In Japan hält man die Vorzüge vorgeschobener Stellungen
nicht für so groß, als daß diese ihre Nachteile aufwiegen könnten.
Im österreichischen Exerzierreglement für die Infanterie
(672) werden vorgeschobene Punkte mit schwachen Kräften besetzt,
die rechtzeitig ausweichen sollen (Kavallerie, Radfahrer, Maschinen-
gewehre), wenn der Feind zur vorzeitigen Entwickelung möglichst in
falscher Richtung gezwungen und durch längere Zeit aufgehalten und
wirksam beschossen werden kann.
In Deutschland (E. R. f. d. Inf. 407) hat man die prinzipielle
Abneigung gegen vorgeschobene Stellungen aufgegeben, als Nachteil wird
hervorgehoben, daß sie das Feuer aus der Hauptstellung behindern
können und häufig Veranlassung zu Teilniederlagen werden. Der
„Feldpionierdienst für alle Waffen“ (217, 260) gesteht zu, daß sie
Zeitgewinn schaffen und den Angreifer zur Entwickelung nach falscher
Richtung verleiten können. „In jedem Falle ist aber zu erwägen,
ob diesen Vorzügen nicht größere Nachteile entgegenstehen: Er-
schwerung des rechtzeitigen und gesicherten Abzuges der in ihnen
verwendeten Truppen, Ausnutzen der geräumten Befestigungsanlagen
durch den Feind.“
Gegenangriffe und Gegenstöße (contre attaques und retours
offensifs) sind von der Führung unter Mitwirkung der anderen Waffen
vorzubereiten. Übergang zur allgemeinen Offensive ist nur zulässig,
falls bestimmte Befehle dieses nicht ausdrücklich verbieten, wenn die
Division überhaupt nicht oder von sichtlich unterlegenen Kräften an-
gegriffen wird, oder wenn sich ihm Gelegenheit bietet, seinem Feinde
eine gründliche Niederlage zu bereiten oder einen Fehler auszunützen.
Vorschreiben nach Regeln kann man diesen Übergang zum Angriff
nicht, das ist eben die Kunst der Führung, dieses rechtzeitig zu
erkennen.
Die Ausführungen über Verfolgung sind beherzigenswert, bieten
aber nichts Neues. Die Verfolgung, in breiter Front angesetzt, ver-
langt von Führer und Truppe eine unbezähmbare Willenskraft und
äußerste Ausdauer, Aufrechthalten der taktischen Ordnung ist von
nebensächlicher Bedeutung.
Ganz neu sind Hinweise (art. 119) auf Nebel- und Nacht-
gefechte, bei ersterem muß der Möglichkeit Rechnung getragen
werden, daß der Nebel plötzlich verschwindet. Ein begonnener Kampf
wird bis zu Ende durchgeführt, bricht vorzeitig die Dunkelheit herein,
Jahrbücher für die deutsche Armee und Marine. Nr. 514. 2
18 Die Felddienstordnung (Service des armées en campagne) vom 2. Dez. 1913,
so muß die Entscheidung noch in der Nacht gesucht werden. Wäre
dieses im Balkankriege von den Bulgaren versucht worden, wir
hätten nicht das Beispiel tagelanger entscheidungsloser Kämpfe
gehabt; bekanntes Gelände kommt dem Gelingen eines Nacht-
angriffes zu gute. Man darf dem Feind nicht die Zeit lassen,
sich zu erholen oder den Rückzug in Ruhe vorzubereiten'!). Ist
so der Nachtangriff eine Fortsetzung des Kampfes am Tage, so
können auch nächtliche Angriffe angeordnet werden, um einen un-
zureichend gesicherten Feind zu überfallen, Vortruppen zurückzuwerfen
oder Stützpunkte in Besitz zu nehmen, die man für den Angriff
braucht. Mit Recht wird darauf hingewiesen, daß in der Dunkelheit
die Bedeutung der Zahl schwindet, daß auch eine Minderzahl große
Erfolge erringen kann. Von Einfluß ist aber die Breite der anzu-
greifenden Stellung, dieses kann im Brigade- und Divisionsverbande
zum Angriff in mehreren Kolonnen führen, deren Vorgehen nach der
Uhr geregelt wird. Erfolg hängt von der Vorbereitung und Er-
kundung ab, Verhalten nach dem Erfolge und bei einem Rückschlage
sind zu befehlen. Angriffe bei Beginn der Nacht sind am Platz, um
dem Feinde nicht die Zeit zu lassen, seine Vorbereitungen zur Ver-
teidigung zu vervollständigen. Angriffe in voller Dunkelheit sind
nach der Tiefe zu gliedern. Angriffe kurz vor Tagesanbruch verlangen
geöffnete Formen, eine vordere Linie zum Einbruch in das Angriffs-
ziel, dahinter Infanterie, Kavallerie und Artillerie zur Ausbeutung des
Erfolges. Ausführung des Angriffs lautlos. Ist die Stellung ge-
nommen, so wird sie in Erwartung eines Gegenangriffs besetzt, be-
festigt und durch Vortruppen gesichert.
Im titre VI werden die Anschauungen über Kavallerie-
verwendung zusammengefaßt. Als Aufgabe der in Kavallerie-
divisionen?) zusammengefaßten Heereskavallerie wird zunächst die
Aufklärung bezeichnet, die um so einfacher sich vollziehen wird,
wenn es gelungen ist, die feindliche Kavallerie aus dem Felde zu
schlagen. Sehr richtig wird darauf hingewiesen, daß es vielfach
leichter ist, die Nachrichten einzusammeln, als sie zur entscheidenden
Stelle gelangen zu lassen. Das im Armeeverbande- auftretende Armee-
korps verfügt über ein Kavallerieregiment zu 6 Eskadrons für die
1) Siehe Näheres in meinem Buche „Nachtgefechte‘“.
2) In Frankreich ist die gesamte Kavallerie schon im Frieden in
10 Kavalleriedivisionen zu 3-4 Brigaden mit 2—3 Regimentern formiert.
Die zur Korpskavallerie bestimmten Regimenter werden jährlich bezeichnet
und können von den Armeekorps zu Übungen herangezogen werden.
Eine einseitige Ausbildung der Kavallerie wird durch diesen Wechsel
vermieden.
Die Felddienstordnung (Service des armées en campagne) vom 2. Dez. 1913. 19
eigene Aufklärung, und zum Schutze der Truppen gegen Überraschung,
mit verausbefindlicher Heereskavallerie ist. die Verbindung aufzunehmen.
Die Aufklärung reicht bis zu einem Tagesmarsch über die Kolonnen-
anfänge hinaus, im Laufe der Heeresbewegungen kann sich die Not-
wendigkeit ergeben; die Kavallerie durch Infanterie- und Artillerie-
abteilungen zu verstärken, den Infanteriedivisionen wird nach Bedarf
vorübergehend Kavallerie von der Stärke eines Zuges bis zu mehreren
Eskadrons überwiesen.
Die Frage, ob Divisions- oder Korpskavallerie, ist in
Frankreich und Rußland zugunsten der letzteren entschieden, die in
Deutschland gelegentlich gemachten Versuche, die Kavallerie beider
Divisionen vorübergehend zu einer Korpskavalleriebrigade zusammen-
zufassen, haben die hiermit verbundenen Nachteile nicht auszugleichen
vermocht, jedenfalls darf man es nicht zur Regel erheben, weil
dann sonst die zweite Division eines Armeekorps leicht ohne jede
Kavallerie sein könnte, andererseits sieht aber auch Exerzierreglement
für die Kavallerie 528 eine Beteiligung der Divisionskavallerie an den
großen Reiterkämpfen vor, „indem sie auf Befehl oder aus eigenem
Antrieb vorübergehend Anschluß an die Heereskavallerie findet.“
Rechtzeitige Loslösung von der Heereskavallerie wird nicht immer
rechtzeitig möglich sein.
„Weitab vom Feinde“, wenn jeder Zusammenstoß mit der feind-
lichen Kavallerie am Marschtage ausgeschlossen ist, kann in mehreren
Kolonnen marschiert werden, die Radfahrer außerhalb der Kavallerie-
kolonne, doch ist für ihren Schutz zu sorgen. Nach einem Marsch
von 4—5 km im Schritt wird gehalten, dann weitere Rasten von
zwei zu zwei Stunden eingeschoben. Schritt und Trab wechseln ab,
zwischen den Zügen bleiben etwa 10 m Abstand. Sind die beider-
seitigen Kavallerien nur noch 30 km getrennt, so kann ein Zusammen-
stoß bereits in zwei Stunden erfolgen, Meldungen über Bewegungen der
feindlichen Kavallerie können kaum viel vor dem Gegner ankommen.
Aufklärung geschieht durch die „D£tachements de couverture“
(wechselnde Stärke) und reconnaissance d'officiers. Vorgehen der
Kavallerie wird durch eine sprungweise von Höhe zu Höhe vorgehende
Vorhut gedeckt (mit Radfahrern, eventuell werden noch reitende
Artillerie und Maschinengewehre zugeteilt), die Regimenter zu Vieren
oder in Zügen, zwischen den Eskadrons etwa 10 m Abstand. Gefechts-
train mit Handpferden am Schluß der Kolonne verwiesen.
Es sollen geleistet werden in der Stunde:
6.5 km im Schritt,
8 km abwechselnd Trab und Schritt
2*
20 Die Felddienstordnung (Service des armées en campagne) vom 2. Dez. 1913.
(Normalleistung für Kolonnen vom Regiment an aufwärts).
Im Trabe sollen 10 km in 40 Minuten geleistet werden, doch
ist dieses schwer in langer Kolonne aufrechtzuhalten.
In Erwartung einer Zusammenstoßes wird die Division von
einem günstigen Gelände zum anderen vorgehen (marche d’approche),
die zu wählende Form muß gestatten, leicht die Gefechtsordnung
annehmen zu können. Mit dem Anmarsch gegen den Feind beginnt
auch die Gefechtsaufklärung.. „Der Führer, der am schnellsten über
die feindliche Kavallerie unterrichtet ist, kann auch als erster seinem
Anmarsch Schnelligkeit und Entschlossenheit aufprägen, seinen Gegner
noch in der Entwickelung erreichen. Aber um schnell unterrichtet
zu sein, muß er der Aufklärung vorauseilen (il faut aller au devant
des renseignements), er muß schnell handeln, seinen Entschluß fassen,
ohne zu suchen, vorher alles zu wissen.“ Die Gefechtsaufklärung
muß den Führer unterrichten bis zu dem Zeitpunkt, wo die Division
das Kampffeld betritt. Der Divisionsführer eilt mit seinen Brigade-
führern, den Führern der Artillerie und den Radfahrern voraus, gibt
seinen Angriffsbefehl nach dem, was er vom Feinde und vom Ge-
lände sieht.
„Der Kampf zweier Kavallerien wird durch das Handgemenge
entschieden, die Attacke ist nur das Mittel, um zum Handgemenge
zu kommen, den Kampf Mann gegen Mann dem Feinde aufzuzwingen,
durch die Brutalität des Zusammenstoßes Unordnung in seine Reihen
zu bringen. Der Stoß ist um so kräftiger, je größer die Geschwindig-
keit und die Geschlossenheit der Eskadrons sind, das schließt künst-
liche Manöver aus.“
Auch hier wird zwischen einem Haupt- und einem Nebenangriff
unterschieden, auf diesen wird verzichtet, wenn es gelingt, den Feind
in der Entwickelung zu fassen. Der Hauptangriff wird auf den
Flügeln durch gestaffelte Eskadrons und hinter der Mitte durch Unter-
stützungseskadrons verstärkt, der Divisionsführer kann den Haupt-
angriff oder die Reserve führen. „Eine Gefechtsanlage, die nicht mit
dem Einsatz aller Kräfte rechnet, ist unbedingt zu verwerfen. Alle
Säbel und Lanzen der Division müssen im Handgemenge zur Geltung
kommen, denn nur so wird ein Kavalleriekampf entschieden .. .
Kein Offizier, kein Streiter darf außerhalb des Handgemenges bleiben,
keiner darf es verlassen, solange noch ein feindlicher Reiter zu
Pferde ist.“
In mustergültiger Weise wird hier der Vernichtungsgedanke aus-
gesprochen, besonders wird darauf hingewiesen, zuerst die Offiziere
außer Gefecht zu setzen.
Die Felddienstordnung (Service des armées en campagne) vom 2. Dez. 1913. 924
Die Heereskavallerie nimmt an der Schlacht teil, wie jede andere
Waffengattung, ist die feindliche Kavallerie nicht mehr zu fürchten,
so gliedert sich die Division in mehrere Gefechtsgruppen (groupes de
combat), Aufgabe der Divisionsführer bleibt, einheitliches Zusammen-
wirken zu ermöglichen. Die Attacke bleibt das wirksamste Kampf-
verfahren gegen überraschte oder entmutigte Truppen, ein Angriff zu
Fuß ist nur am Platze, wenn ein Eingreifen starker Kavallerie nicht
zu erwarten ist; ist dieses aber möglich, so wird die Feuerkraft der
Artillerie und Radfahrer ausgenutzt, die Masse der Eskadrons bleibt
zusammen. Soll der Vormarsch einer feindlichen Kolonne verzögert
werden, so muß der Feind über den Mangel an Infanterie getäuscht
werden, die Verwendung mehrerer Gefechtsgruppen gleichzeitig gegen
Front und Flanke wird empfohlen.
Im Abschnitt (VII) „Detachements‘“ vermissen wir die früher
so sehr beliebten „Detachements mixtes“, ihre Anwendung zur Ver-
zögerung des Anmarsches des Feindes ist jedoch nicht ausgeschlossen.
Obwohl die Kühnheit der beste Bundesgenosse des Angriffs ist, wird
Verteidigung und bei schwächeren Truppen auch (Grenzschutz) die
Rückzugsdefensive empfohlen.
Technische Arbeiten (titre VIII) bezwecken, die Vorwärts-
bewegung der Truppen zu erleichtern, die Widerstandskraft einer vor-
übergehend aufgehaltenen Truppe zu erhöhen, einer auf die Ver-
teidigung angewiesenen Truppe zu ermöglichen, den größten Nutzen
aus dem Gelände zu ziehen. Befestigungen in der Verteidigung‘ sollen
schon in dem ersten Stadium verteidigungsfähig sein, gefordert wird,
daß sie der feindlichen Feuerwirkung nach Möglichkeit entzogen sind.
Größeres Interesse beansprucht die Verwendung von Befestigungen
im Angriff. „Im Angriff liegt die erste Gewähr gegen Verluste, so-
wohl für Schützen wie Unterstützungen, in der Schnelligkeit der Vor-
wärtsbewegung sowie in der Anwendung geeigneter Formen und Aus-
nützung gedeckter Anmarschwege. Aber häufig wird eine angreifende
Truppe gezwungen sein, im Feuer haltzumachen, sie nutzt den
Schutz des Geländes aus, den sie durch eigene Arbeit zur Deckung
und eigenen Waffenwirkung verbessern kann. Im offenen Gelände
klammert sich die Infanterie an den Boden mit dem festen Willen,
nicht weichen zu wollen, schafft sich zunächst eine Erdmaske, die
später von den nachfolgenden Unterstützungen verbessert wird.
Muß die Angriffstruppe in der Nacht an derselben Stelle bleiben,
so baut sie in der Dunkelheit die begonnenen Deckungen weiter aus.“
„Im Angriff gewonnenes Gelände darf grundsätzlich nicht auf-
gegeben werden, eine Truppe, die im Feuer einen Stützpunkt ge-
wonnen hat und nicht weiter vorwärtskommen kann, ist verpflichtet,
22 Die Felddienstordnung (Service des armées en campagne) vom 2. Dez. 1913.
sich an den Boden zu klammern und mit allen Mitteln den Schutz,
den das Gelände verleiht, zu vermehren.“
Die Frage der Nützlichkeit des Spatengebrauchs im Angriff
ist z. Zt. noch nicht entschieden. Der russische geplante Angriff ist
ein ausgesprochener Spatenangriff, während in Japan trotz vorzüg-
licher technischer Schulung der Spatengebrauch nur beim Angriff
auf befestigte Stellungen zulässig ist, wenn ungedeckte Infanterie längere
Zeit den Feuerkampf mit ungeschwächter, gut gedeckter Infanterie führen
müßte, die Arbeit muB aber eingestellt werden, wenn durch die Erde
des frisch aufgeworfenen Bodens dem Feinde das Abkommen erleichtert
werden würde. Im ungebrochenen feindlichen Feuer und ohne vor-
übergehenden Feuerschutz durch eigene Artillerie sich eingraben zu
wollen, heißt freiwillig seine Feuerkraft schwächen und den Angriff
verlangsamen. Das deutsche (313) und österreichische Exerzier-
reglement (205, 609, 628) teilen durchaus diesen Standpunkt, sie
weisen darauf hin, daß Zeitgewinn dem Verteidiger zugute kommt,
daß die Schwierigkeiten des Aufreißens einer eingenisteten Schützen-
linie nicht zu unterschätzen sind. Der Pionierdienst für alle Waffen
(Nr. 258) schreibt über den Angriff gegen befestigte Feldstellungen:
„Der Truppenführer bestimmt, welche Abschnitte zunächst zu ge-
winnen und — wenn erforderlich — für den weiteren Angriff zu be-
festigen sind.“
Man wird gut tun, den Spatengebrauch im Angriff als Aus-
nahme anzusehen, die Truppe soll schießen, aber nur im Notfalle
graben.
Die übrigen Abschnitte der Felddienstordnung haben nur ein
mittelbares taktisches Interesse, sie seien hier nur dem Titel nach
aufgeführt:
Titre IX Luftschiffe und Telegraphendienst').
„ X Trains und Kolonnen.
„ XI Ergänzung von Lebensmitteln und Munition, Abschub
und Beitreibungen ?).
1) Verbindung von unten nach oben, zu Nachbarkorps über das
Armeeoberkommando.
3) Verpflegung: Die Ausnützung der Hilfsmittel des Landes ist
nicht Aufgabe der Truppen, sondern der Verwaltungsbehörden. Mangelnde
Verpflegung begünstigt die Indisziplin, führt zu Plünderung und ver-
ursacht Epidemien. Die Intendantur arbeitet unter Leitung des Truppen-
befehlshabers, ähnlich wie in Deutschland. ln jedem Truppenteil leitet
den Verpflegungedienst ein „officier d’approvisionnement‘. Eiserne Portion
(les vivres de réserve) für den Notfall. Diese reicht für zwei Tage, ebenso
Die Felddienstordnung (Service des armées en campagne) vom 2, Dez. 1913. 23
Titre XII Feldgendarmerie.
Anhang. Schriftverkehr, Rechte nichtfranzösischer Offiziere bei
dem kriegführenden Heere.
Ausstattung mit Verpflegung.
Internationales Recht (Genfer, Petersburger und Haager Ab-
kommen).
Die französische Armee verzichtet in diesem Jahre auf große
Manöver, um so in kleineren Rahmen die Grundsätze der neuen Vor-
schrift zum Gemeingut der Truppe zu machen, manche entgegen-
stehende Ansichten werden zu überwinden sein. Die neuen Vorschriften
predigen Selbständigkeit, rücksichtslosen Angriff, Zähigkeit und Ent-
schlossenheit. Eine in diesem Sinne erzogene und geführte Armee
wird ihren Gegner zu den höchsten Anstrengungen zwingen, wenn er
im Entscheidungskampfe siegen will.
wie große Bagage, Korps- und Armeetrains Verpflegung für den Mann
auf je zwei Tage mitführen. So ist Verpflegung für acht Tage (Hafer für
sieben Tage) vorgesehen. Im Falle besonderer Anstrengungen tritt die
„ration forte“ in Geltung. Besondere Fleischwagen sind vorhanden. Die
Truppe lebt aus den „trains r&gimentaires“, die entweder aus den Korps-
trains in den „centres de ravitaillement“ — in der Regel drei für jedes
Korps — oder unmittelbar aus der Eisenbahn in den ‚gares de
ravitaillement‘ wieder gefüllt werden. Bei dieser Wagenfüllung ist
möglichst ein Generalstabsoffizier und ein Intendanturbeamter zugegen,
Für Fleischversorgung jedes Korps besteht ein Schlachtviehdepot, das
möglichst lange an einem Ort bleibt. Das dort geschlachtete Vieh wird
durch Fleischautomobile nach den Fleischverteilungsorten geschafft, wo
es die Fleischwagen der Truppen empfangen. Verpflegung durch Quartier-
wirte bildet Ausnahme; nur für kleine, abgetrennte Abteilungen.
4. Die Manöverordnung 1914.
U.
Die Manöverordnung 1914.
Eine Entwickelungsstudie.
Von
Generalmajor von Wenninger.
Die erste „Manöverordnung“ vom Jahre 1861 hatte „die ver-
schiedenen Ordern, Instruktionen und Traditionen zusammengefaßt,
die vorher für die Leitung und Führung der größeren Truppen-
übungen maßgebend gewesen waren“. Sie unterschied bereits zwischen
„Übungen, deren Gegenstand der reinen Taktik angehört“ (wie sie
heute noch in den „Regiments- und Brigadeübungen“ erhalten sind),
und zwischen „Übungen mit gemischten Waffen, mit vollkommener
Berücksichtigung des Terrains, nach einer zugrunde gelegten General-
idee (Manöver)“. Die Manöver zerfielen wieder in „Divisions- und
Korpsmanöver gegen markierten Feind“ und in „Manöver in zwei
Abteilungen (Parteien), unter zweien, durch eine Generalidee einander
entgegengestellten Führern“. Nur diese letzteren Manöver hießen
bezeichnenderweise „Feldmanöver“; ihnen allein maß man Kriegswert
bei. Die geringere Einschätzung der Manöver gegen markierten
Feind war in ihrer damaligen Ausführung begründet. Der Führer
der Volltruppen war zugleich Leitender; er „teilte für sich die
Manöver in Momente ein und schrieb dem markierten Feind seine
Stellungen und Bewegungen genau vor. Die Momente waren, wo es
ohne Nachteil (!) für das darzustellende Kriegsbild geschehen konnte,
durch Pausen zu trennen. Der markierte Feind manövrierte niemals
auf eigene Hand, er sollte nur die Motive zu den Maßregeln der
manövrierenden Truppen geben.“ Mit anderen Worten: bei den
Manövern gegen markierten Feind kamen nur taktische Entschlüsse,
und zwar nur solche der Unterführer, in Frage; der Führer der
Volltruppen hatte, weil zugleich Leitender, für seine Person wenig
Übungsnutzen. Bei den Feldmanövern dagegen sollten auch die
höheren Kommandeure als Parteiführer vor taktische und hauptsäch-
lich vor operative Entschlüsse gestellt werden. „Vorzüglich durch
diese Manöver sollte die Fähigkeit geprüft und geübt werden, Ver-
hältnisse, wie sie der Krieg gibt, schnell und sicher aufzufassen, zu
beurteilen und der gewonnenen Ansicht gemäß zu handeln. Die
Übung des Gefechts, das rein Taktische, sollte hier nur ein unter-
Die Manöverordnuug 1914. 25
geordneter Zweck sein.“ „Ein Manöver muß an seiner strategischen
Basis festhalten.“
Unter dem gleichen Gesichtspunkt wie die M.O. 1861 beurteilte
auch Moltke noch nach den Kriegen von 1864 und 1866 den Wert
der Feldmanöver. In der ersten „Instruktion für die höheren Truppen-
führer“ vom Jahre 1869!) ist gesagt: „Die Friedensmanöver, auch
die ausgedehntesten, geben nur ein sehr unvollkommenes Bild des
wirklichen Kriegs. Vor allem bleibt bei Friedensübungen jede
Waffenentscheidung, also auch das moralische Element, ausgeschlossen,
und der überaus große Nutzen derselben (d. h. der operative
Nutzen) endet mit dem Augenblick, wo die gegeneinander manövrieren-
den Abteilungen zum allgemeinen Engagement aufeinandertreffen.“
Nach Moltke sind unter operativen Entschlüssen freilich nur
solche zu verstehen, die, kurzgesagt, aus dem getrennten Marschieren
zum vereinten Schlagen führen. In diesem Moltkeschen Sinne konnte
bei dem damaligen kleinen Rahmen auch der „ausgedehntesten“
Manöver von einer „strategischen Basis“ und von operativen Ent-
schlüssen nur dann die Rede sein, wenn die Manöveranlage die
gemischte Brigade oder die Division in operative Beziehung zu an-
genommenen Nachbargruppen der gleichen Partei brachte.
Trotz dieser Auffassung jener Zeit waren in die erste M.O. auch
Kapitel rein taktischen Inhalts eingearbeitet, z. B.: „Wirkung der
preußischen Schußwaffen. Unterschied zwischen Zündnadel- und
Mini&-Gewehr und dessen taktische Konsequenzen“, „Führung ent-
gegenstehender Abteilungen“, „Führung der Avantgarde“, „Führung
der Arrieregarde*, „Der Kommandierende der Kavallerie“. Damit
gewann die erste M.O. bereits den Charakter einer Felddienst-
ordnung.
Indes — obwohl schon die M.O. von 1861 die „Einführung der
Konsequenzen des Hinterladers in die Manövertaktik empfohlen“
hatte, und obwohl Moltke in seinen klaren und überzeugenden Auf-
sätzen von 1861?) und 1865?) eine neue Taktik, die „Taktik der
verbesserten Feuerwaffen“, gepredigt hatte, — so war doch die
preußische Armee 1870 mit einem durchaus veralteten Reglement in
den Krieg gegen das Chassepot gezogen. Erst unter den Eindrücken
dieses großen Krieges, wo die deutsche Infanterie unter schweren
Verlusten auf dem Schlachtfelde umlernen mußte, erwuchs allmählich
die Lehre, daß die Friedensübungen in hervorragendem Grade die
1) Taktisch-strategische Aufsätze, S. 122.
2) Taktisch-strategische Aufsätze, S. 29.
3) Taktisch-strategische Aufsätze, S. 49.
26 Die Manöverordnung 1914.
Aufgabe hätten, die Truppe und ihre Führer auch taktisch für den
Krieg zu schulen.
So ging die erste M.O. mit der Zeit in eine F.O. auf, die nur
in ihrem zweiten Teile die „Bestimmungen für die Herbstübungen“
enthielt. Die F.O. 1887, 1894 und 1900 waren nach diesem Muster
aufgebaut. Merkwürdigerweise war aber gerade in dem zweiten Teil,
der doch den Friedensübungen gewidmet war, ein Kapitel eingereiht,
das den Niederschlag der jeweils herrschenden taktischen Ansichten
enthielt, das Kapitel „Schiedsrichter“.
Nebenher ging aber das Bestreben aller zur Umarbeitung der
Waffenreglements niedergesetzten Kommissionen, den Abschnitt
„Gefecht“ immer mehr und mehr zu einem Abriß der Taktik ihrer
Waffe auszugestalten, der nicht nur den Kampf gegen alle anderen
Waffen, sondern auch das Zusammenwirken mit diesen berück-
sichtigte.
Als S. M. der Kaiser im Winter 1907/08 einer Kommission die
Neubearbeitung der F.O. auftrug, stand diese Kommission vor einer
völlig neuen Sachlage. Die offizielle Taktik der einzelnen Waffen
war in die Waffenreglements übergegangen; nebeneinander standen
drei Gefechtslehren, deren jede von jenem gesunden Waffenchauvinis-
mus getragen war, der schließlich nichts anderes will, als Erziehung
zum felsenfesten Vertrauen in die eigene Waffe. Naturgemäß er-
gaben sich hierbei Gegensätze, die eine ausgleichende Gerechtigkeit
verlangten; eine solche, über den Parteien stehende Lehre mußte
in der einzigen universellen Dienstvorschrift, die für alle Waffen
gilt, in der F.O., ihren naturgemäßen Platz haben. Dem stand ent-
gegen, daß die F.O. nach offizieller Ansicht keine Gefechtsvorschrift
mehr sein durfte; sie sollte vielmehr „ordnen den Dienst im Felde“
außerhalb des Kampfes, sie sollte den vom Gefecht handelnden
Abschnitten der Waffenreglements nichts mehr wegnehmen, was
diesen zugehörte. So mußte auch jene Ziffer entfallen, die noch in
der F.O. 1900 vom Begegnungsgefecht als der häufigsten Gefechtsart
eines künftigen Krieges sprach.
Ich glaube, die vielverbreitete Vorstellung, als ob die F.O. eine
Gefechtsvorschrift sei, rührt ursprünglich von einem anderen Begriff
her, von jener landläufigen Begriffsbezeichnung „Felddienstübung“,
die eigentlich den Kern der Sache nicht erschöpft. Diese Übungen
beginnen und enden ja wohl mit Aufklärung und Sicherung im
Marsch und in der Ruhe, d. i. mit Tätigkeiten des Felddienstes, sie
umfassen aber meist auch ein Gefecht aller Waffen. Der volle Name
hätte lauten müssen: „Felddienst- und Gefechtsübung* oder etwa
„Kriegsübung“. So will es mir scheinen, als sei man auf dem Wege
Die Manöverordnung 1914. 27
über den mißverstandenen Begriff „Felddienstübung“ zu dem Irrtum
gelangt, hinter der „Felddienstordnung“ eine Gefechtsvorschrift zu
vermuten.
Aber eine Kriegsvorschrift sollte die F.O. sein und bleiben;
wenn sie daher in der Einleitung von Kriegszielen der Ausbildung
aller Waffen spricht, so ist das ihr gutes Recht, das Recht einer
Vorschrift, die für alle Waffen gilt. Und weil die F.O. als einzige
universelle Dienstvorschrift die Pflicht hatte, allen Waffen gerecht zu
werden, so müßte ihr ferner jenes Kapitel „Waffenwirkung“ zurück-
gegeben werden, das ursprünglich 1861 die Forderung einer waffen-
technischen Übergangszeit in eine reine Friedensvorschrift eingefügt
hatte, und das dann später, als die erste M.O. eine F.O. geworden
war, auf Schleichwegen menschlicher Logik in den reinen Friedensteil
der F.O., in den Abschnitt „Schiedsrichter“ sich verirrt hatte. In
dem Kapitel „Waffenwirkung“* der F.O. 1908, das als eine Essenz
der offiziellen Taktik aller Waffen gelten darf, sind die kleinen
Gegensätzlichkeiten der Waffenreglements sorgfältig abgeglichen.
Die F.O. 1908 sollte ferner nach den der Kommission
gegebenen Richtlinien als „Handbuch für den Krieg“ ausgebaut
werden. So mußte sie von allen Friedensschlacken, mit denen sie bis
1900 tatsächlich durchsetzt war, gereinigt werden. Alle nur für den
Frieden geltenden Bestimmungen wurden herausgeschält und in einem
besonderen Bändchen vereinigt. So entstand die reinliche Scheidung
von F.O. und M.O., — eine logische Rückentwickelung; wie aus der
ersten M.O. im Laufe der Jahre eine F.O. geworden war, so war nun
aus der letzten F.O. eine F.O. und M.O. entstanden.
Durch die Abtrennung der MO. war die F.O. selbst ein hand-
licheres Buch geworden; das war ein Gewinn, denn sie soll ein
„Tornisterbuch“ sein. Zugleich war der Vorteil erreicht, daß jede
der beiden, nunmehr getrennten Vorschriften unabhängig von der
anderen umgearbeitet und neu herausgegeben werden kann.
Manöverordnung 1914.
Das Bedürfnis hierzu trat zuerst bei der M.O. ein. Schon ein
Vergleich der Inhaltsverzeichnisse der M.O. 1908 und M.O. 1914
verrät einige Änderungen. Ein neuer Titel „Divisionsübungen“ ist
eingefügt. Die Untertitel „Pioniere“ und „Luftschiffer* sind weg-
gefallen. Der Untertitel „Telegraph und Fernsprecher“ ist umgetauft
in „Fernsprech- und Funkerdienst“.
Divisionsübungen.
Die Einführung von Divisionsübungen hat gleichfalls ihre
Entwickelungsgeschichte.e. Die Einführungsorder der ersten „Aller-
28 Die Manöverordnung 1914.
höchsten Verordnungen über die größeren Truppenübungen“ vom
29. Juni 1861 sagte wörtlich: „Es wird an dem in der Order vom
12. Juli 1840 ausgesprochenen Grundsatz festgehalten, daß:
1. die Brigade der größte taktische Körper ist, mit dem Übungen,
die der reinen Taktik angehören, und die durch Reglements vor-
geschrieben sind, ausgeführt werden und daß
2. mit der Vereinigung der gemischten Waffen stets die Manöver
beginnen.“
Diesem Grundsatz ist man all die Zeit treu geblieben. Immer
mehr und mehr aber, besonders seit dem Entstehen von großen
Truppenübungsplätzen mit nützlichen Geländeformen, hatte sich das
Bedürfnis geltend gemacht, außerhalb der Manöver die niedere
Gefechtsführung aller Waffen und das Zusammenwirken von gemischten
Waffen in größeren Verbänden systematisch zu üben. Der F.O.-
Kommission von 1908 war eine Denkschrift des Generalstabs und
eine Reihe von Anträgen der Generalkommandos vorgelegen, die die
Einführung von Divisionsübungen nicht nur wünschten, sondern als
eine Notwendigkeit bezeichneten. Die Zeit zur Annahme war 1908
noch nicht gekommen gewesen; man verschloß sich nicht den „Für“-
Gründen, aber die konservativen Bedenken siegten; man besorgte
eine Verdrängung unserer „operativen Manöver“ durch Übungen, die
die Gefahr des Schemas mit sich zu bringen schienen.
Es ist wohl das unbestrittene Verdienst Exzellenz von Bülows,
diese Sorge gebannt zu haben; durch seine virtuose Ausgestaltung
des Themas „Divisionsüäbungen“ war Jüterbog ein Mekka geworden
für Gläubige und Ungläubige — alle schieden als Freunde der neuen
Übungsart, die der Generaloberst in einem Dezennium der Armee er-
kämpfte. Nun ist sie legitim — durch die M.O. 1914. So war
auch hier, wie schon oft, der Truppenusus der Vorschrift voran-
gegangen. Das ist gesunde Heeresarbeit. Die Praxis schafft sich, was
ihr nottut. Der grüne Tisch prüft und gibt den Segen dazu.
Die M.O. 1914 stellt für Divisionsüäbungen einen doppelten
Zweck auf:
1. Ausbildung der Führer und Stäbe,
2. Schulung des Zusammenwirkens der Waffen im Verbande der
Infanteriedivision.
Die Ausbildung der Führer und Stäbe umfaßt die Technik der
Gefechtsbefehle, die Rollenverteilung innerhalb des Stabes und strikte
Durchführung dieser Einzelfunktionen, kriegsmäßiges Verhalten der
Stäbe, Wahl der Befehlsstellen, Schulung der Führernerven, Er-
kundungstätigkeit aller Stabsorgane, Verbindung nach oben und unten
und zu den Nachbarn. Es ist klar, daß während der Manöver
Die Manöverordnung 1914. 29
selbst weder die Leitung, noch die höheren Führer dieser „Ausbildung
der Stäbe“ mehr als ein gelegentliches Augenmerk zuwenden können,
Die Manöver stellen eben den Ernstfall des Friedens dar, wo Führer
und Stäbe ihre Geschultheit bereits zu beweisen haben. |
Auch der zweite Übungszweck — Zusammenwirken der Waffen —
kommt während des rascheren Verlaufes der Manövergefechte meist
zu kurz; hier wird auch schon mehr die Probe auf das Exempel ver-
langt, freilich oft genug nicht erfüllt. Wie oft übersieht es die In-
fanterie, aus dem Aufflammen des eigenen Artilleriefeuers sich den
Impuls zu energischem Vorgehen zu holen, wie häufig vergißt die
Artillerie, jede Veränderung in vorderster Gefechtslinie durch eigene
Maßnahmen wahrzunehmen, und wie fast immer machen Infanterie
und Artillerie während einer Kavallerieattacke sich der Sünde des
müßigen Zuschauers schuldig, statt die kurze und im Ernstfall so teuer
erkaufte Atempause aufs intensivste auszunutzen! Die Schiedsrichter
müßten verpflichtet sein, alle Unterlassungssünden, aber auch alle lobens-
werten Handlungen auf diesem Gebiete dem Leitenden zu berichten.
Zu einer gründlichen Schulung des Zusammenwirkens geben
nur die Divisionsüäbungen dem Leitenden die Gelegenheit; nur hier
kann er Gefechtsabschnitte, wo nach seiner Ansicht es am Zusammen-
wirken fehlte, durch eine Belehrung ad oculos unterbrechen, und sie,
wenn es ihm nötig erscheint, sogar wiederholen. In erster Linie ver-
antwortlich für die Schulung seiner Division und seines Stabes ist
naturgemäß der Divisionskommandeur selbst. Aus diesem Grunde
soll er an „mindestens“ einem Tage selbst der Leitende sein (32);
es erscheint zweckdienlich, dem Divisionskommandeur den ersten
Übungstag einzuräumen.
Der Kommandierende General als Leitender will das Erreichte
prüfen und ergänzen und schließlich dem Divisionskommandeur die
Gelegenheit gewähren, sich auch seinerseits als Führer zu schulen und
mit seinem Stabe einzuspielen. Das 1908 noch befürchtete Schema
von den Divisionsübungen fernzuhalten ist Sache des Leitenden. Daß
über diesen nützlichen Übungen die eigentlichen Manöver nicht zu
Schaden kommen, ist damit gewährleistet, daß die zehn Manövertage
unverkürzt erhalten blieben und die Kosten für die Divisionsübungen
nicht dem Manöverfonds zur Last fallen, sondern aus den Gefechts-
und Schießübungsgeldern bestritten werden.
Wachsende Freiheit in der Zeiteinteilung.
Eine bedeutungsvolle Fortentwickelung weist die Zeiteinteilung
für die Manöver auf und zwar in wachsendem Grade zugunsten der
größeren Manöver und zugunsten einer größeren Freiheit in
30 Die Manöverordnung 1914.
der Auswahl der Manövergattungen. Dies ergibt sich am klarsten
aus einem Vergleich folgender vier Tabellen'):
(Falls erheb-
liche Mehr-
1887. kosten nicht
Brigademanöver . .. 2.2. 2220200. 41513/|5/4|4,3|4
Divisionsmanöver . . 2... 22000. +. 14|3/5[4|5|4|4|3
Divisionsmanöver gegen markierten Feind. |2| 2|2|1!}1|—|— | -—-
Korpsmanöver . . 2.2.2222 202 02.. 1-|-|1-|—|— 2|3|3
1900.
Brigademanöver. . ». 2. 2 2 sss osseo 41314 | 413|3|3
Divisionsmanöver . .. 2.2222 20200. 41515/415|/4 14
Divisionsmanöver gegen markierten Feind . . 2121| —-| -|ı—- | —
Korpsmanöver. ... 2.2... re ae —-—|—|-[|2|2|3|2
Korpsmanöver gegen markierten Feind ... I-|-| -|\—|- | — 1
1908.
Brigademanöver . . 2.220... 31313/13|2]j12/2/)3)4]j4
Divisionsmanöver. ... 2.2... .1413/1514|4|4|3|6|615
Divisionsmanöver gegen markierten
Fand un an a a Be a a —|1/-!1|-|-|/1|1|— 1
Korpsmanöver . ... 22.22.20. 3|2 2j2 43/4 —|— —
Korpsmanöver gegen markierten |
Feind nee u. ).20.232 2202
1914.
Brigademanöver . ... 2.2... HR EIHEIRHRIHIIHNE
Divisionsmanöver . ....... 441513!4|3.4|3/)4|5|3|3|4|5|4
Divisionsmanöver gegen Flaggen-
feind > Se ne were ©. 1-1 1 | —| 1 | —| 1 {—|—| 11/2111
Korpsmanöver ...sessss. 2\3|2|3/2|2|2|2|3|2|3|2 | — —|—
Korpsmanöver gegen Flaggenfeind
(unter Leitung des Kom. Gen.) |-—|——-| 1| 1|- ——|—|— 1 | ——|—
Manöver im Korpsverbande gegen
Flaggenfeind unter besonderer
Leitung . .. seses e o e |-|] L 1\1|—|——|——|——
Manöver, Korps gegen Korps unter |
besonderer Leitung . . ... . 21111111111 — Ka a een me
1) Das ‚grüne Buch‘ von 1861 hatte die Zeiteinteilung noch für
alle Korps der Allerhöchsten Bestimmung vorbehalten; nur innerhalb
dieser Bestimmungen war die Zeiteinteilung den Kommandierenden
Generalen anheimgegeben. Eine Tabelle kann daher für die Geltungszeit
der ersten M.O. nicht aufgestellt werden.
Die Manöverordnung 1914. 31
Während 1887 Korpsmanöver noch als kostspielige Ausnahme
galten, 1900 die Korpsmanöver häufiger wurden und Korpsmanöver
gegen markierten Feind hinzutraten, schwoll 1908 die Erlaubnis zu
Korpsmanövern — auf Kosten der Brigademanöver — erheblich an.
Die M.O. 1914 bestimmt vor allem und ausdrücklich, daß Korps-
manöver alljährlich abzuhalten sind; „wenn sie ausnahmsweise in-
folge zwingender Umstände ausfallen, ist dies bei Vorlage der Zeit-
einteilung besonders zu begründen“.
Die gleiche Steigerung der Freiheit und der Abwechselung und
die zunehmende Bedeutung der größeren Manöver trat auch in der
Zeiteinteilung bei jenen Armeekorps ein, die an den (1883 ein-
geführten) Kaisermanövern teilnehmen; dies ergibt ein Vergleich
nachstehender drei Tabellen:
1887 und 1900.
Brigademanöver . . . s.. 22 rm rer ern.
Divisionsmanðver . s... 20 0 0 so on o eeo ooo
Divisionsmanöver gegen markierten Feind . .......
Kaisermanöver .. 2. 2 2 2 vr rennen
> | co ww
We DC
Divisionsmanöver. ... 2... 3
Divisionsmanöver gegen markierten
Feind: 2% 2.0022 29.2 a — — 1 _ 1
Brigademanöver . . . 2 200.0. 3 2 3 2 2
Korpsmanöver gegen markierten Feind | — — — 1
Kaisermanöver . .. 2.222200 .. 4 4 4 4
Brigademanöver ....sesseseseese 22
Divisionsmanöver. . .. 2» 22022000 rn 00 2|2
Divisionsmanöver gegen Flaggenfeind . . . . - —|—
Korpsmanöver . . x. 2 22er. 1| 2
Korpsmanöver gegen Flaggenfeind . . . . . .I-|-—I—-|—-|-—
Manöver im Korpsverbande unter besonderer
Leitung. 4... 00.0 a ee Ein 11—!|1|-—|i— | —
>| vw
Neue Manövergattungen.
Außerdem sind zwei neue Arten großer Manöver, die wir zwar
in praxi schon seit einiger Zeit besitzen, durch die neue Vorschrift
offiziell eingeführt worden: die Manöver gegen Flaggenfeind im
Korpsverband unter besonderer Leitung (Armeeinspekteure) und
Manöver Korps gegen Korps (bisher Armeemanöver genannt).
32 Die Manöverordnung 1914.
Diese ‚besonderen Manöver“ werden Allerhöchst befohlen; sie sind
aus dem Bedürfnis heraus entstanden, daß die Kommandierenden
Generale häufiger als bisher Gelegenheit haben sollen, Aufgaben
im Heeresverband durchzuführen, sich in großen operativen und
taktischen Entschlüssen zu üben und sich mit ihren Korpsstäben
einzuspielen.
Größere Kavallerieübungen.
Einen großen Fortschritt bringt die neue Manöverordnung für
die Ausbildung der Heereskavallerie; während diese bisher „in
der Regel auf Truppenübungsplätzen, ausnahmsweise im Gelände“ zu
üben hatte, haben nunmehr die „Gefechtsübungen der Kavallerie-
divisionen vorzugsweise im Gelände, sonst auf Truppenübungs-
plätzen“ stattzufinden. Truppenübungsplätze sind für alle Truppen
nur ein notwendiges Übel; sie führen zu Lokaltaktik, Kompromissen,
Geländeannahmen und dergleichen Kriegswidrigkeiten; für die Kavallerie
bringen sie noch eine weitere Gefahr: sie verwöhnen die Führer!
Schneller Entschluß in fremdem Gelände, das fordert der Krieg
vom Reiterführer alle Tage. Um den Reiterführer für diese Forderung
zu erziehen, ist eben täglich unbekanntes Gelände nötig. Darum
sieht die neue Vorschrift auch „Unterkunftswechsel* während der
Übungen vor und gestattet auch in sechs Tagen zwei volle Biwaks,
teils um die Übungen unabhängig von der Belegungsfähigkeit der
Gegend zu machen, teils um der Kavallerie Gelegenheit zum Biwakieren
zu geben.
Ein beträchtlicher Schritt vorwärts ist darin zu sehen, daß die
Manöverordnung auch Gefechtsübungen mehrerer Kavalleriedivisionen
unter gemeinsamer Leitung, also auch gegeneinander vorsieht
und die Heranziehung aller Hilfswaffen, auch der Radfahrer, gestattet;
damit wird die kriegsmäßige Ausbildung von Führern und Truppen
ganz wesentlich gefördert.
Auch die größeren Aufklärungsübungen werden dadurch sehr
gewinnen, daß die Radfahrer hinzugezogen, Truppen aller Waffen aus
benachbarten Standorten zur Verfügung gestellt und Biwakgebühren
beantragt werden dürfen; das wird dem ernstfallsmäßigen Verhalten
der Aufklärungskörper neue Möglichkeiten erschließen.
Manöver.
Der wichtigste Teil der neuen Manöverordnung, der Zweck, An-
lage und Durchführung der Manöver behandelt, hat schon in seiner
Einleitung eine bedeutsame Umarbeitung erfahren. An der Spitze
steht ein neuer Satz (44): „Die Manöver geben nur ein unvoll-
ee I a nr
Die Manöverordnung 1914. 33
kommenes Bild des Krieges, die Waffenwirkung und die Wucht
moralischer Eindrücke fehlen, die Entschlüsse sind nicht wie im Kriege
unter dem Druck schwerer Verantwortlichkeit zu fassen. Immerhin
kommen die Manöver unter allen Friedensäbungen den Manövern am
nächsten.“ Dieser letzte Satz stand schon in der bisherigen Manöver-
ordnung, und zwar an der Spitze und ohne das Wort „immerhin“.
So liest sich der neue Text wie eine mehr nüchterne Auffassung vom
Kriegswert der Friedensmanöver. Im Grunde ist diese weise Selbst-
beschränkung nichts anderes als eine Betonung des Wertes der
Moral; um diese zu heben und zu nähren, kann nicht die Aus-
bildung, sondern muß die Erziehung unermüdlich am Werke sein.
Manöveranlage.
Das Kapitel „Manöveranlage“ wendet sich in seiner neuen Fassung
gegen die Tendenz, auch den Führern kleinerer, nur zeitlich selb-
ständiger Verbände (Vorhut, Seitendetachement) um jeden Preis die
volle Freiheit eines operativen Entschlusses zu wahren. Es wird
nunmehr anerkannt, daß so kleine Kräftegruppen, wie gemischte
Detachements, Brigaden, ja selbst Divisionen, im großen Kriege selten
anders als in einem Abhängigkeitsverhältnis zu einer Hauptabteilung
auftreten, daß ihre Führer also in der Regel mehr vor taktische als
vor operative Entschlüsse gestellt sein werden.
In gleicher Richtung bewegt sich der Hinweis, „gelegentlich das
Gefecht auch im engeren Anschluß an Hauptabteilungen“ oder gar
„in angelehntem Kampfe“ führen zu lassen; in letzterem Falle wird
empfohlen, „die Anschlußtruppen in einer gewissen Breite und Tiefe
darzustellen“. „Je kleiner die fechtenden Parteien sind, um so mehr
muß der Leitende danach streben, umfangreiche Annahmen zur Be-
gründung ihres Auftretens zu vermeiden.“ Mit anderen Worten: Die
Anlage der kleineren Manöver muß sich zuweilen mit einer etwas ein-
geengten operativen Freiheit zufrieden geben.
Darum ist auch die frühere Ausscheidung „Allgemeine Kriegs-
lage“ und „Besondere Kriegslage“ weggefallen. Es gibt nur mehr
eine „Kriegslage“ oder einen „Auftrag“. Der Führer muß sich ent-
weder seine Aufgabe selbst bilden, oder sie wird ihm im Anschluß
an die Kriegslage in „kriegsgemäßer Befehlsform* gegeben.
Die Verfasser der Manöverordnung sind damit zu der gleichen
Ansicht gelangt, wie sie Generaloberst von Bülow entwickelt (Mil.-
W.-Bl. 1914, 6. Beiheft, S. 226): „Es ist im Frieden schwer, den im
Kriege bestehenden Zustand der Ungewißheit herbeizuführen. Des-
halb muß jedes Mittel ergriffen werden, das diese Absicht erleichtert.
Schon die Erkenntnis, daß das in der allgemeinen Ze Gesagte
"Jahrbücher für die deutsche Armee und Marine. Nr. öl4.
34 Die Manöverordnung 1914.
wörtlich auch der anderen Partei bekannt ist, schaltet einen gewissen
Grad der Ungewißheit aus.“ |
Zusammenhängende Kriegslage,
Eine bedeutungsvolle Entwickelung ist auch in der Frage „zu-
sammenhängende Kriegslage für einen ganzen Manöver-
abschnitt“ zu erkennen.
1887 (F.O., II, 28) war noch eine gemeinsame Generalidee für
jeden Manöverabschnitt, auch für die Brigademanöver, empfohlen, ein
Irrtum, der viele Gewaltakte oder Verzweiflungstaten der Manöver-
leitung verschuldete.
F.-O. 1894 (Z. 426) empfahl die Beibehaltung der Generalidee
„besonders für die Korps- und Divisionsmanöver“ — ein Satz, der
bereits den Stempel des Kompromisses an der Stirne trägt.
Die Z. 573 der F.O. 1900 ist reaktionär; sie „empfiehlt“ nicht,
sondern sie „befiehlt‘‘ den Kriegslagenzusammenhang für die Divisions-
und Korpsmanöver und läßt nur für die Brigademanöver einen
Wechsel zu.
Die Manöverordnung 1908 gibt die gemeinsame Lage auch für
die Divisionsmanöver preis und erhält den Zwang nur für die Korps-
manöver aufrecht.
Erst die neueste Vorschrift (1914) gibt souveräne Freiheit für
alle Manöverabschnitte: „Im Wechsel der Kriegslage ist der Leitende
unbeschränkt (49). Er muß ihn vornehmen, wenn er seine Absichten
für den Verlauf sonst nur durch eine weitgehende Beeinflussung der
Führer erreichen könnte, die die taktischen Anschauungen der Truppe
verwirren müßte.“
„Wird die Kriegslage auf der bisherigen Grundlage weitergeführt,
so werden die taktischen Entscheidungen der Schiedsrichter allein
dem Manöver nicht immer die gewollte Richtung geben können. Auch
wird es häufig nicht möglich sein, durch Nachrichten über den Feind
und eigene Truppen, durch Schwächung und Stärkung der Parteien oder
durch Weisungen einer angenommenen höheren Stelle in einwandfreier
Weise den Führer zu kriegsmäßigen Entschlüssen zu bewegen, die die
Absichten der Leitung nicht stören. Nicht einwandfreie Annahmen
erwecken aber falsche taktische Anschauungen. Um dem vorzubeugen,
darf der Leitende sich nicht scheuen, nachdem der Waffenerfolg
klargestellt ist, durch einen friedensmäßigen Befehl die für den
Fortgang des Manövers notwendige neue Lage herzustellen.“
Diese Ziffer ist geradezu Goldes wert; sie wirft die unwirksamen,
ja schädlichen Leitungsmittel, die bisher empfohlen waren, über
Bord. Das einzige Wort „friedensmäßig“ klärt wie Scheidewasser die
Die Manöverordnung 1914. 35
Begriffe. Sobald die Handlung aus dem Rahmen herausfällt, wird
der Film entzweigeschnitten und mit neuen, Sn DD auf-
gebauten Bildern fortgesetzt.
Das ist klar und radikal gedacht und wird wie eine Erlösung
wirken, aber es hat zur Voraussetzung, daß auch die Leitenden und
ihre Stäbe die Selbstsicherheit und Selbstüberwindung besitzen, die
mitgebrachten, säuberlich gedruckten „Fortsetzungen“ der Kriegslage
schlankweg zu kassieren und Improvisationen an ihre Stelle treten zu
lassen; die Kriegsgemäßheit der Aufgaben kann nur dabei gewinnen.
Wie allgemein das Bedürfnis nach einem solchen Wandel der
Dinge war, bestätigt in klaren, treffenden Worten Exzellenz von Bülow
(a. a. O. S. 227): „Zu verwerfen sind bei fortlaufender Kriegshandlung
im voraus festgestellte und umgedruckte, mitgebrachte Kriegslagen
für jeden Tag. Eine derartige Manöverleitung kann nicht lehrreich
sein. da sie dem tatsächlichen Verlaufe nicht Rechnung trägt. Der
Stiefel paßt zwar nicht, aber angezogen muß er werden!“
Trennender Raum zwischen den Parteien in der
Anfangslage.
Auch hinsichtlich des trennenden Raumes zwischen den Parteien
am Vorabend eines Manöverabschnittes ist ein ersprießlicher, ver-
nunftgemäßer Entwickelungsgang festzustellen, Die F.O. 1887 (II, 27),
1894 (425), 1900 (574) und die M.O. 1908 (49) wollten die Parteien
in der Anfangslage so weit auseinanderhalten, daß Raum für ein-
leitende Bewegungen bleibt, daß aber doch wenigstens ein Teil der
Truppen schon am ersten Tage zur taktischen Entwickelung gebracht
werden kann. 1894 hatte man dabei zum ersten Male an die
Kavallerieaufklärung und den nötigen Vorsprung für diese gedacht.
Das Maß dieses Vorsprungs wurde meist zu eng genommen. Ander-
seits glaubte man, wenn wirklich einmal ein Zwischenraum von einem
Tagemarsch gegeben war, von Fernaufklärung, das ist operativer
Aufklärung sprechen zu sollen, auch dann, wenn jede Partei nur eine
gemischte Brigade oder höchstens eine Division umfaßte, wenn also
für „Strategie“ kein Raum vorhanden war. Die Fachliteratur der '
jüngsten Zeit hat diese Irrtümer bloßgelegt; die Ziffer 50 der neuen
M.O. räumt endgültig mit ihnen auf. Sie verlangt für Manöver
„Korps gegen Korps“ — für den einzigen Abschnitt, außer den
Kaisermanövern, wo von Operationen getrennter Kolonnen und damit
von operativer (Fern-) Aufklärung die Rede sein kann — den ersten
Tag als reinen Marschtag (Fernaufklärungstage), und zwar nur dann,
wenn Heereskavallerie zugeteilt ist. Da die Gefechtsberührung dann
erst am zweiten Manövertag einzutreten hat. kann der trennende
3*
36 Die Manöverordnung 1914.
Raum wohl 60 bis 80 km betragen. Die gleiche Ziffer gestattet zu-
gleich ‚Patrouillen schon am Vorabend näher am Feinde unter-
zubringen‘‘, wie dies ebenfalls aus der Truppenpraxis heraus gewünscht
worden war.
Auch diese Erlaubnis gilt natürlich nur für größere Manöver-
verhältnisse. „Während der Brigade- und Divisionsmanöver ist der
Ausbildung in Nah- und Gefechtsaufklärung besondere Aufmerksam-
keit zu widmen.‘ Von Fernaufklärung ist in der ganzen neuen
Manöverordnung überhaupt nicht die Rede — ein Beweis, daß für
die Verfasser der Begriff Fernaufklärung = operativer Aufklärung
ebenso unzweifelhaft feststand wie die Erkenntnis, daß Verbände bis
zur Stärke einer gemischten Brigade nicht „operieren“, Was in solch
kleinen Verhältnissen an Aufklärung noch zu leisten ist, bewegt sich
auf dem Grenzgebiet zwischen Nah- und Gefechtsaufklärung. Nach-
dem nun auch die Vorschrift selbst in die bisherige Begriffsverwirrung
hineingeleuchtet hat, wird die Klärung bald eine allgemeine sein.
Unterbrechung und Fortsetzung des Manövers.
Auch das vielumstrittene Thema der Manöverpause und des
gefechtsmäßigen Abbruchs hat in der jüngsten Manöverordnung
den befriedigenden Abschluß vielfacher Wandlungen gefunden.
Daß der „gefechtsmäßige Abbruch“ bisher oft genug ein „Spott-
bild der Kriegswirklichkeit* gewesen ist, wird jeder Einsichtige zu-
gestehen. Schon vor 1908 war vielfach durch klarsehende Manöver-
leitende die einfache Abhilfe angewendet worden: die ineinander-
geratenen Parteien in der Manöverpause friedensmäßig zu trennen
und dann den Übergang zur Ruhe, das Beziehen der Vorposten und
die Abendaufklärung auf wirklich kriegsmäßiger Grundlage folgen zu
lassen.
Der Felddienstordnungskommission 1908 lag ein solcher Abhilfe-
vorschlag vor; er fand auch Ausdruck in der Manöverordnung, scheint
aber nicht allgemein in dem gewünschten Sinne verstanden worden
zu sein.
Das ist ohne weiteres erklärlich, denn eine Dienstvorschrift kann
und darf kein Lehrbuch sein. Kurze Hinweise müssen genügen, um
einen weitreichenden Gedanken auszudrücken. So wird das Neue in
einer Vorschrift nur dem eindrücklich, der die alte Vorschrift von
Grund aus kannte. oder dem, der sich die Mühe nimmt, die neue
mit der alten in gründlicher Weise zu vergleichen.
Daß der in Frage stehende neue Gedanke im Wege des Ver-
gleichens tatsächlich aus der M.O. 1908 herauszulesen war, mag nach-
stehende Gegenüberstellung ergeben:
590:
591:
593:
594:
Die Manöverordnung 1914. 87
F.O. 1900.
Schluß des Gefechts.
Besprechung.
Der Leitende läßt den Schluß
des Gefechts sich kriegsmäßig
entwickeln. Nur da, wo aus-
nahmsweise weite Märsche
USW.
Die etwa angeordnete Unter-
brechung dient zur Rast
der Truppen und zur Be-
sprechung.
Die Manöverpause ist grund-
sätzlich nicht zur Ausgabe
von Nachrichten und Be-
fehlen und noch weniger
zım Kommandowechsel zu
benutzen.
Übergang zur Ruhe.
Nach Beendigung der Pause
wird das Manöver wieder
so aufgenommen, als ob eine
Unterbrechung nicht statt-
gefunden hätte. Auch der
Übergang zur Ruhe muß sich
kriegsmäßig vollziehen. Istdie
Leitung zuEingriffen genötigt,
so müssen auch diese kriegs-
mäßig gedacht und so be-
schaffen sein, daß die Ent-
schließung den Führern ver-
bleibt.
M.O. 1908.
Unterbrechung des Manövers,
66:
69:
Besprechung.
Vergleiche unten Ziff. 71.
Zur Abhaltung einer Be-
sprechung, zur Herbeifüh-
rung neuer taktischer
Lagen und zu Beleh-
Tungszwecken kann der
Leitende das Manöver unter-
brechen. Die angeordnete
Unterbrechung dient zugleich
zur Rast der Truppen.
Ob zur Ausgabe von Nach-
richten und Befehlen und
zum Kommandowechsel die
angeordnete Unterbrechung
oder ob hierzu ein anderer
Zeitpunkt während des Ma-
növers benutzt wird, bleibt
der Entscheidung des Leiten-
den überlassen.
Fortsetzung des Manövers.
70: Nach der
Übergang zur Ruhe.
Unterkunft.
Unterbrechung
wird das Manöver in der
früheren oder in der vom
Leitenden festgesetzten
Lage wieder aufgenommen.
Die Verfolgung, der Rück-
zug usw. müssen sich mög-
lichst kriegsmäßig voll-
ziehen.
38 Die Manöverordnung 1914.
F.O. 1900. M.O. 1908.
Schluß des Gefechte. Unterbrechung des Manövers.
Besprechung. . Besprechung.
71: Auch beim Übergang zur
Ruhe ist kriegsmäßig zu
verfahren. Nur wo be-
sonders weite Märsche usw.
Die Zweckbestimmung der Manöverpause war eine durchaus
andere geworden. Nicht nur da, wo der gefechtsmäßige Abbruch zu
unmöglichen Rückzügen oder zu einer geradezu schädlichen Hemmung
der Verfolgung führen müßte, sondern auch in jenen Fällen, wo die
Endlage mit der beabsichtigten Anfangslage für das Manöver des
nächsten Tages sich nicht im entferntesten deckt, sollten die Parteien
nach den Weisungen und durch Organe der Leitung in eine Lage
auseinandergeführt werden, die beim Wiederbeginn wenigstens an-
nähernd in kriegsgemäßer Weise Verfolgung und Rückzug oder die
Anknüpfung des nächsten Manövers gestattet hätte.
Der Gedankengang, der dieser neuen Fassung der Vorschrift zu-
grunde lag, war ungefähr folgender:
Der Drang an den Feind will im Frieden tunlichst nicht ge-
schmälert werden. Nur gänzlich verfehlte Angriffe sollen vom Schieds-
richter — und zwar rechtzeitig — zurückgewiesen werden. „Im all-
gemeinen sollen vor erfolgtem Sturm Angreifer oder Verteidiger nicht
zum Zurückgehen gezwungen werden.“
Diese neue Schiedsrichterbestimmung richtete sich auf die letzten
Kriegserfahrungen, wonach eine Infanterieabteilung bei einer ent-
scheidungsuchenden Kampfhandlung, sogar auf nächsten Entfernungen,
wohl liegen bleiben, aber im wirksamen feindlichen Feuer überhaupt
nicht zurückgehen kann, ohne sich der vollen Vernichtung auszu-
setzen, — es müßte denn sein, daß das Gelände unmittelbar hinter
der Feuerstellung volle Deckung bietet.
Auch bei der heutigen Waffenwirkung überkommt den Angreifer
das unabweisliche Gefühl, daß der Angriff gescheitert ist, oft erst auf
allernächsten Entfernungen. Hier muß er ausharren, um entweder
zu sterben oder die Nacht abzuwarten, um nach Auffüllung mit
frischen Kräften überfallartig zu stürmen oder die Dunkelheit zum
Abzug, zum Einzeldavonschleichen zu benützen.
Beides ließe sich im Frieden sehr wohl darstellen; man müßte
nur den Abend abwarten!) Zwischen 7 bis 8° abends kann im
Vergleiche oben 590.
1) Geschieht in Japan (Vierteljahrshefte 1911, 3. Heft, S. 467).
Die Manöverordnung 1914. 39
September ohne weiteres kriegsmäßig abgebrochen werden, auch wenn
die vordersten Linien sich auf allernächsten Entfernungen gegenüber-
liegen. |
In dieser Stunde ließe sich nächtlicher Rückzug und, wenn dieser
auf der Gegenseite bemerkt wird, nächtliche Verfolgung einleiten.
Unnatöürliche Bilder gäbe es hierbei nicht — selbst dann nicht, wenn
in der Dunkelheit Freund und Feind durcheinandergerieten; dies
wäre sogar sehr natürlich, nämlich kriegswirklich. Nach einer Weile
würden Rückzug uud Verfolgung durch die Schiedsrichter gestoppt
und, wenn nötig, beide Parteien in eine vom Leitenden festgesetzte
Lage friedensmäßig geführt.
Ein solches Verfahren, das auch schon bei den kleineren Manövern
die Übung bis in die Nacht hinein ausdehnen würde, müßte auf
Führer und Truppen anödend und langweilend wirken, auf die Dauer
auch die Kräfte vorzeitig angreifen, die doch die Korps- und Armee-
manöver noch durchhalten müssen.
„Die Friedensübungen können nicht so langsam verlaufen wie
wirkliche Gefechte.“ (E.-R. f. d. Inf. 253.)
Aus solchen Beweggrüänden — um den Vorwärtsdrang nicht ein-
zudämmen und die Truppe nicht zu langweilen — werden Manöver-
leitung und Schiedsrichter wohl oder übel auch noch Angriffe gegen
den entwickelten Feind, selbst wenn der Angreifer nicht zweifellos
überlegen ist, bis zum Sturm (einschließlich) auslaufen lassen, und
erst dann ihre Entscheidung treffen.
Fast immer wird dieses Verfahren eintreten müssen bei der Form
des Begegnungsgefechts, die ja zu Beginn eines jeden Manöverabschnitts
typisch ist!). Beide Parteien, mit offensivem Auftrag versehen, in
dem Bestreben, sich vor dem Gegner Vorteile des Geländes für den
Kampf zu sichern, werden zunächst mit den Vorhuten, dann mit den
Teten der Entfaltungskolonnen in schnellem Gefechtsverlauf in Lagen
kommen, die eine Entscheidung herausfordern.
So sind denn aus zwingenden Gründen Manöverlagen unvermeid-
lich, wo die vordersten Linien einander so nahe kommen, daß ein
kriegswahres Abbrechen für den Unterlegenen in den der Entscheidung
zunächst folgenden Phasen bei Tage nicht möglich ist.
In allen diesen Fällen muß die Leitung eingreifen, und zwar
nicht durch kriegsgemäße Mittel, sondern einfach friedens-
1) Die M.O. 1914 empfiehlt die Pflege des Begegnungsgefechte be-
sonders: „Es kommt mit seiner Unsicherheit und Ungeklärtheit den Ver-
hältnissen des Krieges am nächsten; es ist am meisten geeignet, den
Führer zum Mute des Entschlusses zu erziehen und zu dem festen Willen,
sich Klarheit durch den Angriff.zu verschaffen.“
40 Die Manöverordnung 1914.
mäßig. Dieses eine Wort „friedensmäßig“, das in der M.O. 1908
zum vollen Verständnis noch fehlte und das die M.O. 1914 in die
alte Ziffer 57 — jetzt 58 — einschiebt, wird auch hier klärend und
erlösend wirken. Das Manöver wird unterbrochen, während der Pause
werden die beiden Parteien friedensmäßig getrennt und in Lagen
geführt, die eine kriegsmäßige Fortsetzung des Manövers — Ge-
fechtsabbruch und Übergang zur Ruhe — gestatten.
Diese Lage setzt der Leitende nach Anhörung der Schiedsrichter
fest; in ihr kommen partielle Vor- und Nachteile zum Ausdruck, wie
sie das Gelände, glückliche oder unglückliche Entschlüsse der niederen
Führung bedingten. Die Lage muß derart gewählt sein, daß das
ganze Stadium der Zerrbilder (wie Durcheinander von Freund und
Feind, völlig verworfene Feuerfronten, die im Ermstfalle durch
Flanken- oder Rückenfeuer sofort korrigiert würden, Flankenmärsche
an feuernden Linien entlang, Rückzüge unter wirksamstem Ver-
folgungsfeuer, zu früher Übergang aus der Kampfform zu Kolonnen)
ausgeschaltet wird, und daß es:
1. der von der Leitung als unterlegen bezeichneten Partei möglich
ist, kriegsmäßig abzuziehen, d. h. „im Rückzug die Entfernung,
auf der man das Feuergefecht mit dem Gegner führt, zu ver-
größern“ (I.E.R. 430), bis es „mit dem wachsenden Abstand
vom Feinde möglich wird, die Marschform anzunehmen und
eine Nachhut auszuscheiden“ (I.E.R. 431), und daß es
2. der siegreichen Partei möglich wird, kriegsgemäß zu verfolgen,
d. h. nicht nur „durch Feuer und schärfstes Nachdrängen“ in
der Front zu verfolgen, sondern jene Verfolgung einzuleiten,
deren Ziel die „Vernichtung des Gegners“ ist (I.E.R. 421), —
die seitlich überholende Verfolgung der Flügelabteilungen der
Infanterie und der berittenen Waffen.
Eine Schwierigkeit scheint mir noch übrig zu bleiben — das
unserer Infanterie anerzogene, ich möchte sagen „blasiert‘‘ langsame
Zurückbummeln der rückwärtigsten Schützenlinien der abziehenden
Partei.
Man sagt, die Flucht soll nicht geübt werden! Gut, aber das
Verfolgen, das schärfste Nachdrängen, das seitliche Überholen soll
unsere Infanterie doch lernen! Solange das Zurückgehen aus Er-
ziehungsprinzip ein bewußt langsames ist, so lange führt das Ver-
folgen, trotz der „friedensmäßigen“ Trennung der Parteien in wenigen
Minuten wieder zu Unnatürlichkeiten. Um diese zu vermeiden, muß
der Schiedsrichter jedem nützlichen Verfolgungseifer notgedrungen in
die Zügel fallen. Die Truppe lernt also das Gegenteil von dem, was
ihr in Fleisch und Blut übergehen soll. |
Die Manöverordnung 1914. 41
Ich spreche beileibe nicht einem fluchtartigen Zurückeilen der
hintersten Schützen das Wort; aber wenn die Leitung, gerade um
das „Fliehen‘‘ zu vermeiden, „friedensmäßig‘ die Lage für den
Gefechtsabbruch so gestellt hat, daß der Zurückgehende im ersten
Moment des Abbauens schon außer Verfolgungsfeuer tritt, dann sollte
es doch naturgemäß seine Sache sein, ebenso schnell in einer neuen
Stellung, in einer Aufnahmestellung für zurückgehende Neben-
abteilungen anzukommen, als der Verfolger bei „schärfstem Nach-
drängen“ die verlassene Feuerstellung des Abziehenden erreichen
kann. Dann würden beide Teile frei und kriegsmäßig handeln
können.
Ist es wirklich gegen unser Reglement, wenn der Abbauende in
diesem Falle läuft, um den nachdrängenden Feind in der neuen
Stellung oder Deckung mit kräftigem Feuer empfangen und zum
Halten zwingen zu können? Welche Stelle unseres I.E.R. verbietet
ein solches vernunftgemäßes Verfahren ?
Ich glaube, die Sache liegt so: Das I.E.R. stellt nur die grund-
sätzliche Forderung auf, daß der Abziehende alles tun müsse, um ‘den
Abstand zwischen sich und dem Gegner zu vergrößern. Das „Wie“
wird der niederen Führung überlassen.
Auch das französische I.E.R. scheint den gleichen Standpunkt
innezuhalten wie das deutsche. Nur in einem wichtigen Punkte
weicht es von dem deutschen ab: Während das deutsche I.E.R.
es für „fehlerhaft hält, wenn einzelne Abteilungen ohne zwingenden
Grund Front machen, weil hierdurch aas Loslösen vom Feinde er-
schwert wird“ (I.E.R. 430), weist die französische Lehre geradezu
darauf hin, daß einzelne Kampfgruppen sich an Örtlichkeiten fest-
haken und bis zur Entscheidung, ja bis zur Selbstaufopferung sich
schlagen sollen, um den übrigen das Loslösen zu erleichtern. Die
deutsche Vorschrift schließt ja ein gleiches Verfahren nicht aus; ein
initiativer Unterführer kann immerhin einen „zwingenden Grund“ zu
solcher Selbstaufopferung finden Die französische Anweisung ist nur
deutlicher; sie nimmt der unteren Führung die Verantwortung ab.
Noch deutlicher behandeln die Frage das englische und japanische
LE.R., die beide auf Grund ihrer eigenen jüngsten Feldzugserfahrungen
einen Schritt weiter gegangen sind.
Das englische Reglement kennt Sprünge rückwärts und übt sie
ebenso wie Sprünge vorwärts. Das japanische I.E.R., das nur ungern
sich vom deutschen Muster trennt, drückt sich etwas vorsichtiger aus:
„Ohne Befehl darf nicht im Laufschritt zurückgegangen werden.
Die Führer müssen beim Rückzug darauf achten, ihre Leute besonders
gut in der Hand zu halten.“
42 .Die Manöverordnung 1914.
Aber der Befehl zum Laufen, zu Sprüngen rückwärts darf
offenbar gegeben werden.
Ist das Flucht? Ist das nicht vielmehr ebensogut „Gelände-
ausnutzung“ wie ein rasches Deckungsuchen nach vorwärts?
Die deutschen Reglements der berittenen Waffen haben in ihren
neuesten Ausgaben sich zu freierer Ansicht bekehrt. Während früher
ein Zurückgehen nur im Trabe erlaubt war, findet jetzt Stellungs-
wechsel rückwärts wie vorwärts, wenn nötig, in schnellster Gangart
statt. Auch die Kavallerie geht in schnellster Gangart zurück, wenn
der Feind in vollem Laufe verfolgt; sie übt das Verfolgen und folge-
richtig auch das Fliehen.
Ich fürchte, — solange nicht „die Mode“ unserer Infanterie ein
streckenweises Zurückeilen einzelner Kampfgruppen gestattet, so lange
wird ein kriegsgemäßer Gefechtsabbruch — trotz Schiedsrichtertätig-
keit und trotz des von der neuen M.O. gegebenen Leitungsmittels —
kaum jemals klar in die Erscheinung treten.
Besprechung.
In früherer Zeit war es üblich, die Parteiführer selbst erzählen
zu lassen, wie sie die Lage auffaßten, wie sie zu einem Entschluß
kamen oder warum sie keinen faßten. Dies Verfahren öffnete
mancher menschlichen Schwäche Tür und Tor; es hatte ferner den
Nachteil, daß der Gesamtheit der Zuhörer der Überblick, der Zu-
sammenhang der Dinge vorenthalten blieb.
Seit der MO. 1908 hielt der Leitende allein die Besprechung,
er ließ sich über die Tätigkeit der einzelnen Führer, wenn nötig, vor
der Besprechung Aufklärung geben. Die Vorschrift empfahl auch,
die Schiedsrichter vorher über ihre Entscheidungen kurz melden zu
lassen.
Die M.O. 1914 schreibt vor: „Vor oder gelegentlich, auch erst
während der Besprechung unterrichtet sich der Leitende möglichst
genau über die Auffassungen der Führer und die Lage bei den Parteien.
Er befragt hierzu die Parteiführer, Schiedsrichter und nach Bedarf
einzelne Unterführer.“
An Moltkes herrliche Worte über kriegsgeschichtliche Kritik er-
innern ferner die Sätze: „Eine Besprechung wird nur dann wahr-
haft belehrend sein, wenn sie die Wirkung aus der Ursache ableitet.
Ein gerechtes Urteil darf nicht den Verlauf der Dinge, nicht die
Kenntnis der Verhältnisse, wie sie nachträglich vorliegen, zum Maß-
stab nehmen, es muß von der Frage ausgehen: ‚Was konnten die
Die Manöverordnung 1914. 43
Leiter der Begebenheiten zur Zeit ihres Handelns wissen?‘ Die nähere
Prüfung der Verhältnisse zeigt recht häufig, daß Maßregeln, die
tadelnswert erscheinen, nie so verkehrt waren, wie sie sich auf den
ersten Blick darstellten.“
Diese Grundsätze werden sicherlich allgemeine Zustimmung,
hoffentlich auch allgemeine Durchführung finden.
Und noch ein neuer, unscheinbarer Satz verdient hervorgehoben
zu werdn: „Die anwesenden höheren Vorgesetzten werden
Wiederholungen zu vermeiden haben.“ Der gute Vorsatz ist wohl
immer da; seine Ausführung wird dem leichter fallen, der sich des
Wahrspruchs erinnert: Minima non curat praetor — je höher die
Stellung, um so größer die Gesichtspunkte.
Manöverpause.
Endlich ist auch der alte Meinungsstreit, ob die Manöver-
pause zum Führerwechsel und zur Ausgabe von Nachrichten und
Befehlen benutzt werden darf, durch die M.O. 1914 glücklich beendet
— durch den salomonischen Entscheid, daß beides dem Leitenden
überlassen bleibt.
Wenn der Fall eingetreten ist, daß die Lage nur noch durch
friedensmäßige Eingriffe entwirrt werden kann und die Fort-
setzung des Manövers auf Grund einer neugeschaffenen taktischen
Lage erfolgen muß, dann ist es eben unvermeidlich, Leitungsnach-
richten und auch Parteibefehle während der Pause ergehen zu lassen;
auch ist es in diesem Falle praktischh den Kommandowechsel
während der Pause vorzunehmen.
Immerhin ist es dem Leitenden, wenn der Manöververlauf zu
der „friedensmäßigen“ Trennung der Parteien keinen Anlaß bietet,
völlig anheimgegeben, auch den interessanten Vorschlägen Exzellenz
von Bülows (a. a. O., S. 232) Folge zu geben, der den Kommando-
wechsel bei den Parteien zu verschiedenen Zeitpunkten, gelegent-
lich auch in kriegsmäßiger Weise durch Verlustausfall durchzuführen
wünscht. Diese Maßnahmen haben natürlich zur Voraussetzung, daß
der Manövererfolg für die Qualifikation des Führers nicht die geringste
Bedeutung hat, sondern nur die Art seiner Führung Einschätzung
findet. Diese Lösung stellt ein Ideal dar; ihr steht entgegen, daß
der beurteilende Vorgesetzte nicht bei beiden Führern gleichzeitig zu-
gegen sein kann. Es kann sich begeben, daß er glücklichen Momenten
des minderen, unglücklichen des besseren Führers anwohnt. Das
Führerglück des Friedens ist eine Eintagsfliege. Das Dauerglück des
Tüchtigen ist dem Kriege vorbehalten.
44 Die Manöverordnung 1914.
Schluß.
Wie sich aus vorstehenden Ausführungen ergibt, hatte die M.O.
1914, wie jede neue Vorschrift, vielfach die dankbare Aufgabe, die
inzwischen zur Welt gekommenen, gutgeratenen Kinder der Truppen-
praxis zu adoptieren. Sie hatte aber nicht minder die Pflicht wahr-
zunehmen, Auswüchse, wilde Schößlinge an der Praxis „goldnen
Baum“ zu beschneiden.
So wandte sich die Vorschrift z. B. in dankenswerter Weise
gegen das überwuchernde Schreibwerk, gegen die vielen Skizzen und
Befehle im Vorpostendienst (50), gegen das überhandnehmende Um-
druckverfahren bei der Befehlsausgabe (53), gegen übertriebenes,
sanitätstaktisches Schreibwesen (55). So erweist es sich zuweilen,
daß die „Routine“ zum Quälgeist der Truppe, der „grüne Tisch“ ihr
hilfreicher Freund wird.
Einen Wunsch hat auch die M.O. 1914 nicht erfüllt.
1908 hatte die F.O.-Kommission, als sie sich in dritter Lesung
erst entschlossen hatte, die M.O. als Sondervorschrift herauszugeben,
leider etwas spät auch daran gedacht. das schlanke Büchlein zu
einem Handbuch für das gesamte Manöverwesen zu erweitern, durch
Einarbeitung aller jener Gesetzesquellen und dauernden Bestimmungen,
die alljährlich in den immer wieder neugedruckten innerdienstlichen
und wirtschaftlichen Anordnungen der Kommandobehörden wieder-
kehren. Es ist dies genau derselbe Gedanke, der 1861 zur ersten
M.O. führte, die „alle die verschiedenen Orders, Instruktionen und
Traditionen zusammenfassen“ sollte, die bis dahin „für die Leitung
und Ausführung der größeren Truppenübungen maßgebend“ gewesen
waren.
Es ist kein Zweifel, daß z. B. die „wirtschaftlichen Anordnungen“
der Generalkommandos zu einem guten Bruchteil sich inhaltlich voll-
kommen decken. Dieses „Gemeinsame“ herauszuziehen und als
dauernde Bestimmung der M.O. einzufügen, wäre eine dankbare Auf-
gabe, ihre Durchführung würde dem Truppengeneralstab und der
Intendantur viele überflüssige Arbeit, der Truppe Kosten und Mühe
ersparen.
Preußens Kriegsrüstung 1864. 45
lH.
Preussens Kriegsrüstung 1864.
Von
Oberstleutnant Buddecke.
Die Zeit, in die der Feldzug 1864 fällt, ist vom militärischen
Gesichtspunkte eine der interessantesten und lehrreichsten Geschichts-
epochen. Ihr mächtiger Rhythmus äußert sich nicht nur in der
Politik, sondern ganz vornehmlich auf militärorganisatorischem und
militärtechnischem Gebiet. Es war, als wenn der Organismus der
Welt nach den gewaltigen Erschütterungen der napoleonischen Zeit
fünfzig Jahre der Ruhe und Erholung bedurft hätte, um wieder zu
erstarken und neuer militärischer Kraftanstrengung fähig zu sein.
Schon hatte die allmählich eingetretene Hochspannung zu einzelnen
peripheren kriegerischen Entladungen in der Krim, in Nordamerika
und Mexiko geführt. Auch hatte schon einmal der dritte Napoleon
in Italien das Glück der Waffen versucht, und selbst in Deutschland
wetterleuchtete es in den Jahren 1848 und 1849 bedenklich. Aber
eine Fülle von Problemen war noch ungelöst. Alles deutete auf
Metamorphosen, Umwälzungen und Neuerungen hin. Es lag auf dem
Völkerleben Europas eine Gewitterschwüle, eine Vorahnung großer
Ereignisse. Ein aufmerksamer, wenn auch nicht immer richtiger
Beobachter seiner Zeit, der originelle Schriftsteller W. Streubel (Arkolay),
sagt in seiner 1860 erschienenen Schrift „Über den Mangel an genialen
Feldherren in der Gegenwart“: „Wir schreiten über die Schwelle einer
großen verhängnisvollen Zeit. Mache man sich gefaßt auf furchtbare
Kämpfe; prüfe jeder Kopf, Arm und Schwert, daB das Vaterland in
ihnen glorreich bestehen möge!“
In Deutschland besonders drängte die politische Lage immer
mehr der Entscheidung zu. Hier waren sich alle denkenden Köpfe
darüber klar, daß der zwischen Österreich und Preußen bestehende
Antagonismus beseitigt werden mußte, und daß der vom großen König
nur auf dem Papier geschaffene Fürstenbund, der die Lostrennung
aller deutschen Staaten von Österreich und ihre Einigung unter der
Hegemonie Preußens zu einem neuen deutschen Staatengebilde an-
strebte, in die Tat umgesetzt werden mußte. Die seit Jahrzehnten
schwebende Schleswig-Holsteinische Frage, ein nicht heilen wollendes
Geschwür am deutschen Staatsorganismus, zeigte der Welt dauernd
46 Preußens Kriegsrüstung 1864.
dessen Ohnmacht und gab fremden Staaten die Handhabe, dem mit
Mißtrauen beobachteten Aufstreben Preußens dauernd entgegenzuwirken.
Feldmarschall Freiherr von Wrangel sagt 1862 in seinen Bemerkungen
über die Ausbildung und Verwendung der Kavallerie: „Für unsere
Armee wird glücklicherweise mit jedem Monat, den der Friede länger
dauert, der Krieg wahrscheinlicher, und für unseren Staat sind, wie
Friedrich der Große sagt: Nachbarn und Feinde gleichbedeutende
Worte.“ Es war eine gnädige Fügung des Geschicks, daß sich in
Preußen damals Männer fanden, die sich des Ernstes der Lage und
der hohen Sendung ihres Staates voll bewußt waren und zugleich die
Kraft besaßen, ihren Willen nicht nur gegen fremdstaatlichen Wider-
spruch, sondern auch gegen die Opposition des eigenen Volkes durch-
zusetzen. Während das staatsmännische Geschick eines Bismarck die
Lage der äußeren und inneren Politik den großen Absichten dienstbar
zu machen wußte, bereiteten die an leitender Stelle stehenden Militärs,
an ihrer Spitze der König selbst, in der militärischen Rüstung das
Instrument vor, das im Völkerleben die ultima ratio ist.
Bei dieser Kriegsvorbereitung behielt man nicht nur die wichtigste
Lehre der friderizianischen und napoleonischen Kriege im Auge,
wonach nur eine wohlorganisierte und wohlausgebildete, von rücksichts-
losem Offensivgeist getragene Armee den Sieg verbürgen kann, sondern
man berücksichtigte auch die zahlreichen technischen Errungenschaften
der letzten Zeiten, die auf die Kriegführung von Einfluß waren.
Hierhin gehörten namentlich die Fortschritte auf dem Gebiete des
Waffenwesens: die Einführung der gezogenen Waffen und des Hinter-
laders und deren Einwirkung auf Taktik, Festungsbau- und Schiffsbau-
kunst, die Möglichkeit der Benutzung der Eisenbahnen und Telegraphen
als Kriegstransport- bzw. Nachrichtenmittel, die Fortschritte auf dem
Gebiete der Kriegschirurgie und Krankenpflege u. a. In diesen
Richtungen bewegte sich daher auch vornehmlich die vorbereitende
Tätigkeit der preußischen Landesverteidigung, so daß die Stunde der
Entscheidung, als die Schleswig-Holsteinische Frage den Stein ins
Rollen brachte, ein kriegsvorbereitetes Preußen fand.
Wenn man dieser Kriegsvorbereitung in ihren einzelnen Teilen
nachgeht, so springt hier vor allem die Heeresreorganisation ins Auge,
die König Wilhelm mit Recht als sein „eigenstes Werk“ bezeichnet
hat. Ihre Vorlage leitete er im Jahre 1860 bei Eröffnung beider
Häuser des Landtages mit den inhaltsschweren Worten ein: „Der
Vertretung des Landes ist eine Maßregel von solcher Bedeutung für
den Schutz und Schirm, für die Größe und die Macht des Vater-
landes noch nicht vorgelegt worden. Es gilt, die Geschicke des
Vaterlandes gegen die Wechselfälle der Zukunft sicher-
Preußens Kriegsrüstung 1864. 47
zustellen. Das walte Gott!“ Und als dann die Volksvertretung für die
Forderung der Zeit kein Verständnis zeigte und die Vorlage ablehnte, hatte
die Regierung die Verantwortungskraft, das Werk der Heeresreorganisation
gegen den Willen der Volksvertretung zu schaffen und in einem
siebenjährigen Konflikt mit dieser aufrechtzuerhalten. Die wesent-
lichsten Änderungen dieser Reorganisation bestanden darin, daß die
Landwehr aus der Feldarmee ausgeschieden wurde und diese fortan
nur noch aus Linien- und Reservetruppen bestand, daß die jährliche
Rekrutenaushebung von 40000 auf 63000 Mann erhöht und die
Dienstpflicht in der Reserve von 2 auf 4 Jahre verlängert, dagegen
diejenige in der Landwehr von 14 auf 9 Jahre herabgesetzt wurde.
Durch diese Einrichtung wurde die erste Feldarmee nicht nur an
Zahl, sondern namentlich auch qualitativ verstärkt. Das Ausscheiden
der Landwehr, das sich schon aus volkswirtschaftlichen Gründen gebot,
bedeutete eine Entlastung für diese und gleichzeitig eine wesentliche
Erhöhung der Kriegsbereitschaft der Armee, die nach Aufstellung der
Neuformationen und zweckmäßigen ÖOrganisationsveränderungen inner-
halb der einzelnen Waffengattungen ein „einheitlicher und von leben-
digem Wachstum erfüllter Organismus“ geworden war. Der schwei-
zerische Oberstleutnant E. Favre schrieb in seinem Manöverbericht:
L'armée prussienne et les manœuvres de Cologne en 1861: „L’armee
prussienne a subi dans l’année 1860, une réorganisation fondamentale,
presque achevée maintenant, et destinée a accroître sa force Er
schloß sein günstiges Urteil mit den Worten: „Sans me laisser aller
au sentiment sympathique qui m’a captive.“ Die neue Organisation
bewährte sich denn auch schon bei der partiellen Mobilmachung 1864 im
Gegensatz zu den dänischen Heereseinrichtungen, die mit die Haupt-
ursache der Niederlage Dänemarks wurden. Hier hatte sich die
Regierung, obgleich sie sich schon lange vor dem drohenden Kriege
der Mangelhaftigkeit ihres militärischen Systems bewußt war, gegen
die widerstrebende Volksvertretung nicht durchsetzen können. Unter
den zahllosen Vorwürfen, die unter der Einwirkung der Niederlagen
gleich nach dem Kriege von dem Folkething und anderen Seiten
gegen die Regierung und die Armee erhoben wurden, ist die des
Generalstabsmajors Ankjaer eine der hervorstechendsten, der in seinem
„Forslag til Organisation af den danske Armee“ zur Erhöhung der
Kriegsbereitschaft die Schaffung gänzlich neuer Institutionen forderte.
Mit der neuen Wehrverfassung Hand in Hand ging in Preußen
der eifrig betriebene innere Ausbau der Armee in Verwaltung und
Ausbildung. Hier wurden Roon, Moltke und der Prinz Friedrich
Karl die führenden Geister. ‚Unter einer schönen, anscheinend rein
friedensmäßigen Außenseite regte sich in der Armee doch echtes
48 Preußens Kriegsrüstung 1864.
kriegerisches Leben“, so charakterisiert General Freiherr von Freytag-
Loringhoven treffend diese Zeitperiode Seit 1857 übte General
von Moltke seine befruchtende und erzieherische Wirkung auf den
Generalstab und damit auf das geistige Leben und die taktische
Schulung der Armee aus. Er wurde besonders nach der Seite der
Truppenerziehung hin in glücklichster Weise durch den Prinzen
Friedrich Karl ergänzt, der seit 1860 an der Spitze des III. Armee-
korps stehend, dieses zu einer Mustertruppe für die Armee ausbildete.
Auch die wissenschaftliche Tätigkeit beider Männer war auf die Kriegs-
vorbereitung unmittelbar gerichtet. Als ehemaliger dänischer Offizier
hatte Moltke für die dänischen Verhältnisse besonderes Interesse und
Verständnis, wofür auch seine Übersetzung mehrerer dänischer Werke
aus jener Zeit beredtes Zeugnis liefert. Ebenso beweisen seine Margi-
nalien in zahlreichen Büchern der Generalstabsbibliothek, wie sehr er
sich in jener Zeit besonders mit militärgeographischen und militär-
technischen Fragen befaßte. Prinz Friedrich Karl ließ schon 1860
seine Denkschrift „Über die Kampfweise der Franzosen“ erscheinen,
die ein ungeheueres Aufsehen in der militärischen Welt hervorrief
und in Frankreich mit der bezeichnenden Titeländerung „L’art de
combattre l'armée française“ bekannt wurde. Die Schrift verrät ab
ungue leonem den späteren großen Heerführer und gab für den schon
damals erwarteten Krieg mit Frankreich wichtige Fingerzeige für das
Gefecht hinsichtlich der Taktik und der Erziehung der Truppe, die
zu Faktoren des Sieges im Jahre 1870 geworden sind.
Unter den Kriegstheoretikern jener Zeit genoß W. von Willisen
ein besonderes Ansehen. Während er aber in seiner „Theorie des
großen Krieges“ die Kriegskunst in ein System von Regeln zu fassen
suchte, steht C. von Decker mit seinen „Grundzügen der praktischen
Strategie‘ ganz auf dem Clausewitzschen Standpunkt der kritisch-
historischen Methode Zu ihr bekannte sich auch der Mann, der
der neuen Kriegführung den Stempel seines Geistes aufdrücken sollte.
Das Waffenwesen befand sich in jener Zeit in der schwierigen
Übergangsperiode vom glatten Vorderlader zum gezogenen Hinter-
lader, was zahlreiche Waffentheoretiker wie Dreyse, Schön, C. Rüstow,
v. Plönnies, Schmölzl auf den Plan rief und ballistische Versuche und
Erfindungen aller Art zeitigte. Für die Konstruktion der Schuß-
waffen und die Theorie des Schießens boten Navez, Rodman und
Le Boulenge, durch die Erfindung sinnreicher elektro-ballistischer
Apparate neue sichere Hilfsmittel. In der Einführung eines gezogenen
Hinterladergewehrs ging Preußen allen Großstaaten voran. Es war
ein kühner folgenschwerer Entschluß, den die Heeresleitung faßte, als
sie sich 1841 für die Einführung des Zündnadelgewehrs und Ende
Preußens Kriegsrüstung 1864. 49
der fünfziger Jahre für die allgemeine Bewaffnung der Infanterie mit
diesem Gewehr entschied. In divinatorischem Gefühl bezeichnete da-
mals König Friedrich Wilhelm IV. die geniale Erfindung Johann
Nikolaus Dreyses „als ein großes Geschenk der Vorsehung für das
Gedeihen des Staates“. Die Größe dieser Tat wird klar, wenn man
bedenkt, welchem Mißtrauen die neue Waffe, die die preußische In-
fanterie über die dänischen, böhmischen und französischen Schlacht-
felder zum Siege geführt hat, anfangs selbst in Fachkreisen begegnete,
und daß man in Frankreich sogar nach 1864 noch an einem gezogenen
Vorderlader System Minie festhielt, obgleich man schon mit den
neuen Hinterladermodellen Manceaux und Chassepot gute Erfahrungen
gemacht hatte. In Österreich trat ein feiner Kenner der militärischen
Verhältnisse seiner Zeit, der Herzog Wilhelm von Württemberg, auch
nach dem Kriege noch vergebens für die Einführung des gezogenen
Hinterladers ein, indem er schrieb: „Das preußische Zündnadelgewehr
hat sich im Feldzuge gegen Dänemark außerordentlich bewährt; alle
dagegen erhobenen Bedenken haben sich als unbegründet erwiesen;
Mannschaft und Offiziere stimmen darin überein, daß das Gewehr
sehr gut sei; der Feind fürchtete es.“
Das Artilleriewesen erfreute sich damals in der Person des Prinzen
Karl von Preußen eines eifrigen und sachkundigen Protektors, unter
dem General von Hindersin wirkte, der nach dem Feldzuge in An-
erkennung seiner ausgezeichneten Leistungen bei der Belagerung von
Düppel Generalinspekteur der Artillerie wurde. Neben ihnen hat sich
auch der langjährige Präses der Artillerieprüfungskommission, General
von Neumann, um die Einführung der gezogenen Hinterladungsgeschütze
ein bleibendes Verdienst erworben. Es waren namentlich die Er-
fahrungen des Feldzuges 1859 in Italien und die unmittelbar darauf-
folgende durchgängige Bewaffnung der französischen Feldartillerie mit
gezogenen Geschützen, die zu einer Umbewaffnung in fast allen
Ländern führte und auch in Preußen sogleich begonnen wurde. Aus
ökonomischen Gründen mußte man sich hier jedoch zunächst auf die
Aptierung des alten Materials beschränken, anstatt zu Neuanschaffungen
zu schreiten. Bei der Feldartillerie begann 1860 die Einführung von
Geschützrohren aus Kruppschem Gußstahl, die jedoch nur langsam
vonstatten ging und erst im Jahre 1865 ihren Abschluß fand. Im
dänischen Feldzuge befanden sich unter den 110 mitgeführten Feld-
geschützen erst 38 gezogene Hinterlader. Günstiger trat die Fuß-
artillerie mit 64 gezogenen Hinterladern, die durch Aptierung glatter
Bronzekanonen entstanden waren, in den Krieg, der ihr vor Düppel
reiche Gelegenheit zur Betätigung gab. Hier kam zum ersten Male
überhaupt das neue Artilleriematerial vor Befestigungen zur Ver-
Jahrbücher für die deutsche Armee und Marine. Nr. 514. 4
50 Preußens Kriegsrüstung 1864.
wendung, und boten die gemachten Erfahrungen einen wertvollen An-
halt für die weitere Entwickelung des Geschützwesens.
Die Einführung der neuen Waffen hatte naturgemäß durch-
greifende Änderungen auf dem Gebiete der Taktik sowie des Festungs-
und Seekrieges zur Folge. Den Vorsprung, den Preußen durch die
Einführung des Zündnadelgewehrs vor anderen Staaten hatte, nutzte
es auch zur Annahme einer überlegenen Fechtweise seiner Infanterie
aus, indem man sich endgültig von der StoßBtaktik lossagte und zu
einer ausgesprochenen Schützentaktik überging, welche die Vorzüge der
neuen Feuerwaffe voll zur Geltung brachte. Das E.-R. f.d. Inf. vom
Jahre 1847 erhielt entsprechende „Erläuternde Bestimmungen und
Abänderungen“, die aber erst 1867 in einem gedruckten Nachtrag
zusammengefaßt wurden. Auch die im Jahre 1861 neu herausgegebenen
„Allerhöchsten Verordnungen über die größeren Truppenübungen* ent-
hielten in ihrem zweiten Abschnitt Angaben über den Unterschied
in der Wirkung des Zündnadelgewehrs und des Systems Minie und
über die daraus folgenden Änderungen in der Taktik. Die neuen
Vorschriften atmeten den Geist einer neuen Fecht- und Ausbildungs-
weise, wie er noch heute unsere Infanterie beseelt. Die neue Schuß-
waffe verlangte einen selbständiger denkenden und höher disziplinierten
Schützen. Mit den Worten: Drill und Erziehung hat König Wilhelm
selbst die Richtung für die Ausbildung angegeben, und im Sinne
einer individualisierenden, mehr die Entwickelung der psychischen
Eigenschaften betonenden Erziehung wirkte auch Prinz Friedrich Karl.
Die neuen reglementarischen Bestimmungen begleitete damals eine
Hochflut von Studien und ‚Lehrschriften, die die infanteristische Ge-
fechtsführung und Ausbildung behandelten. Ebenso aber wie dem
preußischen Zündnadelgewehr begegnete man im Ausland vielfach der
Schützentaktik mit Mißtrauen, besonders in Österreich, obgleich auch
hier u. a. wieder der Herzog Wilhelm von Württemberg für die tak-
tische Vervollkommnung der Infanterie durch die Anwendung starker
Schwarm- und Feuerlinien eintrat. Eine eigenartige Fügung des Ge-
schicks wollte es, daß gerade dieser Vorkämpfer der Schützentaktik
in Österreich 1864 bei Oeversee mit seinem tapferen Regiment „König
der Belgier“ in eine taktische Lage geführt wurde, in der nur das
Bajonett die Entscheidung bringen konnte.
Auf die Entwickelung der Kavallerie übte Feldmarschall Freiherr
von Wrangel einen tiefgreifenden und nachhaltigen Einfluß aus, so-
wohl hinsichtlich ihrer Ausbildung wie ihrer taktischen Verwendung.
Sein letztes, 1862 erschienenes Werk „Bemerkungen über die Aus-
bildung und Verwendung der Kavallerie und über die Heranbildung
ihrer Führer“ bildet ein teueres Vermächtnis des großen Heerführers
Preußens Kriegsrüstung 1864. 5L
an seine Waffe, worin er sich über deren Bedeutung und zukünftige
Aufgabe in folgenden Worten ausläßt: „Die Kavallerie hat in den
letzten Jahren in ihrer Taktik und kriegstüchtigen Ausbildung nicht
solche Fortschritte gemacht wie sie bei der Infanterie und Artillerie,
besonders seit der Verbesserung der Feuerwaffen, ersichtlich geworden
sind. Der verbesserten Waffentechnik unserer Tage setzen wir die
bessere Beschaffenheit unserer lebendigen Waffe, des Pferdes, entgegen,
und die Hoffnung hoher, ruhmvoller Taten darf uns trotz aller er-
höhten taktischen Brauchbarkeit der anderen Waffen nimmer schwinden.“
Wie sehr hat sich dieser Ausspruch in den Reiterkämpfen am 16. August
1870 bewahrheitetl Bei der Ausbildung der Kavallerie bewährten
sich schon damals als treffliche Lehrmittel „Leitfaden und Hilfsbuch“
von v. Mirus, die, fortgesetzt von v. Pelet-Narbonne, noch in unserer
Zeit in Gebrauch sind,
Bei der Artillerie war man gleichfalls auf eine gründliche Schulung,
. namentlich in technischer Hinsicht bedacht, wie schon das 1860 „auf
dienstliche Veranlassung“ herausgegebene umfangreiche „Handbuch für
die Offiziere der Königlich Preußischen Artillerie‘ erkennen läßt. Aber
über die taktische Verwendung der Feldartillerie bestand während
ihrer Umbewaffnung noch große Unklarheit und Meinungsverschieden-
heit. Man war im Zweifel darüber, ob man die neuen gezogenen
Batterien noch im Sinne einer Positionsartillerie oder in einer beweg-
licheren, den einzelnen Gefechtsphasen folgenden Form verwenden
sollte. Zur Entscheidung dieser Frage hat der dänische Feldzug wenig
beigetragen, dagegen bestätigten sich bei Düppel die Erfahrungen, die
man schon bei Sebastopol hinsichtlich der Bedeutung der Massen-
wirkung der Artillerie gemacht hatte.
Die Verbesserung der Schußwaffen fand ihr Widerspiel im Be-
festigungswesen. Der alte Kampf zwischen Artillerist und Pionier
war aufs neue entbrannt. Die erhöhte Geschoßwirkung führte zur
Anwendung der Panzerung in der Befestigungskunst. Zahlreiche
Schriften jener Zeit beschäftigten sich mit dem Thema: Über den
Einfluß der gezogenen Geschütze auf das Kriegsbauwesen und den
Festungskrieg. Eine führende Rolle auf diesem Gebiet übernahm der
große belgische Kriegsingenieur Brialmont, der 1863 eines seiner
Hauptwerke „Etudes sur la défense des états et sur la fortification‘‘
veröffentlichte. Preußen hatte damals in R. Wischer einen tüchtigen
Militäringenieur, der schon 1860 ein allgemein beachtetes Buch
„Über den Einfluß der Festungen auf die Kriegführung mit spezieller
Berücksichtigung eines Krieges in Norddeutschland‘ schrieb, worin
die aktuellen fortifikatorischen Fragen jener Zeit eingehend behandelt
4*
52 Preußens Kriegsrüstung 1864.
werden. Die Einnahme der Düppeler Schanzen vervollständigte die
Erfahrungen, die man mit den Linien von Torres Vedras und den
Erdbastionen von Sebastopol in betreff der provisorischen Befestigung
gemacht hatte.
Die Pioniertruppe, um deren Reorganisation sich besonders Fürst
Radziwill verdient gemacht hat, war seit 1861 in Bataillonen formiert
und infanteristisch ausgebildet worden. Daß sie sowohl technisch wie
auch als fechtende Truppe auf der Höhe ihrer Aufgabe stand, be-
weisen ihre glänzenden Leistungen beim Übergang über die Schlei
und den Alsensund sowie vor Düppel. Sie erwarb sich in diesem
Kriege ihren gleichberechtigten Platz neben den anderen Waffen.
Was die Marine anbetrifft, so hatte der Feldzug von 1848 den
Mangel einer deutschen Seemacht recht fühlbar gemacht. Die Truppen
mußten damals auf ihrem Siegeszug am Belt Halt machen, den sie
angesichts des Gegners, der mit seiner Flotte das Meer beherrschte,
nicht überschreiten konnten. Zudem vermochte man es nicht zu
verhindern, daß die Dänen mit ihren wenigen Kreuzern die Küste
blockierten und dem deutschen Seehandel empfindlichen Schaden zu-
fügten. Dies war der Anstoß zu jener großen Flottenbewegung, deren
Seele Prinz Adalbert von Preußen war, und die im Jahre 1854 zur
Gründung einer preußischen Kriegsmarine führte. Ihre langsame Ent-
wickelung wurde aber noch kompliziert durch die Umwälzung, die
die Verbesserung der Feuerwaffen im Kriegsschiffbau und in der
Küstenbefestigung hervorrief. Nachdem schon im Krimkriege die
ersten gepanzerten schwimmenden Batterien der Franzosen bei der
Einnahme von Kinburu gegen die Landbatterien der Russen sehr
günstige Erfolge gehabt hatten, schritt Frankreich zum Bau der ersten
gepanzerten Kriegsschiffe, die im Jahre 1860 vom Stapel liefen. Die
Erfahrungen, die alsdann 1862 im nordamerikanischen Bürgerkrieg
in dem Gefecht bei Hampton Road zwischen dem gepanzerten süd-
staatlichen Merrimac einerseits und den ungepanzerten Unionsschiffen
Cumberland und Congress, sowie der Panzerbatterie Monitor anderseits
gemacht wurden, führten zu einem beschleunigten Bau von Panzer-
schiffen in fast allen Staaten. Auch Dänemark besaß 1864 schon
mehrere Panzerfahrzeuge. In Preußen war man der lange umstrittenen
Frage, ob Holz oder Eisen im Kriegsschiffbau zu bevorzugen sei, mit
größter Aufmerksamkeit gefolgt. Schon im Winter 1859/60 veranlaßte
General von Moltke als Vorsitzender der Küstenbefestigungskommission
vergleichende Schießversuche gegen Balkenwände ohne Panzerung und
gegen Panzerscheiben, die mehrmals unter Steigerung der Kaliber
und der Panzerstärken wiederholt wurden, und zu dem Ergebnis
führten, daß sich allerdings Holzschiffe gegen gezogene Geschütze
Preußens Kriegsrüstung 1864. 53
nicht mehr behaupten, daß aber Küstenbatterien den Kampf gegen
g.panzerte Schiffe wohl aufnehmen könnten. Der Grundsatz: „Un
canon sur terre vaut un vaisseau de mer“ hatte damals Gültigkeit.
General von Moltke sprach sich hiernach für die sofortige Schaffung
mehrerer Kanonenbootsflottillen aus, wie er auch sonst in völliger
Übereinstimmung mit dem Prinzen Adalbert alle den Seekrieg be-
rührende Fragen beurteilte und dabei auch für den Ausbau unserer
Küstenbefestigungen, namentlich auch des neuangelegten Kriegshafens
am Jadebusen eintrat. Trotz aller Bemühungen besaß jedoch die
preußische Marine bei Ausbruch des Krieges mit Dänemark noch kein
einziges Panzerschiff. Gleichwohl gelang es der jungen, aber gut ge-
schulten Flotte, die überlegene dänische Flotte in der Ostsee in Schach
zu halten und eine Wiederholung des Schauspiels von 1848 der
Blockade der Ostseehäfen zu verhindern. Freilich war man aber
auch nicht in der Lage, die von General von Moltke angestrebte
Unterstützung der Landoperationen durch die Flotte eintreten zu
lassen.
Das Militärverkehrswesen wurde durch die beiden großen Er-
findungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die Eisenbahnen
und den elektrischen Telegraphen, berührt. In Preußen war es auf
diesem Gebiete wieder General von Moltke, der in den Eisenbahnen
frühzeitig ein wichtiges Hilfsmittel der Kriegführung erkannte und
sich über deren militärische Bedeutung und Ausbau in Wort und
Schrift ausließ. Obgleich nur geringe Erfahrungen über Kriegs-
transporte auf Eisenbahnen aus den Feldzügen in Oberitalien und
Nordamerika vorlagen, hatte man in Preußen vor 1864 doch bereits
das militärische Eisenbahntransportwesen durch Reglements, die Vor-
läufer der späteren Militäreisenbahnordnung, geregelt. Auch die An-
fänge der Errichtung besonderer Eisenbahntruppen fallen in diese
Zeit durch die unter dem 3. Mai 1861 befohlene Ausbildung von
Unteroffizieren im Eisenbahndienst. Der Feldzug 1864 gab allerdings
nur in beschränktem Maße Gelegenheit, die neuen Einrichtungen zu
erproben, da es sich nur um die Beförderung geringerer Truppen-
massen auf wenigen Linien handelte und auf Schnelligkeit der Ver-
sammlung nicht ankam. Immerhin lagen hier die Anfänge zu der
Eisenbahnstrategie, die unser großer Generalstabschef in den folgenden
Kriegen in vorbildlicher und bis jetzt noch unerreichter Weise ent-
faltete.
Der Telegraph wurde als Kriegsnachrichtenmittel zuerst bei der
Belagerung von Sebastopol in der Alliierten Krimarmee zur Ver-
bindung zwischen den Hauptquartieren der Divisionen benutzt. In
diesem Kriege kam auch das erste Seekabel zwischen Varna und der
54 Preußens Kriegsrüstung 1864.
Krim zur Anwendung. Als operatives Verbindungsmittel diente der
Telegraph dann auch im Feldzuge 1859. In der preußischen Armee
wurden in den fünfziger Jahren die Pionierabteilungen mit Feld-
telegraphen ausgerüstet, die 1864 vor Düppel auch als taktisches
Nachrichtenmittel Verwendung fanden.
Auf dem Gebiete des Militärsanitätswesens hatten die Erfahrungen
des Krimkrieges, ganz besonders aber die des italienischen Feldzuges,
dargetan, daß eine Organisierung der Pflege der Kranken und Ver-
wundeten schon in Friedenszeiten stattfinden müsse, und die militärischen
Einrichtungen durch die freiwillige Hilfe zu ergänzen seien. Mit seinem
„Souvenir de Solferino“ gab der Schweizer Henri Dunant den Anstoß
zu der 1863 auf der internationalen Konferenz zu Genf geschlossenen
Konvention und zu entsprechenden Organisationen in allen Ländern.
Auch in Preußen wurde noch in demselben Jahre ein neues Reglement
über den Dienst der Krankenpflege im Felde herausgegeben, das sich
in dem gleich darauf folgenden Feldzuge bewähren konnte Um die
Entwickelung der Kriegsheilkunde haben sich damals Männer wie
Virchow, Esmarch und Ochwadt verdient gemacht.
Eine besondere Fürsorge wandte die preußische Kriegsverwaltung
der Ergänzung und Heranbildung des Offizierkorps zu. Neben den
Kabinettsorders von 1861 und 1862, die die Ergänzung der Offiziere
im Sinne der noch heute geltenden Grundsätze regelten, erhielt auch
das Kadettenkorps die Organisation, die es im allgemeinen noch heute
besitzt. Schon im Jahre 1859 hatte sich die Umwandlung der
Divisions- in Kriegsschulen vollzogen. Zu den damals bestehenden
drei Offiziersbildungsanstalten trat im Jahre 1863 noch Engers
hinzu.
Auch auf dem Gebiet des kleinen Truppendienstes herrschte
damals lebhafte Bewegung; so wurde z. B. dem Unterricht und der
Gymnastik erhöhter Wert beigelegt und bei letzterer den damals
vielfach bevorzugten Massenübungen gegenüber an einer rationellen
Methode im Sinne der Einzelausbildung festgehalten.
So drang bis in die kleinsten Verzweigungen militärischer Ein-
richtungen und des militärischen Dienstes die reformatorische Tätigkeit
der preußischen Heeresleitung ein, und diesem rastlosen Streben nach
militärischer Vervollkommnung hatte es Preußen hauptsächlich zu ver-
danken, daß sich seine militärischen Einrichtungen schon im dänischen
Feldzuge nach Form und Geist bewährten. Mit Recht sagt J. v. Wickede:
„So zeigten denn schon 1864 die preußischen Truppen jedem
kundigen militärischen Blick, daß die Armee den höchsten An-
forderungen genügen würde, und Preußen selbst dem größten Kampf
gewachsen sei.“ |
Preußens Kriegsrüstung 1864. | 55
Wohl hatte Düppel auch den Nachbarstaaten die Augen über die
Kriegstüchtigkeit Preußens einigermaßen geöffnet, aber ihre Auf-
merksamkeit war vielfach in anderer Richtung abgelenkt. Frankreich,
England und Italien verfolgten mit größerem Interesse den Verlauf
der nordamerikanischen und mexikanischen Kriegsvorgänge; und
Frankreich wurde zudem noch durch den Ausbruch des Aufstandes in
Algerien, der seinen afrikanischen Kolonialbesitz in Frage stellte, in
Anspruch genommen. Daher erklärte es sich auch, daß der dänische
Feldzug in der Literatur dieser Länder nur einen geringen Raum ein-
nimmt. Eifriger beschäftigte man sich begreiflicher Weise in Österreich
mit den Erfahrungen des gemeinsam geführten Krieges und mit den
militärischen Erfolgen des Verbündeten. Am meisten war man aber
in Preußen selbst nach dem Kriege darauf bedacht, die militärischen
Einrichtungen und Maßnahmen an der Hand der Ereignisse nach-
zuprüfen und die gemachten Erfahrungen zur Vorbereitung auf neue
drohende Kriegsstürme auszunutzen.
Der Feldzug von 1864 hat als Vorspiel der großen Kriegstrilogie
für Preußen die Bedeutung, daß er ihm Gelegenheit gab, sein neu-
geschmiedetes Schwert zu prüfen und Vertrauen in die eigene
kriegerische Kraft zu fassen. Diese Wirkung drückt H. Delbrück in
dem Satz aus: „Dieselben Preußen, die sich 1864 gegen die winzigen
Dänen nur mit ängstlichen Umblicken nach allen Seiten zu bewegen
trauten, sah man 1866 auf beiden Kriegsschauplätzen mit grandioser
Kühnheit operieren.“
Für alle Zeiten aber enthält 1864 die ernste Lehre
vom Wert der Kriegsvorbereitung, daß nur der Staat, der
im Frieden rastlos an der Vervollkommnung seiner Kriegs-
rüstung in allen ihren Teilen arbeitet, die Anwartschaft auf
kriegerischen Erfolg hat.
56 Die Schießvorschrift für die Feldartillerie vom 11. Januar 1914.
IV.
Die Schiessvorschrift für die Feldartillerie.
vom 11. Januar 1914.
Von
v. Richter, Generalmajor z. D.
Der Entwurf zum I. Teil der Schießvorschrift für die Feldartillerie
vom März 1911, der die Schießlehren umfaßt und im Maiheft 1911
dieser Jahrbücher eingehend gewürdigt wurde, ist fast volle drei Jahre
bei der Truppe im Gebrauch gewesen. In der Besprechung konnte
ihm nachgerühmt werden, daß er eine den Forderungen der Neuzeit
Rechnung tragende kriegsmäßige Anweisung bringe. Die Aufnahme,
die er bei der Truppe fand, hat dies bestätigt. Wurde er doch als
Befreier von kleinlichen, den Eintritt schneller Wirkung verzögernden
Korrekturen willkommen geheißen, die zu den Erscheinungen des
heutigen Bewegungskrieges und zu modernen Feldgeschützen nicht mehr
paßten.
Die im Gebrauch gemachten Erfahrungen hatten bereits zu ver-
schiedenen Änderungen durch Deckblätter geführt, die einzelne,
wenige Lehren ergänzten, hauptsächlich sich aber mit weiterer Aus-
gestaltung des indirekten Verfahrens, des Schießens bei Dunkelheit
und der Tätigkeit des Abteilungskommandeurs während des Schießens
befaßten. In der nun vorliegenden neuen Vorschrift sind im I. Teil
die Grundlehren des Entwurfs erhalten geblieben. Völlig umgestaltet
ist das Schießen gegen Luftfahrzeuge.
Erhebliche Neuerungen finden sich in der Einrichtung und
Verwendung der Geschosse. Durchweg hat sich die mittlere
Größe des Kegelwinkels geändert. Er ist beim Schrapnel von 17
auf etwa 19, beim Feldhaubitzgeschoß, das die Bezeichung 05 ver-
loren hat, in Schrapnelstellung von 14 auf etwa 32 (sofern die Ge-
schoßhülle unzerlegt bleibt, etwa 15), bei der Granate der Kanone
von 114 auf etwa 150 Grad gestiegen, beim Feldhaubitzgeschoß in
Granatstellung von 200 auf etwa 190 Grad gesunken. Zwischen dem
Sprengkegel des Kanonenschrapnels und des Feldhaubitzgeschosses in
Schrapnelstellung wird ein Unterschied insofern festgestellt, als die
Kugeln bei jenem den Raum fast gleichmäßig ausfüllen, bei diesem
in der Mitte meist weniger dicht als an der Wand verteilt sind.
Auf Erzeugung von Brandwirkung ist neuerdings unter günstigen Ver-
Die Schießvorschrift für die Feldartillerie vom 11. Januar 1914. 57
hältnissen bei allen Geschoßarten zu rechnen, was früher bei Granaten
und dem Feldhaubitzgeschoß nicht mit Sicherheit anzunehmen war.
Schließlich ist der Bz-Bereich der Kanonengeschosss um 350 m auf
5350 m gewachsen, immerhin eine kleine, wenn auch gegenüber
anderen Artillerien nicht ausreichende Zunahme. Die Feldhaubitz-
geschosse bleiben in dieser Beziehung unverändert; sie stehen denen
der Kanone um 50 m nach.
Die Größe des Kegelwinkels beinflußt bei Schrapnels das Zu-
saunmenhalten der Kugeln in der Garbe. Ihre Dichtigkeit nimmt mit
dem Quadrat der Sprengweite ab, und man rechnet, daß sie für ge-
nügende Wirkung nicht mehr ausreicht, wenn die auf 1 qm senk-
rechter Trefffläche entfallende Trefferzahl unter 0,1 sinkt. Diese
Grenze tritt auf allen Entfernungen früher ein, als die durch die
Durchschlagskraft der Kugeln gegebene. Gleiche Zahl der Füllkugeln
vorausgesetzt, beeinflußt also der Kegelwinkel mittelbar die Tiefen-
wirkung, weshalb er zur Kugelzahl in angemessenem Verhältnis stehen
muß. Ist er klein, so folgt daraus allerdings eine große Dichtigkeit,
die gegen Ziele, auf die man genau eingeschossen ist, zahlreiche
Treffer ergibt, vermutlich mehr, als zur Erreichung des Gefechtszwecks
nötig sind. Liegt aber die Flugbahn nicht ganz richtig zum Ziel,
so kann die Wirkung leicht aussetzen oder unter das zu erwartende
Maß sinken. Ferner wird auch die Entfernung für ausreichende
Wirkung entsprechend früh begrenzt, da sich der obere Teil der
Kugelgarbe nur so lange bestreichend über dem Erdboden erhebt, als
der halbe Kegelwinkel im Sprengpunkte noch größer ist als der Fall-
winkel des Geschosses. Denn von da ab ist auch der obere Teil der
Garbe nach unten gerichtet, und die Tiefenwirkung wird stark herab-
gesetzt ').
Beim Kanonen-Schrapnel wird die Steigerung des Kegelwinkels
von 17 auf 19 Grad im Gebrauchsfalle nichts Wesentliches an der
Tiefenwirkung ändern, vorausgesetzt, daB die Kugelzahl unverändert
geblieben ist.
Anders beim Feldhaubitzgeschoß in Schrapnelstellung,
wenn, wie es scheint, 32 Grad Kegelwinkel die Regel, 15 Grad die
Ausnahme bilden. Der Sprung von 14 auf 32 Grad ist ein recht
bedeutender, der die Dichtigkeit und somit die Tiefenwirkung stark
herabsetzen muß. Und wenn dadurch auch die Entfernung für aus-
1) Angenommen, daß der Fallwinkel auf 3500 m 12 Grad, der Kegel-
winkel 24 Grad beträgt, so schlägt die oberste Kugel vom Sprengpunkte
aus bereits eine abwärts gerichtete Flugrichtung ein, die Sprenggarbe
wird bohrend. Die Entfernung für ausreichende Wirkung würde also bei
8500 m liegen.
58 Die Schießvorschrift für die Feldartillerie vom 11. Januar 1914.
reichende Wirkung weiter hinausgerückt wird, was bei der stark ge-
krümmten Flugbahn wesentlich ist, so dürfte damit nicht so viel ge-
wonnen werden, als durch die größere Ausbreitung der Kugeln verloren
geht. Ob etwa deren Zahl der Größe des Kegelwinkels entsprechend
gewachsen ist, entzieht sich der Kenntnis.
Die Verschiedenheit der Kegelwinkel hängt davon ab, ob die
Geschoßhülle zerlegt wird oder nicht. Die Ursache des Unterschieds
kann durch Einstellen des Zünders zu entsprechender Kraftäußerung
der Geschoßladung für besondere Zwecke hervorgerufen oder in Un-
gleichmäßigkeiten dieser oder des Geschoßmaterials zu suchen sein,
was sich nicht erkennen läßt. In letzterem Falle müßte auf die
Gleichmäßigkeit mit allen Mitteln hingearbeitet werden. Solange in
dieser Beziehung mit Schwankungen von ungewissem Umfange ge-
rechnet werden muß, können die Treffergebnisse durch sie in unbe-
rechenbarer Weise beeinflußt werden.
Ob und welche Bedeutung die ungleichmäßige Verteilung der
Kugeln im Sprengkegel für die Wirkung nach sich ziehen kann, läßt
sich um so weniger ermessen, als das Maß der Ungleichheit nicht
bekannt ist.
Die Kanonen-Granate hat durch Vergrößerung des Kegel-
winkels im Bz-Feuer von 114 auf 150 Grad für das Bekämpfen von
Zielen dicht hinter Deckung dann an Bedeutung gewonnen, wenn
geichzeitig die Zahl ihrer wirksamen Sprengteile entsprechend ge-
wachsen sein sollte. Das Feldhaubitzgeschoß in Granatstellung
erlitt in dieser Hinsicht eine Einbuße von 10 Grad, die indessen
durch die größere Dichtigkeit der Sprengteile ausgeglichen werden
dürfte, vorausgesetzt, daß sich ihre Zahl keinesfalls verringert hat.
Der Unterschied, der früher 86 Grad zwischen beiden Geschossen aus-
machte, ist jetzt bis auf 40 Grad gesunken, und zwar zugunsten
der Feldgranate. Freilich, in der Zahl der wirksamen Sprengstücke
bleibt der Abstand auch ferner bedeutend.
Während früher das Bekämpfen von Luftzielen ausschließlich
durch Schrapnelwirkung Bz versucht wurde, kann dazu nunmehr
auch das Feldhaubitzgeschoß in Granat-Bz-Stellung Verwendung finden.
Wiewohl die Tragweite seiner Sprengteile nach der Tiefe verhältnis-
mäßig gering ist, bietet es im Vergleich zum Schrapnel bzw. Feld-
haubitzgeschoß in Schrapnelstellung, deren Sprungpunkte in richtige
Höhe über die Visierlinie gelegt werden müssen, den Vorteil, daß es
Wirkung erwarten läßt, gleichviel, ob es über, unter oder seitwärts
des Zieles springt.
Für schnelle Feuereröffnung. und richtiges und rasches Einschießen
wurde schon seit Jahren sorgfältige Vorbereitung des Schießens
Die Schießvorschrift für die Feldartillerie vom 11. Januar 1914. 59
verlangt. Die hierfür zu treffenden Anordnungen sind erweitert. Da-
hin gehört die Erlaubnis für den Batterieführer, zur Beobachtungs-
stelle, zumal wenn sie weitab der Batterie liegt, einen „Beobachtungs-
offizier“* mitzunehmen. Er soll dem Schießen folgen oder von dem
Führer auf dem laufenden erhalten werden, um jederzeit das
Kommando übernehmen zu können, wenn ein Ersatz oder eine Ver-
tretung des Führers nötig wird. Diese Vorsichtsmaßregel ist zur
Sicherung ununterbrochener Fortführung der Feuertätigkeit unter
Umständen nicht zu umgehen, entzieht aber einen Offizier der Be-
aufsichtigung der Bedienung. Nur bei reichlicher Ausstattung an
Offizieren wird beiden Forderungen ohne Beeinträchtigung der Feuer-
tätigkeit entsprochen werden können.
Ferner muß sich der Batterieführer im voraus darüber schlüssig
machen, welches Richtverfahren nach Art des Zieles einzuschlagen sein
wird. Das direkte Richten bleibt in Zukunft gegen Ziele beschränkt,
die im Kommando leicht zu bezeichnen und für die Richtkanoniere
gut sichtbar sind bzw. denen sie, sofern sie sich bewegen, gut folgen
können. In allen anderen Fällen wird die erste Seitenrichtung nach
einem gemeinsamen Hilfsziel oder nach einem Richtkreis genommen,
gleichviel, ob die Batterie in verdeckter oder offener Stellung steht.
Welche von beiden Stellungen zu wählen ist, bleibt nach wie vor
von den Verhältnissen abhängig. Die Truppe muß beide Arten gleich
gut beherrschen lernen und dieser Forderung bei der Ausbildung
Rechnung tragen. Alle Vorbereitungen müssen so getroffen werden,
daß sie mit möglichster Zeitersparnis vor sich gehen und vom Gegner
nicht wahrgenommen werden. Diese Mahnuug ist sicher sehr be-
rechtigt, aber um so schwerer zu erfüllen, als beim Einrichten der
Geschütze nach dem Richtkreis, Legen der Fernsprechverbindung und
Einrichten der Beobachtungsstelle die Ausnutzung der Deckung nur
zu leicht unter der Aufmerksamkeit leidet, die der Handhabung der
Geräte zugewendet werden muß.
Die mit dem indirekten Richten im Laufe der Versuchszeit ge-
sammelten Erfahrungen geben mehrfach Anlaß, die Weisungen über
Feuerverteilung und Überschwenken des Feuers beim Zielwechsel zu
ergänzen.
Bei Bekämpfen von Augenblickszielen ist die frühere
Unterscheidung in breite oder schmale weggefallen. Das dagegen an-
zuwendende Verfahren richtet sich danach, ob noch eine Gabel in
weiteren Grenzen gebildet werden konnte oder nicht. Gelingt die
Gabelbildung, so soll ohne Beobachtung in schnellem Gruppenfeuer
auf den 100-oder 200-m-Entfernungen durchgestreut werden. Gelingt
sie nicht, so wird je nach dem Anhalt für die Entfernung auf drei
60 Die Schießvorschrift für die Feldartillerie vom 11. Januar 1914.
zug- oder sechs geschützweise um je 100 m steigende Entfernungen
Gruppenfeuer mit Schrapnels Bz in schneller Aufeinanderfolge ab-
gegeben (Staffelfeuer). — Die weggefallene Unterscheidung nach breiten
und schmalen Zielen bedeutet eine Vereinfachung, ohne die zu er-
wartende Wirkung herabzusetzen.
An wie viele Voraussetzungen das wirksame Beschießen von
Luftfahrzeugen geknüpft ist, geht aus den zu erfüllenden Vor-
bedingungen hervor: Schneller Entschluß, schnelle Kommandos,
schnelles Ausnutzen aller Beobachtungen, kräftige Korrekturen, schnell
arbeitende gewandte Bedienung des Entfernungsmessers und der Ge-
schütze. Die anzuwendenden Geschoßarten sind bereits erwähnt. Das
Verfahren richtet sich danach, ob ein Entfernungsmesser und die Zeit
zu seiner Verwendung zur Verfügung stehen oder nicht. In ersterem
Falle wird zur Gewinnung eines Anhalts für die an den Richt-
vorrichtungen vorzunehmenden Korrekturen eine Gruppe im 100-m-
Staffelfeuer abgegeben unter Verkleinerung oder Vergrößerung der
Entfernung je nach der erkannten Bewegungsrichtung des Zieles. Das
weitere Schießen erfolgt im 100 m-Staffelfeuer unter Abgabe mehrerer
Gruppen, wobei die zuletzt gemessene Entfernung um das doppelte
Maß der Geschwindigkeit, in der das Ziel in einer halben Minute
kommt oder geht, vermindert oder vergrößert wird. Im zweiten Falle
werden Entfernung und Tiefe der Staffelung so gewählt, daß sich das
Ziel innerhalb des Feuerbereichs befindet, und sofort mehrere Gruppen
im Staffelfeuer abgegeben.
Luftfahrzeuge, die militärisch wichtige Bauten durch Abwerfen
von Sprengkörpern zerstören wollen, sollen gefaßt werden, wenn sie
zur Erfüllung ihrer Aufgabe in geringerer Höhe und unter Innehaltung
einer bestimmten Fahrtrichtung auf ihr Ziel zufliegen. Die Entfernung
wird so kurz gewählt, daß die Schüsse vor dem Ziele liegen, und
allein auf dieser Entfernung unter dauerndem Regeln der Spreng-
punkte nach Höhe und Seite Schnellfeuer abgegeben. Das Verfahren
wird unter kräftigem Abbrechen wiederholt, sobald das Ziel diesen
Feuerbereich durchflogen hat. — Es ist leicht einzusehen, daß die
Wahrscheinlichkeit, getroffen zu werden, für die Luftfahrzeuge noch
nicht sonderlich groß ist. Dabei ist in Rechnung zu stellen, daß das
Schießverfahren, entsprechend der Natur der Ziele, nur ganz vereinzelt
geübt werden kann. Die meisten Batterieführer werden sich gegebenen-
falls vor eine ihnen ganz neue Aufgabe gestellt sehen, wodurch die
Aussicht auf Wirkung sicher nicht gesteigert wird.
Das Schießen bei Dunkelheit unter Benutzung von Schein-
werfern ist gegen früher etwas eingehender behandelt. Innerhalb der
Tragweite des Lichtkegels können Ziele aller Art wie bei Tage be-
Die Schießvorschrift für die Feldartillerie vom 11. Januar 1914. 61L
'kämpft werden. Das Verfahren gegen Augenblicksziele wird oft nötig
sein. — Ohne Benutzung von Scheinwerfern müssen die zum Schießen
erforderlichen Grundlagen noch bei Tage, wie bisher, ermittelt werden,
wobei statt der Geschütze Richtkreis und Scherenfernrohr zum Fest-
legen von Seitenrichtung und Geländewinkel dienen können. In den
bei Tage ausgewählten Feuerstellungen sollen Frontlinie und Stellung
der Geschütze bezeichnet werden, zweckmäßig durch ein weißes Band
mit kurzen Querbändern.
Die für das Schießen in der Abteilung durch ein Deckblatt
bereits erfolgte nähere Abgrenzung der Befugnisse des Kommandeurs
warnt vor unnötigen Eingriffen in die Schießtätigkeit der Batterien
und führt des weiteren aus, wie er seinen auf taktischem Gebiet
liegenden Aufgaben gerecht werden kann durch Anordnung von Ziel-
wechsel, Feuervereinigung oder Steigerung der Feuergeschwindigkeit
einer Batterie, die er gleichzeitig mit reichlicher Munition versorgt,
sowie Regelung des Schießbedarfs im allgemeinen.
Der II. Teil, die Schießausbildung, auf den hier nicht näher
eingegangen werden soll, läßt nicht bloß die Vielseitigkeit der Aus-
bildung im einzelnen, sondern auch die unerläßliche gründliche Arbeit
für das Zusammenschweißen zu gemeinsamer Tätigkeit in der Batterie
und Abteilung erkennen. Welche Schulung nach Verständnis, Zu-
verlässigkeit und Schnelligkeit gehört nicht allein dazu, um die an
den Vorbereitungen für erfolgreiches Bekämpfen der Luftfahrzeuge
mitwirkenden Glieder zu sicherem Zusammenarbeiten zu erziehen! Um
den Anforderungen an die neuzeitliche Verwendung der Waffe zu
genügen, müssen Offiziere und Mannschaften mit dem Gebrauch des
Richtkreises, Scherenfernrohrs, Fernsprechgeräts und Entiernungs-
messers vertraut gemacht werden und eine Sonderausbildung als
Patrouillenreiter, Aufklärer, Hilfsbeobachter oder Zielaufklärer erhalten,
Verrichtungen, die an Ein- und Umsicht meist hohe Anforderungen
stellen.
Eine Erweiterung haben die abzuhaltenden Scharfschießen er-
fahren. Zu den Schu!schießen in der Batterie sind solche in der Ab-
teilung hinzugetreten. Sofern es an ausreichender Munition fehlt,
können „Rahmenschießen“* abgehalten werden, bei denen das Be-
kämpfen der einzelnen Ziele durch wenige Schüsse zum Ermitteln der
Entfernung und zum seitlichen Erfassen des Zieles in die Erscheinung
treten soll.
Sehr zu begrüßen ist die Bestimmung, daß die Feldartillerie auf
den Truppenübungsplätzen die erforderliche Zeit und den erforder-
lichen Raum erhalten soll, um ihre Schießen in belehrender und
möglichst gefechtsmäßiger Weise abzuhalten und den umfangreichen
62 Um Forts und ihre Intervalle.
Zielbau sachgemäß zu erledigen. Auch darf sie während der Schieß-
übungen zu Übungen mit anderen Waffen nur soweit herangezogen
werden, als die Schießausbildung hierunter nicht leidet. Die Durch-
führung dieser Bestimmung wird zur Folge haben, daß sich die
Übungen weit nutzbringender gestalten als häufig früher, wo die
Waffe durch Rücksicht auf andere gleichzeitig übende Truppen viel-
fach unzulässig zeitlich und räumlich eingeengt war.
Die neue Schießvorschrift bietet ihrem Inhalt nach die Gewähr,
daß sie für eine Reihe von Jahren der Truppe ein zuverlässiger
Führer zu kriegstüchtiger Schießtätigkeit sein wird. Der dem Entwurf
bereits gezollten Anerkennung knapper, deutlicher Ausdrucksweise darf
hinzugefügt werden, daß dieser Vorzug durch ein mustergültiges Deutsch
noch gehoben wird.
Zum Schluß noch ein Wunsch! Die Schreibweise des Wortes
„Schrapnel“ weicht in unseren Vorschriften und dementsprechend
meist in der Militärliteratur insofern von der amtlichen (nach dem
orthographischen Wörterbuch von Duden) ab, als nur ein l gebraucht
wird. Daraus entsteht ein Dualismus, der auch in der neuen Schieß-
vorschrift in die Erscheinung tritt. Wir haben das englische Wort
Shrapnel halb verdeutscht durch Umwandlung von Sh in Sch; tun
wir es ganz durch Annahme des doppelten l!
LA
Um Forts und ihre Intervalle.
Oberst Woelki.
II.
Die Verteidigung möglichst offensiv zu führen, mit ihr ein an-
griffsweises Verfahren zu verbinden, bleibt immer eine ebenso schwierige
wie hohe Aufgabe; ganz besonders im Festungskriege; den bekannten
Satz von Clausewitz „Die verteidigende Art des Kriegführens ist ...
ein Schild, gebildet durch geschickte Streiche“ als auf die Verteidigung
von Festungen gemünzt anzusehen, wie man ihn wohl verstanden
Um Forts und ihre Intervalle. 63
haben möchte, erweist sich bei näherem Zusehen als nicht angebracht.
Denn, wenn Festungen ein Gegenmittel gegen den Angriff sein sollen,
so müssen sie doch auch im Gegensatz zu ihm stehen, und der
Versuch, das angriffsweise Verfahren mit ihnen zu verbinden, zu einer
Halbheit (Kompromiß) und damit zur Abschwächung der dem Angriff
wie der Verteidigung innewohnenden Stärke und Vorteile führen.
Wohl aber können Festungen als Schilde angesehen werden, denen
die „geschickten Streiche* anzupassen bleiben. Die Eigenart der
Festungen lässt sich nun einmal nicht leugnen noch wegstreichen.
Von ihnen gilt das Wort: „Sint, ut sunt, aut non sint!“ D. h. auch:
Kann oder will man nicht vollständige und einwandfreie Festungen
haben, dann tut man wohl besser, es ohne sie zu versuchen.
Die Tatsache, daß die Russen bei ihrer Verteidigung von Port
Arthur von dem angrifisweisen Verfahren so gut wie gar keinen
Gebrauch gemacht haben, kann man denn auch nicht damit abtun,
daß ihre durchaus passive Kriegführung eben verfehlt sei; vielmehr
scheint es wohl einer eingehenderen Würdigung wert, daß dort,
in Port Arthur, eine immerhin seltene Leistung, wenn nicht ein
verhältnismäßig großer Erfolg errungen ist, ohne daß „der Geist
wagemutiger Offensive“, das „angriffsweise Verfahren“, „größere Aus-
fälle“ wie „kräftige Gegenstöße, namentlich von den Flanken“ (vgl.
Anleitung zum Kampf um Festungen, Nr. 6, 235, 337 und 354), zur
Geltung gekommen wären. Es sind dort tatsächlich größere Ausfälle
nicht unternommen, eine Unterstützung von vorliegenden Kampf-
objekten mit äußeren Reserven nicht einmal versucht worden und die
Gegenstöße, die ja zahlreich genug vorgekommen sind, stellen sich nur
als frontale Vorstöße von Auffüllungen der Besatzungen verloren ge-
gangener oder bedrohter Stellungen dar; und das entspricht denn
doch wohl nicht dem Begriff des angriffsweisen Verfahrens!? Zum
Überfluß wird noch amtlich berichtet, daß ein ad hoc befragter Ver-
teidigungsrat (dort in Port Arthur) sich nicht nur gegen größere Aus-
fälle überhaupt, sondern selbst gegen das Ansetzen von Konter-
Approchen ausgesprochen hat! Und dieser Beschluß ist um so be-
fremdlicher, als dieselben Russen bei der denkwürdigen Verteidigung
von Sebastopol nicht nur von großangelegten Gegenstößen, sondern
gerade von den Konter-Approchen einen sehr ausgiebigen Gebrauch
gemacht haben. Es ist auch insonderheit bezüglich der Gegenlauf-
gräben nicht einzusehen, weshalb gerade solche ihren Wert für die
Jetztzeit verloren haben sollten; vielmehr müßte gerade aus der ge-
steigerten Wirkung der Fernfeuerwaffen eine ausgedehntere Anwendung
der gedeckten Annäherungen gefolgert werden, wenn und wo der
Drang nach vorwärts überhaupt vorhanden ist. Aber dieser Drang
64 Um Forts und ihre Intervalle.
fehlte dort eben. Was die Russen dagegen hervorkehrten, was ihre
Kampfart bedingte und ihrem Verfahren das Gepräge gab, ist eben
eine ihnen eigentümliche Eigenart, die auszunutzen sich ja auch offen-
sichtlich belohnte, derart, daß es unbillig, wenn nicht widersinnig, er-
scheint, zu verlangen, daß mit dem dort bewiesenen Heroismus und
der unübertrefflichen Zähigkeit auch noch ein wagemutiges Vorwärts-
drängen hätte verbunden sein sollen. Wie es denn anderwärts nicht
geraten sein möchte (was dort oft genug vorgekommen), Besatzungen
von nahezu zerstörten Posten, die durch die BeschieBung auf einen
kleinen Rest znsammengeschmolzen waren, doch die weitere Behauptung
derselben zuzumuten. Es müssen auch als etaunenswerte Leistungen
oder selten glückliche Zufälle angesehen werden, daß die nötigsten
Unterstützungen immer noch im äußersten Notfalle, oft genug von
weit her, bei Nacht und Nebel usw. rechtzeitig zur Stelle waren, wie
daß sie in dünnen Linien oder kleinen Trupps selbst tiefe Kolonnen
zurückwiesen.
Dagegen stehen im starken Gegensatz die wenigen und
schwächlichen Ansätze zu offensivem Vorgehen. Bleibt doch, wenn
man von den kleinen Unternehmungen, die das förmliche Verfahren
mit sich bringt, absieht (ebenso von einem noch zu behandelnden
Versuch), eigentlich aus dem ganzen Verlauf der Verteidigung nur die
wiederholte Vorsendung eines Zuges einer Ausfallbatterie, zur Unter-
stützung des Hohenberges, die in dieser Beziehung überhaupt von
einiger Bedeutung war.
Dabei hat sich auch die Begründung des oben erwähnten Be-
schlusses des Verteidigungsrats, nämlich die Vermeidung der sich bei
Ausfällen ergebenden Verluste, durch das Endergebnis als nicht gerecht-
fertigt herausgestellt: Denn an Zahl war die Besatzung bei der Über-
gabe noeh recht beträchtlich; nur die Leistungsfähigkeit (der Be-
satzung) war offensichtlich am Ende. Ob solche durch häufigere Aus-
fälle vermehrt und die überhand genommene Depression vermieden
oder auch nur aufgehalten wäre, das erscheint, angesichts des gleichen
Übelstandes auch in anderen Armeeteilen als eine schwierige Frage,
die schließlich darauf hinausläuft, ob hier der Verteidiger seine Kampf-
mittel, wie sie ihm nun einmal zu Gebote standen, voll und bestens
ausgenutzt hat oder nicht!
Daß im besonderen Ausfälle aus einer belagerten Festung heraus
heutzutage schwieriger und gefährlicher denn je geworden, das er-
geben schon die Raum- und Maßenverhältnisse einerseits, wie die
Masse und Gewalt der zeitigen Fernfeuerwirkung anderseits. Um
also bei dem nächstliegenden Kriegsbeispiel zu bleiben, so fällt von
Um Forts und ihre Intervalle. 65
verpaßten Gelegenheiten zu größeren Ausfällen dort, bei Port Arthur,
wohl am meisten die auf, daß gegen die tagelangen Auguststürme
gegen die Front II—III nichts von dem durch die Tempel- und
Wasserleitungsredoute gedeckten Raume aus unternommen wurde.
Eine bessere Gelegenheit zu einem kräftigen Flankenstoß konnte es
ja gar nicht geben! Den günstigen Ausgangspunkt hatten denn auch
die Russen wohl erkannt. Sie versuchten ihn sogar auszunutzen,
indem sie nach dem Verlust der Redouten 1 und 2 (am 22. August
1904) von hier aus auch einen Vorstoß einer Kolonne von drei
Kompagnien ansetzten, die zu einer bestimmten Nachtstunde
(3 Uhr) die Redouten von feindwärts angreifen, worauf dann ein bei
der Abschnittsreserve bereitgehaltenes Bataillon von rückwärts hinzu-
kommen sollte! Der Verlauf dieses Unternehmens war nun ein recht
kläglicher, weil die erstbezeichnete Kolonne sich einfach — nach
rückwärts (!) verirtte und die andere Kolonne allein nicht hinreichte.
Wenn es nun nach unserer Auffassung hier, wie anderwärts, des Ein-
satzes von mindestens einer Brigade mit Maschinengewehren, wenn
nicht Ausfallgeschützen, bedurft hätte, um überhaupt einen nennens-
werten Erfolg zu erlangen, so darf man sich doch nicht verhehlen, daß
jeder bezügliche Erfolg immer ein sehr fraglicher bleibt. Hängt doch der
Verlauf von dem Zusammentreffen der verschiedensten Umstände ab.
Das Risiko ist denn auch noch am ehesten gerechtfertigt zum Zwecke
der Hebung des moralischen Elements der fortgesetzt bedrängten Be-
satzung; daß sie auch mal in die Lage komme, den Angreifern ein
„Quos ego!“ zuzurufen; aber kaum je einmal, um direkte, rein materielle
Erfolge zu erzielen.
Die Gefährdung der Ausfälle durch die Belagerungsartillerie ist
dabei, wenigstens nach den zum Vergleich geeigneten Umständen bei
Port Arthur, nicht allzu groß. Zwar sind die Berichte voll von
den gewaltigen Zerstörungen und Verwüstungen der Werke usw. infolge
des konzentrierten Artilleriefeuers.. Die Verteidigungsanlagen, zumal
die behelfsmäßigen, waren bald nahezu vollständig zerstört, so daß es
geradezu merkwürdig erscheint, daß trotzdem diese Trümmerhaufen
immer noch besetzt bleiben konnten. Es muß aber doch
möglich gewesen sein! Ebenso war und blieb es während der
ganzen Belagerung noch angängig, die Reserven allenthalben frei über
das Feld, noch dazu ziemlich weit, heranzuführen, sowie daß höhere
Offiziere sich zu Pferde hin und her begaben. Bringt man noch eine
gewisse Schwerfälligkeit mit in Anschlag, die der heutigen, meist ver-
deckten Feuerstellung und getrennten Leitung anhaftet, so braucht
man noch nicht die fragliche Gefährdung der Ausfälle als übermäßig
anzunehmen. Groß genug wird aber immer noch das Risiko und recht
Jahrbücher für die deutsche Armee und Marine, Nr. 514. 5
66 Um Forts und ihre Intervalle.
kompliziert die die verschiedensten Umstände in Betracht ziehende
Anordnung bleiben '!).
Eine besonders hier in Betracht kommende Rolle fiel bei Port
Arthur dem Hohenberg im September-Dezember zu, nämlich die eines
vorgeschobenen Postens und Kampfobjekts. Es waren somit nicht
nur die Vorbedingungen gegeben, sondern es lag dort die dringende
Notwendigkeit vor, mit äußeren Reserven einzugreifen: Der an-
gesetzte Angriff ermöglichte, das Gelände begünstigte, die mangelhafte
Befestigung erforderte es. War doch der natürliche Angriffspunkt,
die Südwestecke des Berges, ohne jeglichen Rückhalt, ihr Vorgelände
von keinem Teil der Hauptstellung zu bestreichen, noch, mangels an
Wurfgeschützen, zu bewerfen! Dabei betrug die Entfernung dieser
Südwestecke von der Hauptstellung nur 2000 m. Aber für die
dortigen Verhältnisse war sie schon zu groß. Ein Übelstand übrigens,
der, als solcher rechtzeitig erkannt, wohl bei Anlage der Befestigung,
wenn auch nicht vermieden, so doch sicher wesentlich hätte herab-
gemindert werden können.
Von weiteren einschlägigen Erfahrungen und auffälligen Vorgängen
bei Port Arthur, kommen hier noch in Betracht:
Die Hauptaktionen, die Stürme sind von den Angreifern zunächst
nachts angesetzt. Bei der beiderseitigen großen Ausdauer zogen
sich die Stürme, immer von neuem angesetzt, tage- und nächtelang
hin — ohne besonderen Unterschied; gegen Ende der Belagerung
wurden die Nächte — trotzdem sie länger geworden und das Ge-
schick durch Gewohnheit beiderseits sicherlich gewachsen war —
nicht mehr bevorzugt; im Gegenteil. es wurden gewissermaßen
Schaukämpfe aufgeführt. Das Nachtschwärmen muß sich wohl als
unnötig, wenn nicht unzweckmäßig erwiesen haben.
In bezug auf die geleistete Fernfeuerwirkung bliebe noch zu
ergänzen, daß bis auf 6000 m gute Einzeltreffer und bis 7000 m
immer noch eine gewisse Wirkung erreicht sind; wogegen auf nahe
Entfernung ein empfindlicher Mangel daran hervortrat, so daß auf
1) Es dürfte wohl von Interesse sein, welche Ansicht über die Frage
der Ausfälle in Frankreich vorherrscht. Diese ist aus einer Besprechung
der Vorgänge bei Port Arthur im Juliheft 1913 der Revue mil. gen. klar
zu ersehen. Das Verfahren der Russen findet darin in der Hauptsache
volle Billigung; im besonderen werden — nach der Einschließung —
größere Ausfälle verworfen, weil sie keine Aussicht auf genügenden
Erfolg haben, auch das moralische Element nicht heben könnten, da sie
ja doch mit einem Rückzug endigen müßten. Dagegen werden kleine
Ausfälle, nach dem Beispiel der Verteidigung von Belfort, die „sehr aktiv“
gewesen wäre, angelegentlichst empfohlen.
Um Forts und ihre Intervalle. 67
Wurf- und Schleudergeräte zurückgegriffen werden mußte. Zu ent-
scheidenden Erfolgen waren nach wie vor die mittleren und
mäßigen Entfernungen nötig, bei denen eben eine genügende Beobachtung
noch gesichert und nicht durch Witterung und Tageslicht wesentlich
beeinträchtigt wurde. So sind denn auch die Belagerungsbatterien,
die zunächst auf 3—5 km angelegt waren, immer näher, bis auf
2000 m, ja teilweise bis auf nächste Entfernung, herangegangen.
Zur wirksamen Abwehr erwies sich die Entfernung von 2000 m schon
als äußerste Grenze, bewegtes, nicht zu übersehendes Gelände
schränkte den Wirkungsbereich noch weiter ein.
Daß die Belagerungsartillerie sich den bei Port Arthur vor-
handenen Befestigungen als unwiderstehlich erwiesen, ist schon be-
rührt. Es hat sich eben auch hier einwandfrei herausgestellt, daß
Ziele von behelfsmäßiger- bzw. Armierungsart gegen das
zeitige Fernfeuer nicht ohne weiteres widerstandsfähig genug
herzustellen sind. Es wäre denn durch bessere Ausnutzung von
(wie bei Port Arthur) vorhandenem Stein- und Felsgelände. Sonst
aber bleibt die Aufgabe, behelfsmäßige Verteidigungsanlagen, deren
Beschießung durch Zielfeuer zu gewärtigen ist, widerstandsfähig
herzustellen und so lange wie nötig zu erhalten, noch ein
Problem.
Das betrifft nicht nur die Brust- und Deckwehren wie
Unterstände, sondern auch die Hindernis- und Unterkuntts-
mitte. Zumal die Hindernismittel haben sich vor Port Arthur
wenig genug bewährt. Sie haben nach den Berichten nirgends einen
wesentlichen Aufenthalt usw. verursacht. Wieviel von diesem Ver-
sagen auf die meist dürltige Ausführung, wieviel auf unzureichende
Bewachung zurückzuführen ist, läßt sich schwer feststellen, immerhin
bleibt der Rest des Mankos noch groß genug. Daß die Draht-
hindernisse bisher auch bei uns überschätzt wurden, wie bei den
Russen die Feldminen, war ja den Unbefangenen längst klar. Das
Gesetz von der Erhaltung der Kraft gilt eben auch hierbei: Hinder-
nisse, die so gar leicht anzulegen sind, lassen sich auch entsprechend
leicht beseitigen. Auch kommen die Angreifer nicht mehr wie
früher in Kolonnen, sondern in zwangslosen Gruppen, mit gehöriger
Vorbereitung; sie achten auch nicht — wie wohl im Frieden — auf
ein Paar Schrammen und zerrissene Hosen, wo es auf Tod und
Leben geht! (Daß sich unter anderen, entsprechenden Umständen
gut bewachte, solide Drahthindernisse, zumal gegen Angreifer wie die
Montenegriner vor Skutari, bewährt haben, ist wohl richtig; hier aber
handelt es sich um die Widerstandsfähigkeit gegen geplante und
gehörig vorbereitete Angriffe.) Recht bezeichnend und geradezu
Ə
68 Um Forts und ihre Intervalle.
lächerlich war der Mißerfolg mit dem famosen elektrisch geladenen
Drahtzaun, der „die Japs wie Fliegen an einer Leimrute einfangen
sollte“. Natürlich umzog der Zaun — ohne Lücke — die Hauptfronten.
An Ausfälle dachte man eben gar nicht. Wie denn auch von der
Befestigung von Adrianopel berichtet wird, daß das Hindernis fort-
laufend die ganzen Abschnitte umschlossen hätte! Und allenthalben
werden sich darbietende vorhandene oder einzurichtende natürliche
Hindernisse wie Anstauungen — als überwiegend vorteilhaft — un-
bedenklich ausgenutzt!
Mag man nun über die Ausführung und Ausnutzung von Be-
festigungen vor Port Arthur — oder sonstwo —, über deren Zweck-
mäßigkeit und Mängel urteilen wie man wolle, man kann darum
noch nicht die Befestigungskunst als bankerott erklären, noch be-
haupten, daß eine widerstandsfähige Befestigung nicht mehr zu schaffen
wäre. An Mitteln, die geeigneter und stärker als die dort angewandten,
fehlt’s wahrlich nicht; es kann naturgemäß nicht an solchen fehlen,
die denen das Angriffs entsprechen. Es handelt sich vielmehr immer
nur — oder doch: hauptsächlich — darum, die entsprechenden
Aufwendungen zu machen. Es haben denn auch selbst die
Russen, die bis Port Arthur grundsätzlich Panzer verworfen hatten,
eingesehen, daß solche Grundsätze zwar billig, aber doch nicht immer
ausreichend sind. Gleichwohl erscheint es praktisch noch aus-
geschlossen, daß bei ihnen wie bei uns fortan eine so -ausgiebige An-
wendung von genügend starken und entsprechend teuren Befestigungs-
mitteln so allgemein wird, daß dadurch die Verteidigung nach Bedarf
verstärkt und gewährleistet werde. Dann aber, d. h. wenn und wo
dies nicht der Fall ist, erübrigt m. E. wohl nur noch, die Ver-
teidigung so anzuordnen und zu führen, daß sie — in Gemäßheit der
eben zu Gebote gestellten (Geld-) Mittel — das eben Mögliche leiste,
und zwar unbedingt und zuverlässig, also ohne besondere Annahme
und ohne An echnung von nur in Aussicht stehenden Vorteilen und
unerprobten Abhilfen.
Zu letzteren müßten füglich auch die z. Zt. viel empfohlenen
Verteilungen und Maskierungen gerechnet werden. Nicht nur,
weil sie im Ernstfall sich sehr viel schwerer anwenden lassen, als sich
die Schulweisheit träumen läßt, sondern weil sie geradezu verfänglich
und gefährlich sind. Hier ist das Wort von dem Wert des Einfachen
im Kriege am Platz! und — zweifellos ablehnend. Natürlich immer
nur im allgemeinen.
Eine bloße Verteilung wäre wohl am meisten noch in der Art
anwendbar, daß sie mehrfache Stellungen darbietet, zur Benutzung
nach Wahl und Umständen. Wenn die Russen vor Mukden in diesem
Um Forts und ihre Intervalle. 69
Sinne ihre zahlreichen Schützengräben angelegt hätten, würde man
ihnen keinen Vorwurf deshalb machen können.
Wie denn überhaupt und im großen ganzen die derzeitigen
Kampfbedingungen so geschraubt und die in Frage kommenden Um-
stände als so vielfach und wechselnd angesehen werden müßten, daß
für die Verteidigung allgemeingültige Anordnungen wie Normal-
Formen nicht mehr genügen; selbst wenn man die sehr gesteigerte
Verteidigungskraft zeitiger Kampfmittel (wie der Maschinengewehre)
in Anrechnung bringt, die die Herstellung widerstandsfähiger Posten
an Stellen gestattet, die der Übermacht des Angreifers entzogen sind
oder werden können. Daß einzelne Punkte leichter und sicherer, selbst
mit besonderem Fleiß und Geschick zu befestigen sind, als lange
Fronten, liegt auf der Hand. Kommen noch besondere örtliche Vor-
teile oder Bedürfnisse hinzu, so ergeben sich wohl ungezwungen und
ungesucht Lageverhältnisse, die zu vorgeschobenen wie zurück-
gehaltenen Posten, überhaupt zur Tiefengliederung führen
(die sich aber von der eben verworfenen allgemeinen Verteilung und
Verzettelung dadurch wesentlich unterscheiden, daß die einheitliche
Kampfleitung — wenn auch nicht immer zeitlich — besser gewahrt
ist und gesichert werden kann).
Daß vorgeschobene Posten offensiven Vorstößen Vorschub
leisten, ja zu ihnen direkt anregen, ist schon oft genug dargelegt,
wie es auch aus dem Vorstehenden hervorgeht. Aus den angegriffenen
Fronten heraus sind sonst gegen den — normal — übermächtigen
Angreifer größere Ausfälle ausgeschlossen. „Die zur Abwehr über-
legener Kräfte sachgemäß hergerichtete Front einer Stellung ist nach
wie vor erfolgtem Kampfbeginn zu starkem, überraschendem Vorstoß
am wenigsten geeignet.“ (Fritsch) Wie früher die Raveline (und
Außenwerke), so geben heutzutage erst die vorgeschobenen Werke
Gelegenheit, aus dem Gürtel heraus Ausfälle anzusetzen und durch-
zuführen.
Rückwärtige Stellungen aber haben eine ähnliche Bedeutung
wie Reserven. Sie bilden auch nötige Ergänzungen verloren ge-
gangener Widerstandsfähigkeit der Hauptstellung, oder auch: je
weniger es nunmehr gelingt, die Hauptstellung dauernd sturmfrei
zu erhalten und damit ihre Behauptung zu sichern, um so dringlicher
wird die Vorsorge für eine Reservestellung,. Eine solche gibt zudem
am ehesten einen gewissen Rückhalt, wie ihn auch die Anleitung
für den Kampf um Festungen würdigt, wenn sie nach Empfehlung
des Ausharrens in der Hauptstellung gleichwohl das Festsetzen des
Angreifers in der Hauptstellung durch die Anlage von rück- und seit-
wärtigen Batterien gehindert wissen will.
Festungs-
besatzungen.
70 Umschau: Belgien.
Zugunsten von rückwärtigen Stellungen kann denn auch ebenso
wie für die Reserven die Kriegsgeschichte aller Zeiten zum Zeugnis
herangezogen werden. Aus letzter Zeit mag hier nur an die Be-
deutung der rückwärtigen Stadtumwallung bei unserem Angriff auf
die Südforts von Paris wie auch an die folgenschwere Vernachlässigung
der rückwärtigen Stellungen hinter der unhaltbar gewordenen An-
griffsfront von Port Arthur erinnert werden.
Das Vorzugsrecht der Hauptstellung bleibt deshalb un-
angefochten; aber gerade die Größe und Bedeutung ihrer heutigen
Aufgabe ist es, die eine Entlastung wie angegeben, neuerdings dring-
licher denn je erscheinen läßt.
Umschau.
Belgien.
Unter dem Gouverneur — im Frieden ist ein General Kommandant
der Festung — setzen sich die Festungsbesatzungen der Festungen
Lüttich und Namur im Mobilmachungsfalle folgendermaßen zu-
sammen:
1. Infanterie: Die vierten Züge der Kompagnien des 14. Linien-
regiments in Lüttich bzw. des 13. Linienregiments in Namur bilden
die Fortsbesatzungen; diese Züge werden noch durch je 35, bei der
Feldarmee keine Verwendung findende Kavalleristen, die zum Infanterie-
dienst herangezogen werden, verstärkt. Außerdem werden aufgestellt:
In Lüttich 4 Regimenter, und zwar 3 zu 3 Bataillonen zu je 4 Kom-
pagnien und 1 zu 4 Bataillonen zu je 3 Kompagnien, zusammen
48 Kompagnien. In Namur ebenfalls 4 Regimenter, und zwar 3 zu
3 Bataillonen zu je 4 Kompagnien und 1 zu 3 Bataillonen zu je
3 Kompagnien, zusammen 45 Kompagnien. Jedem Regiment wird
eine Maschinengewehrkompagnie zugeteilt.
2. Feldartillerie: Für jede Festung 3 Batterien zu je vier
7.5 em-Schnellfeuergeschützen; einstweilen bis zu deren definitiver
Aufstellung 3 Batterien zu je 6 Geschützen, die früher der reitenden
Artillerie angehörten.
3. Fußartillerie: In Lüttich 4 Bataillone mit zusammen
12 aktiven und 4 Reservebatterien, in Namur 3 Bataillone mit zu-
sammen 9 aktiven und 3 Reservebatterien.
Umschau: Belgien, Bulgarien, Deutschland. 71
4. Pioniere: In jeder Festung je ein Bataillon, bestehend aus
1 Pontonier-, 2 Sappeur-Mineur-, 1 Telegraphen- und 1 Schein-
werferkompagnie.
5. Transportkorps: In jeder Festung eine Kompagnie. A.
Bulgarien.
Der Militäretat Bulgariens für 1914 beträgt, Meldungen aus
Sofia zufolge, 52 972503 Frs. gegenüber 40 221248 Frs. im Vorjahre.
Diese Mehrforderungen werden mit der Notwendigkeit einiger Neu-
aufstellungen begründet, die teils durch die Gebietsvergrößerung des
Landes, teils durch die im letzten Kriege gemachten Erfahrungen
herbeigeführt wurde. Eine neu aufzustellende (10.) Infanteriedivision
ist für die neuen Gebiete in Thrazien bestimmt. Die 40 bestehenden
Infanterieregimenter zu je zwei Bataillonen sollen jetzt auch schon im
Frieden ein drittes Bataillon zu zwei Kompagnien erhalten, die aus
den schon bestehenden Kadern gebildet werden; nur die Reserve-
. regimenter sollen im Frieden noch aus Kadern bestehen.
Die Kavallerieregimenter sollen sämtlich zu vier Eskadrons auf-
gestellt werden und sämtlich Maschinengewehrabteilungen erhalten.
Die gesamte Kavallerie soll in drei Brigaden eingeteilt werden, deren
Kommandos und Stäbe neu zu bilden sind.
Die Artillerie erhält 15 neue Feld- und eine reitende Batterie,
die im Mobilmachungsfall eine der Kavallerie zuzuteilende Batterie-
division formieren soll. Acht neue Gebirgsbatterien sollen deren Zahl
auf 20 erhöhen, die wie bisher in drei Regimenter geteilt werden.
Die Festungsartillerie endlich wird um drei neue Batteriedivisionen
vermehrt.
Bei dieser Artillerievermehrung haben die Erfahrungen des letzten
Krieges ganz besonders mitgesprochen. Wie aus den vorgenannten
Zahlen ohne weiteres hervorgeht, ist man dabei, den Truppen immer
mehr Gebirgsartillerie zuzuweisen, da bei der Geländebeschaffenheit
und dem Wegemangel der voraussichtlichen Balkan-Kriegsschauplätze
die Feldartillerie nur selten rechtzeitig zum Gefecht eintreffen konnte,
während die Gebirgsartillerie selbst unter den schwierigsten Verhält-
nissen vorwärts kam. W.
Deutschland.
Am 23. Mai gegen Mittag fanden in der Schießbaumwollfabrik
der Deutschen Sprengstofffabrik Düren kurz hintereinander zwei
Explosionen statt, wie in der Zeitung berichtet wurde, „durch Losgehen
einer Patrone“, wodurch die Fabrik mit den Erdwällen und Mauern
Heeresver-
stärkungen.
Explosion
in einer
Schießbaum-
wollfabrik.
Funken-
telegraphie.
72 Umschau: Deutschland.
zum größten Teil zerstört wurde. Während am ersten Tage nur von
21 mehr oder minder schwer Verletzten berichtet werden konnte,
mußte tags darauf gemeldet werden, daß bei den Räumungsarbeiten
bisher 5 Arbeiter als Leichen gebo’gen wären und daß noch vier
weitere vermißt würden. Es handelte sich um eine Nitrozellulose-
explosion, als deren Ursache „elektrische Erscheinungen“ angegeben
werden, — eine Annahme, die vielleicht nicht ohne weiteres von der
Hand zu weisen ist, da gleich nach der Explosion ein außerordentlich
starkes Gewitter auftrat. W
In Deutschland umfaßt die Funkentelegraphie feste, fahrbare
und Luftschifferstationen.
1. Die festen Stationen, sogenannte Radiogroßstationen, befinden
sich in den großen Festungen. Ihre Reichweite bis zu 1000 km ge-
stattet, daß selbst die an der äußersten Grenze gelegenen Stationen
mit der Station Nauen sowohl wie mit Luftschiffen auf der Fahrt in
Verkehr treten können.
2. Die fahrbaren oder Feldstationen, die den höheren Kommando-
stäben zugeteilt werden, sind auf sechsspännigen Fahrzeugen unter-
gebracht, von denen die Protze die Empfangs-, der Hinterwagen die
Sendeapparate, den Motor und die Dynamomaschine enthält. Die
Fahrzeuge haben einen teleskopartig ausziehbaren Antennenmast. Die
aufgenommenen Wellen werden in Summertöne umgesetzt, die mittelst
eines Fernhörers aufgenommen werden. Man unterscheidet schwere
und leichte Stationen, erstere mit etwa 200 km, letztere mit etwa
60 bis 70 km Reichweite. Bei den schweren Stationen sitzt das
Bedienungspersonal auf den Fahrzeugen auf; solche Stationen werden
dem Großen Hauptquartier, den Armeeoberkommandos und Kavallerie-
divisionen, ausnahmsweise auch Generalkommandos, zugeteilt. Jede
dieser Stellen verfügt im allgemeinen über zwei Stationen, die ab-
wechselnd im Betriebe sind. In der Bewegung bleibt die eine Station
so lange im Betrieb, bis die andere an einer neuen Stelle betriebs-
fähig ist; während der Ruhe bildet die eine Station die Reserve der
anderen. Aufbau und Abbau der Station dauert etwa 15 Minuten.
Bei den leichten Stationen ist das Bedienungspersonal beritten, das
Gerät ist im ganzen leichter; solche Stationen werden den Auf-
klärungseskadrons der Kavalleriedivisionen zugeteilt, wodurch sie be-
fähigt werden, die bei ihnen einlaufenden Aufklärungsmeldungen der
Fernpatrouillen auf schnellste Weise über die Kavalleriedivisionsstäbe
an die Armeeoberkommandos zu befördern.
3. Luftschifferstationen werden den Luftschiffen zugeteilt; sie
können nur Nachrichten und Meldungen senden, nicht aber empfangen;
ihre Reichweite beträgt bis zu 300 km. A.
Umschau: Frankreich. 73
Frankreich’).
Die im vorigen Bericht gebrachten Erläuterungen zu dem ge- Durchführung
nehmigten Kadergesetz erfahren eine wichtige Ergänzung durch die n
unterdes bekannt gewordenen Ausführungsbestimmungen des Kriegs- 15. April 1914
ministers vom 16. April und unter diesen wollen besonders die eine für Artillerie.
Durchführung der Reform und Neugliederung der Artillerie betreffenden
besonders wichtig erscheinen, da sie mit der vollen Durchführung schon
1914 abschließen wollen und — wie übrigens auch bei der Geniewaffe —
eine Eile zum Ausdruck bringen, die bezeichnend ist. Die Verfügung
des Kriegsministers unterscheidet drei Etappen, von denen die
erste schon am 1. Mai in Wirkung trat, vor Bekanntgabe der Be-
stimmung schon absolut vorbereitet war, während dies bei den beiden
anderen von langer Hand her geschieht und zwar zum 1. Juli und
1. Oktober 1914, da man jede Reibung vermeiden und ganz sicher
gehen will. Der Erlaß dringt nämlich nicht nur auf Schaffung
siner zahlreichen schweren Artillerie des Feldheeres,
sondern führt gleichzeitig auch eine Etatserhöhung von Stäben und
Einheiten — letzterer besonders auch an Pferden — durch, die zu
denken gibt und gewissen offiziösen Optimisten bei uns, da sie ab-
solut unbestreitbar ist und französischerseits amtlich zugegeben wird,
sehr unbequem kommt.
Am 1. Mai traten an Neubildungen ein:
1. Schaffung von 8 reitenden Batterien auf hohem Etat (192 Pferde)
und Umwandlung von 6 fahrenden auf hohem Etat in reitende,
solche, deren man dann 30, d. h. für jede der 10 auch mit
Radfahrertruppen und Sapeurzügen auf Rädern dauernd aus-
gestatteten Kavalleriedivisionen haben wird. Man hat 14 früher
aufgelöste reitende Batterien neu bilden müssen und wir kommen
vielleicht zu derselben Notwendigkeit.
2. Neuschaffung von 3 schweren 15,5 em-Haubitzbatterien unter
Umnumerierung und anderer Verteilung auf die Regimenter.
3. Neubildung von 8 fahrenden Batterien auf hohem Etat.
4. Umwandlung von 22 Fußbatterien in solche der schweren
Artillerie des Feldheeres und Ausstattung dieser Batterien mit
Bespannungen von fahrenden Batterien, die bei diesen sofort
ersetzt werden.
5. Änderungen im Sinne der Erhöhung der Etats der schweren,
fahrenden 7,5 cm-, Gebirgs- und reitenden Batterien. Außer
Etatserhöhung zum Termin der ersten Etappe also 19 neue,
Umwandlung von 28 vorhandenen Batterien.
1) Bewertung des während des Drucks ans Ruder gekommenen
Kabinets Viviani und seines Militärprogramms im nächsten Bericht.
74 Umschau: Frankreich.
Die zweite Etappe, 1. Juli, bringt an Neubildungen bzw. Ver-
änderungen:
a) Neubildung von 9 schweren Batterien des Feldheeres.
b) Neuaufstellung der Stäbe des 1., 3., 5. schwerer Artillerie des
Feldheeres (Garnisonen schon im vorigen Bericht angegeben)
unter gleichzeitiger Umwandlung derjenigen der Fußartillerie-
regimenter 2 und 4 in solche.
c) Umwandlung der Stäbe von 3 Abteilungen in Afrika in selb-
ständige und Errichtung der Stäbe von 3 selbständigen Ab-
teilungen dort.
d) Neuaufstellung von 3 Gebirgsbatterien.
Für die letzte Etappe, 1. Oktober 1914, bleiben dann:
Schaffung von 3 weiteren Batterien der schweren Artillerie des
Feldheeres, unter gleichzeitiger Erhöhung der Etats der Stäbe der
Feld- und Gebirgsartillerieregimenter und der selbständigen Abteilungen
in Afrika. Da die 15,5 em-Haubitzbatterien (21 + 3) den schweren
Regimentern zugerechnet werden, so hat man am 1. Oktober 1914
also in 5 Regimentern der schweren Artillerie des Feldheeres bereits
24 + 22 + 9 + 3 = 58 Batterien verfügbar, von denen 12 in
Zukunft noch verdoppelt werden sollen, so daß man dann
70 Batterien der schweren Artillerie des Feldheeres haben
würde. Daß die höheren Etats an Pferden unseren Batterien gegen-
über die Mobilmachungsbereitschaft steigern, wurde schon im vorigen
Bericht gesagt. Ähnliche Eile ist übrigens bei der Geniewaffe zu
verzeichnen, bei welcher am 1. Mai schon die im vorigen Bericht
verzeichneten sämtlichen Neubildungen bewirkt sein sollen. In
einzelnen französischen Blättern ist jüngst der Zuflu zu den
Spahiregimentern als zu gering und die französischen Angehörigen
dieser Regimenter als zu zahlreich bezeichnet worden. Demgegenüber
ist festzustellen, daß bei den heute vorhandenen 27 Eskadrons Spahis
mit rund 5000 Mann nur 900 Franzosen stehen. Der Zustrom der
Araber ist dabei so groß, daß im Laufe eines Jahres die Regimenter
schon den ganzen Bestand der beiden neu zu formierenden haben
konnten. Was die „schwarze Armee“ anbetrifft, so hat der
Generalgouverneur von Französisch-Westafrika die am 7. Februar 1914
eingeführte Aushebung zunächst außer Kraft gesetzt, da die frei-
willigen Meldungen zum Eintritt und zum Weiterdienen so zahlreich
ausfallen, daB man nach Versicherung des genannten Gouverneurs jede
Zahl von neuen Einheiten bilden könnte. Man wird aber demnächst
auf eine Reserve sinnen müssen, weil die Ablösung der schwarzen
Truppen geboten erscheint, um sie nicht gesundheitlich leiden zu
lassen.
Umschau: Frankreich. 75
Die neue Einteilung der Kavalleriedivisionen in Frankreich vom _ Neue
15. April ab weist bei der 1. Division, Paris, 7 Regimenter (dazu eo
wie bei allen 3 reitende Batterien und Radfahrertruppen), bei der Kavallerie-
zweiten Lunéville 8, der 3. Kompiene 8, der 4. Sedan 8, der 5. Reims 6, division.
der 7. Melun 9, der 8. Döle 8, der 9. Tours 8 und der 10. Montauban 9,
Regimenter auf. wobei die Zusammensetzung der 10. noch geändert
werden kann, wenn die Chausseursregimenter 22 und 23 gebildet
worden sind.
An Stelle des noch in der Aktivität, wegen Führung vor dem Oberer
Feinde, belassenen General Gallieni ist General D’Amade, bisher en í
Kommandeur des VI. Korps, zum Mitglied des oberen Kriegsrats er- stabsreisen.
nannt worden, er ist 58 Jahre alt und aus der Infanterie hervor-
gegangen. An die Spitze des VI. Korps trat der bisherige
kommandierende General des VIII., Sarrail, und an dessen Stelle über-
nahm General Castelli, auch 58 Jahre alt, Kavallerist, das VIII. Armee-
korps. In der Armee wird jetzt wiederum darauf gedrungen, daß
man für größere Stabilität im Kriegsministerium sorge oder aber
wenigstens im oberen Kriegsrat ein Gegengewicht erstrebe. Man führt
mit Recht an, daß im Laufe von drei Jahren sechs Kriegs-
minister einander folgten, von den wichtigen, grundlegenden
Gesetzen, die die Armee von 1911 bis 1914 vollständig wandelten,
der eine Kriegsminister die Gesetze entwarf, der andere sie im
Parlament zu vertreten hatte und ein vierter und fünfter sie durch-
führen mußten. Sehr frühzeitig hat man in diesem Jahre mit den
Armeegeneralstabsreisen begonnen und auch die dafür ge-
wählten Gelände hatten besondere Bedeutung. Der Chef des all-
gemeinen Generalstabes, Joffre, leitete eine zwei Armeen mit allen Dienst-
zweigen umfassende vom 27. April bis 3. Mai dauernde Armeegeneral-
stabsreise in der Gegend zwischen Soissons-Reims, Läon-St. Quentin.
Beteiligt waren 25 Generale und 250 sonstige Offiziere aller Waffen.
Die blaue Armee wurde von General Ruffey, die rote von General
Castellnau, beide Mitglieder des oberen Kriegsrats, kommandiert. In
St. Quentin fand die Schlußbesprechung statt, bei welcher auch die
Armeebefehle kritisiert wurden und die „Anleitung für die
Führung großer Verbände im Kriege“ eine Hauptrolle spielte.
Der „Dienst im Rücken der Armee“ wurde von General Laffond
de Ladebat geleitet, was um so wichtiger, als durch Erlaß vom
8. Dezember ja eine neue Instruktion für den Dienst im
Rücken der Armee herausgegeben worden ist. Eine andere
Generalstabsreise im Armeeverbande leitet vom 18.—23. Mai in der
Gegend Epinal-Baccarat — wieder an unserer Grenze — General
Dubail, Mitglied des oberen Kriegsrats.
Marine.
76 Umschau: Frankreich.
Der oben berührte häufige Wechsel im Kriegsministerium hat
nicht die Folge gehabt, das Ausbildungsprogramm für die Armee 1914,
festgestellt im letzten Quartal 1913, zu ändern und namentlich auch
die große Festungsübungen abzusetzen. Solche Übungen werden bei
Epinal in der Zeit vom 30. August bis 10. September stattfinden,
und bei ihnen ist bemerkenswert, daß der Verteidiger an
Infanterie um eine volle Brigade stärker gehalten wird,
als der Angreifer. An den Manövern sind beteiligt auf seiten des
Angriffs, unter Führung des kommandierenden General des XXI. Korps,
Legrand, dessen auf Kriegsstärke gebrachte 13. Division mit allen
ihren Teilen, eine Anzahl Einheiten der schweren Artillerie des Feld-
heeres, eine Kompagnie Telegraphisten und Funker, Belagerungs-
artillerie- und Genieparks sowie Luftschifferformationen, beim Ver-
teidiger, (General Bauger, Gouverneur von Epinal, 1 Reserve-
division aus 2 Brigaden mit den für den Krieg designierten
Fahrern, 2 Festungsregimenter, 1 Eskadron, 2 fahrende,
3 Festungsbatterien, Festungsgeniekompagnien, Telegraphisten- und
Funkerformationen sowie Scheinwerfer. Wenn man die Einführung
der progressiven Manöver für alle bis auf III., X. und XV. Korps in
dem Ausbildungsprogramm für 1914 mit Rücksicht auf die 1913 bei
einem Teil der höheren Führung und in bezug auf Zusammenwirken
der Waffen auf den Gefechtszweck hin gemachten Erfahrungen für
durchaus richtig und zweckmäßig hält, so stimmen doch schon seit
einem Jahre weitere Kreise der Armee dafür, daß zur Ausbildung
der höheren Führer und der Truppen Manöver in größeren Verbänden
unabweisbar notwendig seien. Generalstab und oberer Kriegsrat haben
sich dieser Ansicht jetzt angeschlossen und sie in dem Übungsprogramm
für 1914 schon in die Praxis übersetzt. Man will die Erfahrung ge-
macht haben, daß bei Armeeabteilungen von nur 2 Armeekorps, die
Armeeführer sich zu unmittelbar an die Divisionen wendeten und
damit die Selbsttätigkeit der kommandierenden Generale lähmten.
Man will aber in Zukunft auf jeder Seite mindestens 3 Armeekorps
und 1 Kavalleriedivision bei den Armeemanövern auftreten sehen
und die kommandierenden Generale dadurch zu Befehlen veranlassen;
wie sie dieselben auf Grund der Direktiven der Armeeoberkom
mandierenden im Felde geben müssen. Ein Teil der Armeekorps, die
nicht an den Armeemanövern beteiligt sind, wird mit Korpsmanövern
gegen den markierten Feind endigen, ein anderer mit Manövern von
zwei benachbarten Korps gegeneinander.
Nach einem vom Kriegs-und Marineminister gegengezeichneten Erlaß
des Präsidenten der Republik sind die Gouverneure der Haupt-
seekriegsplätze an der Küste in den Arrondissements, an deren
Umschau: Frankreich. 77
Spitze sie stehen, der Marine entnommen und als solche für alles,
was die Verteidigung zu Lande betrifft (Truppenetablissements, die
vom Kriegsminister resorbieren), von den betreffenden kommandierenden
Generalen abhängig, haben für ihre Tätigkeit als Gouverneur einen
General der Landarmee und ein Admiral oder Stabsoffizier der Marine
zu ihrer Unterstützung. Der Verteidigungsausschuß an solchen Plätzen
besteht aus dem Gouverneur und den ihm Zugeteilten, nämlich Chef
des Admiralstabes, Greeneralstabschef des Arrondissements, ältester
Oberst der Infanterie, Vorstand des Artilleriedepots, Geniedirektor,
Generalkommissar der Marine und Intendant.
Das Jahr 1914 erhält einen besonderen Stempel durch die erste
Rate der Vermehrung der Flottenbemannung um 5000 (1915
wird sie 74000 Mann betragen), ermöglicht durch die dreijährige
Dienstzeit, so auch durch die Armierung für 1915 und den Druck,
den nicht allein die Flottenliga auf dauernde Steigerung des
Marinebudgets auf 600 Millionen ausübt, sondern daß diese
und die öffentliche Meinung auch eine Vermehrung der Flottenkräfte
im Mittelmeer dringend verlangen.
Als Hebel dazu posaunt man wieder aus, man werde in abseh-
barer Zeit nicht mehr zwei Drittel, sondern nur noch die Hälfte der
deutschen Flottenkräfte aufweisen, deutsche Schiffe im Mittelmeer
(die jetzige schwache Kreuzerdivision erscheint dabei als schwarzer
Mann) den Transport der Truppen aus Nordafrika nach Frankreich
absolut stören (bis jetzt hat man diesen stets als absolut gesichert
betrachtet), italienische und österreichische Flottenkräfte im Mittelmeer
würden die französischen sehr bald, ja schon heute, überholen und
die Vorherrschaft Frankreichs im „Französischen Meer“ sei schon
heute in Frage gestellt. Die Beweisführung für die Notwendigkeit
der Vermehrung der französischen Flottenkräfte im Mittelmeer wird.
durch zwei Tatsachen wesentlich abgeschwächt.
1. Durch das völlige Unterlassen des in Rechnungstellens
der britischen Flottenhilfe, mit der man doch sonst stets bis in die '
letzte Zeit positiv gerechnet hat und auf die man sicher auch heute
noch hofft.
2. Durch die nicht ganz zutreffenden bzw. verfrühten
Angaben über den Zuwachs der italienischen und österreichischen
Flotte, für den die Mittel zum Teil noch nicht einmal genehmigt sind,
den man also um so weniger als vollzogene Tatsache betrachten
darf. 1916 werden nach den französischen Fachblättern die Kräfte
im Mittelmeer 40 Schlachtschiffe, 20 Schnellkreuzer, 200 Torpedo-
fahrzeuge aufweisen. Gegenwärtig hat man dort, ebenfalls nach
französischen amtlichen Angaben, 13 Schlachtschiffe, davon 2 Über-
Frankreichs
in Marokko,
78 Umschau: Frankreich.
dreadnoughts, 6 Dreadnoughts, 5 diesen nahekommende, dazu 7 brauch-
bare Panzerkreuzer gegen sieben Linienschiffe in Italien, davon drei,
die man voll als Dreadnoughts rechnen kann, weiter zum Teil auch
nicht vollwertige Panzerkreuzer, zu denen Österreich, das mit drei
fertigen Dreadnoughts rechnet, nur einen Panzerkreuzer fügen kann.
Die heutige französische Überlegenheit läßt sich auch für das nächste
Jahr nachweisen, wenn man nicht in Österreich und Italien ein
rascheres Bautempo einschlägt. France, Paris, treten Mitte dieses
Jahres, Bretagne, Provence Lorraine 1915, Gascogne, Languedoc,
Flandre, Normandie, sind auf Stapel gelegt worden, während sich die
Bauten in Italien und namentlich Österreich (z. B. Szent Istvan) nicht
unwesentlich verzögern.
Der Obere Marinerat hat in seiner letzten Sitzung eine sehr wichtige
Entscheidung für die Einteilung der Flotte getroffen. Das Ober-
kommando der Flotte soll nicht gleichzeitig auch das Kommando eines
der Geschwader bilden, sondern an der Spitze einer von den Ge-
schwadern völlig unabhängigen Sektion stehen. Diese nach Abschluß
der jetzigen Flottenmanöver zu bildende Sektion aus Courbet, Jean
Bart und Gravière bestehen. Die neuen Dreadnoughts France und
Paris treten mit den sechs Dantons zum ersten Geschwader. Vize-
admiral Lapeyrere bleibt noch ein Jahr in seiner bisherigen Stellung
als Oberkommandierender, an der Spitze der beiden Geschwader je
ein Vizeadmiral. Die Kreuzer werden in zwei Divisionen unter je
einem Konteradmiral zusammengestellt und zwar je drei. Die Flottillen
werden nicht mehr dem Befehl eines einzigen Führers untergeordnet,
vielmehr in Flottillen von Torpedo- und Unterseebooten geteilt.
18
Dem „Generalresidenten* Divisionsgeneral Lyantey steht ein
militärischer Stab von 18 Offizieren, Militärärzten, Intendantur-
beamten usw. zur Seite.
Die in Marokko verfügbaren Truppen teilen sich in zwei Gruppen
und zwar in ost- und in westmarokkanische Truppen. Dieser Unter-
schied dürfte auch, nachdem die Stadt Taga am 10. Mai genommen
und somit eine unmittelbare Verbindung zwischen den bisher scharf
gesonderten Landesteilen hergestellt worden ist, doch für die nächste
Zukunft noch beibehalten werden.
In Ostmarokko steht der Brigadegeneral Baumgarten an der
Spitze der Besatzungstruppen. Sein Generalstab umfaßt 9 Offiziere.
Außerdem sind ihm für Kavallerie, Artillerie, Genie, Intendantur,
Gesundheitswesen, Veterinärwesen, Gendarmerie und Zahlwesen be-
sondere Dienststellen zur Verfügung gestellt. Ostmarokko ist ein-
Umschau: Frankreich. 79
geteilt in den Nordbezirk und den Südbezirk. Ersterer zerfällt in das
territoire Udschda unter Brigadegeneral Trumelet-Faber und in das
territoire von Taurirt unter Oberst Pierron. Dem Südbezirk steht Oberst-
leutnant Bertrand vor. An Infanterie stehen in Ostmarokko Marsch-
regimenter des 2. Zuaven-, des 2., 6. und 9. Tirailleurregiments
und der Fremdenlegion. Jedes Marschregiment ist zu 2 Bataillonen
gebildet. Außerdem ein aus einzelnen Abteilungen zusammen-
gesetztes erstes Bataillon leichter afrikanischer Infanterie. An
Kavallerie sind vorhanden das 2. Regiment Chasseurs d’Afrique zu
3 Eskadrons und 1 Marschregiment des 2. Spasiregiments, ebenfalls
zu 3 Eskadrons. Die Artillerie besteht aus 2 Abteilungen mit
2 fahrenden und 2 Gebirgsbatterien, vom Geniewesen sind vorhanden
2 Kompagnien vom 3. und vom 6. Pionierbataillon und 1 Sektion
Telegraphisten vom 8. Pionierbataillon. Außerdem bestechen 1 Marsch-
kompagnie Train, je 1 Marschsektion des Verwaltungs- und Kranken-
trägerdienstes.
Die westmarokkanischen Truppen sind vom Brigadegeneral Ditte
befehligt, dessen Generalstab sich aus 10 Stabsoffizieren und 24 Haupt-
leuten zusammensetzt und dem die gleichen Dienststellen wie den ost-
marokkanischen Truppen, außerdem aber noch solche für Karten-
und für Postwesen unterstellt sind.
Westmarokko ist eingeteilt in die Regionen von Schauja (Brigade-
general Humbert), von Rabat (Brigadegeneral Blondlat), von Fez
(Brigadegeneral Gouraud), von Meknes (Brigadegeneral Henrys), von
Marrakesch (Brigadegeneral Brulard) und das Territorium von Dukkala-
Abda (Oberstleutnant Peltier).
An Truppen aus dem Mutterlande sind vorhanden 2 Zuaven-
marschregimenter zu je 3 Bataillonen (2 vom 1., 2 vom 3. und
2 vom 4. Zuavenregiment), 1 Marschregiment des 2. Fremdenregiments,
6 Marschregimenter (gestellt vom 1., 3., 4., 5.. 7. und 8. Tirailleur-
regiment, das 14. Jägerbataillon Alpenjäger, das 2. und das
3. Bataillon leichter afrikanischer Infanterie, ferner das 1. Regiment
Chasseurs d’Afrique und 1 Marschregiment Spahis, 1 Gruppe Artillerie
mit 8 mutterländischen Batterien, 5 Kompagnien Train (je 2 Es-
kadrons von der 5. und der 17. Eskadron, 1 von der 16. Eskadron),
6 Pionierkompagnien (je 1 vom 1. und vom 4., je 2 vom 2. und
vom 3. Bataillon), 1 Kompagnie Telegraphisten und 1 Kompagnie
für drahtlose Telegraphie (beide vom 8. Bataillon), schließlich
je 1 Marschsektion Generalstabsschreiber, Verwaltungsarbeiter und
Krankenträger. An Kolonialtruppen sind vorhanden 6 Kolonial-
infanteriemarschregimenter zu je 2 Bataillonen (hierunter die Senegal-
80 Umschau: Frankreich.
tirailleure),, weiterhin 1 Eskadron Senegalspasis und schließlich
7 gemischte Kolonialbatterien mit 6 Kompagnien Senegalfahrern.
Die marokkanischen Hilfstruppen stehen unter Oberst Pelle.
Ihre Infanterie wird vom Oberstleutnant Touchard, ihre Kavallerie
vom chef d’escadron Dupertuis, ihre Artillerie vom chef d’escadron
Billand kommandiert. Dem chef d’escadron Charles-Roux untersteht
das neuerdings eingerichtete Remontewesen.
Es ist jedoch fraglich, ob Frankreich mit diesen sehr reichlich be-
messenen Mitteln jetzt, nach der Einnahme von Taga, noch aus-
kommen wird. Hübner.
Die Genie- Durch Dekret vom 28. April ist für die nach dem neuen Kader-
ee gesetz festgelegte Gliederung der Geniewaffe folgendes bestimmt: Die
gesetz vom Genietruppen des Heimatlandes werden zusammengefaßt in 9 Regi-
n as menter und 2 selbständige Bataillone; diesen Genieformationen werden
angegliedert die Scheinwerferabteilungen, die Pionierabteilungen für
die Alpenformationen, die Radfahrerpioniere für die Kavalleriedivisionen
sowie die Brieftaubenformationen. Die Genietruppen in Algier und
Tunis bilden zwei Bataillone unter Angliederung der Scheinwerfer-
und Telegraphenabteilungen. Die Telegraphentruppen werden zu einem
Regiment zu vier Bataillonen zusammengezogen — darunter ein
Funkerbataillon — unter Angliederung der Telegraphendetachements
der Festungen. Ebenso werden die Eisenbahnformationen zu einem
Regiment zu vier Bataillonen zusammengefaßt.
Festungs- Der Verlauf der vom 30. August bis 8. September bei Epinal
übung. stattfindenden großen Festungsübung wird etwa folgender sein:
1. Abschnitt: 30. August bis 1. September, Einschließung in
dem für die Übung vorgesehenen Abschnitt der Festung unter Weg-
nahme etwaiger vorgeschobener Stellungen des Verteidigers und Ein-
setzung der schweren Artillerie des Feldheeres, Ausbau der Ein-
schließungsstellung.
2. September: Ruhetag, nur die Belagerungsartillerie arbeitet
durch.
2. Abschnitt: 3. bis 5. September. Engere Einschließung,
Wegnahme der vor der Hauptverteidigungsstellung gelegenen befestigten
Punkte, Kampf um die Artillerieschutzstellung.
6. September: Ruhetag.
3. Abschnitt: 7. und 8. September. Angriff auf die Haupt-
verteidigungsstellung, Nahangriff, Sturm.
Organisation In den Tagen vom 15. bis 19. Juni finden auf Veranlassung des
der oo Kriegsministers bei der Zentralstelle für den Kraftwagendienst in
formationen. Vincennes unter Leitung des Chefs des vierten Bureaus des General-
Umschau: Frankreich, Großbritannien, Italien. 81
stabes der Armee Beratungen statt über die zweckmäßigste Organi-
sation des Kraftfahrzeugdienstes im Frieden wie im Krieg. Vom
Generalstabe jeden Armeekorps nimmt möglichst ein Offizier an diesen
Beratungen teil, der bereits mit dem Kraftfahrzeugdienst zu tun ge-
habt hat und noch weitere zwei Jahre in seiner Stellung zu verbleiben
Aussicht hat.
Auf Anordnung des Kriegsministers ist jedes Regiment und selb- Fernsprech-
ständige Bataillon der Linie mit einem Übungsfernsprechgerät aus- gerät.
gerüstet worden, auf das auch die Reserve- und Landwehrtruppenteile
angewiesen sind. Im Kriege verbleibt dieses Gerät zur Verfügung
der obersten Heeresleitung. À.
Großsbritannien.
Am 9. Mai ereignete sich in Triest an Bord des englischen Vorzeitige
Panzerkreuzers „Indominable“ bei Gelegenheit eines Salutschießens ein en
bedauerlicher Unfall. Beim Laden eines Geschützes hörte man plötz- ladung.
lich eine dumpfe Detonation. Nach der einen Angabe hatte der
(übrigens auf der Stelle getötete) Artillerist die Ladung mit zu großer
Wucht in das Rohr eingeführt, so daß sie explodierte; nach einer
anderen Nachricht hat er nach Einführung der Ladung den Verschluß
so heftig zugeworfen (anstatt ihn langsam [gently] zu schließen). daß
der Kopf der Verschlußschraube auf den Detonator stieß und die
Explosion der Ladung herbeiführte. W.
Italien.
Der Bericht Falletti an die Kammer über das Kriegsbudget Erläuterungen
1914/15 ist von ungewöhnlicher Ausführlichkeit und gewährt eine Reihe ga ur
von Einblicken, die man sonst in solchen Berichten nicht findet. 1914 fa.
Diese Einblicke sind um so wertvoller, als das Kabinett Salandra
durch seinen Ministerpräsidenten und Kriegsminister im Parlament
schon erklären ließ, daß es eine weitere Vermehrung der Friedens-
stärke um rund 30000 Mann für das nächste Jahr als unabweisbar
ansehe und die Regierung dazu die nötigen Mehrbewilligungen brauche.
Der im Voranschlag verlangte Betrag des Ordmariums (373 Millionen)
übersteigt denjenigen des vorigen Jahres um 17,6 Millionen. Bei den
außerordentlichen Ausgaben finden wir 74,7 Millionen, d.h.rund 12,5 Mill.
mehr, als im Vorjahr verzeichnet. Die 1914/15 nötigen Mehraus-
gaben im Ordinarium von 17,6 Millionen setzen sich zusammen aus
0,03 Millionen allgemeiner Ausgaben mehr, 1,62 Millionen Steigerung
bei Pensionen und rund 15,98 Millionen für das eigentliche Heer.
In dem letztgenannten Betrag bedingt die Steigerung der Iststärke
(25000 Mann) eine Mehrausgabe von rund 10,92 Millionen.
Jabrbücher für die deutsche Armee und Marine. Nr. 514. 6
82 Umschau: Italien.
Wenn man bedenkt, daß man im Durchschnitt die Kosten der Er-
haltung des einzelnen Mannes mit 1,55 Lire täglich anzusetzen pflegt,
so fällt die Summe des Mehrbetrages für Erhöhung der Iststärke als
gering auf. Wir ersehen aber aus dem Bericht Falletti, daß in den
1,55 Lire auch Kosten allgemeiner Natur enthalten sind, die sich mit
der Steigerung der Friedensstärke nicht vermehren. Interessant ist
auch der Rückblick, den der Bericht auf das Wachsen der Ergeb-
nisse der Rekrutierung von 1887 ab wirft. Damals war die Zahl
der Eingestellten nicht höher als 75979 Mann, durch die Änderung
des Rekrutierungsgesetzes ist man aber bei den Aushebungen 1889,
1890, 1891 und 1892 auf 118169, 1161352, 122852, 121030
gekommen, wobei die letztgenannte Zahl noch wesentlich höher
gewesen wäre, wenn man nicht diejenigen befreit hätte, die einen aktiv
dienenden Bruder in Lybien hatten. Der organisatorische Rückblick
erstreckt sich auf die Wirkung der Gesetze von 1908 — 17. März
1910, 27. Januar 1912 — und hebt an Vermehrungen hervor:
3 Kavalleriedivisionsstäbe an höheren Verbänden, bei der In-
fanterie 24 Bataillone (97 Kompagnien), 3 Bataillone Bersaglieri
(9 Kompagnien), 1 Alpenregiment (unter Neubildung von 3 Kom-
pagnien und 1 Depot), Kavallerie 5 Regimenter (unter Neubildung
von 6 Eskadrons und 5 Depots), Artillerie 12 neue Regimenter
(unter Neubildung von 18 Batterien und 12 Depots), ferner 2 neue
Abteilungen, 2 Regimenter schwerer Artillerie des Feldheeres (20 Bat-
terien und 2 Depots), 2 neue Batterien reitender Artillerie, 1 Regi-
ment und 4 Abteilungen (im ganzen 21 Batterien und 1 Depot),
Gebirgsartillerie, 4 Regimenter, 4 Abteilungen (32 Kompagnien und
4 Depots) Festungs- und Küstenartillerie, Neubildung von 3 Kom-
pagnien, 1 Depot bei der Geniewaffe, damit Neuaufstellung von
1 Regiment, 2 Bataillonen, 1 Spezialistenbataillon (5 Kompagnien)
und 1 Fliegerbataillon (3 Kompagnien).
Die Angaben über die Stärke des Heeres und ihre Folgen fort-
setzend, stellt dann der Bericht fest:
A. Daß die Aushebung 1914 rund 132000 Mann ergab, dazu
2500 Mann für Herabsetzung des Mindestmaßes, 20 000 Zurück-
gestellte des 1913 eingestellten Jahrganges im zweiten Dienstjahre
und 40000 Mann des bleibenden Stammes, zusammen also die
beiden Jahrgänge 300500 Mann unter den Waffen ergeben,
eine Ziffer, die über die 275000 Mann im Budget wesentlich
hinausgeht.
B. Daß die 25000 Mann, um welche nach dem Budget die
bilanzierte Stärke wächst, verteilt werden mit 15800 Mann
auf Infanterie (Unteroffiziere, Korporale und Gemeine), 1000 auf
Umschau: Italien. 83
Kavallerie, 6000 Artillerie, 1000 Genietruppen, 400 Karabinieri,
800 Mann Verpflegungstruppen. Mit der Steigerung der
bilanzierten Stärke von 250000 auf 275000 Mann rechnet
man an Friedensstärke: Infanteriekompagnie 76, Alpen-
kompagnie 150, Schwadron 165, fahrende Batterie 100, Gebirgs-
batterie 150. Geniekompagnie 110 Mann, davon ab die Abgaben
an Lybien. Mit der von Salandra zugesagten und im Parlament
schon als notwendig erklärten Vermehrung der bilanzierten
Stärke um 30000, also auf 305000 Mann kommt man so
lange die Abgaben für Lybien 30000 Mann bestehen, auch noch
nicht auf Kompagnien von 100 Mann.
Sehr interessant waren auch die Angaben des Berichtes Fallettis
über den schon bestehenden und noch auszugestaltenden Luftschiffer-
und Fliegerdienst. Wir erwähnen nur, daß jede einer Lenkluft-
schiffwerft zugeteilte Sektion 1— 2 lenkbare Luftschiffe das nötige Personal
an Offizieren und Mannschaften besitzt, das Geniespezialistenbataillon
auch für die Luftschiffersektion auch im Kriege die Vorbereitungen trifft,
man für den Fliegerdienst 3 Schulen, 14 Gefechtsgeschwader, jedes
zusammengesetzt aus 1 Kommandanten, Piloten, Leuten der Truppe,
einer wechselnden Zahl von Flugzeugen, Selbstfahrern, zerlegbaren
Hallen.
Durch königlichen Erlaß ist, auf Vorschlag des Kriegs- und Änderungen
Marineministers, die Zusammensetzung des obersten Landesverteidigungs- au.
ausschusses, der im Frieden die wichtigsten Fragen für die Ver- setzung der
teidigung des Staates zu begutachten hat, dahin geändert worden, Obersten
daß er aus dem Ministerpräsidenten, dem Kriegs- und Marineminister, verteidigungs-
den designierten Armeeführern, dem Chef des Generalstabs der Armee m.
und den für die Mobilmachung designierten Führern von großen yeeresrates.
Flottenverbänden besteht, und dem Ausschuß ein sehr zahlreiches
Sekretariat aus Generalstabs- oder Marineoffizieren beigefügt werden
soll. Durch einen Erlaß von demselben Tage wird auf Veranlassung
derselben Minister bestimmt, daß der Heeresrat aus dem Kriegsminister,
Unterstaatssekretär des Krieges, den designierten Armeeführern, dem
Chef des Generalstabes der Armee bestehen soll und wenn es die zu
behandelnden Fragen verlangen die Generalinspekteure und Inspekteure
der verschiedenen Waffengattungen sowie auch der Intendantur heran-
gezogen werden können.
Beschleunigte Kurse für Ausbildung von Korporalen des
Jahrganges der 1894 Geborenen werden schon vom 15. Juni bei den
Regimentern eingerichtet, wo sich mindestens 12 Leute dazu frei-
willig melden.
6*
84 Umschau: Italien.
-~ Die Gazzetta Ufficiale vom 8. April veröffentlicht den Königlichen
italienischen Erlaß, betr. die militärische Organisation von Tripolis und Cyrenaica.
truppen in Der Erlaß ist sich darüber klar, daß die militärische Organisation
Lybien. der beiden Provinzen nicht mit einem Schlage durchgeführt werden
kann, er rechnet daher noch für längere Zeit auf Unterstützung aus
dem Mutterlande.
Bezüglich der Bildung des Korps Kolonialtruppen für die beiden
genannten Provinzen bestimmt der Erlaß, daß es sich aus italienischen
und eingeborenen Truppen zusammensetzt und die ersteren gebildet
werden aus Offizieren, Berufsunteroffizieren und Gemeinen der
italienischen Truppen, die entweder im aktiven Dienst oder Be-
urlaubtenstand des Heeres sich befinden und diese Verwendung nach-
suchen oder ausnahmsweise zwangsweise Kommandierten des aktiven
Dienstes, oder endlich Italienern, die sich gleich freiwillig bei den
Kolonialtruppen selbst melden. Die Gemeinen der eingeborenen
Truppen werden durch freiwillig sich Meldende ergänzt. Das Kolonial-
korps wie Behörden und Dienstzweige unterstehen zwei Gouver-
neuren, die für die Verteidigung, Ausbildung, Manneszucht ver-
antwortlich sind, selbständig Aushebungen anordnen können und
direkt an den Kriegs- und Kolonialminister zu berichten haben.
Die Truppen in Tripolis sollen bestehen:
A. Aus einer Legion Karabinieri, gemischt mit eingeborenen Gen-
darmen.
B. Italienischen Truppen: 2 Bataillone Infanterie, 4 Kom-
pagnien berittene Infanterie, 1 Gebirgsbatterie, 1 Kompagnie
Festungsartillerie, Artillerietrain, 1 Kompagnie Sappeurs, 1 Tele-
graphisten und Funker, 1 Gruppe Kraftfahrer.
C. Eingeborene Truppen: 6 Bataillone Infanterie, 3 Eskadrons,
2 Gebirgsbatterien, 6 Züge Kamelreiter, 1 Kamelpark. Dazu
die Dienstzweige.
In Cyrenaica sollen bestehen:
A. 1 Division Carabinieri, gemischt mit eingeborenen Gendarmen.
B. Italienische Truppen: 2 Bataillone Infanterie, 2 Kom-
pagnien berittener Infanterie. 1 Gebirgsbatteri, 1 Kompagnie
Fußartillerie, 1 Sappeurs, 1 Telegraphisten und Funker, 1 Kraft-
fahrzug.
C. Eingeborene Truppen: 4 Bataillone Infanterie, 3 Eskadrons,
1 Gebirgsbatterie, 4 Züge Kamelreiter, 1 Kamelpark. Dazu
die Dienstzweige.
Die Stärkenberechnung der Truppen gilt für die Zeit, wo eine
vollständige Parzivierung der neuen Kolonie bewirkt sein wird, bis
dahin brauchen sie starke Ergänzungen aus dem Mutterlande.
Umschau: Italien. 85
Der Bericht Di Palma an die Kammer über das Marinebudget
1914/15 ist nach mancher Richtung bemerkenswert durch Aufschlüsse,
die er gibt, im Hinweis auf die Widerstände, die mancher Marine-
minister Italiens im Ausbau der Flotte gefunden, durch Vergleich
der österreichischen und italienischen Marine mit der französischen
im Mittelmeer, die stark betonte Überzeugung, Italiens Flotte müßte
nach dem Programm in beschleunigter Weise ausgebaut werden.
Teil I behandelt die Kriegsmarine überhaupt und gibt die Auf-
wendungen für diese 1914/15 auf 279,7 Millionen an. Die reinen
Ausgaben für die Kriegsmarine sind mit 205,5 Millionen angesetzt
und zwar im Ordinarium, wo es endlich auch ein Maximalalter für
die Schiffe geben soll, im Kapitel Ersatzbauten und Instandhaltung
von Schiffen 90 Millionen, das Kapitel jährlich sich so erhöhen, daß
es auf 120 Millionen kommt. Für die Kriegsmarine würde man
damit jährlich eine Steigerung um 10 Millionen haben, wobei die
Stärke der Bemannung von 35000 auf 38000 wächst. Für 1914/15
steigen die Ausgaben für die organische Stärke um rund 2 Millionen
Lire. Die Großmächte, die 1901 rund 900 Millionen für die Flotte
ausgaben, wenden heute 5 Milliarden für die Vorbereitung des See-
krieges auf, der Dreiverband 2624 Millionen gegen 1004 des Drei-
bundes. Frankreich, so sagt der Bericht, wird 1920 im Mittelmeer
28 Dreadnoughts haben, gegen 25 österreichische und italienische.
Der Bericht stellt fest, daß die Aufwendungen im Bauprogramm
1914/15 bis 1921/22 rund 1187 Millionen betragen werden. 18
Die im Märzheft in der Umschau gebrachten Angaben über das
Kriegs- und Marinebudget 1914/15 können jetzt, soweit es die Flotte
betrifft, ergänzt werden. Denn nach „Avanti“ vom 11. Mai 1914
ist aus dem italienischen Haushaltsbericht di Palmas folgendes über
Flottenforderungen zu entnehmen:
In den nächsten vier Jahren sollen vier große Linienschiffe, Zer-
störer und Unterseeboote von großem Verdrang sowie einige Hilfs-
schiffe „pünktlich“ auf Stapel gelegt werden. Die Kosten werden für
die vier Linienschiffe mit 380 Millionen, für die Zerstörer und Tauch-
boote mit 90 und für die Hilfschiffe mit 25 Millionen berechnet;
insgesamt werden also 495 Millionen gefordert.
Durch dies Gesetz sollen nach „Avanti“ die außerordentlichen
Ausgaben in eine ordentliche jährliche von 120 Millionen umgewandelt
werden, damit, wie in Deutschland, jährlich ein Linienschiff gebaut
werden kann. |
Für die nächsten Jahre sollen nach den bereits veröffentlichten
Marine.
Flotten-
forderungen.
Funken-
telegraphie.
Landesver- -
teidigungs-
kommission.
Vom
Flottenbau-
programm,
86 Umschau: Italien, Niederlande.
Gesetzen und nach dem vorliegenden Entwurf folgende Aufwendungen
für die Marine gemacht werden:
1913/14 . . . 90 Millionen 1918/19 . . . 157 Millionen
1914/15 . . . 140 , 1919/20 . . . 1795
1915/16 . . 105 m 1920/21 . . . 155 „
1916/17 . . . 145 , 1921/22 . . . 155
1917/18 . 155 , W.
An Funkentelegraphenstationen besitzt Italien:
1. 3 Großstationen in Coltano. Massaua und Mogadiscio (Benadir),
von denen die beiden letzteren noch im Bau begriffen sind.
2. 5 mittlere Stationen mit Reichweite bis 1000 km in Genua,
Neapel, Palermo, Cagliari und S. Cataldo (Bari).
3. 16 Kleinstationen mit etwa 300 km Reichweite, derart ver-
teilt, daß sie die italienischen Gewässer umspannen.
4. Funkerstationen auf etwa 50 Kriegsschiffen und 100 Handels-
schiffen.
5. 9 Stationen in Benadir, davon 7 an der Küste, 2 im Innern.
6. Eine Anzahl Stationen in den neu erworbenen Provinzen
Tripolitanien und Cyrenaika.
Durch Königliches Dekret vom 9. April 1914 ist die Zusammen-
setzung der Landesverteidigungskommission, die im Frieden alle die
Landesbefestigung betreffenden Fragen zu beraten hat, neu geregelt
worden. Unter dem Vorsitz des Ministerpräsidenten gehören dazu
die Minister des Krieges und der Marine, die Generale des Heeres,
der Chef des Generalstabes der Armee sowie die für den Mobil-
machungsfall designierten Führer der maritimen Streitkräfte. In Ab-
wesenheit des Ministerpräsidenten führt der Kriegs- oder Marine-
minister den Vorsitz. Die Kommission hat ein eigenes Sekretariat.
| | A.
Niederlande.
Eine deutsche Tageszeitung wußte am 23. Mai zu melden, daß.
ein unter dem Vorsitz der Königin abgehaltener Ministerrat das vom
Vizeadmiral Tydeman ausgearbeitete neue Flottenprogramm genehmigt
habe. Dieses umfaßt den Bau von 5 Großschlachtschiffen, unter
ihnen drei mit 24000 und zwei mit 21000 Tonnen Verdrang; ferner
von sechs Kreuzern, je acht Torpedobooten, Zerstörern und Untersee-
booten und von zwei Minenlegern. Gleichzeitig habe der Ministerrat
beschlossen, dem Parlament eine dringliche Kreditforderung zur raschen
Ausführung dieses Programms zu unterbreiten.
Holländische Zeitungen wußten am 23. Mai und den folgenden
Umschau: Niederlande, Österreich-Ungarn. 87
Tagen nichts über diese immerhin recht wichtige Angelegenheit zu
berichten. Sie wird hier nur als allgemein interessant erwähnt; ob
sie sich bewahrheitet, bleibt abzuwarten. W.
Österreich-Ungarn.
Nach den Erklärungen über die internationale Lage kann an der
Bewilligung der Erfordernis für Heer und Marine 1914/15 in den
Delegationen kaum ein Zweifel bestehen!) und deren Zahlen
sprechen für den Aufschwung von Heer und Marine, das
Wirksamwerden der Wehrgesetznovelle 1914 für das erstere und
den Eintritt in ein neues Schiffbauprogramm für letztere.
Einen weiteren Anhalt für die Beurteilung gewinnt man, wenn
man durch Vergleich mit 1913 feststellt, daß, von den Land-
wehren abgesehen, das Erfordernis für das Heer 1914/15 das erstere
um nicht weniger als 145 Millionen übertrifft, für die weitere Aus-
gestaltung der Marine ein bis 1918/19 zu verbrauchender außer-
ordentlicher Kredit von 426,8 Millionen angesetzt ist. Immer, ab-
gesehen von den Landwehren, haben wir für Heer und Marine nicht
weniger als 575,9 plus 177,2 = 753,1 Millionen Kronen zu ver-
zeichnen. Das Heereserfordernis beansprucht dabei rund 485,5 Mil-
lionen im Ordinarium, 9,45 Millionen Nachtragskredit, ferner
16,9 Millionen außerordentliche Ausgaben und 81,2 Millionen Spezial-
kredit. Mit den bosnisch-herzegovinischen Truppen, die jetzt auch
im Ordinarium erscheinen, ist ein Steigen des Ordinariums des Kriegs-
budgets um 75 Millionen festgestellt. Die 82,9 Millionen außer-
ordentlichen Erfordernisses setzen sich zusammen u. a. aus 24 Mil-
lionen Kosten der Durchführung der Wehrreform, 0,2 Millionen für
Beschaffung von Handfeuerwaffen, 6 Millionen für Befestigung,
0,3 Millionen für weitere Beschaffung neuen Feldartilleriematerials,
324 Millionen für Anschaffung von Feld-, Gebirgshaubitzen und
schwerem Mörsermaterial, 7 Millionen für Befestigung der Grenzen,
2,3 Millionen für Flugzeuge, Flugplätze, 3,2 Millionen für Maß-
nahmen zur Lösung der Unteroffizierfrage.e Außerordentlich wichtig
ist, daß im Ganzen 158 Si 687) Bataillonen auf den erhöhten
Stand von 120 Mann kommen.
Das Marinebudget 1914/15 zeigt uns, von besonderen Krediten
abgesehen, im ordentlichen und außerordentlichen Teil
76,2 Millionen, d. h. 2 Millionen mehr als 1913, wobei die
Flottenbemannung um rund 1800 Mann steigt, der Einschiffungs-
1) Heeres- und Marineerfordernisse wurden während des Drucks
bewilligt.
Steigende
Erfordernisse
für Heer und
Marine,
steigender
Ausbau
1914/15.
88 Umschau: Österreich-Ungarn.
stand um 2391, die Marineakademie von 50 Schülern auf 250.
Wenn wir, einschließlich des von 1914/15 bis 1918/19 geforderten
Sonderkredits, die ganzen Marineausgaben zusammenrechnen,
so kommen wir auf 76,2 plus 426,8 = 503 Millionen Kronen, von
denen 76,2 plus 45,3 plus 47,5 plus 8,2 = 177,2 Millionen
auf 1914/15 (siehe unten) entfallen. An Schiffsbaukrediten
haben wir folgende Posten zu nennen:
1. Restrate des 1911 bewilligten, auf mehrere Jahre verteilten
Kredits für die Ausgestaltung der Flotte = 47,5 Millionen,
die verwendet werden für die noch im Ausbau begriffenen Ein-
heiten der „Tegetthoff“-Klasse, Torpedo- und Unterseeboote,
27,2 Millionen außerordentlicher Kredite für besondere Maß-
nahmen.
2. Den neuen Kredit von 426,8 Millionen, der sich verteilen soll
mit 45,3 auf 1914/15, je 100 Millionen auf die drei folgenden
Jahre und 81,5 Millionen auf 1918/19.
Die für Schiffsbauten ausgeworfenen bzw. beantragten Summen
will man — wobei wir auch die Begründung der Marineleitung kurz
streifen — verwenden für:
1. Für die alte „Monarch“- und einen Teil der „Habsburg“-Klasse
ersetzender Dreadnoughts, VIII —XI. Der Bau von vier großen
Linienschiffen desselben Typs, so sagt die Begründung, ent-
spricht den taktischen Grundsätzen. Zwei davon sind sofort
auf Stapel zu legen, übertreffen „Viribus Units“ an
Armierung, je 10 Geschütze zu 35 em, davon 6 in Drei-
geschütz, 4 in Zweigeschütztürmen, 24500 t Deplacement,
30 indizierte Pferdekräfte, 21'/, Knotenfahrt, je 82 Millionen Kosten.
2. 3 Rapidkreuzer mit 4800 t, zusammen 48,9 Millionen Kosten,
von der Begründung das nötige taktische Aggregat zu der
Schlachtschiffdivision genannt.
6 Torpedofahrzeuge zu je 800 t und 20,2 Millionen Kosten.
. 2 Donaumonitors.
. 1 Dampfer für Lebensmitteltransport.
Vergrößerung der Station für drahtlose Telegraphie in Pola.
. Entwickelung des Fliegerwesens, 4 Millionen in 4 Raten.
Errichtung von Fernlangsierstationen für Torpedos 0,4 Millionen.
Ausdehnung von Seearsenalen 13,1 Millionen.
. Ausbau des Kriegshafens Sebenico 5,4 Millionen,
Der einzige Ausrüstungshafen der Flotte, Pola, hat sich als unzu-
länglich erwiesen. Die veränderten Verhältnisse im Osten, so sagt
die Begründung, lassen eine Verschiebung der maritimen Stärke-
verhältnisse im Mittelmeer erwarten. 18
sonmpnRg
n
O
Umschau: Österreich-Ungarn. 89
Über die österreichische Haubitzfrage hat die Umschau zuletzt Die Haubitz-
im Dezember v. J. berichtet. Österreichischen Meldungen zufolge "8°
steht sie jetzt unmittelbar vor ihrem Abschluß und ist ihr Stand
augenblicklich folgender:
1. Die leichte Feldhaubitze. Seit zwei Jahren sind Ver-
suche im Gange gewesen, die im vorigen Jahre zu besonderen Ver-
gleichsversuchen mit je einem Geschütz des k. k. Artilleriearsenals,
der Pilsener Skodawerke und der Rheinischen Metallwarenfabrik
führten und die in diesem Jahre zum Abschluß gekommen sind. Von
dem letztgenannten Geschütz sollen Patente angekauft werden. Die
Geschoßherstellung soll dann im Wiener Artilleriearsenal erfolgen;
einen Teil des Materials und des Zubehörs wird die Privatindustrie
zu liefern haben.
Die neue leichte Haubitze hat ein Stahlbronzerohr von 10,5 cm
Kaliber. Der Rohrrücklauf ermöglicht die Abgabe von 8—10 gezielten
Schüssen in der Minute. Selbstverständlich hat das Rohr die modernsten
Richtmittel, Richtkreis, Rundblickfernrohr usw.; bemerkenswert ist,
daß das Geschütz eine unabhängige Visierlinie erhält.
2. Die schwere Feldhaubitze, welche die bisherigen, aus den
achtziger Jahren stammenden 15 em-Bronze-Haubitzen der schweren
Haubitzdivisionen ersetzen soll, ist nunmehr endgültig angenommen
worden, und zwar in der Konstruktion Skoda, nachdem eine letzte
Schlußerprobung auf dem Schießplatz der Skodawerke in Belovec
befriedigt hatte. Bemerkenswert ist, daB das Stahlrohr Rohrvorlauf,
und daß auch hier die Lafette eine unabhängige Visierlinie erhalten
soll. Die Rohre werden sämtlich von Skoda geliefert werden; zur
Lieferung des Zubehörs wird auch die übrige Privatindustrie mit
herangezogen werden.
Die Umbewaffnung der Feldhaubitzregimenter des Heeres und
der beiden Landwehren soll bis 1917 beendet sein; die der schweren
Haubitzdivisionen dürfte schon zu einem früheren Zeitpunkt durch-
geführt werden. W.
Die seit dem 1. Oktober 1912 bestehenden 14 Sappeurbataillone Sappeur-
— davon 13 Bataillone zu 3, 1 Bataillon zu 4 Kompagnien — er- truppen.
halten mit dem 1. Oktober 1914 durch Aufstellung von 13 noch
fehlenden Kompagnien durchweg 4 Kompagnien; der Etat ist ins-
gesamt auf 394 Offiziere, 16 Offizieraspiranten, 6421 Mann und 142
Pferde festgesetzt. Jedes Bataillon verfügt über eine Schanzzeug-
kolonne und ein Ersatzkompagniekader. A.
Die neue
russische
Manöver-
ordnung.
90 Umschau: Rußland.
Rufsland.
Am 10. April genehmigte der Zar eine neue Manöverordnung
für die russische Armee. Sie unterscheidet sich im wesentlichen
dadurch von der gleichnamigen deutschen Vorschrift, daß sie genaue
Angaben enthält über das, was geübt werden soll, während eine Zeit-
einteilung, wie wir sie kennen, fehlt. Der große Spielraum, der
hierin den Befehlshabern der Militärbezirke eingeräumt ist, findet seine
Erklärung in der Verschiedenheit der örtlichen und klimatischen Ver-
hältnisse, unter denen die einzelnen Teile der russischen Armee zu
üben gezwungen sind. So können z. B. für die Truppen in Turkestan
und in Finnland keine einheitlichen Bestimmungen über die Zahl der
Biwaks usw. erlassen werden.
Die russischen Sommerübungen zerfallen in die Lagerübungen
und die Manöver.
Die Lagerübungen umfassen:
a) Lehrübungen zum Zwecke des gegenseitigen Kennenlernens der
verschiedenen Waffengattungen;
b) Übungen der Infanteriebrigade und der Infanteriedivision (ohne
Beigabe anderer Waffen) gegen markierten Feind;
c) Übungen in zwei Parteien durch Teile von Infanterieregimentern,
die durch Kavallerie, Artillerie und Hilfswaffen verstärkt sind;
d) gefechtsmäßige Schießen durch Truppen aller Waffen.
= Die Manöver bestehen aus Übungen gemischter Detachements
gegeneinander in unbekanntem und wechselndem Gelände; sie ent-
sprechen unseren Brigade- und Divisionsmanövern; den Schluß bildet
gewöhnlich eine Divisionsübung gegen markierten Feind.
Auch die Abhaltung von Korps- und Armeemanövern kann ver-
fügt werden; üben hierbei auch die Kavalleriedivisionen, so verbleiben
den Infanteriedivisionen 2—3 Eskadrons als Divisionskavallerie.
Während der Manöver ist folgendes zu üben:
. das Begegnungsgefecht;
. Angriff einer befestigten Stellung oder eines Stützpunktes;
. Verteidigung mit Übergang zum Angriff — gleichzeitig bei
allen drei Gefechtsarten: Aufklärung, Sicherung, Verbindung und
Beobachtung;
4. in vorerwähnte Übungen ist einzuflechten der Kampf um Ge-
ländegegenstände und um Engnisse;
5. Überwindung von Hindernissen, vor allem Flußläufen;
6. Nachtübungen (Märsche und Gefechte);
7. die verschiedenen Arten der Unterkunft, mit Aufklärung,
Sicherung, Verbindung und Beobachtung;
I N ma
Umschau: Rußland. 91
8. Aufklärung und Sicherung unter den verschiedensten Verhält-
nissen.
Rasttage werden nach zwei bis drei (ausnahmsweise auch nach
vier) Übungstagen eingelegt.
Es ist auffallend, daß die Bestimmungen über die Tätigkeit der
Schiedsrichter nicht in der Manöverordnung enthalten sind; ihre
Festsetzung bleibt den Oberbefehlsliabern der Militärbezirke über-
lassen.
Welch gewaltige Verstärkung der Armee die neue Wehrvorlage
im Gefolge haben wird, geht daraus hervor, daß das Rekruten-
kontingent für Heer und Flotte für 1914 — wie am 14. Mai amt-
lich bekanntgegeben wurde — nicht weniger als 585000 Mann
beträgt, was eine Erhöhung von 130000 Mann des bisher festgesetzten
Kontingentes von 455000 Mann bedeutet. |
Es läßt sich nun die zukünftige ungefähre Friedensstärke an
ausgebildeten Mannschaften — also ohne Berücksichtigung
der Rekruten — wie folgt berechnen:
Stärke: Herbst 1915: Herbst 1917:
1912: 455000 Mann 1914: 585000 Mann
Rekrutenkontingent { 1913: 455 000 „ 1915: 585000 „
1914: 585000 „ 1916: 585000 „
Zusammen: 1445000 Mann 1755000 Mann
Hiervon ab 10°), (Abgang) 149500 „ | 175500 „
Verbleiben Leute des 1.,
2. und 3. Dienstjahres: 1345500 Mann 1579500 Mann
Hierzu Leute des 4. und
56. Dienstjahres und
| Kapitulanten rund. . 100000 „ 100000 „
ferner Kosaken . . . . 60000 „ 60000 „
Im ganzen: 1505500 Mann 1739500 Mann
52000 Mann | ü
Flotte
60000 Mann
Hiervon ab ? Grenzwache 150000 „ 150000 „
38000 Mann
Gendarmerie u.
| Lokaltruppen
Verbleiben für die Armee: 1 555500 Mann 1589500 Mann
Man darf also in drei Jahren mit einer Friedensstärke von rund
1590000 Mann rechnen, und zwar ist diese Ziffer eher zu niedrig
Zukünftige
Friedens-
stärke.
92 Umschau: Rußland.
als zu hoch gegriffen, denn einmal ist der Abgang mit 10°/, ziem-
lich hoch berechnet und ferner wird stillschweigend von der Voraus-
setzung ausgegangen, daß die Rekrutenkontingente von 1915 und
1916 gegenüber dem von 1914 nicht erhöht werden, was keineswegs
sicher ist.
en Auch eine weitere Maßnahme deutet auf eine außerordentliche
` Verstärkung der Armee und Vermehrung der oberen Kommando-
behörden hin: die schon für den Herbst in Aussicht genommenen
Verstärkung der zur Kriegsakademie kommandierten Offiziere von
300 auf 450.
Übungen der Während im Vorjahre die Reservisten — mit Ausnahme der
Reservisten. „m Manöver einberufenen — nur vier Wochen übten, ist heuer die
Übungsdauer allgemein auf sechs Wochen festgesetzt worden. Ein-
berufen werden die Reservisten der Jahresklassen 1907 und 1909,
und zwar die der Militärbezirke Moskau und Odessa zu den Herbst-
waffenübungen, die der übrigen Bezirke nach den Manövern in die
Truppenlager. |
Neue Schieß- Die russische Infanterie hat am 4. Mai eine neue Schießvor-
vorschrift. schrift erhalten, die in erster Linie durch die Einführung des Spitz-
geschosses notwendig geworden war. Es galt ferner, die Schießvor-
schrift in Einklang zu bringen mit der Felddienstordnung 1912 und
der Gefechtsvorschrift 1914, Bestimmungen über die Verwendung der
inzwischen bewilligten erhöhten Patronenzahl zu treffen und endlich
die mit dem Entwurf von 1909 gemachten Erfahrungen auszunützen.
Über die neue Vorschrift, die die Bedeutung des gefechtsmäßigen
Schießens gegenüber dem bisher allzu hoch bewerteten Schulschießen
in den Vordergrund stellt, wird in einer der nächsten Nummern aus-
führlich berichtet werden.
Jugendwehr- Daß sich die russische Jugendwehrbewegung in rein mili-
vereine.e tärischer Richtung vollzieht beweist die am 10. Mai in Kasan
abgehaltene „Besichtigung“ der dortigen Jugendwehrvereine durch
den Kommandeur der 1. Brigade der 41. Infanteriedivision. Die
Jungen waren in 6 Kompagnien aufgestellt (3 von den Gymnasien,
2 von den Realschulen und 1 von der Bürgerschule). Nach feier-
licher Begrüßung durch den Besichtigenden wurden zuerst Gewehr-
griffe, dann Exerzierübungen vorgeführt. Alsdann wurden unter den
Klängen der Musik Turnübungen abgehalten, und den Abschluß bildete
ein Parademarsch mit Gewehr.
Neu- Im Mai ist die erste der durch die Wehrvorlage beschlossenen
formationen. Neuformationen errichtet worden: die 4. finnländische Schützen-
brigade, bestehend aus den finnländischen Schützenregimentern Nr. 13,
14, 15 und 16, jedes Regiment zu 2 Bataillonen.
Umschau: Rußland, Spanien. 93
Die russische Regierung will den Wiederaufbau der Flotte Neue Flotten-
wesentlich beschleunigen: am 10. Juni hat die Dumakommission für "tungen.
Militär- und Marinefragen die angeforderten 100 Millionen Rubel für
die sofortige Verstärkung der Schwarzmeerflotte bewilligt. Davon
sollen gebaut werden: 1 Linienschiff von 27 000 t Wasserverdrängung.
2 Kreuzer mit je 7500 t, 8 Torpedoboote und 6 Unterseeboote.
Alle diese Schiffe sollen bis 1917 fertig sein.
Der Marineminister Admiral Grigorowitsch hat ferner beim
Ministerrate eine neue Vorlage eingebracht, in der um Bewilligung
von 600 Millionen Rubel ersucht wird zur weiteren Verstärkung der
Baltischen und der Schwarzmeerflotte. Diese Verstärkung soll in zwei
gleichen Teilen ausgeführt werden. Das neue Gesetz wird im Herbst
der Duma unterbreitet werden. Sch.
Spanien.
Spanien beabsichtigt seine Kriegsflotte durch den Bau eines Von der
zweiten (Geschwaders wesentlich zu verstärken. Aus der nunmehr an
veröffentlichten diesbezüglichen Gesetzesvorlage verdienen folgende
bemerkenswerte Stellen Beachtung:
I. Turbinen-, Kessel- und Geschützbau: „... Wir verfügen
jetzt über Werkstätten zum Bau von Dampfturbinen und Yarrow-
Kesseln, die Werkstätten zu La Caracca sind jetzt zur Herstellung
von Geschützen bis zu 15 cm Kaliber und von Geschossen aller Art
imstande... .“
II. Herstellung von Panzerplatten: „... Was zu tun übrig
bleibt, ist das Leichtere und Größere. Den nationalen Elementen ist
eine immer größere Beteiligung an den Arbeiten zu gewähren. Es
ist die große Industrie zu schaffen, deren Grundlage die Herstellung
von Panzerplatten bildet .. .“
III. Kein langfristiges Flottenbauprogramm: „... Die
Erfahrung hat gelehrt, daß es jetzt nicht ratsam ist, für den Bau
der Kriegsschiffe ein Verfahren ähnlich dem 1908 gewählten in An-
wendung zu bringen. Die beständige Vervollkommnung des Flotten-
materials gestattet nicht die Festlegung von Bauprogrammen, die
nicht unmittelbar und rasch zur Ausführung kommen. Aus diesem
Grunde nimmt der unterzeichnete Minister davon Abstand, ein solches
Programm aufzustellen. Es geschieht dies nur mit denjenigen Arbeiten,
die sogleich oder in einem Zeitraum von drei Jahren in Angriff ge-
nommen werden sollen ...“
94 Literatur.
Literatur.
I. Bücher.
v. Löbells Jahresberichte über das Heer- und Kriegswesen. LX. Jahrg.
1913. Berlin. E. S. Mittler & Sohn, Kgl. Hofbuchhandlung.
11,50 M., geb. 13,— M.
Der 40. Jahrgang dieses wichtigen Handbuches erscheint in diesem
Jahre zum ersten Male bei Beginn des Kalenderjahres, indem er mit
seinen Berichten im wesentlichen mit dem militärischen Ausbildungs-
jahre, dem 1. Oktober abschließt. Diese Neuerung in der Erscheinungs-
weise muß als ein entschiedener Fortschritt begrüßt werden. Es ist
daher erwünscht, daß aus dem „Versuche“ eine ständige Einrichtung
wird, die auch besonders im Interesse derjenigen Offiziere liegt, die
bei ihren wissenschaftlichen Arbeiten auf den „Löbell“ fußen wollen.
Die Schwierigkeiten, die von der Schriftleitung durch den frühen Er-
scheinungstermin erwuchsen, sind nicht gering gewesen. Gerade das
Jahr 1913 hat in den Heerwesen vieler Staaten große Umwälzungen
gebracht und da die damit zusammenhängenden Änderungen zum Teil
am 1. Oktober noch nicht abgeschlossen waren, so mußte die Bericht-
erstattung auch über diesen Zeitpunkt ausgedehnt werden, um noch
die neuesten Angaben bringen zu können. Um so mehr ist daher an-
zuerkennen, daß in dem vorliegenden Band der Drang der Arbeit in
keiner Weise erkennbar wird. Er bietet wiederum ein zuverlässiges
mustergültiges Nachschlagewerk über alle wichtigen Fragen des Kriegs-
wesens. Die bewährte Dreiteilung des Stoffes: Heerwesen, Berichte
über einzelne Zweige der Kriegswissenschaften und Beiträge zur
militärischen Geschichte des Jahres 1913 ist auch diesmal bei-
behalten worden. Der vorliegende Jahrgang ist wegen der Ver-
stärkung des deutschen Heeres besonders wichtig. Im 1. Teil sind
gegen das Vorjahr Ägypten, Siam und die südamerikanischen
Republiken Kolumbien, Ekuador und Uruguay dazugekommen, dagegen
(außer Peru) Mexiko und China weggefallen, weil in diesen Staaten
die Verhältnisse noch zu wenig geklärt sind. Auch in der Türkei ist
nach dem Balkankriege alles noch im Werden und aus diesem Grunde
der sonst übliche eingehende Bericht durch die kurze, interessante
Skizze eines türkischen Offiziers ersetzt worden. Zu bedauern ist, daß
dem Text des „Artilleriegeräts“ diesmal nicht Abbildungen neuerer
Geschütze beigefügt worden sind. Es sei ferner dem Herausgeber
auch die Beigabe erläuternder Bilder zu dem Bericht über Maschinen-
gewehre ans Herz gelegt.
Wir können die Anschaffung des geradezu klassischen Werkes
nur aut das angelegentlichste empfehlen. B. S.-R.
Le partage de l’Allemagne — l’öcheance de demain. Par le Lieutenant-
Colonel R. de D. Paris. Publications artistiques.
Im allgemeinen gilt der französische Offizier, wenigstens der so-
Literatur. 95
genannte ecolier, d. h. der nicht aus dem Unteroffizierstand hervor-
gegangene, als fein gebildeter, mit den Wissenschaften vertrauter
Mann. Man sagt sogar dem derzeitigen Offizierskorps der französischen
Armee ein besonderes Streben nach Vervollkommnung nach und zum
Teil wenigstens ist dies auch an den Erzeugnissen der französischen
Militärliteratur zu erkennen. Aber doch nicht allenthalben! Namentlich
die letzten Zeiten haben wiederholt Schriften auf den Büchermarkt
gebracht, deren Inhalt am besten mit dem Wort „Rodomontaden“ zu
bezeichnen ist. Keine Grenzen kennender Chauvinismus paart sich
in ihnen in der Regel mit leerer Prahlerei und mit törichtem Säbel-
gerassel! Zu diesen Schriften gehört auch die kürzlich erschienene,
oben näher bezeichnete Veröffentlichung. In einer in grellen Farben
auf dem Umschlag ausgeführten Karte zeigt der Verfasser, wie er sich
das Ergebnis eines zukünftigen deutsch-französischen Krieges denkt.
Das Deutsche Reich ist zusammengeschrumpft auf einen Kleinstaat
„Thüringen“, der nur durch die Städte „Braunschweig, Göttingen und
Eisenach“ bezeichnet ist. Bremen, die Elbe oberhalb Magdeburg,
Kiel usw. sind dänisch geworden, der Nordwesten mit Oldenburg, Münster,
Elberfeld englisch! Südlich folgen die französischen Erwerbungen von
Köln aus über Frankfurt nach Würzburg und dann bis etwa Ulm.
Rußland grenzt von Wismar über Wittenberge, Magdeburg, Leipzig
bis einschließlich sächsisches Vogtland! Aber auch Österreich ist nicht
leer ausgegangen, obwohl es mit Deutschland im Bündnis stand!
„Innere Wirren“ hatten es aber verhindert, in den Krieg einzugreifen,
und deshalb wurde es mit Bayern und mit Schlesien belastet, mit
Schlesien, „das im Jahre 1866 Preußen dem österreichischen
Reich genommen hat“. Ist der anonyme Verfasser des Buches
tatsächlich Oberstleutnant, so muß es doch mit der Bildung im
französischen Offizierskorps zum Teil wenigstens recht mangelhaft
bestellt sein. Jedenfalls liegt in dem Buche ein Machwerk vor, dessen
Veröffentlichung aufrichtig zu beklagen vor allem die Franzosen, ganz
im besonderen aber die Offiziere der französischen Armee Veranlassung
haben. Hübner.
Darstellungen aus der bayerischen Kriegs- und Heeresgeschichte.
Herausgegeben vom Kgl. B. Kriegsarchiv, Heft 22,
Bayerns Anteil am IJlerbstfeldzuge 1813. Von Georg Gilardone,
Oberleutnant im Kgl. B. 23. Infanterieregiment, kommandiert zum
Kgl. Kriegsarchiv.
Die bayerische Nationalgarde II. Klasse in den Befreiungskriegen.
Von Erich Freiherr von Guttenberg, Leutnant im Kgl. B.
2. Feldartillerieregiment Horn, kommandiert zum Kgl. Kriegsarchiv.
München, 1913, Lindauersche Universitätsbuchhandlung,.
a) Bayerns Anteil am Herbstfeldzuge 1813,
Die schweren Anforderungen, die der Feldzug des Jahres 1812
an Bayern gestellt hatie, der Verlust seines starken, gut geschulten
96 Literatur.
Heeres, das es der schrankenlosen Eroberungspolitik Napoleons hatte
opfern müssen, tilgte in dem jungen Königreich auch die letzten
Spuren früherer Begeisterung und Erkenntlichkeit für den bisherigen
Wohltäter, ließ vielmehr das Gefühl der Zugehörigkeit zu Deutschland
wieder lebendig werden und sich allmählich zum heißen Begehren
und festen Willen auswachsen. Den Willen aber galt es in die Tat
umzusetzen. Durfte dabei einerseits der Argwohn Napoleons nicht zu
früh erweckt, so mußte doch anderseits alles für den entscheidenden
Schritt vorbereitet werden. Unter diesem Gesichtspunkte galt es, die
Armee neu aufzustellen, um im richtigen Augenblick ein wirksames
Gewicht zugunsten der Verbündeten in die Wagschale werfen zu
können,
Im Übungslager von Nymphenburg wird diese schwere Aufgabe
durch Wrede gelöst, der sich dadurch auch auf dem Gebiete der
Neuschöpfung des Heeres als der führende Mann Bayerns erweist.
Österreichs Anschluß an die Verbündeten vergrößert die politische
Spannung für Bayern. Die Armee rückt an den Inn 'ab, wo sie im
Feldlager von Braunau die Sicherung der bayerischen Grenze gegen
das österreichische Korps Reuß übernimmt, ein guter Grund, um es
französischen Gelüsten zu entziehen. Während dieser Sicherungs-
tätigkeit bahnt sich zwischen Österreich und Bayern der Vertrag von
Ried an und kommt am 8. Oktober zum Abschluß. Das österreichische
Korps — jetzt unter Fresnel — vereinigt sich mit der bayerischen
Armee unter Wredes Oberbefehl und rückt in Gewaltmärschen gegen
den unteren Main ab. Während dieses Vormarsches zwingt Wrede
das schwankende Württemberg durch die Konvention von Uflenheim
zum Anschluß an die Verbündeten. Auf Schwarzenbergs Befehl wendet
er sich dann gegen das befestigte Würzburg, dessen Widerstand seine
Bewegungen zwei Tage verzögert. Unverzüglich setzt er dann den
Vormarsch auf Hanau fort, um der nach der Schlacht bei Leipzig nach
dem Rhein abziehenden französischen Armee den Rückzug zu verlegen.
Unzutreffende Mitteilungen aus dem Hauptquartier Schwarzenbergs
sowie unrichtige Meldungen führen ihn zu einer Zersplitterung seiner
Kräfte. In der Entscheidungsschlacht bei Hanau am 30. gelingt es
Napoleon, sich den Weg nach Mainz zu öffnen, und auch die letzten
Kämpfe am 31. vermögen hieran nichts mehr zu ändern.
Mit der Schlacht bei Hanau endet die kriegerische Tätigkeit der
bayerischen Truppen im Herbstfeldzuge; ihre weiteren Bewegungen in
die Gegend von Offenburg und Kehl stellen sich bereits als einleitende
Schritte zum Feldzuge von 1814 dar.
Dies kurz der Inhalt der Abhandlung. Hat schon die neueste
Geschichtsschreibung bei Beurteilung von Wredes Verhalten während
des Herbstfeldzuges die ihm bisher vielfach gemachten Vorwürfe auf
das richtige Maß zurückgeführt, so entkräftet die vorliegende Dar-
stellung diese fast gänzlich. Sie zeigt überdies, daß Wrede schon
vor der Beendigung der Übergabeverhandlungen mit Würzburg aus
Literatur. 97
sich selbst heraus den Entschluß gefaßt hat, die Unklarheit der Lage
durch einen Vormarsch nach Norden aufzuhellen, ein Entschluß, der,
wie der Verfasser sagt, „sich zu einer jener befreienden Taten ge-
staltete, deren, Blücher ausgenommen, nur wenige der zeitgenössischen
Heerführer fähig waren“. Auf dem reichen urkundlichen Quellen-
material des bayerischen, preußischen und Wiener Kriegsarchivs und
des französischen Kriegsministeriums sowie dem gründlichen Studium
der einschlägigen Literatur beruhend, gibt die Abhandlung eine ebenso
lückenlose und sachliche, wie fesselnd geschriebene Darstellung, die
man als grundlegend für den Anteil, den Bayerns Heer am Herbst-
feldzuge genommen hat, bezeichnen kann.
Die beigegebene Übersichtsskizze erfüllt ihren Zweck indes nicht,
da verschiedene im Text vorkommende Ortsnamen auf ihr fehlen.
b) Die bayerische Nationalgarde II. Klasse in den
Befreiungskriegen.
Eine ebenso ausführliche und trotz des nicht immer leicht zu be-
handelnden Stoffes außerordentlich gewandt geschriebene Darstellung
bietet die zweite Abhandlung über die bayerische Nationalgarde
II. Klasse in den Befreiungskriegen. Von der Entstehung dieser zu-
nächst milizartigen Einrichtung ausgehend, führt uns der Verfasser
ihre Entwickelung bis zum Jahre 1812 vor Augen. Aber diese ist
nur kümmerlich geblieben; trotz Kosten und Mühen hat sich die Ein-
richtung nicht bewährt und das einzige bis dahin bestehende Bataillon
muß aufgelöst werden. Erst als im Frühjahr 1813 die Neuschöpfung
des bayerischen Heeres der politischen Lage angepaßt werden muß,
erfährt auch die Nationalgarde ihre Wiederbelebung. Nach Vollendung
ihrer mitunter auf viele Schwierigkeiten stoßenden Organisation wird
auch sie im Übungslager bei Nymphenburg zusammengezogen. Ihre
bisherige Bestimmung, in Zeiten der Gefahr innerhalb der Grenzen
des Reiches der Ordnung und Sicherheit gegen innere und äußere
Feinde zu dienen, wird erweitert, da sich nach und nach die meisten
der errichteten Legionen und das Kavallerieregiment auch zur Ver-
wendung außerhalb der Landesgrenzen bereit erklären. So wird die
Nationalgarde II. Klasse, deren Legionsbataillone jetzt zum Teil in
Feldbataillone umgewandelt werden, ein wichtiger Bestandteil der
bayerischen Armee, der nicht nur ruhmvollen Anteil an den Schlachten
und Gefechten der Jahre 1813 und 1814 nimmt, sondern auch als
Festungsbesatzung sowie zur Niederhaltung des damals zu Bayern
gehörenden, aber zu Österreich hinneigenden Tirols gute Dienste leistet.
Nach dem ersten Pariser Frieden nimmt die Organisation der National-
garde II. Klasse wieder mehr milizartigen Charakter an, doch findet sie
auch der Feldzug von 1815 bereit, außerhalb des Landes an den Operationen
des Korps Wrede mitzuwirken. Kein Wunder daher, daß Wrede nach
dem zweiten Pariser Frieden jene Verbände, die seine Führung in der
eisernen Schule des Krieges zur brauchbaren Feldtruppe geschmiedet
Jahrbücher für die deutsche Armee und Marine, Nr. 514. 7
98 Literatur.
hat, der Armee trotz der von Montgelas in Rücksicht auf den schwer
erschütterten Staaishaushalt erhobenen Bedenken zu erhalten sucht.
Allerdings nur als „Rahmenbataillone“, d. h. Bataillone ohne Mann-
schaften, werden die Legionsbataillone den Linienregimentern an-
gegliedert, bis nach wenigen Jahren auch diese „aus ökonomischen
Rücksichten“ in Wegfall kommen.
Ein bleibender, auf gründlichster Benutzung der vorhandenen
archivalischen und literarischen Quellen beruhender Beitrag zur Heeres-
geschichte Bayerns ist durch die gediegene Arbeit geschaffen, die
auch über die bayerische Armee hinaus Interesse erwecken wird, zu-
mal sie vielfache Anregung zu Vergleichen hinsichtlich der miliz-
artigen Heeresverstärkungen jener Zeit, besonders auch mit der
preußischen Landwehr, bietet, F.
Capitaine breveté Bertin: Guerre russo-japonaise. Liaoyang. Six
mois de manœuvre et la bataille. Paris 1913. Librairie Chapelot.
188 S. 30 Karten. 15 Frs.
Der Verfasser hat den Feldzug im Stabe der II. japanischen Armee
mitgemacht, dann die Jahre von 1909—1913 in dienstlicher Stellung in
Japan zugebracht, so daß es ihm möglich war, seine ursprünglich
teilweise in der Revue militaire de l’etranger veröffentlichte Dar-
stellung zu überprüfen, zu erweitern und zu berichtigen. Auch er ist
der Ansicht, daß es noch nicht an der Zeit sei, eine einwandfreie
Geschichte des Kampfes zu schreiben, was er uns bietet, ist äußerst
wertvolles Material unter Berücksichtigung des japanischen Stand-
punktes. Wenn auch der Verfasser den russischen ÖOperationsplan
billigt, so verfehlt er doch nicht, auf die schweren Nachteile auf-
merksam zu machen, die das Zurückweichen der starken Heeresvorhut
zur Folge haben mußte. Das planmäßige Abbrechen der Gefechte
von Simuntschön und Taschitsao durch so starke Kräfte mußte ganz
naturgemäß den Eindruck einer Niederlage erwecken, um so mehr, als
die Möglichkeit eines taktischen Erfolges mehr als einmal nahe lag.
Auf Grund seiner Feldzugserfahrungen (S. 752) verwirft der Verfasser
den Antrieb von rückwärts, um eine Truppe vorzureißen, sie soll zum
Vorgehen die Kraft in sich selbst finden, in dem Willen der Schützen,
angefeuert durch das Vorbild der Führer. Sehr schön; aber wo beides
im Feuer nicht mehr ausreicht, bleibt doch nichts anderes übrig, als
der Einsatz frischen Blutes und frischer Führer. Wir verweisen dann
auf seine Bemerkungen über Massenpsychologie (S. 754) im Zusammen-
hang mit der Bemessung der Größe der Frontausdehnung.
Das Ergebnis seiner Erwägungen und Beobachtungen auf dem
Gefechtsfelde ist, daß er dem Regiment eine Frontbreite von 1000,
der Brigade von 2000 und der Division von 4000 m zuweist. Für
das Vorgehen im Artilleriefeuer spricht sich der Verfasser gegen ein
Zerlegen in schmale Kolonnen aus, empfiehlt Vorgehen in Wellen von
Schützenlinien, wenn man seiner Truppe in den hinteren Staffeln
Literatur. 99
so sicher ist, daß sie nicht frühzeitig ohne Befehl das Feuer er-
öffnet,
Für den Artilleriekampf empfiehlt er — wie u. a. auch der fran-
zösische Artilleriegeneral Herr — Schrägfeuer einzelner vorgeschobener
Batterien gegen die Flanke der feindlichen Geschützlinie (S. 770) als
besonders wirksam. Sehr skeptisch spricht sich der Verfasser über
die Möglichkeit des Begleitens des Infanterieangriffes durch Artillerie
aus, er meint, daB wenn erst einmal der Sturm losgebrochen sei, so
könne die Artillerie ihr Feuer nur noch vorverlegen, die Flanken der An-
griffstruppe schützen; als unbedingt notwendig fordert der Verfasser
ein vereinbartes Zeichen, um von der Artillerie gegen irgendeine
Stelle der feindlichen Front jederzeit das „Erschütterungsfeuer“ zu
entfesseln. Als Nachrichtenmittel fordert er einfache Zeichen für ein-
fache Aufgaben. Fernsprechverbindung bleibt dem Zufall überlassen,
Verkehr durch Meldereiter ist fast unmöglich, durch Relaisposten von
Ordonnanzen sehr langsam und nur geeignet, etwa von Stunde zu
Stunde durch Skizzen den Stand der eigenen Truppen und des Feindes
anzugeben (S. 776). Schließlich sei noch darauf hingewiesen, daß der
Verfasser auf Grund der Kriegserfahrungen den Vormarsch in zahl-
reichen Kolonnen verwerfen zu müssen glaubt zugunsten des massierten
Verfahrens (S. 780). Das recht interessante Buch sei ganz besonders
empfohlen, ich fürchte aber, daß eine ähnliche Beurteilung der
späteren Schlachten vom Verfasser wohl leider nicht beabsichtigt ist.
Balck.
Infanteriekampf und Felddienst. Von Hauptmann A. Schmidt, In-
struktor, Ausbildung und Führung. 212 S. Verlag von Asch-
mann und Scheller, Zürich 1914. Preis 3,75 Frs.
Das für den Schweizer Milizoffizier bestimmte taktische Handbuch
macht einen recht guten Eindruck. Der Verfasser hat nicht nar ver-
standen, mit grossem Geschick die Bestimmungen des vorzüglichen
Schweizer Exerzierreglements durch eigene Gedanken, die im wesent-
lichen mit den in der neuesten Zeit in der Literatur verfochtenen
Ansichten sich decken, zu erläutern, dann besonders hervorzuheben, was
zu üben ist.und schließlich Aufgaben auf dem ganz vorzüglich ausge-
führten KartenblattBern der Eidgenössischen Generalstabskarte zu stellen.
Die Ansprüche, die er an Truppe und Führer stellt, sind recht hoch:
„Der Krieg fragt nicht, ob Miliz oder Kaderheer, ob kurze oder lange
Dienstzeit, der Krieg fordert aber, fragt nicht: der Krieg fordert die
höchste Potenz von Soldatentum, kriegsgemäße Ausbildung und Führung.
Mehr noch als das stehende Heer bedarf die Milizarmee einer überaus
selbständigen und selbsttätigen, eines von hoher Zuversicht und hoher
Verantwortungsfreudigkeit durchdrungenen Unteroffizier- und Offizier-
korps, auf das die Mannschaft trotz der kurzen Ausbildungszeit mit
vollem Vertrauen blicken dürfen“. In diesem Gedankengang behandelt
der Verfasser die Ausbildung des einzelnen Mannes, der Gruppe, des
7°
100 Literatur.
Zuges und der Kompagnie. Als „Outsider“ will mir nur scheinen,
daß für Schweizer Verhältnisse nicht genügend die Verhältnisse des
Gebirgskrieges behandelt sind. Zur Orientierung über das taktische
Leben in der Schweizer Armee ist das Buch ganz besonders zu
empfehlen. Balck.
France et Allemagne. La guerre éventuelle. Par le Lieutenant-
Colonel A. Grouard. Paris. Chapelot.
Unter der Unmasse von französischen Schriftstellern über einen
etwaigen Krieg der Republik mit Deutschland veröffentlichten Büchern
bildet das vorliegende eine bemerkenswerte Ausnahme. Der Verfasser
bemüht sich offenbar, allenthalben sachlich zu bleiben, wenn zwar
auch ihm dies nicht immer gelingt. Von besonderem Interesse sind
mehrere Feststellungen, die machen zu müssen er glaubt, so die, daß
die Mobilmachung der französischen Armee unter Umständen schneller
als die des deutschen Heeres verlaufen werde, so die, daß Frankreich
nicht, wie 1870 geschehen, mit unterlegenen Kräften in den zukünftigen
Feldzug treten, sondern daß man numerisch stärker sein werde, so
die, daß die französischen Reservetruppen vollwertig denen der aktiven
Armee zur Seite zu stellen seien, und schließlich die, daß die Mobil-
machung der russischen Armee geraume Zeit beanspruchen werde,
Die bekannten Bücher des Oberst Boucher und des Hauptmann Sorb
erfahren eine treffliche Beurteilung, manche kriegsgeschichtlichen
Vergleiche erhöhen den Wert des sehr lesenswerten Buches. H.
Taschenbuch der Kriegsflotten 1914.
In alter Vollendung liegt das diesjährige Taschenbuch vor uns,
in das nunmehr auch ein Verzeichnis der Kriegsschiffe bauenden
Werften sowie der Artillerie- und Panzerplattenwerke der verschiedenen
Seemächte aufgenommen ist. In dem Bilderteil sind bei den Decks-
plänen der Panzerschiffe Angaben über das Geschoßgewicht einer Breit-
seite hinzugekommen, obwohl denselben, wie der Verfasser im Vorwort
treffend bemerkt, keine maßstäbliche Bedeutung zukommt. v. N.
Der Jammer unserer Seemacht. Die politischen, militärischen und
wirtschaftlichen Grundlagen des langfristigen Flottengesetzes.
Von Marineschriftsteller Max Schloß. Wien 1914. Druck und
Verlag von Josef Roller & Comp.
„Ausgehend von der Erwägung, daß es über kurz oder lang zwischen
Österreich und Italien zum Kriege kommen müsse, das darauf aus-
ginge und agitiere, Albanien mit Valona, dem Schlüssel der Adria, in
seine Gewalt zu bekommen, redet der Verfasser — das Werk ist der
Abdruck eines von ihm gehaltenen Vortrages — einer wesentlichen
Verstärkung der österreichischen Marine das Wort. Er begründet
seine Forderung auch mit der Konfliktmöglichkeit mit anderen Staaten,
2. B. Frankreich (bei einem Kriege an Deutschlands Seite), England
bzw. Rußland. Indem er eine Militärkonvention mit Griechenland be-
Literatur. 101
fürwortet, um dessen wachsende Seemacht als Helferin zu haben, geht
er doch darauf aus, daß nur die eigene Kraft allen künftigen Möglich-
keiten begegnen könne, und verlangt die Flottenvermehrung auf der
Grundlage eines langfristigen Flottengesetzes. Dessen durchschlagende
Wirkung sei durch das deutsche Beispiel aufs glänzendste dargetan
und fände selbst bei England Nachahmung. Die klaren Ausführungen
des Verfassers können von jedem Einsichtigen nur als durchaus zu-
treffend bezeichnet werden. Welcher Verlaß auf Italien ist, zeigte sein
Verhalten bei der Marokkokrise, während der es seine Interessen voran-
stellte. War dies begreiflich und verständig, so beweist es nur,
daß die Bundesgefolgschaft demgegenüber zurücktritt, und das kann
sich stets wiederholen. v. N.
Historique de la guerre souterraine. Von A. Genez, capitaine du
génie. Mit 37 Textskizzen und 13 Plänen. Paris und Nancy
1914. Berger-Levrault. Preis 5 Frs. (Extrait de la Revue du
génie militaire 1912 und 1913.)
Der Verfasser gibt in dieser Studie einen umfassenden Überblick
über die ganze Entwickelungsgeschichte des Minenkrieges vom grauen
Altertum bis zur Gegenwart. Er unterscheidet hierbei vier Zeit-
abschnitte: Der 1. von der Belagerung von Fidenä (430 v. Chr.) bis
zur erstmaligen Anwendung des Pulvers im Minenkrieg gelegentlich
der Belagerung von Serezzanella (1487); der 2. von 1487 bis zu den
Festungskämpfen um Candia (1667—1669), d. i. die Periode der
grundsätzlichen Breschelegung durch den Angriffsmineur; der 3. Ab-
schnitt reicht bis zur Belagerung von Schweidnitz (1762) und kenn-
zeichnet sich vor allem durch die Anwendung von Gegenminen durch
den Verteidiger zur Verzögerung der Angriffsarbeiten. (La guerre
souterraine à double action!) Der 4. Zeitraum endlich erstreckt sich
vom Jahre 1762 bis zur Gegenwart. In die ersten Jahre dieser Periode
fallen die Erfindungen und Theorien von Belidor und ihre Ausnutzung,
namentlich jene der überladenen Minen bei der Belagerung von
Schweidnitz und denen der Revolutionskriege. In den darauffolgenden
großen napoleonischen Kriegen, dann in den Kämpfen um die Einigung
des Deutschen Reiches und des Königreichs Italien wird die Ent-
scheidung fast überall in Feldschlachten erkämpft. Der Festungs-
kampf aber wird da, wo er überhaupt in die Erscheinung tritt, haupt-
sächlich durch die Artillerie entschieden. Der Minenkrieg tritt daher
sehr in den Hintergrund. Das zeigt sich ganz besonders in den
Festungskämpfen des Deutsch-Französischen Krieges. Nur da, wo die
Artillerie aus irgendwelchen Gründen erfolglos ist und die Festung
nicht zu Fall bringen kann, wie bei Sebastopol und Port Arthur,
kommt der Minenkrieg wieder zur Geltung. Es ist naheliegend, daß
dieser 4. Abschnitt der Studie in weit höherem Maße fesselt, als die
ersten drei Abschnitte, die nur mehr vom rein historischen Stand-
punkte aus Interesse erwecken können.
102 Literatur.
Für den Ingenieuroffizier sind insbesondere die eingehenden Be-
trachtungen und die sehr übersichtlichen Zusammenstellungen des
Verfassers über den Minenkrieg vor Sebastopol und Port Arthur lehr-
reich. Bei ersteren folgt Genez in erster Linie den Berichten des
Marschall Niel und des General Todleben; bei letzteren, die durch recht
übersichtliche und klare Skizzen besonders reich illustriert sind, fußt
er auf dem bekannten Werke von Schwarz und Romanowski sowie
auf einer Studie des Oberst Grandprey. Jedenfalls gibt die Broschüre
einen recht anschaulichen Einblick in die Verhältnisse des Nahkampfes
um Port Arthur. In einer kurzen Schlußbetrachtung läßt der Verfasser
die Frage, ob auch in einem großen europäischen Kriege der Minen-
kampf wieder aufleben werde, im großen und ganzen offen; er
empfiehlt nur, daß man sich auf alle Fälle derart vorbereiten müsse;
denn bei allem Streben nach Beschleunigung der Entscheidung im
Festungskampf sei ein zäher und schrittweiser Widerstand der Ver-
teidigung durchaus nicht ausgeschlossen; die technischen Truppen
müßten also auch auf einen Minenkrieg vorbereitet und vorgeschult
sein. Für sie gelte das Wort Lebruns: „Artem experientia fecit.“
Ob.
„Heer und Volk in Preufsen-Deutschland.‘ Vier Reden von Professor
der Staatswissenschaften Adolph von Wenckstern, Vossische
Buchhandlung 1914. 60 Pf.
Der bekannte Breslauer Nationalökonom hat mit seiner Schrift
sich in den Streit gemischt, der zwischen einzelnen politischen
Richtungen unseres Volkes, in erster Linie durch den Zaberner Fall
hervorgerufen, seit einiger Zeit tobt. Die einen behaupten, daß
zwischen Volk und Heer eine breite Kluft bestehe, die anderen be-
haupten, daß das nicht der Fall sei. Professor Wenckstern steht auch
auf dem von uns durchaus vertretenen Standpunkte, daß .von einer
Kluft zwischen Heer und Volk gar nicht die Rede sein kann. In
seinen vier Reden wird in großzügiger und von uns durchaus zu
billigender Weise die Frage des Volkes zum Heer und des Heeres
zum Volk behandelt. Die Schrift ist eine ernste Mahnung an alle,
die sich durch den Zaberner Rummel haben hinwegreißen lassen und
gegen die Armee Front machten. Zwar behaupten jetzt viele Leute,
das habe gar nicht der Armee gegolten, sondern sei nur eine „Ver-
teidigung bürgerlicher Rechte“ gewesen. Das ist nicht der Wirklich-
keit entsprechend. Der Zaberner Rummel ist geboren aus dem Haß
gegen die Armee, nur von diesem Gesichtspunkte aus kann man
die Dinge verstehen, und daher hat Professor Wenckstern sich das
Verdienst erworben, die Dinge richtig beleuchtet zu haben. M.-B.
Wiederholungsbuch der Waffenlehre. Von F. Wille, Major u. Ab-
teilungskommandeur i. 2. Schles. Feldart.-Regt. Nr. 42. 3. Aufl.
Preis geh. 4 M.
Daß derartige Bücher einem Bedürfnis gerecht werden, geht schon
aus der Tatsache hervor, da es sich bei dem vorliegenden um die
Literatur. 103
3. Auflage handelt. Das „Wiederholungsbuch“ will denen im wesent-
lichen dienen, die sich zum Examen für die Kriegsakademie vorbereiten,
und diesem Zweck wird es im großen und ganzen durchaus gerecht.
Der immerhin recht umfangreiche Stoff ist kurz und erschöpfend be-
handelt und durch geschickte Zusammenstellungen, durch Betrachtungen
über die Waffenwirkung und Waffenverwendung schmackhaft gemacht.
Freilich kann man nicht in allen Punkten der Ansicht des Verfassers
zustimmen, so wenn er sagt, daß die Zweifel, die eine Zeitlang hin-
sichtlich der Verwundungsfähigkeit (besser wäre „Schlagwucht“ oder
„Aufhaltekraft“) der kleinen Kaliber der Infanteriegewehre bestanden,
behoben seien und daß mit der Einführung eines Selbstladegewehrs
die Annahme einer Seelenweite von 7,0 bis 6,5 mm verbunden sein
würde. Diese Zweifel sind nicht nur nicht behoben, sondern durch die
letzten Kriege so verstärkt worden, daß wohl kaum ein Staat bei einer
Neubewafinung ein Kaliber von 6,5 mm wählen wird. Den „Nah-
kampfsteilfeuergeschützen“, die noch dazu unter anderem Panzer-
beobachtungsstände von Festungswerken unbrauchbar machen sollen,
wird wohl der Artillerist gleicherweise wie der Ingenieur recht skeptisch
gegenüberstehen. Ferner werden wir den „Holzmörsern“ der Japaner
so leicht nicht wieder in der Kriegsgeschichte wieder begegnen, wie
es überhaupt allgemein angezeigt ist, aus dem mandschurischen Feld-
zug und im besonderen aus der Belagerung von Port Arthur nicht zu-
viel Gold für die Zukunft zu münzen. Erwünscht wäre es, wenn bei
einer Neuauflage die „unabhängige Visierlinie“ schärfer von der
„unabhängigen Visiereinrichtung“ (die nur Steilfeuergeschütze be-
sitzen) geschieden würde. Es mag zugegeben werden, daß seinerzeit
beide Ausdrücke nicht sehr glücklich gewählt wurden, aber jetzt hat
man sich einmal daran gewöhnt, unter jedem einzelnen Begriff sich
etwas ganz Bestimmtes vorzustellen, und ohne Not soll man, besonders
in einem für Offiziere aller Waffen bestimmten waffentechnischen
Buche, die Geister nicht verwirren. Im übrigen sei das Büchlein an-
gelegentlichst empfohlen. B. S.-R.
Veltzes Internationaler Armee-Almanach. Herausgegeben von Oberst-
leutnant Alois Veltze. 7. Jahrgang 1913/14. Verlag für vater-
ländische Literatur, Wien 1914. (Belsersche Verlagsbuchhandlung,
Stuttgart.) 6 M.
Der neue Jahrgang des sehr verbreiteten und beliebten Almanachs
enthält die abgeschlossenen Schilderungen der Heerwesen von nicht
weniger denn 61 Staaten. Veltzes Almanach ist wohl das voll-
kommenste Handbuch, das in der militärischen Literatur über Heere
und Marinen existiert. Er enthält in übersichtlicher, knapper Form
eine geradezu erstaunliche Fülle von Angaben, so über Staats-
verfassung, Wehrverfassung, Ergänzung, Weiterbildung, Gebührnisse
und Pensionen der Offiziere und Unteroffiziere, über Truppenformationen
der einzelnen Waffen und ihre Ausrüstung, Gliederung des Heeres
104 Literatur.
und militärische Landeseinteilung, über Festungswesen und gibt
schließlich in einem „Resümee“ ein Urteil des Bearbeiters über den
militärischen Wert des betreffenden Heeres wieder. Den Angaben
über die Armee ist eine übersichtliche Tabelle über die Kriegsmarine
des betreffenden Staates angefügt. Die Truppenunterbringung wird
weiterhin durch viele Kartenskizzen erläutert und bei den wichtigeren
Staaten sind schließlich auch noch Uniformbilder, Skizzen von Ge-
schützen, Maschinengewehren usw. beigefügt. Da die Drucklegung
schon Ende Oktober begonnen hat, so konnten nicht alle neuen
Formationsänderungen, deren Abschluß erst Ende 1913 oder später
vorgesehen ist, berücksichtigt, sondern nur auf sie hingewiesen werden.
Daß bei der Fülle von Angaben, die das Werk enthält, auch Irrtümer
— auf die hier im einzelnen nicht eingegangen werden kann — unter-
laufen, ist erklärlich. Sie werden gewiß aber von jedem milde be-
urteilt werden, der selbst vor die Lage gestellt wurde, aus den sich
vielfach widersprechenden Preßnachrichten das „wahrscheinlich“ Richtige
herauszukonstruieren.
Das reichhaltige und zudem sehr handliche Nachschlagebuch sei
hiermit auf das wärmste empfohlen. B. S.-R.
ll. Ausländische Zeitschriften.
Streffleur. (Märzheft.) Der Kampf im Gebirge. — Fortschritte
der fremden Armeen 1913: Deutschland. — Die Ereignisse in Libyen
nach dem Frieden von Lausanne (9. Forts). — Mitteilungen der
k. u. k. Armeeschießschule: Der neue Distanzmesser M/12 mit
vier Textfiguren. — Beantwortung von bezüglich des Gruppenschießens
gestellten Anfragen.
La revue d’infanterie. (Nr.329). Der Infanterist in der Instruktion
(Forts.), — Der Infanterist der Hauptarmeen im Felde: Österreich-
Ungarn (Forts.).. — Die intellektuelle und moralische Erziehung des
Zugführers (Schluß).
Revue militaire des armées étrangères. (Nr. 1038, Mai 1914.)
Die belgische Armee Anfang 1914 (Forts. und Schluß), — Gedanken
über die Balkankriege (Forts.). — Militärische Neuigkeiten: England,
Österreich-Ungarn, Belgien, Deutsches Reich, Spanien, Vereinigte
Staaten, Italien, Portugal, Rußland.
Journal des sciences militaires. (Nr. 157.) Die Verpflegung
der Truppen im Felde. — Deutsche Ansichten. — (Nr. 158.) Die Ver-
pflegung der Truppen im Felde (Forts). — Festungsmanöver. — (Nr. 159.)
Die Verpflegung der Truppen im Felde (Forts... — Der Gebrauch der
Ballons in Tripolis. — (Nr. 160.) Wie ist die Konzentration unserer
Armee zu verbessern? — Die Verpflegung der Truppen im Felde (Forts.).
— (Nr. 161.) Die Attacke der fünften Kürassiere bei Beaumont. — Das
Schießen der Feldkanonen. — Die Verpflegung der Truppen im Felde.
Literatur. 105
Revue d’histoire. (Nr. 161.) Eine deutsche Ansicht über den
Angriff in der Mitte. — Der Krieg von 1870/71. Die Belagerung
von Paris (Forts). — Die Erste Loire-Armee (Forts... — (Nr. 162.)
Eine deutsche Ansicht über das Entstehen von Entschlüssen (Forts.).
— Der Krieg von 1870/71. Die Belagerung von Paris (Forts.), —
‚Die Erste Loire-Armee (Forts.). j
Revue d’artillerie. (Mai.) Ein Lehrplan. für Schießschulen. —
Über die körperliche Erziehung in den Artillerietruppen. — Konzen-
trisches Feuer in den Küstenbatterien. — Zukunftsgedanken in der
Artillerie von ehemals,
Allgemeine Schweizerische Militärzeitung. (Nr. 20) Lastauto-
mobile in unserem Heeresdienst. — Die Armee Mexikos und der Ver-
einigten Staaten von Nordamerika. — Das Wiener Archivwerk und
die wahre Stärke der Verbündeten bei Leipzig, — (Nr. 21) Last-
‚automobile in unserem Heeresdienst, — Die Armee Mexikos und der
Vereinigten Staaten von Nordamerika. — (Nr, 22) Wie in Nr. 21. —
(Nr. 23) Lastautomobile in unserem Heeresdienst.e — Nochmals
Turnen, Disziplin und Vorgesetztenautorität, — Die Errichtung des
niederländischen Generalstabes. — Die Armee der Vereinigten Staaten
von Nordamerika,
Schweizerische Zeitschrift für Artillerie und Genie. (Nr. 5)
Der Kampf um Adrianopel. — Trains und Trainfragen. — Das neue
norwegische Gebirgsgeschütz. — Über psychologische Beobachtungen
aus dem tripolitanischen Kriege. — Artilleristische Umschau V.
Die Nationalverteidigung. (Nr. 78) Die Reorganisation der
türkischen Armee und Marine nach dem Urteil des Auslandes. —
Folgerungen aus dem Munitionsverbrauch im Felde. — Die Heran-
bildung zum Kavallerieführer. — Die Kriegskunst für das Verständnis
des Soldaten. — Ist Schutz gegen Beobachtung aus der Höhe möglich?
— (Nr. 79) Die Aufgabe des Offiziers bei der Wiederaufrichtung der
Armee. — Aufgabenstellung an Truppen im Gelände. — Ankunft des
Panzerkreuzers „Goeben“ in Konstantinopel. — Die Heranbildung zum
Kavallerieführer. — Die Kriegskunst für das Verständnis des Soldaten.
— Zur Frage der Verwendung der Artillerie in höheren Verbänden.
Wojennüj Ssbornik. (Mai.) Der Generalstab und die oberen
Kommandobehörden. — Der Generalstabsdienst im Kriege. — Der voraus-
sichtliche Einfluß der Luftschiffahrt auf die Artillerietaktik.— Das Zureiten
des Kasakenpferdes. — Der Einfluß der akademischen Bildung auf
das moralische Element. — Der Einfluß des Artilleriefeuers auf die
Psyche. — Der Bruderkrieg auf dem Balkan. — Geschichte, Nationalität,
Politik und Krieg. — Die Antialkoholbewegung in der Armee. — Ein
französischer Offizier über die serbische Armee. — Ein Jahr in Ungarn.
Morskoij Ssbornik. (Mai.) Admiral Makarow und die Kriegskunst.
— Studien zur Strategie. — Erinnerungen an Admiral Butakow. —
Jahrbuch des Ostens (über die japanische Ministerkrise). — Umschau
im Auslande. — Neuigkeiten aus Technik und Schiffbau.
Jahrbücher für die deutsche Armee und Marine. Nr. 514. 8
106 Literatur.
Raswjedtschik. Nr. 1226. Skizzen aus dem Militärleben. —
Die Winterarbeiten der Offiziere. — Erzieher und Kadetten. —
Nr. 1227. Die Feuertaktik. — Die Obersten in den Armeeregimentern.
— Urlaub und Krankheit, — Nr. 1228. Zur Verteidigung der Armee.
— Der Eid. — Ein ungerechtes Urteil über die Unterseeboote. —
Nr. 1229. Die Fremdenlegion. — Zur Erinnerung an General Ussow.
— Die Qualifikationen. — Nr. 1230. Das Kasino für Heer und Flotte.
— Die Festungsartilleristen.
Russkij Inwalid. Nr. 93. Zur Erinnerung an General Greck. —
Die Mängel unserer Reiterei. — Nr. 94. Eine Vorschrift für die In-
fanterieaufklärer. — Die Pferdeausstellungen 1914. — Zur Hebung
‘der Schießfertigkeit.e. — Nr. 101. Unsere Flieger. — Der deutsche
General v. Bernhardi, ein eifriger Anhänger der italienischen Schule
der Reitkunst,. — Nr. 104. Das Alter der Artilleriebrigaden. — Die
Verstärkung der griechischen Flotte. — Nr. 105. Das Offizierspferd.
— Die Vorschrift über die Ausbildung der Infanterie vom Jahre 1911.
— Nr. 107. Der Großfürst Michael Nikolajewitsch und die endgültige
Unterwerfung des Kaukasus. — Nachrichten aus dem Kaukasus vor
50 Jahren. — Nr. 108. Die Fechtübungen bei der Truppe. — Zur
Antialkoholfrage.
ill. Seewesen.
Mitteilungen aus dem Gebiete des Seewesens. Nr.5. An Bord
der Fregatte „Schwarzenberg“ während des Seegefechts bei Helgoland
am 9. Mai 1864. — Zur Geschichte der Donauflottille.. — Admiral-
stabskurs. — Der Torpedo und seine Verwendung im Kriege. — Das
taktische Peilungsdiagramm. — Exerzitien der II. Division der I. Schlacht-
schiffeskadre der Heimatsflotte. — Ein neues Schiffbauunternehmen in
Rußland. — Schlachtschiffe englischer und französischer Bauart. —
Deck ahoi! — Nr. 6. Derzeitiger Stand der Funkentelegraphen-
anlagen. — Zur Geschichte der Donauflotille. — Der Torpedo und
seine Verwendung im Kriege. — Hollands Flottenrüstungen zum
Schutze seines indischen Besitzes. — Taucher in 80 m Tiefe. — Rivista
marittima (Besprechung eines Artikels).
Army and Navy Gazette. Nr. 2832. Unterseeboote. — Ein
Marineschriftsteller. — Zwei leichte Kreuzer. — Seeschlachtübung. —
Der Challenge-Cup. — Das erste Opfer der Ulsterkrise ein Mann der
Küstenwache, — Nr. 2833, Die Grenze der Sicherheit. — Armierte
Handelsschiffe. — Marinefreiwillige. — Marineüberwachung. — Marine-
hydrographie. — Nr. 2834, Torpedobootarmierung. — Nahrungsmittel-
zufuhr im Kriege. — Die neue „Galatea“. — Werftmuseen. — Küsten-
wachenunfall. — Nr. 2835. Nautische Erhebungen. — Die Marine-
mobilisation. — Westatlantische Schiffe. — Marineschießübungen. —
Nr. 2836. Die Marinebeleidigungsklage. — Die Ostseebesuche —
‚Literatur. 107
Schlachtschiffbauaufträge. — Die Leutnants (E). — Kreuzer in der
Fremde. — Nr. 2837. Das Unglück im St.-Lorenz Strom. — Die
australischen Unterseeboote. — Die Marine und der Stille Ozean. —
Marineingenieure. — Marinestationen.
IV. Verzeichnis der zur Besprechung eingegangenen Bücher.
(Die eingegangenen Bücher erfahren eine Besprechung nach Mafsgabe ihrer Bedeutung und des vər-
fügbaren Raumes. Eine Verpflichtung, jedes eingehende Buch zu besprechen, übernimmt die
Leitang der „Jahrbücher“ nicht, doch werden die Titel sämtlicher Bücher nebst Angabe des Preises
— sofern dieser mitgeteilt wurde — hier vermerkt. Eine Rücksendung von Büchern findet nicht statt.)
1. Wolff v. Hegyközszentimre, Der Theor.-praktische Patrouillen-,
Nachrichtendetachement- und Meldedienst im Feld- und Gebirgskriege.
Wien 1914. Seidel & Sohn. 3,20 K.
2. Wolff v. Hegyközszentimre, Anleitung für die Ausbildung im
Patrouillen- und Meldedienste. Wien 1914. Seidel & Sohn. 3,20 K.
3. Janet, Etude sur les Operations du Groupe de l’Est à la
Bataille du Chaho. Paris 1914. Librairie Chapelot. 2,50 Frs.
4. Etudes sur Avant-Garde, publiées par la Section historique
de l’Etat-Major de Armée. Paris 1914. Librairie Chapelot. 12 Frs.
5. Bonnal, Général H. La vie militaire du maréchal Ney, tome III.
Paris 1914. Librairie Chapelot. 15 Frs.
6. Vandeputte, Le chien militaire belge-employé à la traction des
mitrailleuses „Maxim“. Brüssel 1914. Guyot Frères.
7. Vereinsjahrbuch des k. k. Österr. Flugtechnischen Vereins 1913.
Wien 1914. Selbstverlag.
8. Waddington, La guerre de sept ans. Tome V. Paris. Librairie
de Paris. Firmin-Didot et Cie, 7,50 Frs.
9. Eyb, Fliegerhandbuch. Berlin 1914. Richard Carl Schmidt.
Geb. 10 M.
10. Der Wille zum Sieg. Leipzig 1914. Heinrich Finck. 2,40 M.
11. Lindner, Weltgeschichte. Band 8. Stuttgart 1914. J. G.
Cotta’sche Buchhandlg. Geh. 5,50. In Leinen 7 M. Halbfranz 7,50 M.
12. Octavius, Groß-Habsburg. Das Resultat des russisch-Öster-
reichischen Krieges 1918. Krakau 1914. M. Deutscher. 1,50 K.
13. Le Nepvon de Carfort. La guerre légitime. Paris 1914.
2 Frs.
14. v. der Goltz, Kriegsgeschichte Deutschlands im neunzehnten
Jahrhundert. Berlin 1914. Georg Bondi. II. Teil: Im Zeitalter Kaiser
Wilhelms des Siegreichen. Brosch, 10 M. Leinen 11,50 M. Halb-
franz 12,50 M.
15. Balthasar, Der Dienst des Unteroffiziers, Heft 1—3. Berlin
1914. E. S. Mittler & Sohn. Heft 1 und 2 je 0,50 M., Heft 3 0,60 M.
16. Rohde, Die Ereignisse zur See und das Zusammenwirken
von Heer und Flotte im Balkankrieg 1912/13. Berlin 1914. R. Eisen-
schmidt, 4,50 M. Geb. 5,50 M.
108 Literatur.
17. Sommerbrodt, Das Feldhaubitzgerät 98.09, seine Behandlung
und Munition. Berlin 1914. E. S. Mittler & Sohn. 1 M.
18. Peyronnet, Les grands hommes de Guerre. Davout. Paris
1914. Chapelot. 1,50 Frs.
19. Organ für Reserve-Offiziere (Streffleurs illustr. Vierteljahrs-
schrift), IV. Jahrgang. 3. Heft. April 1914. Wien. Seidel & Sohn.
20. Kommandobuch, kleines, für die Feldartillerie. 3. Aufl.
Berlin 1914. Vossische Buchh. 0,50 M.
21. Meyer, Der Balkankrieg 1912/13. Teil IV/V. Berlin 1914.
Verlag der Vossischen Buchh. 5,60 M.
22. Feldbefestigung, Anwendung der beim Infanterieangriffe.
Wien 1914. L. W. Seidel & Sohn. 80 Heller.
23. Cebrian, Wiederholungsbuch der Feldkunde für den Truppen-
gebrauch. Berlin 1914, R. Eisenschmidt. 3,80 M.
24. Tiersch, Formen und Grundsätze für den Kampf um befestigte
Stellungen. (Sammilg. Göschen.) Leipzig 1914. G. J. Göschen.
Geb. 0,80 M.
25. Kriegsflotte, Die deutsche, 1914 (3. Jahrg.), herausgegeben
v. Toeche-Mittler. Berlin 1914. Mittler & Sohn. 1 M.
26. Beiträge zur Untersuchung des „türkischen Jena“ und der
Möglichkeit einer Gesundung und Verjüngung der „amputierten
Türkei* von einem alten Türkenfreunde. Werbe- und Einleitungsheft.
Wien 1914. Komm.-Verlag Seidel & Sohn. 1 Kr. 60 Heller.
27. Mordaco, La guerre au XXe siècle. Paris 1914. Berger-
Levrault, 3,50 Frs.
28. de Witt Clinton Falls. Die Armee der Vereinigten Staaten
von Amerika. Leipzig. Moritz Ruhl. 2,50 M.
29. Cissey, La cavallerie dans le groupe d’armees l'armée et le
corps d'armée. Paris 1914. Chapelot. 4 Frs.
30. Luther, Über den Krieg. Zwickau i. Sa. 1914. Johannes
‘Hermann. 0,10 M.
Druck von A. W. Hayn's Erben (Curt Gerber), Potsdam.
VI.
Kuropatkin und seine Unterführer”.
Von
Balck,
Generalmajor und Inspekteur der Feldtelegraphie.
Ein schönes Werk wird mit vorliegendem zweiten Teile beendet,
eingehend werden die Ereignisse von Liaoyan, am Schaho und bei
Sandepu behandelt und unter Verwertung neuerer russischer Literatur
kritisch bewertet, leider viel zu kurz kommen die Schlacht von
Mukden und die nicht unwichtigen Ereignisse bis zum Friedens-
schluß! |
Der Verfasser hatte im ersten Bande in vortrefflicher Weise den _
Werdegang des Feldherrn erörtert. Dann hatte der Verfasser uns
über die Schlachtfelder der Einleitungskämpfe geführt, menschlicher
Voraussetzung nach mußte das in befestigter Stellung bei Liaoyan
vereinigte Heer siegen, wenn der Führer nur siegen wollte, aber wie
der Verfasser darlegt, waren die Truppen durch diese Kämpfe physisch
und moralisch schon stark mitgenommen, so daß ihr Kampfwert ge-
sunken war. Dann führt er aber aus (S. 32), wie alle Meldungen
der Unterführer den General Kuropatkin nur noch ängstlicher
machten. Gerade sie, die die Lage besser übersehen konnten, hätten
den Oberbefehlshaber mit fortreißen können,
Die Stellung von Liaoyan war nicht zu passiver Verteidigung
geeignet, sie bot aber die Möglichkeit, in Anlehnung an die Befesti-
gungen selbst offensiv zu werden (S. 39). Vortrefflich ist die Schilde-
1) Kritik und Lehren des Russisch-Japanischen Krieges von Frhr.
von Tettau, Oberstleutnant a. D. II. Teil: Von Liaoyan bis Mukden.
Berlin 1913. E. S. Mittler & Sohn, Königliche Hofbuchhandlung. Preis:
9 M., geb. 10,50 M.
Jahrbücher für die deutsche Armee und Marine. Nr. 515. 9
110 Kuropatkin und seine Unterführer.
rung der Kämpfe des I. Sibirischen Armeekorps als Beispiel für Ver-
teidigung einer Stellung, die Motive für Vorbereitung des Angriffs
auf dem nördlichen Taitseho-Ufer werden klar erörtert (S. 60). Es war
eine Lage, in der es nicht darauf ankam, ob der Angriff auf dem
rechten oder linken Flügel angesetzt wurde, sondern daß nur überhaupt
irgend etwas geschah. Wie verschieden die Meldungen über eine Bedrohung
der Flanke auf Kuropatkin und seinen Gegner Kuroki wirkten, muß man
im Buche selbst nachlesen (S. 67), auch die Folgen unklarer Befehls-
erteilung beim Vorgehen der Kolonne Orlow sind nicht ohne Bedeutung
(S. 71, 77). Aber selbst nach Abwehr des Angriffs der Division Orlow
war ein Rückzug der ganzen Armee noch in keiner Weise geboten. Aus
nichtigen Gründen läßt der Führer den groß angelegten, interessanten
Angriffsplan fallen, räumt sogar das Schlachtfeld, erklärt sich damit für
besiegt, um sich dann aber des Verdienstes zu rühmen, einen geordneten
Rückzug angetreten zu haben. Keineswegs kann ich ihn, wie dieses
Kuropatkin tut, als operatives Meisterwerk ansehen (S. 90, 92,
Anm. 136). Ein Sedan konnte wohl schwerlich dem russischen Heere,
mußte aber der Armee Kuroki bereitet werden, wenn General Kuro-
patkin seine Truppen, anstatt sie für einen kunstvollen Rückzug auf-
zusparen, bis zum letzten Mann zur Vernichtung des Feindes ein-
gesetzt hätte. Wie man von dem glänzenden strategischen Erfolg
eines Feldherren sprechen kann, der einen entscheidenden Sieg aus
der Hand gibt, um dafür einen geordneten Rückzug einzutauschen,
ist nicht recht verständlich (S. 92). Recht gut sind die Motive klar-
gelegt, die zur Aufnahme der Offensive am Schaho führten, nament-
lich die Auseinandersetzungen, die den russischen Nationalcharakter
berühren, sind recht lehrreich (Kriegsrat S. 99, „andere für sich
arbeiten und denken lassen“, S. 101), unfaßbar aber ist, wie gerade
diejenigen Führer mit Ausführung des entscheidenden Angriffs betraut
werden, die im Kriegsrat jeden Angriff verworfen hatten (S. 112).
Die Schlacht am Schaho ist bekannt genug, in ihrer knapp gefaßten
Form liest sie sich besonders gut, um so mehr, als im erhöhteren
Maße als im russischen Generalstabswerk eine persönliche Note zum
Ausdruck kommt. Die auf S. 190 gemachten Ausführungen über
den Durchbruch teile ich durchaus. Sehr interessant ist, wie sich
aus verschiedenen schriftlichen Äußerungen des Feldherren ergibt, daß
diesem der Grundsatz, einen Angriff mit aller Kraft zu führen
theoretisch durchaus geläufig war, wie aber weder Kuropatkin noch
seine Unterführer verstanden, diesen Gedanken in die Tat umzusetzen
und wenn, wie am 16. Oktober, der General Bilderling einen all-
gemeinen Angriff ansetzen will, so weiß Kuropatkin sofort seine Aus-
führung zu verhindern (S. 195, 252, 275, 293). Der Feldzug ging
Kuropatkin und seine Unterführer. 111
verloren, weil Kuropatkin niemals „die ganze zur Verfügung stehende
Kraft einsetzte“. Sehr lehrreich bleiben als Ausfluß seiner Anschauungen
die Weisungen an die Reserve des rechten Flügels (u. a. S. 163, 181,
195). Das Unglück war, daß die Truppe stets auf den Erfolg des
Nachbarn hoffte und diesen abwartete, anstatt mit aller Kraft selbst
zu ihrer Erringung mitzuwirken oder wenigstens möglichst viel Kräfte
auf sich zu ziehen. Der gleichen Neigung entspringt es, die Fehler
des Nachbarn scharf und richtig zu kritisieren, ihm die Schuld für
den eigenen Mißerfolg aufzubürden (S. 270). Kuropatkin handelt
auch nicht anders, wenn er in den fünf Bänden seines Rechenschafts-
berichtes die Ursachen der Niederlage entwickelt. Er sieht sie u. a.
in der ungenügenden Vorbereitung für den Krieg, der Schwierigkeit
sowie Langsamkeit der Beförderung und des Aufmarsches der Truppen
vermittelst des einzigen 9000 km langen eingleisigen Schienenweges,
der „hierdurch bedingten Minderzahl den Japanern gegenüber“, der
geringen Standhaftigkeit eines Teiles der Truppen (ein sehr harter
Vorwurf!), ihrer mangelhaften taktischen Vorbereitung, vor allem aber
in der Unfähigkeit seiner Unterführer. Dabei war Kuropatkin von
1898 bis 1904 Kriegsminister und für die Vorbereitung des Heeres für den
Krieg unmittelbar verantwortlich. Der russische Oberbefehlshaber hatte
nichts Wichtigeres zu tun, als die ganze Zeit an den Anordnungen
seiner Unterführer zu ändern und sofort zu bremsen, wenn einer etwa
kühner handeln wollte. Dem Feinde mutete er immer das Offensivere,
Tatkräftigere zu, selbst vermochte er sich nicht dazu aufzuschwingen
und wo gar nichts Bedrohliches vorlag, sah er alle möglichen und
unmöglichen feindlichen Angriffe und Gefahren; wollte diesen stets
verteidigungs- und rückzugsweise ausweichen, anstatt ihnen durch
eigene Initiative und Offensive zu begegnen. Aber auch sein Beispiel
fand beim General Grippenberg Nachahmung, seine Ansichten über
Feuertaktik, die in dem Unterschied zwischen Salven- und Schützen-
feuer wurzeln, verraten keinen besonders hohen taktischen Stand-
punkt (S. 249). Recht lehrreich sind die Ausführungen über das
Zurücksinken aus der Vorwärtsbewegung in die Verteidigung, sobald
der Feind sich nur rührt (S. 199), Nebendinge und Hauptsache
wurden nie getrennt (S. 259). Anderseits muß man staunen, wie
treffend der Oberfeldherr Fehler und Unterlassungen seiner Unter-
führer verurteilt, wie er dann aber die gleichen Fehler macht, wenn
er selbst handeln soll. Ein Ausfluß dieser Erkenntnis war bei seinem
Hang zum Kleinlichen eine Unsumme von Dienstanweisungen, mit
der die Armee überschüttet wurde. Was dem Oberbefehlshaber au
Feldhermblick und Entschlußkraft fehlt, sucht er durch sorgfältige
Arbeit am Schreibtisch zu ersetzen (S. 247), es war dieses um so
gs
112 Kuropatkin und seine Unterführer.
schlimmer, als sich auch diese Neigung auf dem Gefechtsfelde fort-
setzte (S. 266, 275). Sandepu zeigte das Unvermögen der russischen
Führung in erschreckender Klarheit, eine ganze Armee vermag infolge
mangelnder Willensstärke und Verantwortungsfreudigkeit der Führung
nicht eine schwach besetzte Sicherungslinie zu überwinden, die aller-
dings einen Hauptstützpunkt an einem massiv gebauten Dorfe fand,
das die Truppe jedoch nicht einmal anzugreiren brauchte.
Wenn Mukden auch keine neuen Züge bietet, so bedaure ich doch,
daß die dortigen Kämpfe keine eingehendere Berücksichtigung gefunden
haben. Im Gegensatz zu der auf Vernichtung des Feindes gerichteten
Tätigkeit der japanischen Führung, ist der russische Oberbefehlshaber
zwar theoretisch von der Notwendigkeit eines Entscheidungskampfes
erfüllt, aber als es zu handeln gilt, sucht er alle möglichen Vorwände, um
den Beginn des Angriffs zu verschieben, seinen Umfang zu vermindern,
seine Ziele zu verkleinern, er wendet sich wiederholt an die Unter-
führer in der Hoffnung, von diesen Einwände zu hören, die gegen
die Offensive sprechen könnten, er klammert sich an kleine Hindernisse,
um diese als Entschuldigung aufzufassen und hinzustellen für unter-
lassene zielbewußte Tätigkeit. Welch Gegensatz zwischen Kriegslehre
und Anwendung! Unbenutzt vergehen die Tage, bis schließlich die
Japaner angreifen und dem Feinde ihren Willen aufzwingen. Ein
trefflich geschriebenes Kapitel, „die Lehren des Feldzuges“, schließt
das Werk ab. Schon im ersten Band hatte der Verfasser geschrieben
„Die objektive Schilderung der Maßnahmen der russischen Führung
läßt keinen Zweifel darüber, daß die russische Armee den unglück-
lichen Verlauf des Feldzuges nicht schwierigen Verhältnissen zuzu-
schreiben hatte, sondern daß sie unter allen Umständen hätten siegen
müssen, wenn sie im Geiste der Initiative erzogen und von ihm be-
seelt gewesen wäre und wenn an ihrer Spitze entschlossene, ver-
antwortungsfreudige Führer gestanden hätten.“ (S. des Verfassers Be-
merkungen auf S. 221.) Führer, wie sie das russische Heer damals besaß,
konnten keine Truppe im Frieden zum richtigen kriegerischen Manneswert
erziehen. Beides steht in Wechselwirkung. Eine gute Truppe wird auch
gelegentliche Fehler der Führung ausgleichen. Das Buch des Oberleutnants
Frhn. v. Tettau liefert den Beweis, „daß die russischen Führer, auch wenn
sie über das bestgeschulte Heer der Welt verfügt hätten, geschlagen
worden wären, weil es ihnen an Entschluß und festem Willen, an
Verständnis für die im Kriege wirkenden Kräfte fehlte. Und ander-
seits hätten sie auch mit ihrem minderwertgen Kampfverfahren siegen
müssen, wenn sie nur von dem Geiste wagemutiger Initiative beseelt
gewesen wären“. Und an anderer Stelle heißt es: „Dem Laien soll
das Buch zeigen, daß die Erfolge nicht, wie er oft meint, sich auf
Kuropatkin und seine Unterführer. 113
rohe Gewalten, sondern auf rastlose Geistesarbeit, Willens- und
Charakterstärke gründen und um so reicher entfaltet werden, je
mehr das Heer und seine Führer von dem Geiste der Nation, von
ihrer Vaterlandsliebe getragen werden“. Aber unabänderlich scheinen
im Laufe des Krieges die Ursachen der russischen Mißerfolge. Mangel
an Öpferfreudigkeit und Tatenlust, an moralischer Kraft zu ver-
antwortungsvollem Handeln. Alle Kämpfe beweisen aber, daß der
Geist des Volkes, des Heeres, der unbezwingliche Wille zu siegen der
allein ausschlaggebende Faktor im Kriege der Zukunft ist. „Die Pflege
des Geistes der Truppe ist eine der höchsten Aufgaben jedes Führers
und mindestens gleichwertig mit ihrer reglementarischen Ausbildung.
Aber allerdings muß man sein Vaterland mehr lieben als seine Karriere.“
Krieg und Frieden sind in ihren Ansprüchen grundverschieden. Wir
wissen, daß Kuropatkin und seine Unterführer glänzende Friedens-
generale waren, daß der russische Oberbefehlshaber kurz vor dem
Krieg als Führer im Kaisermanöver so glänzend „abgeschnitten“ hatte,
daß er selbst im Auslande sich den Ruf eines hervorragenden Generals
erwarb. Als aber die Stunde der ernstlichen Prüfung kam, als es
galt, verantwortungsvolle Entschlüsse zu fassen, von denen das Wohl
und Wehe der Armee und des Vaterlandes abhingen, da standen
Kuropatkin und seine Unterführer entkleidet alles Glanzes und Schimmers
da, und es erwies sich, daß ihnen alles mangelie, was ein Feldherr
an Können und Wollen in seiner Brust zu tragen hat. Die Art
scharfer und verletzender Kritik, führt dann der Verfasser auf S. 350
aus, hatte in Rußland dazu beigetragen, das Selbstgefühl einer Anzahl
Führer zu ertöten und, was noch schlimmer ist, bei aller persönlichen
Tapferkeit Furcht vor dem Vorgesetzten zu erzeugen !). Mit solchen
Führern kann man nicht siegen, entschlossenes Handeln bleibt das
erste Erfordernis im Kriege, „Kriege führt man nur mit Kraft, Ent-
schluß und festen Willen.“ Sympathisch berührt es uns, wenn der
Verfasser dem heutigen russischen Heere gegenüber vor Überhebung
warnt, seit den dunklen Tagen von Mukden sind acht Jahre vergangen,
was in dieser Zeit für eine Wendung vor sich gehen kann, das haben
wir selbst auf dem Wege von Jena nach Groß-Görschen erfahren.
Mit dem vorliegenden Bande hat der Verfasser mit schier über-
menschlichem Fleiße eine Riesenarbeit zu Ende geführt, für die wir
ihm nicht genug danken können. Wir verdanken ihm Rennenkampfs
Tagebuch, eine vortreffliche Übertragung des russischen Generalstabs-
1) Jeder höhere Offizier, der bei Kritiken persönlich ausfallend und
verletzend verfährt, zeigt, daß es ihm an wahrhaft vornehmer Gesinnung
fehlt. Außerdem schädigt er in unverantwortlicher Weise die Berufs-
freudigkeit. Keim,
114 Über das Begleiten des Infanterieangriffs durch die anderen Waffen.
werkes, jetzt als Abschluß „Kuropatkin als Feldherr“. Einen großen
Dienst aber würde der Herr Verfasser der Armee leisten, wenn er,
schöpfend aus seiner gründlichen Kenntnis des russischen Volkes und
des russischen Heeres eine erläuternde Übersetzung der Bücher der
Obersten Novizki und Grilow uns bieten würde. Sie sind besonders
interessant, nicht allein wegen ihres Inhalts, sondern auch wegen der
Persönlichkeit ihrer Verfasser.
VII.
- Über das Begleiten des Infanterieangriffs
durch die anderen Waffen, insbesondere
die Artillerie.
Von
Klingelhöffer, Generalleutnant z. D.
In einer kürzlich erschienenen Denkschrift') schreibt ein be-
kannter Kavalleriegeneral betreffend Organisation der Kavallerie: „Mit
der Entscheidung in den Anfangskämpfen ist ohne Frage auch die
Entscheidung über die Kavallerie für den ganzen Feldzug gefällt.
Die Kavallerie, die hier unterliegt, hat ein für allemal verspielt: eine
einmal gründlich geschlagene Reiterei bedarf eines Friedrich und eines
mehrmonatigen Lagers von Mollwitz, um sich wieder zur Ebenbürtig-
keit mit dem Sieger durchzuringen.“ Und das bei dem Herdendrang
der Pferde, durch den die Kavallerie den großen Vorteil vor der In-
fanterie voraus hat, daß, wenn die Offiziere vornewegreiten, alle
Pferde folgen!
Bei der Infanterie muß man dagegen mit der unbeugsamen Aus-
dauer und der aufopfernden, todesmutigen Tatkraft jedes einzelnen
Mannes rechnen. Bei der Infanterie allein spielt die schwere Be-
lastung eine Rolle. Mit Recht kann man sagen: der Infanterist ist
müder, wenn er abmarschiert, wie der Kavallerist und Artillerist,
wenn er ankommt. Denn der Infanterist hat, bevor er abmarschiert,
das Gepäck wenigstens schon eine halbe Stunde, meist viel länger,
I) Zum Gedenktage des 125 jährigen Bestehens der Hofbuchhandlung
E. S. Mittler & Sohn.
Über das Begleiten des Infanterieangriffs durch die anderen Waffen. 115
auf dem Rücken. Wer einen feldmarschmäßig gepackten Tornister
getragen hat, weiß, wie der drückt! |
Wird endlich das Gefechtsfeld erreicht, so muß der Infanterist
auf diesem noch Kilometer auf Kilometer, größtenteils im feindlichen
Feuer vorgehen, laufen, sorgfältig schießen, aufpassen. Hat er eine
Deckung erreicht, so heißt es bald wieder „Sprung — Auf, marsch
marsch!“ Und bei alledem soll der Infanterist die persönliche Schneid
behalten, mit dem aufgepflanzten Seitengewehr in den Feind ein-
zudringen!
Die Einwirkung des Offiziers und Unteroffiziers auf den einzelnen
Mann ist bei der großen Ausdehnung der Schützenlinie eine geringe,
Sinkt unter den Eindrücken des Gefechts der moralische Halt des
einzelnen, wie leicht ist es für ihn unter irgendeinem Vorwand in
einer Deckung liegen zu bleiben! Die Vorgesetzten springen vorn-
weg. Ob ein Liegengebliebener tot, verwundet, bewußtlos, oder zum
Vorgehen fähig, ist nicht leicht zu ermitteln. Die „Aufsichtsführenden
hinter der Front“ sind daher auch weggefallen.
Wie anders ist es bei der Artillerie! Hier spielt sich die ganze
Gefechtstätigkeit fast ausnahmslos nur unter genauester Überwachung
der Vorgesetzten und auf der Stelle ab.
Von der Kavallerie haben wir schon gesprochen. Ich ziehe
aus diesen Erwägungen, aus den Feststellungen in der im Eingang
erwähnten Denkschrift — wenn diese auch etwas zu schwarz ge-
färbt sein dürfte — sowie aus den Erfahrungen von 1870/71 und
der neueren Kriege die Lehre: die Infanterie braucht beim An-
griff eine energische Unterstützung. Leisten kann diese im
wesentlichen nur die Artillerie. Sie darf aber nicht allein durch
Feuer erfolgen, sie muß auch moralisch wirken. Die Artillerie
muß zum Teil die Infanterie begleiten. Die Nähe und der Donner
der Geschütze muß die Infanterie beleben und vorreißen.
Vielfach wird gesagt, das kann die Artillerie nicht'), und da-
gegen wende ich mich. 1870/71 konnte sie es, nachdem sie 1866
versagt hatte. Sie fuhr 1870/71 im Feuer des Chassepotgewehrs, das
ein Visier bis 1200 m hatte und an Wirksamkeit den jetzigen Ge-
wehren wenig nachstand, bis in die eigene Schützenlinie vor. So,
um nur ein Beispiel anzuführen, am 18. August 1870 auf dem
rechten Flügel des Angriffs der Garde auf St. Privat.
Hier fuhren — und zwar in allen aufgeführten Fällen im feind-
lichen Artilleriefeuer — an der Bahn Verdun—Metz, nördlich des
Öststücks des Bois de la Cusse, von der hessischen Artillerie
1) Vgl. M.-W.-Bl. 1913, Sp. 2165, 2600, Brückner (näheres hinten).
116 Über das Begleiten des Infanterieangriffs durch die anderen Waffen.
5 Batterien im Feuer der auf 700 m herangekommenen französischen
Infanterie auf. Die Artillerie der 1. Gardedivision (4 Batterien) ging
zwischen Habonville und St. Ail 1000 m von der feindlichen In-
fanterie in Stellung. 3 sächsische Batterien standen nordwestlich
St. Ail 800 m von dem durch ein feindliches Infanterieregiment be-
setzten St. Marie aux Chênes im Feuer. Die vorgenannte Garde-
artillerie ging dann staffelweise bis 700 m an die feindlichen Schützen
heran und überschritt dabei die eigene Schützenlinie (4. Garde-
infanteriebrigade). Als letztere bis auf die etwa 1'/, km entfernte
nächste Anhöhe südwestlich St. Privat vorgedrungen war, folgte die
Artillerie hierher nach. Die sehr dünn gewordene eigene Schützen-
linie war durch einen feindlichen Gegenstoß auf das äußerste gefährdet.
Den 4 Batterien gelang es, unterstützt von den Schützen der Garde
und dem äußersten linken Flügel der Schützen der 25. (hessischen)
Division den dreimaligen Ansturm von 6 französischen Bataillonen,
die von 3 Batterien unterstützt wurden, auf 300—600 m abzuweisen.
Auch starke feindliche Kavallerie, die sich südöstlich St. Privat zum
Vorgehen formierte, wurde zum Rückzug gezwungen.
Das Eingreifen der Artillerie war hier entscheidend. Die Ver-
luste waren nicht unbeträchtlich, erreichten jedoch nicht die der In-
fanterie (4. Gardeinfanteriebrigade: etwa 35°/,). Sie betrugen bei
der Artillerie der 1. Gardeinfanteriedivisiin 5 Offiziere, 64 Mann
(etwa 11 °/,) und 106 Pferde. Der Ersatz erfolgte sofort aus den
Munitionskolonnen.
Und dabei hatte 1870/71 die Artillerie keine Schilde! „Ja, aber
die Artilleriewirkung ist größer geworden!“ Gewiß! Indessen die feind-
liche Artillerie kann auf die den Angriff begleitenden Batterien, die
in Bewegung sind, meist bald in den toten Winkel kommen, und
auch vielfach im Gelände Schutz finden, nur mit Erfolg wirken,
wenn sie die verdeckte Stellung aufgibt. Erscheint sie aber offen, so
ist sie meist in einer ungünstigeren Lage wie die begleitenden
Batterien und wird voraussichtlich von der mit einem Teil in der
ursprünglichen Artilleriestellung gebliebenen, eingeschossenen eigenen
Artillerie bald niedergekämpft sein. In Heft 32 der „Kriegsgeschicht-
lichen Einzelschriften“ des Großen Generalstabes wird auch vor der
Überschätzung der Artilleriewirkung gewarnt. Es heißt dort: „Durch
die auf den Schießübungsplätzen mit Leichtigkeit erzielten Treff-
ergebnisse allzu sehr verwöhnt, ist man in langer Friedenszeit nur
zu leicht geneigt, von dem Artilleriegefecht in jedem Fall eine Wir-
kung zu erwarten, die im Ernstfall nur zu leicht ausbleiben wird.“
Auch sei daran erinnert, daß in den neueren Kriegen 10, ja mitunter
Über das Begleiten des Infanterieangriffs durch die anderen Waffen. 117
20 Zentner Munition nötig waren, um einen Mann außer Gefecht
zu setzen.
Und wenn schließlich unsere begleitende Artillerie beim Vorgehen
zum Teil zusammenbrechen sollte — was schadet es? Die Geschütze
werden herumgedreht. Die Artilleristen sitzen hinter ihren Schilden
und nehmen das Feuer auf.
„Macht das aber nicht auf die Infanterie einen doppelt schlechten
Eindruck ?*
Gewiß nicht! Hört die Infanterie noch deutlich den Donner der
eigenen Geschütze hinter sich, so tut es nichts aus, ob das etwas
weiter vor oder zurück ist. Ob bei der Artillerie ein paar Pferde
liegen, ist der Infanterie gleichgültig, sie sieht gefallene und ver-
wundete Kameraden genug in der Nähe.
Der Artillerie wird es eine Ehre sein, ähnliche Verluste zu
haben wie die Infanterie. 1870/71 hatte die Infanterie 17,6 °/, Ver-
luste, die Artillerie 6,5 °/,, nur wenig mehr wie die Kavallerie
(6,3 °/,).
Vor allem aber müssen wir siegen. und das ist nur mög-
lich, wenn die Infanterie in den Feind eindringt. Daß sie das allein
aus eigener moralischer Kraft vollbringt, traut sich die Infanterie gewiß
zu, aber richtig ist es, ihr dies so weit wie nur irgend möglich zu
erleichtern und es vor allem zu sichern, dies um so mehr, da mancherlei
Einflüsse der Neuzeit der Aufopferungsfähigkeit entgegenwirken.
Eine kleine Unterstützung findet die Infanterie allerdings in den
Maschinengewehren, deren ratternder Ton für die mühsam sich vor-
ringende Infanterie eine liebliche Musik sein wird. Aber der Feind
hat auch Maschinengewehre, von deren Schildschutz die Rede ist.
Gerade zu deren Bekämpfung gehört Artillerie auf kurze Entfernung.
Nur auf diese ist die Beobachtung genügend und der Schuß genau
genug. Ähnlich liegt es, wenn der Feind sorgfältig gedeckte Flan-
kierung- und Nahkampfgeschütze in den letzten Stadien des In-
fanterieangriffs in das Feuer bringt. Es muß daher verlangt werden,
daß der Infanterieangriff stets von Artillerie begleitet wird, ent-
sprechend 471 und 498 d. E.R. f. d. Fa. Der maßgebende 471?
lautet: „Einzelne Batterien begleiten den Angriff bis auf
nächste Entfernung. Dies erhöht die moralische Kraft der Infanterie
und kann Rückschlägen vorbeugen.“ Brückner, Hauptmann beim
Stabe des 8. Feldartillerieregiments Nr. 78, in seiner Preisschrift
„Zusammenwirken der Infanterie und Feldartillerie im Gefecht“,
S. 26, verklausuliert das Begleiten durch den Zusatz: „wo ein näheres
Herangehen an den Feind möglich ist und wo es zugleich eine größere
Wirkung verspricht“ und läßt den Hinweis auf die moralische Wir-
118 Über das Begleiten des Infanterieangriffs durch die anderen Waffen.
kung ganz weg. Dies kann zu falschen Auffassungen führen und
muß demgegenüber der Wortlaut des Reglements betont werden, der
eine Einschränkung nicht enthält. Im Interesse der Infanterie und
des Gelingens des Angriffs ist dies wichtig. Dabei ist mir 354 des
Reglements gewärtig, wonach es Fälle gibt, für die sich allgemein
gültige Weisungen nicht geben lassen.
Zum DBegleiten des Angriffs nur Züge zu verwenden, wie
empfohlen wurde, wird sich nur ganz ausnahmsweise rechtfertigen
lassen. Es erscheint im Gegenteil dringend erwünscht, so viele
Batterien zur Begleitung der Infanterie zu bestimmen, daß ihr mora-
lischer Eindruck sich auch wirklich auf alle Teile der Schützenlinie
bemerkbar macht; für das Infanterieregiment in der Regel eine
Batterie. Für ausreichende Munition wäre zu sorgen.
Der Befehl zur Begleitung muß mit dem Befehl für den In-
fanterieangriff zusammengegeben werden. Dann können die Infanterie-
und Artillerieführer sich verständigen und die Artillerie sich darauf
. einrichten, die Stellungen und Annäherungswege ermitteln, Entfer-
nungen festlegen usw. Gibt man den Befehl später, so kommt im
Kriege zwar die Artillerie bei dem langsameren Vorarbeiten der In-
fanterie voraussichtlich nicht zu spät, aber die Vorbereitungen sind
unzureichend. Im Manöver kommt die Artillerie bei zu später Aus-
gabe des Befehls meist zu spät und tritt der Nachteil ein, daB das
Zusammenarbeiten mit der Infanterie nicht gelernt wird und die Zeit
zur Erkundung zu kurz ist. 364a, 376, 386 des E.R. f. d. Fa.
geben den erforderlichen Anhalt und will ich hierauf um so weniger
eingehen, da das diesjährige Februar- und Märzheft der Jahrbücher
für Armee und Marine den Gegenstand eingehend behandeln.
Bei dem Begleiten der Infanterie durch die Artillerie wird auch
leichter vermieden, daß die Infanterie von hinten Artilleriefeuer be-
kommt. Aus meinen eigenen Kriegserfahrungen kann ich diesbezüglich
sagen: Der Soldat will keinen Schuß in den Rücken, der ihn in der
Heimat in den Verdacht bringt, er sei feige gewesen. Bei Feuer von
hinten stockte jede Vorwärtsbewegung. Alle Führer vorn beschäftigten
sich nur damit, das Rückenfeuer zum Schweigen zu bringen. An der
den Angriff begleitenden Artillerie hat die rückwärtige Artillerie dabei
einen gewissen Anhalt über die Linie. in der die eigene Infanterie liegt.
~ Auch nach dem Eindringen in die feindliche Stellung ist zur
Abwehr des Gegenstoßes der feindlichen Reserven und zur Bekämpfung
von bisher zurückgehaltenen bzw. verdeckt gewesenen feindlichen
Batterien sofort Artillerie nötig. Muß sie erst von weither vorfahren,
kommt sie meist zu spät. Dies ist besonders der französischen Fecht-
weise gegenüber wichtig. Hier ist stets mit dem Vorbrechen aus der feind-
Über das Begleiten des Infanterieangriffs durch die anderen Waffen. 119
lichen Stellung, zum mindesten mit einer teilweisen Gegenoffensive
zu rechnen. Spätestens nach Einnahme der Stellung ist auch hier
das Eingreifen der feindlichen Hauptreserve zu erwarten, die jetzt
gegen die erschöpfte und durcheinander gekommene Infanterie des
Angreifers den entscheidenden Stoß führen wird. Starke bisher
zurückgehaltene oder zurückgenommene Artillerie wird sie durch
Massenfeuer unterstützen. In diesem gefährlichen Moment werden
nicht einmal die Begleitbatterien genügen, sondern es muß auch Vor-
sorge getroffen sein, daß näher herangezogene stärkere Teile der
Artillerie sofort in den Kampf eingreifen können.
Was betreffs Artillerie gesagt ist, gilt naturgemäß noch mehr für
die Maschinengewehre. Auch hier werden Ansichten laut, die durch
die Furcht vor Verlusten ‚beeinflußt erscheinen. So wird in einem
Artikel über das Zusammenwirken der Maschinengewehre mit der
Infanterie gesagt: „Zunächst ist es in vielen Fällen fehlerhaft, die
Maschinengewehre sofort in die genommene Stellung vorzuführen, weil
nicht immer zweifelsfrei erkannt werden kann, ob die Stellung tat-
sächlich, ohne Rückschläge befürchten zu müssen, in unserem Besitz
ist!).“ Gerade zur Sicherung gegen Rückschläge sind aber die
Maschinengewehre sofort nötig! Gerade die Maschinengewehre können
wesentlich dazu beitragen, daß feindliche Gegenstöße mißlingen. Bei
der entscheidenden Wichtigkeit dieser Aufgabe hat die Möglichkeit des
Verlustes einiger Maschinengewehre keinen Anspruch auf Berück-
sichtigung.
Auch die Unterstützung des Infanterieangriffs durch Kavallerie
ist dringend erwünscht. Man denke an den 16. August 1870. Hier
gewann während des Vorgehens unserer Kavallerie mehrfach unsere
Artillerie und die Infanterie Gelände. Um wieviel mehr wäre an
diesem Tage die Möglichkeit gewesen, während die zahlreichen erfolg-
reichen Kavallerieattacken in den durch diese in Anspruch genommenen
und erschütterten Feind einzudringen, wenn gerade in diesen Momenten
ein Angriff der Infanterie beabsichtigt und möglich gewesen wäre.
Welchen Eindruck eine Attacke in derartigen Lagen machen
kann, lese man in dem Werk des Großen Generalstabes über den
18. August 1870 auf Seite 430—432 nach. Eine Schwarmattacke
von zwei französischen Schwadronen, denen die Kavalleriebrigade
Burchard ohne anzugreifen folgte, brachte nordwestlich St. Privat die
zusammengeschossenen und erschöpften Schützenlinien der Garde zum
Stutzen, zum Zusammenballen und teilweise zum Weichen.
Bei einem Abweisen von Gegenangriffen ist die Vorbedingung,
t) D.-O.-Bl. vom 19. März 1914.
120 Das große Vermächtnis vor 100 Jahren.
daß die Kavallerie der Infanterie nahe genug gefolgt ist. Wirft sie
sich energisch entgegen, so kann sie entscheidend wirken, jedenfalls
der Artillerie Zeit verschaffen, heranzukommen, der Infanterie sich
einzunisten, zu ordnen und ihre Reserven heranzuführen. - Deckung
im Gelände wird sich bei ausgedehnteren Gefechtsfeldern fast stets
finden; und wenn nicht, dann geht Wirkung vor Deckung.
Gerade in diesen entscheidenden Gefechtsmomenten muß ein ver-
ständnisvolles Zusammenwirken aller Waffen die schönsten Früchte
zeitigen. Hineindenken in derartige Lagen, Übungen auf dem Plan
und bei Übungsritten werden dieses Zusammenwirken vorbereiten,
Truppenübungen, bei denen ein Teil nach der Gefechtsweise des voraus-
sichtlichen Gegners handelt, das zweckmäßige Verfahren lehren.
Ob diese Betrachtungen nötig waren? Ich bitte, daß sich jeder
überlegt, wie oft er im Manöver die Infanterie begleitende Batterien
sah und ob er den Eindruck hatte, daß das Zusammenwirken mit
der Artillerie für den Krieg genügend vorbereitet ist. Bezügliche
Hinweise sind schon erfolgt, hier und da gewiß auch günstige Ergeb-
nisse bereits erzielt worden. Daß aber nach diesen Richtungen noch
viel geschehen kann, ist wohl nicht zu bestreiten.
VIII.
Das grosse Vermächtnis der Zeit vor
100 Jahren für unser Heer.
Gedanken über die innere Weiterentwickelung unseres
Heerwesens.
Von
Sperling, Hauptmann.
„ich bin der erste Diener meines
Staates.“
Friedrich der Große,
Preußen ist in dem Befreiungskampfe vor 100 Jahren die stärkste,
immer wieder vorwärts treibende Kraft gewesen. |
Das Preußen von 1806 war nicht wiederzuerkennen, eine
umwälzende Änderung hatte sich in ihm in diesem kurzen Zeitraum
vollzogen,
Eine wunderbare Fügung hatte die besten Männer Deutschlands
Das große Vermächtnis vor 100 Jahren. 121
sich auf preußischem Boden zusammenfinden lassen. Das Preußen
Friedrichs des Großen hatte sie angezogen.
Wenn es auch lange nicht mehr der lebenatmende, energievolle
Machtstaat des großen Königs war, so schlummerten doch die starken
Kräfte der Organisationsarbeit Friedrich Wilhelms I. und seines Sohnes
nur und konnten jederzeit zu neuem Leben erweckt werden.
Dies geschah durch jene Männer — Stein, Scharnhorst, Gneisenau,
Arndt, Fichte, Boyen u. a.
Sie hatten das hohe, freie Menschentum der sich zu Ende
neigenden Geistesepoche und die Grundgedanken der französischen
Revolution in sich aufgenommen. Sie fühlten, daß diese Errungen-
schaften kein Vorrecht der Gebildeten bleiben durften; es war ihnen
Pflicht, sie in den Dienst der Gesamtheit, des Staates, zu stellen. In
der selbstlosen Hingabe der frei entwickelten Persönlichkeit an das
Gemeinwohl sahen sie das höchste Lebens- und Menschenziel, den
höchsten Gewinn für den Staat.
Sie waren demgemäß bestrebt, in der Zivil- wie Heeresverwaltung
auf eine selbständige Mitarbeit des Volkes hinzuarbeiten. Dazu mußte
das Volk aus seiner Abhängigkeit befreit werden, es mußte erwachen,
der einzelne sich selbst finden können. Dann erst wurde er ein
Faktor, mit dessen Gesamtkräften man rechnen konnte. Durch Ge-
währung von Rechten wie Auferlegen frei auszuübender Pflichten
mußte die Anteilnahme am Gemeinwohl angeregt werden.
Der Staat befand sich in der trostlosesten Lage. Wollte man
ihn nicht untergehen lassen, so mußte „jede Nerve, jede Kraft“ an-
gespannt werden, wie Stein sagte. Machte man nicht die ge-
samten geistigen und sittlichen Kräfte des Volkes für die
Befreiung mobil, so konnte sie nicht gelingen.
Die Heere des großen Gegners, sein Leitsatz „Die Bahn frei für
die Begabung“ zeigten, welche Kräfte in der Masse brach lagen.
Diese Kräfte der Masse zu heben, das Heerwesen und die Krieg-
führung dem Erwachen der Nationen anzupassen, schien Scharnhorst
die militärische Aufgabe der Zeit (Meineke, Zeitalter der deutschen
Erhebung, Seite 62).
Die Strafgesetze, die Kriegsartikel, das Ausbildungswesen, die
Vorbildung des Offizierersatzes, das gesamte Bildungswesen wurden
in diesem Geiste umgestaltet, die Kompagniewirtschaft wurde be-
seitigt, Eihrengerichte aufgestellt, die Werbung von Ausländern auf-
gehoben, der Waffendienst für das Vaterland wurde zu einer Ehren-
pflicht, der sich arm und reich ausnahmslos zu unterziehen hatte.
An diesen Reformen Scharnhorsts hat Boyen, der nach dem
Kriege die allgemeine Wehrpflicht auch für Friedenszeiten durchsetzte,
122 - Das große Vermächtnis vor 100 Jahren.
einen so namhaften Anteil, daß ich über seine Grundanschauungen
von der Reform etwas anführen möchte.
„Er trachtete unausgesetzt danach, in dem Verhältnis des Staates
zum Volke die Triebfedern der nur äußerlichen Gewalt, des Egoismus
und der Sonderinteressen zu ersetzen durch die Gerechtigkeit, Frei-
willigkeit, das Ehrgefühl, die Vaterlands- und Nächstenliebe“ (Meinecke,
S. 72).
Erziehung der Freiwilligkeit, des Ehrgefühls, der Vaterlands- und
Nächstenliebe, das ist Liebe jedes Volksgenossen, gleichviel welchen
Standes; also Einheit, Verbindung aller Klassen, das sind Richtlinien,
die heute ebenso zeitgemäß scheinen wie damals.
So ist es mit vielem, was Boyen erstrebt hat, es ist heute wieder
„Zeitfrage“ geworden.
Die von den Reformern, von Dichtern und Professoren geweckten
Kräfte wurden der starken, nun veredelten Organisation des frideri-
zianischen Staates zugeleitet, in Bahnen gehalten zu planvoller Ver-
wendung. Nur dadurch wurde der große Erfolg der Erhebung mög-
lich. Darin liegt ihr grundsätzlicher Unterschied von anderen Volks-
erhebungen jener Zeit.
So ist 1813, wie es Stein 1808 als Ziel hingestellt hatte, „jede
Nerve, jede Kraft in Tätigkeit gesetzt worden“.
Die preußische Erhebungszeit ist daher ein klassisches
Beispiel dafür geworden, wie Außerordentliches ein Volk
zu leisten vermag, wenn es gelingt, das Gesamte seiner
Kräfte, der sittlichen insbesondere, dem Staate dienstbar
zu machen. Darin und in der Weise, wie dies geschehen
ist, sehe ich das größte Vermächtnis jener Zeit für die
unsere, die unter veränderten Verhältnissen die gleiche
Aufgabe vor sich sieht.
Man darf übrigens nicht glauben, daß das Reformwerk von 1813
leicht durchzuführen gewesen ist. Es ist äußerst wertvoll, die ernsten
Widerstände durch Verständnislosigkeit, Feindschaft und schlimmste
Verdächtigung kennen zu lernen, die die Reformer dauernd zu über-
winden hatten (Boyens Denkwürdigkeiten), wertvoll deshalb, weil
immer wieder der Kampf der „mechanischen (fügen wir bei: und
selbstischen) Köpfe gegen alles, was Geist und Gemüt hat“ — Gneisenau —
entbrennen, den Fortschritt hemmen, Persönlichkeiten unterdrücken
wird. Das ist Menschenart überall.
Es ist sicher, daß jene Männer sich nur dadurch halten, den
Kampf durchführen konnten, weil sie sittlich unantastbar waren und
nie das eigene Interesse ihr Handeln beeinflußt hat.
Das große Vermächtnis vor 100 Jahren. 123
Daß es ihnen gelungen ist, die Widerstände zu brechen, binnen
weniger Jahre ein Staatswesen gänzlich umzugestalten und durch ihre
Kraft zu beleben, ist, wenn ihnen auch die Not der Fremdherrschaft
ein mächtiger Helfer war, einer der stärksten Beweise der Geschichte,
welche Macht große, vor allem menschlich hochstehende Männer, aus-
zuüben vermögen. |
So glaube ich, daß wir als wichtigste Richtlinie für die Lösung
der Aufgabe unserer Zeit jener vergangenen die entnehmen müssen,
daß die durchgreifende Beeinflussung des Geistes eines
Volkes, das nachhaltige Wecken der Teilnahme am Gemein-
wohl nur durch Persönlichkeiten, nur durch — „Menschen“
erfolgen kann.
Denn der große „Mensch“ ist das Eigentümlichste, Stärkste jener
Männer gewesen. Mit ihrem Innersten, ihrem Herzblute sozusagen,
wollten sie den Staat, das Volk beseelen (Meineke, S. 42). Sie
konnten gar nicht anders; die ihnen ursprünglich im Busen quellenden
Kräfte reinster Wahrheit und Menschlichkeit, innigster Volks- und
Vaterlandsliebe trieben, zwangen sie vorwärts.
Ja, sie trieben ihr Streben über das damals Erreichbare hinaus.
Es ist ein Merkmal der Erhebungszeit, daß von allem, was die
Reformer erstrebten, nichts „ganz“ zur Ausführung gekommen ist.
Zu weit waren sie ihrer Zeit voraus, zu überschäumend war ihr
Drang, zu bessern. Wäre er aber weniger stark, über das Mögliche
hinausschießend gewesen, hätte er dann gleich stark gewirkt? Sicher
nicht! Das mögen die matten Skeptiker unserer Tage beherzigen.
Die Aufgabe unserer Zeit ist wieder die, die Gesamt-
kraft der Nation zu heben, dem Staate, unserer Zukunft
dienstbar zu machen. Heute handelt es sich freilich nicht darum,
die Herrschaft eines Eroberers zu brechen. Aber es ist auch eine
Fremdherrschaft, die wir beseitigen müssen, die von Einflüssen. die
dem innersten deutschen Wesen fremd, die körperliche und sittliche
Gesundheit unseres Volkes untergraben, es entfremden und verfeinden.
Wohl hat im Hinblick auf unsere Lage zwischen mächtigen
Staaten eine große Heeresvermehrung die körperliche Gesamtkraft der
Nation gehoben, damit aber noch nicht die der Personen. Und doch
ist dies das Wichtigste, wie auch die jüngsten Kriege zeigen.
Wie läßt sich in unserem sozial zerrissenen Volk die sittliche
Kraft all dieser Kämpfer wecken, für das Vaterland gewinnen, ein
Geist säen wie jener von Gr.-Görschen? — dies ist die ernste Frage,
vor der wir heute stehen.
Als ich kürzlich in dem Werke eines Mannes, dessen tiefe Vater-
landsliebe über jeden Zweifel erhaben ist, las, daß uns wohl der
124 Das große Vermächtnis vor 100 Jahren.
Krieg wieder zu einem einigen Volk machen könne, im Frieden seien
wir es nicht, da wurde ich erst stutzig. Und doch hat der Mann
recht.
Wir sind tief gespalten.
Es liegen hier soziale Übel vor, die einfach unleidlich sind, über
die man gar nicht zur Ruhe kommen dürfte, auch wenn man nicht
einmal daran denkt, welcher Verlust an Stoßkraft hieraus in einem
Kriege erwachsen kann.
Vorerst, bin ich überzeugt, ist der Sinn unseres Volkes noch zu
gesund, um selbstmörderisch das Vaterland im Stich zu lassen; aber
wohin wird es noch führen, wenn wir nicht auch im Frieden „ein“
Volk werden können?
Nur menschliche Überwindung aus überquellender Liebe zu Volk
und Staat, durch Einsetzen der ganzen Persönlichkeit in den Dienst
dieser Lebensfrage der Nation kann sie lösen. Alles übrige, Selbst
ein Krieg, kann unsere sozialen Nöte nicht endgültig beseitigen.
Der Streit der Parteien und Zeitungen vor allem nicht. Sie
sind zu selbstisch beschränkt, zu benommen von den oft anwidernden
politischen Entgleisungen und Verletzungen unseres besten Gefühls,
die Führer der Arbeiterpartei begehen. Man darf aber die Massen,
deren Los auch heute teilweise noch schwer ist, nicht für diese Maß-
losigkeiten verantwortlich machen und ihnen die Liebe und Hilfe
entziehen, deren sie bedürfen, die wir ihnen schuldig sind, auch wo
sie sich feindlich zu uns stellen sollten. Für den, der dies nicht
kann, ist Christus noch nicht in die Welt gekommen, möge er sich
auch einbilden, der beste Christ zu sein.
Wir im Heere können diese Zustände freilich nicht beseitigen,
so groß auch unser Interesse daran ist, denn die Kriege sind die
Quittungen über die vorangegangene Friedenszeit. Anderseits geht
es auch ohne unsere Mitarbeit nicht. Diese beiden Gesichtspunkte
mögen General von Bernhardi veranlaßt haben, auch seinerseits die
Forderung aufzustellen, daß wir immer neue Wege suchen sollen, die
Arbeiterschaft dem Vaterlande wiederzugewinnen.
Zweifellos ist die erste Vorbedingung hierzu ein. unbefangener
Einblick in die Verhältnisse. Dazu bedarf es aber einer Überwindung
von Vorurteilen und von Selbstbefangenheit, die wesentlich erleichtert
wird, wenn wir einmal die so einfache Wahrheit erkannt haben, daß
die Menschen, in welcher Lage — sei es Politik, Konfession oder
Stand — sie seien, überall im Grunde die gleichen sind, mit den
gleichen Trieben, Neigungen, Vorzügen, Fehlern, daß es demgemäß
meist die Verhältnisse, in die ein jeder hineingestellt worden ist, sind,
die seine Stellung bedingen, und wir somit in der Lage des Gegners
Das große Vermächtnis vor 100 Jahren. 125
wahrscheinlich ebenso oder ähnlich denken würden wie jener. Dies
ist eine fast trivial klingende Wahrheit, und doch, wer denkt daran?
Vielfach sind es weniger materielle Fragen, die die Arbeiter auf-
führen, als die Art, wie ihnen manchmal begegnet und befohlen wird
(Förster, Universitätsprofessor, München, „Staatsbürgerliche Erziehung“).
Tatsächlich trifft man bezüglich der menschlichen Gleichachtung, die
man im Verkehr mit äußerlich niedriger Gestellten nie verleugnen sollte,
zuweilen noch merkwürdige Begriffe.
Natürlich kann man unendlich viel für und gegen die Arbeiter
aus dem Kampfe des täglichen Lebens anführen. Fast alles das
führt in das in dieser Hinsicht so unfruchtbare Gebiet der Politik.
Wir wollen dieses nicht betreten, und die Erörterungen, ob die Sozial-
demokratie äußerlich durch strengere Gewalt in Ordnung gehalten
werden müsse — wobei ich gerne zugebe, daß nicht nur Ausschreitungen
gegenüber feste Bestimmtheit geboten ist, sondern daß auch ein
kategorisches „Bis hierher und nicht weiter“ zur Klärung zu sehr in
Wallung gekommener Köpfe heilsam beitragen wird — den dazu
Berufenen überlassen.
Dagegen will ich nachstehend einige Tatsachen anführen, die
auch den, den der Augenschein in der Großstadt nicht belehrt hat,
überzeugen werden, daß auf dem Grunde von alledem soziale Übel
vorliegen, die durchgreifende Abhilfe fordern.
Ich entnehme diese Angaben einer Veröffentlichung des Deutschen
Vereins für Wohnungsreform, dessen Hauptausschuß neben anderen
Minister v. Berlepsch und Graf Posadowsky angehören.
In Deutschland sterben jährlich gegen 100000 Menschen an
Tuberkulose, 800000 bis 1000000 Menschen sind mit dieser Krank-
heit behaftet, 300000 Kinder!) gehen alljährlich im ersten
Lebensjahre zugrunde, 500000 Personen werden jährlich wegen
Verbrechen und Vergehen (ohne Übertretungen) gerichtlich verurteilt.
Millionen deutscher Kinder und junger Leute sind in unseren
Städten ohne irgendwie ausreichende Gelegenheit zum Spielen und
Sichaustummeln.
Der Rückgang der Volksgesundheit und der Geburtenziffer
in der Großstadt ist derart, daß beim Weiterdauern des jetzigen
Zustandes Groß-Berlin, wenn die jetzt zur Welt Kommen den
einst zur Aushebung stehen, eine der Stärke mehrerer
Armeekorps entsprechende Minderzahl stellen wird.
1) Seit einiger Zeit ist die Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit
seitens des Staates und der Gemeinden tatkräftig in Angriff genommen
worden.
Jahrbiicher für die deutsche Armee und Marine. Nr. 515. 10
126 Das große Vermächtnis vor 100 Jahren.
Welchen Anteil an dieser beschämenden sozialen Not
die geistigen Getränke haben, für die wir jährlich 3000
Millionen Mark ausgeben, würdigen erst verhältnismäßig
wenige.
Von der Schilderung der Wohnungsverhältnisse und der Angabe
von Zahlen über geistige und geschlechtliche Erkrankungen sehe
ich ab.
Der Geburtenrückgang, insbesondere auch in den sogenannten
besseren Ständen, wird nachgerade bedenklich.
Reich gewordene Kreise — natürlich nicht alle — üben einen
verflachenden Einfluß in Mode und geselligem Leben aus und spielen
eine ihrem Werte nicht zukommende Rolle. Das Verantwortungs-
gefühl dem „Ganzen“ gegenüber scheint nicht wenigen verloren ge-
gangen und nicht selten führt das Streben nach Gewinn zu Unter-
nehmungen, die geeignet sind, dem deutschen Volke schwere Schäden
zuzufügen (Bodenwucher, Schund usw.).
Nach alledem können wir uns der Tatsache nicht verschließen,
daß viele unserer Volksgenossen, wie viele, darüber zu streiten ist
müßig, in Verhältnissen geboren werden, die ihnen kein liebenswertes
Vaterland darstellen können. Diese Zustände, wie auch das starke
Entgleiten der Führung über das Volk wurden nur dadurch möglich,
daß das rasche Wachstum der Industrie und Großstädte uns un-
vorbereitet traf, die Organisationen und Erfahrungen fehlten, um es
in gesunden Bahnen zu halten. Freilich haben auch Unternehmer
ihre Pflichten den Arbeitern gegenüber damals verletzt, das leugnet
heute niemand mehr, der die Verhältnisse kennt.
Das einfache Volk bedarf aber der steten Fühlung mit den
Gebildeten, es braucht einen Anhalt an ihnen, nur dann läßt es sich
führen (Mathias, Wirkl. Geh. Oberreg.-Rat, „Kriegserinnerungen‘“,
Vorwort).
Eben noch zur Zeit scheinen ihm diese Führer erstehen zu wollen.
Der gute Geist Deutschlands ist wieder erwacht. An allen Enden des
Reiches rührt es sich. Ein neuer Idealismus geht einem dürftigen
Materialismus zu Leibe. Was dieser nach Reichtum, Ansehen,
Schein strebenden Zeit am meisten fehlte, regt sich mächtig, das
Streben nach Persönlichkeit und Echtheit. In allen den Bewegungen,
die zur Gesundung unserer Verhältnisse eingesetzt haben, finden
wir die aufrechten, selbstbewußten Persönlichkeiten wieder, die
selbstlos der Sache dienend uns den Geist der Helden von 1813 ver-
körpern.
Es unterliegt keinem Zweifel, eine innere Erhebung
und Läuterung bereitet sich vor, wie vor 100 Jahren,
Das große Vermächtnis vor 100 Jahren, 127
ein Kampf gegen Materialismus, Luxus, Modeentartung, Schein und
unberechtigte Klassenscheidung, gegen Wohnungselend und Alkohol,
Rassenentartung und Geburtenrückgang, eine Wiedergeburt kernhaften
deutschen Wesens.
Gewiß kenne ich nur einen Teil jener neuen Kräfte. Das sind
die Jugendbewegungen aller Art, das Erwachen der alten deutschen
Wanderlust und der volkstümliche Sport, die Arbeit des Deutschen
Werkbundes, der Wohnungsreformer, die Bekämpfung des Schunds
und des Alkohols (Mürwicker Kaiserrede), das Eintreten eines
Teils der Studentenschaft und tüchtiger Frauen und Mädchen
in die soziale Arbeit, die innere Kolonisation der Regierung,
Rassenhygiene und Rassenverantwortungsgefühl, die Erneuerung
und Vertiefung des sittlichen und religiösen Lebens — Jo-
hannes Müller, Lhotzky, Eucken, Trine, Popert!) und viele andere —,
der Kampf für die Erhaltung des Deutschtums an den Grenzen
und im Auslande und die so wertvollen Bestrebungen des
Wehr- und Flottenvereins dem deutschen Volke einen männ-
lichen und wehrhaften Geist und eine starke Rüstung zu
erhalten. i
Diese Kräfte atmen den Geist der Erhebungszeit. Bester
deutscher Art entspringend zeigen sie unserem Volke den Weg zum
Jungbleiben, zur Zukunft. Sie sollen auch die Arbeit des Offiziers
befruchten, in unserem dienstlichen und privaten Leben lebendig
werden. Nur dann können wir den uns zufallenden Teil der gestellten
Aufgabe lösen.
Beim Einzug der Truppen in Berlin 1871 hat unser so hoch-
verehrter alter Kaiser gesagt: „Wir müssen anerkennen, daß wir auf
den Grundlagen von 1813, 1814 und 1815 weitergebaut haben und
damit auch das große Verdienst der Männer jener Zeit, insbesondere
Boyens, der oft und lange verkannt worden ist.“
Roon, realer als Boyen, hat damals das ihm verwertbar Scheinende
der Boyenschen Gedanken übernommen (Meinecke, Von Stein zu
1) Es soll zu den angeführten Bestrebungen hier nicht grundsätzlich
Stellung genommen, sondern lediglich darauf hingewiesen werden, daß
sich gesunde Kräfte in ihnen regen. Manche dieser Bestrebungen werden
einzelne Erscheinungen zeigen, die nicht den Beifall eines jeden finden.
Man darf deshalb nicht den Stab über sie brechen, man muß über Einzel-
heiten hinwegsehen können, und da, wo im wesentlichen gleiche Ziele
vorliegen, wo überhaupt sich gesunde Kräfte regen, ihnen vertrauensvoll
begegnen und Bundesgenossenschaft pflegen. Philiströses Vorurteil und
Engigkeit in nationalen Kreisen tragen nicht selten die Schuld, wenn
unsere Kräfte sich zersplittern.
10*
128 Das große Vermächtnis vor 100 Jahren.
Bismarck). Im Vereine mit der wunderbar straffen Organisation, die
er dem Heere gab, hat er aus ihm jenes stahlscharfe Schwert ge-
schmiedet, mit dem sein kaiserlicher Herr die deutsche Einheit er-
kämpft hat.
Heute liegen die Verhältnisse für den ausbildenden Offizier ganz
anders als zu jener Zeit. Die heutige Aufgabe des Heeres hat
viel mehr innere Beziehungen zu der der Reformer, als zu
der, die Roon vorfand. Deshalb müssen wir über ihn hinaus
weiter auf den Spuren Scharnhorsts und Boyens.
Nicht als ob man unser Heer mit dem von 1806 vergleichen
dürfte. Es befindet sich in zu folgerichtiger Entwickelung seiner
Taktik, es ist im Grunde zu gesund und arbeitet zu fleißig und
wir dürfen hoffen, daß es auch heute noch das erste in Europa ist.
Trotzdem fordert der Augenblick ein Vorwärts, gerade weil wir
die ersten bleiben wollen, ja weil wir es angesichts der politischen
Lage müssen. Nur wer vorwärts geht, kann Gesundes erhalten, wer
lediglich erhalten will, bereitet den Zerfall.
Die Geschehnisse der Erhebungszeit haben uns die tiefgreifende
Wirkung sittlich wahrer Gedanken gezeigt. Ich erinnere an den Ein-
fluß, den der kategorische Imperativ Kants ausgeübt hat. Deshalb
brauchen wir die treibende Kraft großer Gedanken.
Und ich meine, wir sollten unsere Ziele wieder höher stecken
oder besser, sie entschlossener festhalten, umfassender ergreifen.
Denn unsere Vorschriften setzen uns hohe Ziele (siehe die Ein-
leitung der Vorschriften). Aber was wird oft daraus im täglichen
Leben? Eine große Zahl vermag diese großen Ziele neben der Arbeit
auf die Besichtigungen nicht oder nicht genügend festzuhalten. Dies
ist zu menschlich, als daß man es je ganz würde austilgen können.
Und Besichtigungen sind nötig und werden es immer sein. Gewiß ist es
eine der schwierigsten Aufgaben, die Besichtigungen richtig dem mili-
tärischen Leben einzufügen, ihnen keine anderes erdrückende, aber doch
ausreichende Bedeutung zu geben.
An manchen Stellen hat sich einer die Besichtigung zu hoch be-
wertenden Anschauung entsprechend, der Brauch eingebürgert, zu
Anfang neuer Dienstabschnitte als höchstes Ziel den Leitsatz auf-
zustellen: „Das Bataillon usw. wird sich auch in der neuen Dienst-
periode die Anerkennung seiner Vorgesetzten zu erwerben suchen.“
So gut gemeint und so richtig an sich dieser Leitsatz ist, so kann
man ihn doch kein hohes, erhabenes Ziel nennen. Es ist allein schon
nicht umfassend genug. Ich kann mir sehr wohl denken, daß ich bei
der Besichtigung Anerkennung gefunden und doch das Gefühl habe,
Das große Vermächtnis vor 100 Jahren. 129
in vielem, das eben Besichtigungen nicht enthüllen, meine Pflicht nicht
erfüllt zu haben.
Persönlichkeiten können gar nicht anders, als das
eigene Pflichtgefühl zum obersten Richter ihres Handelns
machen, und ich bin überzeugt, dass jene, die diesen sach-
lich nicht unanfechtbaren Leitsatz aufstellen, selbst nicht
anders verfahren. Dies verstößt nicht gegen die Disziplin. Ich
glaube sogar, wenn dieser Standpunkt allgemein anerkannt wird, wird
er helfen, sie tiefer zu begründen. Denn es muß immer das Streben
sein, eine Disziplin zu erzielen, die auf freiwilliger Unterordnung
selbständiger Persönlichkeiten und nicht auf Zwang oder Furcht beruht.
Nur eine solche ist heute des Offiziers würdig.
Doch auch das Pflichtgefühl ist meines Erachtens allein nicht ge-
nügend, um die letzte Triebfeder des Handelns zu bilden. Es muß
durch stärkere Kräfte wach erhalten werden.
Die größte dieser Kräfte ist wohl eine lebendige Vater-
landsliebe. Diese soll nicht nur unsere Friedensarbeit beflügeln;
sie muß den ins Feld ziehenden Soldaten im Vereine mit deutscher
Mannszucht und Ausbildungsarbeit unwiderstehlich machen.
Starke Kräfte wirken in dor Seele unserer westlichen Nachbarn.
Im Osten aber, wo die unversehrte Kraft eines Riesenvolkes erst
recht zu erwachen beginnt, schickt sich das junge Russentum im
Vollgefühle seiner frischen Kraft zukunftssicher an, sich für die große
Rolle vorzubereiten, die es sich von der Vorsehung vorbehalten glaubt.
Da heißt es wirklich, „alle“ Kräfte heben, Nationalstolz und
deutsches Rassengefühl, deutsches Denken und Glauben an die nur
uns eigenen Kräfte, an deren Bedeutung für unsere Zukunft und die
der Menschheit säen, und der Nation den Willen groß ziehen, jung
zu bleiben und zu wachsen, denn zuletzt entscheidet doch die Ge-
burtenziffer. „Der deutsche Gedanke in der Welt“ muß fortan vom
ganzen deutschen Volke getragen werden.
Heutzutage gibt es viele Leute, an deren Vaterlandsliebe nicht
zu zweifeln ist, die doch keine „lebendige“ Vaterlandsliebe haben.
Diese Leute erinnern sich am Biertisch, wenn sie politisieren, sowie
an nationalen Gedenktagen einige Mal im Jahre ihres Vaterlands.
Im übrigen leben sie philisterhaft ihren Interessen und überlassen es
seinem Schicksal. Die Vaterlandsliebe, die uns unsere höchsten
Ziele schaffen soll, lebt das Leben der Nation mit, sie ist
aktiv. Sie fühlt sich mit verantwortlich für das Schicksal
des Landes, die Erreichung seiner politischen Ziele, die
Volksgesundheit, den inneren Frieden. Sie umfaßt nicht nur
die Faktoren im Vaterlande, die dem eigenen Berufsinteresse dienlich
130 Das große Vermächtnis vor 100 Jahren.
sind, sondern das Ganze, Herrscher, Heimat, und alle Volks-
genossen.
Nur eine solche Vaterlandsliebe ist etwas wert. Sie soll uns eine
dauernd wirkende Triebfeder sein.
Ich verzichte darauf, auseinanderzusetzen, wie sich das in unserer
Arbeit ausdrücken wird und gehe nur auf Weniges ein.
Für die Vorbestraften und die mit Großstadtschäden Behafteten
wird der Offizier von heute eine Art Seelsorger — wie ich kürzlich
sagen hörte —, im weiteren Sinne natürlich.
Wenn aus solchen Leuten in der Armee nichts gemacht wird,
wird nie etwas aus ihnen. Diese, die durch Not und die durch Ver-
hetzung uns entfremdeten Leute, soll der Offizier gewinnen. Er muß
ihr Vertrauen erwerben, erkämpfen. Die Leute müssen fühlen, daß
er in ihre Lage hineinsieht, daß er weiß, wie es in den Hinterhäusern
der Großstädte hergeht, weiß, daß die jungen Leute von ihrem
14. Lebensjahre ab teilweise jeder Pflege von Körper und Geist, jedes
bessernden Einflusses entbehrt haben (teilweise sie nie genossen haben).
Kennt er das alles nicht, so wird all sein Mühen umsonst sein.
Eine Kompagnie ist trotzdem vielleicht gut; die Leute gehorchen,
wohl wissend, daß es Mittel gibt, sie zu zwingen. Sie hören die
Worte im Unterricht, aber die Worte dringen nicht zu ihnen. Ihre
Sinnesart bleibt unverändert, unsere Aufgabe an ihnen ungelöst.
Diese Pflichten kosten Zeit. Deshalb braucht der Kompagniechef
die fördernde Unterstützung seiner Vorgesetzten. Sie müssen seine
Arbeitskraft und Spannkraft erhalten, denn er ist die wichtigste
Person in unserer Aufgabe. So wird der Winter in allererster Linie
neben der Einzelausbildung der Einzelerziehung zu widmen sein.
Eine Kompagnie muß in dieser Periode unter dem
Zeichen einer Volkserziehungsanstalt stehen, deren Organe
von diesem Beruf durchdrungen nach den Anweisungen
des Leiters der Anstalt, des Hauptmanns, zielbewußt zu-
sammen arbeiten.
Je straffer organisiert, je seltener die Arbeit der Organe durch
unvorhergesehene Abhaltungen gestört wird, desto besser').
Wenn ich an die Schwierigkeiten einer organischen Weiterbildung
mancher Dienstzweige im Winter denke — Unterricht, Melde- und
Patrouillendienst, Schätzen, Ausbildung der Selbsttätigkeit u. a. —
so neige ich mehr und mehr der Ansicht zu, daß die mehr schul-
1) Solche Arbeit wird auch heute von einzelnen oder mehreren wohl
überall schon getan. Sie muß aber über diese Ansätze hinaus allgemein
in dieser Weise vertieft werden.
Das große Vermächtnis vor 100 Jahren. 131
mässige Organisation der Japaner, allerdings ohne die dort statt-
findende Beschränkung der Selbständigkeit der Kompagniechefs große
Vorzüge hat.
Würde man zur Prüfung dieser Frage den Ausbildungsplan ein-
mal auf einer anderen Grundlage aufstellen, indem man, wie in
den Schulen, für jeden Ausbildungszweig, etwa wöchentlich, eine be-
stimmte Stundenzahl festsetzte, so würden sich, wie ich vermute,
doch wesentliche Veränderungen unserer Zeiteinteilung ergeben. Ich
denke mir das so, daß nicht nur für das einzelne eine Anzahl von
Stunden in Anschlag gebracht wird — für Exerzieren, Turnen, Zielen,
formale Gefechtsausbildung, für Offizier- und Unteroffizierunterricht,
Unterricht über vaterländische Geschichte und Kriegsgeschichte
(Kampf) usw. — sondern, daß auch zusammenzustellen wäre, wieviel
Zeit sodann auf Hebung der geistigen Fähigkeiten, auf Drill, auf
Gymnastik, auf Anerziehung des Unternehmungsgeistes und der Selbst-
tätigkeit usw. verwandt wird, was bei einigem natürlich nur an-
nähernd zu errechnen ist.
In dieser Volkserziehungsanstalt spielt der oft so stiefmütterlich
behandelte Unterricht eine wichtige Rolle. Die Pflichtenlehre, der Unter-
richt über vaterländische Geschichte, teilweise auch der Gefechts-
unterricht müssen meines Erachtens mehr der Zeit angepaßt und ver-
tieft werden. Aber die jungen Offiziere bedürfen hierzu wie für die
gesamte hier dargelegte Berufsausübung einer entsprechenden Vor-
bildung. Die Reife, die die Rekrutenerziehung erfordert, die bei
unseren sozialen Verhältnissen gewiß einen ernsten Beruf darstellt,
macht mit obiger Forderung erweiterter und vertiefter Vorbildung
eine Verlängerung der Ausbildungszeit zum Offizier erwünscht.
Die jetzige Art der Offizierausbildung stammt aus der Zeit, wo
die Offizierkorps sich fast ausschließlich aus Kreisen ergänzten, wo
die Jugenderziehung, die Denkart eine unmittelbare Vorbereitung auf
den damals so viel einfacher liegenden Beruf darstellten. Diese Vor-
bedingungen treffen heutzutage vielfach nicht mehr zu.
Wenn dem Kompagniechef aber nicht einigermaßen praktisch,
theoretisch und erzieherisch durchgebildete Offiziere zur Seite stehen,
die in überschäumender Liebe zur Sache die leichtere Einwirkung,
die ihnen ihre dem Alter der Leute nähere Jugend ermöglicht, be-
nutzen, um das Eis zu schmelzen, das die Herzen eines Teils
der Mannschaften umgibt, so müßte er sich an seiner Aufgabe er-
schöpfen.
Auch in anderen Berufen ist die Vorbildung, das Erreichen
des Ziels schwerer geworden. Und es ist zweifellos für die
Tiefe der Berufsauffassung und das Reifen junger Leute von
132 Das große Vermächtnis vor 100 Jahren.
großer Bedeutung, daß sie sich ihre Stellung erringen, erarbeiten
müssen. Einem jungen Mann, der die gesellschaftlich gehobene
Offizierstellung zu leicht hätte erreichen können, würde das nur zum
Schaden gereichen.
Eine strenge Sichtung des Ersatzes und die Erziehung zu der
hier dargelegten Berufsauffassung wird dem Zudrang zur Offizier-
laufbahn nach Art und Zahl nur förderlich sein.
Auf den Kriegsschulen und in den Offizierkorps muß jener Geist
lebendiger Vaterlandsliebe dauernde Pflege finden. Die Büchereien
dürfen heutzutage nicht nur rein militärische Werke enthalten, sie
müssen den jungen Offizieren Einblick in das Leben und in das
Streben der Besten des Volkes geben. Bodenreform, Wohnungsreform,
Rückgang der Wehrkraft, Jugendbewegung, Alkoholfrage, sittliche Er-
hebung, sexuelle Frage (Popert, „Harringa“; Kemmiler, „Briefe an
einen jungen Offizier“; „Jugend zwischen 14 und 18 Jahren“ Richard
Nordhausen), Sport usw.
Dem gereiften Offizier wird in den wohl bald zu erwartenden
Militärakademien eine Ergänzung dieser Kenntnisse zuteil werden.
Auch die Winterbeschäftigung der Offizierkorps sollte nicht rein
taktisch sein. Große Männer, die Grundlagen unseres Heerwesens,
Zeitfragen, die Vertiefung in den Kampf und die Kampfeinflüsse
durch Schlachtstudien dürfen nicht zu kurz kommen. Die Komman-
deure sollten sich zu Führern dieses neuen Idealismus machen, ihn
durch das Glühen ihrer Persönlichkeit für die Sache wach erhalten.
Es mag Zeiten geben, wo dies schwer ist; die jetzige ist so ernst
einerseits, so zukunftverheißend anderseits, daß es mir heute nicht
schwer erscheint.
So viel ist jedenfalls sicher, daß das Offizierkorps reich an
Männern von Herz ist, die auf diesen Weg geführt, ihn mit Hin-
gebung gehen werden.
Mit Politik hat alles das nichts zu tun und es scheint
mir übertriebene Ängstlichkeit zu sein, wenn man das
glaubt. Ohne Kenntnis des nationalen Lebens ist die
Aufgabe des Offiziers heute nicht zu lösen.
Die Frage über das zweckmässige Maß des Drills gehört
mit hierher. Es ist ein Erziehungsmittel, das ohne Übermaß an-
gewandt, heute noch vortrefflich ist. Wann die Grenze erreicht wird,
wird am besten der in täglicher Erziehungsarbeit stehende Kompagnie-
chef fühlen. Jedenfalls genügt ein solches Maß von Drill, daß zu
den hier erörterten Aufgaben und zu wirklich feldmässiger Erziehung
zur Selbsttätigkeit Zeit bleibt. Ein guter Maßstab, ob diese aus-
reicht, ist die Prüfung, ob die Leute nach Ausfall der Offiziere in be-
Das große Vermächtnis vor 100 Jahren. 133
decktem Gelände sich mit den Gegenstößen und Finten der französischen
Taktik abzufinden verstehen.
Große Erfolge, wie sie bei dem anders gearteten Ersatz
von 1870 mit dem Drill erzielt worden sind (Gr. Generalstab,
18. August 1870, Sturm auf St. Privat), würde er heute ohne die ge-
forderte Erziehung kaum mehr herbeiführen.
Denn jene unerschütterliche, nur dem deutschen Heere eigene
Mannszucht, die uns in erster Linie die Zuversicht der Überlegenheit
gibt, die heute und immer aus militärischen, volkserzieherischen
und volkswirtschaftlichen Gründen den Grundpfeiler der Armee bilden
muß, ist heute „ohne“ die geforderte Erziehungstätigkeit nicht mehr
erreichbar. Drill und Strafen ohne sie würden eine Scheindisziplin,
einen Bau ohne Fundament schaffen.
Beides ist erforderlich; denn umgekehrt geht es ebensowenig mit
Güte allein. Kräftiges, frisches Zugreifen, Überwindung des Phlegmas,
der Trägheit, jeden Ungehorsams durch Drill, Strenge, wo nötig durch
harte Strafe, ist ebenso unentbehrlich.
In der richtigen Vermählung von Altem und Neuem, von Güte
und Strenge liegt die Lösung.
So ist auch Scharnhorst verfahren.
Daraus ergibt sich auch, daß die Grundzüge im Wesen des
Offiziers unverändert bleiben müssen.
Wenn der deutsche Offizier unserer Zeit die Eigenschaften ver-
lieren würde, die den preußischen des großen Königs und Kaisers
das Heer zum Siege führen ließen, so würde dieses bald nicht mehr
jene scharfe Waffe in der Hand unseres Kriegsherrn sein, die es bis-
lang gewesen ist.
Der alte preußische Offizier im besten Sinne, jener sturmharte,
tapfere, in Pflichterfüllung aufgehende, schlichte und einfache, selbst-
lose Offizier allein bringt die Vorbedingungen mit zur Lösung der
Aufgaben unserer Zeit. Der „neue“ deutsche Offizier, der Er-
zieher des Volkes in der Staatserziehungsstätte „Heer“
muß der durch seine erweiterte Aufgabe, durch das Er-
greifen des zukunftsicheren neudeutschen Idealismus über
seine Vorgänger hinausgewachsene alte sein.
Dann wird er Großes wirken und auch in unserer der Unter-
ordnung widerstrebenden Zeit eine feste Mannszucht schaffen können.
Hierin, wie schon wiederholt in der Geschichte, wird sich zeigen,
daß wir das Größte dann erreichen, wenn preußische Art von den
3roßBen Gedanken der Zeit und von den höchsten Zielen des Deutseh-
tums befruchtet wird. (Die Erhebungszeit, Friedrich der Große,
Bismarck.)
134 Das große Vermächtnis vor 100 Jahren.
Es gibt natürlich auch ein Übermaß persönlicher Unterordnung,
das mit dem Ziele unserer Arbeit, Entbindung aller persönlichen
Kräfte, und mit dem Begriff Persönlichkeit nicht zu vereinbaren ist.
In dieser Arbeit ist viel von Persönlichkeit die Rede. Dies ist
beinahe ihr Kernpunkt. Daher ein kuzes Wort darüber. Persön-
lichkeit ist eigentlich der Schlüssel für alles in unserem
Beruf. Die eindringlichsten Hinweise auf die Verantwortungsfreudigkeit
der Führer, die Biegsamkeit des Entschlusses, die Pflege eines frisch zu-
greifenden Begegnungskampfes, kühne Entschlußfassung vermögen bei-
spielsweise für die Heranbildung von Führern nicht soviel, wie der große
Gesichtspunkt der Erziehung von „Persönlichkeiten“. Das alles sind
Fragen persönlicher Kraft. Selbstbewußte, unabhängig denkende,
kraftvolle Männer erziehen, ihnen Luft geben für ihre Entwickelung,
auch wenn sie einmal zu knorrig sein sollten, ist nach General-
feldmarschall von der Goltz eine ernste Pflicht — in dem leider seit
1888 nicht mehr erschienenen „Unser Volk in Waffen“. — Blücher
und York in allererster Linie waren solche unbequeme Untergebene.
Lassen Sie uns die Fühlung mit jenen zukunftverheißenden
Kräften unserer Zeit suchen, sorgen, daß uns der Geist von 1813
lebendig ist. Wie Boyen und seine Kameraden aus den Hörsälen
der Universität Königsberg jenen reformerischen Geist hinausgetragen,
wie Scharnhorst, Gneisenau, Clausewitz, Grolmann in enger Fühlung mit
dem geistigen Leben ihrer Zeit ausgereift sind, so sollen auch wir
Offiziere von heute in Fühlung stehen mit dem tieferen Leben der
Nation und ihrer Besten, seien es Offiziere oder nicht. Wir dürfen
einen uns wertvollen Verkehr mit edlen, kulturell hochstehenden
Kreisen nicht an Äußerlichkeiten scheitern lassen. Die Bräuche
in den verschiedenen Teilen unseres Vaterlandes sind verschieden
und wer an einen Ort hinzieht, muß sich der Kultur und Sitte des
Landes anpassen. Mir taucht, wenn ich mit Menschen in Berührung
komme, immer wieder die Frage auf, was sie für unser Volksleben,
den Staat wert sind. Und da schneidet beispielsweise ein armes
Weib, das einen Haufen Kinder mit Ehren durchbringt, besser ab,
als manche moderne Drohne.
Wir müssen in der Wahl unseres Umganges den Maßstab dieser
Ausführungen mit anlegen — sanctus amor patriae dat animum —
(Stein).
Dies entspricht mehr dem Geiste der auch heute ganz zeit-
gemäßen, vortrefflichen Einleitungsverfügung zu den Bestimmungen
über die Ehrengerichte als jener mit manchen Geld- und Lebe-
kreisen.
Generalfeldmarschall von der Goltz hat sich dadurch, daß er in
Das große Vermächtnis vor 100 Jahren. 135
der Jungdeutschlandbewegung die Zusammenarbeit der Offiziere mit
anderen nationalen Kreisen, denen wir gesellschaftlich meist nicht
begegnen, ermöglicht hat, ein großes Verdienst erworben. Ich führe
diese Dinge an, weil erfahrungsgemäß gesellschaftliche Formen leicht
die starrsten werden; denn wer ist berufen, sie fortzubilden? Sie
überleben sich wie alles Beharrende und leben oft lediglich deshalb
weiter, weil niemand wagt, ihnen den Todesstoß zu geben.
Auch hier $ilt es, dem Wesen die Herrschaft über die Form zu
erhalten, dem „Menschen über den Sabbath“. An den einfachen
Normen allgemein menschlicher, gesunder Verhältnisse muß man von
Zeit zu Zeit alles darauf prüfen, ob seine Entwickelung sich innerhalb
dieser Normen gehalten hat. Wo nicht, wird es immer tiefgreifende
Nachteile auslösen, denn die Natur rächt jede Beugung bitter.
Eine solche Norm ist beispielsweise der Kinderreichtum der Ehen.
Wo er allgemein abnimmt, wird sicher nicht Verflachung und
Entartung des gesunden Instinkts allein der Anlaß sein. Es werden
vielmehr begründete oder auch übertriebene Sorgen um den Unterhalt,
eine durch die Umgebung gesteigerte Lebensführung u. a. daran
schuld sein. Irgend etwas ist aber gewiß nicht in Ordnung.
Wir wollen auf die tiefe, soziale Bedeutung des Beispiels unseres
gesamten, auch des privaten und gesellschaftlichen Lebens nicht
eingehen. Das Beispiel ist der beste Weg zur Versöhnung der
Klassen.
Möchte es bald dahin kommen, daß die Offizierkorps durch ihr
Beispiel strenger Einfachheit, einen schroffen Gegensatz zu dem Luxus
ringsum schaffen, denn es ist eine große Sache um die Ein-
fachheit. Die Begeisterung, die wir bei der heutigen
Jugend so vielfach schmerzlich vermissen, wächst nur auf ihrem
Boden.
In der Einfachheit ist Preußen groß geworden und nur in diesem
knappen Zuschnitt kann es seine eigenartige Stärke erhalten').
1) Es ist sehr schwer, etwas über die Einfachheit zu sagen, ohne
mißverstanden zu werden. Man sieht darin gleich die Anklage, daß bei
uns der größte Luxus herrsche. Das ist gewiß nicht der Fall; wir sind
ja für heutige Verhältnisse im allgemeinen ziemlich einfach geblieben.
Dafür sorgen die hohen Anforderungen, die von unserem allerhöchsten
Kriegsherrn, die durch die Art der Herbstübungen, durch die Kriegs-
mäßigkeit dabei an uns gestellt werden.
Und doch ist die alte Einfachheit, jene wunderbare Kraftquelle, die
von der heutigen importierten Moderichtung, der Entwickelung des ge-
selligen Lebens in manchen Geld- und Lebekreisen durchaus wesens-
verschieden ist, vielfach nicht mehr dieselbe. Man denke nur an die
Zivilausstattung mancher eleganter, junger Herren. Ich las kürzlich, die
136 Das große Vermächtnis vor 100 Jahren.
Lassen Sie mich den Kern der Arbeit kurz zusammenfassen.
Unsere Zeit ist ernst. Wohl sind wir ein mächtiges Reich geworden
und haben einen glänzenden Aufschwung von Industrie und Handel
hinter uns, Großes in vielem erreicht.
Unser Volk aber ist — im Frieden wenigstens — zerspalten in
gegenseitiger Entfremdung und Feindschaft seiner Klassen, unsere
Volkskraft im Rückgang, das Land von mächtigen Gegnern um-
geben.
Wir müssen wieder einig werden, die gesamten Kräfte unseres
Volkes in den Dienst der Nation stellen, in Kriegs- und Friedens-
zeiten.
Jede Nerve, alle Kraft jedes einzelnen muß für die
heilige Sache des Vaterlandes in Tätigkeit treten, wenn es
zum Krieg kommen sollte. Ohne das kein voller Erfolg.
Das ist das große Vermächtnis von 1813 als Lehre wie als
Aufgabe. Noch ist es zum Glück nicht zu spät.
Abseits der unfruchtbaren politischen Kämpfe und unbeirrt durch
deren oft abstoßende Erscheinungen beginnt es sich zu rühren, fast
überall. Das Gewissen Deutschlands regt sich. Ein neuer Idealismus
brieht sich Bahn, bestes deutsches Wesen. Einfachheit, gerader na-
türlicher Sinn, Liebe zur Natur, zu Sport und Spiel, zum Wandern
kehren wieder.
Lebendig wirkende Vaterlandsliebe schickt sich an, dem Elend
der Großstädte, des Alkohols, der Geldtollheit, der Mode und Schein-
Offiziere hätten das stolze Vorrecht, bei größtem Ansehen arm und be-
dürfnislos zu sein, schon aufgegeben!?
Der Zug zur eleganten Welt, zur Nachahmung von Lebekreisen, der
in allen Schichten um sich greift, muß umfassend bekämpft werden, denn
es gibt nur zwei Möglichkeiten — entweder bewußter Kampf, eine Kriegs-
erklärung schlechthin, an eine internationale Richtung, die wir Soldaten
als fremd und undeutsch, teilweise als dekadent empfinden, oder ein
allmähliches, vielleicht unbewußtes, aber sicheres Hineingezogenwerden
in sie.
Wir müssen unser Vermögen, unsere gesamten Mittel, wie unsere
Kräfte und Gaben als uns dazu gegeben ansehen, daß wir damit wirken.
Jobs. Müller. — Wir werden dann so vieles entdecken, das unserer Unter-
stützung dringend bedarf, daß wir schon, um dem einigermaßen gerecht
zu werden, einfach leben müssen. Und wir werden es bald gar nicht mehr
fertig bringen, Geld für verhältnismäßig unnötige Dinge auszugeben, so-
lange es an anderer Stelle dringend gebraucht wird. Das ist aktive
Vaterlands- und Nächstenliebe. — Unterstützung nationaler Bestrebungen
(Deutschtum an den Grenzen und im Auslande, Wehrfähigkeit u. a.),
Soziales (Waisen- und Kinderschutz, Jugendpflege, Wohnungswesen, Volks-
Zildung, Sport, Alkohol usw.).
Das große Vermächtnis vor 100 Jahren. 137
kultur, der Weichlichkeit zu Leibe zu gehen, die Kluft und Klüfte
im Volke zu überbrücken.
Starke Persönlichkeiten kämpfen an vorderster Stelle, Männer,
die ganz der Sache hingegeben sind.
Nur aus solchem Geiste, nur durch menschliche Überwindung
der Schäden, durch Handlungen, bei denen das Herz mitwirkt, kann
die Not der Zeit gehoben werden.
Alles andere hat keine Erlösungskraft tiefsitzender Entfremdung
gegenüber.
Das gehört auch zum Vermächtnis von 1813.
Lebendig wirkende Vaterlandsliebe muß auch im Heere die Arbeit
beflügeln.
Die Not der Gegenwart, die Schande unserer inneren Zerrissen-
heit, die Anforderungen eines Zweifrontenkrieges, der brennende
Wunsch unsererseits alles zur Erreichung der vaterländischen Ziele zu
tun, die Kräfte unserer Untergebenen voll und ganz dafür
zu heben, das soll uns große Ziele schaffen, die unser Pflichtgefühl
nicht erlahmen lassen.
Das Offizierkorps soll so zum Vortrupp der Männer
treten, der dem deutschen Volke auf der Bahn zur Zukunft
voranzugehen begonnen hat.
Das Heer soll es zu einer Volkserziehungsstätte im
edelsten Sinne machen, in dem wir das größte militärische
Erziehungsproblem, die zur vollen Entfaltung gebrachten
Kräfte des einzelnen straff zur Erreichung des gemein-
samen Zwecks zusammenzufassen, unserer Zeit angemessen,
in Boyen- und Roonschem Geiste lösen wollen.
Unser Vertrauen aber soll der trotz so großer Widerstände
glänzende Erfolg der Helden der Erhebungsjahre und das Wieder-
erkennen ihres Geistes in dem neuen Idealismus und Werdedrang
unserer Tage stützen.
Ein Wort Boyens, das sich ihm, wie er sagt, in einem bewegten
Leben wiederholt bestätigt hat (Denkwürdigkeiten II, S. 231), daß
das Volk, wo man ihm Vertrauen entgegenbringt, dieses von ganzem
Herzen erwidere, geleite uns bei unserer Arbeit.
138 Übersicht der französischen Küstenbefestigungen.
IX.
Übersicht der französischen Küsten-
befestigungen.
Von
Obermair, Generalmajor z. D.
Die Stellung und Entwickelung Frankreichs als Seemacht brachte
es naturgemäß mit sich, daß auch der Küstenverteidigung, insbesondere
der Sicherung der wichtigeren Handels- und vor allem der Kriegs-
häfen als Stützpunkte und ÖOperationsbasis für die Flotte gelegentlich
der Neuorganisation des gesamten Landesverteidigungswesens eine be-
sondere Aufmerksamkeit zuteil wurde. Zeitweise geschah in dieser
Hinsicht sogar des Guten zuviel, so daß in neuerer Zeit ohne Nach-
teil ein nicht unbedeutender Teil der hergestellten Befestigungsanlagen
wieder aufgelassen werden konnte. Immerhin ist die Zahl der vor-
handenen gut unterhaltenen und brauchbaren Befestigungen längs der
Küste noch eine sehr große, und manche der zurzeit aufgegebenen
können im Bedarisfalle ohne besondere Schwierigkeit wieder in ge-
brauchsfähigen Zustand versetzt werden. Jedenfalls ist der Schutz
der französischen Küsten ein reichlicher und gegen alle Angriffe
genügend.
Das in seiner Gestaltung sehr wechselnde (weite flache Dünen
einer- und steile, ja senkrecht abfallende Felsküsten anderseits) Küsten-
gebiet Frankreichs hat eine Gesamtausdehnung von 2700 km; davon
entfallen auf die Nordsee 75, auf den Kanal la Manche 1120, auf
den atlantischen Ozean 880 und auf das mittelländische Meer 625 km
(ungerechnet die Küsten von Korsika und von Nordafrika).
Das ganze Gebiet ist in fünf See-Arrondissements eingeteilt, jedes
unter dem Befehl eines Vizeadmirals, der als Seepräfekt unmittelbar
dem Marineminister untersteht und im Kriegsfall einem kommandierenden
General (Korpsgeneral) gleich steht. Der Hauptort eines jeden
Arrondissements ist ein befestigter Kriegshafen, der mit den ver-
schiedenartigsten Marineetablissements ausgestattet ist und außer
anderen Truppenteilen insbesondere auch Teile der Kolonialarmee als
Besatzung hat.
Es ist beabsichtigt, die gesamten Küstenbefestigungen dem Marine-
ministerium zu unterstellen, wie das bei einem Teile schon jetzt ge-
schehen ist; doch soll bei dem großen Mangel an dem nötigen Personal
dies zunächst noch große Schwierigkeiten haben.
Übersicht der französischen Küstenbefestigungen. 139
Die Einteilung ist folgende:
Das 1. Arrondissement mit dem Kriegshafen Cherbourg von
der belgischen Grenze nordöstlich Dunkerque bis zum Meerbusen von
St.-Germain, gegenüber der Insel Jersey, im Westen der Halbinsel
von Cotentin.
2. Arrondissement mit dem Kriegshafen Brest vom Meer-
busen von St.-Germain bis zu den Inseln Glenan im Süden der Bai
von Concarneau.
3. Arrondissement mit Lorient von den Inseln von Glénan
bis zur Bucht von Bourgneuf, am Südende des Departements Loire-
Inferieure, gegenüber der Insel Noirmoutier.
4. Arrondissement mit Rochefort, von der Bucht von
Bourgneuf bis zur spanischen Grenze südwestlich von Bayonne.
5. Arrondissement mit Toulon umfaßt die ganze Mittelmeer-
küste von Port Vendres bzw. Cap Cerbere bis Mentone (italienische
Grenze) sowie die Insel Corsica.
Dazu kommt dann noch 6. die Verteidigung der afrika-
nischen Nordküste (Algier und Tunis) mit dem neuen Kriegshafen
Bizerta.
Abgesehen von der großen Zahl alter, meist schon aufgelassener
Befestigungen und Batterien, die nur mehr untergeordneten oder gar
keinen Wert haben, nötigenfalls aber provisorisch immerhin wieder
teilweise hergestellt und, wenn auch nur vorübergehend, brauchbar
gemacht werden können, sind gegenwärtig nachstehende befestigte
Punkte und Häfen für die Küstenverteidigung von Bedeutung:
I. Im 1. See- Arrondissement:
1. Die Hafenplätze Dunkerque, Gravelines und Calais an
der Nordsee sowie Boulogne sur Mer im Nordosten des Kanals
La Manche haben, trotz verschiedener Befestigungswerke, keine be-
sondere Bedeutung.
Diese Häfen sowohl wie die weiterhin folgenden von St.-Valery-
sur--Somme, Treport, Dieppe und Fécamp können Schiffe mit größerem
Tiefgang (Kriegsschiffe) nicht aufnehmen.
2. Von großer Bedeutung ist erst der Hafen von Le Havre,
130000 Einwohner. Die Stadt, 228 km von Paris entfernt, liegt am
rechten Ufer der Seinemündung; der Hafen, aus dem Vor- und dem
eigentlichen Hafen bestehend, hat 9 Schwimmdocks mit 19 Schleusen,
ist durch den Kanal de Tancarville mit der Seine in Verbindung und
dient hauptsächlich Handelszwecken, kann jedoch auch Kriegsschiffe
aufnehmen.
140 Übersicht der französischen Küstenbefestigungen.
An Befestigungen sind zu erwähnen: Das Fort Sainte-Adresse
im Nordwesten der Stadt auf 88 m Höhe; nahe westlich davon an
der Küste die Batterie de L’Epi-a-Pin und 1!/, km weiter nordwestlich
die Batterie Haute de la Heve; an der Westseite der Stadt die
Batterien des Huguenots und de la Jetee du Nord; südlich des Hafen-
eingangs und vorwärts der Bassins die Verteidigungslinie Fronts de
la Floride; im Osten der Bassins das Fort de Leure zwischen Kanal
Tancarville und Küste.
Am Südufer der Seinemündung liegt die Batterie de Villerville.
3. Zwischen le Havre und der Nordostspitze der Halbinsel
Cotentin ist der einzige brauchbare Hafen der von St.-Vaast-la-
Hougue. Die sonstigen Häfen von Trouville, Dives, Quistreham und
Port-en-Bessin bieten nur Fischerbooten und kleineren Handelsschiffen
Zuflucht.
Der Hafen von St.-Vaast, an der Ostseite der Halbinsel Cotentin,
ist geschützt durch das auf einem Inselchen 1'/, km südlich gelegene
Fort de la Hougue mit einigen Batterien; 2 km östlich liegt auf der
von Sandbänken umgebenen Insel Tatihou das gleichnamige Fort zum
Schutze der dortigen Mole mit Leuchtturm.
4. In der Mitte der Nordküste der Halbinsel Cotentin liegt an
der Mündung der Divette der große Kriegshafen Cherbourg, 371 km
von Paris entfernt. Der aus drei großen Bassins bestehende Kriegs-
hafen ist westlich, der Handelshafen östlich der etwa 45000 Ein-
wohner zählenden Stadt.
Die Befestigungen bestehen aus:
a) An und auf dem Wellenbrecher, der die Reede nördlich
abschließt: Fort, Redoute und Polygon (Mörserbatterie) von Querqueville,
Forts de Chavagnac, de l’Ouest, Central, de l’Est, de l'île de Pelée
und Batterie des Gröves.
b) Innerhalb der Reede: Die nach Cormontaigne bastionierte
Hafen- und Arsenalbefestigung mit dem Fort Homet im Norden und
Gallet im Süden, die Batterien Ste.-Anne und Hameau de la Mer
westlich, Fort des Flammands auf einem Felsen im Handelshafen und
Batterie de Tourlaville östlich der Stadt.
c) An der Küste westlich Querqueville: Die Batterien
Haute (108 m) und Basse de Nacqueville, 6'!/, km nordwestlich des
Kriegshafens.
d) An der Küste östlich Gröves: Batterien basse und haute
(110 m), de Bretteville, 6 km östlich der Stadt.
e) Auf der Landseite, 1—2 km vorgeschoben: Redoute des
Couplets (78 m) und du Tot (79 m) im Westen, des Fourches (74 m),
Octeville (72 m) und Fort du Roule (112 m) im Süden.
Übersicht der französischen Küstenbefestigungen. 141
Die sämtlichen Werke sind viel zu nahe an der Stadt, um das
Arsenal und die sonstigen Etablissements gegen eine Beschießung er-
folgreich zu decken.
II. Im 2. See- Arrondissement:
1. St.-Malo, an der Rancemündung, hat eine klippenreiche
Reede und einen nur für Schiffe mit geringerem Tiefgang zugänglichen
Hafen mit zwei Schwimmdocks. Die Stadt hat eine alte Umwallung
mit Türmen und einem mächtigen Schloß im Nordosten. Von den
vielen sonstigen Befestigungen früherer Zeit sind nur mehr erhalten
und brauchbar: Fort Lavarde, 4 km nordöstlich, Fort de Harbourg,
3 km nordwestlich, und Fort de la Cité auf 33 m im Süden.
2. Die von Riffen umgebene Insel Bréhat, 12 km nördlich
von Paimpol, nahe der Nordspitze der Bretagne, hat nur mehr ein
Reduit von geringer Bedeutung.
3. Die Insel Ouessant, 18 km westlich der Pointe de Corsen,
dem westlichsten Punkte Frankreichs, inmitten zahlreicher Inseln und
Klippen, wird durch das auf dem 42 m hohen Hügel La Croix
St. Michel gelegene Fort Central verteidigt, das zugleich den Nord-
westzugang der Reede von Brest deckt.
4. Brest, amphitheatralisch aufgebaut, zu beiden Seiten der
Mündung des Penfeld, am Nordufer der durch die breite Mündung
der Aune und des nördlich sich mit dieser vereinigenden Elorn
(Landerneau) gebildeten großen Reede von Brest, die durch die
Halbinsel Quelern gegen Westen abgeschlossen und nur durch die
2—3 km breite Wasserstraße Goulet de Brest mit der Außenreede,
d. i. dem offenen Meere, verbunden ist, hat 85000 Einwohner. Der
Kriegshafen erstreckt sich von der Mündung des Penfeld etwa 2 km
landeinwärts; der Handelshafen ist 500 m weiter östlich im Süden
der Stadt. Diese steigt bis zu einer Höhe von 33 m an und ist von
Paris 610 km entfernt.
Befestigungen: Die Stadt hat eine alte bastionierte Umfassung
mit im Osten durch ausgedehnte, neuerbaute Vorstädte behindertem
Schußfeld und mit dem Fort Bouguen im Norden und dem von
Vauban umgebauten und verstärkten, von sieben Türmen flankierten,
auf dem Ostufer des Penfeld 65 m hoch liegenden, aus dem 13. Jahr-
hundert stammenden Schloß (Zitadelle) Brethume im Süden, beide
ohne besonderen Wert, obgleich das letztere mehrfach umgebaut und
verstärkt wurde.
a) Auf der Landseite liegen: Fort Guelmeur, 3 km nord-
östlich vom Hafeneingang an der Bahn nach St.-Brieux, 90 m hoch,
gleichzeitig zur direkten Sperrung der Landerneaumündung bestimmt;
Jahrbücher für die deutsche Armee und Marine. Nr. 515. 11
142 Übersicht der französischen Küstenbefestigungen.
2—3 km nördlich davon das Fort Pen-ar-Creach, 97 m hoch; 5 km
westlich davon und 4 km nordwestlich vom Schloß das Fort Penfeld,
100 m hoch und südlich davon die Red. de Queranroux, 97 m, die
die Verbindung mit dem weiter südlich gelegenen Fort de Montbarrey,
90 m, herstellt.
b) An der inneren Reede liegen: 2 km südlich vom letzt-
genannten Fort und 3,7 km südwestlich vom Hafeneingang das Fort
Portzic auf der gleichnamigen Landspitze mit der nahe westlich
liegenden Batterie Ste.-Anne. Auf der XNordspitze der Halbinsel
Quelern, Portzic auf 1700 m gegenüber, als südlicher Eingangspfeiler
des Goulet das Fort des Espagnoles, 76 m, mit westlicher und süd-
licher Batterie und weitere 3 km südlich die Batterie Ponscorff, 62 m,
500 m nördlich des Dorfes Roscanvel, am Beginn der gleichnamigen
Bai, in deren Mitte sich die Inseln des Mortes und Treberon befinden;
ferner das Fort Ile longue an der Nordspitze der gleichnamigen, die
Bucht von Roscanvel und die von Fret voneinander trennenden Halb-
insel, 40 m hoch, mit der Batterie de Tr&met im Südwesten. Das
Fort kreuzt sein Feuer mit dem südöstlich auf einer Landspitze
liegenden Fort Lanvćoc, 72 m. 6 km südöstlich vom Hafeneingang
und 4 km nordöstlich von Fort Longue ist an der Spitze der Halb-
insel Plougastel (zwischen Elorn und Aune) das Fort de l’Armorique
oder von Plancastel, 51 m, südlich dessen die Insel Ronde ist. Endlich
3°/, km nordnordöstlich vom vorigen und 4 km südöstlich vom Hafen
ist das Fort Corbeau.
c) Am Goulet und der Außenreede: Westlich von Fort
Portzic das Fort Dellec und seine Tiefbatterie, das Fort Mengam mit
Batterie, das Fort Minou mit Hoch- und Tiefbatterie, die Batterie
Semaphore sowie die Werke von Toulbroch, sämtlich an der Nord-
küste auf Höhen von 55—67 m. Weiter westlich folgt noch das
Fort und Batterie Bertheaume, 6 km östlich der Pointe de Mathieu
und 16 km südwestlich vom Hafeneingang.
Die Südseite des Goulet und der Außenreede bilden die Halb-
inseln Quelern und Camaret. An der Nordwestküste der ersteren
liegen, westlich an Fort des Espagnoles anschließend: die Hoch- und
Tiefbatterie Robert sowie die Batterie du ravin Skiff, das Fort
Cornuailles mit kasemattierter Batterie, 65 m hoch, gegenüber von
Mengam und Dellec, endlich die Hoch- und Tiefbatterie de la pointe
des Capucins, 61 m.
An der Nordwestspitze von Camaret und 6 km südlich des Fort
Minou: Die Werke von Toulinguet, 59 m, aus Batterie und Redoute
bestehend; 2 km östlich davon an der Nordostspitze der Halbinsel:
die Batterie du Grand Gouin.
Übersicht der französischen Küstenbefestigungen. 143
d) Gegen die Landseite ist die Halbinsel Quélern ab-
geschlossen durch die „Linien und das Reduit“ Quelern, 63 m, nebst
Batterien; 7'/, km südöstlich davon, inmitten der Halbinsel Crozon,
ist das gleichnamige Fort auf 83 m, dessen Wirkung sich bis nach
der Außenreede erstreckt. Zwischen dem letztgenannten Fort und den
Forts lle Longue und Lanvéoc ist noch die Redoute Landouec.
II. Im 3. See- Arrondissement:
1. Lorient, an der Südküste der Bretagne, am Nordufer des
die Reede von Lorient bildenden Zusammenflusses von Skorff und
Blavet, ist 523 km von Paris entfernt und hat 42000 Einwohner.
Die Höhe der Stadt wechselt von 10—20 m. Der Hafen liegt am
Nordende der Reede, deren Zugang vom offenen Meere her durch die
Befestigungen von Port Louis gesperrt ist.
a) Befestigungen an der Westküste der Reede:
An der äußersten Südspitze, 4'/, km südlich Lorient, ist die
Batterie Talud, 5 km nördlich der Insel Croix, mit deren Werken sie
ihr Feuer kreuzt; östlich von ihr die Batterie Loqueltas zur unmittel-
baren Verteidigung der Wasserstraße nach der Reede. Die Stadt
Lorient selbst hat im Norden eine bastionierte Front.
b) Befestigungen an der Ostküste:
Auf der Pointe de Gâvres, 6 km südlich Lorient und 4 km
nördlich Ile Croix, ist die Batterie des Gävres; 2 km nördlich von
dieser die Festung Port Louis mit einem selbst für die größten Schiffe
zugänglichen Hafen und einer Zitadelle im Nordwesten, von der
Kurtinen ausgehen, die fast die ganze Stadt umgeben und ihren
Hauptstützpunkt im Bastion 17 haben. Im Osten sind auf den Höhen
zwischen der Pointe de Kerso im Norden und der Lagune von Gävres
im Süden die Linien von Locmalo. Der größte Teil der früheren
Befestigungen (ohne Bastion 17) wurde 1881 gestrichen.
c) In der Mitte der Reede, zwischen der Pointe de Locmi-
quelic im Osten und der Mündung des Ter im Westen ist die Be-
festigung der Insel St.-Michel, 500 m lang, 200 m breit, mit der
Klippe de l’Aneno im Südosten und der Bank Jean und dem Felsen
Pengarme im Nordosten. Zahlreiche Bojen und Feuer bezeichnen die
schmale Wasserstraße. An der Südspitze der Insel ist die Batterie
St.-Michel, im Nordosten der Insel liegt das Fort Pen-Mane, im
Norden der gleichnamigen Spitze, 1 km südöstlich Lorient und 3 km
nördlich Port Louis. Bei Pen-Man& ist der beste Ankergrund der
ganzen Reede.
11*
144 Übersicht der französischen Küstenbefestigungen.
2. Ile de Croix, 5 km südwestlich der Bai von Lorient, ist
8 km lang, bis zu 3 km breit und hat 19 km Umfang.
Im Norden der Insel sind die Batterien Haute (50 m) und Basse
de Grognon sowie Fort la Croix, 40 m, 750 m nördlich Locmarina.
3. Die 15 km lange, mit dem Festlande nur durch eine teilweise
nur 150 m breite Landenge verbundene Halbinsel Quiberon.
Im Mittelpunkt der Halbinsel liegt das Fort Penthièvre; im Süd-
osten die Batterie Kernavert an der gleichnamigen Landspitze;
etwas tiefer, 1 km östlich der letzteren, das Fort Neuf. Im Westen
ist das Reduit St.- Julien.
4. Belle-Ile, 12 km südwestlich Quiberon, 18 km lang, 4 bis
9 km breit, hat 80 km Umfang und mehrere gute kleine Häfen, be-
sonders den von Palais (mit Schwimmdock, 2 Werften usw.). Palais
hat 2 befestigte Umwallungen, eine aus dem 16. und 17. Jahr-
hundert und eine moderne. Im Norden ist eine Zitadelle mit 2 vor-
geschobenen Lünetten.
Hafen und Reede sind gedeckt durch die Batterie Taillefer,
1 km nördlich der Stadt, Batterie Ramonet und Batterie du
Gros-Rocher, 2—3 km im Südosten.
5. An der Loiremündung: Die Batterie Ville-s-Martin, im
Norden und die Batterie de Lève. Im Süden deckt die Batterie
Pointeau den Zugang zu dem aus dem 19. Jahrhundert stammenden,
neuestens vielfach verbesserten Hafen von St.-Nazaire.
IV. Im 4. See-Arrondissement.
.1. La Rochelle, 466 km von Paris entfernt, 30000 Ein-
wohner, liegt, 8—17 m ü. M., im nordöstlichen Teile der durch die
mit vielfachen Befestigungen versehenen Inseln de R& im Norden
und Oleron im Süden geschützten Reede, in deren südöstlichen Teil
die Charente mündet (Rochefort).
La Rochelle hat zunächst eine bastionierte Stadtumwallung mit
Wassergräben. 4 km westlich, 200 m nördlich des neuerbauten
Hafens von la Pallice ist auf dem Gipfel eines Hügels die Batterie
St.-Mare mit Wirkung gegen den Pertuis Breton; im Südosten des
vorgenannten Hafens, 2300 m westlich des Hafendammes von La
Rochelle ist die Batterie de Chef de Baie; auf 3 km der letzteren
südöstlich gegenüber die Batterie de la pointe des Minimes.
2. Ile de Ré mit ihrem nördlichen Teil 5, mit dem südlichen
2'/ı km vom Festlande entfernt, hat eine Länge von 25 und eine
Breite von 3—5 km. Die Insel besteht aus zwei, durch die schmale
Landenge des Isthmus von Martray getrennten Teilen: der Halbinsel
d’Ars im Nordwesten und der Halbinsel St.-Martin im Südosten mit
Übersicht der französischen Küstenbefestigungen. 145
der Bucht von Rivedoux, dem Hafen von Pallice gegenüber. Zahl-
reiche Feuer an den Küsten erleichtern den Verkehr vom Pertuis
Breton im Norden nach La Rochelle und dem Pertuis d’Antioche im
Süden.
Der Vorhafen und die Reede von St.-Martin sind vorzügliche
Ankerplätze; die Stadt selbst ist nach Plänen Vaubans mit zahl-
reichen Befestigungen umgeben: im Osten die Lünette A und die
Redoute du Martray im Nordwesten; 5 km südöstlich der Stadt auf
einer Höhe der Ostküste das Fort de la Pree; weitere 3 km süd-
östlich die Batterie und Redoute de Sablanceaux, Batterie St.-Mare
und Chef de Baie gegenüber.
3. Rochefort sur Mer, 35000 Einwohner, liegt 33 km süd-
südöstlich La Rochelle, am rechten Ufer ‘der Charente, 18 km vom
Meere entfernt und 496 km von Paris. Der Kriegshafen liegt im
Osten der Stadt am Fluß und hat eine Länge von 1600 m. Dabei
befinden sich das umfangreiche Arsenal und sehr leistungsfähige
Werften, Werkstätten usw. Der Handelshafen mit 3 Schwimmdocks
schließt an den Kriegshafen an.
Rochefort ist im Norden und Westen mit einer Umwallung mit
Wassergräben versehen. An der Charentemündung im Westen ist
das Fort de la pointe (oder Vason), 3 km südlich von Fouras.
2 km westlich der Mündung liegt die ungefähr 70 ha große
Felseninsel (15 m Höhe) Madame mit dem gleichnamigen Fort nebst
Batterie.
4. Ile d’Aix, 9 km nordwestlich der Charentemündung und
6 km östlich der Insel Oleron, schließt die Bucht von La Rochelle
(pertuis d’Antioche) im Südwesten ab, ist 3 km lang und 600 m
breit, hat 129 ha Flächeninhalt und ist 9 m hoch über Flut-
wasser.
Die Wassertiefe der durch viele Feuer beleuchteten Reede be-
trägt 15—21 m bei Ebbe.
Auf einem Felsen an der Pointe de l’Aiguille, zwischen 3'/,. km
Festland und der Insel, liegt das Fort d’Enet; an der äußersten
Östspitze der Insel d’Aix ist das Fort Liedot; im Südwesten ist
Bourg d’Aix mit einer Umwallung versehen und vorwärts derselben
liegt an der Pointe Ste.-Catherine das Fort La Rade. Im Nordwesten
der Insel sind die Batterien Coup-de-Pont, de Fougères sowie de Tridoux,
du Jamblet und de St.-Eulard.
3 km südwestlich d’Aix liegt auf einem Felsen zwischen (6 km:
d’Aix und Oleron das Fort Boyard, das die ganze Reede beherrscht
und sein Feuer mit allen bereits genannten Werken sowie mit denen
der Insel Oléron kreuzt.
146 Übersicht der französischen Küstenbefestigungen.
5. Ile d’Oleron, 25000 Einwohner, schließt die Reede Pertuis
d’Antioche im Süden ab und ist südlich vom Festland durch den
Pertuis de Mamusson getrennt. Sie ist 30 km lang und bis zu
11 km breit (153 qkm), im Westen sehr unzugänglich, von ausgedehnten
Sandbänken mit vielen Riffen umgeben. Im Nordwesten ist ein 50 m
hoher Leuchtturm an der Pointe de Chassiron, der im Verein mit ver-
schiedenen minderwichtigen an der Ostküste der Insel das Fahrwasser
im Pertuis d’Antioche bezeichnet.
Befestigungen: An der Ostküste, 10 km westlich des Fort
d’Enet und 6 km südlich Ile d’Aix, sind das Fort und die neue
Batterie Boyardville; 2 km östlich der Insel am äußersten Rande der
Düne sind das Fort, die Batterie und das Werk des Saumonards an
der gleichnamigen Landspitze. Das Chateau d'Oléron sowie die
Redoute du Paté im südöstlichen Teile der Insel haben nur unter-
geordnete Bedeutung, da die Durchfahrt zwischen der Pointe de
Mamusson an der Südspitze der Insel und Pointe de Chapus am
Festlande im allgemeinen unbenutzbar ist.
6. Die detachierten Werke der Girondemündung. Vor
der Mündung liegt mitten im Meer auf einem isolierten Felsen der
Leuchtturm Cordouan; zur Freihaltung der Mündung bzw. des Zu-
ganges zum Hafen von Bordeaux sind ständig umfangreiche Arbeiten
nötig.
Die Bai der Gironde ist zwischen der Pointe de la Coubre im
Norden und der Pointe de la Negade im Süden 25 km, an der eigent-
lichen Mündung, zwischen der Pointe de Suzac im Nordosten und der
Pointe de Grave im Südosten, nur 5 km breit. Der wichtigste und
beste Ankerplatz ist hier die Reede von Verdon (am südlichen Ufer,
nahe der Pointe de Grave), die bei einem Raum von 1500X900 m
9—12 m Wassertiefe hat.
An der vorgenannten Pointe liegt das Fort du Verdon und die
Batterie de Grave; auf 5 km nördlich gegenüber das Fort de Royan
und südlich von diesem die Batterie Suzac. 13 km stromaufwärts und
18 km nordwestlich Bordeaux: Fort oder Citadelle de Blaye, 20 m,
am rechten Ufer; Fort Päte, auf der gleichnamigen Insel in dem hier
noch 3 km breiten Strome; Fort Medoc auf dem linken Ufer.
V. Im 5. See-Arrondissement.
1. Collioure, Port-Vendres, nahe der spanischen Grenze,
mit je einem guten Hafen, waren früher zusammenhängend befestigt;
in neuester Zeit wurde der größte Teil der Befestigungsanlagen, be-
sonders jener von Collioure, aufgelassen. In Port-Vendres be-
stehen nur mehr:
Übersicht der französischen Küstenbefestigungen. 147
Die Batterie de Taillefer, 514 m; die Batterie 500; der Thurm
Madeloc und seine 2 Redouten, 486 m hoch; die Batterie la Galline
und die Verschanzungen du Pré und vom Col des Gascons, sämtlich
im Osten; 3 km südöstlieh befindet sich auf dem weitvorspringenden
Cap Bear neben dem vorzüglichen Leuchtturm auf 203 m Höhe das
die Reede, den Hafen und alle von Süden herkommenden Kommuni-
kationen beherrschende Fort Bear.
2. Die Halbinsel Cette hat eine geschützte Reede mit einer
Mindesttiefe von 7 m, einen Vorhafen von 11 ha Größe, ein altes
Schwimmdock, 1 neues Bassin und 6 Leuchttürme. Die Stadt liegt
am Fuße des Mont St.-Clair, 792 km von Paris entfernt und 166 km
von Marseille.
Die Befestigungen bestehen aus dem Fort St.-Pierre im Süd-
westen, Fort Richelieu im Westen und dem Fort de la Butte Ronde,
unterhalb des vorgenannten. Im Nordosten der Stadt ist die Ver-
schanzung de Peyrade; auf dem Mont St. Clair ist auf 180 m Höhe
schon seit langem ein Fort in Aussicht genommen.
3. Marseille, 520000 Einwohner, ist vor allem Handelsstadt
und Hafen und hat eine große Zahl alter Befestigungsanlagen, deren
Verbesserung neuestens in Aussicht genommen sein soll. Die von
Paris 863 km entfernte Stadt liegt in einer Bucht, die im Norden
durch das Cap Mejean, im Süden durch das Cap Croisette begrenzt
ist (15 km Entfernung). Dem Hafen sind die Inseln Pomegues,
Ratonneau, If und Endoume vorgelagert. Der Hafen hat eine Anzahl
Bassins, die sich auf etwa 6 km ausdehnen und 17800 m Gesamt-
kailänge haben; im Osten liegen Höhen von 300—495 m, desgleichen
längs der Küste.
Befestigungen: Am Hafeneingang im Nordwesten der Stadt,
zwischen Hafen und Bassin Joliette, ist das Fort St.-Jean und süd-
westlich gegenüber die Batterie du Pharo, im Westen des gleich-
namigen Schlosses, in dessen Süden das Fort St.-Nicolas liegt; 1 km
südöstlich von letzterem auf 169 m hohem Hügel das Fort Notre
Dame de la Garde; 2 km westlich von diesem die Batterie Endoume
an der gleichnamigen Landspitze, und 6 km südlich von dieser auf
86 m hohem Hügel die Batterie du Mont Rose und noch weitere
2 km südlich die Batterie du Cap Croisette.
Die Inseln Ratonneau und Pomegues sind durch einen 295 m
langen Damm mit einander verbunden, der den Quarantänehafen von
Frioul bildet.
Zunächst der Küste, gegen die Inseln und das Kap Endoume
zu, ist die Felseninsel If, 300 m lang, 200 m breit, mit dem alten,
starken Schloß,
148 Übersicht der französischen Küstenbefestigungen.
Auf der 2 km langen, bis zu 500 m breiten und 77 m hohen
Insel Pomegues ist die Batterie du cap Caveaux im Südwesten;
ferner die Werke von Pomegues an der Nordostspitze. Die 3 km
lange und bis zu 600 m breite und 52 m hohe Felseninsel Ratonneau
hat verschiedene Werke, besonders die Batterie de Ratonneau an der
Pointe Mange-Brigantin im Westen. Östlich vom Kap Mejean sind
die Batterien Haute und Basse de Niolon und von Maurepianne, auf
166 m Höhe, im Nordwesten der Reede.
Zahlreiche Leuchttürme, Leuchtfeuer, Signalstationen usw. er-
leichtern den Zugang zum Hafen.
4. Toulon, 105000 Einwohner, 895 km von Paris entfernt,
an der Nordküste der gleichnamigen Bucht, ist einer der besten
Kriegshäfen und ist besonders für die Beherrschung des Mittelmeeres
von hervorragender Bedeutung.
Befestigungen: Die Stadtumfassung besteht im Süden aus
tenaillierten, kasemattierten Linien, die die Darse Vieille und Neuve
umschließen und nur schmale Einfahrten in jedes Bassin offen
lassen, und einer bastionierten Front im Westen, an die sich gegen
Norden eine freistehende Mauer mit 2 Bastionen anschließt. Die
neuen Arsenalanlagen von Castigneau im Westen sind durch eine
bastionierte, zum veralteten Fort Malbousquet (800 m von der Küste
entfernt, zum Teil in Felsen gehauen, 45 m hoch) und dann nord-
östlich ziehende 10 m hoch revetierte Umwallung gedeckt. Daran
schließt sich, 400 m vorwärts der alten Vaubanschen Umwallung,
die Umfassung des mittleren Teiles mit 7 bastionierten Fronten (um
den Bahnhof). Diese Fronten haben 10 m hohe Eskarpe-, 5b m hohe
Kontereskarpemauern, breiten Graben, gedeckten Weg mit Waffen-
plätzen (mit großen, ravelinartigen Tambours). Im Osten zieht eine
ältere Wallinie, im Südosten die Vorstadt Mourillon umschließend,
(mit den Marineetablissements und Kasernen) zum Fort la Malgue.
Der Zugang zum neuen Hafen ist unmittelbar durch eine Hafen-
batterie gesperrt, die die ganze kleine Reede beherrscht. Fort la
Malgue ist ein bastioniertes Rechteck mit Außenwerken, 50 m ü. M.,
im 17. Jalırhundert erbaut; südlich davon, dicht an der Küste, ist
die Batterie de la basse Malgue.
Unmittelbar westlich des Fort la Malgue beginnt die Vorstadt
und Halbinsel Mourillon, die in der 2 km südwestlich liegenden Land-
spitze (mit Batterie) Grosse Tour endigt; dazwischen liegen: das
Fort St.-Louis und Batterie de la Croupe la Malgue, 40 m, beide
an der Küste mit Wirkung gegen die große Reede, während an der
Westküste der Halbinsel die Batterie de la Butte die kleine Reede
beherrscht.
Übersicht der französischen Küstenbefestigungen. 149
Auf der den Zugang zur kleinen Reede südlich abschließenden
Halbinsel Eguilette liegt auf 82 m Höhe das Fort Napoleon mit der
gleichnamigen Batterie am Fuße des Berges, an der Landspitze nord-
östlich davon, Grosse Tour auf 1300 m gegenüber, Fort (Batterie)
de l’Eguilette und südöstlich davon, am Eingang zur Reede von
Lazaret, das Fort Balaguier.
Fort Napoleon, jetzt Caire, früher auch Petit-Gibraltar genannt,
ist ein bastioniertes Viereck mit vorliegenden Wafienplätzen und einer
Annexbatterie.
Im Anschluß an La Malgue wird die große Reede durch folgende,
an der Nordküste gelegene Werke beherrscht: Fort du Cap Brun
112 m, 2 km östlich vom vorgenannten Fort, mit Batterien Haute
und Basse; auf weitere 2 km östlich Fort Ste.-Marguerite, 65 m,
und weitere 4 km südöstlich (10 km südöstlich Toulon) die Batterie
Carqueyranne, 63 m, an der gleichnamigen Halbinsel, deren höchster
Punkt Colle Noire, 302 m, ist; weitere 4 km östlich, am Südostfuß
des Colle Noire, am Golf von Giens, die Batterie Pointe Peno.
Über die bisher genannten Befestigungen hinaus ist eine große
Zahl starker Positionen zum Teil sehr weit vorgeschoben, nämlich:
a) Die Haupt- und Zentralstellung der gesamten Verteidigung
von Toulon bildet das 3 km lange Plateau des Mont-Faron,
2—3 km nördlich und nordöstlich der Stadt, mit Höhen zwischen
418 und 546 m, zwischen dem Dardennes- und Touristal. Die Werke
dieser Position bestehen aus: Fort St.-Antoine, 2 km nördlich der
Stadtumwallung, 145 m, am Westabhang des Mont-Faron, zur
Sperrung der Lücke zwischen diesem und dem Massiv des Croupatier
im Nordwesten; der Turm Hubac am Nordwestrande des Plateaus
und nahe dabei die Verschanzung von Pas-Leydet; im Norden und
Mittelpunkt des Plateaus:- die verschanzte Kaserne Faron, die Batterien
de la tour Beaumont und Pas de la Masque; am Nordostende des
Plateaus das Fort de la Croix Faron, 530 m, mit Ausblick gegen die
Alpenforts und bis zu den Küsten von Korsika und, mit diesem Fort
durch die Batterie de la Cremaillitrre verbunden, das mit einer
Enveloppe umgebene alte Fort Faron, an einem südöstlichen Vor-
sprung des Plateaus; am Südabhang, 1 km östlich der Nordostecke
der Stadtumfassung, ist auf 80 m Höhe das Fort d’Artigues und
600 m südlich von diesem das tiefer gelegene Fort Ste.-Catherine,
500 m vorwärts der Umfassung. Die beiden letztgenannten haben
keinen fortifikatorischen Wert mehr und dienen hauptsächlich nur
mehr als Magazine.
b) 5 km südlich von Toulon wird die große Reede durch die
Halbinsel C&pet abgeschlossen, deren Befestigungen nicht bloß die
150 Übersicht der französischen Küstenbefestigungen.
Reede beherrschen, sondern auch gegen die hohe See wirken. Die
Halbinsel ist durch einen schmalen Isthmus (die Bucht von Lazaret
im Norden und die von St.-Elme im Süden) mit dem Festlande
(Halbinsel Seyne) verbunden und besteht hauptsächlich aus zwei Er-
hebungen, die durch die schmale, tiefeingeschnittene Bucht von Creux
St. Georges im Norden und jene von Condoulieres im Süden vonein-
ander getrennt sind. (Höhe westlich: 103 m, östlich 122 m). Die
Halbinsel, die den Hauptschutz der Stadt, des Hafens und der
Reede gegen die hohe See bildet, ist mit zahlreichen Befestigungen
auf verhältnismäßig beschränktem Raume versehen. Das bedeutendste
dieser Werke ist das Fort de la Croix des Signaux auf 112 m Höhe
im Nordosten mit einer 12 m tiefer und südlich liegenden Batterie;
beide Werke beherrschen den Zugang zur großen Reede im Verein
mit den 6—-8 km östlich liegenden Werken von Carqueyranne und
Colle Noire. Fort Signaux ist ein viereckiger Turm auf steiler
Felsenhöhe, mit vorgelegten neuen Werken, mit Reduit und Abschnitt
versehen.
Nordwestlich davon sind zu beiden Seiten von Creux St.-Georges
die Batterien de la Piastre, de la Carraque und du Creux St.-Georges
auf 43, 40 und 35 m Höhe und weiter südlich die Batterien Puits und
Mordhuy.
An der äußersten Südostspitze der Halbinsel, am eigentlichen
Cap Cepet und nördlich davon, auf 72 m Höhe, die Batterien du
cap Cepet; inmitten der Halbinsel auf 108 m die Batterie Haute du
Lazaret; am Westende der Halbinsel auf 60 m das Fort St.-Elme
(ein bastioniertes Fünfeck mit Erdkavalieren und bombensicheren
Kasernen) mit einer etwas tiefer und 200 m südwestlich liegenden
Annexblatterie.
An der Südküste sind hauptsächlich nur ältere, zum Teil auf-
gegebene Werke: Cap Marögau im Südwesten, Gros Bau, auf 40 m,
Coudoliere in der Mitte der Südküste. Ä
c) Die Position der Halbinsel Seyne (cap Sicie): Das Haupt-
werk ist das Fort des Six Fours, 209 m, im Mittelpunkt der Halb-
insel, 7 km westlich des Dammes de la Grosse Tour; nahe dabei ist
ein Leuchtturm. An der Ostküste der Halbinsel (Bucht von la Seyne)
sind die bereits erwähnten Werke: Fort Napoleon und Batterie
Eguilette; im Südosten auf 202 m die Batterie Peyras mit Wirkung
gegen die hohe See.
d) Die Position des Mont Caume, ein steilabfallendes Plateau
von 795 m Höhe, 4 km nordnordwestliich des Mont-Faron und
6 km nördlich der Stadt Toulon (Malbousquet), hat mehrere neue Werke,
Übersicht der französischen Küstenbefestigungen. 151
die hauptsächlich die Annäherung an Faron und das Dardennestal zu
sperren haben.
e) Die Werke von Gros-Cerveau, 6 km südwestlich von
der vorgenannten Position und 9 km westnordwestlich der Stadt
auf einer gegen 7 km langen und bis zu 444 m ansteigenden
Hügelkette.
f) 9 km ostsüdöstlich von Caume und 7 km nordöstlich der
Stadt ist der Bergstock Coudon, dessen höchster Punkt, 702 m,
vom Fort Coudon gekrönt ist, mit zwei Annexbatterien (Nord und
Süd) und der Batterie Bau-Pointu am Nordrande. Die Position hängt
mit der des Faron zusammen durch den Sattel zwischen Dardennes-
und Valettetal (Touris).
g) 8'/, km südsüdöstlich vom vorigen und 10 km ostsüdöstlich
der Stadt auf der bereits erwähnten Halbinsel sperrt die Position
Colle Noire im Verein mit Batterie Carqueyranne den Zugang
zur großen Reede im Osten. Die Position besteht aus dem
Fort de la Colle Noire, 302 m, mit der Batterie Nord und Süd,
etwas tiefer, und dem Fortin de Gavaresse an einem Südvorsprung,
145 m.
h) Etwa 20 km südöstlich Toulon schließt die Halbinsel Giens
die Außenreede gegen Osten ab. Dieselbe, im südlichen Teile 6'/, km
breit, hängt mit dem Festlande durch eine schmale, durch die Lagune
des Pesquiers teilweise auf 200 m eingeengte Landzunge zusammen.
Im westlichen Teil der Halbinsel ist die Batterie de la Vigie de Giens,
auf 121 m, an der Ostspitze die Batterie de l’Esterel, 13 m, die
beide die Meeresstraße zwischen Giens und der Insel Porquerolles
sperren. Batterie Pointe Rabat im Südwesten und Batterie du Pradeau
im Südosten scheinen aufgelassen zu sein.
5. Die Iles d’Hyeres, bestehend aus den Inseln Ribaud,
Porquerolles, Bagaud, Port Cros und Levant, schließen auf ungefähr
10 km vom Festlande die vorzügliche, für die größten Schiffe be-
nutzbare Reede von Hyeres gegen Süden ab und gestatten den Zugang
zu derselben nur an drei Stellen.
a) Zunächst dem Festlande, 1 km südlich des östlichen Teiles
von Giens, liegen die beiden Eilande Petit und Grand Ribaud, letzeres
mit einer aufgelassenen Batterie.
b) Von Grand Ribaud durch die 1200—2400 m breite, 20—48 m
tiefe Wasserstraße Petite Passe geschieden, die Insel Porquerolles,
7'/, km lang, 2 km breit, mit Höhen bis zu 150 m. Die Nord-
ostspitze derselben bildet das von Felsen und Riffen umgebene Cap
des Medes; der Südostspitze liegen die Klippen von Sarranier (Salanıe)
‘vor, und an der Südküste springt das Cap d’Armes (mit Leucht-
152 Übersicht der französischen Küstenbefestigungen.
turm) vor. Von der gesamten Küste der Insel ist nur die Reede
von Porquerolles, inmitten der Nordküste, für größere Schiffe zu-
gänglich.
1'/, km östlich der Stadt Porquerolles ist auf 146 m Höhe das
Fort Repentance mit Wirkung gegen die Reede wie auch gegen
die hohe See im Süden. Alle übrigen Befestigungen: Fort Alicastre
und die Batterie Pointe le Quin nördlich von Repentance, Batterie
Cap Medes im Nordosten, Batterie Gailasson und de la Galere an
der Ostküste, Forts Petit und Grand Langoustier im Westen sowie
Batterien Pointe Prime und Porquerolles im Norden, scheinen auf-
gelassen zu sein.
c) Östlich von Porquerolles, durch die 6'!/, km breite, 30— 80 m
tiefe Wasserstraße Grande Passe (oder Passe du Sud) getrennt, liegt
die unbefestigte kleine Insel Bagaud, sowie unmittelbar südöstlich
von dieser die 4'/, km lange, 2'/, km breite und bis zu 200 m
ansteigende Insel Port Cros, deren Küsten durchweg für größere
Schiffe unzugänglich sind. Im Mittelpunkt der Insel, auf 133 m,
liegt das Fort de l’Eminance und nahe dabei das Fortin de la Vigie
de Port Cros.
d) Nahe östlich von Port Cros ist die unbefestigte Insel Levant.
Zwischen den letztgenannten Inseln und dem Cap Benat und Cap
Blane im Norden an der Festlandsküste führt die 7 km lange und
40—90 m tiefe Wasserstraße der Passe de l'Est nach der Reede.
Deren Küste, am Fuß der 150—183 m hohen Ausläufer der 500 m
hohen Hügelkette der Chaine des Maures, wird verteidigt durch die
Batterien L&oubes, 44 m, auf dem gleichnamigen Vorsprung, 12 km
nordöstlich von Giens und 4 km westlich vom Kap Bénat; das Fort
de Bregancon auf einer durch Brücke mit dem Festlande verbundenen
Felseninsel an der gleichnamigen, 2'!/, km breiten, 15—17'), m
tiefen Bai.
6. Nizza hat zwar als Hafenplatz nur geringe Bedeutung, ist
dagegen sehr wichtig für die Verteidigung der Alpengrenze sowie der
Küstenstraße und Bahn, und ist daher nach beiden Richtungen hin
stark befestigt.
Die Stadt, 10—15 m über dem Meere, wird vom Paillon durch-
flossen und ist 695 km von Paris entfernt. 6 km südwestlich von
ihr mündet der Var in das Meer. Der Hafen im Osten der Stadt
hat eine Breite von 93 m, der Zugang zum Innenhafen ist 67 m
breit; derselbe besteht aus zwei durch einen 40 m langen Kanal ver-
bundenen Bassins und hat 58350 qm Flächeninhalt; die Tiefe beträgt
am Vorhafen und am Eingang 7,50 m, im Innenhafen 6,50 m.
Schiffe mit größerem Tiefgang als 5,50 m müssen auf der Reede:
Übersicht der französischen Küstenbefestigungen. 153
von Villefranche ankern. Letztgenannte Stadt, von dem 2 km süd-
westlich liegenden Nice durch die im Mont-Boron endigende Halb-
insel von Montalban getrennt, liegt am nordwestlichen Ufer der nach
ihr benannten, im Osten durch eine 4 km lange und bis zu 1 km
breite Halbinsel (Cap Ferrat) abgeschlossenen, 2!/, km langen und
1'/, km breiten Bai, deren Eingang im Süden etwa 900 m breit ist.
a) Nizza selbst sowie sein Hafen sind unbefestigt; die Bai von
Villefranche dagegen wird geschützt durch die Batterien Mont-
Boron, 183 m, und de Cauferat, 138 m, am Südeingang der Bai.
2 km nördlich von der ersteren ist das Fort Montalban, 212 m, das
nicht bloß die Küste mit Straße und Bahn und die Bai unter Feuer
nehmen, sondern auch sein Feuer mit den nördlich und nordöstlich
gelegenen Landbefestigungen kreuzen kann.
4 km südwestlich Nizza liegt auf 131 m Höhe die Batterie
St.-Jean la Riviere, die Küstenstraße und Bahn und Varmündung
deckt.
b) Auf 8 und 8!/, km nördlich von Nizza liegen die Forts
Mont-Chauve d’Aspremont, 852 m, und wenig nordöstlich davon
Mont-Chauve de Tourette, 783 m: westlich vom ersteren außerdem
die Werke von Colomars, 397 m, zur besonderen Beherrschung des
Vartales.
c) Auf dem nordöstlich von Nizza aus gegen Monaco längs der
Küste sich hinziehenden Höhenzuge sind eine größere Zahl von
starken Werken angelegt:
10 km nordöstlich von Nizza das auf der gleichnamigen, im
Kap d’Aggio endigenden Höhe liegende Fort Tête de Chien, 575 m,
dessen Kanonen die ganze östliche Küste mit Straße und Bahn weit-
hin beherrschen;
6, 8 bzw. 9 km nordöstlich von Nizza, nahe nördlich der Straße
von Corniche, sind drei starke Werke, nämlich: Batterie la Drette,
auf einem Felsgipfel von 552 m Höhe, weiter die Batterie des
Feuillerons auf 648 m und noch weiter östlich das Fort de la Revere,
104 m, letzteres 3 km westnordwestlich von Tête de Chien.
Die noch weiter nördlich, etwa 20 km, befindlichen Positionen,
nämlich die Werke von Picciarvet und Batterie de Bauma Negra
zwischen Tine und Var, die Werke von Authion, Milles Fourches
und La Forca. endlich das Fort Barbonnet an der Tendastraße,
kommen nur für die Verteidienng der Alpengrenze gegen Italien in
Betracht.
7. Die Befestigungen der Insel Korsika (Näheres siehe Peter-
manns Geographische Mitteilungen, 1913, Juni) haben im allgemeinen
nur geringen Wert, weil größtenteils veraltet:
154 Übersicht der französischen Küstenbefestigungen.
a) Die Hauptstadt Ajaccio, mit gutem Hafen, wird gedeckt
durch eine Zitadelle (Fort San Salvador) und die Batterien La Chapelle
des Grecs, Porticcio und Haute d’Aspreto.
= b) Calvi, 73 km nördlich vom vorigen, wird durch zwei Werke
auf der Höhe des Vorgebirges geschützt: Fort Monzello und Batterie
Toretta. Auf der 16 km nordöstlich befindlichen Inselgruppe Rousse
sind einige alte, aufgelassene Batterien.
c) Die nach Norden vorspringende Halbinsel des Cap Korse ist
im Südwesten gesperrt durch die Batterien von St.-Florent und im
Osten durch Bastia, Elba gegenüber, sowie durch ein Werk auf
dem Colle de Teghime, halbwegs zwischen den beiden vorgenannten,
21 km voneinander entfernten Punkten. Bastia, mit zwei Häfen,
wird durch das Fort Lacroix und die Batterie Toga geschützt und
ist außerdem mit alten Mauern und Wällen (mit einer Zitadelle) um-
geben. Verstärkungen sollen geplant sein.
d) Bonifacio, an der Südspitze der Insel, hat vier neue
Batterien, soll aber durch Porto vecchio ersetzt werden.
e) Verschiedene ältere Werke, z. B. am Cap Korse, und auf
der gegenüberliegenden Insel Giraglia, bei Aleria, an der Ostseite und
Punta St. Josef sowie Girolata an der Westküste der Insel, sind auf-
gelassen und vollkommen wertlos.
VI. Die afrikanische Nordküste.
(Näheres siehe: Petermann’s Mitteilungen. 1914. Aprilheft S. 238.)
1. Oran, an der nordwestlichen Küste von Algier, hat eine
Reihe von Befestigungsanlagen aus der Zeit der ersten Besitznahme,
die neuerdings vielfach verbessert und verstärkt wurden.
Im Westen sind Werke auf dem Djebel-Mudjardo, 546 m; bei
Mers le Kebir sind auf der hohen Steilküste die Batterien Santo, in
deren Süden das Fort St.-Andr& und an der Küste selbst die Batterien
de la Briquetiere und d’Orzas.. Im Nordwesten von Oran ist das
Fort Lamousse, im Norden der Stadt, an der Küste im Mittelpunkt
des Hafens die Forts Chateau Neuf und Ste.-Therese, im Osten die
Batterie du Ravin-Blanc. Nordwestlich sind ferner, nahe bei Lamousse,
das Fort St.-Gregoire, 169 m, und Ste.-Croix, 372 m; im Süden
endlich die Forts St.-Andre und St.-Philippe.
2. Alger (Algier), die Hauptstadt der Provinz, 421 km nord-
östlich von Oran und 750 km südsüdwestlich von Marseille, hat einen
vorzüglichen, durch zwei Molen von 860 und 800 m Länge ge-
schützten Hafen (2 km lang, 800 m breit) mit einem 110 m breiten
Eingang.
Übersicht der französischen Küstenbefestigungen. 155
Der Hafen wird unmittelbar verteidigt durch das Fort Neuf
im Norden, auf dem Inselchen Amirauté, von dem der nördliche
Molenzweig ausgeht, und das Fort du Coude, im Winkel des süd-
lichen Molenzweiges; an ersteres schließt nordwestlich die Batterie
Bab-el-Oued mit dem Arsenal an, an Coude westlich die Batterie
Bab-Azoun. Zwischen Bab-el-Oued und Bab-Azoun liegt die Stadt;
von der sie gegen Westen abschließenden alten Umfassung bestehen
noch einzelne, mehrfach verbesserte Teile, so im Norden die Batterie
de la Prison civile, anschließend an Bab-el-Oued, und im Süden die
Batterie des Tagarins.
4 km nordwestlich von Algier sind auf einem von dem Berg-
stock Bouzarea kommenden Ausläufer die zwei Werke Fortin Duperré,
270 m, und Fort Sidi-Ben-Nour, 310 m, die im Verein mit den
unter ihnen an der Küste liegenden Batterien des Consuls und Fort
Anglais die Bucht weithin beherrschen. Auf der Höhe von Bouzarea
liegt 3 km westnordwestlich von Algier das gleichnamige Fort,
470 m, nach allen Seiten überragend.. Auf einige hundert Meter
südwestlich Batteri Tagarins vorgeschoben ist auf 216 m das Fort
l'Empereur, jetzt wohl National; endlich 3'/, km südlich des Hafens,
auf der Höhe 136 m oberhalb des Jardin d'essai das Fort des
Arcades.
An der Küste südöstlich Algier liegen noch einige Batterien, so
beim Jardin d'essai, bei Hussein Dey und am äußersten Ostende der
Bai, an der Spitze des Cap Matifou das gleichnamige Fort, auch
Trementfou genannt.
3. Bougie, etwa 200 km östlich Algier, wird, wie sein Hafen
und das offene Meer, von dem Gebirgsstock Gouraya beherrscht, auf
dessen Höhe das Fort Gouraya, 700 m, und etwas tiefer im Osten
und Südosten die Forts Lemereier, Rouge und Clausel liegen. Im
Nordwesten der Stadt, zusammenhängend mit deren alter Umfassung
st das Fort Barral, im Nordosten, am Anfang der Hafenmole, das
Fort Abd-el-Kader und seine Batterie; im Südwesten das alte Fort
de la Kasbah (alte Zitadelle). Der Eingang zum Vorhafen wird
durch die Batterie Kap Bouak im Süden der gleichnamigen Land-
spitze gedeckt.
4. Philippeville, an dem gleichnamigen Golf (auch de Stora),
hat einen auch für Kriegsschiffe brauchbaren Hafen mit einer Dock-
anlage von 19 ha bei einer Tiefe von 6—11 m und einem Vorhafen
von 32 ha Flächenraum. Die Befestigungen sind unbedeutend, nur
einige Batterien verteidigen den Hafen. Im Westen an der Küste
ist die Batterie d’El-Kantara, auf einem Hügel südlich davon die
156 Übersicht der französischen Küstenbefestigungen.
Batterie Beni-Melek. Im Südwesten mit der Umfassung der Stadt
zusammenhängend die Batterie Fort National und im Osten der Um-
fassung, nahe dem Küstenrande, die Batterie d’El-Mohader.
5. Bone, nahe der tunesischen Grenze, ist zunächst mit einer
ziemlich wertlosen krenelierten Umfassung versehen. Im Norden, an
der I,andspitze des Cap de Garde ist das Fort Génois; an der Küste
zwischen letzterem und dem Cap du Lion, sowie zwischen diesem und
dem Hafen liegen einige Tiefbatterien. Im Norden der Stadt, am
Südabhang des Gebirgsstockes Caroubier liegt auf 119 m Höhe die
alte Forteresse de la Kasbah (Zitadelle).
6. Bizerte, an der Nordspitze von Afrika (Tunis) ist schon
seiner geographischen Lage wegen, an der engsten Stelle des Mittel-
meeres, Sizilien gegenüber, von hervorragendster strategischer Be-
deutung; es wurde daher zu einem modernen Kriegshafen ausgebaut
und befestigt. Wichtig ist der Platz besonders durch den gegen die
hohe See vollständig gedeckten großen Binnensee (1500 ha Flächen-
raum) mit Arsenal und allen nötigen Marineetablissements. Im Süd-
osten der mit einer neuen Umfassung versehenen Stadt liegen auf
den den Binnensee vom Meer trennenden 160 m hohen Hügeln die
großen und starken Batterien Djebel-Roumadia und Djebel-Rebel.
Unmittelbar vor dem Nordende der Stadt ist das Fort d’Espagne.
Auf den im Cap Blanc und Cap de Bizerte auslaufenden Hügeln
4 km nordnordwestlich der Stadt sind die beiden großen Forts Djebel-
Kebir, 245 m, und Djebel-Demma, 274 m, mit den nahe dabei
liegenden Batterien Djebel-Labiod, Djebel-Zebla, der Redoute Djebel-
Bara usf.
7. Von den zum Teil nicht unwichtigen Hafenplätzen an der
Ostküste von Tunis (besonders Sousse und Sfax) ist keiner befestigt.
Die Neuorganisation der französischen Kavallerie. 157
X,
Die Neuorganisation der französischen
Kavallerie.
Von
Frhr. v. Welck, Oberstleutnant a. D.
Die französische Kavallerie hat im letzten Jahre hinsichtlich
ihrer Gliederung so umfassende Änderungen, auf Grund des Kader-
gesetzes vom 27. März 1913, erfahren, daß es gerechtfertigt erscheint,
dieser Angelegenheit an dieser Stelle eine nähere Besprechung zu
widmen.
Die französische Kavallerie war bisher in 8 Divisionen formiert;
sechs derselben hatten 2 Brigaden, und zwei 3 Brigaden, deren jede
2 Regimenter hatte, also 18 Brigaden und 36 Regimenter (12 Kürassier-,
16 Dragoner-, 4 Jäger-, 4 Husarenregimenter). Außerdem bestanden
20 Kavalleriebrigaden, die den Armeekorps zugeteilt waren; von
diesen hatten siebzehn je 2 Regimenter, und drei je 3 Regimenter,
zusammen demnach 43 Regimenter (1 Kürassier, 15 Dragoner-,
17 Jäger-, 10 Husarenregimenter. Die im Mutterlande stehende
Kavallerie zählte hiernach 79 Regimenter. In Nordafrika standen
außerdem 6 Regimenter Chasseurs d’Afrique und 4 Regimenter Spahis,
so daß sich die Gesamtsumme aller Kavallerieregimenter auf 89 belief
(13 Kürassier-, 31 Dragoner-, 11 Jäger-, 14 Husaren-, 6 Chasseurs
d’Afrique, 4 Spahisregimenter).
Durch das neue Kadergesetz wird an der Zahl der Regimenter
nur eine kleine Vermehrung eintreten: es werden zwei neue Jäger-
regimenter aufgestellt (bis jetzt noch nicht erfolgt), und außerdem
ist ein Kürassierregiment in ein Dragonerregiment umgewandelt worden.
Sehr bedeutend und eingreifend ist aber die neue Gliederung
dieser Truppenteile, die in der Hauptsache darauf zurückzuführen ist,
daß man die Heereskavallerie verstärken wollte und dementsprechend
die Korpskavallerie vermindern mußte. Es werden statt der bis-
herigen 8 Kavalleriedivisionen deren 10 aufgestellt, deren jede 3 Brigaden
zu 2 Regimentern hat, demnach 60 Regimenter im Divisionsverbande.
Die verbleibenden 19 Regimenter — im Mutterlande — bilden die
Korpskavallerie. die im Frieden aber nicht den Armeekorps, sondern
den Kavalleriedivisionen zugeteilt ist, und erst im ne zu ihren
Armeekorps tritt.
Jahrbücher für die deutsche Armee und Marine. Nr. 515. 12
158 Die Neuorganisation der französischen Kavallerie.
Die nachstehende Übersicht wird diese Gliederung ersichtlich
machen:
Friedensgliederung der französischen Kavallerie im Mutterlande.
1. Kavalleriedivision (Paris):
2. Kürassierbrigade: 1., 2. Kürassierregiment,
5. Dragonerbrigade: 6., 23. Dragonerregiment,
11. Dragonerbrigade: 27., 32. Dragonerregiment.
Zugeteilt: 7. Jägerregiment; tritt im Krieg als Korpskavallerie zum
III. Armeekorps.
2. Kavalleriedivision (Lunéville):
2. Dragonerbrigade: 8., 31. Dragonerregiment,
12. Dragonerbrigade: 4., 12. Dragonerregiment.
Zugeteilt: 5. Husarenregiment; tritt im Krieg als Korpskavallerie
zum XX. Armeekorps.
2. leichte Kavalleriebrigade: 17., 18. Jägerregiment.
Zugeteilt: 4. Jägerregiment; tritt im Kriege als Korpskavallerie
zum XXI. Armeekorps.
3. Kavalleriedivision (Compiègne):
4. Kürassierbrigade: 4., 9. Kürassierregiment.
Zugeteilt: 6. Jägerregiment; tritt im Kriege als Korpskavallerie zum
I. Armeekorps.
13. Dragonerbrigade: 5., 21. Dragonerregiment.
Zugeteilt: 19. Jägerregiment; tritt im Kriege als Korpskavallerie
zum II. Armeekorps.
3. leichte Kavalleriebrigade: 3., 8. Husarenregiment.
4. Kavalleriedivion (Sedan):
3. Kürassierbrigade: 3., 6. Kürassierregiment.
4. Dragonerbrigade: 28., 30. Dragonerregiment.
4. leichte Kavalleriebrigade: 2., 4. Husarenregiment.
Zugeteilt: 1. leichte Kavalleriebrigade: 10., 12. Jägerregiment; tritt
im Kriege als Korpskavallerie zum VI. Armeckorps.
5. Kavalleriedivision (Reims):
3. Dragonerbrigade: 16., 22. Dragonerregiment.
7. Dragonerbrigade: 9., 29. Dragonerregiment.
5. leichte Kavalleriebrigade: 5., 15. Jägerregiment.
6. Kavalleriedivision (Lyon):
5. Kürassierbrigade: 7., 10. Kürassierregiment.
6. Dragonerbrigade: 2., 14.') Dragonerregiment.
1) Vorläufig bei der 10. Kavalleriedivision.
Die Neuorganisation der französischen Kavallerie. 159
Zugeteilt: 9. Husarenregiment; tritt im Kriege als Korpskavallerie
zum XIV. Armeekorps;
6. leichte Kavalleriebrigade: 13. Jäger-, 11. Husaren-
regiment.
Zugeteilt: 6. Husarenregiment; tritt im Kriege als Korpskavallerie
zum XV. Armeekorps.
7. Kavalleriedivision (Melun):
6. Kürassierbrigade: 11., 12. Kürassierregiment.
1. Dragonerbrigade: 7., 13. Dragonerregiment.
7. leichte Kavalleriebrigade: 1., 8. Jägerregiment.
Zugeteilt: 20. Jägerregiment; tritt im Kriege als Korpskavallerie
zum V. Armeekorps.
8. Kavalleriedivision (Döle):
8. Dragonerbrigade: 11., 18. Dragonerregiment.
14. Dragonerbrigade: 17., 26. Dragonerregiment.
Zugeteilt: 16. Jägerregiment; tritt im Kriege als Korpskavallerie
zum VIII. Armeekorps.
8. leichte Kavalleriebrigade: 11., 14. Jägerregiment.
Zugeteilt: 12. Husarenregiment; tritt im Kriege als Korpskavallerie
zum VII. Armeekorps.
9. Kavalleriedivision (Tours):
1. Kürasssierbrigade: 5., 8. Kürassierregiment.
Zugeteilt: 7. Husarenregiment; tritt im Kriege als Korpskavallerie
zum IX. Armeekorps.
9. Dragonerbrigade: 1., 3. Dragonerregiment.
Zugeteilt: 2. Jägerregiment; tritt im Kriege als Korpskavallerie
zum XI. Armeekorps.
16. Dragonerbrigade: 24., 25. Dragonerregiment.
Zugeteilt: 13. und 14. Husarenregiment; treten im Kriege als Korps-
kavallerie zum X. bzw. IV. Armeekorps.
10. Kavalleriedivision (Limoges):
10. Dragonerbrigade: 15., 20. Dragonerregiment.
Zugeteilt: 21. Jägerregiment; tritt im Kriege als Korpskavallerie
zum XII. Armeekorps.
15. Dragonerbrigade; 10., 19. Dragonerregiment.
Zugeteilt: 1 Husarenregiment; tritt im Kriege als Korpskavallerie
zum XVI. Armeekorps.
10. leichte Kavalleriebrigade: 3. Jägerregiment, 14. Dragoner-
regiment ').
1) Tritt zur 6. Dragonerbrigade der 6. Kavalleriedivision.
12*
160 Die Neuorganisation der französischen Kavallerie.
Das 3. Jägerregiment tritt im Kriege als Korpskavallerie zum
XII. Armeekorps.
11. leichte Kavalleriebrigade: 9. Jägerregiment, 10. Husaren-
regiment.
Treten vorläufig im Kriege als Korpskavallerie zum XVII. und
XVIII. Armeekorps').
Jede Division hat eine reitende Abteilung Artillerie (2sBatterien),
3 Züge zu je 2 Maschinengewehren und 1 Radfahrerabteilung.
Nach diesen Abgaben der den Kavalleriedivisionen zugeteilten
Korpskavallerieregimenter an die Armeekorps hat demnach jedes der-
selben 1 Korpskavallerieregiment, das ebenso wie alle Divisions-
kavallerieregimenter zu 4 Feld- und 1 Depoteskadron formiert ist.
Jede Eskadron hat 740 Mann und 822 Pferde (einschließlich
Offizierpferde). Außerdem etwa 90 Mann zum Dienst ohne Waffe.
Das für uns Wesentliche ist, daß Frankreich bei Kriegsausbruch
sofort über 10 vollständig organisierte Kavalleriedivisionen mit den
dazu gehörigen Stäben und beigegebenen Spezialwaffen verfügen kann,
und daß die Dislokation dieser Kavalleriedivisionen so getroffen ist,
daß eine Sicherung bzw. Überschreitung der Ostgrenze in erster Linie
ins Auge gefaßt wurde. Von den 10 Divisionen stehen unmittelbar
an der deutschen Grenze:
Die 2. Division mit Stab und 4 Regimentern in Lunéville,
1 Regiment in Toul und 1 Regiment in Commercy;
die 4. Division mit Stab und 2 Regimentern in Sedan,
2 Regimentern in Verdun, je 1 Regiment in St.-Menehould und in
Vouziers;
von der 8. Division 1 Regiment in Vesoul, 1 in Beaune,
1 in Lure und 1 in Belfort, während die beiden andern in Döle und
in Auxonne auf zweigleisigen Bahnen in wenigen Stunden die Grenze
erreichen können.
Als zweite Linie kann man bezeichnen:
die 5. Division mit Stab und 2 ZRegimentern in Reims,
2 Regimentern in Chälons sur Marne, je 1 in Epernay und in Provins;
die 3. Division mit Stab und 1 Regiment in Compiegne, und
je 1 Regiment in Cambrai, Douai Noyon, Senlis und Meaux.
In dritter Linie sind disloziert:
die 7. Division mit Stab und 1 Regiment in Melun und je
1) An ihre Stelle treten voraussichtlich die neu zu formierenden
Jägerregimenter 22 und 23. (Vgl. v. Carlowitz-Maxen, Einteilung
und Dislokation der französischen Armee. April 1914.)
Die Neuorganisation der französischen Kavallerie. 161
1 Regiment in St.-Germain, Rambouillet, Fontainebleau, Chäteaudun
und Orleans;
die 1. Division mit Stab und 2 Regimentern in Paris, 2 Regi-
mentern in Versailles und 2 in Vincennes.
Diese sieben Divisionen, denen zu Aufklärungszwecken noch die
Korpskavallerie des VI., VII., XX. und XXI. Armeekorps zuzurechnen
sein würde, sind gegen die deutsche Grenze aufgestellt, die auch von
den in 2. und 3. Linie stehenden mittelst eines reichen Bahnnetzes
leicht und schnell erreicht werden kann.
Die verbleibenden drei Divisionen, 6., 10. und 9., sind allein im
Innern Frankreichs — Stabsquartiere Lyon, Limoges, Tours —
disloziert.
Die Frage liegt nahe, was für Kavalleriekräfte wir dieser fran-
zösischen Kavallerie sofort und unmittelbar entgegenzustellen haben.
Es würde sich da in erster Linie um die des XV., XVI. und
XXI. Armeekorps handeln: 7 Brigaden = 14 Regimenter, ferner um
die 29. Brigade des XIV. Armeekorps = 2 Regimenter, und um die
3. Brigade des II. Bayer. Armeekorps = 2 Regimenter; demnach
18 Regimenter.
Nach dieser Aufstellung würde also die Kavallerie der I. Linie
ungefähr gleich sein; solche Berechnungen sind aber immer relativ,
und die Verfügbarkeit hängt von verschiedenen Faktoren ab, die hier
nicht festzustellen sind; so von der Entfernung der einzelnen Garnisonen
von der Grenze, von den vorhandenen Verkehrsmitteln, sofern die
Eisenbahnen mit verwendet werden müssen, von den Kommando-
verhältnissen, vom Ausbildungsstand von Mann und Pferd usw.
Einen Vorteil würde u. A. nach die französische Kavallerie bei
Ausbruch von Feindseligkeiten haben, d. i. ihre im Friedensstand
schon durchgeführte Formation in Divisionen. Wir wissen sehr wohl,
daß wir mit dieser Ansicht augenblicklich ziemlich vereinsamt dastehen
und daß man an den maßgebenden Stellen jetzt gegen die Auf-
stellung von Kavalleriedivisionen im Frieden ist, aber es gibt doch
auch gewichtige Stimmen, die dafür eingetreten sind, und uns selbst
stehen eine langjährige Kavalleriedienstzeit und die Erfahrungen zweier
Feldzüge zur Seite, wenn wir hier ein Wort zugunsten der Kavallerie-
divisionen einfließen lassen.
Zunächst scheint uns ein Blick auf die verschiedene Organisation
der Kavallerie in Frankreich und in Deutschland angebracht und
gerechtfertigt zu sein. Frankreich hat, wie wir gesehen haben, schon
im Frieden zehn vollständig organisierte Kavalleriedivisionen, denen
auch die entsprechenden Hilfswaffen: Reitende Artillerie, Radfahrer
und Maschinengewehre — in jeder Brigade 1 Zug zu 2 Gewehren —
162 Die Neuorganisation der französischen Kavallerie.
bereits zugeteilt sind'). Diesen Divisionen sind auch die 19 Regi-
menter angegliedert, die im Moment der Mobilmachung den Armee-
korps als Korpskavallerie unterstellt werden, eine Maßregel, durch die
die einheitliche und gleichförmige kavalleristische Ausbildung gewähr-
leistet wird. Demgegenüber haben wir — abgesehen von der
Division des Gardekorps — nur Brigadeverbände, und zwar bei
jedem Armeekorps 2 bzw. 3 (I., VI. und XVI. Armeekorps) Brigaden
zu 2 Regimentern, demnach im ganzen 110 Regimenter. Eine Teilung
in Heereskavallerie und Korpskavallerie findet also im Frieden nicht
statt. Die Ausbildung erfolgt im Brigadeverband und die Überwachung
derselben liegt in den Händen der Kavallerieinspekteure. Eine Ver-
einigung zu Divisionen und größeren Verbänden findet nur bei großen
Truppenübungen statt, zu denen dann die Stäbe erst aufgestellt
werden müssen (in Zukunft ist die dauernde Aufstellung ins Auge
gefaßt). Bei Ausbruch eines Krieges, beispielsweise gegen Frank-
reich, müssen aber vom ersten Tage an große Kavalleriekörper
— Divisionen — zur Verfügung stehen, die Grenze überschreiten
und womöglich die feindliche Kavallerie sofort schlagen, jedenfalls am
Vormarsch hindern. Dieselbe Aufgabe fällt der feindlichen Kavallerie
zu. Ist es nun nicht ein großer Vorteil für die gegnerische Partei,
wenn dort schon im Frieden formierte Kavalleriedivisionen zur Ver-
fügung stehen, gleichmäßig ausgebildet, stets in einer Hand, deren
Führer seine Unterführer, seine Offiziere und den Stand der Aus-
bildung sowie den Zustand des Pferdematerials genau kennt, der
aber anderseits auch von der ganzen Division gekannt ist, und dem
— voraussichtlich — das Vertrauen aller gesichert ist? Vielfach
wird als ein Vorteil unserer Organisation bezeichnet, daß die nicht
in Divisionen vereinigten Regimenter leichter in die verschiedensten
Formationen vereint und verwendet werden können, aber wir glauben,
daß dies ebensogut möglich ist bei den im Frieden schon bestehenden
Divisionen. Es ist ja unstreitig ein Fortschritt, wenn — wie
jetzt beabsichtigt — schon im Frieden die nötigen Kavalleriestäbe
gebildet werden, also die zur Führung von Divisionen bestimmten,
aber die Schattenseite dürfte sich doch herausstellen, daß diese Stäbe
keine genügende Fühlung mit den Truppen und den Unterführern
erhalten, die im Kriegsfalle ihnen unterstellt werden sollen. Auch
eine Kollision mit den jetzigen Kavallerieinspektionen dürfte leicht
eintreten.
Wir würden aus diesen Gründen und noch manchen anderen,
1) Später soll jedes Regiment einen Maschinengewehrzug erhalten;
möglicherweise bei einigen Brigaden schon durchgeführt.
Die Neuorganisation der französischen Kavallerie. 163
die näher auszuführen hier zuweit führen würde, unbedingt der Auf-
stellung von Kavalleriedivisionen schon im Frieden das Wort reden,
ganz besonders, nachdem unsere westlichen Nachbarn neuerdings so
großen Wert auf diese Formation und auf ihre Ausbildung und tak-
tische Erziehung legen. Beweis dafür bieten u. a. die Ende 1913
erschienenen, vom Kriegsministerium erlassenen Vorschriften über die
Führung großer Armeeeinheiten!), in denen es hinsichtlich der Ver-
wendung der Kavallerie u. a. heißt: „Die Kavallerie, die zur Ver-
fügung des Generals en chef steht, und die Heereskavallerie beteiligen
sich durch Erkundung an der Einziehung von Nachrichten“. „Die
Heeresleitung kann auf zuverlässige und ununterbrochene Weise über
die Bewegungen und die Absichten des Feindes in einem bestimmten
Geländeabschnitt nur unter der Bedingung unterrichtet werden, daß
sie große Kavallerieabteilungen dahin entsendet. Das Oberkommando
und die Armeekommandos verfügen zu diesem Zwecke über beträcht-
liche Kavallerieabteilungen, die in Divisionen formiert sind:
mehrere Divisionen können zu einem Korps vereinigt werden“...
„Der Kommandeur der Aufklärungskavallerie genießt die ausgedehnteste
Selbständigkeit zur Ausführung der ihm übertragenen Aufgabe. Diese
Aufgabe vereinfacht sich, wenn es gelingt, die Übermacht über die
feindliche Kavallerie zu gewinnen. Er muß deshalb suchen, dieselbe
zu schlagen... Ist ihm dies gelungen, so ist die Aufklärung er-
leichtert und die Resultate der Erkundungen können mit Leichtigkeit
nach rückwärts befördert werden; die Truppen sind nicht mehr in
Gefahr, überfallen zu werden. Da die zur Erkundung bestimmte
Kavallerie stets in der Lage sein muß, kämpfen zu können, so hält
ihr Kommandeur das Gros seiner Kräfte stets vereinigt. Er
muß es verstehen, zu wagen. Die Beweglichkeit und die in der
jetzigen Bewaffnung liegende Stärke gestatten einer Kavalleriedivision,
selbst schwierigen Situationen die Stirne zu bieten“ usw. Die Selb-
ständigkeit, die man den Kavalleriedivisionen vor der Front der Armee
zuweist, geht so weit, daß man von der vor wenigen Jahren noch
in der französischen Heeresleitung vielfach vorherrschenden Ansicht,
daß nur gemischte Heeresavantgarden imstande seien, Auf-
klärung und Sicherung zu verschaffen — eine Lehre, die haupt-
sächlich von General Bonnal vertreten wurde — abgekommen zu sein
scheint. Die erwähnten Vorschriften „Conduite des grandes unites“
sagen: „Unter gewissen Umständen oder unter besonderen
Geländeverhältnissen kann die Aufklärungskavallerie durch In-
1) Service des armées en campagne. Conduite des grandes unités.
Paris 1913.
164 Die Neuorganisation der französischen Kavallerie.
fanteriebataillone oder durch gemischte Abteilungen unterstützt werden.
In keinem Falle darf die Verwendung von Infanterieunterstützungs-
abteilungen die Folge haben, daß dadurch die Schnelligkeit oder die
Energie der Tätigkeit der Kavallerie beeinträchtigt wird.“
Man sieht also ebensowohl aus der Neugliederung der französischen
Kavallerie und aus ihrer Dislokation wie aus den für ihre Verwendung
bei Kriegsausbruch neuerdings gegebenen Direktiven und Vorschriften,
daß wir damit rechnen müssen, sofort mit großen und geschlossenen
feindlichen Kavalleriekräften zusammenzustoßen, die mit größter
Schnelligkeit, Energie und französischem Elan die Grenze überschreiten
und weitausgreifende Erkundungen und Operationen unternehmen
werden.
Wir müssen in der Lage sein, von allem Anfang an ihnen mit
an Zahl, Ausbildung, Bewaffnung gleichartigen Kräften unter bester
kavalleristischer Führung entgegenzutreten.
Wir glauben, daß hierzu die schon im Frieden durchgeführte Auf-
stellung von Kavalleriedivisionen — wenigstens in den Grenzbezirken —
entsprechend sein würde, und es hat von jeher, auch bei uns, Taktiker
gegeben, die diese Ansicht geteilt haben. Wir wollen hier nur auf
zwei Militärschriftsteller hinweisen, deren Autorität gewiß allseitig an-
erkannt wird:
Balck schreibt: „Die Kavalleriedivisionen müssen, um ihren Auf-
gaben im Kriege sofort gerecht werden zu können, in ihrer für den
Krieg bestimmten... Zusammensetzung sowie mit sämtlichen Ver-
waltungs- und Kommandobehörden bereits im Frieden bestehen, denn
nur so ist gegenseitiges Einleben und Verstehen zwischen Truppe und
Führer zu ermöglichen, die Ausbildung nach einheitlichen Grundsätzen
zu erreichen. Es ist dies von um so höherer Bedeutung, als nach
ausgesprochener Mobilmachung die neu aufgestellten Divisionen kaum
einmal Gelegenheit haben werden, einheitlich zu üben. Der Divisions-
führer kann aber nur Vertrauen zu seinen Unterführern, seinem Stabe
und seiner Truppe haben, wenn er sie bereits persönlich im Frieden
in ihrer dienstlichen Leistungsfähigkeit kennen gelernt hat').“
Verdy schließt seine Studien über Truppenführung II mit den
Worten: „Kein Gefecht macht so große Ansprüche an das Führer-
talent wie das Gefecht einer Kavalleriedivision, und unserer Über-
zeugung nach gibt es im Gebiete der Truppenführung keine schwierigere
Aufgabe. Um desto gewichtiger wird daher auch der Anspruch,
daß der Reiterei die allseitigste und reichste Gelegenheit geboten
1) Balck, Taktik. 2. Band. Kavallerie. 4. Aufl. 1910. S. 19.
Der Feldzug der Franzosen gegen Taza. 165
werde, sich hinreichend für den Krieg vorzubereiten, und zwar in der
Organisation, in der sie auf dem Kriegsschauplatz auftreten soll, und
herangebildet von denjenigen Männern, die auch dort ihre Führer
sein werden').“
XI.
Der Feldzug der Franzosen gegen Taza.
Von
Oberstleutnant z. D. Hübner.
(Mit einer Skizze.)
Am 10. Mai 1914 ist es dem französischen Brigadegeneral
Baumgarten, commandant des troupes d'occupation du Maroc oriental,
gelungen, die Stadt Taza zu besetzen und so den gegen Frankreich
unter den Waffen stehenden Eingeborenen Marokkos die Hauptstellung
wcgzunehmen, in der sie bisher die Verbindung zwischen den in
Westmarokko und den in der Provinz Udschda operierenden Truppen-
abteilungen hinderten. Für Frankreich, als Schutzmacht des Scheri-
fiates, war und ist der Besitz jener Stadt ebenso wichtig, wie dies
ehedem der Fall war für die Aufrechterhaltung der Autorität der
Sultane. Von den letzteren ist deshalb jederzeit der Stellung von
Taza ein besonderes Beachten geschenkt worden, und seit der Zeit
der Meriniden ist Taza eine Hauptgarnison an der von Fez nach
dem Osten führenden Straße, ist noch in den jüngsten Zeiten
Standort für eine größere Anzahl von Lehnsreitern und zeitweilig
auch für Abteilungen des stehenden Heeres gewesen. Die „geheimnis-
volle“, wie die Stadt gern von französischen Zeitungen genannt wird,
ist sie erst in den allerletzten Zeiten geworden. Jedenfalls diente
sie noch im Jahre 1902, als ich die damals noch nicht von fran-
zösischen Truppen besetzte Landschaft Udschda aus eigener An-
schauung kennen lernte, den Sultanen, um den für die Ostprovinz
erforderlichen Nachschub nach Taga zu schicken, und erst mit dem
Auftreten des Prätendenten Bu-Hamara ist sie mehr und mehr der
scherifischen Regierung verloren gegangen.
1) Verdy du Vernois, „Studien über‘ Truppenführung‘“. Die
Kavalleriedivision III. S. 130.
166 Der Feldzug der Franzosen gegen Taza.
Taza ist nicht nur von dem englischen Hauptmann Colville
(1879), von den Franzosen M. de Cambou, de la Martinière
(1891), von M. Delbrel (1849), vom Ieutnant Mougin, vom Marquis
de Sezonzac und von V. de Foucauld aufgesucht worden, es hat
nicht nur Leutnant Lafaye einen sehr guten Bericht über das Land
zwischen Wadi Muluya und Taza gegeben, sondern es liegen auch
sehr zuverlässige Nachrichten über die Stadt nach Mitteilungen von
Eingeborenen (so des Si Mohammed bel Harradj) vor. Für die An-
fertigung von Karten dienten, wie der trefflich bekannte R. de Flotte
Roquevaire sagt, „Itineraires exacts“, die sich von Fez nach Udschda
und von Melilla dem Wadi Kert entlang zur oberen Muluya er-
streckten und die sich in Taza kreuzten. Selbst das Land zwischen
den Kreuzarmen war für die Arbeit der Kartographen bekannt durch
zahlreiche Forschungen von Eingeborenen.
3
4 N. we CZ
NZ yfi Sa Pasa
Hudergate nür unler butlienbeyrishning gestalt. iye einty á re) Obertünt „a Hibner
Seit langem ist das Unternehmen gegen Taza von den Franzosen
vorbereitet worden. Je mehr man gefaßt sein mußte, hier einen sehr
heftigen und hartnäckigen Widerstand zu finden, desto mehr war
man von Anfang an bemüht, das Unternehmen in einer sicheren
Erfolg versprechenden Weise auszugestalten. Bereits im März wurden
in Ostmarokko die ersten einleitenden Maßnahmen, so Eisenbahn-
bauten und Wegebesserungen in der langen von dem Wadi Muluya
nach Msun führenden Verbindungsstrecke, so Brückenverstärkungen
bei Merada usw., vorgenommen, aber auch Truppen zog man schon
in dieser Zeit vermehrt nach dem linken Muluyaufer, vor allem ver-
legte man eine Sektion des centre d’aviation von Udschda zunächst
nach Guerecif, wo auch Flugzeugschuppen errichtet wurden, und später
nach Msun. Die Ungunst der Witterung verzögerte aber wesentlich
diese Vorbereitungen und somit auch die endliche Durchführung des
geplanten Unternehmens. Wenn auch schon seit langem die nur
Der Feldzug der Franzosen gegen Taza. 167
25 km in der Luftlinie von Taza entfernte Ortschaft Msun von den
Franzosen besetzt war und wenn auch bis hierher und sogar einige
hundert Meter weiter die zur Heranführung von Material und Proviant
bestimmte Eisenbahn ausgebaut worden war, so galt es doch, der
etwa 45 km langen Linie von Guercif bis Msun die erforderliche
Stabilität zu geben.. -Um dies zu erreichen, trat General Baumgarten
mit den in Melilla seßhaften spanischen Behörden in Verbindung.
Mehrfache Zusammenkünfte zwischen dem französischen Brigadegeneral
und dem spanischen General Marina fanden statt. Es wird späterer
Geschichtsschreibung vorbehalten bleiben, festzustellen, welche Maß-
nahmen von den Spaniern getroffen worden sind, um die im Norden
der Linie Merada— Guercif—Msun seßhaften Stämme zu beschäftigen
und von einem Eingreifen gegen Frankreich abzuhalten.
General Baumgarten zog die ihm zur Verfügung stehenden
Truppen zunächst in drei Hauptgruppen zusammen. Die gegen Taza
am weitesten vorgeschobene stand unter Oberst Boyer bei Msun und
war zusammengesetzt aus je 3 Kompagnien des 2. und des 6. Bataillons
ersten Fremdenregiments und aus je 3 Kompagnien von zwei
Bataillonen des 2. Tirailleurregiments, aus 4 Peletons des 2. Spahi-
regiments, 4 Sektionen Maschinengewehren, 3 Sektionen Artillerie,
1 Sektion Scheinwerfer, 1 Sektion Funkertelegraphisten, 1 Geschwader
Flugzeuge und den erforderlichen Kolonnen. Die Hauptkolonne, etwa
4000 Mann stark, unter Oberst Pierron bei Guercif stehend, setzte
sich zusammen aus 6 Kompagnien von 2 Bataillonen des 9. Tirailleur-
regiments, 3 Kompagnien von einem Bataillon des 7. Tirailleurregiments,
3 Kompagnien von einem Bataillon des 1. Fremdenregiments, 1 Kom-
pagnie des 1. leichten Bataillons afrikanischer Infanterie, je 3 Peletons
des 2. Spahi- und des 2. Chasseurs d’Afrique-Regiments, 2 Sektionen
Artillerie und Trains und Kolonnen. Der rechte Flügel dieser beiden
Gruppen war durch eine kleine Gruppe geschützt, die unter Oberst-
leutnant Fellert bei Nekhila (soviel wie „Palme*) am Wadi Muluya
stand und die außerdem mit dem Schutz der Brückenstelle von Merada
und der nach Msun führenden Bahn betraut war. Dem kleinen Posten
von Debdu hatte man die Überwachung der mittleren Muluya über-
tragen. Zum gleichzeitigen Vorgehen gegen Taza von Westen her
stand General Gouraud mit etwa 6500 Mann Truppen zunächst beim
Lager Suk el Arba el Tissa bereit. Von Fez bis zu diesem Lager
stand eine, in den letzten Zeiten gut ausgebaute Militärstraße zur
Verfügung. Ehe aber an ein Vorrücken dieser Truppen in östlicher
Richtung gegen Taza gedacht werden konnte, galt es, eine ihnen durch
im Norden stehende Ansammlung aufständischer Eingeborenen drohende
Gefahr zu beseitigen. Zu diesem Zweck führte General Gouraud an
168 Der Feldzug der Franzosen gegen Taza.
der Spitze von 23 Kompagnien, 12 Peletons und 6 Sektionen Artillerie
einen Zug gegen den Oberlauf des Wadi Uargha aus, auf dem er am
1. Mai den Anführer jener Scharen, den sogenannten Roghui des
Nordens bei El Hadjami schlug. Dieses Unternehmen scheint zum
wenigsten ein gleich großes Bemerken wie dem eigentlichen Zug gegen
Taza beizuwohnen. Der Wadi Uarghi ist einer derjenigen Flüsse
Marokkos, die in militärischer Beziehung die größten Schwierigkeiten
bereiten. Ich selbst habe denselben zweimal gekreuzt und hierbei
Gelegenheit gehabt, zu beobachten, wie wenige Wochen genügten, aus
einem harmlosen Wasserlauf ein nur mit größten Schwierigkeiten und
nur schwimmend zu überwindendes Hindernis werden zu lassen, ein
Hindernis, das durch außerordentlich steile und hohe Ufer in der
Hauptsache bedingt ist.
Bereits zu Beginn des Monats April, zu einer Zeit, da in Ost-
marokko durch das vom Wadi Muluya und vom Wadi Msun geführte
Hochwasser sogar wichtige Brückenbauten gefährdet waren, hatte
man in Westmarokko vermocht, von Suk el Arba el Tissa aus eine
nur 18 km ostwärts gelegene Hauptortschaft der Beni Tsul zu nehmen.
Einem kleineren, dieses Unternehmen einleitenden Gefecht bei Zrarka
am 24. März war ein heftiger Zusammenstoß bei Mahissa am 31. März
gefolgt. Mit den für Suk el Arba el Tissa und für das zum be-
festigten Posten ausgebaute, später camp Terves benannte Zrarka
notwendig werdenden Verstärkungen waren von Fez aus auch zwei
Flugzeuge herangezogen worden, die ebenso wie die inzwischen nach
Msun gebrachten beiden Flugzeuge des Generals Baumgarten in den
nächsten Tagen und Wochen häufige Erkundungen der feindlichen
Stellungen, namentlich denen auf der Fahmahochebene, ausführten,
und die durch diese Erkundungen sehr wesentlich zu dem späteren
Gelingen des Unternehmens beitrugen.
Auf seiten der Eingeborenen beschränkte man sich im allgemeinen
darauf, den von Westen her vorgehenden Kolonnen an den vielfachen,
zur Verteidigung treffend geeigneten Geländeabschnitten hartnäckigen
Widerstand entgegenzusetzen und die Franzosen in ihren rückwärtigen
Verbindungen, sowohl im Westen wie im Osten, zu beunruhigen. So
kam es noch am 17. April bei Nekhila, unmittelbar am Wadi
Muluya, zu einem Gefecht.
Um für den endlich gegen Taza zu führenden Stoß die Auf-
merksamkeit des Feindes abzulenken, um aber auch den ständig zu
bemerkenden Zufluß, den die bei Taza stehenden Eingeborenen nament-
lich von Süden her erhielten, einigermaßen einzudämmen, schließlich
auch um der durch den Scherif Ali Amaus im Mittelatlas zusammen-
berufenen Berberansammlung entgegenzuwirken, wurden mehrfache
Der Feldzug der Franzosen gegen Taza. 169
Unternehmungen gegen das Gebiet der Zaian von anderer Stelle her
so von Meknes aus, eingeleitet. Aber trotz alledem war man zu
nächst durch heftiges Regenwetter noch gezwungen, den Marsch gegen
Taza von Tag zu Tag zu verschieben.
Am 12. Mai stand General Gouraud mit seinen Truppen am
Wadi Amelil. Dagegen war General Baumgarten am 9. Mai, nach-
dem er die bei Guercif stehende Gruppe nach Msun herangezogen und
sich hier auf etwa 6000 Mann verstärkt hatte, zum Marsch gegen
Taza aufgebrochen. Zur Aufklärung des sehr unwegsamen Geländes
gingen eine Eskadron des 2. Spahiregiments unter Capitaine Guespereau
und eine Eskadron marokkanischer Spahis unter Capitaine Wing
voraus. Um 1° nachts erreichte die Avantgarde die Höhen von
Z’haz’'ha, 15 km östlich von Taza gelegen, und wenige Minuten vor
12° mittags am 10. Mai drang General Baumgarten in Taza ein.
Die ersten Reiter waren bereits 8° morgens in der Stadt angelangt,
in der sie kaum auf Widerstand stießen. Einige Angehörige des
Stammes der Beni Udjam, die sich noch unter den Mauern von Taza
zu widersetzen suchten, wurden leicht vertrieben.
Ein am gleichen Tag unternommener Versuch des Generals
Gouraud, die ihm gegenüberstehenden Tsul zu vertreiben, war von
wesentlichen Erfolgen nicht begleitet gewesen. Das am Abend wieder
bezogene Lager am Wadi Amelil wurde zum befestigten Posten aus-
gebaut.
Am anderen Tag zog sich ein Hauptteil der Gegner auf das linke
Ufer des Inaun zurück. Unter Zurücklassung einer Besatzung von
6 Kompagnien, 2 Maschinengewehren und 2 Sektionen Artillerie unter
Befehl des Commandant Billotes in dem Lager am Wadi Amelil ging
General Gouraud am 12. Mai von neuem gegen den im Osten stehenden
Feind vor und zwar in drei Kolonnen. Die rechte Flügelkolonne führte
Oberst de Lavaud, die mittelste Kolonne Oberst Bulleux, die linke
Flügelkolonne Oberstleutnant Girodon. In stetem, heftigem Kampf
gelang es endlich, den auf schwer zugänglichen Höhen stehenden Feind
zu werfen. Am 15. Mai erreichte General Gouraud die Ortschaft
Meknassa Tahtania (das „untere“ Meknassa im Gegensatz zu dem
weiter im Osten und höher gelegenen Meknassa Fukhania, dem
„Oberen“ Meknassa), wo am gleichen Tage auch General Baumgarten
von Taza aus eintraf. Die Verluste des Generals Gouraud sind in
diesen letzten Kämpfen nicht unbedeutende gewesen. Auch mehrere
Offiziere waren gefallen, unter diesen der Hauptmann Terves, nach
dem von jetzt ab das Lager bei Zrarka benannt wird. Über die
Verluste der Eingeborenen war Besonderes nicht festzustellen. An-
gaben der Eingeborenen fehlen natürlich in dieser Beziehung gänz-
170 Der Feldzug der Franzosen gegen Taza.
lich. Am 16. Mai zogen unter der Führung des Generals Lyantey
die in Meknassa Tahtania zusammengetroffenen Truppen der Generale
Baumgarten und Gouraud vereinigt in Taza ein.
Um die durch den Fall der Stadt Taza herbeigeführte Quer-
verbindung durch Marokko besonders hervorzuheben, stattete General
Lyantey von Taza aus der Stadt Udschda am 17. Mai einen Besuch
ab, von dem er Tags darauf zurückkehrte. Das von Tunis aus bei
der östlichsten Garnison der französischen Besatzungstruppen in
Marokko eingetroffene Flugzeuggeschwader erhielt Erlaubnis, die ge-
wonnene Stadt zu überfliegen. |
Die einfache promenade militaire ist der Zug nach Taza nicht
geworden, wie man erhofft hatte. Zwar ist die Stadt selbst comme
un fruit mur in die Hände des Generals Baumgarten gefallen, man
hat aber doch außergewöhnlich starke Mittel an ihre Einnahme wenden
müssen und man hat, wie erwähnt, auch herbe Verluste erlitten.
Man wird aber noch mehr Mittel aufwenden müssen, um sich in der
gewonnenen Stellung zu halten, um diese so auszubauen, daß sie ein
Stützpunkt für die große Verkehrslinie von Algerien nach Fez werden
kann. Wenn man nur auf die von der „France militaire“ gebrachten
Nachrichten baut, so könnte man wohl annehmen, daß die Haupt-
arbeit getan ist. Dem ist aber nicht so! „La resistance marocaine
autour de Taza“ ist, wie auch ruhiger urteilende französische Zeitungen
zugeben, noch lange nicht gebrochen. Und dies beweist auch der
jüngste Zug des Generals Baumgarten nach Sidi bel Kacem, auf dem
er am 4. Juni noch nur wenige Kilometer im Nordwesten von Msun
blutigen Widerstand fand.
Frankreich wird jetzt bemüht sein, die trouée de Taza in ent-
sprechender Breite dem Verkehr zu öffnen, es wird aber auch weiter-
hin bedacht sein müssen, eine zweite Querverbindung über die weiter
südlich gelegene Kasba el Machhsen herzustellen. Und diesem Unter-
nehmen zu dienen, sind jetzt bereits größere Unternehmungen gegen
das Gebiet der Zaian eingeleitet.
Sanitätshunde. 171
XII.
Sanitätshunde.
Der Deutsche Verein für Sanitätshunde E. V. — Sitz Oldenburg
i. Gr. —, dessen hoher Protektor Se. Königliche Hoheit der Groß-
herzog von Oldenburg ist, veranstaltete am 16. Juni im Park des
Großherzoglichen Schlosses zu Rastede bei Oldenburg eine Vorführung
von 14 Polizei- und 4 Sanitätshunden, um ihre Eignung zum Absuchen
des Schlachtfeldes nach Verwundeten zu erproben. Vorweg
sei bemerkt, daß alle Hunde ihre Aufgabe glänzend lösten. Der
Verein, der unter seinem verdienstvollen früheren geschäftsführenden
Vorsitzenden Dr. Heinhaus seinen Sitz in Krefeld hatte, hat lange
Zeit eine bescheidene und wenig bekannte Rolle gespielt. Trotz aller
Bemühungen gelang es ihm nicht, in die Breite zu wirken und weitere
Kreise für seine wahrhaft nationalen Aufgaben zu gewinnen. Erst
mit der Übernahme des Protektorates durch den Großherzog von
Oldenburg und der gleichzeitigen Verlegung des Sitzes des Vereins
nach Oldenburg gelang es, dem Verein breitere Grundlagen zu geben
und Möglichkeiten für ein reicheres Wirken zu schaffen. Ein
flammender Aufruf forderte zu gemeinsamer Arbeit auf und zeigte,
welche idealen Aufgaben der Humanität hier zu lösen seien. Alle
Kriege der Vergangenheit haben erwiesen, daß eine erschreckend
große Anzahl von Verwundeten elend zugrunde gehen muß, weil es
unmöglich ist, sie am Abend der Schlacht sämtlich in ihren Verstecken
aufzufinden. Man findet sie nie oder doch zu spät, um Hilfe noch
bringen zu können. Wie auf anderen Gebieten, so besann man sich
auch auf diesem erst in der jüngsten Zeit auf die nutzbringende Ver-
wendung der scharfen Sinne unseres ältesten Freundes, des Hundes,
und es zeigte sich, daß hier die Lösung dieser humanen Aufgabe zu
suchen ist.
Der Verein gründete eigene Zucht- und Dressurstationen, doch
erwiesen sich diese als zu geringfügig, um für eine Mobilmachung auch
nur annähernd auszureichen. Bei einem Bedarf der Heeresverwaltung
von etwa 2000 Hunden für den Ernstfall schien es unmöglich, eine
so große Anzahl von ausgebildeten Sanitätshunden schon im Frieden
zu unterhalten und auszubilden. Der Verein beschloß daher, die
großen kynologischen Verbände, die ja über ein hinreichendes aus-
gebildetes Hundematerial verfügen, zu gemeinsamem Zusammenwirken
aufzurufen. Diesem Rufe folgten alle in seltener Einmütigkeit, und
172 Sanitätshunde.
es konnte bei einer unter dem Vorsitz seines hohen Protektors im
Schloß zu Oldenburg stattgehabten Vorbesprechung festgestellt werden,
daß bei einem Vorhandensein von etwa 3000 in Deutschland im
Polizeidienst stehenden Diensthunden, denen eine ungefähr gleichgroße
Anzahl gut ausgebildeter Hunde in Privathand zur Seite steht, es
leicht sein müsse, die erforderliche Anzahl von Hunden der Heeres-
verwaltung zur Verfügung zu stellen. So handelte es sich nur noch
um die Frage, ob die für den Polizeidienst ausgebildeten Hunde für
diese neue Aufgabe sich nicht als zu scharf erweisen und etwa einen
Verwundeten verletzen könnten. Dieser Probe diente die genannte
Veranstaltung. Die 14 Polizeihunde aus Oldenburg, Bremen, Ham-
burg, Cöln, Dortmund, Soest und Wilhelmshaven waren nur wenige
Wochen für ihre Aufgabe vorbereitet worden, aber sie arbeiteten nach
dem übereinstimmenden Urteil aller Anwesenden ganz hervorragend.
Das Kriegsministerrium sowie das Preußische Ministerium des Innern
hatten Vertreter entsendet. Die Polizeihunde arbeiteten in keiner
Weise schlechter als die später vorgeführten Sanitätshunde, und damit
ist die Eignung des großen vorhandenen Hundematerials erwiesen.
Der Vorführung folgte eine Vorstandssitzung im Schlosse zu
Rastede unter dem Vorsitz und der Leitung des Großherzogs, bei der
einmütig die Frage des Hundematerials als gelöst bezeichnet wurde.
Es wird nun darauf ankommen, die Bereitstellung der ausgebildeten
Hunde für den Mobilmachungsfall zu organisieren und schon jetzt für den
Kriegsfall Krankenträger usw. als Führer der Hunde auszubilden.
Mit Unterstützung des Kriegsministeriums, dessen volles Interesse der
der zu der Versammlung entsandte Vertreter versicherte, wird es
gelingen, auch diese Aufgabe baldigst zu lösen. Als ein erfreuliches
Ergebnis sei noch bemerkt, daß alle in Frage kommenden kyno-
logischen Verbände, bei allen oft gegensätzlichen Anschauungen und
Bestrebungen, in vollster Eintracht in dieser Frage dem Deutschen
Verein für Sanitätshunde die Führung anvertraut und ihre Unter-
stützung zugesagt haben.
Zum geschäftsführenden Vorsitzenden wurde bei Verlegung des
Sitzes des Vereins nach Oldenburg vom Großherzog der Kommerzien-
rat Stalling, Oldenburg, berufen. Anfragen sind zu richten an die
Adresse des Vereins nach Oldenburg. Aufrufe zum Beitritt, der bei
dieser so wichtigen nationalen Frage nur wärmstens empfohlen werden
kann, die demnächst in Druck kommenden neuen Satzungen und
nähere Bedingungen werden gern von dort versandt.
Umschau: Belgien, Deutschland, Frankreich. 173
Umschau.
Belgien.
Der Ausbau der Festung Antwerpen soll sich seiner Vollendung Festung
nähern; die Werke der Hauptkampfstellung Breendonck, Liezele, Antwerpen.
Bornheim, Letterheide, Buers, Haesendonck usw. sollen bis auf die
Bestückung fertiggestellt sein. A.
Deutschland.
Durch Entzündung von Leuchtsternen beim Anrauchen erfolgte Explosion im
am 29. Mai d. J. im „F. L" auf dem Eiswerder zu Spandau eine
Explosion, bei der einige Personen durch Glassplitter verletzt wurden. laboratorium
Das tadellose Funktionieren der Sicherheits- und Löscheinrichtungen Spandau.
ermöglichte es, das Feuer auf seinen Herd zu beschränken, jedoch
wird der Materialschaden als ziemlich erheblich bezeichnet, W.
Für den öffentlichen Verkehr sind auf dem Erdball etwa 230 Funken-
Funkentelegraphenstationen vorhanden, von denen 32 auf Kanada, *legraphie.
25 auf England, 22 auf Rußland, je 20 auf Deutschland und Italien,
16 auf Brasilien, 11 auf Englisch-Indien, 9 auf Spanien und 8 auf
Frankreich entfallen. An Handelsdampfern sind rund 1600 mit
drahtloser Telegraphie ausgestattet, wovon auf England rund 700,
auf Deutschland rund 300, auf Frankreich rund 120 entfallen. Von
diesen letzteren haben etwa je die Hälfte le Havre und Marseille als
Heimatstation, wobei zu bemerken bleibt, daß Marseille selbst noch
keine Funkentelegraphenstation besitzt, sondern einstweilen noch auf
diejenige von St.-Maries de la Mer angewiesen ist; Marseille soll aber
demnächst eine eigene Station erhalten. A.
Frankreich.
Die Erwartung, ein neues dem von der Opposition nach nur Neues
stundenlanger Existenz gestürzten Kabinett Ribot folgendes Ministerium ln
werde die aktive Dienstzeit bald auf zwei Jahre oder auch nur auf die aktive
30 Monate abbröckeln lassen, hat sich bei dem rasch neu gebildeten Pienstdauer.
Ministerium Viviani, wie wir dies für jedes Kabinett zunächst vor-
aussagten, nicht erfüllt. Es hätte nicht einmal der sehr deutlichen
Erklärungen des russischen Kriegsministers bezüglich der gewaltigen,
von Rußland gemachten Anstrengungen und des Äquivalents, das diesen
gegenüber Frankreich durch Beibehalt der dreijährigen Dienstzeit zu
bieten hätte, bedurft, um dem Kabinett Viviani zu diesem Ergebnis
den Rücken zu steifen. Viviani, in dessen Kabinett der Vater des
Jahrbücher für die deutsche Armee und Marine. Nr. 515. 13
174 Umschau: Frankreich.
früheren Gesetzentwurfes, betreffend die 30monatliche Dienstzeit,
Messimy, das Kriegsportefeuille übernahm, Gauthier, der schon Monis
abgelöst hatte, das Marineministerium behielt, Noulens Finanzminister
wurde, hat dem darüber doch gestürzten Ribot an Deutlichkeit der
Erklärung für die Notwendigkeit der dreijährigen Dienstzeit nichts
nachgegeben. Bei dem neuen Kriegsminister Messimy steht kaum im
Zweifel, daß er das Dreijahrsgesetz loyal durchführen wird, die Re-
organisation der hohen Kommandostellen, die Zuteilung der Kriegs-
generalstäbe zu den im Frieden designierten Armeeoberkommandierenden,
das Eintreten für die Verbesserung der Besoldung, Zulagen für kinder-
reiche Familien und die höheren Pensionen sind sein Werk, die
jetzige Zusammensetzung seines Militärkabinetts zeugt von besonderer
Geschicklichkeit. Viviani hat alle Angriffe auf das Gesetz vom
7. August 1913 abgewiesen und eine Majorität von 223 Stimmen die
Tagesordnung angenommen, die ihm in der Auffassung der mili-
tärischen Bedürfnisse durchaus beistimmte. Er hat es darauf an-
gelegt, daß die Kammer sich am 16. Juni bestimmt darüber aus-
sprechen mußte, wie sie das militärische Problem lösen wolle. Er
ließ keinen Zweifel über seine Auffassung, daß das Dreijahrsgesetz,
aus dem Bedürfnis des Schutzes Frankreichs vor deutschen Überfällen
hervorgegangen, kaum ein Jahr bewilligt, noch nicht voll durchgeführt,
unter keiner Bedingung sofort abgeschafft, noch weniger durch eine
laxe Anwendung verstümmelt werden soll. Die Regierung werde ein
Gesetz bezüglich der besseren Vorbereitung der Jugend auf den
Heeresdienst und die zweckmäßigere Verwendung der Reserven ein-
bringen, die Wirkungen dieser Maßnahmen scharf beobachten und,
wenn sie auch nur die geringste Herabsetzung der Kraft der mili-
tärischen Verteidigung des Landes mit sich brächten, verwerfen. An
eine Erleichterung der dreijährigen Dienstzeit sei vielleicht zu denken,
wenn eine Schwächung durch die genannten Maßnahmen absolut aus-
geschlossen erscheine.e Im Herbst 1915 werde er, wenn noch am
Ruder, an die Entlassung der beiden heute dienenden Jahrgänge
nicht herantreten. Im Senat antwortete Messimy auf Doumers An-
frage, ob er nicht bald ein Gesetz über die militärische Vor-
bereitung der Jugend vorlegen werde, der schon ausgearbeitete Ent-
wurf bedürfe mehrerer Änderungen, um in den Gesamtplan der
Regierungen hineinzupassen, und dieser Gesamtplan werde im Herbst
vorgelegt werden. Es genügt uns, so erklärte Viviani am 16. Juni,
nicht, daß die auf den Dienst im Heere vorbereiteten jungen Leute
— die Jaurès nach dem Milizsystem vielleicht für ausreichend hält —
auf den Übungsfeldern der Gemeinden sowie deren Schießständen ihre
Lehrzeit durchgemacht haben. Wir müssen durch das Urteil
Umschau: Frankreich. 175
kompetenter Persönlichkeiten die Überzeugung davon haben, wie sie
sich in der Kompagnie benehmen, was man von ihnen im Kriege
erwarten kann. Erst wenn wir die unumstößliche, durch die Praxis
erwiesene Sicherheit haben, daß durch die neuen Vorlagen die Landes-
verteidigung auch nicht um eine Haaresbreite verliert, können wir
überhaupt an deren Verwirklichung denken.
Zu derselben Frage verrät uns Major Driant in der Kammer,
daß man allerhöchstens drei (in den Grenzbezirken höchstens einen)
Reservejahrgünge für die Ergänzung des aktiven Heeres auf den
Kriegsfuß brauche, sechs für Reserveformationen verfügbar behalte
und dann noch zwei für Ersatzformationen überschießen. Der neu
gewählte Vorsitzende des Armeeausschusses der Kammer, General
Pedoya, ist ein Gegner der dreijährigen Dienstzeit, da er in ihr eine
zu schwere Belastung Frankreichs sehen will, steht aber mit seiner
Ansicht allein. Während der radikale Deputierte Armez einen Gesetz-
entwurf einbrachte, der, um die dreijährige Dienstzeit zu entlasten,
ohne die Stärke der Friedensarmee zu schwächen, 40000 Freiwillige
jährlich auf fünf Jahre einstellen, ihnen 0,5 Frs. (viel zu wenig)
tägliche Soldzulage und nach fünf Jahren 2500 M. Prämie gewähren
(von Handgeld nichts sagt), auch eine Medaille, dabei den Kriegs-
minister verpflichten will, alle Leute, die im dritten, vierten und
fünften aktiven Dienstjahre stehen, im Verhältnis zu den länger
dienenden im dritten Pflichtjahr gleichmäßig zu beurlauben, so zwar,
daß die durch Gesetz vom 7. August 1913 festgesetzten Minimalstärken
nie um einen Mann geringer sein dürfen, führt die Regierung auch
durch das Ziehen der finanziellen Bilanz den Kampf für das Drei-
jahrsgesetz. Die Daten gestatten gleichzeitig ein Urteil über den
Entwurf Armez, zumal auch eine genaue Statistik der Freiwilligen
auf kürzere und längere Dienstzeit von 1903 bis 1913 beigefügt ist.
Die offiziöse finanzielle Bilanz zwischen der Drei- und den Forderungen
der zur erstgenannten führenden und den heutigen Bedürfnissen: ent-
sprechend auszustattenden zweijährigen Dienstzeit beruht auf folgendem
Gedankengang, wobei naturgemäß der „Schutz Frankreichs gegen zu
erwartende deutsche Überfälle“ eine Hauptrolle spielt. Wenn man
im vorigen Jahre um diese Zeit die Deckungstruppen hinreichend
verstärken, die technischen Truppen ausbauen wollte, wozu man in
vier bis fünf Jahren trotz aller Versuche das nötige Menschenmaterial
bis dahin nicht gefunden, dabei von der zweijährigen Dienstzeit nicht
abzuweichen gedachte, so waren dazu, wie jetzt „France Militaire“
ausspricht, wenn nicht aus dem Innern 150000 Mann in die Grenz-
korps geschoben und im Innern nur Skelettkader zurückbleiben sollten,
150000 Freiwillige und Kapitulanten nötig, selbst wenn nur die
13*
176 Umschau: Frankreich.
Deckungstruppen verstärkt, die Organisation der Artillerie und des
Fliegerwesens durchgeführt werden sollten, man also auf manches
(z. B. Teile der neuen Kadergesetze) verzichtete, die die dreijährige Dienst-
zeit erlaubte. Könnte man, so fragt „France Militaire“, heute zur
zweijährigen Dienstzeit zurückkehren, diese 150000 Kapitulanten und
Freiwillige zu erhalten hoffen? „France Militaire“ weist auf die ge-
machten Erfahrungen hin (s. u.). 1913 erreichte man, als die Ein-
führung der dreijährigen Dienstzeit unmittelbar bevorstand, zahlreiche
Meldungen zum dreijährigen Dienst, dann aber, trotz allen zugesagten
Vorteilen (Prämien, Soldzulagen usw.) von September bis November
1913 nur eine absolut unzureichende Zahl von Kapitulanten im Ver-
gleich zu den ungeheuren Bedürfnissen für die Steigerung der Ist-
stärke. Man hat nun, wie die offiziöse Erwiderung lautet, verschiedene
Lösungen vorgeschlagen, wie 30 monatliche Dienstzeit, bessere Ver-
wendung der Verwaltungstruppen, Ersatz der Soldaten durch Zivil-
arbeiter, Verbesserung der militärischen Vorbildung der Jugend, bessere
Verwendung der Reserven. Beide letztgenannten Mittel sind sowohl
bei der zwei- als dreijährigen Dienstzeit anzuwenden, genügen aber
beide heute nicht. Die 30monatliche Dienstzeit schwächt Kräfte
und Bereitschaft in dem Moment (April), in dem ein Kriegsausbruch
am meisten droht. Die sogenannte bessere Verwendung der Ver-
waltungstruppen und der Ersatz durch Zivilarbeiter geben dem
kombattanten Dienst eine Anzahl von Leuten mehr, desorganisierten
die Dienstzweige im Kriege aber völlig und kosteten sehr viel mehr
als der dritte Jahrgang. Ein solcher von 200000 Mann (die Steigerung
der Iststärke durch die dreijährige Dienstzeit betrug bekanntlich
250000) kann mit rund 150 Millionen jährlicher Mehrkosten angesetzt
werden.
Nach den sorgfältigsten Prüfungen im Kriegsministerium könnte
man höchstens 30000 Mann durch Zivilarbeiter ersetzen. Der Lohn
für Arbeiter beanspruchte mindestens 50 Millionen jährlich. Der
Unterhalt von 120000 Mann Kapitulanten und Freiwilligen — wenn
sie überhaupt zu erreichen wären — mindestens 90 Millionen,
dazu 44 Millionen Soldzulage, Handgeld bei nur 500 Frs. 60 Millionen,
zusammen also 230 Millionen, gegenüber 150, die der sehr viel
stärkere Jahrgang an laufenden Ausgaben verlangte. Die Ideen
der Verfechter der zweijährigen Dienstzeit, so schließen offiziöse
Darlegungen, würden also a) an materiellen Hindernissen sich stoßen,
b) enorm viel höhere Ausgaben beanspruchen, die Erklärungen
zugunsten der Rückkehr zur zweijährigen Dienstzeit beruhen auf
unrichtigen Angaben, erwecken nur falsche Hoffnungen und verschieben
die nationale Frage auf politisches Gebiet. Die offiziöse Verlautbarung
Umschau: Frankreich. 177
zeigt also, wie weit die Regierung von der zweijährigen Dienstzeit
entfernt ist. Am 2. Juli ordnete der Armeeausschuß der Kammer
unter Pedoyas Vorsitz einen Bericht über die Schaffung einer
Generalinspektion des Rekrutierungsdienstes, der Mobil-
machungsvorbereitungen und der Beitreibungen an. Er wurde ab-
gelehnt.
Nach Erklärung des Kriegsministers stellten sich die freiwilligen
Meldungen wie folgt:
Heimattruppen
3 Jahre mehr Kolonialtruppen
1903 . 12432 5975 3902
1904 . 12252 5893 2722
1905 . 21828 2551 1963
1906 !) — 2038 2012
1907 . .: 2 22. — 14672 2227
1908 . . 2.22. — 15727 1854
1909 . . a.a. — 17429 2030
1910. . . 2 2. — 15213 2399
19111... 22. — 14010 1728
18912. . . 2 2. — 14102 1457
1913. . . . . . 48128 11075 3662
Der zweite Stein des Anstoßes, die auf 805 Millionen festgesetzte Erklärungen
Anleihe, 600 für Landesverteidigung, der Rest für Marokko, ist auch 7"™® Budget.
überwunden. Finanzminister Noulens gab bezüglich des Haushaltes
1914 zu, daß man ein Gleichgewicht nicht schaffen könne, 1915
mit einem Defizit von 550—600 Millionen rechnen müsse, neue
Steuern 1914 und 1915 nötig seien und die 1909 von der Kammer
angenommene Steuerreform durchgeführt werden müsse. Ein Senator
malte grau in grau, daß die jetzige Finanzlage endgültig eine Anleihe
von 2700 Millionen fordere. Ein anderer stellte fest, daß man in den
letzten zehn Jahren die jährlichen Ausgaben um 1777 Millionen ge-
steigert habe, von denen 33°/, auf militärische Aufwendungen, 10°/,
auf Marokko entfielen. Nachdem der Heeresausschuß des Senats durch
Bericht Humbert über die einmaligen Ausgaben vom Kriegs- und
Marineminister bzw. die von der Kammer dafür bewilligten Kredite
festgestellt, daß die Kosten der Anwendung der dreijährigen Dienstzeit
mit Rücksicht auf die Beschleunigung der die Landesverteidigung be-
treffenden Arbeiten nach dem Programm zusammen 1409 Millionen
betrügen, von denen 754,5 Millionen auf die Zeit bis 1919 verteilt werden
1) Von 1906—12 betrug die gesetzliche Dienstzeit zwei Jahre. Frei-
willige mußten sich aber auf mindestens drei Jahre verpflichten.
178 Umschau: Frankreich.
sollten, der Ausschuß der Regierung die Dringlichkeit bewilligt, aber
erklärt, das Programm enthalte nicht alles Nötige, der Kriegsminister
sehr bald mit neuen Forderungen kommen müsse, der Berichterstatter des
Finanzausschusses von diesen aufgefordert worden, im Bericht zu betonen
daß 600 Millionen von den 805 der Anleihe für die einmalige Ausgabe
bis zum Ende des Jahres nicht ausreichten, brachte die Sitzung des
19. Juli die vom Telegraph verbreitete sehr scharfe Kritik Humberts
über die Kriegsverwaltung. Sie war die schärfste, die seit sehr langer
Zeit im Senat gehört worden, warf sogar dem Generalstab und Kriegs-
ministerium Versuche der Täuschung der Allgemeinheit vor. Die
dritte Programmvorlage mit 1409 Millionen sei die dem Senat jetzt
vorliegende. Nach Humberts Kritik entspricht nichts, was von der
Heeresverwaltung mit den bewilligten Mitteln geschehen ist, den
Anforderungen, bleibt man an Feld- und Belagerungs- wie Festungs-
artillerie-Material, an Munition und ihrer Verteilung — wobei man aber
für Geschütze, deren Typ noch nicht einmal feststehe, Millionen ver-
langt habe —, an Modernisierung der Sperrforts, Verbindung zwischen
diesen, Feldmaterial (Feldküchen, Zelten, Stiefeln), Funkerdienst.
Luftschiffwerften, Zahl und Ausdehnung der Übungsplätze, weit hinter
den Bedürfnissen zurück. Messimy mußte zugeben, daß in den
zweifellos grau in grau gefärbten Kritiken Humberts doch einige
Wahrheiten steckten, war zudem nicht vorbereitet, Humberts An-
klagen schlagfertig zu antworten und machte es so Clemenceau
möglich, eine Verschiebung der Abstimmung über die Bewilligung der
Kredite zu erreichen. Sieben Kriegsminister in 30 Monaten und die
zu große Zahl von Direktoren im Kriegsministerrium gab Messimy
auch als Hauptquelle von Übeln an. Die Versuche mit dem neuen
Material seien abgeschlossen, die Anfertigung müsse beschleunigt werden,
darum sei die Bewilligung des vorgelegten Regierungsprogramms
dringend. Die am folgenden Tage mit Einstimmigkeit erfolgte Annahme
der 1409-Millionen-Vorlage — unter Aufforderung an den Armee-
ausschuß, im Herbst über den Zustand des Kriegsmaterials zu be-
richten, ein Bericht, der wesentlich anders lauten wird als Humberts
Anklagen — beweist klar genug, daß dem gegenwärtigen Kabinett
auch die Opposition die Mittel nicht verweigern wollte, aus Besorgnis
von der öffentlichen Meinung angeklagt zu werden, der Regierung
nicht die nötigen Mittel zur Verfügung gestellt und nur geklagt zu
haben. Daß politische Treibereien, namentlich auch Ersatz Joffr&s durch
den stark politischen General Savail im Hintergrund der ganzen Auf-
regung standen, hat Pedoyas Eingeständnis in der Kammer gegenüber
Driant wohl klar genug bewiesen. Im Senat erregten die von 1913
auf 1914 unverbraucht verschobenen Ausgabeposten, rund 43 Millionen,
Umschau: Frankreich. 179
davon 14,7 für das Heer, besondere Verdrießlichkeit, weil darunter
auch 8,6 Millionen für Luftschifferwesen sich befanden. Das Fehlen
von 3000 Offizieren in der Armee fand eine gründliche Kritik, als
Messimy, was bewilligt wurde, erklärte, der Jahrgang 1913 von
St. Cyr werde jetzt schon zu Offizieren befördert werden, um in dem
genannten Manko einige Abhilfe zu schaffen. Die Zahl der Kandidaten
für die verschiedenen Schulen und diejenigen der Zulassungen ab 1914
hat, dank der Verbesserung von Besoldung und Beförderung durch die
letzten Kadersgesetze, zugenommen. Die Zugkraft der berittenen
Waffen ist dabei größer als bei den Fußtruppen, die der Artillerie
besonders hoch, wegen guter Beförderungsverhältnisse. Der Zudrang
der Unteroffizier-Offizier-Anwärter zur Schule von St. Maixent ist
noch nicht ausreichend, zahlreiche Unteroffiziere der aktiven Armee
wenden sich auch den Dienstzweigen zu.
Die Schulen weisen 1914 auf:
an Anwärtern an Zulassungen
Polytechnische Schule . . . . 1106 300
St. Cor!) . 2 2 20202020. ..1360 495
St. Maixant . . . . . 566 391
Fontainebleau f. Artillerie . . 366 102
= f. Train. . . . 270 23
Versailles . . . . Eo a 57 27
Aus den Beratungen des Krierebndeete im Senat ist interessant
auch die Feststellung, daß am 1. April 1914 an Leuten, die da-
durch der Mobilmachung entzogen wurden, in Marokko
sich 33000 befanden. Bei den genannten Beratungen gab
Messimy mehrere sehr wichtige Erklärungen ab: |
1. Betr. der Ausstattung auch der vier letzten Kavalleriedivisionen
mit dem bei den sechs übrigen schon vorhandenen sehr brauch-
baren Geschütz für die reitende Artillerie.
. Betr. des grundsätzlichen und energischen Eintretens für die
Zulage von 200 Franken für jedes über zwei hinausgehende
Kind unter 16 Jahren von Unteroffizier- und Offizierfamilien
bis zum Major aufwärts.
3. Die Antwort auf Boudenoots Anfrage bezüglich der Be-
förderung der Offiziere bzw. Verjüngung des Offi-
zierkorps. Messimy wies auf einen in den letzten Jahren
schon zweimal vom Senat genehmigten, vom Armeeausschuß
ID
1) Vom Herbst 1914 will der Kriegsminister mit Rücksicht auf die
bestehenden Mankos, wenn die Ergebnisse der Aufnahmeprüfungen im
Durchschnitt nicht schlechter als sonst ausfallen, die AUISSSDEEN zu
St. Cyr auf 600 steigern.
180 Umschau: Frankreich.
der Kammer aber als nicht allgemein genug jedesmal ab-
gewiesenen Gesetzentwurf hin und erklärte baldigst ein all-
gemeines Beförderungsgesetz einbringen zu wollen. Er über-
nahm durch feierliches Versprechen gegenüber dem Parlament
die Verpflichtung, im Frieden keinen Offizier zur Beförderung
vorzuschlagen, der nur noch ein Jahr von der Altersgrenze
entfernt sei, er besitze ja auch in der Befugnis, Offiziere ja
auch schon ein halbes Jahr vor der Altersgrenze in die
Disponiblität zu versetzen, eine gute Handhabe. Die Ände-
rungen zum Gesetz vom 7. August 1913, die vom Parlament
vorgeschlagen wurden, finden durchaus nicht allgemeinen Bei-
fall. Man befürchtet namentlich, daß junge Leute zur Ver-
schwendung verleitet werden, wenn man 15 Jahre dienenden
Unteroffizieren statt der sicheren Zivilvorsorgung einmalige
Kapitalszahlung in Aussicht stellt, die von 10000 Franken bei
den Oberfeldwebeln bis zu 5000 bei Gemeinen gehen kann.
Neubildungen Der Juli hat, wie für die Artillerie die zweite Etappe ihrer Neu-
Zul bildungen (die die fünf Regimenter schwerer Artillerie des Feld-
heeres schon auf 55 Batterien bringt), auch der Infanterie wieder
Durchführung von Neuformationen gebracht, während in den letzten
Tagen des Juni sehr wichtige Bestimmungen für den Ausbau der
Kavallerie erschienen, die, soweit sie das Remontewesen betreffen,
schon am 1. Juli abgeschlossen wurden, während die auf die Truppen
bezüglichen am 1. Oktober vollzogen werden. Von den Kadergesetz-
ergänzungen vom 21. Februar 1914 für Infanterie hatte der Juli nach
den Bestimmungen vom 21. Juni 1914 noch zu bewirken:
1. Fortsetzung der Zusammenstellung des Sonderstabes der In-
fanterie, die das Kriegsministerium anordnete und gleichzeitig
die Stellenbesetzung bei der Mobilmachung mitteilte.
2. Neubildung von Einheiten, bis spätestens 15. Juli abzuschließen,
und zwar -— da schon drei Bataillone Zuaven neu formiert, so
daß zu planmäßigen 6 Regimentern mit 24 Bataillonen schon
23 Bataillone vorhanden sind — je 1 Bataillon für das 3. und
. 9. Regiment algerischer Tirailleure, die planmäßig ja auf
12 Regimenter mit 48 Bataillonen kommen sollen.
3. Neue Stellen für 2 Obersten, 11 Oberstleutnants, 8 Majore,
34 Hauptleute, 16 Leutnants der Infanterie.
4. Ausfüllung der Stellen der Unteroffiziere der neuen Einheiten
und Hinweis auf baldigen Abschluß der durch Gesetz vom
15. April angeordneten Vermehrung der Sergeanten und Kor-
porale der Infanterie- und Zuavenregimenter, der Jägerbataillone
und der leichten afrikanischen Infanterie.
Umschau: Frankreich. 181
Verfahren wir bei Kavallerie chronologisch, so haben wir zunächst
zu erwähnen, daß am 1. Juli die Gliederung des Remontewesens dahin
geändert wurde, daß unter einem General als Generalinspekteur mit
den Befugnissen des kommandierenden Generals stehen: 17 Remonte-
reitertruppen (an Stelle der am 1. Juli aufgelösten 4 Remontereiter-
kompagnien) 16 Remontedepots — außer Gestüt Suippes — mit
ihren Annexen. An der Spitze jedes Bezirks Caön, Tarbes, Paris steht
ein Oberst oder Oberstleutnant, unter ihnen die Kommandeure der
Depots, jede Remontereitertruppe von einem Rittmeister oder Leutnant
kommandiert. Die Annexe enthalten entweder je 200 oder 400 Pferde.
Bei der Verfügung, betr. die Bildung der neuen Kavallerie-
regimenter am 1. Oktober 1914, ist schon die Begründung inter-
essant. „Das Kadergesetz vom 15. April 1914 hat, dasjenige vom
31. März 1912 ändernd, unsere Armee in Afrika mit 6 Regimentern
Chasseurs d’Afrique und 6 Spahiregimentern ausgestattet, zusammen 12.
Die beiden Chasseurs-d’Afrique-Regimenter, die das Gesetz vom
31. März 1912 auflöste, bleiben bestehen.“ In Frankreich werden
am 1. Oktober in Toulouse-Condom das 23. und in Bayonne das
22. Chasseurregiment neu gebildet, und zwar mit dem normalen Be-
stand aller Kavallerieregimenter von 780 Pferden. Die für die beiden
Regimenter 22 und 23 von allen leichten Kavallerieregimentern,
außer 13., 17. und 18. Chasseurs, abzugebenden Züge sind der
Nummer nach genau bestimmt und nehmen ihren ganzen Bestand
aus ausgebildeten Mannschaften und 5—6 jährigen Pferden mit, ein
Beweis dafür, wie sehr man auf die Kriegsbereitschaft der neuen
Regimenter drängt. Am 1. Oktober werden in Frankreich 81, in
Afrika 12 (6 Chasseurs- 6 Spahiregimenter, bei letzteren, die von
20 Eskadrons 15 in Marokko haben, sind am 15. Mai 8 neue
Eskadrons aufgestellt), Summa 93 Kavallerieregimenter vorhanden sein.
Durch Erlaß vom 20. Juni sind wieder Verschiebungen im OberenOberer Kriegs-
Kriegsrat und bei den kommandierenden Generalen eingetreten. Für ern
den der Altersgrenze zum Opfer fallenden General Langle de Carry
wurde der bisherige kommandierende General des III. Korps Vala-
bregue zum Mitglied des oberen Kriegsrats ernannt, Divisionsgeneral
Espinasse, bisher 27. Division, wurde für den verabschiedeten
kommandierenden General des XV. Korps ernannt, der bisherige
Kommandeur der 19. Division wurde kommandierender General des
III. Armeekorps. Durch denselben Erlaß wurden 4 Divisions- und
9 Brigadegenerale befördert. Valabregue, rund 62 Jahre alt, aus der
Polytechnischen Schule hervorgegangen, stammt aus der Artillerie;
sein Nachfolger an der Spitze III. Armeekorps, Sauret, ist rund
61 Jahre alt, war während des Feldzuges freiwilliger Infanterist und
Übungen des
Beurlaubten-
standes.
182 Umschau: Frankreich.
trat dann zur Artillerie über; Espinasse, der 61 Jahre alt wird,
stammt aus der Infanterie. Ä
Der Marineminister, der gegenwärtig die neue Zusammensetzung
der Leute des Beurlaubtenstandes der seemännischen Bevölkerung
bearbeitet, kommt endlich auch dazu, dem Kriegsminister zum Be-
urlaubtenstande des Heeres rund 60000 Mann der Reserve, gemäß
Gesetz vom 7. August 1913, zu überweisen, für die das Marine-
ministerium im Kriege keine Verwendung hat. Diese Leute werden
mit einer 28jährigen Verpflichtung abkommen. Die Kanoniere und
Mechaniker werden der Artillerie, die übrigen der Infanterie zu-
gewiesen, wo sie bei Übungen für Feldzwecke noch zu lernen haben.
Der dem Parlament erstattete amtliche Bericht des Kriegs-
ministers, betr. Übungen der Leute des Beurlaubtenstandes
1913 — mit den neuen Verordnungen des Kriegsministers zusammen-
gehalten, bei denen man die in 1913 eingetretene, so bedeutende
Verstärkung der Friedenseinheiten beachten muß — beweist uns, daß
auch die von unserem Kriegsminister so stark betonte vermehrte
Zahl der übenden Leute des Beurlaubtenstandes 1914 bei uns hinter
der französischen von 1913 weit zurückbleibt, obwohl man bei uns
die zweijährige, in Frankreich die dreijährige Dienstzeit besitzt und
die Einbeorderungen bei uns zahlreicher sein müßten, als bei unserem
westlichen Nachbar. Verständige Generale, die die Forderung weiter-
gehender Heranziehung von Reservisten aufstellen, die auch durch ihr
energisches Drängen auf Steigerung der Wehrkraft im Januar 1913
endlich zur Einbringung der Wehrvorlage gewissermaßen zwangen,
die, 1911 genehmigt, uns in Algesciras und im Balkan eine ganz
andere Stellung gegeben hätte, erlaubte sich jüngst ein offiziöses,
seine Leser, wie es scheint, absichtlich in Unkenntnis der Rüstungen
im Auslande haltendes Berliner Blatt als Chauvinisten und Hetzer
zu bezeichnen, womit das genannte Blatt sich selbst gerichtet hat,
die Generale aber nicht hindern wird, das Ausland so zu zeichnen
wie es ist. Im ganzen wurden 1913 in Frankreich 728 856 Leute
des Beurlaubtenstandes einbeordert, 80000 Mann weniger, als im
Jahre vorher, weil 1912 ein halber Jahrgang noch als ein Über-
bleibsel des Überganges vom Gesetz 1905 zu 1908 mehr als normal
einberufen worden war. Von der genannten Zahl gehörten
224389 Mann den Leuten ersten Appells an, die 23 Tage übten
und mit rund 75 gegen 71°/, an den Manövern teilnahmen. Der
amtliche Bericht betonte, daß die Übungen lediglich Vorbereitung für
den Krieg und Hebung der Mannszucht im Auge gehabt. Wie schon
früher erwähnt, hat der Kriegsminister befohlen, daß die Hauptmasse
der Reservisten ersten Appells in Zukunft bei den Manövern üben
Umschau: Frankreich. 183
sollen, wodurch man bei der Höhe des Friedensstandes
kriegsstarke oder fast kriegsstarke Verbände auf dem
Manöverfelde sehen wird. Die Ergebnisse der Übungen der Leute
ersten Appells faßte der Kriegsminister dahin zusammen, daß sie von den
aktiven nicht zu unterscheiden sind. Von 304 468 Leuten zweiten Appells,
die 17 Tage üben sollten, haben 248479 wirklich geübt. Bei der
Infanterie waren diese Leute unter anderen in 72 Reserveinfanterie-
regimenter und 9 Jägerbataillone als eigene Körper vereinigt, von
denen 61, zum Teil zu Brigaden gemischter Waffen zusammengestellt,
auf Truppenübungsplätzen übten. Die Reserveverbände erwiesen sich
zuerst als etwas schwerfällig, gaben aber, nach dem Bericht, recht
gute Resultate und werden dies noch mehr, wenn erst alle Leute
drei Jahre gedient und mit drei Jahre dienenden Kadern ausgestattet
sind, wie man schon 1914 beobachten wird. Der Bericht betrachtet
sie als sehr bald feldverwendbar. Von den Leuten ditten Appells,
die in der Zahl von 191399 einbeordert wurden, übten 159690.
Sie befriedigten durchaus, wenn auch die Kaders, soweit sie nicht
der Aktivität entstammen, noch der Aufbesserung bedürfen. 14 Land-
wehrinfanterieregimenter wurden in Übungslagern ausgebildet, was die
kommandierenden Generale für alle als notwendig betrachten. Die
Vermehrung der Übungsplätze, die ja so weit gedeihen soll, daß je
zwei Korps über einen Divisionsübungsplatz verfügen, wird darin
noch mehr Spielraum geben. Für die Offiziere des Beurlaubten-
standes sind günstigere Beförderungsbedingungen erlassen worden,
wobei die früher aktiven Offiziere und Unteroffiziere am besten weg-
kommen.
Am 2. Juli hat der Kriegsminister den Armeeausschuß der
Kammer, am 8. Juli den Armeeausschuß des Senats in Gegenwart
des Generals Dubail, Mitglied des Oberen Kriegsrats, zwei Infanteristen
vorgestellt, von denen der eine ganz, der andere nur teilweise in die
neue vorgeschlagene Felduniform gekleidet war. Man hat einmal
wieder nach zahllosen Versuchen mit anderem Grundtuch ein neues,
und zwar trikolores Gemisch aus dem Faden blau, grau und rot an-
geführt und damit in beiden Ausschüssen Erfolg gehabt, die ver-
suchsweise 1000 Franken als Rate aus den allgemeinen außerordent-
lichen Krediten bewilligten.. Nach den sehr eingehenden Beob-
achtungen des Ausschusses gab General Dubail bekannt, daß die alte
Uniform auf 7500 m, die neue nur auf 500 m sichtbar und die Ver-
wendbarkeit der letzteren auf den mittleren Entfernungen nur die
Hälfte der ersteren betrage. In der Kammer griff Jaurés die An-
gabe des Kriegsministers, er brauche für die Mobilmachung 1,3 Mil-
lionen neuer Felduniformen, an. Er stellte fest, man habe dauernd
Wieder eine
neue Feld-
uniform.
184 Umschau: Frankreich.
800000 Mann in aktivem Dienst, aber nicht nur eine Million
Reservisten, sondern zwei Millionen, brauche also 2,8 Millionen Feld-
uniformen, deren Kosten würden 300 Millionen betragen, wenn sie
in sechs Jahren fertig sein sollten. Messimy erklärte die neue Feld-
bekleidung als absolut dringend gegenüber den Fortschritten im Ausland.
Armeegeneral- Zu den beiden im letzten Bericht berührten „Armeegeneralstabs-
stabsreise.
Telegraphen-
reisen“ ist in der Zeit vom 22. bis 28. Juni eine dritte getreten, die
dienst bei den@eneral d’Amade, Mitglied des Oberen Kriegsrats, leitete und an
Kavallerie- der 14 Generale und 60 Stabsoffiziere teilnahmen. Das Regle-
divisionen.
ment für den Dienst im Felde vom 2. Dezember 1913 bestimmt, daß
in einer Kavalleriedivision der Telegraphendienst durch den dem
Stabe zugeteilten Geniehauptmann geleitet wird, unter Verantwortlich-
keit des Generalstabs (und besonders dessen Chefs), der Divison, aus-
geführt wird durch den leichten Kavallerietelegraph und eine Tele-
graphenabteilung. Letztgenannte ist nach dem Reglement aus 1 Ser-
geanten, 1 Korporal und 5 Telegraphistenchasseurs auf Rädern zu-
sammengesetzt, von 1 Leutnant der Reserve kommandiert. In ihrer
Truppe ausgebildet, ist je eine solche Abteilung für Manöver und
Krieg der Kavalleriedivision zugeteilt. Der leichte Kavallerietelegraph
bildet seit dem 1. April 1914 eine Abteilung Kavallerietelegraphisten,
die in einem Regiment Kavallerie vereinigt, von 1 Leutnant
kommandiert werden, der für technische und militärische Ausbildung
der Telegraphisten verantwortlich ist. Bei der Mobilmachung tritt
diese Abteilung zum Generalstab jeder Kavalleriedivision. Die
Abteilungen, deren endgültige Zusammensetzung und Ausstattung noch
befohlen wird, sind seit 1. April 1914, wie sie auch bei den Manövern
auftreten werden, bei einer Kavalleriedivision wie folgt gegliedert:
1 Offizier, je 3 Unteroffiziere und Brigadiers, 18 Kavalleristen zu
Pferde, 6 Radfahrer, 3 leichte Fahrzeuge. Jede teilt sich in
3 Sektionen aus je 1 Unteroffizier und Brigadier, 6 Reitern, 3 Rad-
fahrern, 1 leichten Fahrzeug, jede Sektion wieder in 2 Posten. Jede
Abteilung verfügt an Apparaten über 6 Morse-, 6 Annahmestationen,
6 optische Apparate von 0,10 m Durchmesser, 9 Fernsprechstationen,
9 Feldzwischenstationen, 12 Elemente, an Material über 9 km leichten
Kabels, 18 km blankem Draht auf 18 Rollen für Fernsprecher.
1 Sektion legt in 20 Minuten ungefähr 1 km Kabellinie, also 3 km
in der Stunde, Fernsprechlinie 6 km in der Stunde. Für optische
Mitteilungen können verwendet werden: Reflektor mit Petroleum,
5 km Reichweite bei Tag, 15 km bei Nacht, Azetylen 8 km bei
Tag, 25 km bei Nacht, Sonnenstrahlen 16 km. Die neue Organi-
sation bildet gegenüber der bisherigen ganz gewaltige Vorteile und
Vereinfachung.
Umschau: Frankreich. 185
Der Berichterstatter für das Marinebudget im Senat stellte die
Behauptung auf, daß 1920 Frankreich, dessen Hauptziel doch die
Seeherrschaft im Mittelmeer sein müsse, mindestens 4 Dreadnoughts
fehlen würden, um das Gleichgewicht zu erhalten, man statt 28
33 Dreadnoughts brauche, einschließlich 1 Admiralschiff. Frankreich,
das 1914 660 Millionen für die Marine ausgebe, könne das Verlangte
bewirken, ohne in Zukunft über 650 Millionen hinauszugehen. Nach
dem Marineminister brauchen Schlachtschiffe bis zum Indiensttreten
drei Jahre. was aber auch beschleunigt werden kann. Da man 1915
2 Schlachtschiffe fertig haben muß, so ist um diese Zeit nur noch
eines zu bauen, das 1914 auf Stapel kommt, statt 1917. um die
Durchführung des Programms von 1912 sicherzustellen.
1920 werden nach ihm 94 Unterseeboote fertig sein, diese Zahl
aber vielleicht wesentlich gesteigert werden. Das von Gauthier vor-
gelegte Marinekadergesetz führt den Dienstgrad des Korvettenkapitäns
nicht wieder ein, der Etat der übrigen Offiziere und Deckoffiziere
erster Klasse (plus 450), wird aber wesentlich vermehrt: Vize-
admirale, bisher 15, 16, 30 Konteradmirale, 130 (statt 125) Kapitäne
zur See, 270 (statt 215) Fregattenkapitäne. 800 Linienschiffleutnants,
590 Linienschiffähnriche. Konteradmirale erreichen in Zukunft mit
55 Jahren die Altersgrenze, Kapitäne zur See ebenso, Fregatten-
kapitäne mit 53, Linienschiffleutnants mit 50. Der Dienst am Land
mit festem Wohnsitz, der abgeschafft werden sollte, ist nicht allein
beibehalten, sondern in seinem Etat wesentlich vermehrt worden.
Der Marineausschuß der Kammer nahm eine Tagesordnung an, die
die Regierung auffordert, sobald als irgend möglich die Veränderungen
im Flottenbauprogramm vorzunehmen, die das Fortschreiten der
Arbeiten erlaubt, den Marinekadergesetzen baldigst eine Anpassung
an die Zusammensetzung der Flotte zu geben. Seit zwei Monaten
erprobt man auf Kriegsschiffen im Mittelmeer Senegalneger als Heizer.
18
Das französische Kriegsministerium plant die Anlage eines neuen
Truppenübungsplatzes, der etwa halbwegs zwischen demjenigen von
Mailly und der Festung Toul gelegen sein wird. Für denselben ist
das Gelände bestimmt, das im Norden und Osten durch das Tal des
Ornain, im Süden und Westen durch die Dörfer Maulan, Nant-le-Petit,
Montplonne und Brillon begrenzt ist und das bei einer Ausdehnung
in nord-südlicher Richtung von etwa 13 bis 14 km, eine Breite von
6 km besitzen dürfte. Der betreffende Platz gehört mithin der Land-
schaft des Barrois an, der erst im Jahre 1766 mit Lothringen an
Frankreich fiel. Das nicht besonders fruchtbare Kalksteinplateau
Marine.
Neuer
Truppen-
übungsplatz.
Kraftfahr-
wesen.
186 Umschau: Frankreich.
besitzt ziemlich viel Wald und weist in seinen Formen zahlreiche
Abwechselung auf. Der neue Truppenübungsplatz liegt an den von
Bar-le-Duc und von Ligny aus nach Saint Dizier zusammenlaufenden
Straßen. Das Tal des Ornain ist wichtig — namentlich auch in
militärischer Beziehung — weil es dem Hauptverkehr von Paris nach
Lothringen und nach Deutschland dient. Nicht nur die Eisenbahn
Paris—Toul—Metz bzw. Straßburg, sondern auch der Marne-Rhein-
kanal folgt dem Ornain. Das auf dem Truppenübungsplatz zu er-
richtende Lager wird als Depotort für eine Mobilmachung und für den
Aufmarsch an der Ostgrenze in einem zukünftigen Kriege großen
Wert besitzen. Die am Westhange der Hochflächen von Longeville
und Tannois gelegenen Fermen „le Chêne“, „Vadinsaux“ und „Beau-
regard“ sind bereits in den Besitz des Kriegsministeriums über-
gegangen, bezüglich einiger weiter im Süden gelegenen Güter schweben
noch die Unterhandlungen. Hbr.
Am 1. März 1914 sind in Frankreich bei jeder Traineskadron
mit Ausnahme derjenigen des neugebildeten XXI. Armeekorps in
Epinal Kraftwagendepots aufgestellt mit 1 Offizier, 1 Unteroffizier
und 6 Mann als Stamm für alle im Korpsbezirk aufzustellenden
Kraftfahrformationen. Das zur Traineskadron gehörende Personal
besorgt den Kraftfahrdienst in dem betreffenden Bezirk und über-
wacht alle darin vorhandenen Kraftfahrzeuge. Von Zeit zu Zeit wird
es in die betreffende Zentralstelle (s. weiter unten) kommandiert, um
am Unterricht des Ergänzungspersonals, an Versuchen usw. teilzu-
nehmen. Das Personal ergänzt sich aus allen Waffen, die Gemeinen
müssen mindestens drei Monate Waffendienst, vorzugsweise bei der
Artillerie und dem Genie, getan haben und infolge ihres Berufs be-
sondere Geeignetheit verbürgen. Während Offiziere und Unteroffiziere
als Abkommandierte die Uniform ihres Truppenteils weitertragen,
werden die Mannschaften entweder in die Arbeiterkompagnien der
Artillerie oder in die Traineskadron versetzt und tragen die Uniform
dieser Truppenteile. Die Kraftwagendepots aller Armeekorps unter-
stehen zwei Kraftfahrzentralstellen bei den Militärgouvernements Paris
und Lyon mit einem Etat von je 1 Stabsoffizier, 7 Hauptleuten,
2 Hilfsoffizieren und mehreren Militär- und Zivilbeamten als tech-
nischem und einer Anzahl von Offizieren als Fahrdienstpersonal. Die
Kraftfahrzentralstellen sorgen für den gesamten Kraftfahrdienst im
Bereich der ihnen zugeteilten Armeekorpsbezirke, bilden das gesamte
Fahrpersonal des aktiven und Beurlaubtenstandes aus und sind ver-
antwortlich für die Unterhaltung und Instandsetzung des Kraftfahr-
geräts und die Mobilmachung der einzelnen Kraftfahrformationen.
Umschau: Frankreich, Griechenland. 187
Zu jeder Zentralstelle gehören ein Kraftwagenpark, Laboratorien und
Werkstätten für kleinere Instandsetzungen sowie ein Stamm von
Mechanikern, Handwerkern und Arbeitern. Über den Zentralstellen
steht die Inspektion des Kraftfahrwesens unter 1 Oberst, dem
2 Stabsoffiziere, 3 Hauptleute und 1 Verwaltungsoffizier unterstellt
sind. Die Inspektion ist die oberste technische und Verwaltungs-
behörde des Kraftfahrwesens und hat folgende Aufgaben: Überwachung
der Ausbildung des bei der Mobilmachung für die einzelnen Kraftfahr-
formationen bestimmten Fahrpersonals sowie des für Instandsetzungen
erforderlichen technischen Personals; Aufstellung der einzelnen Kraftfahr-
formationen einschließlich der Mobilmachungsvorarbeiten; Überwachung
des gesamten staatlichen und vom Staat unterstützten Kraftwagen-
materials; Ankauf des notwendigen Geräts; Ausführung von Versuchen
auf dem Gebiet des Kraftfahrwesens; Herausbringen eigener Kon-
struktionen. Das gesamte Kraftfahrwesen, Gerät und Personal unter-
stehen der Direktion der Artillerie, einer Abteilung im Kriegsministerium,
bei der eine besondere Kraftfahrsektion besteht aus 1 Stabsoffizier,
2 Hauptleuten und 2 Verwaltungsoffizieren. Die bisher beim Kriegs-
ministerium und dem Großen Generalstab für das Kraftfahrwesen
bestehenden Stellen sind aufgehoben worden. Die Mobilmachung der
gesamten in der französischen Armee aufzustellenden Kraftfahr-
formationen ist durch die dezentralisierende neue Organisation ganz
bedeutend erleichtert worden. A.
Die seit Jahren schwebenden Versuche mit vierrädrigen Feld- Feldküchen.
küchen sollen im laufenden Jahre fortgesetzt werden. In Frage
kommen nur in Frankreich von französischen Industriellen erzeugte
Fahrzeuge, die den Bedingungen vom 16. Februar 1903 und vom
6. Juli 1909 entsprechen. Wenn es besondere Vorteile gewährt,
sollen unter Umständen mehrere Typen angenommen werden. Die
Angebote der Firmen, am Wettbewerb teilzunehmen, ihre Preisforde-
rungen usw. waren bis zum 15. Juni spätestens einzureichen; im all-
gemeinen will man von jeder der zur Konkurrenz zugelassenen Typen
12 Exemplare, und nur in Ausnahmefällen eine geringere Zahl be-
schaffen.
Griechenland.
An Pioniertruppen sind in Griechenland vorhanden: bei jedem Technische
Armeekorps ein Genieregiment, und zwar bei dem I.—IV. Armeekorps Truppen.
zu sechs, beim V. Armeekorps zu vier Kompagnien; außerhalb des
Verbandes der Armeekorps außerdem ein Pontonierbataillon; neu hinzu-
treten sollen ein Festungspionierregiment in Saloniki und ein Festungs-
General
Pollio tot.
188 Umschau: Griechenland, Italien.
pionierbataillon in Janina. An Verkehrstruppen wird das bestehende
Verkehrsbataillon in ein Eisenbahn- und in ein Kraftfahrbataillon ge-
gliedert werden, das bestehende Telegraphenbataillon wird in ein
Regiment verwandelt. Für den Fliegerdienst ist eine Fliegerkompagnie
vorhanden.
Italien.
Durch den in Turin auf einer Dienstreise unerwartet eingetretenen
Tod des Chefs des Generalstabs der Armee, Pollio, hat Italiens Heer
einen schweren Verlust erlitten. Der vierte Chef des Generalstabs
der Armee war in vielen Beziehungen mit dem ersten, General Cosenz,
zu vergleichen und hat sich durch seine Werke auch im Ausland
(Custozza Waterloo) einen Ruf als Kriegslehrer erworben. In den
sechs Jahren, die er an der Spitze des Generalstabs dor Armee, an
der für das Heer so wichtigen, die ganze Verantwortung für die Vor-
bereitung auf den Krieg, Einheit der Ansichten der Führung, Heran-
bildung des Führernachwuchses, Schulung, Gliederung und Bereitschaft
des Heeres tragenden Stelle gestanden, ist er nicht nur die treibende
Kraft des Ausbaus des Heeres gewesen, sondern hat auch durch die
Erfolge in der neuen Kolonie Libyen, die er vorbereitet, der Nation
das volle Vertrauen zum Heere, dem Ausland die Hochachtung für
dasselbe wiedergegeben, die seit Adua einigermaßen verloren gegangen
war. 1870 zum Unterleutnant der Artillerie ernannt, war Pollio
schon 1893 Oberst im Generalstabe, mit 56 Jahren stand er mit
dem Rang des kommandierenden Generals an dessen Spitze. Den
Nachfolger für Pollio zu finden war nicht leicht. In Cadorna, der
zum Armeeführer designiert war, hat man aber eine gute Wahl
getroffen. General Baratieri vertauschte die Stellung des komman-
dierenden Generals des VII. Korps (Ancona) mit derjenigen an der Spitze
des X. Korps Neapel, General Mirabelli (früher Unterstaatssekretär
des Krieges) trat von der Spitze der Division Livorno an diejenige
des VII. Armeekorps.
Neben die 90000 Leute des Beurlaubtenstandes, die nach
dem Budget normal auch im Durchschnitt 20 Tage im Finanzjahr
1914/15 üben sollten, traten, zum 21. Juli auf fünf Monate zur ersten
Schulung eingeordnet, die Leute zweiter Kategorie, Jahrgang 1893,
und die von der seemännischen Bevölkerung stammende zweite
Kategorie des Jahrgangs 1892, im ganzen etwa 30000 Mann.
Die dann erfolgte Einbeorderung des im vorigen Herbst erst ent-
lassenen Reservistenjahrgangs 1911 (nach Abzug von Dispensierten usw.
etwa 68000 Mann) lieB die zweite Kategorie auf 21. August ver-
Umschau: Italien. 189
schieben. Für die Verstärkung der schwachen Friedenseinheiten haben
beide Einbeorderungen wegen der Schulung großen Wert.
Die Kammer hat vor den Ferien das Kriegsbudget 1914/15
noch nicht voll angenommen, aber genehmigt, daß bis zum 31. De-
zember 1914 die Hälfte des Budgetvoranschlages verbraucht werden
kann. Dadurch, daß in 18 Monaten, vom 1. Juli 1912 bis 30. De-
zember 1913, allein 1300 Kapitulanten ausschieden, die, bei je drei
Kapitulationen 7,8 Millionen Prämien zu beziehen hatten, in den
nächsten Jahren aber nicht über 400 Kapitulanten ausdienen, hat auf
Antrag des Schatzministers eine Änderung der organischen und
und bilanzierten Stärke stattgefunden. Im Budget 1914/15 weisen
sie jetzt auf:
Sollstärke bilanzierte Stärke
Offiziere . . 2 . . . 14834 14 027
Unteroffiziere und Mann- l
schaften . . . . . . 291863 ` 275000
die letztere bleibt also hinter ersterer zurück um 807 Offiziere,
16 963 Mann.
Um die dem Kriegsminister durch den bis 1918/19 zu ver
wendenden neuen Sonderkredit und die aus früheren Krediten noch
nicht verbrauchten Summen (144 Millionen) im Extraordinarium zur
Verfügung stehenden Beträge beurteilen zu können, lassen wir der
Verteilung des erstgenannten Kredits gleich die auf jedes Jahr von
den früher noch nicht verbrauchten entfallenden Beträge in Klammern
folgen. Durch beide will man erreichen, daß das Extraordinarium
des Kriegsbudgets in jedem Jahre 76 Millionen aufweist.
1. Handfeuerwaffen und Munition 21 Millionen (8,75)
2. Mobilmachungsvorräte . . . 41 2 (4,73)
3. Feld-, reitende und Gebirgs-
artillerie . . . 15 5 (61,71)
4. Schwere Kaliber für Küsten-,
Festungs- und Belagerungs-
artillerie . . . 40 j (40,5)
5. Befestigungen an den Grenzen,
Küsten, Bahnen . . . ; 36 ” (5,6)
6. Gebäude, Schießstände usw. . 36 í (17,3)
7. Ankauf von Pferden für Ka-
vallerie, Artillerie, Maschinen-
gewehre . . 1 » 6
8. Zur Verfügung des Kriegs-
ministers . . 10 e
Ziraman rund 337 Millionen.
Jahrbücher für die deutsche Armee und Marine. Nr. 615. 14
Heeres-
ausgaben.
Neue
(Gliederung
des Luit-
schifferwesens.
Beförderungs-
gesetz.
Munitions-
verbrauch im
Iybischen
Kriege.
190 Umschan: Italien.
Der Erlös verbrauchter Waffen und überflüssig gewordenen Ge-
ländes bleibt zur Verfügung für die genannten Zwecke, nicht auf-
gebrauchte Summen können auf das nächste Jahr verschoben, je
25 Millionen des folgenden Jahres aber auch schon in dem laufenden
verbraucht werden.
Der am 16. Juni vom Kriegs- und Schatzminister gemeinsam
eingebrachte Gesetzentwurf, betr. die Neugliederung des Luftschiffer-
wesens, wurde von Senat und Kammer als dringend betrachtet. Er
will dem Luftschifferwesen, das er als Waffe, nicht als Dienstzweig
ansieht, eine völlige Autonomie geben, bei 0,95 Millionen jähr-
licher Mehrkosten, die aber erst 1915/16 voll aufzubringen sind, für
1914/15 nur die Hälfte, da die Durchführung des am 1. Juli in
Kraft tretenden Gesetzes in zwei Etapppen erfolgt. Soweit Vermehrung
der Offiziere aller Waffen über den Etat und des Kaderpersonals in
Frage kommt, will man unter Auflösung des Spezialistenbataillons
für Genies (durch Heeresorganisationsgesetz geschaffen), des Flieger-
bataillons (27. Juni 1912 geschaffen) und des Versuchs- und Kon-
struktionsetablissements des Luftschifferwesens die Neugliederung be-
wirken. Durch Artikel 1 des neuen Gesetzes soll das Luftschifferkorps
mit zwei (nach Luftschiffern und Fliegern getrennten) Kommandos des
Luftschifferwesens ein Bataillon Lenkluftschiffer, ein Bataillon Luft-
schiffer, eine Konstruktionswerkstätte für Luftschiffer, ein Bataillon mit
Fliegergeschwadern, ein Fliegerschulbataillon, eine technische Direktion
des Militärflugwesens und ein Luftschifferzentralinstitut umfassen. Das
letztgenannte wird mit militärischem und Zivilpersonal besetzt, letzteres
bestehend aus Ingenieuren, Professoren, entwerfenden Mechanikern,
Versuchsmechanikern, entwerfenden und Motorführern. Gegenüber
37 Offizieren der Geniewaffe, die fortfallen, kommen 145 Offiziere
vom Oberst bis zum Leutnant aller Waffen für das Luftschifferkorps
hinzu.
Am 16. Juni legte der Kriegsminister die vom Senat schon an-
genommenen und hier beleuchteten Änderungen zum Beförderungs-
gesetz der Kammer vor. Sie betreffen, wie wir hier kurz wieder-
holen, die Abstellung einiger Übelstände, die die Anwendung des bis-
herigen Gesetzes bei der Beförderung von Hauptleuten und Oberst-
leutnants im Gefolge hatte. Der Gesetzentwurf, betr. Rückberufung
von ausgeschiedenen Offizieren in den aktiven Dienst ist genehmigt
worden. 18
In der Revue Militaire Generale vom Juni 1914 findet sich eine
kurze Besprechung des Buches des italienischen Generalleutnants Felice
de Chaurand de Saint-Eustache: Taktische Lehren aus dem Italienisch-
Umschau: Italien, Niederländisch-Indien, Österreich-Ungarn. 191
Türkischen Kriege. Der Verfasser der Besprechung gibt in einleitenden
Worten seiner Ansicht über den Munitionsverbrauch in einem zu-
künftigen Kriege Ausdruck. Er sagt: „Der Munitionsverbrauch wird
enorm sein, bei der Artillerie, weil die heutigen Ziele Streufeuer er-
forderlich machen, bei der Infanterie, weil der Soldat — nervös ist.
Wir hoffen und erwarten, daß Feuerdisziplin und Befolgung der ge-
gebenen Vorschriften uns vor einer solchen Munitionsveschwendung
bewahren werden.“ Die Angaben des italienischen Generals lassen den
Schluß zu, daß das für Frankreich Erwartete bei den Italienern Tat-
sache geworden ist.
Er sagt, es habe eine wahrhafte Verschwendung stattgefunden;
einige Infanterietruppenteile hätten in 25 Minuten ihre Taschen-
munition und die verteilten Patronenreserven des ‘Regiments und
der Kolonne verschossen. Bataillone von 450 Gewehren, die nicht
in besonders heftigem Kampfe standen, verfeuerten in wenigen Mi-
nuten 60000 Patronen. Eskadrons gaben 10000 Schuß auf einzelne
feindliche Vedetten ab. Batterien gaben in einer halben Stunde
500 Schuß ab, ohne daß sie ein Ziel von Bedeutung vor sich
gehabt hätten.
Welchen Munitionsverbrauch erwarten da die französischen Ver-
fechter des kleinkalibrigen Schnellfeuergeschützes, das nach ihrer Ab-
sicht möglichst schnell feuern soll, um dadurch die Wirkung des
überlegt abgegebenen schwereren Einzelschusses zu ersetzen? W.
Niederländisch-Indien.
Nach der Infanterie ist nunmehr auch für die Kavallerie der Einführung
Entfernungsmesser, System Hensoldt, eingeführt worden. Jede Eskadron
erhält vier, die Halbeskadron zwei, das Detachement je ein Exemplar.messern bei der
W. Kavallerie.
Österreich-Ungarn.
Mit dem gemeinsten Meuchelmord zum Opfer gefallenen Erzherzog- Der neue
thronfolger Franz Ferdinand haben Armee und Flotte zunächst die, nektenr der
auf den Ausbau treibende Hauptkraft, die Wehrmacht auch den bewaffneten
berufenen Führer im Kriege verloren. General Conrad von Hötzendorff Macht.
bleibt zwar wohl, ebenso wie der Kriegsminister von Krobatin, am
Ruder, man darf auch hoffen, daß ihre Stimme gehört werden
wird. Man handelt unrichtig, wenn man auch in deutschen Blättern dem
neuen Generalinspekteur der bewaffneten Macht, dem 1856 geborenen
Erzherzog Friedrich die mögliche Energie und Umsicht auf organisa-
torischem Gebiete nicht zuerkennen will. Die Ausgestaltung der Land-
wehr, deren Oberkommandant er war, zu einem der gemeinsamen
14*
Neu-
organisation
derEisenbahn-
truppe.
192 Umschau: Österreich-Ungarn.
Armee in bezug auf Dienstzeit, demnächst auch Friedensstände, Be-
waflfnung Schulung, Zusammensetzung aus allen Waffen und Re-
krutierung gleichwertigen Körper ist in der Hauptsache Erzherzog
Friedrichs Einfluß auf die Landesverteidigungsminister zu verdanken.
1914 werden bei der k. u. k. Landwehr 29 549 Rekruten eingestellt
und ein Friedensstand von 63046 Mann erreicht, während 1913 der
Präsenzstand 53 449 Mann aufwies, also 1914 um 9602 Mann stieg.
Der Stand der Landwehrkompagnie, der früher nur 65 Mann betrug,
kommt auf 95, und zwar zunächst bei 383 Kompagnien, bei 30 Grenz-
kompagnien sogar auf 120 Mann. Von 1916 ab werden die Land-
wehren auch eigene technische Truppen und Trainformationen
haben. Die Zahl der Unteroffiziere, die 1913 8704, davon 4374 Be-
rufsunteroffiziere;: betrug, kommt in diesem Jahr auf 9907, darunter
4831 freiwillig Weiterdienende'). 18.
Mit der bevorstehenden Neuaufstellung des Eisenbahnregiments
Nr. 2 wird die Eisenbahntruppe eine völlige Neuorganisation erfahren.
Bisher bestand nur ein Regiment mit Regiments- und drei Bataillons-
stäben, zwölf Kompagnien, einem Ersatzbataillonskaderkommando, einem
Eisenbahnersatzkader, einem Lokomotivfeldbahnkader und drei Festungs-
feldbahnkadern (in Krakau, Przemysl und Pola). Der Etat betrug
bisher 127 Offiziere, 12 Offizieraspiranten, 2032 Mann und 37 Pferde.
Bei der Neuorganisation wird die Eisenbahntruppe die Regimenter 1 und
2 umfassen. Jedes Regiment setzt sich zusammen aus Regimentsstab,
zwei Bataillonsstäben, einem Eisenbahnzeugsdepot und einem Betriebs-
detachement (letztere beiden neu aufgestellt). Das Regiment 1 for-
miert außerdem ein Ersatzbataillonskaderkommando, ein Eisenbahn-
ersatzkader, ein Lokomotivfeldbahnkader, den Festungsfeldbahnkader
Pola und zwei Pferdefeldbahndepots. Das Eisenbahnresiment 2 fort-
miert außerdem ein Ersatzbataillonskaderkommando, ein Eisenbahn-
ersatzkader, die Festungsfeldlbahnkader Krakau und Przemysl und
zwei Pferdefeldbahndepots. Die Stärke des 1. Regiments wird be-
tragen: 100 Offiziere, 1424 Mann und 34 Pferde, die des 2. Regi-
ments 93 Offiziere, 1394 Mann und 32 Pferde, so daß unter Fortfall
der Offizieraspiranten die Eisenbahntruppe eine Vermehrung um 66 Offi-
ziere, 786 Mann und 29 Pferde erfahren wird. A.
Die Armierung Die Hauptarmierung der geplanten Linienschiffe beträgt
der geplanten
Linienschiffe.
10 35,6 em-K. L/45 in 5 Doppeltürmen; die Nebenarmierung soll
t) Das während des Druckes mit Energie an Serbien gerichtete
Ultimatum kann kriegerische Verwickelungen von großem Umfange nach
sich ziehen, in denen die Wehrmacht Österreich-Ungarns Biohet ihre alt-
bewährte Tüchtigkeit beweisen würde.
Umschau: Österreich-Ungarn, Rußland. 193
nach der Wiener ‚Mil. Rundsch.“ aus 20 9 em-Sf.-K. bestehen. Bei
dieser Nebenarmierung dürfte zu beachten sein, daß die Schiffe der
Radetzky-Klasse als Mittel- und Kleinartillerie je 20 10 cm-K. führen,
die der Tegetthoff-Klasse dagegen je 20 7 cm-K., so daß also die
Nebenarmierung dreier aufeinanderfolgender Schifisserien drei ver-
schiedene Kleinkaliber aufweist. W.
Rufsland.
Am 17. Juni ist ein vom russischen Kriegsminister gegen- Der Kampf
gezeichneter kaiserlicher Erlaß veröffentlicht worden, der den gegen die
russischen Soldaten der aktiven Armee, der Reserve und desin der Armee.
Landsturms für die Dauer ihrer Dienstzeit den Genuß von
alkoholischen Getränken jeder Art auf das strengste unter-
sagt und allen Vorgesetzten zur Pflicht macht, ihren Untergebenen
mit gutem Beispiel voranzugehen. Es werden daher künftig über
jeden Offizier Listen geführt, die genaue Auskunft darüber geben,
wie er sich zur Frage des Alkoholgenusses stellt. Bei allen dienst-
lichen Verrichtungen ist dem Offizier der Verbrauch geistiger
Getränke auf das strengste untersagt, doch darf in den Offiziers-
speiseanstalten zum Frühstück, Mittag- und Abendessen zu einer vom
betreffenden Kommandeur genau bestimmten Zeit, aber nur gegen
Barzahlung, Alkohol abgegeben werden. Bei Liebesmahlen, an Fest-
tagen und bei anderen Festlichkeiten sollen Regimentsmusiken, Sänger
und Balaleikaspieler nur mit Erlaubnis des Kommandeurs und auf
genau bestimmte Zeit zugelassen werden. Büffetts, an denen alko-
holische Getränke verkauft werden, dürfen von Privatunternehmern
nicht unterhalten werden. Mit zwei Drittel Stimmenmehrheit kann
jedes Offizierkorps den Verkauf alkoholischer Getränke in der Speise-
anstalt ganz verbieten, worüber dem Generalkommando zu berichten
ist. Konsumvereine der Offiziere dürfen Spirituosen auf Kredit nicht
verkaufen. Nebenstellen dieser Konsumvereine ist der Verkauf geistiger
Getränke überhaupt verboten.
Die Kommandeure haben mit Hilfe der Geistlichkeit Nüchtern-
heitsgesellschaften zu organisieren, für die die geistliche Obrigkeit
Statuten ausarbeiten wird. Die Regimentsärzte sind verpflichtet,
mindestens zweimal jährlich im Offizierkorps Vorträge über die
Schädlichkeit des Alkohols zu halten, und die Regimentspopen werden
dieselben Fragen vom religiösen Standpunkt aus behandeln. In jedem
Standort wird alljährlich bekanntgegeben, welche Gasthäuser und
Vergnügungslokale von Offizieren besucht werden dürfen. Alle diese
Bestimmungen gelten auch für die Militärärzte und die Geistlichen.
194 Umschau: Rußland.
Um die Offiziere zu veranlassen, sich des Alkohols zu enthalten,
werden die Vorgesetzten bemüht sein, der Geselligkeit einen familien-
haften Charakter zu geben, für Bibliotheken, Vorträge, Gymnastik
und sportliche Veranstaltungen aller Art Sorge zu tragen, das Lernen
fremder Sprachen und der Musik zu fördern sowie den Besuch der
städtischen Theater zu erleichtern. Es wird verboten, Gemeine in
Lokale zu schicken, um Spirituosen zu kaufen; wer von den Mann-
schaften wegen Alkoholgenusses bestraft worden ist, kann weder
Unteroffizier noch Gefreiter werden. Über solche, die in nicht
nüchternem Zustande betroffen wurden, werden Listen geführt, sie
werden ständig beaufsichtigt, erhalten keinen Urlaub und werden von
den Geistlichen vermahnt. Ihren Angehörigen wird mitgeteilt, daß
ihnen kein Geld geschickt werden darf; trotzdem erfolgende Geld-
sendungen sollen in Sparkassenbüchern angelegt werden und dürfen
nur mit Genehmigung des betreffenden Chefs ausgegeben werden.
Vorgesetzte und Geistlichkeit sind verpflichtet, die Soldaten mit allen
Mitteln in die Regimentsnüchternheitsvereine zu ziehen und durch
Ermahnungen namentlich auf die Neueintretenden und auf die Aus-
scheidenden einzuwirken.
Beförderungs- Nach den Beförderungsbestimmungen vom Jahre 1912 (s. April-
übersicht. ymschau 1915) finden die Beförderungen zu Stabsoffizieren der
Armeeinfanterie zweimal im Jahre, im Frühjahr und Herbst, statt.
Demgemäß sind am letzten allgemeinen Beförderungstage, dem
19. Mai 1914, bei der Armeeinfanterie 289 Hauptleute zu Oberst-
leutnants und 128 Oberstleutnants zu Obersten befördert worden.
Welch außerordentliche Verschiedenheiten hinsichtlich des Dienst-
und Lebensalters bei den Beförderten bestehen, ist aus folgenden
Tabellen ersichtlich.
I. Obersten 1e Qperst-
a) Es haben eine Offiziersdienst-
zeit hinter sich:
von 17—18 Jahren . 2 4
„ 18-19 „ 2 3
„ 19—20 , — 4
„ 20—21 , 3 3
„n 21—22? „ 10 7
n„ 22—23 ,„ l 13
„ 23—24 „ 4 22
n„ 24—25 „ 2 30
n„ 25—26 „ 10 43
Übertrag: 34 129
Umschau: Rußland.
Übertrag: 34
von 26—27 Jahren. .. 14
„ 21—28 „ 12
„ 28—29 „ 13
„ 29—30 , 18
„ 31-31 , 12
x Wl-32 5; 14
„ 32—33 „ 4
„n 33—34 „ 6
über 34 , 1
128
b) Vorhergegangene Dienstzeit als:
Oberstleutnant
von 3— 4 Jahren . 16
„ 4-5 „ 52
„5-6 , 14
„ 6—7 , 9
„ 1—8 , 7
„ 8-9 . 24
„ 9—10 , 6
„ 10-1 , —
” 11—12 n En.
„ 12—13 5 —
” 13—14 ” nep
128
c) Es führten ein Bataillion:
unter 2 Jahren . 31
von 2—3 „ 26
„ 3—4 „ 36
„ 4—5 , 11
»„» 5—6 , 14
„ 6—17 , 7
„» 1—8 , 2
„ 8—9 „ 1
„ 9—10 , —
„10-11 , —
„n 11—12 , —
„ 12—13 , —
„ 13—14 , —
Ne; | m DD m al CC
DD
D
Hauptmann
289
195
Der Nach-
tragskredit fü
die Schwarze- V
196
Umschau:. Rußland.
d) Es standen im Lebensalter:
von 36—37 Jahren .
n
7
3 ss 33 s82 3 ss 3 333 3 3 3
Die
37—38
38—39
39—40
40—41
41—42
42—43
43—44
44—45
45—46
46—47
41—48
48—49
49—50
50—51
51—52
52—53
53—54
. 54—55
3 3 3 3 3 3 3
3 3 3 3 3 33 3 3 3 3
Sch.
Landesverteidigungskommission der Duma hat ,Nowoje
Meer-Flotte. Schwarze-Meer-Flotte bewilligt.
Die Verhandlungen, die der vorgenannten Bewilligung voran-
Armierung der
gingen, verzögerten sich etwas durch Meinungsverschiedenheiten, be-
treffend die Armierung der ‚Imp. Jelisaweta“, des vierten Linien-
künftigen
Linienschiffe.
Neue
Ingenieur-
schule.
Pionier-
technische
Vorschrift.
Ergänzung
des unteren
Eisenbahn-
remja* zufolge, einen Nachtragskredit von 200 000000 M. für die
schiffes der 1. Division des ersten Geschwaders. Dasselbe sollte gleich
den anderen drei Schiffen der „Imp. Alexander III“-Klasse 30 cm-K.
Die Kommission willigte endlich, der Einheitlichkeit der
Bewaffnung halber, hierein ein, bestand aber darauf, daß die folgenden
Schiffe, also die der 2. Division des ersten Geschwaders, mit 35 oder
37,5 cm-K armiert würden.
Die Duma hat die Mittel für Bau und Einrichtung einer zweiten
erhalten.
Ingenieurschule bewilligt.
W.
Am 14. März ist eine neue „Vorschrift für die Spezialausbildung
der Ingenieurtruppen“ (Brücken und Übergänge) in Kraft getreten.
Nach einem Erlaß des Chefs der Verwaltung der Eisenbahnen’
sollen die Stellen des unteren Eisenbahnpersonals, soweit sie keine
personals. besondere technische Vor- und Ausbildung erfordern, ausschließlich
Umschau: Rußland, Spanien, Vereinigte Staaten. 197
derjenigen der Heizer, Weichensteller, Schaffner usw., hauptsächlich
mit Reservisten besetzt werden. Diese müssen sich im Besitz eines
bei der Entlassung von ihrem Vorgesetzten ausgestellten, auf vier
Jahre gültigen Empfehlungsscheines befinden.
Auf einer Anzahl von Inseln im Finnischen Meerbusen sollenBefestigungen
neue Befestigungsanlagen entstehen, die diesen im Kriegsfalle vollständig!” Finnischen
sperren sollen. Die Befestigungen, die den Namen Peters des Großen
führen werden, ziehen sich auf der finnischen Seite von Hangö aus
nach Osten und finden ihre Fortsetzung in den Werken von Sveaborg,
den Mittelpunkt bildet eine bei Hermansö geplante Flottenstation.
Auf der Südseite des Meerbusens soll die Insel Nargö vor Reval den
Schlüsselpunkt der Befestigungen bilden; die Einwohner dieser Insel
sollen bereits zur Räumung derselben verständigt worden sein. A.
Spanien.
Durch eine Verfügung vom 23. Mai d. J. wurde bestimmt, daß Anderung
das Metall des „D-Ringes“ bei den Armstrong-Kanonen durch Nickel- m.
stahl und bei den Vickers-Kanonen durch Chromnickelstahl ersetzt
wird. Dem Anschein nach ist diese Verfügung auf den Unfall mit
einem von Vickers gelieferten 30,5 em-Rohr zurückzuführen. Die
Spanische Schiffbaugesellschaft hatte sich im Einvernehmen mit den
Bürgschaftsfirmen bereits im April bereit erklärt, gewisse Änderungen
an den 30,5 cm-K. für ‚Jaime I“ einer Verfügung vom
12. Februar d. J. entsprechend auszuführen. Die erstgenannte
neue Verfügung betont ausdrücklich, daß die neue Änderung ohne
Verminderung der technischen Bürgschaft und ohne Preiserhöhung
auszuführen sei, da es sich um einen Fall handle, der in dem mit
der Gesellschaft abgeschlossenen Vertrage vorgesehen sei. Vgl. hierzu
die Aprilumschau d. J. W.
Vereinigte Staaten.
Über die Arbeiten der Board of Ordnance and Fortification des
Kriegsdepartements bis zum 31. Oktober 1913 ist folgendes zu be-
richten:
Bei den angestellten Versuchen erwies sich als eine der aussichts- Halb-
reichsten Konstruktionen die von Franklin K. Young. Da der Bee
finder nicht in der Lage war, seine Konstruktionen auszuführen.
wurden Ende März 1913 6300 M. für die Herstellung eines Versuchs-
gewehres bewilligt, das bei Springfield Armory in Arbeit ist.
Der 1912 bewilligte „Baar- and Stroud-Entfernungsmesser“ für Entfernungs-
Feldartillerie ist noch im Versuch beim Feldartill.-Board.
. n a a rrF ue F..
198 Umschau: Vereinigte Staaten.
Ein „Bausch- und Lomb-Entfernungsmesser* der optischen Firma
gleichen Namens war vor mehreren Jahren von dieser bezogen und
in Fort Monroe vom Küstenartillerie-Board geprüft worden. Auf
Ansuchen der Firma und auf den Bericht des Board hin wurden der
ersteren 12000 M. zugebilligt.
Scheinwerfer. 1906/07 waren Mittel für Entwickelung eines Scheinwerfers be-
willigt worden, der sich nunmehr beim Feldart.-Board im Versuch
befindet.
Für die Konstruktion eines Scheinwerfer-Kontrollers des Kapt.
Waldron waren 1912 3150 M. bewilligt worden. Da es nicht gelang.
einen entsprechenden hydraulischen Motor zu erlangen, wurde die
Herstellung aufgegeben und wurden 2850 M. der bewilligten Summe
erspart.
Deport- Mit einem angekauften Deport-Geschütz mit spreizbaren Lafetten-
Feldlafette. balken hat das Ordnance Department Versuche gemacht und ist
daraufhin in die Konstruktion einer neuen Lafette eingetreten, für
die der spreizbare Schwanz „and other features of the Deport
system“ übernommen wurden.
Deport-Vor- Versuche mit der Deport-Vorlaufgebirgskanone fielen unbefriedigend
laufkanone. aus; das Geschütz wurde den Herstellern zurückgesandt.
7,5 em- Im Februar 1913 wurden 10500 Dollar zum Ankauf eines
a Kruppschen 7,5 cm-M.-W. neuester Konstruktion bewilligt, um Ver-
“ gleichsversuche mit amerikanischen Konstruktionen anzustellen. Die
Bestellung ist auch erfolgt.
Bewegliche Die mit beweglichen Scheiben angestellten Versuche haben zur
a Annahme ihrer Hauptkonstruktionsmerkmale geführt; das Ordnance
Department ist jetzt mit der Ausarbeitung ähnlicher Scheiben be-
schäftigt.
Fontana-Mast. Das Feldart.-Board hat ungünstig über die Erprobung des mit
15000 M. angekauften Fontana-Mastes berichtet, der nunmehr zur
weiteren Erprobung an die Feldartillerieschießschule in Fort Sill ab-
gegeben worden ist.
Stereoskop- Bei der Firma Goerz(Friedenau) wurde für 1050 M. ein Stereoskop-
en teleskop zu Versuchszwecken beim Küstenartillerie-Board bestellt.
Schutzdächer Wie die Umschau im Januar 1913 (S. 101) meldete, hat man
u Br durch Schutzdächer aus leichtem Winkeleisen mit schwerem Zeltdach
lafetten. die Verschwindlafetten gegen Vereisung durch Schnee zu schützen
versucht, die sich inzwischen als leicht auf- und abmontierbar er-
wiesen haben. Eine eingehendere Erprobung mußte auf einen geeig-
neteren Winter verschoben werden, da derjenige 1912/13 zu mild
war und zu wenig Schnee brachte.
Literatur. 199
In den Vereinigten Staaten war die Entwickelung des Kraftzuges
im Gegensatz zu Europa bisher auf gewöhnliche Verkehrszwecke be-
schränkt geblieben. 1913 befaßte sich der Board endlich mit der
Ausarbeitung eines Prüfungsplanes für den Kraftzug für Heereszwecke,
wobei besonders die Verwendung für den Zug der Belagerungskanonen
und *der Munitionskolonnen ins Auge gefaßt wurde. Zur Bearbeitung
der Frage war eine Kommission eingesetzt, gebildet aus Feld- und
Küstenartilleristen, Ingenieuren usw. Für die Beschaffung zweier
Schlepper, „der best entwickelten Muster für militärische Zwecke“,
aus dem Ausland, für Versuche usw. wurden im ganzen 46000 M.
bewilligt.
Im Februar 1913 wurden Versuche mit Flugzeugpanzern zum
Schutz gegen die Geschosse von Handfeuerwaffen eingeleitet. Es soll
vor allem die Mindeststärke und die Art der Panzerung festgestellt
werden. W.
Literatur.
I. Bücher.
Gneisenau. Von W. v. Unger, Generalleutnant z. D. Berlin 1914.
E. S. Mittler & Sohn, Kochstraße 68/71.
Dieses ausgezeichnete Buch habe ich absichtlich nicht früher be-
besprochen. Das Schrifttum über die Befreiungskriege und die
führenden Männer jener Zeil war so stark angewachsen, daß eine ge-
wisse Ermüdung der Leserwelt nicht ausbleiben konnte, „Gneisenau“,
von General v. Unger, erhebt sich aber so über den Durchschnitt
dieses Schrifttums, daß das Werk beanspruchen kann, in Ruhe ge-
lesen zu werden. Dieses Lesen ist außerdem ein Genuß für den
Soldaten sowohl als für den Vaterlandsfreund. Aber auch Beherzigens-
wertes enthält es für den, der nicht ohne ernste Sorge die Ent-
wickelung unseres inneren wie öffentlichen Lebens verfolgt, dessen
Erscheinungen doch hie und da an die Zeiten vor 1806 erinnern, in
denen Genußsucht, Verweichlichung, Weltbürgertum und nicht zuletzt
eine unentschlossene äußere Politik den stolzen Staat Friedrichs des
Großen gar nicht wiedererkennen ließen.
Man glaubte mit „Systemen“, Versteifen auf „Tradition* und
schöner Friedfertigkeit die groben Wirklichkeiten dieser Welt über-
winden zu können, bis ein furchtbares Erwachen auf den Schlacht-
feldern erfolgte. Man glaubte immer wieder, das Heer und die Siege
Kraftzug.
Panzer für
Flugzeuge.
200 Literatur.
Friedrichs des Großen ausspielen zu können gegenüber den Mahnern
und Warnern. Ähhnlich wie das heutzutage geschieht mit dem
Pochen auf 1870/71, obgleich sich die politischen wie die militärischen
Verhältnisse gegen damals teilweise verschoben haben und nicht
zu unseren Gunsten! Dem vorliegenden Werke verleiht die Offenheit
in der Wiedergabe von Äußerungen Gneisenaus über Menschen, und
Einrichtungen seiner Zeit ohne Ansehen der Person besonderen, ich
möchte sagen, dokumentaren Wert: Greifen Sie um sich, mein Freund,
blindlings in Ihre Nähe, und Sie werden immer zehn Egoisten oder
Spitzbuben greifen gegen einen ehrlichen, kraftvollen Mann. (1809.)
Kraftvolle Menschen, die nicht von des Gedankens Blässe an-
gekränkelt sind und die über das Wägen nicht zum Wagen kommen,
die sind bei uns heutzutage auch nicht gerade im Überfluß vorhanden.
Alle Kapitel des Buches sind in ihrer Art interessant,” denn
der Werdegang großer Menschen bietet immer psychologischen
Reiz, aber als das Fesselndste erscheint mir das Kapitel. „Mit
Scharnhorst und Stein 1807—1809“. Man bekommt da einen Ein-
blick in die Seelenarbeit, in die Gedankenarbeit der drei Männer,
die in erster Linie 1813 politisch, militärisch und völkisch vorbereiten
halfen. „Man müsse das ganze Volk zu Soldaten machen und ihm
schon im Frieden militärischen Geist einflößen“ (Gneisenau 1808). Wie
sieht es denn heute mit diesen Forderungen aus? Die allgemeine
Wehrpflicht ist immer noch nicht durchgeführt, denn im vorigen Jahre
sind 40000 taugliche Wehrpflichtige nicht eingestellt worden. Und
was die Anerziehung „militärischen Geistes im Frieden“ angeht, so
ist man ja bei uns nicht nur auf das ängstlichste bemüht, ihn von
der Jugend fernzuhalten, sondern auch die freiwillige Jugendpflege
bewegt sich — abgesehen von kleinen Ausnahmen — in demselben
Geleise.
Ein Prachtstück soldatischen Freimutes und hohen Geistes-
schwunges ist die Denkschrift Gneisenaus vom 8. August 1811, die dem
König vorgelegt wurde: „Euere Majestät werden mir, wenn ich
dies schreibe, abermals Poesie schuld geben. Religion, Gebet, Liebe
zum Vaterland, zum Regenten, zur Tugend sind auch nichts anderes
als Poesie. Keine Herzenserhebung ohne sie. Wer nur nach kalter
Berechnung seine Handlungen regelt, wird ein starrer Egoist.
Auf Poesie ist die Sicherheit der Throne gegründet.“
Es ist der Schwung der Seele, in Verbindung mit dem Willen
zur Tat gewesen, die jene Männer zu Rettern und Führern ihres
Volkes gemacht haben, und nicht die „Ruhe“, nicht die „Korrekt-
heit“, die von der Mittelmäßigkeit so gerne als Deckung vorgeschoben
werden für Unentschlossenheit und Tatenlosigkeit. Diese Lehren
sind mit Riesenlettern in die Geschichte der Jahre 1806—1815 ein-
geschrieben, sie finden sich in der preußisch-deutschen Geschichte
von 1862 bis 1870, und sie sollten der gegenwärtigen Generation wieder
voranleuchten, dazu fordert der Ernst der Zeiten gebieterisch auf,
Literatur. 201
„Gneisenau“ in der Darstellung des Generals v. Unger ist deshalb
auch eine historische Mahnung und er schließt sein vertieftes, nach
jeder Richtung wohlgelungenes Buch aus ehrlichem Idealismus heraus
mit den Worten Gneisenaus, die er einst seinem König zurief: „Der
Mensch muß für eine Idee begeistert sein, wenn er etwas Großes
leisten soll.“ Keim.
Der Balkankrieg 1912. Von A. Meyer, Major beim Stabe Kgl. Sächs.
3. Inf.-Regts. Nr. 102. Unter Benutzung zuverlässiger Quellen
kulturgeschichtlich und militärisch dargestellt. III. Teil. 1 Über-
sichtskarte und 11 Kartenskizzen. Berlin 1914. Vossische Buch-
handlung. Preis 4,50 M.
Übersichtlich, klar und alle Ereignisse von einem hohen Stand-
punkte aus beurteilend sind die Operationen der serbischen, monte-
negrinischen und griechischen Armee im Herbstfeldzuge 1912 dar-
gestellt. Am schärfsten tritt es in diesem Hefte zutage, wie politisch
vorzüglich der Feldzug vorbereitet war, wie es eine Glanzleistung ersten
Ranges gewesen ist, die vielfach widerstreitenden Interessen, ja den
oft zu schauderhaften Greueln sich versteigenden gegenseitigen Haß
der Völker der Balkanhalbinsei unter dem einen großen Gesichtspunkt
des Entscheidungskampfes gegen den alten Erbfeind zeitweise zum
Schweigen zu bringen. Hier hat der nationale Gedanke ein Wunder
getan, das sich Millionen und Abermillionen gerade unter uns Deutschen
zum Beispiel nehmen sollten!
Der Balkankrieg bietet schon jetzt eine Fülle von Belehrung über
die Beziehungen zwischen Krieg und Politik und wird deren noch
viel mehr bieten, wenn erst einmal durch offizielle Berichterstattung
und Geschichtsschreibung die Fäden dieses überaus kunstreichen
Gewebes des Balkanbundes zu Vieren aufgedeckt werden sollten.
Aber nicht nur politisch, auch rein militärisch hatte der Balkan-
bund große Erfolge. Was aber das Zusammenwirken der verbündeten
Heere angeht, so konnte wohl mehr geleistet werden. Moltke hat
recht, wenn er von den einzelnen Mitgliedern einer Koalition nicht
mehr erwartet, als was dem sSonderinteresse eines jeden einzelnen
entspricht.
So werden von den Serben erst nach dem Siege von Kumanowo
Truppen zur Hauptentscheidung nach Thrazien, anderseits aber aus
rein politischen Gründen Truppen nach der Adria geschickt, der
Zugang zur Blauen Adria war den Serben wichtiger als das Fallen
Konstantinopels.
Aus der Menge der kritiklos in die Welt hineingeworfenen Nach-
richten, bei denen aus naheliegenden Gründen die Nebenoperationen
fast immer besser fortkommen als die im verborgenen vorbereiteten
Hauptaktionen, ist es dem Verfasser durch gründliche, aber sehr zeit-
raubende Siebarbeit gelungen, die Hauptoperationen klar und lehr-
202 Literatur.
reich darzustellen, den Nebendingen nur eine solche Bedeutung bei-
zumessen, als dringend erforderlich war.
Ganz unverkennbar neigte Serbien (selbst als noch die türkische
Vardar-Armee im Felde stand) zur Einleitung von Nebenoperationen-
die zwar durchgehends, wie der Marsch zur Adria (S. 232), der
Raid auf Saloniki (S. 238) und der Einfall in das Sandschak (S. 230),
taktisch gut durchgeführt waren, aber die Gefahr politischer Ver-
wickelungen mit Österreich hervorriefen. Militärisch hätte es genügt,
wenn nur einer der Verbündeten Saloniki nahm, aber sie gönnten es
sich gegenseitig nicht. Die Abzweigung der türkischen Redifdivision
Kirdzali war sehr wirksam, wenn sie schnell gegen die Bahn Philip-
popel—Harmanli vorging und sie unterbrach. Dann konnte sie das
Schicksal des thrazischen Feldzuges ganz gewaltig anders gestalten.
Eine gründliche Unterbrechung dieser Bahn an mehreren Stellen
mußte den Bulgaren mindestens eine Woche kosten, wenn sie zu
Beginn der Mobilmachung geschah! Jedenfalls hat sie aber eine drei-
fache Überlegenheit gefesselt,
Der Feldzug hat durchaus den Charakter eines Gebirgskrieges,
er bestätigt die alte Lehre, daß das Kräfteverhältnis von viel ge-
ringerer Bedeutung ist als die Macht der Persönlichkeit, der Wille
zum Angriff, man kann fast sagen, daß derjenige von vornherein ver-
liert, der nicht angreift. Und weiter zeigt die Kriegsgeschichte, daß
das einzig sichere Mittel, ein gebirgiges Land zu unterwerfen, darin
besteht, von allen Seiten zugleich mit großer Überlegenheit ein-
zurücken, die Märsche in den Tälern und über die sie begleitenden
Höhen zugleich auszuführen und überall rücksichtslos anzugreifen,
wo man Widerstand trifft.
Dieses alles war hier den Verbündeten in geradezu idealer Weise
möglich: sie konnten von allen Seiten zugleich einrücken, sie hatten
die große Überlegenheit, sie griffen aberall an, und wo dies die Türken
ihrerseits taten, war die Leistungsfähigkeit ihrer Truppen zu gering,
um Erfolg zu haben. Besonders war dieses bei den Griechen der
Fall, in breiter Front angefaßt, erlahmte der türkische Widerstand
sehr bald, die Überzahl, die in den einzelnen Kolonnen doch nicht
eingesetzt werden konnte, spielte hierbei eine geringe Rolle.
Politische Eifersüchtelei und die Schwierigkeiten des Gebirges
haben bei Kumanowo sichtlich das Zusammenwirken der I. und
Ill. Armee verhindert (S. 184), auf Einfluß des Gebirges schiebe ich
auch das Versagen der serbischen Heereskavallerie. Charakteristisch
für den Gebirgskrieg ist es auch, daß die Türken bei ihren Rückzugs-
gefechten — Kuraula Prisat, Alince, Kröova — immer ohne ernstliche
Niederlage davonkommen, Die Einnahme dieser Rückzugsstellungen
verlangt immer viel Zeit im Verhältnis zu ihrem Wert. Es ist in
solchen Lagen immer nötig, von Anfang mit Teilen auch parallel der
eigentlichen Hauptvormarschstraße, nicht nur auf dieser vorzugehen,
denn wenn man in einer Kolonne auf den Feind stößt, müssen stets
Literatur. 203
sehr zeitraubende Bewegungen aus dem Tal nach den Höhen gemacht
werden, um die Flügel des Gegners zu fassen.
Von Interesse ist die Schlacht von Kumanowo als gewollter
Übergang aus der Verteidigung zum Angriff (S. 183), ob das Vor-
schieben einer türkischen Truppe nach dem Rujan planina (S. 156, S.186)
im Sinne einer Heeresvorhut beabsichtigt gewesen ist, muß dahin-
gestellt bleiben, mir scheint es mehr eine Grenzschutzabteilung ge-
wesen zu sein. Wie diese auch gestützt auf das Gelände ein volles
Eingreifen der II. und Ill. Armee am Schlachttage verhindert haben.
Monastir ist als beiderseitige Umfassungsschlacht von den
Serben geplant, die hier ein Cannä schlagen konnten, man zögerte
aber anfänglich, zwischen den beiden Morawadivisionen eine Lücke
zu lassen, die sich später von selbst schließen mußte und die bei der
Geländegestaltung auch ganz unbedenklich war. Die Auflösung der
türkischen Armee war derart, das eine Verfolgung, die bei Kumanowo
vermißt wurde, hier bei der völligen Auflösung des türkischen Heeres
nicht nötig war.
Von Einzelheiten möchte ich nennen die geschickte Ausnutzung
des Morgennebels durch die Serben am Morgen des 24. Oktobers
(S. 161, 187) für das Vorgehen zum Angriff, sodann den kräftigen
Gebrauch erwähnen, der vom Spaten gemacht wurde. Besonders
wird die Tätigkeit der Artillerie gerühmt, wenn auch die schwere
Artillerie vermutlich wegen nicht völliger Beherrschung des Schieß-
verfahrens nicht die erwartete Rolle gespielt hat. Gebirgsgeschütze
haben häufig den Infanterieangrifi begleitet.
Die vorstehenden Ausführungen beweisen, daß wir in diesem
Buche den ersten wirklich brauchbaren Versuch vor uns haben, die
Lehren des Krieges praktisch zu prüfen und für die eigene Schulung
nutzbar zu machen. Die maßvolle Art der Kritik verdient wärmste
Anerkennung. Die gründliche Arbeit des Herrn Verfassers ist mili-
tärisch und politisch die beste Schrift über den Balkankrieg.
Balck.
Essai sur la doctrine stratégique allemande d’après la bataille de
Cannes par le feldmaréchal de Schlieffen. Capitaine M. Daille.
Paris. Berger-Levrault. Preis 2 Frs.
Von den gesammelten Schriften des Grafen Schlieffen hat die
Studie Cannä ein besonderes Aufsehen erregt, weil man in ihnen den
Niederschlag der strategischen Anschauungen des langjährigen preußi-
schen Generalstabschefs zu erkennen glaubte. Die Studie gipfelt in
dem Gedanken, daß die heutigen politischen Verhältnisse wie die
Massenheere und die Schwierigkeiten ihrer Erhaltung mehr als je
die Notwendigkeit herbeigeführt hätten, mit vernichtenden großen
Schlägen die Feldzüge rasch zu beendigen. Schlieffen begründet unter
Beleuchtung zahlreicher kriegsgeschichtlicher Vorgänge, daß solche
Vernichtungsschlachten nur durch große Umfassungen zu erzielen
wären,
204 Literatur.
Ob dies allgemein eine deutsche Doktrin oder die Ansicht,
wenn schon eine autoritative, eines verstorbenen preußischen General-
stabschefs ist, kann dahingestellt bleiben.
In Frankreich neigt man mehr der Ansicht zu, daß der strate-
gische Durchbruch ein erfolgreicheres, sicheres Mittel zum Siege
wäre, und will diese Auffassung in dem Verfahren Napoleons und den
glänzenden Erfolgen seiner Feldherrnlaufbahn bestätigt finden.
Der Hauptmann Daille hat die Schlieffensche Studie auszugs-
weise übersetzt und seine kritischen Bemerkungen eingeflochten. Er
kommt fast durchweg zu der entgegengesetzten Auffassung von
Schlieffen. Vor allem wird die von Schlieffen in ein glänzendes Licht
gerückte Strategie Moltkes bemängelt, sein Verfahren 1866 wie der
Aufmarsch 1870 getadelt. Die Erfolge wären lediglich auf die Un-
fähigkeit der Gegner, 1866 auf die überlegene Bewaffnung der Preußen
mit dem Zündnadelgewehr zurückzuführen. Daraus leitet Daille den Schluß
ab, daß die Umfassungsstrategie der Deutschen, er meint, daß diese
die eigentliche „Doktrin“ für die Kriegführung im großen wäre,
fehlerhaft und zu verwerfen sei.
Die Broschüre gewinnt dadurch noch an Bedeutung, daß der
General Ruffey, ein Mitglied des Obersten Kriegsrats, also im Kriegs-
fall vermutlich zur Führung einer Armee berufen, mit einer Vorrede
diese Untersuchungen eingeleitet hat. Ruffey teilt die Ansichten
Dailles. Das Gesamturteil über die Schlieffenschen Ansichten ist ab-
fällig. Namentlich alle diejenigen unserer Leser, die „Cannä“* gründ-
lich studiert haben, werden an dieser Broschüre Interesse finden.
Es ist immer von Nutzen, so große und wichtige Fragen von mehreren
Seiten zu betrachten. |
Es würde von Interesse sein, wenn sich maßgebende französische
Ansichten auch über Schlieffens großangelegte Studie „1813, in der
untersucht wird, warum dieser Feldzug der mangelhafteste in dem
Feldherrntum des großen Korsen ist, in der Öffentlichkeit vernehmen
ließen. —|.
Praktische Winke für die Ausbildung des Infanterie-Rekruten.
In zwölf Wochenzetteln für den Rekrutenoffizier nach den
Dienstvorschriften. Zusammengestellt von Major W. Rücker.
Dritte, völlig umgearbeitete Auflage. Berlin 1914, E. S. Mittler
& Sohn.
Sowohl in den ersten allgemeinen Teil als auch in die Wochen-
zettel sind recht gute Bemerkungen eingeflochten, die die jungen
Offiziere hoffentlich beachten werden. Dadurch wird den Wochen-
zetieln die trockene Art der Aufzählung der einzelnen Übungen ge-
nommen, wie das sonst vielfach üblich ist. Verfasser betont immer
wieder, daß der Mann nicht nur gedrillt, sondern vor allen Dingen
erzogen werden muß, ein Satz, der in der heutigen Zeit gar nicht
genug gewürdigt werden kann.
Literatur. 205
Das Büchlein wird den modernen Anforderungen an die Aus-
bildung möglichst gerecht und kann nur empfohlen werden. —Hf.
Der Verpflegungsoffizier.. Sein Dienst im Felde, sein Vorbildung
im Frieden und die Verwendung der Feldküchen. Von
v. Francois, Generalleutnant, Allerhöchst beauftragt mit derFührung
des I. Armeekorps. Vierte, auf Grund der neuesten Bestimmungen
umgearbeitete und vermehrte Auflage. Berlin 1914. E. S. Mittler
& Sohn.
Diese schon in vierter Auflage erschienene Schrift hilft einem
fühlbaren Bedürfnis ab. Viele Persönlichkeiten, die die Verpflegungs-
offiziere für ihre Tätigkeit im Mobilmachungsfall vorbereiten sollten,
sind bis dahin gewiß oft in Verlegenheit gewesen, wie sie ihrer Auf-
gabe gerecht werden sollten. Das ist mit dieser Abhandlung anders
geworden, hier finden sie alles, was auf den Verpflegungsoffzier und
die ihm in erster Linie unterstellten Feldküchen Bezug hat, klar und
übersichtlich zusammengestellt. Es wäre nur zu empfehlen, daß die
betreffenden Herrn bei der Vorbereitung nicht einfach die Schrift
durchgehen, sondern in derselben Weise, wie es Verfasser in seinem
Werk „Feldverpflegungsdienst bei den höheren Kommandobehörden*
macht, an der Hand einer einfachen Kriegslage die Bestimmungen usw.
erläutern. —t.
Bataillons-, Regiments- und Brigadeübungen und Besichtigungen
der Infanterie in praktischen Beispielen. Ein Beitrag zur kriegs-
mäßigen Ausbildung, Besichtigung und Verwendung der In-
fanterie im Gefecht, Aus der Praxis für die Praxis, von Lie-
bach, Generalleutnant z. D. Mit 5 Karten. Berlin 1914. Voss.
Buchhandlung.
Diese Schrift ist im Grunde genommen ein sogenannter „fauler
Knecht“ für Bataillons-, Regiments-, Brigade- und Divisionskomman-
deure. Wenn man bei den Bataillonskommandeuren vielleicht zugeben.
kann, daß hier und da ausreichende Erfahrung fehlt, um lehrreiche
Übungen vorzubereiten, so daß ihnen Hilfe willkommen sein wird, so
muß man bei den höheren Stellungen doch wohl annehmen, daß sie
von Persönlichkeiten besetzt sind, deren langjährige Dienstzeit sie in
den Stand setzt, aus eigener Kraft Gefechtsübungen oder Aufgaben
für Besichtigungen anzulegen, an denen die unterstellten Führer-
und Truppen lernen können,
Gemäß seiner in der „Bataillonsführung“ ausgesprochenen Ane
sicht, daß vor einem Übungstage den Unterführern bekanntgegeben
werden soll, welche Nummern des Exerzierreglements in Frage kommen
werden, hat Verfasser auch hier jedem Übungstage die betreffenden
Nummern und die zu übende dGefechtsart als Überschrift voran-
gesetz. Wie schon dort müssen wir uns auch hier dagegen aus-.
sprechen. Wer von diesen Gefechtsaufgaben Nutzen e will,
Jahrbücher für die deutsehe Armee und Marine. Nr. 518.
206 Literatur.
arbeitet sie durch. Wenn er aber jedesmal sieht, welcher Art die
Lösung sein wird, so ist er von Anfang an voreingenommen.
Zum Durcharbeiten genügen die beigegebenen Krokis nicht.
Ganz abgesehen davon, daß Gefechtsaufgaben nach der Karte 1: 100000
gegeben werden sollen, ist die Geländedarstellung so wenig aus-
geführt, daß nur derjenige sachgemäßige Lösungen finden wird, dem
das Gelände aus eigener Anschaung bekannt ist. Dadurch wird aber
zu leicht eine Truppenübungsplatztaktik hervorgerufen, von der sich
auch einige Aufgaben des Verfassers nicht freigemacht haben.
Bei den meisten Aufgaben, die das Bataillon usw. in höherem
Verbande auftreten lassen, ist nur ganz allgemein gesagt, es solle
dies oder das tun, anstatt den Befehl des Vorgesetzten im Wortlaut
anzuführen, was kriegsgemäßer wäre. ‘Hierdurch wäre auch eine
Anzahl Unterlassungen vermieden worden, wie z. B. Zeitangabe, wann
der Feind von der gemeldeten Stelle eintrifft, die jetzt nur durch
Fragen des Beauftragten, bei der Lösung in der Stabe aber gar nicht
geklärt werden können. `-
Die Maschinengewehre grundsätzlich von inane an in erster
Linie zu verwenden, wie es Verfasser in seinen Befehlen tut, halten
wir nicht dem Zweck dieser Waffe entsprechend.: Dadurch gibt der
Führer die beste Handhabe zur Einwirkung auf den Gang des Ge-
fechts sofort aus der Hand. Ob außerdem ein Munitionsersatz möglich
sein wird, wie ihn ein so frühes Einsetzen der Maschinengewehre
erfordert, ist sehr fraglich, er kann höchstens au Kosten der übrigen
Infanterie stattfinden.
Verfasser 'nennt seine Arbeit: einen < Beitrag zur kriegsmäßigen
Ausbildung, Besichtigung und Verwendung der Infanfanterie im Ge-
fecht.“ Unseres Erachtens würde dieser Zweck dadurch besser er-
füllt worden sein, daß unter Beschränkung auf die Truppenübungs-
plätze Gruppe und Metz und unter Beigabe besserer Karten alle Auf-
gaben in der Weise ausgeführt werden, wie Verfasser es leider nur
mit den „Übungen“ der verschiedenen Truppenkörper gemacht hat,
wo nach den einzelnen Lagen auch die betrefferideri "Befehle gegeben
werden. Wer die Aufgaben 'durcharbeitet, kann seine Lösung dann
mit der des- Verfassers‘ vergleichen und sie unter Umständen ver-
bessern. Der Nutzen: würde‘ jedenfalls sehr viel größer sein, -f
a3 L
Ras Reserveinfanterieregiment und: seine Unterabteilungen (Bataillon:
und Kompagnie). Praktische Ratschläge für dié Führer aller Grade
~- . bei den Übungen der Reserveinfanterieregimenter. Von Immanuel,
re. Oberstleutnant beimStabe des Danziger Infanterieregiments Nr. 128.
Berlin 1914. . Verlag der Liebelschen Buchhandlung. - |
t+ Der:'Herr Verfasser ‚sagt im Vorwort, “bei en jetzt häufigeren
Übungen der Reserveregimenter „lag der Gedanke nahe“, kurzgefaßte
Ratschläge: zu :erteilen- und: Grundsätze aufzustellen: ` Dieser 'nahe-'
we Gedanke‘ ist. vor: ihm schon ` 'von ı 'mehreren 'Seiten ‚ausgeführt
Br 5 % Tal... rei yon
Literatur. 207
worden, und zwar in einer dem Zweck besser nn Weise,
als es hier geschieht.
Die vorliegende Abhandlung bietet neben einigem. ' Guten viel
Überflüssiges und unnütze Wiederholungen. Verfasser hält sich auch
nicht von Widersprüchen fern. Nicht richtig ist, daB dem Bataillons-
führer „vierdurchgebildete Kompagnieführer“ unterstellt sind, wenigstens
ist das nicht überall der Fall, sondern auch Offiziere des Beurlaubten-
standes werden verständigerweise als Kompagnieführer, verwandt.
Und gerade für diese Herren ist das Buch viel zu weitläufig. ge-
schrieben. Wie oft in seinen Werken will Verfasser zuviel bringen,
Der Stil wirkt ermüdend dadurch, daß Verfasser in der Besorgnis,
irgendwo anzustoßen oder sich zu stark ausgedrückt zu haben, in der
nächsten Zeile einschränkt, was in der vorhergehenden ausgesprochen
ist; fast auf jeder Seite finden sich dafür Beispiele. Auf die Hälfte
zusammengefaßt, würde diese Abhandlung brauchbarer geworden sein,
Bataillonsführung im Gefecht. Erläutert von Beispielen an der Hand
des Exerzierreglements für die Infanterie. Oldenburg 1913,
Verlag von Gerhard Stalling.
Der ungenannte Verfasser beabsichtigt. „unter Ausschaltung aller
theoretischen Erörterungen“ in dem Rahmen eines Bataillons durch
Beispiele die Befehlstechnik zu fördern. Er geht von der richtigen
Ansicht aus, daß nur derjenige selten über unrichtige Ausführung
seiner Befehle zu klagen haben wird, der „seinen Entschluß rasch
und gewandt in Befehlsform zu kleiden“ versteht.
In den Beispielen will Verfasser lediglich zeigen, wie man u. a,
befehlen kann. Sie sind gut gewählt, auch den Befehlen können
wir zustimmen bis auf die über Verfolgung und Artillerieschutz, die
weder der Lage noch den vom Verfasser angeführten Ziffern des
Exerzierreglements entsprechen.
Im übrigen erfüllt das kleine Heft infolge seiner Knappheit, Klar-
heit und Übersichtlichkeit seinen Zweck vollkommen. —f.
Die Operationen an den Dardanellen im Balkankrieg 1912/13. Von
Hans Rohde, früher ÖOrdonnanzoffizier im Stabe des Ober-
kommandos auf Gallipoli. Mit 9 Abbildungen auf 8 Tafeln und
3 Kartenbeilagen. Geheftet 4 M., gebunden 5 M. Berlin NW 7,
R. Eisenschmidt,
Der Verfasser, der bereits drei Jahre vor dem Kriege in der
türkischen Armee Dienst getan, fand, da er die türkische Sprache
vollständig beherrscht, als einziger fremder Offizier im Stabe des
Oberkommandos aut Gallipoli Verwendung und ist somit, da jedem
Kriegsberichterstatter der Zutritt zur Halbinsel Gallipoli verwehrt war
der einzige unparteiische Augenzeuge der blutigen Ereignisse ge-
wesen, die sich von Februar bis Mai auf dem Chersonnes abgespielt
15*
208 Literatur,
haben. Die Schilderung der türkischen Offensive nach dem Waffen-
stillstande sowie der Gründe für ihr Mißlingen erfolgt in klarer, über-
sichtlicher Weise und wird durch Krokis, Kriegsgliederungen der an
den Dardanellen versammelten türkischen Truppe und durch Photo-
graphien erläutert. Operativ sind von besonderem Interesse die
Kämpfe, die sich am 8. Februar 1913 hier abspielten. Die 20000 Mann
bei Bulair sollten in der Front die bulgarischen Truppen angreifen,
während gleichzeitig das 35000 Mann starke X. Armeekorps bei
Scharkioi landen und den im Kampf stehenden Bulgaren in den
Rücken fallen sollte. Um 7° früh war Landung und Ausfall ge-
plant, während diesem aber bis zum Mittag ein Erfolg beschieden
war, konnte die Landung erst nach Mittag, d. h. 6 Stunden später,
beginnen, so daß die Bulgaren, begünstigt durch einen starken See-
nebel, die Besatzungstruppe von Gallipoli zum Rückzuge zwingen
konnten, ehe sie sich gegen das Landungskorps wandten. Dieses gut
geplante Zusammenwirken von Land- und Seemacht ist von ganz
besonderem Interesse. Unzureichende Nachrichtenverbindung, die im
Nebel versagte, trug im wesentlichen die Schuld daran, daß das
Unternehmen mißlang. Recht geschickt war die Irreführung der
Presse gewesen. Die Verluste der Ausfalltruppe waren schwer.
Hätte sie nicht aber doch wohl am 9. Februar den Angriff erneuern
können? Versucht mußte es jedenfalls werden, da doch unter dem
Eindrucke der Landung die Stärke der Bulgaren sich mehr und mehr
vor ihrer Front vermindern mußte. Von Interesse sind die Kriegs-
erfahrungen über Sicherheits- und Aufklärungsdienst. Ganz besonders
dankenswert ist der Abschnitt „Lehren und Betrachtungen“ Hier
verweise ich vor allem auf (S. 109), die Mahnung, Schützenlinien nicht
zu dicht zu machen. „Es ist nicht richtig, daß die dünnen Linien
infolge des ihnen entgegenschlagenden Massenfeuers der dichteren
unterliegen müssen. In den Kämpfen bei Bulajir wurde der ent-
gegengesetzte Erfolg erzielt.
Daraus ergibt sich, daß das Gelingen des Angriffs lediglich von
der Möglichkeit der Vorwärtsbewegung abhängt, nicht aber von der
Erringung der Feuerüberlegenheit, da das Nachlassen der feindlichen
Feuerwirkung im Gefecht nur sehr schwer zu erkennen ist. Die
Feuerüberlegenheit wird als vornehmstes Mittel, als eine Vorbedin-
gung für die Möglichkeit des Vorgehens zur Vermeidung unnötiger
Verluste bezeichnet, Der Angriff der türkischen Truppen bei Bulajir
am 8. Februar hat gezeigt, daß die Truppe die größten Aussichten auf
Erfolg hat, die am energischsten und schnellsten den Gegner an-
packt, ohne sich um die Feuerüberlegenheit zu kümmern. Aus
diesem Grunde auch, abgesehen, wenn man dem in der Verteidigung
liegenden Gegner an Zahl unterlegen ist, kein Eingräben, es hemmt
die Angriffskraft, den Drang nach vorwärts in der Truppe.“
Auch ist lehrreich, was über das Vorgehen im Artilleriefeuer
gesagt wird. Den türkischen Batterien war es nicht möglich, der
Literatur. 209
eigenen Infanterie das Vorgehen zu erleichtern, und trotzdem strebte
diese vorwärts, rasch vorwärts, um so der feindlichen Artillerie das
Feuern oder vielmehr Treffen zu erschweren. Türkische Kolonnen,
die in bulgarisches Artilleriefeuer kamen, gingen sofort in gerader
Richtung im Laufschritt in die nächste Dekung, ohne sich vorher in
Züge entwickelt zu haben und ohne jede Bewegung nach der Seite.
Da die bulgarische Artillerie meist streute, so war die Vorwärts-
bewegung im Laufschritt der beste Schutz. „Ich hatte Gelegenheit,
die Wirkung in beiden Fällen zu beobachten. In einem Falle
kommandierte der Kompagniechef einfach nur: „Marsch! Marsch! und
hatte geringe Verluste, während im anderen Falle der mittlere und
letzte Zug halbrechts beziehungsweise halblinks liefen und hierbei
erhebliche Verluste erlitten, denn erstens kamen sie später in Deckung
und zweitens boten sie, wenn auch nur für ganz kurze Zeit drei
Ziele.“ Die Notwendigkeit des schnellen Sammelns und Sicherns
tritt ganz besonders hervor. Das packend geschriebene Buch be-
darf keiner Empfehlung. Es ist das einzige mir bekannt gewordene
Buch, das sich mit den Einzelheiten der niederen Truppenführung
beschäftigt. Balck.
Im Verlage von R. Chapelot, Paris, sind zwei interessante Schriften
über den Zweiten Balkankrieg erschienen, auf die hier bei dem Fehlen
anderen zuverlässigen Materials hingewiesen werden soll. Lt. Col
Boucabeille fügte seinem schon früher besprochenen Werke „La
guerre Turco-balcanique 1912“ einen zweiten Band hinzu: „La Guerre
interbalcanique* (120 S., 2 Karten, Preis 3 Frs.), der, gestützt auf
Zeitungsnachrichten, eingehend die politischen Wirren vor, während
und nach dem Kriege schildert.
Besonderes Interesse verlangt die bulgarische Feldzugseröffnung,
dann die Schlacht an der Bregalnitza, wobei wir darauf hinweisen
müssen, daß dauernd eine Verschiebung der bulgarischen Divisionen
stattgefunden hat. Während die 2. Armee mit etwa 4 Divisionen
nördlich Saloniki in 125 km Ausdehnung die griechische Offensive auf-
halten sollte, hatte die IV. Armee den Frontalkampf gegen die Serben
an der Bregalnitza zu führen, während Ill. und V. Armee gegen die
linke Flanke der Serben vorgehen sollten. Wie so oft im Gebirge,
kam die Offensive der III. und V. Armee zu spät, die 1V. war schon
in vollem Rückzuge und die II. nördlich Saloniki geschlagen, ehe der
rechte Flügel wirksam wurde. Verdienst des Verfassers ist es, aus
den völlig verworrenen Berichten ein klares Bild gewonnen zu haben,
das man als Grundlage für Einzelstudien benutzen kann, die gerade
auf diesem Gebiete besonders interessant sind.
Das Buch von Allain de Pennenrum, an Ort und Stelle ge-
schrieben, „40 jours de guerre dans les Balkans“ (268 S., Preis
3,50 Frs.), bringt gute Beobachtungen mit Kamera und Feder, wenn
auch der Verfasser von einer Parteilichkeit für seine serbischen Gast-
210 Literatur.
freunde nicht ganz freizusprechen ist, in den Kämpfen zwischen Serben
und Bulgaren spiegeln sich schon die Kämpfe zwischen Franzosen
und Deutschen wider. Von Interesse sind seine artilleristischen
Bemerkungen; Bevorzugung des Schrägfeuers aus schweren Kanonen,
geringe Bewertung des Steilfeuers, verdeckt stehende Artillerie ist
nicht niederzukämpfen; Versuche, die feindliche Artillerie nieder-
zukämpfen, sind überhaupt nicht vorgekommen; zur Begleitung des
Infanterieangrifís werden besondere Batterien bis zum Einsetzen in
Reserve gehalten. . Balck.
Les Man@uvres françaises du Sud-Ouest en 1913. Von Gen.
Maitrot. 75 S. Paris. Berger-Levrault. Preis 1 Frs.
Die von einem so hochstehenden Verfasser wie dem General
Maitrot geschriebene Manöverdarstellung verdient wegen ihrer offenen
Kritik Beachtung. Die Gefechtsausbildung der Infanterie genügte in
keiner Weise, während die Marschleistungen auf einem sehr hohen
Standpunkte standen. Nachtgefechte wurden wenig geübt. Die
Kavallerie arbeitete in enger Verbindung mit der lnfanterie, wenn
auch die Artillerie immer Anerkennung fand, so war der Hinweis auf
das Fehlen eines brauchbaren Geschützes für die reitende Artillerie
und die ungenügende Ausstattung der Korps mit schwerer Artillerie
nicht ohne Einfluß auf das Gesamturteil. Die Kritik deckt sich im
ganzen mit den Ausführungen des ungenannten Verfassers im No-
vemberheft 1913 der Jahrbücher. Balck.
Remarques sur la défense de Port Arthur. Par le général C. de
Grandprey mit einem Vorwort von General de Lacroix.
Paris 1913. Berger-Levrault, Preis 4 Frs.
| Die zahlreiche Literatur über die Belagerung von Port Arthur ist
durch dieses aus berufener Feder herrührende Buch bereichert worden.
Von demselben Verfasser erschien bereits 1906 eine Abhandlung über
die Belagerung von Port Arthur, die aber, da sie noch nicht auf
offiziellen Dokumenten basierte, nicht vollkommen sein konnte, wie-
wohl der Verfasser, der beim Ausbruch des Russisch-Japanischen
Krieges Militärattachö in China gewesen, es sich schon damals hat
angelegen sein lassen, seine Forschungen durch Studium an Ort
und Stelle zu vervollständigen. So bildet also dieses neue Buch
lediglich eine Ergänzung und Vervollständigung des früheren, wozu
das inzwischen erschienene russische Generalstabswerk, nächstdem
das Werk „Die Verteidigung von Port Arthur von A. von Schwartz
und Romanowski“, zweier Mitkämpfer in Port Arthur, und nicht
zuletzt die Verhandlungen im Stoeßel-Prozeß eine gediegene Unterlage
geboten haben.
In 20 Kapiteln beleuchtet der Verfasser in sachgemäßer Kritik
nicht nur die Hauptphasen der Belagerung, sondern auch die Kommando-
verhältnisse und die personellen und materiellen Streitkräfte der
Literatur. 211
Festung, sowie besonders wichtige Fragen der Festungsverteidi-
gung, als da sind: vorgeschobene Stellungen, Ablösung der Werk-
besatzungen, gewaltsame Angriffe, Bedeutung des Minenkrieges usw.
Ein Vorwort des bekannten Generals de Lacroix gibt nicht nur in
großen Umrissen einen summarischen Überblick über ‘den Inhalt des
Buches, sondern es bildet gewissermaßen die Unterstreichung der vom
Verfasser ausgesprochenen Ansichten, die sich vielfach mit den in
der deutschen „Anleitung für den Kampf um EOUnESN? gegebenen
Grundsätzen decken.
Die Zweiteilung der Kommandoverhältnisse zwischen Gouverneur
und Truppenbefehlshaber wird als schädlich für die Verteidigung
hervorgehoben, ebenso der Verteidigungsrat als besonders überflüssig
bezeichnet, denn ein tüchtiger, willensstarker und zielbewußter
Gouverneur braucht nicht Rat und Hilfe, ein mittelmäßiger wird nur
seine Schwächen durch Zurateziehen anderer Organe zu bemänteln
suchen; zudem ist bei der Belagerung keine Zeit mehr, zu Rate zu
sitzen, da muß vielmehr gehandelt - werden. Man gebe also der
Festung einen Gouverneur, der nach seinen Fähigkeiten und Charakter-
eigenschaften ausgewählt, mit ‘den Lehren des Festungskampfes
und mit den Verhältnissen seiner une bereits im Frieden vertraut
sein muß.
Bezüglich der Führung des okani aus orgeschobenen Stellungen
werden diese zu nachhaltiger Verteidigung nur dann als besonders
geeignet angesehen, wenn sie im Bereich der E ONEENS der Artillerie
der Hauptkampfstellung liegen.
‚Was die Ablösung der Werkbesatzungen betrifft, S0 wi sie als
durchaus notwendig hingestellt im ‚Hinblick auf die außerordentlichen
Verluste, die im Laufe der Belagerung eintreten. Da aber die Wider-
standskraft eines Werkes davon abhängt, daß die Besatzung mit
seinen örtlichen Verhältnissen und seiner taktischen Aufgabe: vertraut
ist, so wird gefolgert,. daß schor .von vornherein gewissermaßen
mehrere Garnituren von Werkbesatzungen vorhanden sein müssen,
die sich in regelmäßigem Wechsel: in .der Behauptung des Werkes
mit stets gleichbleibender Zähigkeit und Entschlossenheit teilen.
-Den alten Künsten und Ränken. des Belagerungskrieges, den alten
Kampfmitteln, die im Kampf ‘um . Port Arthur zu neuem Leben ge-
führt wurden, ‚wird das Wort geredet und hervorgehoben, daß sie
dazu dienen, einem energischen Verteidiger. einen Zuschuß an. Kraft
zu geben, und. daß sie im Kampf Mann gegen Mahn mit dem Sajoneti
gieichberochtigt sind. . ui Ä 3
- :- Aus. dieser Studie des Generals de Ginder: die außerordentlich‘
viel Interessantes bringt, im. übrigen durch zahlreiche -und gute
Skizzen. erläutert ist,: glaubt: General de Lacroix ‘den Schluß ziehen
zu müssen, daß.in erster Linie Port Arthur sich :nuf soi lange durch‘
die Trefflichkeit ‘seiner. Besatzung halten konnte, demnächst daß die
Wirkung der. modernen. Artillerie die: Anwendung alter. Methoden des:
212 Literatur.
Festungskampfes nicht ausschließt und daß sie geradezu die Anwen-
dung von glatten Mörsern zum Schleudern großer Sprengladungen
(Wurfminen), von Handgranaten usw. gebieterisch fordert. A.
Sechzehnmonatliche Dienstzeit. 1. Teil: Notwendige Reformen.
Von einem deutschen Offizier. Leipzig 1914. Verlag von Karl
Prochaska, Teschen-Wien.
Der in einem österreichischen Verlage anonym schreibende deutsche
Offizier vermag es nicht, im Leser die Überzeugung zu erwecken, daß
die von ihm vorgeschlagene sechzehnmonatliche Durchschnittsdienst-
zeit als ein Gegenzug auf die französische und neuerdings auch die
russische Dienstzeitverlängerung in Frage kommen könne.
Der Verfasser will vier Abstufungen:
für Gruppe 1: (Infanterie, Feld- und Fußartillerie, Maschinengewehr-
schützen, Train) — 16 Monate Dienstzeit;
für Gruppe 2: (Festungsinfanterie und Jäger, Radfahrer) — 19 Monate;
für Gruppe 3: (Pioniere, Meldereiter der reitenden Artillerie und alle
Verkehrstruppen) — 22 Monate;
für Gruppe 4: (Kavallerie, ev. auch Marine) — 28 Monate.
Er begründet dies damit, daß der Soldat die Überzeugung haben
muß, daß er keinen Tag länger als nötig unter den Waffen gehalten
wird. Dabei soll aber die rechtzeitige Entlassung nur bei guter
Führung, ausreichender Ausbildung, vorgelegten Zeugnissen des er-
folgreichen Besuches der Jugendwehren — der Mann muß beim Ein-
tritt schwimmen, turnen, mit einer Ordonnanzwaffe fechten und etwas
schießen können — und der schriftlich eingegangenen Verpflichtung,
sich bestehenden Vereinen der Männerwehr bis zum vollendeten
45. Lebensjahre anzuschließen, erfolgen dürfen.
Die gesetzliche zwei- und dreijährige Dienstzeit soll trotzdem be-
stehen bleiben, damit Leute, die den Anforderungen nicht entsprechen,
länger dienen können. Es ergeben sich hiernach also sechs verschiedene
Dienstzeitlängen!
- Man sieht, es ist viel Theorie in allen diesen Forderungen, die
einmal das ganze Ersatzwesen unendlich komplizieren, subjektive Un-
gerechtigkeiten nicht ausschließen und die Frage anregen würden,
was geschehen soll, wenn ein Mann bereits nach zwölf statt nach
16 Monaten das Ziel erreicht, oder wenn ein anderer derart töricht
ist, daß er auch noch nicht nach zwei und selbst drei Jahren als
vollwertiger Soldat betrachtet werden kann? Dies würde schließlich
zu einer besonderen Dienstpflicht für jeden einzelnen führen und
trotzdem andauernde Beschwerden, Klagen und vielleicht sogar
Prozesse auf die Tagesordnung bringen. |
Die Strömung der Zeit seheint, soweit sie nicht von Doktrinären
sondern: von Realpolitikern getragen wird, weit eher auf eine Verein-
heitlichung der Dienstpflicht und vor allen Dingen eine Verlängerung
hinzudeuten, nachdem die zweijährige Dienstzeit sowohl in Frankreich
Literatur. 213
als auch in Deutschland gezeigt hat, daß auch sie nicht allen an sie
geknüpften Erwartungen entspricht.
Durchaus beizustimmen ist dagegen dem zweiten Grundgedanken,
daß Deutschland in die Lage gebracht werden müsse, im Kriegsfalle
nach der einen Seite sechs Millionen ausgebildeter Soldaten zum
Angriffe vorgehen zu lassen und weitere drei Millionen zur Verteidigung
nach der anderen hin bereitzustellen, ohne auf Landsturm (und zur-
zeit Ersatzreserve) zurückgreifen zu brauchen. Denn Deutschland
kann im Augenblick nur 5175000 Mann gegenüber 5450000 Franzosen
und mehr als 8!/⁄ Millionen Russen aufstellen!
Der Verfasser rechnet ferner mit der Zukunft ab 1916—1934,
während, meines Erachtens nach, fast alles darauf ankommt, möglichst
umgehend die nötigen Maßregeln zu ergreifen. Denn nachdem sich
eine so beträchtliche Überlegenheit, wie augenblicklich, auf seiten
unserer Feinde gebildet hat, kann man nicht mehr mit einer noch
allzu längeren Hinzögerung der doch unausbleiblichen Entscheidung
rechnen. Dafür aber erscheinen andersartige Maßnahmen praktischer,
als der bei der verschiedenen Dienstzeit fortgesetzt schwankende
Friedenspräsenzstand der Armee, ohne daß die Sicherheit gegeben ist,
daß bei der verkürzten Dienstzeit jeder Mann auch innerlich Soldat
wird, wie es Moltke wollte.
Im einzelnen bringt der Verfasser eine ganze Reihe recht guter
und brauchbarer Vorschläge, allerdings stets untermischt mit Theorien
und Idealismen, die auf jeden Soldaten höchst anregend wirken können.
Das Buch ist immerhin recht lesenswert für den, der an der Fort-
entwickelung der Armee in irgendeinem Sinne interessiert ist. Denn
so ziemlich jeder wird auf seine Rechnung kommen. E. F, Karl.
ll. Ausländische Zeitschriften.
Streffleur. (Aprilheft.) Schleswig-Holstein „up evig ungedeelt“.
— Über die moralische Vorbereitung zum Kriege. — Über Kavallerie-
verwendung bei Übungen aller Waffen. — POr SUnEINE fremder Armeen
1918; Italien.
La revue d'infanterie. (Nr.330). Der-Infanterist in der Instruktion
(Forts.). — Der Infanterist im Felde bei den Hauptarmeen (Forts. Nor-
wegen.) — Das neue Mandverreglement der portugiesischen Infanterie
(Forts.). — Leichte Infanterie (Forts. Österreich).
Revue militaire des armées étrangères. (Nr. 1039, Juni 1914.)
Die schwedischen Manöver im Jahre 1913. — Gedanken über die
Balkankriege (Schluß des 1. Teils). — Militärische Neuigkeiten: Eng-
land (Iststärke am 1. Januar 1914), Österreich-Ungarn, Belgien, Däne-
mark, Deutschland, Spanien, Vereinigte Staaten, Italien, Rußland,
Schweiz, — Bücherbesprechungen.
Jahrbücher für die deutsche Armee und Marine. Nr. 515. 16
214 Literatur.
Journal des sciences militaires. (Nr. 162.) Die Organisation
der Reserven unabhängig von der Politik. — Die Spahis. — Die
strategische Rolle im Kriegsfal. — Das SchieBen der Feldkanonen
über befreundete Truppen. (Nr. 164.) Über die Methode in den Militär-
wissenschaften. — Der Munitionsverbrauch der Infanterie und die
Verluste an Menschen.
Revue d’artillerie. (Juni.) Erkundungen der Divisionsartillerie.
— Über Radreifen. — Zukunftsgedanken in der Artillerie von ehemals.
— Das Reglement der japanischen schweren Artillerie.
Revue de l’Armee belge. (März/April 1914) Infanterietaktik. —
Praktische Schlußfolgerungen aus Fragen des Verdecktschießens der
Feldartillerie. — Der Balkankrieg 1912/13. — Ökonomie der Kräfte
(Schluß). — Die Légion belge de Londres und die Tirailleurs de la
Meuse. — Prüfung der Ausdehnungen armierter Betonkonstruktionen
in französischen Festungsbauten, — Berichte: Die Reorganisation der
belgischen Armee. — Übersicht über die periodische Literatur. —
Bücherschau. |
Allgemeine Schweizerische Militärzeitung. (Nr. 24) Über die
militärwissenschaftliche Abteilung am Eidgen. Polytechnikum. — Noch-
mals zum militärisch-hierarchischen System. — Die berühmte Miliztat
von 1814. — (Nr. 25) Lehren aus dem Balkankrieg. — Die berühmte
Miliztat von 1814. — (Nr. 26) Das belgische Heer in seiner neuen
Gestaltung. — Das eidgenössische Aufgebotplakat. — (Nr. 27) Ver-
kehrte Anschauungen. — Zur Feldration des Schweizersoldaten.
Schweizerische Zeitschrift für Artillerie und Genie. (Nr. 6)
Der Kampf um Adrianopel. — Drei artilleristische Grundfragen. —
Die neue französische Felddienstordnung und die Artillerie. — Die
Kriegsbrauchbarkeit unserer Pferde — Eine Batterie in der Schlacht
bei Vionville am 16. August 1870. — Bestand und Ausgestaltung der
Traintruppe in Österreich-Ungarn. — Die Orientierung nach dem
Monde. — Über die Organisation der Funkentelegraphie im deutschen
Heere,
‚Die Nationalverteidigung. (Nr. 81) Die Rolle des Unteroffiziers
in der Armee, — Die Heranbildung zum Kavallerieführer. — Nach-
richtenoffiziere. — Die Kriegskunst für das Verständnis des Soldaten.
— Der Erfinder des Mausergewehrs gestorben.
Wojennüj Ssbornik. (Juni.) Der Generalstabsdienst im Felde,
— Zur Kenntnis der Armee, — Das Maschinengewehrfeuer., — Zur
bevorstehenden Durchsicht des Entwurfes der Ausbildungsvorschrift
für die Infanterie. — Über Umgehungen. — Das Schrägfeuer der
Artillerie auf unbewegliche Ziele. — Enver-Bei bei Scharkijöi, — Ein
Jahr in Ungarn.
Wojenno-istoritscheskij Ssbornik. Nr. 2. Lebeensbeschreibungen
der russischen Generalfeldmarschälle — Skizze zweier Operationen
vor Kijew im 12. Jahrhundert. — Gangut. — Ein vergessenes Jubiläum.
— Kurzer Überblick über den Feldzug 1764 in Polen. — Das Gefecht
Literatur. 215
bei Otschakow am 27. Juli 1788, — Aus dem Tagebuch eines Kriegs-
teilnehmers 1812, — Aus dem Polnischen Aufstand 1863. — Die
finnischen Truppen unter Nikolaus I. — Geschichte des Russ.-Türk,
Krieges 1877—1878 in Anatolien. — Tiurentschen,
Morskoij Ssbornik. (Juni.) Erinnerungen an Admiral Butakow.,
— Das erste Stille-Ozean-Geschwader. — Über die Theorie der Kriegs-
kunst. — Jahrbuch des Ostens (die japanische Ministerkrise und das
Kabinett Okuma). — Umschau im Auslande,
Raswjedtschik. Nr. 1232. Unsere Verteidigung. — Das an-
gewandte Turnen. — Die Reformen in den Kadettenkorps. — Die
Qualifikation der jüngeren Offiziere. — Nr. 1233. General Gorbatowskij,
— Einige Ziffern (betrifft die Beförderungsverhältnisse).. — Nr. 1234,
Theorie und Praxis. — Die Kasaken in Persien. — Im fernen Osten.
Russkij Inwalid. Nr. 120. Der Eroberungszug Tschernjajews im
Jahre 1864 in Turkestan. — Nr. 123. Die englischen Gäste. — Das
Feuer gegen verdeckt stehende Artillerie. — Nr, 124, Skizzen aus dem
Lagerleben. — Der Kinematograph im Dienste der militärischen Er-
ziehung. — Nr. 125. Die Festung Turkestan. — Aus den Erinnerungen
eines Erziehers. — Nr. 126. Über Unterseeboote. — Einige Gedanken
über das Artilleriefeuer. — Nr. 129. Die Aufklärung nach der Feld-
dienstordnung. — Aus Japan. — Nr. 131. Die deutsche Flotte und
der Kaiser-Wilhelm-Kanal. — Zum bevorstehenden Kongreß der Militär-
geistlichen. — Nr, 132. Die Motorfahrer im Heeresdienst. — Nr. 133,
Das Schießen der Infanterie aus verdeckter Stellung.
Ill. Verzeichnis der zur Besprechung eingegangenen Bücher.
(Die eingegangenen Bücher erfahren eine Besprechung nach Malsgabe ihrer Bedeutung und des ver-
fügbaren Raumes. Eine Verpflichtung, jedes eingehende Buoh zu besprechen, übernimmt die
Leitung der „Jahrbücher“ nicht, dooh werden die Titel sämtlicher Bücher nebst Angabe des Preises
— sofern dieser mitgeteilt wurde — hier vermerkt. Eine Rücksendung von Büchern findet nicht statt.)
1. Rémond et da Penennrun, Sur les lignes de Feu. Paris 1914.
Librairie Chapelot. 3,50 Frs.
2. Aubrat, Evolution des idees sur le mode de urenaseildn de
l'artillerie a la bataille. Paris 1914. Librairie Chapelot, 2 Frs.
3. von Boenigk, Anhalt für den Unterricht über das Verhalten
im Beurlaubtenstande. Oldenburg 1914. Gerhard Stalling. Geb. 1,30 M.
4: Offizierfelddienstübungen. Oldenburg 1914. Gerhard stalling,
Geb. 1,20 M.
5. Borowiak, Die arabische und anglo-arabische Pferdezucht
der Grafen Branicki in Bialocerkiew. Stuttgart 1914. Schickhardt
& Ebner. 1,80 M.
6. Cichowiez, Das Cleveland-Bay-Pferd. Stuttgart 1914. Schick-
hardt & Ebner. 1,50 M.
7. Lehnert, Handbuch für den Truppenführer. Neu bearbeitet
von Imanuel. Berlin 1914. E. S. Mittler & Sohn. Geb, 1,80,
16*
216 Literatur.
8. Kühnhauser, Kriegserinnerungen eines Soldaten des K. bayer.
Inf.-Leib-Regiments 1870/71. München. C. H. Beck. Geb, 2,80 M.
9. Frater, Carte des couvertures française et allemande., Paris
1914. Librairie Chapelot. 1,50 Frs.
10. Romen-Rissom, Weaflengebrauch und Festnahmerecht des
Militärs. Berlin 1914. Verlag J. Guttentag, G. m. b. H. Geb. 2 M.
11. Wolzendorff, Der Gedanke des Volksheers im deutschen
Staatsrecht. Tübingen 1914. Verlag von J. C. B. Mohr. Geh. 1,60 M.
12. Colin, Les grands hommes de guerre. Napoleon. Paris 1914.
Chapelot. 1,50 Frs.
18. Gefechtstaschenbuch, 2., nach den neuesten Vorschriften
umgearbeitete Auflage. Berlin 1914. ŒE. S. Mittler & Sohn, Geb.
1,60 M.
14. Nony, L’intendance en campagne. Paris 1914. Charles-
Lavauzelles. 10 Frs.
15. Seidels kleines Armeeschema Nr, 75. Mai. Wien 1914.
L. W. Seidel & Sohn. 1 K.
16. Marty-Lavauzelle, Les manœuvres du Sud-Ouest en 1913.
Paris 1914. Charles-Lavauzelles. 8 Frs.
17. Wolf, Finanzwirtschaftliche Zeitfragen. 13. Heft. Die Steuer-
reserven in England und Deutschland. Stuttgart 1914. Ferdinand
Enke. Geh. 2 M.
18. Kielhauser, Die Vorschrift für das ehrenrätliche Verfahren im
k. u. k. Heere und Ehrenratsfragen. 4. Auflage. Wien 1914. L. W.
Seidel & Sohn. Geb. 3,60 M.
19. Grofsmann, Einführung in die Gebrauchnahme des Batterie-
richtkreises M. 5 und der Geschützrichtkreise (-fernrohre) M. 8 und 9.
Wien 1914. L. W. Seidel & Sohn.
20. Neuschler, Die Entwickelung der Heeresorganisation seit Bin-
führung der stehenden Heere. II: Die Heeresorganisation im 20, Jahr-
hundert. Leipzig 1914. G. J. Göschen. Geb. 0,90 M.
21. Reichardt, Der Pionierdienst. Leipzig 1914. G. J. Göschen.
Geb. 0,90 M.
22. Müller-Brandenburg, Rußland und wir. Berlin W 57. 1914.
Politik Verlagsanstalt. 1 M.
23. Schoenborn, Die Besetzung von Veracruz. Stuttgart 1914.
W. Kohlhammer. 1,50 M.
24. Hubert, Jacques, A’Allemagne et la Legion. Paris 1914. Li-
brairie Chapelot. 5 Frs.
Drack von A. W. Hayn’s Erben (Cart Gerber), Potsdam.
An unsere Leser.
Der Krieg, der auch in diesen Heften schon seit Jahren als un-
vermeidlich angesehen wurde, ist wie ein Dieb in der Nacht über
Deutschland hereingebrochen.
Die Jahrbücher für „Die deutsche Armee und Marine“ waren
sich in jahrzehntelanger Friedensarbeit bewußt, ihr Teil dazu bei-
getragen zu haben, um auch das wissenschaftliche Wehrzeug der Armee
im guten Stande zu erhalten.
Alle Fortschritte und Bestrebungen auf taktischem, organisatorisch-
technischem und erzieherischem Gebiet sind sowohl in selbständigen
Aufsätzen, als auch in der Umschau und Bücherschau vorurteils-
los erörtert worden. Nicht allein, was das eigene Heer angeht,
sondern auch was die fremden Armeen betrifft, so daß die Leser im-
stande waren, sich auch ein unbefangenes Urteil über die Leistungs-
fähigkeit der Gegner zu bilden. Es ist stets die Notwendigkeit der
Offensive, nicht allein in der Heerführung, sondern auch in der
Truppenführung und auf dem Schlachtfelde selbst betont worden, je-
doch auch der große Wert eines wohlüberlegten Feuerkampfes.
Was wir bis jetzt von dem Kriege erfahren haben, bestätigt, daß
die deutschen Armeen nicht allein den ja selbstverständlichen Opfer-
mut, sondern auch durchaus zeitgemäße Kampfweise betätigen. Die
wissenschaftliche Überlegenheit unserer Offizierkorps steht ebenso wie
1870/71 außer Frage, und so wird sich in diesem Krieg wieder
bestätigen, was stets das Leitwort unserer Bestrebungen war: „Die
Wissenschaft eine Waffe.“
Die Jahrbücher werden nach Möglichkeit weiter erscheinen und sich
vor allen Dingen mit Fragen beschäftigen, die sich unmittelbar auf den Krieg
beziehen, wie es auch in diesem Heft in hervorragender Weise geschieht.
Wir alle sind im Geiste bei unseren heldenmütigen
Truppen. Wir begleiten sie mit unseren Gedanken und
Segenswünschen auf die Schlachtfelder, die unter Gottes
Beistand Siegesfelder sein werden und sein müssen.
Am Tage der Schlacht bei Metz.
Keim,
Generalmajor a. D.
Jahrbücher für die deutsche Armee und Marine. Nr. 516. 17
218 Das französische Exerzierreglement vom 20. April 1914.
XIII.
Das französische Exerzierreglement
vom 20. April 1914.
Von
Generalmajor Balck, Inspekteur der Feldtelegraphie.
Das Reglement vom Jahre 1904 konnte in keiner Weise als Muster
einer modernen Dienstvorschrift gelten, überließ zu viele Einzelheiten
dem Gutdünken der Truppen, wo es bestimmte unzweideutige Vor-
schriften geben mußte, engte seine an einer Stelle gegebenen groß-
zügigen Weisungen an anderer Stelle durch kleinliche Zusätze erheblich
ein, lähmte den Offensivgeist, räumte der Feuerkraft nur geringe Be-
deutung ein und erwartete alles von der Feuerkraft der Artillerie.
Stand das Reglement schon im Gegensatz zur Felddienstordnung
1895, so waren seine Vorschriften vor allem unvereinbar mit den Vor-
schriften der Felddienstordnung vom Jahre 1913. Der Bericht der
Reglementskommission an den Kriegsminister begründete die Not-
wendigkeit einer Reglementsänderung mit der im Laufe von zehn Jahren
hervorgetretenen Notwendigkeit, „die Methode der Ausbildung und
des Kampfverfahrens schärfer zu bezeichnen, damit der Unterführer
von der ihm im breitesten Maße zugestandenen Selbständigkeit Ge-
brauch machen könnte“. Gerade die Einführung der dreijährigen
Dienstzeit legte es nahe, die Art der Ausbildung zu regeln, den Stoff
planmäßig auf drei Jahre zu verteilen.
Das neue Reglement umfaßt 108 Seiten und ist in 5 Abschnitte
(titres) und einen Anhang (Ehrenbezeugungen vor der Fahne, Trag-
weise des Säbels und Leichenparade) gegliedert.
Titre I: Grundsätze und Methoden der Ausbildung (10 S.),
Titre II: Einzelausbildung (29 S.),
Titre III: Zugschule (19 8.),
Titre IV: Kompagnie und höhere Verbände (11 S.),
Titre V: Das Gefecht (61 S.).
Jedem dieser Abschnitte gehen Winke für die Art der Ausbildung
voran.
Schon bei flüchtiger Durchsicht fällt eine seit Jahren in allen fran-
zösischen Vorschriften des Heeres und der Zivilverwaltung beobachtete,
jedenfalls über das nach deutscher Art zulässige Maß hinausgehende
Neigung, alles in enge Bestimmungen zusammenzufassen, damit
Das französische Exerzierreglement vom 20. April 1914. 219
gerade dasjenige zu tun, was dem deutschen Heere vorgeworfen wird,
durch straffste Disziplin alle Selbsttätigkeit zu ertöten, den Mann zur
Maschine zu machen, auf. Dann wird folgendes ausgeführt: ‚Die
Erhöhung der Feuergeschwindigkeit und der Wirkung, sowohl der In-
fanterie wie der Artillerie, zwingt immer mehr zur Annahme dünner
und loser Formationen, die sich vollkommen dem Gelände anschmiegen
müssen. Die Entscheidung bringt allein die Vorwärtsbewegung, diese
ist aber nur durchführbar bei genügender Feuerunterstützung. Die
Erfahrung der letzten zehn Jahre seit der Einführung des alten Regle-
ments, hat die Notwendigkeit gezeigt, die niederen Dienstgrade zur
besseren Erfüllung der ihnen zugewiesenen Selbsttätigkeit anzulernen,
gleichzeitig aber sie zu ‚disziplinieren‘. Mit diesem Stichwort, die
‚Selbsttätigkeit zu disziplinieren‘, ist noch nichts gewonnen, hier kann
nicht Disziplin, sondern muß Erziehung einsetzen.“
Wenn früher General von Falkenhausen eine Trennung von Exer-
zieren und Fechten verlangt hatte, das Schweizer Reglement vom Jahre
1908 dieses in die Praxis übersetzt hatte und scharf trennte zwischen
„Drill“ zur Manneszucht und „Üben“, so ist auch das französische
Reglement in dieser Richtung gefolgt, indem es dem Exerzieren eine
höhere Bedeutung als bisher beimißt, dieses durch Wiedereinführen
des Präsentiergrifis, durch die Form und häufigere Anwendung des
Gleichschrittes (pas cadencé) auch auf dem Gefechtsfelde zum Aus-
druck bringt.
Im gleichen Sinne wird mit besonderem Interesse die Tätigkeit
des Zuges im Gefecht behandelt; ‚er ist der Träger der Vorwärtsbewegung
beim Angriff und die Einheit für das Feuergefecht“. Die Schulung soll
derart erfolgen, daß die Leute so ausgebildet sind, daß sie die Bewegun-
gen „gleichsam automatisch“ ausführen. „Nur unter dieser Bedingung
kann der Zugführer, von der fortwährenden Sorge um die richtige
Ausführung der gegebenen Befehle befreit, seine ganze Aufmerksam-
keit seiner eigentlichen Gefechtsaufgabe zuwenden, alle Gelegenheiten
ausnutzen, um die Schützen vorwärts zu reißen, das Feuer zu leiten,
und seine Wirkung aufs höchste zu steigern.“
Weiterhin sind klarere und bestimmtere Weisungen für die Ge-
fechtsführung der einzelnen Infanterieverbände gegeben, in denen
eine bemerkenswerte Annäherung an Deutschland zu erblicken ist.
Ganz in modernem Sinne ist denn auch eine erhebliche Einschränkung
des Abschnittes: Bataillon und höhere Verbände gegenüber der Zug-
schule festzustellen.
Nicht unnötig erscheint ein kurzer Vergleich zwischen der deutschen
und französischen Waffe. Das alte Lebelgewehr 86/93 besitzt noch
L1*
220 Das französische Exerzierreglement vom 20. April 1914.
immer das umständlich zu füllende Röhrenmagazin zu 8 Patronen
unterhalb des Laufes, so daß sich bei jedem Schuß die Schwerpunkts-
lage verändern muß, während die deutsche Ladeweise allen berechtigten
Anforderungen entspricht. Es entzieht sich unserer Kenntnis, ob
das aus einer Kupferzinklegierung bestehende 12,8 schwere D-Geschoß
überall dureh ein neues Geschoß ersetzt ist.
S-Geschoß Balle D
Anfangsgeschwindigkeit. . . . 200 . 88m 720
Bestrichener Raum für 1,70 m Zielhöhe:
M/98 M/86/93
auf 800 m . 2 2. 2. ee er 100 52
auf 1000 m. . 2 on 60 35
Auf Entfernungen über 1000 m zeigt die französische Waffe eine
wachsende Überlegenheit an Gestrecktheit der Bahn, doch ist dieses
bewußt von den deutschen Konstrukteuren nicht gefordert worden,
da die Hälfte aller Verwundungen auf Grund der Erfahrungen des
Russisch-Japanischen Krieges auf Entfernungen unter 500 m, 38 v. H.
auf den Entfernungen zwischen 500 und 1000 m liegen und etwa 12 v.
H. auf Entfernungen über 1000 m eingetreten sind.
Grundsätze und Methoden der Ausbildung.
Vorbereitung auf den Krieg ist der einzige Zweck der Truppen-
ausbildung. Nur der Wille zum Siegen sichert den Erfolg, dieser Wille,
die Herzen belebend, die körperlichen Kräfte steigernd, macht die
Infanterie schneidig im Vorgehen, hartnäckig im Angriff und zähe
in der Verteidigung. Hauptaufgabe der Ausbildung ist, bei allen Führern
und Mannschaften diesen Willen zu erzeugen, dabei die Hilfsmittel
auszunutzen, die die Eigenart des französischen Volksgeistes ausmachen.
Die Ausbildung soll bei den Führern Urteil und Charakter entwickeln,
den Mann in der Front disziplinieren, seine moralischen Kräfte schärfen,
durch diese Vereinigung ausgebildete, bewegliche, kampfkräftige
Einheiten bilden. Die Manneszucht beruht auf der Achtung aller
und im besonderen der Führer vor den Vorschriften, es ist daher ver-
boten, sie abzuändern oder zu vervollständigen durch Sonderbestim-
mungen. Gilt die Tapferkeit des Mannes als selbstverständlich, so ist
unbedingt zu fordern, ‚der bestimmte Wille, sich der strengsten Disziplin
zu unterwerfen, und die Gewohnheit, peinlich und gewissenhaft den
Befehlen der Vorgesetzten zu gehorchen. Diese Disziplin, die Frucht
eines strengen, in allen Einzelheiten durchgeführten Drills, ist unum-
gänglich notwendig, um die Ausführung der Befehle und die Gefechts-
tätigkeit der Infanterie (Bewegung und Feuer) in dem von den feind-
Das französische Exerzierreglement vom 20. April 1914. 221
lichen Geschossen beherrschten Raume zu sichern.“ Diese Disziplin
ist namentlich auch in der Schützenlinie erforderlich. Auf ihre Anerzie-
hung ist ganz besonderer Wert zu legen.
Die vom Reglement 1904 abgeschaffte Trennung des Begriffes
der geschlossenen und geöffneten Ordnung ist beibehalten, indem
erstere — vom Verlassen der Marschstraße bis zum Bilden der Schützen-
linie — unter dem Begriff der „Evolutions“, Bewegungen in geöffneter
Ordnung, sich als Gefechtsbewegungen darstellen. Eigentliche Formen
für Paraden sind nicht vorgesehen. Geschlossene Formen haben heutzu-
tage nur noch eine untergeordnete Bedeutung, sie finden nur noch
Anwendung als Gefechtsform, in der Dunkelheit, im \Waldgefecht
und gelegentlich bei Abwehr der Kavallerie; hohen Wert behalten sie,
da in ihnen sich leicht Frontveränderungen ausführen lassen, für Be-
wegungen weitab vom Feinde. Die wichtige Frage: Wann ist mit Rück-
sicht auf Gelände und Waffenwirkung des Feindes die geschlossene
Form aufzugeben ? bedarf der Entscheidung des Einzelführers im Gefecht
von Fall zu Fall, der größere Einfluss der Führer auf die Mannschaften,
die Fähigkeit, schnell und sicher Frontveränderungen auszuführen,
sind Vorteile, die man nicht ohne zwingenden Grund aus der Hand
geben darf. Anderseits setzt sich jede in wirksames feindliches Feuer
geratene Abteilung der Vernichtung aus. Sind geschlossene Formen
aber keine Kampfformen mehr, so ist die Frage, ob die Stellung der
Zugführer auf den Flügeln ihrer Abteilungen, um den festen Rahmen
abzugeben, ob die Stellung der schließenden Unteroffiziere hinter der
Front zur Beaufsichtigung der Mannschaften bei der Feuerabgabe
noch den gleichen Wert wie früher hat. Wir möchten es verneinen.
In diesem Sinne heißt es auch in dem Rechenschaftsbericht: „Um
für Bewegungen geeignet zu sein, muß eine Form Biegsamkeit besitzen,
die Ausführung von Bewegungen schnell und unter geringstmöglichen
Anstrengungen erlauben, sie muß so gegliedert sein, daß sie das Ge-
lände ausnutzen und ohne den auf dem Gefechtsfeld unentbehrlichen
Zusammenhang zu opfern, geringen Verlusten ausgesetzt ist. Nur
die Kolonne und eine Linie von Kolonnen entsprechen diesen Forde-
rungen.
Die Anwendung der zweigliedrigen Linie war nur so lange gerecht-
fertigt, als die in geschlossener Ordnung fechtende Truppe jederzeit
zur Feuerabgabe bereit sein mußte. Sie besitzt aber nicht genügend
Biegsamkeit, um unter heutiger Waffenwirkung zum Anmarsch gegen
den Feind benutzt zu werden; sie ist zu verwundbar beim Angriff
und in der Verteidigung. Das neue Reglement beschränkt daher die
Anwendung der zweigliedrigen Linie zur Versammlung und für Friedens-
zwecke, es erkennt nur beim Anmarsch als anwendbar die Kolonne
222 Das französische Exerzierreglement vom 20. April 1914.
oder Linien von Kolonnen an.“ Auch für den Anmarsch kann zur
Herabminderung der Verluste der Zug in Marschform noch zerlegt
werden in Halbzüge oder Gruppen zu Zweien oder zu Einem; allerdings
wird dadurch der Zusammenhalt und der Einfluss der Führer beein-
trächtigt.
Ganz besonders eingehende Bestimmungen werden über die Hand-
habung des Dienstes gegeben.
Unter einheitlicher Leitung des Regimentskonmandeurs an der
Hand des von diesem ausgearbeiteten Ausbildungsprogramnıs stellen
die Bataillone und Kompagnien ähnliche Übersichten (programme
d’instruction) auf. Nachdem Regiment und Bataillon am Wochen-
schluß bekannt gegeben haben, welche Tage sie für sich in Anspruch
nehmen, reichen die Kompagnien bis Montag früh genaue Dienstüber-
sichten (tableau de travail) ein, zu dem der Bataillonskommandeur
unter Eingabe seines eigenen Dienstprogramms Stellung nimmt. Die
Ausbildung der Rekruten soll einzeln und im Zuge etwa bis zum 1. Februar
abgeschlossen sein. Bevor die Rekruten ganz fertig ausgebildet sind,
dürfen sie nicht zu Übungen in die Verbände eingestellt werden. Wäh-
rend dieser Zeit wird die Einzelausbildung der Stammannschaften
gefördert, ohne aber dabei zu einer Wiederholung der Rekrutenschule
herabzusinken. Mit dem 15. März beginnt die Kompagnieausbildung.
Die Truppe wird vom eigenen Führer ausgebildet, auch bei der Zu-
sammenstellung kriegsstarker Verbände aus den Mannschaften eines
Bataillons zu einer Zeit, wo die Rekruten noch nicht herangezogen
werden können, bleiben die Mannschaften derselben Kompagnie unter
ihren Unteroffizieren möglichst zusammen. „Die Vermischung von
Mannschaften verschiedener Konmpagnien zur Bildung eines Zuges
ist soviel als möglich zu vermeiden.“
Ausbildung der Unterführer auf dem Plane im Gelände mit oder
ohne Truppe geht das ganze Jahr hindurch derart, daß Sousleutenants
in Führung der Kompagnien, Leutnants und Hauptleute in Führung
des Bataillons, Stabsoffiziere in Führung von Verbänden aller drei
Waffen geschult werden.
Besondere Aufmerksamkeit wird auf die Ausbildung der Eleves
caporaux, die aus den Mannschaften, die lesen und schreiben können,
ausgewählt und nach Möglichkeit auf einer Stube vereinigt werden. Durch
Prüfungen von Zeit zu Zeit vergewissert sich der Kompagniechef über
die Fortschritte dieser Leute.
Den Schluß des Abschnittes bilden Angaben über Befehle, Winke
(Vorbereitung und Ausführung); Antreten, Halten, Marschrichtung
ändern, Kehrtmachen, Ausschwärmen, Laufschritt, Zusammen-
schließen und Sammeln, Hornsignale, außer zum Sturm, sind auf dem
Das französische Exerzierreglement vom 20. April 1914. 223
Gefechtsfelde verboten, Signale mit der Pfeife nur auf dem Marsche
zulässig zum Einnehmen des Gleichschrittes, zum Vorgehen und Halten.
Die Angaben über den Signalverkehr finden sich in einer Anweisung
vom 15. April 1912. Zeichen werden mit Winkerflaggen (bis zu 1500 m,
gebraucht der Empfänger ein Fernglas, bis zu 2500 m), bei Nacht
mit Signallaternen (bis zu 3000 m) nach dem Morsealphabet gegeben,
derart, daß der Punkt durch einen Arm oder Flagge, der Strich durch
zwei Flaggen oder Arme abgegeben wird. Es bedeuten ein für allemal
M = Munition, E = Feind (ennemi), I = Infanterie, C = Kavallerie,
T = Artilleriefeuer vorlegen (allonger tir d’artillerie). Da M (--) und
T (-) mehrfach wiederholt werden sollen, ist eine Verwechselung nicht
ausgeschlossen.
1. Einzelausbildung.
Gleichschritt (pas cadence 120 zu 75 cm), ohne Tritt (pas de route)
ohne Angaben über Zeitmaß und Schrittniaß. Während früher eine
Beschleunigung des Schrittmaßes bis auf 124 Schritt in der Minute
zulässig war, warnt das Reglement, große Leistungen durch Steigerung
des Zeitmaßes zu erreichen, da dieses die Kräfte des Mannes übermäßig
in Anspruch nehmen würde; ein Überschreiten von 120 ist geradezu
verboten, es soll vielmehr versucht werden, die Schrittlänge bis auf
80 em zu steigern. Um 4800 m in 50 Minuten zurückzulegen, sind er-
forderlich in jeder Minute 120 Schritt zu 80 cm, während für die gleiche
Strecke bei 75 cm Schrittlänge unter stärkerer Inanspruchnahme
der Kräfte 128 Schritt in der Minute erforderlich sind.
Laufschritt (pas gymnastique) 180 Schritt zu 90 cm für Leute
ohne Gepäck, mit Ausrüstung 170 Schritt zu 80 cm. Beim Sturmschritt
soll die Marschgeschwindigkeit schließlich bis zum vollen Lauf gesteigert
werden.
Wendungen: Achtel-, Viertel- und (Rechtsum-) Kehrtwendungen.
Griffe: Präsentieren (wieder eingeführt), Gewehr über (auf der
rechten Schulter, Kolben flach, Kammerknopf nach oben, beim An-
treten wird ohne weiteres Gewehr über, beim Halten Gewehr ab ge-
nommen), Präsentieren (vom Gewehr bei Fuß), Gewehr umhängen
(Parme à la bretelle), Schießgriffe, Gewehrfällen (croiser la bafonnette).
Neu aufgenommen ist im Reglement Wichtiges über Gewehr-
fechten:
„Das Bajonett ist die wichtigste Waffe (arme supr&me) des In-
fanteristen. Es spielt die entscheidende Rolle beim Sturm, den jeder
Angriff im Auge haben muß, und der einzig die Möglichkeit bietet,
den Feind abzufertigen. Die Ausbildung im Gewehrfechten soll den
Mann für den Kampf gegen den Infanteristen und Kavalleristen schulen,
224 Das französische Exerzierreglement vom 20, April 1914. |
es trägt dazu bei, ihm Vertrauen einzuflößen und seine moralischen
Kräfte zu steigern. Grundregeln des Kampfes sind: Entschlossen
auf den Feind losgehen, kräftig angreifen, schnell die Entscheidung
suchen, den ausweichenden Feind ohne Pause verfolgen, den Angriff
wiederholen bis zum Erfolg.“ Beim Kampf Mann an Mann den Kolben
brauchen und den Gegner mit allen Mitteln (Fußtriite) zu Boden werfen.
Beim Freifechten mit einem Gegner darf im Frieden von diesen Mitteln
kein Gebrauch gemacht werden. Der Sieger soll ferner bemüht sein,
dem Nachbar zu helfen. Die Übungen finden im Laufe des Dienst-
jahres mit feldmäßiger Ausrüstung, in wechselndem Gelände, am Rande
von Gräben, Feldschanzen, schließlich aber regelrechtes Handgemenge
im Kampf des einzelnen Fechters gegen zwei oder mehrere Gegner
und auch als Kampf von Abteilungen gegeneinander statt.
Auf Schützengefecht und Feuerarten wird später noch eingegangen.
An Feuerarten sind Schützenfeuer mit und ohne angegebene Patronen-
zahl und die Salve aufgeführt. Auf „Halt‘‘ werfen sich alle Schützen
hin und suchen kriechend die Feuerstellung zu erreichen. Das sprung-
weise Vorgehen ist genauer beschrieben. Auf Kommando „En avant!“
wird die auf dem Löffel (auget) liegende Patrone entladen und die
Patronentasche geschlossen, die weitere Vorbereitung des Sprunges
wie in Deutschland. Das Entladen des Gewehrs vor dem Sprung wird
notwendig erachtet, da Gewehre neuer Fertigung ohne Sicherung
sind (Sicherungsrast — cran de sûreté — ist fortgefallen.. Dann wird
hinzugesetzt: Auf ‚Marsch‘ nicht sofort vorstürzen, auf „Halt“ sich
nicht sofort hinwerfen, sind Fehler; ohne Befehl, wie heftig auch das
Feuer des Feindes sein mag, halten, ist Feigheit, gar zurückweichen
eine Schande. Gebrauch des Schanzzeuges, um Durchgänge zu schaffen,
Deckungen zu verbessern oder neu zu schaffen, geschieht nur auf Befehl
von Offizieren. Zur Arbeit wird der Tornister als Kopfbedeckung
benutzt, diese werden aufgenommen, sobald genügender Schutz ge-
wonnen ist.
2. Der Zug (section).
„Die Zugschule soll den Soldaten alles lehren, was er für die Ver-
wendung im Verbande kennen muß, in Fühlung mit seinen Kameraden
unter Befehlen seiner Führung und unter engster Aufsicht der Schließen-
den.“ Für die Rekruten beginnt die Zugschule Mitte Dezember, Anfang
Februar werden die Jahrgänge gemischt, Übungen finden im ebenen
und wechselnden Gelände und unter Überwinden von Hindernissen
statt. Der Zug wird in zwei Halbzüge zu zwei Gruppen (escouades)
eingeteilt, diese zählen eine Anzahl Abmärsche zu Vieren. In Linie
steht der Zug zu zwei Gliedern, die Leute der Größe nach mit 15 cm
Das französische Exerzierreglement vom 20. April 1914. 225
Zwischenraum mit 1 m lichtem Abstande vom Rücken des Vorder-
mannes zur Brust des Hintermannes, die Schließenden mit gleichem
Abstande vom hinteren Gliede. Die Führer der Escouades stehen im vor-
deren Gliede auf den Flügeln ihrer Halbzüge, der Zugführer vier Schritt,
falls der Abstand von der vorhergehenden Abteilung 6 Schritt und
weniger ist, 2 Schritt vor der Mitte des Zuges. Der Zug versammelt
und bewegt sich in Linie oder colonne par quatre, gebildet durch Ab-
schwenken oder Abmarsch von einem Flügel, marschiert außerhalb
des Gefechtsfeldes in der colonne de route (Schließende vor und hinter
dem Zuge). Gelegentlich kann es erforderlich werden, in Kolonnen
zu Halbzügen, Gruppen, zu Vieren, Zweien oder Einem vorzugehen.
Die Tiefe der Kolonne zu Vieren kann hinter Deckungen verkürzt werden,
indem der Gliederabstand von 1 m bis auf 30 cm verkürzt. wird.
Bei der Schützenentwickelung werden Zwischenräume von 1
bis höchstens 5 Schritt gehalten, besonders eingehend wird noch einmal
die Ausführung des Sprunges behandelt, ohne Neues zu bieten. Die
Schließenden sollen auf schnelle und genaue Ausführung des Sprunges
achten. Gruppenweises Springen wird nicht mehr erwähnt.
Die Angaben über das Feuergefecht sind auffallend knapp ge-
halten gegenüber den auch schon nicht allzu ausführlichen Bestimmungen
des früheren Reglements. Gruppenführer schießen im allgemeinen
nicht mit, die Schließenden achten, daß Laden mit bestmöglicher Ge-
schwindigkeit ausgeführt wird, daß die Leute sorgfältig zielen und ohne
Pause bis zum Stopfen feuern oder bis die befohlene Patronenzahl
verschossen ist. Sie prüfen dauernd die Richtung des Feuers und
überwachen den Patronenverbrauch. Somit fallen den Schließenden
im wesentlichen die Aufgaben der deutschen Gruppenführer zu, die
Führer der Escouades scheinen ausgeschaltet zu sein.
3. Die Kompagnie und höhere Verhände.
Das Reglement verzichtet auf alle Formen, die auf dem Marsche
und auf dem Gefechtsfelde als Bewegungsformen nicht melır anwendbar
erscheinen. Die Linie dient nur noch zur Versammlung und zu Friedens-
zwecken (Appell, Parade).
Die Zeiteinteilung für die Ausbildung ist derart vorgesehen, daß
vom 1. Mai ab die Ausbildung des Bataillons, vom 1. Juli ab die des
Regiments beginnt, Brigadeübungen kurz vor den Herbstübungen.
Die Bedeutung der Einzelausbildung wird überall hervorgehoben,
die Zugschule soll das ganze Jahr hindurch geübt werden. Regiments-
übungen sollen nur zweimal wöchentlich stattfinden, so daß den Batail-
lonen und Kompagnien ausreichend Zeit für Einzelübungen bleibt.
Die Kompagnie besteht aus vier Zügen, die mit den Offizieren
dem Dienstalter der Reihe nach besetzt werden: 1., 4., 3., 2. Zug.
226 Das französische Exerzierreglement vom 20. April 1914.
Die Kompagnie versammelt sich in colonne de compagnie
(d. i. die deutsche Zugkolonne), Züge mit 6 Schritt lichtem Abstand,
vom Rücken des Mannes des vorderen Zuges zur Brust des Mannes
des hinteren Zuges und
in ligne de sections par quatre (d. i. die deutsche Kompagnie-
kolonne), die Züge in Kolonne zu Vieren mit lichtem Zwischenraum
von 4 Schritt nebeneinander.
Auf dem Gefechtsfelde bewegt die Kompagnie sich in der
colonne par quatre (Gruppenkolonne), die Züge mit 4 Schritt
hintereinander, oder in der
ligne de sections (demi sections, escouades) par quatre
(oder zu Zweien oder zu Einem).
Stellung des Sergent major, sergent- und corporal-fournier in der
Reihe der Schließenden:; Spielleute auf 2 m hinter dem linken Flügel-
oder Schlußzuge der Kompagnie.
Die Marschkolonne (colonne de route) kann verbreitert werden,
derart, daß die beiden Halbzüge eines Zuges nebeneinander marschieren.
Die Linie ist reine Friedensform. Übergänge aus einer Form
in die andere finden auf Befehl der Kompagnieführer statt, Zugführer
geben durch Zeichen (nötigenfalls durch Kommandos) an, wie sich
der Zug zu verhalten hat. Hiermit ist das früher übliche übermäßige
Kommandieren der Zugführer in Fortfall gekommen. Übergänge werden
im Halten ausgeführt aus einer tiefen in eine breite Form, derart, dab
der 2. Zug sich rechts, der 3. und 4. Zug sich links vom vorderen setzen.
Die Bewegungen sind auf das einfachste Maß verringert auf exakte
und genaue Ausführung wird weniger Gewicht gelegt. Bei der Schwen-
kung der Zugkolonne schwenkt der vordere Zug für sich, die anderen
folgen, gleichgültig, oh sie eine Kolonnenschwenkung (d. h. Schwenken
unter Seitwärtsziehen) oder eine Hakenschwenkung ausführen. Gleiches
gilt von der Bewegung in Gruppenkolonne, die sehr einfach ist; je nach
Bedarf wird nach rechts oder links eingeschwenkt.
Im Bataillon stehen die Kompagnien in (deutscher) Zug- oder
Kompagniekolonne mit 10 Schritt Abstand oder Zwischenraum, der
auf 4 Schritt verringert und auf Bedarf auch noch erweitert werden
kann, neben- oder hintereinander in der Breitkolonne (ligne de
colonnes de compagnie oder ligne de sections par quatre). Tiefkolonne
(colonne de bataillon), Doppelkolonne (colonne double de com-
pagnies oder de sections par quatre). Die zu 6 Kompagnien formierten
Jägerbataillone kennen außerdem noch die „colonne triple“. Schließ-
lich werden noch genannt Linie, Gruppen- und Marschkolonne.
An Formveränderungen sind vorgesehen: Übergang aus der Marsch-
kolonne in die Versammlungsform (Gewehre zusammensetzen und
Das französische Exerzierreglement vom 20. April 1914. 227
Gepäck ablegen), Übergänge aus einer Grundform in die andere, Vor-
gehen unter Erweitern der Abstände und Zwischenräume und Gliede-
rung des Bataillons unter Zugrundelegung einer Gefechtsabsicht.
Das Reglement faßt sich sehr kurz über Regiment und Brigade,
Abstände und Zwischenräume zwischen den Bataillonen 30, zwischen
Regimentern 60 Schritt. Es wird gewarnt, diese Abstände übermäßig
zu verringern, mit Rücksicht auf die Wirkung feindlicher Artillerie
die Truppe auf zu engem Raum zu vereinen. Die Bataillone und Regi-
menter können zur Versammlung flügelweise (accolé) oder treffenweise
(successif) aufgestellt werden, ohne daß das Reglement Gesichtspunkte
für die Wahl des einen oder anderen Verfahrens gibt. Diese sind ent-
halten in der „Conduite des grandes unités“. Hiernach empfiehlt
sich die treffenweise Gliederung, hauptsächlich für Flügelkorps und
allein kämpfende Heereskörper oder, wenn im Verlaufe des Kampfes
weitere Manöver erforderlich sind, oder wenn es bei schmaler Verteidi-
gungsfront sich um Wegnehmen mehrerer Stellungen hintereinander
handelt. Auch kann es sich empfehlen, wenn die Einleitungskämpfe
ein klares Bild geben, eine Einheit mit dem Hauptangriff zu betrauen,
der anderen die Aufgabe zu geben, diesen Angriff durch Nebenangriffe
zu erleichtern. Anderseits kann es geboten sein, den Verbänden gleich-
zeitig den Einleitungskampf zu überlassen, das Verfügungsrecht über
die Hauptkräfte sich zu wahren, bis Zeit und Ort des Hauptangriffs
erkannt ist.
I. Das Gefecht.
Ausbildungsverfahren.
Die Grundlagen für die Führung und für das Zusammenwirken
der Waffengattungen auf dem Gefechtsfelde und für die Einheitlichkeit
aller Anstrengungen sind in der Felddienstordnung gegeben. Da aber
die Infanterie im Gefecht sich angesichts wechselnder und unvorher-
gesehener Lagen finden wird, denen sie durch eigene, der wechselnden
Lage angepaßte Maßnahmen begegnen muß, so genügt eine Kenntnis
der Vorschriften allein nicht, hier muß die eigene Geistesarbeit einsetzen.
„Nachdenken und das Studium der jüngsten Kriegsereignisse bereiten
den Offizier auf die Aufgaben vor, die er auf dem Schlachtfelde zu er-
füllen hat. Keine genaue Reglementsanweisung kann diese ganz persön-
liche Vorbereitung ersetzen, die für jeden Offizier unerläßlich ist. Für
die unteren Dienstgrade bildet für alle Offiziere die Kenntnis der Auf-
gabe der Infanterie, das Verfahren bei Anmarsch und im Gefecht die
Grundlage der Berufsausbildung. Diese Unterweisung beruht in dem
vertieften, die Gründe für die Vorschriften entwickelnden Studium
228 Das französische Exerzierreglement vom 20. April 1914.
der Grundsätze des Reglements und auf die praktische Anwendung
dieser Grundsätze unter wechselnden Lagen.“
Bei Anlage von Übungen ist zu unterscheiden, ob es sich um Ge-
rippübungen (ohne und ausnahmsweise Gegenseitigkeit) zur Ausbil-
dung der Führer oder um Übungen zur Schulung der Truppe handelt.
Grundsätzlich bildet der Führer die Truppe aus, er befehligt daher
und leitet gleichzeitig die Übung; bei den Entfaltungsaufgaben kann
er sich als Führer, um die Ausführung besser überwachen zu können,
durch einen Offizier vertreten lassen. Für Angriffsgefecht wird die
Stellung des Feindes durch einige auffallende Geländepunkte oder
durch gut sichtbare Gegenstände angedeutet. Beim Verteidigungs-
sefecht wird der Angreifer durch einige Mannschaften dargestellt.
Die einzelnen Gefechtsabschnitte können ohne Zusammenhang durch-
geübt werden.
Getrennt werden Evolution: „Versammlung und Anmarsch‘
und „Exercises de combat“. Bei ersteren beiden Entfaltungsaufgaben
handelt es sich um Bewegungen der Truppe ohne unmittelbare Ge-
fechtsberührung mit dem Feinde, meist im Rahmen eines größeren
Verbandes. Die feindliche Waffenwirkung, namentlich das Einsetzen
von Artilleriefeuer, kann durch Kanonenschläge, Feuer kleiner Ab-
teilungen, durch kurze Hornsignale den Truppen mitgeteilt werden.
Nach einleitenden Einzelübungen sollen auch die Übungen, die die
Truppe am Tage unter gleicher Veranlagung und in dem gleichen Ge-
lände gemacht hat, in der Dunkelheit wiederholt werden; als Übungs-
gegenstände werden genannt: Gefechtsvorposten, Anmarsch, Angriff
und Gegenangriffe in der Nacht und im Morgengrauen, Gefechts-
abbrechen. Der Ausbildung der zahlreichen Spezialisten wird besondere
Aufmerksamkeit geschenkt. Man kann sich des Eindrucks nicht er-
wehren, als wenn die ausbildenden Führer in hohem Maße durch Be-
stimmungen eingeschränkt sind. So werden z. B. in Nr. 287 genau die
Momente angeführt, die für Ausführung eines Kampfes von Interesse
sind, nach deren Eintreten der Leiter zweckmäßig zur Besprechung
die Übung unterbricht. Als solche werden bezeichnet: Ansatz zum Ge-
fecht, Feuereröffnung, Einsatz der Verstärkungen und der Verfügungs-
truppen, der Sturm, die Verfolgung, Beginn eines zweiten Angriffs.
Die Bemerkungen des Leiters ınüssen sehr kurz und wohlwollend
gehalten sein, nur die Hauptsachen berührend, damit die Aufmerk-
sanıkeit der Zuhörer nicht abgelenkt wird. Die Bemerkungen betreffen
Auffassung und Ausführung der Befehle. Die Ausführung der Befehle
muß von einer unbedingten Richtigkeit sein („dont tous les details
doivent être d'une correction absolue“). Das Übungsprogramm be-
zweckt, alle Einheiten nacheinander die verschiedenen Jagen durch-
Das französische Exerzierreglement vom 20. April 1914. 229
üben zu lassen, die sich auf dem Gefechtsfeld unter Wechsel der Voraus-
setzung ihrer Anwendung und des Geländes ergeben.
Bei den Gefechtsübungen soll jeder Partei, auch dem Flaggenfeind,
die Möglichkeit des Erfolges zugestanden werden. „Alle an einer Ge-
fechtsübung teilnehmenden Truppen haben, falls sie nicht schwere
Fehler begehen, ein Anrecht auf den Sieg. Es ist zweckmäßig, ihnen
die Genugtuung zu geben, einen vollen Erfolg, den Zweck aller An-
strengungen, erreicht zu haben. Eine in der Verteidigung befindliche
Truppe wird beim Sturm zusammengerafft, damit der Angreifer durch
die Lücken hindurchstoßen kann, der Verteidiger bringt damit zum
Ausdruck, daß er bis zuletzt die seiner Hut anvertrauten Stellungen
behauptet. Die Angreifer nehmen die Stellung, indem sie die jenseitige
Umfassung der Stützpunkte besetzen und nach Wiederherstellung
der Verbände einen neuen Angriff ausführen.“ Von hier bis zu einem
Verzicht auf einen Gegner, wie es vielfach aus psychologischen Gründen
in den Übungslagern des zweiten Kaiserreiches geschah, so daß nur
in einer einzigen Partei geübt wird, ist nur noch ein kleiner Schritt.
Das französische Reglement vom Jahre 1904 hatte ebenso wie alle
deutschen Vorschriften die Bedeutung der zweiseitigen Manöver hervor-
gehoben (,,‚ils doivent être preferes à toutes les autres“). Jetzt heißt
es im vollsten Gegensatz hierzu in Nr. 276: „Zweiseitige Übungen
lassen zwei gegnerische voneinander unabhängige Willenskräfte in
einem bestimmten Rahmen aufeinanderprallen. Die Ereignisse folgen
sich dann mit solcher Geschwindigkeit, daß es dem Leiter schwer
fällt, die gemachten Fehler aufzudecken. Schwache Truppenabteilungen
kommen häufig in ganz unwahrscheinliche Lagen. Nur das Ausbildungs-
programm vom Bataillon an aufwärts kann zweiseitige Übungen
berücksichtigen, nachdem die Truppe die erforderliche Gewandtheit
in den Evolutionen und im Gefecht erlangt hat.“
Der „Rapport justificatif“ nimmt natürlich Stellung zu dieser
Frage, empfiehlt, auf den Standpunkt des Reglements vom Jahre 1875
zurückzugehen, den Übungen gegen einen angenommenen oder nur
dargestellten Feind für die Ausbildung der niederen taktischen Ver-
bände und ihrer Führer die höchste Bedeutung beizumessen, „,‚sie
sind der beste Ausbildungsgang, um Lücken in der Ausbildung der
Führer auszufüllen, sie erlauben unter den Augen und unter der un-
mittelbaren Anleitung und Aufsicht der Vorgesetzten die Selbsttätig-
keit zu entwickeln und zu disziplinieren in dem ihnen auf dem Schlacht-
felde zukommenden Rahmen“. Für uns ist diese Auffassung besonders
lehrreich, lehrreicher aber noch die Begründung: ‚Die Erfahrung hat
gezeigt, daß der Mißbrauch der kleinen zweiseitigen Übungen in viel-
fach unwahrscheinlichen Lagen die Aufmerksamkeit der ausbildenden
230 Das französische Exerzierreglement vom 20. April 1914,
Organe von dem methodischen Studium des Kampfverfahrens abgelenkt
hat, das eine steigende Bedeutung gewinnt, je mehr unter dem Fort-
schritt in der Bewaffnung das Vorwärtsgehen im Feuer schwieriger
geworden ist. Bei den letzten Manövern gemachte Beobachtungen
haben alle die Nachteile hervortreten lassen, die mit der übergroßen
Wertschätzung des Manövrierens kleiner Abteilungen zusammenhängen.“
Die Aufgaben der einzelnen Waffen sind in der Felddienstordnung
angegeben und werden im Reglement zum Teil wörtlich wiederholt.
Die Infanterie ist die Hauptwaffe, sie kämpft durch Feuer und Be-
wegung. „Nur die Vorwärtsbewegung, die zum Kampf Mann gegen
Mann führt, ist entscheidend und unwiderstehlich, aber gewöhnlich
muß ein wirksames und kräftiges Feuer den Weg zum Einbruch in den
Feind bahnen. Nur in sehr bedecktem Gelände und des Nachts kann
ein Angriff aus dem Anmarsch bestehen, dem ohne weiteres der Ein-
bruch mit der blanken Waife folgt.“ Artilleriefeuer, das nur eine
sehr geringe (‚„minime‘“) Wirkung gegen einen Feind in Deckung hat,
kann daher niemals den Verteidiger aus seiner Stellung vertreiben.
Das Vorgehen muß den Gegner zwingen, sich zu zeigen und Ziele zu
bieten. Die Artillerie unterstützt das Vorgehen der Infanterie, indem
sie alles vernichtet (kein Wort mehr von Neutralisieren), was ihr Vor-
gehen aufhalten könnte; besonders erleichtert wird dieses, wenn es
gelingt, die feindlichen Batterien niederzuhalten, daher muß die Artillerie
in voller Stärke eingesetzt werden, „aber Zweck des Artilleriekampfes
ist nur — nach Erlangung des Übergewichts über die feindlichen Ge-
schütze — eine größere Batteriezahl gegen die Angriffsziele der Infan-
terie einzusetzen“. Die Artillerie bereitet nicht mehr die Angriffe
vor, sie unterstützt sie. Der Divisionskommandeur bestimmt der Reihe
nach die Ziele, die unter Feuer zu nehmen sind, frontales und Schräg-
feuer!) sind zu vereinen. Die Überweisung von Batterien an den Führer
des Angriffs wird nicht mehr verlangt, sie soll nur noch in stark bedeck-
tem Gelände geboten sein, vielfach wird ein Angriff gerade aus den
Nebenabschnitten durch Artillerie am wirksamsten unterstützt werden
können. „So ergibt sich die Notwendigkeit für den Divisionskomman-
deur, die Verteilung der Batterien und ihre Aufgaben im Laufe des
Kampfes zur Lösung der der Division gestellten Aufgabe beliebig
ändern zu können.“ (Kommissionsbericht.) Im Gefecht steht die Ar-
tillerie somit grundsätzlich zur ausschließlichen Verfügung des Divisions-
kommandeurs, selbst die für den Marsch bei der Vorhut befindlichen
1) Französische Artillerieoffiziere glaubten aus dem Balkankriege eine
große Bedeutung des Schrägfeuers auf weite Entfernungen mit langen
Kanonen folgern zu müssen.
Das französische Exerzierreglement vom 20. April 1914. 231
Batterien verbleiben nichtsdestoweniger unter den unmittelbaren Be-
fehlen des Führers der Divisionsartillerie. Der Divisionskommandeur
bestimmt das Maß der Unterstützung, das die Divisionsartillerie der
Vorhut gewährt, die Aufgaben für die Einleitung und für die Durch-
führung sowie die einzunehmenden Stellungen. (Art. 105.)
„Die Kavallerie ist die Überraschungswaffe par excellence,
ihre Schnelligkeit gestattet ihr, überraschend einzugreifen und so die
größten Erfolge zu erreichen... Nur die Attacke zu Pferde und
mit der blanken Waffe gibt schnelle und entscheidende Erfolge, sie
ist die hauptsächlichste Verwendungsform, das Fußgefecht wird
nur angewendet, wenn Lage und Geländegestaltung vorübergehend
die Reiter hindern, die Aufgabe zu Pferde zu lösen.‘
Wie auch die Lage der Infanterie im Gefecht. sein mag, die Auf-
gaben, die ihr die Führung stellt, sind immer nur angreifen oder in
gewissen Lagen eine Front zu verteidigen. Angriff und Verteidigung
werden stets bis zu Ende!), gegebenenfalls bis zur völligen Aufopferung
geführt. Vorwärtsdrang beim Anmarsch, Zähigkeit im Angriff und
Hartnäckigkeit in der Verteidigung sind die hauptsächlichsten Eigen-
schaften einer guten Infanterie. Anwendung der materiellen Mittel
wird gesteigert durch moralische Faktoren, sie beherrschen die Ent-
schlüsse der Führer und durchsetzen alle Handlungen der Truppe.
„La Conduite des troupes“ hatte das „rassemblement articulé“ ein-
geführt, im Anmarsch gegen den Feind sollte einem Armeekorps ein
Raum von 4—8 km zufallen, der Gefechtsraum der Infanteriedivision
soll 4 km nicht überschreiten.
Im Anmarsch gegen den Feind (approche) sollen die Truppen dem
eigentlichen Angriffsziel gegenüber bereitgestellt werden, da eine
jede, zum Angriff angesetzte Truppe nur noch geradeaus vorgehen
kann. In Erwartung eines Kampfes entsenden Bataillon, Regiment
und Brigade zu der nächst höheren Befehlsstelle berittene Ofiiziere
mit Meldereitern und Radfahrern als „agents de liaison“ mit der Ab-
sicht, eine gegenseitige Orientierung zu gewährleisten, namentlich
sobald die Truppe, von der sie entsandt sind, berufen ist, ins Gefecht
zu treten. Brigaden und Regimenter können zur Beobachtung der
Bewegung von Nachbarabteilungen Offiziere entsenden. Unter dem
Schutze der Vorhut, eines bis auf wirksame Gewehrschußweite vor-
geschobenen Bataillons, Kompagnie oder nur unter dem Schleier
von Patrouillen wird der „dispositif d'approche“ eingenommen, meist
eine Kolonne für jedes Regiment, die sich bei weiterem Vorschreiten
weiter zerlegt. Die Patrouillen sollen die Fühlung mit vorgeschobenen
1) Also keine Kämpfe um Zeitgewinn.
232 Das französische Exerzierreglement vom 20. April 1914.
Teilen des Feindes aufnehmen, stärkere Verbände sollen diese Vor-
truppen zurückwerfen. Grundsätzlich werden (im Gegensatz zur
Felddienstordnung) die stündlichen Halte beibehalten, um die Truppe
frisch an den Feind zu bringen. Für Schutz gegen Sicht ist Sorge zu
tragen. Im Verbande wird die Truppe flügelweise, auf den Flügeln
meist treifenweise gegliedert. Die Form des Bataillons, die geöffnete
Doppelkolonne mit Zügen in Gruppenkolonne wird als wenig handlich
bezeichnet, empfohlen wird namentlich auch für Bewegungen im unüber-
sichtlichen Gelände und im Walde die Tiefenkolonne. Ausnutzung
von Wäldern für den Anmarsch wird empfohlen, aber zur nötigen
Vorsicht beim Heraustreten ermahnt.
Vor Eintritt in den Bereich des Artilleriefeuers, d. h. 4—5 km
vor den vermuteten Artilleriestellungen, werden geeignete Formen,
nach Breite und Tiefe unregelmäßig in kleine Kolonnen gegliedert,
angenommen, um der Truppe Verluste zu ersparen. Ausnutzen der
Deckungen und schnelle Bewegungen werden zur Verminderung der
Verluste empfohlen. Angesichts Bedrohung durch feindliche Kavallerie
sind Formen anzunehmen, die Entfaltung der vollen Feuerkraft ge-
statten (in der Front Schützenlinien, auf den Flügeln Marschkolonnen);
entsprechende Staffelung kann von Vorteil sein. Betont wird, daß
überraschte Infanterie sich hinwirft, daß nur diejenigen Teile sich an
der Abwehr beteiligen, die unmittelbar bedroht sind, alles andere
setzt die Vorwärtsbewegung fort. Abgesessene Kavallerie wird man
nur mit schwachen Kräften angreifen, während die Hauptkräfte die
Bewegung fortsetzen.
Dem Abschnitte über das Angriffsgefecht sind Gesichtspunkte
vorausgestellt, die Beachtung verdienen.
„Der Angriff verlangt von allen Mitkämpfern den festen Willen,
den Feind durch den Bajonettkanıpf Mann gegen Mann außer Gefecht
zu setzen. Eine Infanterie, die den Befehl hat, anzugreifen, muß alle
Kraft daran setzen, die Vorwärtsbewegung sobald als nur möglich,
wieder aufzunehmen. Der Angriff besteht aus nachfolgenden sich an-
einander schließenden Handlungen: Vorgehen so lange als möglich
ohne Schuß, dann unter Wechsel von Feuer und Bewegung Vordringen
bis zur Sturmstellung, Vorgehen bis zum Bajonettkampf und die Ge-
schlagenen verfolgen. Wie geschickt auch die Anordnungen und wie
wirksam auch die Unterstützung durch die anderen Waffen sein mag,
schließlich hängt alles doch von der Tapferkeit, Energie und Hart-
näckigkeit der Infanterie ab.“
Jeder Truppe wird durch den Angrifisbefehl — an Bataillone
mündlich, an höhere Einheiten stets schriftlich — ein bestimmtes
Angrifisziel gegeben, derart, daß dem Bataillon zur Wahrung genügender
Das französische Exerzierreglement vom 20. April 1914. 233
Kraft für das Handeln bis zu 500, der Brigade bis zu 2000 m Angriffs-
breite gegeben wird, ohne daß dieses eine gleichmäßige Durchführung
des Angriffs auf der ganzen Front bedingen würde, vielmehr soll die
Hauptanstrengung gegen einen bestimmten Punkt gerichtet werden.
Ein Bataillon wird ein einziges Angriffsziel erhalten, während dem
Regiment oder der Brigade zwei oder drei zufallen können. Die Dichtig-
keit der Angriffsfront beträgt einen Schützen auf das laufende Meter.
Unterstützungen folgen ohne Befehl. Die Truppe soll geübt werden,
sich schnell gegen ein bestimmtes Angriffsziel zu entwickeln, schnell
aus Deckungen herauszutreten. Eine Truppe, die sich zu spät unter
dem Feuer des Feindes entwickelt, erleidet alle Nachteile des Überfalls,
sie verliert die Vorhand und büßt an Kampfkraft ein. Die Kompagnien
vorderer Linie bilden außerhalb der Sicht und des Feuerbereichs des
Feindes die Schützenlinie. Sobald die feindliche Stellung zu erkennen
ist, werden den Zugführern ihre Marschziele bezeichnet. Schnell und
energisch — in bedecktem Gelände gehen von Offizieren und Unter-
offizieren geführte Patrouillen voraus — suchen die Schützen die Feuer-
stellung zu gewinnen, in der auf Befehl des Kompagniechefs (für die
Maschinengewehre auf Befehl des Bataillonsführers) das Feuer eröffnet
wird. Das Feuer — kurze und kräftige Rafales — wird vom Zugführer
— oder Halbzug- oder Gruppenführer — geleitet und meist auf eine
bestimmte Stelle des Zieles für den Zug gerichtet. Die ganze Infanterie-
taktik besteht in einer geschickten Vereinigung von Feuer und Be-
wegung, diese wird sobald als möglich aufgenommen. Sprünge unter
dem Feuerschutz der Nachbarteilungen werden so lang als möglich
ausgeführt. Kräftezustand der Mannschaft und Aufrechterhalten
schärfster Ordnung sind maßgebend für die Länge des Sprunges. Jede
Gelegenheit, um nach vorwärts Gelände zu gewinnen, ist zu benutzen,
Nachlassen des feindlichen Feuers, das wirkungsvolle Einschlagen
eigener Geschosse in denFeind muß zum Vorspringen auffordern, schließ-
lich, wenn die Schützenlinie aus eigener Kraft nicht vorwärts kommt,
ist die Aufgabe der Unterstützungen (renforts), die Linie vorzureißen.
Den Befehl erteilt der Kompagnieführer, der: Art des Einsetzens der
Unterstützung ist bei der Ausbildung ganz besondere Aufmerksamkeit
zu widmen. Die Schützenlinie hat schließlich eine Entfernung ge-
wonnen, aus der in einem einzigen Sprunge die feindliche Stellung
erreicht werden kann. Der Entschluß zum Sturm geht entweder von
den Führern der vorderen Linie aus (neu), oder erfolgt auf Befehl des
höheren Führers. Die Schützen ballen sich im Vorlaufen hinter ihren
Führern zusammen, das Sturmsignal veranlaßt alle noch weiter zurück-
befindlichen Teile, sich der Vorwärtsbewegung anzuschließen. Bei
den Übungen soll diese Art des Einbruchs ganz besonders gründlich
Jahrbücher für die deutsche Armee und Marine. Nr. 516. 18
234 Das französische Exerzierreglement vom 20. April 1914.
geübt werden. Ist die Stellung genommen, so soll sie besetzt und sofort
zur Verteidigung eingerichtet werden. Sehr richtig wird hervorgehoben
und soll dieses auch zum besonderen Übungsgegenstand gemacht werden,
daß sich vielfach an den ersten Angriff ein zweiter anschließen muß,
um den Erfolg auszubeuten.
Mit Bemerkungen über Verwendung von Maschinengewehren
schließt der Abschnitt, sie werden beim Anmarsch den Bataillonen
erster Linie zugeteilt, beim Angriff gehen sie mit der Unterstützungs-
kompagnie vor, werden sofort eingesetzt, wo sich eine Verstärkung
der Feuerkraft der Gefechtslinie, um ein Vorgehen zu ermöglichen,
als notwendig erweist. Nach der Feuereröfinung folgen die Maschinen-
gewehre so nahe als möglich der Gefechtslinie; falls überhöhende Stellung,
Lücken in der Feuerlinie ihnen nicht günstige Stellungen bieten. Beim
Sturm müssen sie suchen, möglichst gleichzeitig mit den Schützen
in der vorgenommenen Stellung einzutreffen.
Die Verteidigung hat den Zweck, den Feind.in einer gegebenen
Front festzuhalten, um der Führung zu ermöglichen, erheblichere
Kräfte für den Angriff zu sparen, ohne Befehl darf daher Infanterie
die zugewiesene Stellung nicht räumen, jeder muß entschlossen sein,
sich lieber töten zu lassen, als von der Stelle zu weichen. Einziges
Kampfmittel ist das Feuer, welches bis zur wirksamsten Schußweite
(800 bis 1000 m) unter Zusammenwirken mit der Artillerie derart
ausgenutzt wird, daß im allgemeinen nur gegen sich vorbewegende
Teile des Feindes gefeuert wird. Gelegentlich kann auch ein Zurück-
halten des Feuers am Platze sein, falls man den Feind in das Feuer
hineinlaufen lassen kann. Ein Bataillon erhält eine Frontbreite von
800 bis 1000 m zugewiesen, die am zweckmäßigsten in einzelnen Gruppen
besetzt wird, derart, daß die Dichte der Besetzung bemessen wird
nach den Aussichten des Angriffs. Erst vom Bataillon an aufwärts
ist eine Verbindung von Feuer und Angriff möglich. Unterschieden
wird zwischen dem Gegenangriff (contreattaque), möglichst erst dann
angesetzt, wenn die feindliche Artillerie ihr Feuer vorverlegen muß,
um die eigenen Truppen nicht zu gefährden, und dem „Retour offensif“
zur Wiedereroberung einer verlorenen Stellung.
Das Reglement betont, bei dem Kampf um Örtlichkeiten
und Wälder nach Wegnahme des Randes sich erst in diesem fest-
zusetzen und neu zu ordnen, ehe man an eine Weiterführung des An-
griffs denkt. Im Waldgefecht soll die Kompagnie die Einheit bilden,
die je nach der Dichte des Waldbestandes mit Zügen oder Halbzügen
auf gleicher Höhe zu Vieren oder Zweien vorgeht, je lichter der Wald,
um so größer können die Zwischenräume bemessen werden, je unweg-
samer der Wald, um so geringer die Zahl der Kolonnen, in denen man
Das französische Exerzierreglement vom 20. April 1914. 235
ihn durchschreitet. Hauptwaffe ist das Bajonett. Unterstützungen
und Reserven werden im allgemeinen zur Verbreiterung der vorderen
schmal bemessenen Gefechtslinie bestimnit, sie suchen bei einem Zu-
sammenstoßB den Feind in Flanke oder Rücken zu fassen. Das Regle-
ment weist darauf hin, daß bei der Schwierigkeit der Leitung eines
Waldkampfes die Truppe jede Gelegenheit benutzen muß, das Wald-
gefecht zu üben.
Neu sind im Reglement die Vorschriften über das Nachtgefecht.
Es wird ausgegangen von den Vorposten bei Erlöschen des Kampfes
am Abend des Gefechtstages (avantpostes de combat), die unter Zu-
teilung von Scheinwerfern und Maschinengewehren die Sicherung der
durch die Anstrengungen des Tages ermüdeten Truppe übernehmen,
daher ihre Ruhe nicht ohne Grund stören sollen. Patrouillen werden
bis dicht an den Feind herangeschoben. Gestattet es die Lage, so können
Teile der ersten Linie in der Dunkelheit abgelöst oder zurückgeführt
oder auch der Vorpostendienst erleichtert werden.
Nachtangriffe haben den Zweck, sich in den Besitz eines bestimmten
Punktes zu setzen. Da die Feuerwirkung des Feindes nicht in Ansatz
zu bringen ist, so können Tapferkeit, Manneszucht und Zusammen-
hang einen Ausgleich der Minderzahl bieten. Bei der Schwierigkeit
einer Gefechtsleitung wird man für Lösung einer Gefechtsaufgabe
nur ein Bataillon bestimmen. Außer der Angabe, daß die Truppe
in Kolonne oder in Linie von Zügen in Marschkolonne zu formieren
ist, daß die Truppe sich nicht durch den Widerstand feindlicher Siche-
rungen aufhalten lassen darf, sondern suchen muß, bis zu den Haupt-
kräften durchzustoßen, finden sich keine Hinweise für Ausführung
von Nachtgefechten. In der Verteidigung soll sich sofort der Gegen-
angriff an die Feuerabgabe anschließen. Eingehender wird das Ab-
brechen des Gefechts in der Dunkelheit behandelt, sehr richtig wird
darauf hingewiesen, daß die Truppen vorderer Linie erst auf Befehl
folgen dürfen, wenn das Ende der zuerst in Marsch gesetzten Kolonnen
sich außerhalb des Wirkungsbereiches des Feindes befindet, die Vor-
posten folgen abteilungsweise, Postierungen bleiben am Feinde, die
dann mit entsprechendem Abstande folgen.
Im Gegensatz zur deutschen Vorschrift, die vom kleineren zum
größeren aufbaut, beginnt das französische Reglement mit den höheren
Verbänden, so den Rahmen umgrenzend, in den sich die kleineren
Infanterieeinheiten einzufügen haben. Die Brigade wird als der höchste
Verband bezeichnet, in dem die Infanterie noch einheitlich auf dem
gleichen Gelände zu fechten vermag, die Bedeutung des Regiments
als „l’unite de combat de l'infanterie par excellence“ infolge seiner
Überlieferung und engen gemeinsamen Lebens hervorgehoben. Unter
18*
236 Das französische Exerzierreglement vom 20. April 1914.
Umgehung mannigfacher Wiederholungen soll im nachstehenden
nur das Wesentlichste im Kampf der Truppeneinheiten erwähnt werden.
Es wird auf die Gefahr hingewiesen, die durch die starke Zuteilung
von „agents de liaison“ bei den einzelnen Stäben eintritt, die infolge-
dessen auch ein besonders großes Ziel bieten werden, wenn nicht mit
besonderer Aufmerksamkeit die Aufstellung angeordnet wird?).
Auf engen Zusammenhang zwischen der Reserve und dem Führer
wird hingewiesen. ‚Was sich auch ereignen mag, der Führer hat die
ernste Verpflichtung, seine Reserven bis auf den letzten Mann ein-
zusetzen und schließlich auch seine eigene Person in den Kampf zu
werfen, um so mit allen Mitteln das von der höheren Führung gesteckte
Ziel zu erreichen. Er begibt sich zu dem Teil der Gefechtslinie, der
dem Feinde anı nächsten ist, übernimmt den Befehl und reißt die
Truppen vorwärts. Aufgabe aller benachbarten Abteilungen ist, seinem
Beispiel zu folgen. .. .“
Besonders bestimmt wird, daß der Oberst Befehle den berittenen
Aufklärern, den Maschinengewehrzügen, der Gefechtsbagage (dicht
hinter dem Verfügungsbataillon) zu erteilen hat, weiterhin hat er
für den Munitionsvorschub (388) und für den Sanitätsdienst zu sorgen.
„Das Bataillon ist die taktische Einheit der Infanterie, es besitzt
genügende Mittel, um einen Angriff bis zum Sturm durchzuführen,
in der Verteidigung Abwehr und Gegenangriff zu verbinden. Mit anderen
Waffen verbunden, kann das Bataillon vorübergehend Aufgaben lösen,
die eine große Selbständigkeit erheischen.
Der Wunsch, von vornherein die Feuerüberlegenheit zu haben,
kann im offenen Gelände bei gut sichtbaren Angriffszielen im Verbande
dahin führen, sofort mehrere Kompagnien, gewöhnlich wenigstens
zwei, einzusetzen, anders im bedeckten Gelände, man wird dann mit
dem Einsatz der Kompagnien zurückhaltender sein; unter gleichen
Verhältnissen kann auch die Kompagnie zum Angriff gleich ihre vier
Züge einsetzen. Ist erst einmal der Angriff begonnen, so kommt es
darauf an, die moralische Überlegenheit über den Feind zu bewahren,
indem man die Bewegung in Fluß erhält. Entschlossen wirft der Batail-
lonskommandeur, ohne viel zu feilschen, seine Unterstützungen zug-
oder kompagnieweise in den Kampf, sobald er beobachtet, daß die
Kraft erlahmt oder daß die Schützenlinie zum Halten kommen will.
Nur dadurch, daß der Bataillonskomniandeur seine Unterstützungen
geradeaus vorschickt gegen einen einzigen Punkt des Angriffszieles,
soweit als möglich in entstandenen Lücken, hat er die größte Aussicht,
1) Schon beim Bataillon sind vorhanden: l’adjutant major, caporal
clairon, die fouriers der einzelnen Kompagnien und ein Radfahrer.
Das französische Exerzierreglement vom 20. April 1914. 237
das ihnen gestellte Ziel zu erreichen.“ Was über den Einsatz der Person
der höheren Führer gesagt ist, trifft in gesteigertem Maße für den
Bataillonskommandeur zu.
„Hat der Kommandeur nach Einnahme der Stellungen noch Unter-
stützungen zur Hand, so kann er sie zur Verfolgung des weichenden
Feindes vorschicken, seine Hauptaufgabe aber muß sein, den Besitz
des genommenen Geländes zu sichern. Wenn nötig, läßt er dort den
Hauptteil seiner Kräfte und läßt das Gelände zur Verteidigung ein-
richten.“
Die Konpagnie kämpft fast immer im Verbande, gelegentlich
kann sie auch in der Front oder auf den Flügeln besondere Aufgaben
erhalten, z. B. als Artilleriebedeckung oder Kavallerieunterstützung,
die sie aus dem Rahmen des Bataillons herausführen.
Den Zugführern ist zum Durchschreiten des Geländes und der
vom feindlichen Feuer beherrschten Räume volle Selbständigkeit
gelassen (Nr. 416), das Reglement gibt hier eine Anzahl Winke, die
eigentlich nicht erst reglementarisiert zu werden brauchten.
Im Abschnitt „Zug“ interessieren besonders die Angaben über
Feuertaktik. ‚Das Feuer hat nur den einen Zweck, die Wiederaufnahme
der Vorwärtsbewegung zu ermöglichen und diese in der Ausführung
zu unterstützen.‘
Das Schützenfeuer (feu à volonté) wird vor allem auf den Nah-
entfernungen gebraucht, um den Feind mit Geschossen zu überschütten,
so ein Vorwärtsgehen zu ermöglichen. Das Schützenfeuer mit einer
bestimmten Patronenzahl gestattet am besten, das Feuer in der Hand
zu behalten und dem Zugführer eine Übersicht über die vorhandene
Patronenmenge zu gewähren. Magazinfeuer soll die größte Wirkung
in kürzester Teit erzielen, Salven werden nur ausnahmsweise angewendet
gegen Kavallerie, bei Nacht und wenn es darauf ankommt, die Truppe
in der Hand zu behalten. Vor übermäßiger Beschleunigung des Feuers
wird gewarnt (420), es kann auch zweckmäßig sein, nur einen Halbzug
oder eine Gruppe feuern zu lassen, nur ausnahmsweise ist das Feuer
einzelner ausgesuchter Schützen von Vorteil. Im Angriff feuert der
Zug auf Befehl des Zugführers oder eines Schießenden auf einen Punkt
des Zieles. Diese Vorschrift hat den Zweck, die auf allen Schlacht-
feldern beobachtete große Streuung zu vermeiden. Ausnahmsweise
hei einer gut gedeckten, fest in der Hand des Führers befindlichen
ruhigen Truppe kann jedem Halbzuge und selbst jeder Gruppe ein
Zielpunkt gegeben werden. Diese Eigenart der im Widerspruch mit
unseren Anschauungen stehenden Feuervereinigung verdient Beachtung
und gelegentliche Erprobung bei einem Kampfschießen. Neu, aber
238 Die Grundbedingungen des kriegerischen Erfolges.
ähnlich wie in Deutschland, ist die Verwendung der Entfernungsschätzer
(observateurs).
Die Bestimmungen über Ausführung der Sprünge bieten nichts
Neues, es wird gestattet, was namentlich für den allein auftretenden
Zug erforderlich sein dürfte, eine Abteilung als Feuerschutz liegen zu
lassen. „Zweck ist, Gelände zu gewinnen, alle Mittel sind gut, um dieses
zu erreichen unter der Voraussetzung, daß nur in geschlossenen und
befelligten Verbänden mit Tatkraft und Schnelligkeit vorgegangen
wird.“
Diese Besprechung wurde niedergeschrieben, ehe noch französische
und deutsche Infanterie Schüsse gewechselt hat. Das Reglement ist
gut und kriegsgemäß einfach, wenn uns auch die Neigung, alles zu
reglementarisieren, wenig behagt. Das beste Reglement ist wertlos,
wenn die Führer und der Mann, die es anwenden, nicht in seinem Geiste
handeln. Einen Grund, es unserem Reglement für überlegen zu halten,
liegt nicht vor. Mehr als der Buchstabe der Vorschrift entscheidet
der Wille zum Siege.
XIV.
Die Grundbedingungen
des kriegerischen Erfolges ').
Von
v. Zwehl.
„Herr, wo befiehlst du, daß wir sterben sollen?“ Dies Wort
des Prinzen Friedrich Karl hat der General v. Freytag seinem neuesten
Werk als Motto vorangesetzt. Es deutet treffend an, worin letzten
Endes die Grundbedingungen des kriegerischen Erfolges beruhen: dem
überlegenen militärischen Geist, der alle Glieder eines Heeres so durch-
dringen muß, daß jeder allezeit bereit ist, sein Leben an die Er-
füllung seiner Pflicht zu setzen. Aber Todesbereitschaft ist nur
letzten Endes dasjenige worauf es ankommt; mit dem Heldenmute
I) Beiträge zur Psychologie des Krieges im 19. und 20. Jahrhundert,
von Frhr. v. Freytag-Loringhoven, Generalleutnant und Komman-
deur der 22. Division.
Die Grundbedingungen des kriegerischen Erfolges. 239
allein sind weder die Truppen geschickter an den Feind zu bringen,
noch genügt die Tapferkeit zur glücklichen Durchführung der Gefechte.
Daß es den Österreichern 1866, den Franzosen 1870/71 an ritter-
licher Tapferkeit gefehlt hätte, kann ihnen nicht vorgeworfen werden
und doch sind beiden schwere Niederlagen nicht erspart geblieben.
Der General v. Freytag untersucht in der vorliegenden Schrift
die inneren organisatorischen Verhältnisse der Heere, wie sich aus
ihnen die Brauchbarkeit, Stoßkraft und Widerstandsfähigkeit ent-
wickelt hat oder verkümmert ist, wie sich die Heere in den einzelnen
Kriegen der verflossenen hundert Jahre bewährt oder warum sie
Schiffbruch gelitten haben.
Er beginnt mit den Türken 1912 und ihrem Verhalten in den
Feldzügen 1877/78 sowie im Thessalischen Kriege.
Es folgt eine treffende Übersicht über die Russen und zwar,
nach einem einleitenden Satz über den Werdegang des russischen
Heeres von Peter dem Großen bis zu Alexander I., eine Betrachtung
über die Leistungen in den verflossenen hundert Jahren. Es lag
nahe, besonders die Leistungen im mandschurischen Kriege und die
Gründe für das Versagen einem Feinde — den Japanern — gegen-
über, dessen Wille zu siegen oder zu sterben stark war eingehend
zu prüfen und daraus die Grundbedingungen des kriegerischen Erfolges
abzuleiten.
Nicht durch überlegene Feldberrnkunst sind die Russen besiegt.
An inneren Mängeln ihres Heeres sind sie gescheitert.
Bei Schilderung der preußischen und deutschen Entwickelung
sowie der Erfolge und Mißerfolge von den Befreiungskriegen bis zum
Feldzuge 1870/71 verweilt der Verfasser mit besonderer Gründlichkeit.
Die Einwirkung des Königs Wilhelm und des Prinzen Friedrich Karl,
des letzteren weit über seinen eigentlichen Befehlsbereich hinaus, auf
die Entwickelung von Verantwortungsfreudigkeit, werden in helles
Licht gesetzt, die falschen Wege, welche die österreichische Taktik
nach dem italienischen Feldzuge eingeschlagen hatte, sachgemäß er-
läutert.
Die französischen Armeen sind in vier Stadien ihrer Wirk-
samkeit betrachtet: Die Armeen des ersten Kaiserreichs, die trotz
manchen Zusammenhanges mit derjenigen der ancien régime sich doch
hauptsächlich auf die alles weit überragende Feldherrngestalt des
Kaisers stützte, aber auch vielfach da enttäuschte, wo Napoleon m. A.
selbst zur Stelle war, weil dieser bedeutende Männer neben sich nicht
aufkommen ließ. Den zweiten Ahschnitt bildet die Begründung für
das Schinden im Wert des Heeres während der Königszeit nach dem
Sturze des großen Korsen, der dritte Abschnitt behandelt die Armee
240 Die Grundbedingungen des kriegerischen Erfolges.
unter Napoleon III. in der Krim und Italien, die in den Anfängen
stecken bleibende Reorganisation unter dem Marschall Niel.
Den vierten Abschnitt dieses Kapitels bildet die Charakteristik
des französischen Heeres im Kriege 1870/71, und zwar sowohl die
kaiserliche wie die vergeblichen Anstrengungen der Republik, durch
Neuformationen dem Kriege eine andere Wendung zu geben. Hieraus
und aus einer Betrachtung der Nordamerikaner im Sezessions-
kriege zieht der Verfasser zunächst den Schluß, daß die Haltung
improvisierter Heere stets eine unsichere, gesteigerten Anforderungen
niemals gerechtsame war. Allerdings sind auch fester gefügte, ja
vortrefflich ausgebildete Volks- und Berufsheere nicht sicher vor Paniken
und völligem Versagen, aber doch viel seltener. „Kennzeichnend für
Heeresimprovisationen ist die geringe Widerstandsfähigkeit gegen die
Witterung, die Anstrengungen und Entbehrungen des Krieges sowie
das geringe Gegengewicht, das sie unerwarteten Eindrücken entgegen-
setzen. Die Paniken in Thrazien, die rasch um sich greifende Er-
schütterung der französischen Loirearmee nach den Tagen von Beaune-
la-Rolande und Loigny-Pruzoy, das gänzliche Versagen der Armee
Bourbakis im Südosten Frankreichs, die Paniken von Lull, Run und
Chancellorsville sind hierfür beredte Zeugnisse.“
Mit guten Gründen bricht der Verfasser eine Lanze für den oft
verspotteten und verachteten Drill. Ob weniger gut „gedrillte“
Truppen als die preußischen Garden einen Angriff wie denjenigen bei
St. Privat ohne eine völlige Katastrophe hätten durchführen können,
muß bezweifelt werden. Der Drill kann zwar nicht alles machen,
aber fest steht, daß nichts sicherer als dieser Drill zur Gewohnheit des
Gehorchens erzieht; man kann noch hinzusetzen zur höchsten An-
spannung aller seelischen und körperlichen Leistungsfähigkeit auch bei
der trägen, schwer zu begeisternden Masse, an der es nirgends fehlt,
die im Gegenteil überall überwiegt. „Nicht Vorliebe für die Rou-
tine, für das Altgewohnte läßt uns am Drill festhalten, sondern die
geschichtlich begründete Erkenntnis, daß hier jedes Nachlassen eine
schwere Gefahr bedeutet. Als eine solche bezeichnete Erzherzog
Albrecht schon 1869 (in seiner Schrift über Verantwortlichkeit im
Kriege) „„die Bestrebungen einer subversiven Presse, die in jedem
Heere unentbehrliche Disziplin und die strengen Dienstformen lächer-
lich zu machen.*“ „Diese Gefahr aber ist heute um so größer, als
sie nicht immer gleich auf den ersten Blick erkennbar ist, Auch der
Offizier ist ein Kind seiner Zeit, und nicht jedem gelingt es, sein
Urteil von der sogenannten öffentlichen Meinung freizuhalten. Dar-
über schrieb cer Prinz von Preußen im Jahre 1840 (Militärische
Schriften Kaiser Wilhelms des Großen): „„Das ist das Ende, wenn
Die Grundbedingungen des kriegerischen Erfolges. 241
man immer der öffentlichen Meinung nachhängen will.““ „Kein Ein-
sichtiger aber wird sich dem verschließen, daß die heutigen Massen-
heere, wenn sie Zusammenhalt bewahren und lenkbar bleiben sollen,
einer festen Kriegszucht bedürfen.“
Über die Bedeutung des Offiziers für kompakte Erfolge sagt
Freytag in seinem Schlußwort: „Je länger der Friede dauert, um so
mehr muß dafür im Offizierkorps, dem Rückgrat der Armee, der
kriegerische Geist geweckt, mit allen Mitteln erhalten und gepflegt
werden. Das russische Offizierkorps des Mandschureiheeres hat es
vielfach an Hingebung nicht fehlen lassen, in seiner Masse aber wies
es zahlreiche Schwächen auf und war nicht von kriegerischem Geiste
erfüllt. Ihm fehlte die echte Freude am Handwerk, die Begeisterungs-
fähigkeit, die ihre Nahrung schöpft aus der Größe des Krieges selbst,
aus seiner wilden Poesie; es war nicht dazu erzogen, einen mächtigen
Antrieb zu sehen in dem Bewußtsein gesteigerter Gefahr inmitten der
Gefahr. Erst wo solches Denken einem Offizierkorps selbstverständ-
ich ist, wird es der Führerschaft eines Volksheeres würdig sein.
Darum auch hat eine derartige Gesinnung mit Kriegstreiberei nicht
das geringste zu tun. Zu einer solchen ist nur dort der geeignete
Boden, wo ein Offizierkorps sich der Politik nicht fernhält, wo Ver-
hältnisse bestehen, wie in Frankreich unter dem zweiten Kaiserreich.
Ist die geistige Förderung auf allen Gebieten, die unmittelbar
oder mittelbar den soldatischen Beruf betreffen, im Hinblick auf die
kriegerische Aufgabe des Offizierkorps von hoher Wichtigkeit, so steht
doch die Heranbildung von Charakteren in erster Linie.
In neuerer Zeit hat der mandschurische Feldzug gezeigt, wie sehr der
Krieg selbständige Charaktere, jugendhafte Männer fordert mit Nerven,
die den Anforderungen tagelanger Kämpfe gewachsen sind.
Die militärischen Schriften des Generals v. Freytag sind vor
allem deshalb so geschätzt, weil sie mit feinem Verständnis, mit
sicherem Urteil dem inneren Zusammenhang der Erscheinungen des
Krieges nachzugehen wissen. Des Verfassers ebenso gediegenes wie
umfangreiches kriegsgeschichtliches Wissen befähigt ihn, überall Ur-
sache und Wirkung zu erkennen. Das vorliegende Werk schließt sich
den zahlreichen anderen Veröffentlichungen dieses mit vollem Recht
in der Reihe der Ersten stehenden Militärschriftstellerss würdig an,
nach sachlichem Inhalt wie nach prägnanter, packender Form.
242 Gegen den Hochschuß.
XV,
Gegen den Hochschuss.
Von
Kgl. Bayr. Oberst Föringer.
Das Ex.-R. f. d. I. gibt in Z. 336 als Anzeichen der eigenen
Feuerüberlegenheit auch das Zuhochgehen der feindlichen Geschosse
an. Damit wird also angedeutet, daß bedrängte Lage den Schützen
in einer Weise beeinflußt, die Hochschuß bewirkt. Ich selbst habe
als Leutnant das merkwürdige Glück gehabt, alle die 17 Schlachten
und Gefechte, an denen das 1. Bataillon des Kgl. Bayr. Infanterie-
leibregiments beteiligt war, mitmachen zu dürfen, und meine Gefechts-
erfahrung geht dahin, daß die Franzosen immer Hochschuß gehabt
haben und wir meistens. Es ist auch psychologisch zwingend und
längst bekannt, daß in der Erregung nicht nur überhaupt schlecht,
sondern eben gerade zu hoch geschossen wird; naturgemäß desto
mehr, je reizbarer das Temperament und je kritischer die Lage. Ganz
ohne Erregung werden aber im heutigen Gefecht wohl nur wenige
bleiben. Die Statistik weist nach, ein wie geringer Bruchteil der Ge-
schosse im Kriege nur trifft, aber man hat meines Wissens nicht ge-
nügend klar gemacht und die Folgerung daraus gezogen, wohin die
Fehlgeschosse gehen: in die Lücken nur eine der Dichtigkeit des
Zieles entsprechende Verhältniszahl zu den Treffern, nur ganz wenige
in den Boden, weit weitaus die meisten aber über das Ziel. Eine
Truppe, die den Hochschuß vermiede, wäre darum unbesiegbar. Seit
dem Feldzug ist unser Gewehr und unsere Schießausbildung noch viel
besser, aber die Lehrzeit kürzer und die Nervenkraft der Menschen
nicht größer geworden. Die Trefferzahl wird im nächsten Krieg
größer werden, aber der Hochschuß wird sie immer noch am meisten
beeinträchtigen. Ihn zu bekämpfen, wäre also von der größten Wichtig-
keit. Leider ist nur geringe Möglichkeit dazu gegeben, aber diese
wenigstens sollte ergriffen werden!
Was etwa schon bei der Friedensausbildung geschehen könnte,
mag jetzt außer Betracht bleiben; nicht ohne Wirkung aber wird es
sein, wenn zu Beginn des Krieges und wieder vor jedem Zusammen-
stoß die Truppe eindringlich vor dem Zuhochschießen gewarnt wird.
Und dann noch was:
Unsere Schießausbildung beruht auf dem Fleckschießen. Bei
den hauptsächlichsten Entfernungen und Zielen des Ernstfalles ist je-
Gegen den Hochschuß. 243
doch ein Fleckschießen von selbst ausgeschlossen, und auch auf nähere
und größere Ziele werden nur wenige Schützen nicht durch die Er-
regung behindert sein, wirklich fleckzuschießen; je näher am Feind,
um so weniger. Im Gefecht genügt es aber ja zumeist, nur eine mög-
lichst flache Geschoßgarbe auf die kaum sichtbare Feuerlinie des
Gegners zu bringen. Gleichwohl ist das Prinzip der deutschen Schieß-
vorschriften das allein richtige; denn es gilt ja im Frieden, den Mann
zu einem gewissenhaften Schützen zu erziehen, das Treffenwollen
zu schulen, das richtige und gute Schießen zur mechanischen Ge-
wohnheit zu machen; und dies ist nur mit Fleckschießen möglich.
Es wird damit gewissermaßen das Unmögliche verlangt, um das Mög-
liche zu erreichen. Wer aber im Krieg zu viel verlangt, läuft Ge-
fahr, gar nichts zu erreichen. Wenn man vom Manne verlangt,
auch in der Aufregung des Kampfes noch das Korn nach zwei
Richtungen genau zu nehmen, so werden es die meisten nach keiner
tun, und, ohne das Ziel überhaupt ins Auge zu fassen, losknallen.
In den meisten Gefechtslagen wird aber schon genug erreicht, wenn
nur überhaupt gegen das Ziel angeschlagen und das Korn nicht zu
voll genommen wird.
Drum, wenn ich nochmal eine Infanterietruppe gegen den Feind
führen dürfte, würde ich noch in ruhigerer Stunde vor der Mög-
lichkeit eines Zusammenstoßes etwa folgendermaßen zu meinen Leuten
reden:
„Nun wird es bald Ernst werden. Wir wollen und wir müssen
siegen. Wir können es aber nur, wenn wir gut schießen. Dies habt
ihr auf dem Schießplatz gelernt, aber auf dem Schlachtfeld ist es
viel schwieriger; denn vor allem wird es erschwert durch die Er-
regung, die da einen jeden ergreift, den einen aus Furcht, den anderen
aus Kampflust und Eifer, und das gerade um so mehr, je wichtiger
es wird, gut zu schießen. Darum ist es eure heilige Pflicht um des
Sieges willen, mit ganzer Seelenkraft zu trachten, die Erregung zu
meistern, es ist dies aber auch in eurem eigensten Interesse, denn je
ruhiger ihr schießt, desto sicherer werdet ihr heil aus dem Gefecht
kommen. Also sage sich jeder beständig vor: „Nur ruhig! nur kalt!“
Wenn aber einer dennoch der Erregung nicht Herr zu werden ver-
mag, dann, in Gottes Namen, sei es ihm erlassen, genau und haar-
scharf zu zielen, das Korn gestrichen in die Mitte der Kimme zu
bringen, es genügt dann, wenn er nur überhaupt das Ziel im Auge
anschlägt und sich ja hütet, das Korn zu voll zu nehmen, lieber zu
fein! Denn es ist eine alte Erfahrung, daß in der Aufregung nicht
nur überhaupt schlecht, sondern fast immer zu hoch geschossen wird.
Schüsse, die zu kurz gehen, können noch als Aufschläger treffen und
244 Leichte Geschütze zum Begleiten des Infanterieangriffs.
schrecken auch sonst den Feind, Kugeln jedoch, die über ihn hinweg-
pfeifen, die lacht er aus, sie ermutigen ihn. Einer Schützenlinie
gegenüber, die nicht zu hoch schießt, wird es bald stiller werden.
Eine Truppe, die den Hochschuß vermeidet, ist unbesiegbar. Also
nochmal: Kein grobes Korn! Und eine Schande wär's, wenn einer
ohne Anschlag aufs Ziel nur blindlings in die Luft knallen würde,
Eine Affenschande! Und noch was für die Gruppenführer: Geben
Sie mit Obacht, wie jeder Einzelne schießt, und wenn Sie sehen oder
meinen, daß einer zu hoch schießt, so suchen Sie nicht etwa es
durch Zurufen abzustellen, das würde nur die Aufregung steigern,
sondern machen Sie sich an ihn heran und belehren ihn gütlich!
Sehen Sie mir auch ja darauf, daß nicht etwa, näher an den Feind
herangekommen, versäumt wird, auch das Visier zu ändern. Sehen
Sie auch das bei jedem einzelnen nach!“
Unmittelbar vor dem Gefecht würde ich dann nur noch kurz
daran erinnern:
„Kinder! Denkt daran, was ich euch vorgestern gesagt habel
Also nur kalt! Auf’s Ziel anschlagen und kein grobes Korn! Gruppen-
führer, an die Visierstellung denken! Und nun
Schützenheil zum Sieg!
XVI.
Leichte Geschütze
zum Begleiten des Infanterieangriffs.
Von
v. Richter, Generalmajor z. D.
Der ungenannte Verfasser des Aufsatzes: „Sind für den Feldkrieg
verschiedene Geschützarten nötig?“ im Märzheft 1914 dieser Jahr-
bücher beantwortet die Frage mit „ja“. Zur Lösung aller Ge-
fechtsaufgaben seien die eingeführten Feldkanonen unzureichend, wes-
halb die meisten Staaten zur Ergänzung ihrer Wirkung gegen stark
gedeckte oder widerstandsfähige Ziele Haubitzen und schwere Flach-
bahnkanonen angenommen hätten oder einzuführen im Begriff stānden.
Darüber hinaus sei es wünschenswert, zur Unterstützung der Infanterie
Leichte Geschütze zum Begleiten des Infanterieangriffs. 245
ganz leichte, womöglich tragbare Geschütze zu haben. Die Berechti-
gung dieses Wunsches leitet er aus den Lehren des Balkankrieges ab,
auf Grund deren der französische General Herr zu beregtem Zweck
Gebirgsgeschütze für geeignet hält. Auch stützt er seine Behauptung
mit einer Ansicht des Generalleutnants v. Reichenau, die im Militär-
Wochenblatt vom 30. September 1913 niedergelegt ist. Dieser wünscht
neben den Flachbahnfeldgeschützen ein zu schnellen Angriffsbewegungen
befähigtes Geschütz und fügt hinzu, daß man stellenweise geneigt zu
sein scheine, den Gebirgsgeschützen eine weitere Verwendung auch
im Feldkriege zu geben, was bei der Ausdehnung des Wirkungs-
bereichs ihrer schweren Muster bis auf 6000 m nicht ausgeschlossen
erscheine.
Zwischen der Forderung des ungenannten Verfassers und der An-
sicht des Generalleutnants v. Reichenau besteht ein weiter Unter-
schied. „Ganz leichte, womöglich tragbare Geschütze“ lassen der Ver-
mutung Raum, daß von Menschen zu tragende oder zu ziehende sog.
Pompoms gemeint sein könnten, wie solche nach dem Burenkriege
- bei der englischen reitenden Artillerie eingeführt, sehr bald aber durch
Maschinengewehre ersetzt wurden. Derartige kleinkalibrige Kanonen
werden nur Vollgeschosse oder fast wirkungslose Granaten verfeuern
können, die zum Bestimmen der Entfernung kaum geeigneter wären,
als die Kugeln der Maschinengewehre. Gegen liegende oder gedeckte
Schützen sind sie der rasanten Flugbahn wegen machtlos und zum
Bekämpfen dünner Schützengruppen oder Durchschießen schwacher,
während der letzten Abschnitte des Angriffs aufgeworfener Erd-
deckungen reichen auch Gewehrgeschosse aus. Ein Bedürfnis nach
einer derartigen Waffe läßt sich daher stichhaltig nicht begründen.
Neue Erzeugnisse der Waffenfabriken an schweren Gebirgs-
geschützen können schon eher in Erwägung gezogen werden, da ihre
Schußweite mit 6000 bis 7500 m und ihr Geschoßgewicht von 6,5
bis 7 kg an die gleichen Leistungen der Feldkanonen heranreichen.
Dementsprechend schwankt aber auch ihr Fahrzeuggewicht, sofern die
Protzen mit Munition gefüllt sind, zwischen etwa 1000 und 1100 kg
und dasjenige unter Umständen mitgeführter Munitionswagen erreicht
ein solches bis etwa 1400 kg. Ihr Fortschaffen muß also je nach
Wegbarkeit des Geländes durch Zug- oder Tragetiere erfolgen, wobei
auf das zerlegte Geschütz meist sieben Tragetiere zu rechnen sind.
Schon jetzt neue Forderungen mit den Erfahrungen des Balkan-
krieges stützen zu wollen, erscheint verfrüht. Dazu sind die vor-
liegenden Nachrichten zu unsicher und spärlich. Zuverlässig steht
fest, daß sich die Japaner im Ostasiatischen Kriege bereits der Ge-
birgskanonen zur Unterstützung des Infanterieangriffs bedienten. Hier
246 Leichte Geschütze zum Begleiten des Infanterieangriffs.
lagen aber besondere Umstände vor, die das Auskunftsmittel forderten
und seine Anwendung begünstigten. Mußte der Angriff durch hohe
Gaoljomyfelder geführt werden, so setzten diese den Bewegungen der
Feldgeschütze zu rechtzeitigem Erscheinen ein unüberwindliches Hin-
dernis entgegen. Dagegen gelang das Vorschaffen der leichteren Gebirgs-
kanonen mit Menschenkräften. Die durch den Gaoljomy gewährte
Deckung gegen Sicht begünstigte das Vorführen. Konnten sich die
Geschütze in ihrer Stellung behaupten, so hatten sie das in erster
Linie wohl dem Umstande zu danken, daß sie von der russischen
Artillerie unbehelligt blieben, da diese meist weit rückwärts der eigenen
Infanterie, zum Teil in verdeckten Stellungen, stand und deshalb die
gegen ihre Infanterie aus dem Grunde gerichteten Vorgänge nicht
wahrnahm.
Selten werden die Verhältnisse für Gebirgsgeschütze wieder so
günstig liegen, wie hier angedeutet. Eine Batterie, die sich auf dem
Gefechtsfelde mit bespannten Fahrzeugen bewegt, wird unter gleichen
Verhältnissen vom Gegner fast ebenso leicht wahrgenommen, wie eine
Feldbatterie. Schafft sie ihr Gerät auf Tragetieren fort, so mag sie
sich dem Gelände besser anschmiegen, auch schwierige Stellen leichter
überwinden können, ihre Schnelligkeit wird aber da, wo sie ausgenutzt
werden kann, geringer sein, weshalb sie dem feindlichen Feuer länger
ausgesetzt bleibt. Das ist zu berücksichtigen. Denn beim Begleiten
des Infanterieangriffs können Stellungswechsel im Abstande von
mehreren hundert Metern vorzunehmen sein. An ein Vorziehen mit
Menschenkräften, das zuweilen als ausführbar angenommen wird, ist
bei dem zu bewegenden Gewicht und dem weiten Abstande nicht zu
denken.
Mit Sicherheit ist vorauszusehen, daß Gebirgsbatterien im Ver-
laufe des Gefechts von der feindlichen Artillerie beschossen werden
und daß sie sich zur Abwehr dagegen wenden. Die Wahrscheinlichkeit
spricht dafür, daB sie in diesem Kampfe unterliegen. Denn trotz
großer Schußweite und angemessenem Gewicht ihrer Geschosse sind
sie infolge geringer Fluggeschwindigkeit durch verminderte Treff-
fähigkeit, Wucht und Tiefenwirkung im Nachteil, was unter gleichen
Verhältnissen zum Ausdruck kommen muß.
Die Gefechtsgrundsätze fast aller Artillerien verlangen, daß ein-
zelne Feldbatterien den Angriff bis auf nächste Entfernungen begleiten
sollen. Die Ausführung muß also doch wohl noch für möglich ge-
halten werden. Die Schwierigkeiten der Erfüllung verkennt niemand.
Die Waffe wird sicher alles daran setzen, der Forderung gerecht zu
werden, die für sie eine Ehrenpflicht bedeutet. Gelingt das Begleiten
Leichte Geschütze zum Begleiten des Infanterieangriffs. 247
nicht mit Batterien, so doch vielleicht mit Zügen oder einzelnen Ge-
schützen. Und sollte das Feuer eines noch nicht genügend erschütter-
ten Gegners die angesetzten Batterien vor Erreichung ihrer näheren
Stellung zusammenbrechen lassen, dann findet die Infanterie in ihrer
schwierigen Lage eine nicht zu unterschätzende Unterstützung durch
ihre Maschinengewehre. Ob in solchen Lagen die erforderliche Hilfe
durch Gebirgsbatterien mit größerer Aussicht auf Verwirklichung ge-
währleistet werden könnte, erscheint mindestens zweifelhaft.
Der Verfasser des besprochenen Aufsatzes zählt einige der Be-
denken auf, die sich der Vermehrung der Geschützarten entgegen-
stellen, ohne sie indessen nach Umfang und Bedeutung näher
einzuschätzen. So kurzerhand läßt sich eine sclıwerwiegende Frage
nicht abtun.
Zu welchen widerstreitenden Ansichten würde nicht schon die
von ihm unberücksichtigt gelassene Organisation Anlaß geben! Soll
die Zahl der bereits vorhandenen Geschütze vermehrt werden? Da-
gegen würden diejenigen ein Veto einlegen, die die bestehende Aus-
stattung eines Armeekorps schon als zu reichlich für den verfügbaren
Raum halten. Soll für die neuen Geschütze eine gleiche Anzahl Feld-
kanonen wegfallen? Das würde eine Einbuße an Kraft bedeuten, die
der Unterstützung der Infanterie durch Niederhalten oder Ablenken
des feindlichen Artilleriefeuers verloren ginge.
In welcher Stärke sullen die Batterien aufgestellt werden, zu
6 Geschützen, um am Orte der Verwendung zu ansehnlicher Kraft-
entfaltung befähigt zu sein, oder zu 4, vielleicht gar zu 3, um bei
im ganzen beschränkter Zahl auf ausgedehntem Angriffsfelde an
mehreren Stellen die von ihnen erwartete Unterstützung bringen zu
können? Es würde nicht leicht sein, das zweckmäßige Verhältnis
zwischen Feldgeschützen mit kräftiger Wirkung und leichten Geschützen
zu bestimmen und darüber Entscheidung zu treffen, ob letztere trotz
an sich schon geringerer ballistischer Leistungen auch noch zu kleinen
Batterien zusammengefaßt werden sollen.
Fast scheint es, als ob das Zusammenwirken von Infanterie mit
Artillerie einigen Übermodernen dadurch am besten gesichert dünkt,
daß wir zu den Bataillonsgeschützen des achtzehnten Jahrhunderts
zurückkehren. Ein Eingehen auf solche Ideen hieße den Fortschritt
einer mehr als hundertjährigen Entwickelung in Frage stellen. Die
Bestrebungen nach Vereinheitlichung der Geschütz- und Geschoßarten
haben ihren guten Grund gehabt. Von dem dazu eingeschlagenen
Wege ist man notgedrungen erst dann abgewichen, als Ziele auftraten,
die mit den eingeführten Geschützen nicht bekämpft werden konnten.
248 Leichte Geschütze zum Begleiten des Infanterieangriffs.
=
Durch das Begleiten des Infanterieangriffs wird ein ähnlicher Zwang
nicht ausgeübt.
Anders liegen die Verhältnisse in Ländern, die Gebirgsartillerie
organisch geschaffen haben mit Rücksicht auf einen diese Waffe er-
fordernden Kriegsschauplatz. Dort ist sie meist denjenigen Armee-
korps zugeteilt, die für den Gebirgskrieg in erster Linie bestimmt
sind. Gestalten sich die Verhältnisse so, daß sie nicht ihrer Eigenart
gemäß verwendet werden können, so muß sie die Feldartillerie er-
gänzen, und es erscheint durchaus gerechtfertigt, sie zum Begleiten
der Angriffsinfanterie dann einzusetzen, wenn sie zur Verfügung
steht.
Wohin sollte es führen, wenn der vom Verfasser aufgestellten
Behauptung Folge gegeben würde, daß die Lehren des Balkankrieges
für die Verwendung von den verschiedenen Zwecken angepaßten
Sondergeschützen sprächen! Welche Musterkarte von Kanonen und
Haubitzen müßte entstehen, deren einzelne Arten in der Regel nur
dem Zwecke dienen könnten, für den sie hergestellt würden. Die
Tätigkeit der Führer wurde in besonderem Maße durch die Sorge be-
ansprucht, daß jede Art auch an der Stelle ihres voraussichtlichen
Gebrauchs rechtzeitig zur Verfügung stände, und dadurch von anderen
Aufgaben abgelenkt. Welche Ausdehnung würden die Marschtiefen
erhalten usw.? Grundsätzlich muß man die als notwendig er-
kannten eingeführten Kampfgeschütze so ergiebig verwenden bzw. so
viel aus ihnen herausholen, als nach ihrer Leistungsfähigkeit zulässig.
Erst wenn ihr Unvermögen für neuauftretende Aufgaben, das durch
zweckentsprechende Änderungen nicht behoben werden kann, eine Er-
gänzung unabweisbar macht, wird man sich für besondere Konstruk-
tionen entscheiden. Gelingt es z. B., das vorhandene Gerät zum Be-
kämpfen von Luftfahrzeugen auszugestalten, so erübrigen besondere
Abwehrkanonen für den Feldkrieg und man hat dazu den Vorteil,
daß alle über das Schlachtfeld verteilten Feldgeschütze bereit und
befähigt sind, den Luftfahrzeugen entgegenzutreten.
Das moralische Element in der Taktik. 249
XVII.
Das moralische Element in der Taktik.
Von
C. v. Keller.
Es ist noch niemandem entgangen, und in vielen Schriften wurde
es bald in dieser bald in jener Form anerkannt, daß außer den ver-
schiedenen materiellen Einflüssen noch einer wirkt, der ganz bedeutend
in die Wagschale fällt, der mitunter droht, alle Berechnungen hin-
fällig zu machen und der sich mitunter geradezu ganz unbestimmbar
erweist: das moralische Element. So sehr allerseits die Wichtigkeit,
der große Einfluß und die oft entscheidende Wirkung dieses Elements
anerkannt worden ist, so selten wurde diesem Faktor, diesem Um-
stand, mit dem jedesmal gerechnet werden muß, eine etwas gründ-
licher Untersuchung gewidmet. In der Regel wird das moralische
Element nur so nebenbei behandelt, es wird erklärt als eine Anzahl
verschiedener kriegerischer Eigenschaften, die man herunterzählt, von
denen man sagt, daß man nicht genau wisse, wie man es machen
müsse, um sie in Rechnung zu bringen, so daß schließlich das
moralische Element eine Art Überguß wird, der die scharfen
Ecken und Kanten verdeckt. Über das Wesen selbst erhält
man selten Aufschluß. Wenn aber in der Theorie ein wichtiger
Faktor unerörtert bleibt, so bleibt dann damit die Theorie selbst
unzuverlässig und es ist begreiflich, daß dadurch ein Mißtrauen gegen
die Lehre der Taktik und der Ausruf entsteht: „Was nützt alle Theorie,
den moralischen Faktor kann man doch nicht ausüben!“ Nun, das
ist sicher falsch! Ausrechnen kann man den moralischen Faktor
sicher nicht; aber man kann im Kriege überhaupt nichts ausrechnen:
da spielen Vermutung und Entschluß und nicht die Rechnung die
entscheidende Rolle, sonst müßte der beste Mathematiker auch der
beste Taktiker sein; sonst müßten auch schließlich taktische Auf-
gaben, wenn es nur auf das Ausrechnen ankäme, mit Leichtigkeit
gelöst werden können. Wenn man den moralischen Faktor auch nicht
berechnen kann, so kann man ihn doch betrachten, vermuten,
schäten, und dies gehört in die Taktik. Nun ist eine derartige Be-
trachtung des moralischen Elementes, nämlich seine Definition und
die Aufgabe seiner verschiedenen Gründe recht wohl möglich. Ja, er
geht sogar weiter. Wenn wir nämlich die bestimmenden Gründe
kennen, so werden wir einsehen, daß es uns sogar möglich ist, das
Jahrbücher für die deutsche Armee und Marine. Nr. 516. 19
250 Das moralische Element in der Taktik.
moralische Element unserer Truppen zu beeinflussen; selbst einen Ein-
fluß darauf auszuüben, wie der Faktor des moralischen Elementes
wohl auftreten wird. Denn, wenn man die Gründe einer Sache
hennt, kann man die Sache auch beherrschen, soweit, als man die
Herrschaft über die Gründe hat. Bei der Wichtigkeit des Faktors
wird es gut sein, einmal auf das Thema einzugehen, selbst auf die
Gefahr hin, dabei in ein psychologisches und philosophisches Fahr-
wasser zu geraten. Es ist zwar im allgemeinen, und teilweise mit
Recht, die Philosophie etwas anrüchig, d. h. mit Recht, wenn man
in der Philosophie das versteht, daß es sich nicht darum handelt, all-
gemein verschwommene Ideen zu verfolgen, sondern ganz bestimmte
Grundsätze aufzustellen, die als Norm gelten für die jederzeitigen
Betrachtungen des betreffenden Gegenstandes. Also können wir uns
mit dem moralischen Element nicht begnügen; denn, was es ist, geht aus
dem Worte nicht hervor. Nun ist das moralische Element im all-
gemeinen die Willenskraft und besonders in der Taktik die Willens-
kraft, die gerichtet ist auf die Lösung irgendeiner taktischen Auf-
gabe, auf die Erfüllung irgendeines taktischen Zweckes.. Was wir
zunächst unter dem moralischen Element zu verstehen haben, ist der
Grad von Willenskraft, den wir bei den Truppen vorfinden werden,
den die Truppen in sich haben zur Lösung der Aufgaben, die ihnen
von der Führung gestellt werden.
Damit haben wir nun schon eine etwas greifbarere Gestalt für
dieses, etwas unfaßliche Element gewonnen. Wenn wir einmal
wissen, daß das moralische Element nichts anderes ist, als die
Willenskraft, so begegnet uns gleich die Tatsache, daß es möglich ist,
die Gesetze der Willenskraft zu bestimmen, auf die Willenskraft
anderer entweder in förderndem oder in lähmendem Sinne ein-
zuwirken, daß also die Willenskraft ganz bestimmten Gesetzen unter-
liegt, denen zufolge sie unter gewissen Umständen gesteigert oder
gelähmt wird, und daß wir, wenn wir diese Umstände kennen,
jederzeit in der Lage sind, zu beurteilen wie es um das moralische
Element unserer Truppe stehe, d. h. welchen Grad von Willenskraft
wir ihnen zutrauen dürfen für die Aufgabe, die wir ihnen zu
stellen gesonnen sind. Nun ist jede Handlung von der Willenskraft
insofern abhängig, daß der Wille jenes Element ist, durch das die
Handlung eigentlich erst in die Wirklichkeit tritt. Und zwar ist
es der Fall, wenn der Wille der Tat größer ist als die Hindernisse,
die ihr entgegenstehen oder: wenn der Wille zur Tat größer ist als der
deprimierende Eindruck, den die Hindernisse und Schwierigkeiten auf
die Willenskraft ausüben. Es besteht also schließlich die Willens-
kraft bei jeder einzelnen Tat in einer Differenz zwischen der wirk-
Das moralische Element in der Taktik. 251
lichen Kraft, der Willenskraft und jenem Grade derselben, der schon
durch die Hindernisse und Schwierigkeiten absorbiert ist. Solange
dabei ein positiver Rest bleibt, wird die Tat vollführt werden, wird
der Rest = O oder gar negativ, wird sie nicht vollführt. Eine Tat
kann also nur dann entstehen, wenn die Willenskraft, die darauf ge-
richtet ist, größer ist als der Eindruck, den die Hindernisse und
Schwierigkeiten auf sie machen.
Von diesem Standpunkt aus können wir sagen: es gibt zwei
Voraussetzungen, unter welchen die Willenskraft größer ist als der
Eindruck der Hindernisse und Schwierigkeiten, wenn nämlich die
Willenskraft sehr groß ist oder der Eindruck, den die Hindernisse
machen, sehr klein ist.
Unsere Willenskraft wird um so größer sein, je tiefer
und stärker die Überzeugung von der Notwendigkeit
dessen, was wir zu tun haben, in uns wirkt und fest-
steht!). Denn das, was der Mensch für notwendig ansieht, tut
er auch, und von demselben Augenblick, wo er es nicht mehr
tut, hält er es nicht mehr für notwendig. Also in der Be-
ziehung ist das moralische Element abhängig von der Überzeugung
der Notwendigkeit. In zweiter Linie ist das moralische Element ab-
hängig von der Größe des Eindruckes, den uns die Hindernisse
und Schwierigkeiten machen. Dieser Eindruck hat auf uns die Wirkung,
daß wir danach bemessen, inwieweit wir denn unsere Aufgabe wirk-
lich lösen können, inwieweit sie denn möglich sei. Je mehr Hinder-
nisse und Schwierigkeiten sich gegen unser Beginnen auftürmen, desto
mehr gewinnen wir die Einsicht, daß wir das, was wir für notwendig
halten, nicht zustande bringen werden, daß es nicht möglich ist und
je mehr wir einsehen oder vermuten, daß wir unsere Kräfte an etwas
Unmöglichem verzehren, desto geringer wird auch die Willenskraft
sein, die wir darauf zu verwenden Lust haben.
Die Größe des moralischen Elements hängt also ab 1. von der
Größe der vorhandenen Willenskraft in den Truppen, d. h. von dem
Grade, in welchem sie von der Notwendigkeit ihrer Aufgabe
überzeugt sind und 2. vom Eindruck, den die Hindernisse und Schwierig-
keiten auf sie machen, d.h. von dem Grade, in welchem sie ihre Aufga be
für möglich, für lösbar hält. Wer den jeweiligen Wert dieser beiden
Faktoren zu beurteilen vermag, weiß damit wohl auch das moralische
Element zwar nicht auszurechnen, aber wohl zu bestimmen, und wer
1) Der Verlauf des gegenwärtigen Krieges zeigt die ungeheure Bee
deutung der Willenskraft für den Erfolg. Die bis zum äußersten ge-
steigerte Willenskraft der Nation deckt sich mit dem festen Willen zum
Siege beim ganzen Heere. Keim.
19*
252 Das moralische Element in der Taktik.
imstande ist, auf diese beiden Grundbedingungen einzuwirken, wer
imstande ist, diese Überzeugung von der Notwendigkeit zu erhöhen
oder den Eindruck, den Schwierigkeiten auf die Truppen machen, zu
vermindern, ist auch imstande, auf das moralische Element seiner
Truppe einzuwirken. Es ist nun eigentlich nicht ganz richtig, diese
beiden Dinge voneinander zu trennen, denn das schließliche Ergebnis,
der wirkliche moralische Wert hängt ja immer von der Wechsel-
beziehung dieser beiden Größen ab. Wenn wir aber wissen wollen,
von welchen Gesetzen die beiden Größen abhängen, müssen wir sie
doch getrennt betrachten, wenn wir uns auch immer dabei denken
müssen, daß für das jeweilige Schlußergebnis der Wert beider
in Betracht kommt.
Die Überzeugung von der Notwendigkeit einer Auf-
gabe setzt für sich selbst wieder zwei weitere Grundbedingungen voraus:
1. Die erste ist die Klarheit der Absicht, die Bestimmtheit der Auf-
gabe. Denn bevor man von der Notwendigkeit irgendeiner Sache über-
zeugt sein kann, muß man vorher ganz bestimmt die Sache selbst
kennen. Wer nicht genau weiß, was er will oder was er soll, wird
es nie zu einer Überzeugung von der Notwendigkeit seines Handelns
bringen. Erst wenn Klarheit der Absicht, Klarheit der Aufgabe
vorhandeln, kann die zweite Forderung in ihr Recht treten, die darin
besteht, daß diese klar vorschwebende Absicht nun auch für not-
wendig erkannt wird.
Hat die erste der eben erörterten Forderungen die Frage „was?“
aufgestellt, so stellt die zweite die Frage „ob?“. Zunächst handelt
es sich darum: woher kommt uns die Klarheit unserer Absichten?
woher gewinnen wir die Kenntnis dessen, was wir tun sollen? Nun
bemißt sich alles das, was man tun soll, einfach nach dem Zweck,
dem es dient. Und, nachdem der Zweck einer jeden kriegerischen
Handlung der Sieg ist, so kann man sagen, daß insbesondere in der
Taktik der Sieg der Endzweck ist, der Handlungen beherrscht und
nach dem sich all unser Tun richtet. Nun ist dies eine sehr ein-
fache und offenbar ganz richtige Anschauung; aber in dieser Form
nützt sie uns wohl wenig. Wir können nie etwas tun, das in un-
mittelbarer Beziehung zum Siege steht, wir tragen in der Regel nur
in mittelbarer Weise bei, indem wir Mittel zum Siege fördern. Da
es also in per überwiegenden Mehrzahl der Fälle sich nur handeln
kann, daß wir suchen, den Sieg mittelbar herbeizuführen, so ist ein
Hauptgegenstand für die Klarheit der Absicht, die Kenntnis der
Mittel zum Siege und die Wahl in denselben. Da die Mittel zum
Siege mehrere sind, wird es sich in der Regel darum handeln,
zwischen mehreren Mitteln eine Wahl zu treffen. Man kann daher
Das moralische Element in der Taktik. 253
sagen, es handele sich nicht nur um die Kenntnis der Mittel, nicht nur
darum, zu wissen, auf welch verschiedenen Wegen man zum Siege
beitragen kann, sondern auch darum, unter diesen verschiedenen
möglichen Wegen sich einen ganz bestimmten herauszusuchen, sich
für einen zu entscheiden, d. h. es gehört zur Klarheit der Absicht
auch en bestimmter Entschluß. Wenn wir uns nun für ein
Mittel entschieden haben, von dem wir überzeugt sind, daß es zum
Siege beiträgt, wird dieses Mittel für uns zum Zweck unseres Han-
delns, zur Absicht, und wenn wir nur das Mittel klar kennen, so
haben wir eine klare Absicht.
Die Kenntnis der Mittel wird uns zunächst angegeben durch die
Vernunft. Denn jedes Mittel muß sich nach dem Zwecke richten,
und der Zusammenhang zwischen Mittel und Zweck ist zunächst in
der menschlichen Vernunft begründet; aus ihr heraus läßt er sich zu-
nächst schöpfen. Insbesondere kann die Kenntnis der Mittel, die
vielleicht durch bloße Vernunft erreicht werden könnte, auch in der
Kriegswissenschaft gelehrt werden; sie hat demnach den Zweck, uns
die vernünftigen Mittel des Sieges in größerer Kürze und in kürzerer
Zeit darzustellen, als wenn sie erst durch eigenes Nachdenken ge-
funden werden sollten. Die Kriegswissenschaft gibt demnach die
Mittel zum Siege an und folglich ist sie ein Teil jener Elemente,
die das moralische Element zu fördern vermögen, denn die Kriegs-
wissenschaft, wenn sie die Beschreibung der Mittel zum Siege ent-
hält, enthält für uns eine Hilfe, vermöge deren wir eine klare Ab-
sicht zu fassen vermögen und, wenn von der Klarheit der Absicht
die Willenskraft abhängt, womit wir unsere Absicht verfolgen, so ist
es klar, daß, je größer die wissenschaftlichen Kenntnisse sind, wir
desto leichter in der Wahl der Mittel und im Entschluß uns tun
werden. Die Kriegswissenschaft gibt uns aber nicht nur die Mittel
an die Hand, sondern beurteilt auch die einzelnen Mittel, teils nach
der Natur Ihres Wesens, teils nach den Erscheinungen, die diese im
Laufe der Zeit in den verschiedenen Kriegen schon hervorgebracht
haben. Kennen wir in irgendeiner Sache mehrere Mittel, so gibt uns
die Kriegswissenschaft die Möglichkeit an die Hand, leichter unter
diesen mehreren Mitteln zu wählen; die Kriegswissenschaft hat also
auch Einfluß auf den kriegerischen Entschluß. Nachdem der Urgrund
der Kriegswissenschaft die Vernunft ist, ist es wohl klar, daß sie
eigentlich nur Vernünftiges enthalten könne, und Sätze, die der
reinen Vernunft widersprechen, kaum in der Kriegswissenschaft eine
Aufnahme finden können. Allein man kann den Satz nicht um-
kehren, wenn man sagt, was die Vernunft als unrichtig anerkennt,
kann in der Kriegswissenschaft keine Stelle finden, so ist demnach
254 Das moralische Element in der Taktik.
nicht gesagt, daß die Vernunft allein ausreiche, das kriegerische
Handeln festzustellen, und zwar deshalb, weil hier nur ein anderer
praktischer, wenn auch wieder ganz vernünftiger, weiterer Grund
hinzutritt.
Es handelt sich nämlich im Kriege sehr oft nicht darum, daß
jeder einzelne jene Mittel ergreife, die nach seiner Meinung am ver-
nünftigsten sind; es handelt sich ja im Kriege meist um die Vereini-
gung der Tätigkeit vieler auf eine Ahsicht, so daß es notwendig ist,
daß alle, die zur Erreichung einer Absicht bestimmt sind, hierfür
auch auf ganz gleiche Weise handeln. Infolgedessen muß für die
Kenntnis der Mittel wohl noch etwas anderes hinzutreten als die
„bloße Vernunft“ und die „freie Wahl“. Es muB möglich sein, einer
größeren Anzahl von Kräften eine unter den verschiedenen Mitteln
vorhandene, aber ganz bestimmte Richtung ihrer Tätigkeit an-
zuweisen. Es handelt sich hier um den Befehl. Er ist der Aus-
spruch einer höheren Person über die Wahl des Mittels zu irgend-
einer Aufgabe. Der Befehl wird ebenfalls eine Quelle für die
Kenntnis der Mittel, er tritt an die Stelle der Vernunft jedes einzelnen
Untergebenen, indem er von einem höheren Standpunkte aus angibt,
welches Mittel er zu ergreifen habe. Eigentlich ist der Befehl nur
eine Ergänzung für die menschliche Vernunft eines jeden einelnen.
eine Ergänzung, die notwendig ist, dadurch, daß eine größere An-
zahl das gleiche Mittel ergreifen. Daraus folgt wieder, daß in allen
jenen Fällen, wo ein Befehl nicht vorhanden, wo ein Befehl nicht
wirksam ist, es sich nicht darum handeln kann, daß der betreffende
Untergebene glaube, nun habe er nichts zu tun, sondern da tritt
dann wieder seine eigene Einsicht und Vernunft in ihre Rechte ein.
und er muß das, was ihm durch einen Befehl nicht angegeben
worden ist, nämlich das Mittel, wodurch er jetzt wieder zum Siege
beitragen könnte, aus seinem eigenen Geiste zu schöpfen suchen.
Soll der Befehl bestimmt sein, sich an die Stelle der Vernunft des
einzelnen zu setzen, in diesem die Gedankenarbeit zu vertreten, die
notwendig ist, um aus den verschiedenen Mitteln eines heraus-
zuwählen, so muß der Befehl jedenfalls dieselbe Eigenschaft auf-
weisen, die von dem Ergebnis der eigenen Gedankenarbeit verlangt
werden muß. Der Befehl muß klar sein und den Anforderungen
entsprechen, die die Felddienstordnung stellte.
Bei der Betrachtung der Überzeugung von der Notwendig-
keit kommt der Punkt zuerst an die Reihe, der zur ersten (Geltung
kommt, wenn eine klare Absicht vorliegt, d. h. wenn man sich
fragen kann: Hält man das für nötig? Der Begriff der Notwendig-
keit geht viel weiter, als er dem gewöhnlichen Sprachgebrauch nach
Das moralische Element in der Taktik. 955
zu gehen pflegt. Alles, was wir tun, tun wir aus irgendeiner Not-
wendigkeit, und es geschieht überhaupt nichts auf der Welt, was
nicht aus irgendeiner Ursache notwendig wäre. Infolgedessen ist es
auch klar, daß, solange wir die Überzeugung von der Notwendigkeit
in uns haben, wir auch das Bedürfnis in uns fühlen, unsere Aufgabe
durchzuführen und daß, wenn wir die Aufgabe nicht durchführen,
solange ihre Durchführung nur überhaupt möglich war, wir dann
die Einsicht von ihrer Notwendigkeit preisgegeben haben. Wenn
unsere Vernunft uns sagt, dieses oder jenes ist notwendig, um die
Aufgabe zu lösen, so ist es ganz selbstverständlich für uns, daß wir
eben dieses Mittel ergreifen müssen. Wenn wir einsehen, es muß das
geschehen, werden wir es eben auch tun. Nur ist vielleicht die
Dauer dieser Einsicht durch die Beharrlichkeit, mit der wir das
kleine Wörtchen „muß“ festhalten, vom Charakter abhängig; der
eine wird eine größere, der andere eine geringere Zähigkeit in seiner
Beharrlichkeit zeigen, eine größere oder geringere Konsequenz in der
Verfolgung dessen, was er sich vorgenommen hat, und eine Einwir-
kung hiermit ist höchstens vom Standpunkt der Erziehung möglich.
Wir wissen aber auch, daß wir unsere Absichten und unsere Auf-
gaben nicht nur aus unserer Vernunft empfangen, sondern daß wir
sie, und zwar im Kriege zum meisten Teil, empfangen durch den
Befehl.
Wie kommen wir nun dazu, bei einem Befehl, bei einem Ausspruch,
der nicht selbst in unserem eigenen Verstande gewachsen ist, auch
hiervon die Überzeugung von der Notwendigkeit zu gewinnen? Die
Mittel hierfür sind: 1. einmal der militärische Gehorsam und
dann 2. der persönliche Einfluß des Befehlenden.
Der militärische Gehorsam besteht in einer unbedingten
Unterordnung unter die Gebote der militärischen Autorität, und unter
dieser unbedingten Unterordnung kann man eigentlich nichts anderes
verstehen als die Überzeugung von der Notwendigkeit dessen, was
die militärische Autorität gebietet. Der militärische Gehorsam wird
in verschiedenen Formen benannt, man spricht von Subordination,
Disziplin und Manneszucht; im allgemeinen sind diese drei Dinge
einander gleich; sie entstehen aus demselben Urgrund, der militäri-
schen Notwendigkeit. Grundsatz bleibt, daß der Befehl unter allen
Umständen das bezeichnet, was zur Erreichung der Aufgabe not-
wendig ist, und daß demnach der Gehorchende die Überzeugung von
dieser Notwendigkeit in sich aufnehmen muß, als wenn der Inhalt
des Befehls das Ergebnis eigenen Denkens gewesen wäre. Im all-
gemeinen ist es widersinnig und von dem Menschen kaum zu ver-
langen, daß er Dinge, die ihm ein anderer bloß absolut vorsagt für
256 Das moralische Element in der Taktik.
absolut vernünftig und notwendig halte. Dieses Ergebnis zu erzielen,
ist Sache der militärischen Erziehung, es wird erreicht, wo sowohl
Befehl und Vorschriften wirklich mit Verstand gegeben und gehand-
habt werden, wo aber auch die Befolgung der Befehle und Vor-
schriften mit der vollendetsten Folgerichtigkeit durchgeführt wird.
Dies ist also Sache der militärischen Erziehung, und es ist ersichtlich,
daß alles das, was die militärische Erziehung bezüglich des militäri-
schen Gehorsams leistet, in der Taktik wieder zum Ausdruck kommt
in dem Einfluß, den das moralische Element dadurch äußert,
daß der gegebene Befehl auch unter den Verhältnissen des Krieges
dem Gehorchenden als absolute Notwendigkeit erscheint. Der per-
sönliche Einfluß des Befehlenden ist maßgebend, nicht dafür, ob
überhaupt gehorcht wird, sondern nur dafür, ob es seinen Unter-
gebenen schwerer oder leichter wird, ihm zu gehorchen. Es
ist klar, daß dies sehr von dem Vertrauen abhängt, das der
Untergebene zu seinem Führer gewonnen hat. Je mehr einer
einen anderen überlegen sieht, desto mehr vertraut er auch auf
dessen höhere Einsicht. Die Überzeugung von der Notwendigkeit
des Befohlenen wird nur dann leicht werden, wenn der Gehorchende
die Überzeugung hat, daß der Befehlende es besser versteht als er,
teils wegen seiner persönlichen geistigen Überlegenheit, teils wegen
des besseren Überblickes über die Verhältnisse, den ihm seine höhere
Stellung gewährt. Die Überlegenheit des Befehlenden über den Ge-
horchenden ist demnach ein Grundsatz des militärischen Gehorsams.
Wo leicht und gern gehorcht wird, wird zweifellos mehr geleistet,
als wo nur mit Mühe gehorcht wird. Die Mittel, durch die der
Vorgesetzte dem Untergebenen den Eindruck der Überlegenheit zu
machen vermag, ist zunächst die höhere Stellung. Ein weiteres
Mittel ist ferner das persönliche Wesen des Vorgesetzten. Der
Einfluß, den er als Person auf die Untergebenen ausübt, sind seine
persönlichen Eigenschaften. Es setzt das voraus, daß der Vorgesetzte
seinem Untergebenen bekannt sein muß, daB er ihn durch eine viel-
seitige Berührung kennt, daß der Untergebene Gelegenheit gehabt
hat, diese persönlichen Eigenschaften seines Vorgesetzten kennen zu
lernen. Es setzt ferner voraus, daß der Untergebene seinen Vor-
gesetzten als einen Mann kennen gelernt hat, dessen Befehle und
Aussprüche gerichtet sind nur nach der Forderung der Sache und
der nie befiehlt für seine Person, sondern nur für das allgemeine
Interesse, d. h. der seine Augen nur gerichtet hat auf die Erringung
des Sieges. Ferner muß der Untergebene vom Vorgesetzten wissen,
daß er jenen eisernen Willen hat, der durch kein Hindernis gebeugt
werden kann. Das Vertrauen auf diese Willensüberlegenheit des
Das moralische Element in der Taktik. 957
Vorgesetzten wird dem Untergebenen das Gehorchen auch leichter
machen. Endlich muß der Vorgesetzte den Beweis seiner wirklichen
geistigen Überlegenheit geliefert haben; es gibt viele Gelegen-
heiten zu zeigen, daß er dem Untergebenen auch in Verstandes-
kräften, an Urteilsfähigkeit überlegen ist, und wenn diese Bedin-
gungen erfüllt sind, so wird es den Untergebenen nicht schwer
fallen, die Befehle des Vorgesetzten als die Ergebnisse höherer Ein-
sicht anzusehen. All das Vorangeführte sind Dinge, die wir im
Kriege nicht erst machen oder ändern können, sondern Dinge, die
vollständig der Friedensbildung und Friedenserziehung angehören und
bezüglich deren die ganze Mühe und Arbeit, die wir im Frieden
darauf verwendet, sich im Kriege in der Taktik bezahlt machen
muß. Wie überall, so auch hier, geht hervor, daß der Krieg in be-
zug auf die Leistungen nichts anderes darstellt, als eine Prüfung über
das, was im Frieden getan wurde.
Doch die Überzeugung von der Notwendigkeit unserer Auf-
gabe ist nicht das einzige, was im moralischen Element zum Aus-
druck gelangt, sondern es tritt erst in Verbindung mit der Einsicht,
die wir über die Möglichkeit unserer Aufgabe haben. Denn
das moralische Element, d. h. die auf die taktische Aufgabe gerichtete
Willenskraft der Truppen, hängt davon ab, wie groß die Willenskraft
der Truppen, d. h. die Überzeugung von der Notwendigkeit der Auf-
gabe, ist und wie sehr sie von der Einsicht der Möglichkeit, d. h. von
den Hindernissen und Schwierigkeiten, beeinflußt wird.
Die Einsicht über die Möglichkeit einer Aufgabe gewinnen
wir dadurch, daß wir die uns entgegenstehenden Hindernisse und
Schwierigkeiten schätzen und daraus einen Schluß ziehen auf unsere
Kraft, diese Widerstände zu besiegen. Man sieht daraus, daß nie das
Hindernis selbst, nie eine Schwierigkeit eigentlich von dem, was wir
als notwendig erkannt haben, abhält, sondern es ist immer der Ein-
druck, den wir von diesen Schwierigkeiten empfangen, den sie auf
unser Gemüt machen, der es ist, der unseren Willen beeinflußt. Da-
durch, daß etwas schwer wird oder etwas Hindernisse vor sich findet,
wird es eigentlich noch nicht unmöglich; es wird zum mindesten nicht
minder nötig, als es vorher war. Die Unmöglichkeit tritt erst da-
durch ein, daß das Hindernis auf unseren Willen eine so nieder-
drückende Kraft ausübt, daß wir den Willen nicht mehr zusammen-
bringen, das Hindernis zu besiegen, d.h. daß wir uns die Kraft dazu
nicht mehr zutrauen. Bezüglich der Frage, ob unsere Aufgabe uns
noch möglich erscheint, ist der Bescheid ganz in das Vertrauen gelegt,
das wir in uns selbst haben. Denn das Vertrauen, das der einzelne
Mann, das die Truppe in sich selbst setzt, ist ja eigentlich gar nichts
258 Das moralische Element in der Taktik.
anderes, als der Grad der Überzeugung, daß es den eigenen Kräften
gelingen werde, die Hindernisse und Schwierigkeiten zu besiegen.
Die Ansicht von der Möglichkeit unserer Aufgabe fällt eigentlich
zusammen mit dem Grade von Selbstvertrauen, mit dem wir aus-
gerüstet sind und demzufolge wir der Ansicht sind, daß es unseren
eigenen Eigenschaften gelingen werde, die Hindernisse zu überwinden.
Im allgemeinen wird das Selbstvertrauen überall da vorhanden sein,
wo wir das Gefühl der Überlegenheit, der Kraft in uns spüren. Je
mehr sich ein Mensch den Hindernissen überlegen erachtet, desto
leichter und lieber wird er daran gehen, sie wegzuschaffen. Die Be-
urteilung der Fähigkeiten zur Besiegung der Hindernisse richtet sich
auf alle die Kräfte, die der Mensch zum Handeln hat: auf die körper-
lichen, Verstandeskräfte und die Willenskraft. Die körperlichen
Eigenschaften sind körperliche Stärke und Gesundheit. Sie hängen
ab 1. von der natürlichen Konstitution der Leute; mit
schwächeren Leuten nimmt man nicht nur eine geringere materielle,
sondern auch eine geringere moralische Leistungsfähigkeit in die Armee
herein. Außerdem hängen diese körperlichen Eigenschaften ab 2. von
der Abbärtung und von der körperlichen Übung, wodurch das
Selbstvertrauen erhöht wird.
Der Mensch handelt jedoch nicht mit dem Körper allein, er be-
darf dazu des Verstandes, und zwar um so mehr, je mehr die Lage,
in der er sich befindet, Hindernisse enthält, die nicht nur mit den
körperlichen Kräften weggeräumt werden können, sondern die nur
weggeräumt werden können, wenn die körperlichen Kräfte vom Ver-
stande richtig geleitet sind. Daher ist das Selbstvertrauen auch
wesentlich abhängig vom Vertrauen, das wir in unserer eigenen Ein-
sicht besitzen. Je mehr wir uns sicher wissen, daß kein Fall, kein
Ereignis an uns herantreten könne, für das wir nicht imstande wären,
einen richtigen Entschluß zu fassen, desto mehr werden wir auch den
Dingen freudig entgegensehen, desto weniger wird uns die Sorge um
das, was allenfalls kommen könnte, bedrücken, desto bereitwilliger
werden wir darangehen, Hindernisse wegzuräumen, weil wir der Über-
zeugung sind, daß wir das Mittel finden werden, durch das man
die Hindernisse am besten besiegt. In dieser Beziehung hängt also
das Selbstvertrauen und damit wieder das moralische Element ab von
der Intelligenz, die zum Teil natürlich, zum Teil auch anerzogen ist.
Der Mensch handelt aber auch durch die Willenskraft. Einmal
wird der mehr Vertrauen auf sich haben, der weiß, daß er im Innern
die Kraft besitzt, in jeder Lage einen ganz bestimmten Entschluß zu
fassen, der gewöhnt ist und Lust daran hat, ctwas zu wagen und
etwas zu riskieren, der also die Entschlossenheit und Kühnheit sein
mE Oa mei a a
Das moralische Element in der Taktik. 259
Eigen nennt — der wird leichter an die Hindernisse herangehen.
Außerdem kann die Willenskraft auch erhöht werden durch innere
Gefühle, insbesondere durch Leidenschaften. Nur kann man an-
nehmen, daß Leidenschaften, die nur momentan hervorgerufen sind,
auch nicht länger als Momente wirken. Zorn, Haß, Fanatismus und
derartige Gefühle sind sehr wohl geeignet, dem Willen eine bedeutende
Steigerung zu geben und den Menschen gegen die größten Hindernisse
hinzutreiben; aber das Feuer dieser Leidenschaften hält eine lange
Probe nicht aus. Die Führung wird mit diesen Leidenschaften rechnen
dürfen, wenn sie es auf nicht zu lange Zeit tut.
Im übrigen gibt es denn doch eine dieser Leidenschaften, die,
wenn sie richtig genährt und entwickelt ist, auch eine längere Halt-
barkeit aufweist. Es ist dies der Patriotismus. Er ist insofern
von den anderen Leidenschaften verschieden, als er durch Erziehung
hervorgerufen, dem Menschen das Gefühl eingibt, sich in allen seinen
Angelegenheiten mit jenen des Vaterlandes für identisch zu erachten.
Es handelt sich also bei der Pflege des richtigen Patriotismus darum,
den Mann mit der Anschauung zu erfüllen, daß er selbst nur dann
etwas darstellt, wenn er sich in Verbindung, in vollständige Gemein-
schaft versetzt mit seinem Vaterland und daß er sich in die An-
schauung versetzt, daß er überhaupt nichts ist ohne ein Vaterland
und daß die Angelegenheiten des Vaterlandes den eigenen persönlichen
vorangehen. Ein derartiger Patriotismus kann nicht in wenigen Tagen
erzeugt. er muß während der aktiven Dienstzeit herangezogen werden.
Gründlich wird er nur vorhanden sein, wenn der junge Mann ihn mit
sich in das Heer bringt, wenn dieser Patriotismus zum Erziehungs-
prinzip des ganzen Volkes geworden ist.
Endlich wäre noch eine Eigenschaft zu erwähnen, die die Willens-
kraft steigert: es ist der Humor. Er setzt so eine Art leichten
Sinnes voraus, der überall gerne geneigt ist, die Schwierigkeiten und
Hindernisse entweder für leicht anzusehen oder gar nicht daran zu
denken, und der demnach die ganze Willenskraft in einer eigentüm-
lichen Frische erhält, weil er ihr eine Menge Aufregungen erspart.
Die Hindernisse nun, die uns entgegentreten können, sind 1. die
Entbehrung, 2. die Anstrengung und 3. die Gefahr. Die Entbeh-
rung besteht darin, daß wir unser körperliches Wohlbehagen, das in
Ruhe, Bequemlichkeit und Nahrung besteht, von uns genommen sehen,
daß wir also Hunger und Durst leiden müssen, daß wir Hitze und
Kälte und Nässe erleiden sollen, daß wir den Schlaf entbehren sollen.
Die Entbehrung bildet demnach eines jener Hindernisse, über welche
wir nicht damit hinwegkommen können, daß wir auf die eigene Kraft
I6U Das moralische Element ın der Taktik.
vertrauen, es gehört vielmehr dazu die Einsicht von der Notwendig-
keit unserer Aufgabe und von der Notwendigkeit der Entbehrung.
Die Anstrengung vermindert unsere körperliche Leistungsfähig-
keit, sie zehrt unsere Kräfte auf und macht uns dadurch den Ein-
druck, daß unsere aufgezehrten körperlichen Kräfte nicht mehr im-
stande sind, weitere Anstrengungen zu ertragen. Je länger die An-
strengungen dauern, je stärker sie sind, um so mehr verlieren wir
den Glauben an unsere Fähigkeit, sie noch weiter auszuhalten. Aber
gerade in diesen Fällen muß — soll das moralische Moment nicht
ganz außer Wirkung sein — die Einsicht von der Notwendigkeit ein-
eintreten und, solange der Mensch muß, kann er!
Endlich ist noch ein Hindernis im Kriege, und zwar eines der
bedeutendsten: die Gefahr, und zwar 1. die materielle Gefahr,
die uns für unser Leben droht, und 2. die moralische Gefahr, die
uns droht in der Verantwortung. Die materielle Gefahr wird uns
im Kriege deutlich gemacht durch die Verluste, die unsere Truppe
erleidet. Wir können an der Zahl der um uns Gefallenen die Gefahr
bemessen, die uns selbst droht. Je größer die Verluste sind, desto
mehr wird die Truppe auch moralisch erschüttert. Diese Erschütte-
rung erzeugt in den Truppen das Bedürfnis, sich der Gefahr zu ent-
ziehen. Hier muß eben wieder die Einsicht vor der Notwendigkeit
in Erscheinung treten. Und da gerade in den Augenblicken der Ver-
stand, die eigene Vernunft der Truppen nicht als ganz zurechnungs-
fähig betrachtet werden kann, so muß der Befehl und der Einfluß
des Führers dafür aufkommen. In den Augenblicken, wo die Verluste
sich häufen, wo in kurzer Zeit massenhaft Verluste entstehen, da werden
verschiedene Truppen sich verschieden verhalten, je nachdem ihre
Führer sind, und je nachdem der Einfluß ist, den diese Führer über
die Truppen haben; da bekanntlich der Einfluß des Führers über die
Truppe beinahe ganz ein Werk der Friedensarbeit und Friedens-
erziehung ist, so tritt gerade im Moment der Gefahr die ganze Friedens-
tätigkeit in die Phase ein, wo sie ihre Früchte trägt. Gut erzogene
und ausgebildete Truppen, in denen sich der Führer einen absoluten
Einfluß bewahrt hat, in denen das Wort des Führers eine solche
Kraft besitzt, daß es noch kräftiger wirkt als der Druck der Gefahr,
werden die größten Verluste auszuhalten vermögen, ohne an ihrer
Willenskraft Schiffbruch zu erleiden.
Die moralische Gefahr besteht in der Verantwortung; diese
trifft vornehmlich den Führer. Während die Truppe mehr mit der
materiellen Gefahr zu kämpfen hat, hat der Führer neben der mate-
riellen auch die moralische Gefahr, und zwar um so mehr, je höher
der Wirkungskreis ist, der ihm angewiesen wurde, je mehr er selbst
Das moralische Element in der Taktik. 251
einen freien Entschluß zu fassen hat. Jeder, der selbst einen Ent-
schluß fassen muß, muß auch die Verantwortung dafür übernehmen
die Verantwortung besteht darin, daß der, der den EntschlußB gefaßt
hat, auch für die Folgen einstehen muß; sie ist um so größer, je
mehr auf dem Spiel steht. Je mehr ein Führer also selbständig ist,
desto mehr muß er auch den moralischen Mut haben, einen Entschluß
zu fassen, und dieser moralische Mut wird um so größer sein, je
mehr man zur Überzeugung gelangt ist, daß ein Entschluß — auch
wenn er nicht der beste ist — fest gefaßt und folgerichtig durch-
geführt, eher zu einem ersprießlichen Ziele führt als ein fortwährendes
Zaudern, Überlegen, Besinnen oder ein fortwährendes Schwanken.
Wir sehen also: je empfindlicher die Entbehrungen, je größer
und je andauernder die Anstrengungen, je größer und je mehr in Zeit
und Ort vereinigt die Verluste auftreten, desto höher muß das mora-
liche Element sein, das die Truppe aufzubringen hat. Es ist Auf-
gabe der Führung, den jeweiligen Wert dieser Faktoren zu schätzen
und sich klar zu werden über die Frage, ob der Zustand der Truppen
noch erlaube, eine äußerste Leistung von ihr zu fordern, oder ob man
auf eine solche Leistung nicht werde rechnen können. Was die Gegen-
bestrebungen gegen den Eindruck der Hindernisse anbelangt, so
können wir nicht zu dem Mittel unsere Zuflucht nehmen, daß wir
diese Hindernisse geringer darstellen, als sie sind. Dagegen kann
man den Truppen den Beweis liefern, daß die Überwindung dieser
Schwierigkeiten und Hindernisse doch kein Ding der Unmöglichkeit
sei, daß es der menschlichen Willenskraft noch recht leicht gelingen
könne, diese Hindernisse zu überbrücken und trotz der Schmerzlichkeit
der Entbehrungen, trotz der Müdigkeit in der Anstrengung und trotz
der Gefahr noch die Aufgabe zu lösen. Dieser Beweis kann geliefert
werden durch den Zuspruch des Führers, der im Mann die
Willenskraft erweckt, der ihm sagt, er könne noch längst, der ihm
vorstellt, um was es sich handelt. Der Zuspruch kann auch dahin
ausgedehnt werden, daB man die Leidenschaft weckt, die weiter oben
als Patriotismus bezeichnet wurde. Ferner ist es möglich, durch
andere Mittel, die den Soldaten die Gefahr teils vergessen lassen, teils
seine Gedanken nach anderen Richtungen hin ablenken, ihm die Ruhe
und Sicherheit wiederzugeben. So sei erinnert an eine Gardekompagnie,
die bei Soor 1866 Points vornahm, an eine bayerische Batterie, die
bei Chateaudun 1870 im feindlichen Feuer die „Wacht am Rhein“
sang u.a. Derartige Mittel sind auch imstande, die Willenskraft der
Leute neu zu begeistern, und auch heute noch denkbar, wenn einem
Führer ein derartiges Mittel gerade zur Hand ist.
Ein Mittel aber vermag noch am allerbesten, den Truppen den
262 Das moralische Element in der Taktik.
gewünschten Beweis zu liefern: es ist das Beispiel des Führers,
Denn mehr als alles andere, vermag es die Tatsache, daß ein Mensch
etwas leistet, den anderen auch zu beweisen, daß es geleistet werden
kann. Wenn die Mannschaft sieht, daB der Führer in den Ent-
behrungen die Heiterkeit und den Humor nicht verliert, daß der
Führer den Anstrengungen nicht unterliegt, sondern selbst dann, wenn
man ihm vielleicht schon anmerkt, daß es ihm zu Herzen geht, un-
ablässig fortfährt, nicht nur selbst heiter zu sein, sondern auch seine
Leute dazu aufzumuntern, daß der Führer sich aus der Gefahr nichts
macht, wenn er selbst voran aus der Deckung springt, dann werden
die Leute die Überzeugung haben, daß das, was ihnen vielleicht so
unendlich schwer dünkt, doch kein Ding der Unmöglichkeit ist, und
daß man wirklich nur zu handeln braucht, um es zu tun. Nun ist
es natürlich nötig, daß dieses wichtigste Hilfsmittel auch wirklich auf
die Truppen die Wirkung ausübt. Dies hängt davon ab, wie Führer
und Truppe durch die Erziehung miteinander zusammengeschweißt
sind. Hat es der Führer in der Tat während der vorangegangenen
Friedenserziehung dazu gebracht, daß die Truppe alles das, was er
befiehlt und was er ihnen vormacht, auch wirklich für eine absolute
Notwendigkeit halten, dann ist er auch sicher, daß sein Beispiel ziehen
wird. Allerdings kommt nıan zuletzt doch an eine Grenze, wo auch
das Beispiel nichts mehr hilft; dann kann man annehmen, daß die
Willenskraft der Truppe auf die Neige gegangen ist. Andere Mittel,
die Schwierigkeiten und Hindernisse zu überwinden, sind, daß man
momentan, wo es möglich ist, die Kräfte wieder ergänzt. Es ist von
Wichtigkeit, auf die Anstrengungen Ruhe, auf die Entbehrungen wieder
gute Verpflegung folgen zu lassen. Diese Rücksicht wirkt nicht nur
auf die körperliche Leistungsfähigkeit, sondern auch auf die Willens-
kraft, auf das moralische Element. Natürlich dürfen die verschie-
denen Rücksichten nicht unseren Aufgaben vorangehen; was die Auf-
gabe fordert, ist zunächst das Wichtigste. Verlangt sie z. B., dab
wir uns und unsere Truppen der Gefahr aussetzen, so ist eine Deckung
einfach nicht möglich.
Endlich sei noch erwähnt, daß das Beispiel des Führers in seiner
Wirkung noch gesteigert werden kann durch die Willensstärke,
die der Führer selbst dadurch zeigt, daß er nicht nur selbst tut, was
er fordert, sondern seinem Verlangen auch nachdrücklichst Ausdruck
geben kann. Es genügt nicht, nur das Beispiel zu geben, er muĝ
auch mit der Kraft des Befehls, mit der Kraft energischen Zuspruches
und schließlich — wenn es sein muß — mit der Kraft des Zwanges,
beweisen, daß es ihm Ernst ist, das Nötige zu verlangen. Es geht
daraus hervor, wie sehr die moralische Leistung abhängt vom Ver-
Das moralische Element in der Taktik. 263
hältnis der Truppe zum Führer und wie dieser seinen Einfluß befestigt
hat und wie wichtig es ist, daß der Führer einen Überschuß an
Willenskraft besitze, mit dem er seine Truppen versehen kann. Er
muß imstande sein, nicht nur von sich selbst, sondern auch von
seiner Truppe die verlangte Leistung herauszubringen. Der Führer
muß also auch in moralischer Beziehung, in Bezug auf die Willens-
kraft überlegen sein.
Die Macht der Hindernisse und Schwierigkeiten erfährt ihre
höchste Steigerung im Mißerfolg. Wenn er tatsächlich eintritt und
die Willenskraft der Truppen scheitert, so ist ihr Zustand zu be-
denken. Der Mißerfolg scheint der Truppe zu beweisen, daß die
Hindernisse zu groß sind, oder beweist ihr vielmehr richtiger, daß die
Willenskraft der Truppe zu klein war. Der Mißerfolg raubt das Ge-
fühl der Überlegenheit, den Trost für die Entbehrung, der nur darin
liegt, daß man für einen Erfolg entbehrt hat, den Trost für die An-
strengung, die uns damit zufrieden macht, daß wir wirklich etwas
erreicht haben. Haben wir nichts erreicht, so wird die Truppe mit
sich selbst unzufrieden und wer einmal Schiffbruch gelitten hat, bringt
sie ein zweites Mal kaum mehr dazu. Diese Tatsache ist in zweierlei
Hinsicht von Wichtigkeit. Einmal muß sich Führer und Truppe be-
wußt sein, daß die Vereinigung aller Willenskräfte auf den ersten
Versuch die geringste Wahrscheinlichkeit des Mißerfolges mit sich
bringt. Zweitens wird mit den gleichen Truppen die Aufgabe ein
zweites Mal nicht gelöst werden können, wenn die Willenskraft beim
ersten Mal nicht ausgereicht hat. Ohne das Eingreifen frischer Truppen
wird eine einmal zurückgewiesene Truppe nicht mehr imstande sein,
ihre Aufgabe zu lösen. Schon Friedrich der Große hat gesagt, daß
es nach jedem Mißerfolge die Hauptsache ist, die moralischen Kräfte
wieder beleben, daß der Führer vor allem an sich selbst arbeiten muß,
den bösen Eindruck der Niederlage zu vermischen und auch ihn der
Truppe vergessen zu machen.
Es ist nun noch zu untersuchen, in welchem Verhältnis das mo-
ralische Element zu den verschiedenen taktischen Aufgaben steht. Im
Vernichtungskampf, d. h. im entscheidenden Gefecht, ist bezüg-
lich der klaren Absicht der Angreifer in Vorteil; er hat die Initiative,
er bestimmt sich den Punkt, gegen den er seine Kräfte in Bewegung
setzen will; er weiß von Anfang an, was er will. Der Verteidiger
muß abwarten, was geschieht; er muß seine Kräfte zusammenhalten.
In der Konzentrierung der Kräfte liegt eine Erleichterung des mo-
ralischen Elements, besonders beim Verteidiger. Der Angreifer kann
eher wissen, daß für ihn die Frage des ersten Erfolges entscheidet.
In der Krisis muß sich auf beiden Seiten die größte Macht der
264 Das moralische Element in der Taktik.
Führung bewähren, der Befehl seine größte Wirksamkeit äußern.
Gerade ` da ist überall in jeder Truppe das Bedürfnis nach Führung
vorhanden, das Bedürfnis nach solchen Beispielen, die die Truppe
über die Gefahren und Anstrengungen hinweggerissen. In dem ent-
scheidenden Gefechte kommen die moralischen Kräfte der Truppe zur
höchsten, zur intensivsten Anschauung; denn hier handelt es sich um
die Vernichtung. Diese Erwägung muß aber auch geeignet sein, die
moralischen Kräfte aufs äußerste zu steigern. Denn wer nicht selbst
vernichtet sein will, muß den anderen vernichten und die Aussicht,
im Mißerfolge der Vernichtete zu sein. müßte doch offenbar zum
Willen führen, das Äußerste einzusetzen, um den Gegner zu ver-
nichten.
Das Gefecht um Zeitgewinn findet bei Bezug auf das mo-
ralische Element eine Erleichterung darin, daß der schwerste Teil des
Gefechtes, die Krisis, ihm erspart ist, wenigstens so lange, als es sich
nur um den Zeitgewinn handelt und nicht also das Gefecht aus an-
deren Gründen sich der Entscheidung zuwendet. Schwieriger jedoch
als im entscheidenden Gefecht werden die Verhältnisse durch die ge-
ringere Zahl und die weitere Verteilung, auch dadurch, daB es des
entscheidenden Erfolges entbehrt und damit auch der großen morali-
schen Steigerung, die im Erfolge liegt. Ja, beim Kampf um Zeit-
gewinn kann es vorkommen, daß eine Truppe die Aufgabe mehrmals
wiederholen muß. Der Erfolg ist aber doch nicht so gering, er liegt
allerdings nicht darin, daß wir den Feind vernichten oder vielleicht
glänzende Siege erringen, aber er wird uns deutlich durch die Ziffer
der Uhr und jede Minute Zeit, die wir gewinnen, zeigt uns auf dem
Zifferblatt den Erfolg, den wir dem Feind abgerungen.
Bei Märschen kommt namentlich der Einfluß der Anstrengungen
und auch zum Teil der Entbehrungen zum Ausdruck. Alle die
Hindernisse, die den Marsch erschweren, vermehren mit den An-
strengungen auch den Druck auf das moralische Element, und es ist
demnach einerseits von großer Wichtigkeit, daß die Führer auf dem
Marsche sowohl durch ihre Befehlsgebung als auch durch ihr Beispiel
die Leute in den Momenten, wo die Anstrengungen zu überwiegen
scheinen, wieder neu beleben, daß man aber auch zur rechten Zeit,
wo es möglich ist, Ruhe eintreten läßt. Von großer Wichtigkeit ist
es dabei, die Marschdisziplin, d. h. den Gehorsam gegen die für den
Marsch gegebenen Vorschriften, aufrechtzuerhalten, weil dies nicht
nur Sache des reinen Gehorsams ist, sondern weil auch die Hinder-
nisse des Marschierens um so größer werden, je weniger die dafür
gegebenen Vorschriften beachtet werden.
Das neue französische Reglement für die Maschinengewehrformationen. 265
Zum Schluß sei noch kurz einiger Umstände gedacht, die in-
sofern einen Einfluß auf das moralische Element auszuüben ver-
mögen, als sie Hindernisse und Schwierigkeiten der gegebenen Auf-
gaben vergrößern oder wenigstens größer erscheinen lassen können:
das Gelände, die Waffenwirkung, Witterung und Temperatur. Das
Gelände macht der Truppe unter gewissen Umständen den Eindruck,
daß es ihr Hindernisse bereitet, die als bekannt vorausgesetzt werden
dürfen. So kann z. B. das Gelände durch bedeutende Hindernisse
oder durch weit ausgedehnte Bedeckungen (Wälder) den Eindruck der
Schwierigkeit der Aufgabe, der Unsicherheit, der Gefährlichkeit
machen. Die Waffenwirkung ist durch die Verluste, die sie er-
zeugt, oder durch die sonstigen Eindrücke, die namentlich durch
Artilleriegeschosse verursacht werden, von Wichtigkeit. Die Waffen-
wirkung erzeugt durch die Verluste das Gefühl der Gefahr in der
Truppe. Temperatur und Witterung kommen endlich dadurch
in Betracht, daß auch sie geeignet sind, die Hindernisse, die die
Truppe für ihre Aufgabe findet, größer erscheinen zu lassen und
dadurch also auf das moralische Element zu drücken.
XVIII.
Das neue französische Reglement für die
Maschinengewehrformationen der Infanterie.
Von
Beckmann,
Major z. D., zugeteilt der Militärtechnischen Akademie.
(Mit 5 Bildern).
Im Anfang des vorigen Jahres wurde in Frankreich eine neue
Dienstvorschrift, das Réglement sur les sections de mitrailleuses
d'infanterie, das nach sehr sorgfältiger Prüfung unterm 25. November
1912 vom Kriegsministerium genehmigt worden war, an die Truppen
ausgegeben. Sein erster Teil enthält die für die Organisation, die
Formen, das Exerzieren, das Schießen und die taktische Verwendung
maßgebenden Vorschriften, während der zweite sich in sehr eingehender
Weise mit dem Material und seiner Behandlung m
Jahrbücher für die deutsche Armee und Marine. Nr. 516.
266 Das neue französische Reglement für die Maschinengewehrformationen.
Ungeachtet der kurzen Spanne Zeit, die nur zwischen dem Er-
scheinen dieses Reglements und der durch Verfügung des Kriegs-
ministeriums vom 19. Juli 1912 genehmigten vorläufigen Vorschrift
verstrichen ist, weist es doch dieser gegenüber bereits wesentliche
Änderungen auf. So hat besonders das Schießverfahren eine ganz
bedeutende Vereinfachung erfahren. Das läßt den außerordentlichen
Eifer erkennen, mit dem man in Frankreich bestrebt ist, aus der
neuen Waffe alles herauszuholen, was sie zu leisten imstande ist. Wir
besitzen zurzeit in Deutschland eine solche in sich geschlossene, alle
einschlägigen Gebiete umfassende Dienstvorschrift für die Infanterie-
maschinengewehre nicht. Es dürfte daher von Interesse sein, wenn
wir uns die wichtigsten Abschnitte des französischen Reglements kurz
vor Augen führen und die in ihnen enthaltenen Bestimmungen und
Angaben einer kritischen Betrachtung unterziehen.
1. Organisation Ausbildung und Formationen der Feldmaschinen-
gewehre.
Organisation.
Die Maschinengewehrzüge sind dem Regiments- oder selbständigen
Bataillonskommandeur unmittelbar unterstellt. Dieser veranlaßt ihre
Verteilung im Frieden. Grundsätzlich ist jedem Bataillon ein Maschinen-
gewehrzug angegliedert, dessen Mannschaften einer vom Regiments-
kommandeur bestimmten Kompagnie zur Verpflegung zugeteilt werden.
Im Kriege und in den Manövern bildet das Personal jedes
Zuges eine selbständige Gruppe, die in Verwaltungsangelegenheiten
der aus dem Stabe und den Kommandierten bestehenden Abteilung
angegliedert ist. |
Es gibt zwei Arten von Infanteriemaschinengewehrzügen:
1. Züge mit gemischtem Gerät (sections du type mixte), bei denen
das Material auf Tragtieren und Fahrzeugen befördert wird.
Mit diesen sind alle in Frankreich stehenden Truppenteile, mit
Ausnahme der Alpentruppen, ausgerüstet.
2. Züge mit Gebirgsgerät (sections du type alpin), bei denen aus-
‚schließlich Maultiere zur Beförderung des Materials dienen.
Diese sind dem XIV. und XV. Armeekorps sowie den auf
Korsika und in Algerien-Tunis stehenden Truppen zugewiesen.
Beide Arten bestehen aus dem Gefechtszug und der Gefechts-
bagage.
Der Gefechtszug setzt sich zusammen aus dem Schützenzug —
1 Leutnant (auf Fahrrad) als Führer, 1 Unteroffizier als Gehilfe des
Zugführers, 2 Korporale (Gewehrführer), 2 Richtschützen, 2 Lade-
Das neue französische Reglement für die Maschinengewehrformationen. 267
schützen, 2 Hilfsladeschützen, 1 Meßmann, 1 Waffenmeister und
1 Verbindungsmann (Radfahrer) und der Staffel — 1 Korporal als
Führer (Futtermeister, 4 Munitionsträger, 9 Tragtierführer und
9 Tragtiere (2 Gewehr-, 6 Munitions- und 1 Reservetragtier). Die
Gefechtsbagage des Zuges mit gemischtem Gerät besteht aus 1 Kor-
poral als Führer, 2 Fahrern und einem mit 4 Zugpferden bespannten
Wagen (Protzsystem), der Munition, Vorratsläufe, Zubehör, Lebens-
mittel usw. enthält, diejenige des Zuges mit Gebirgsgerät aus 1 Kor-
poral, 6 Tragtierführern und 6 Tragtieren.
Die Friedensstärke beider Arten von Zügen beträgt 1 Leutnant,
1 Unteroffizier, 3 Korporale, 15 Gemeine und 4 Tragtiere (2 Gewehr-
und 2 Munitionstragtiere).
Bewaffnung und Ausrüstung.
Der Meßmann und beim gemischten Zuge die beiden Fahrer sind
mit dem Revolver ausgerüstet, alle übrigen Unteroffiziere und Mann-
schaften führen den Artilleriekarabiner mit Bajonett. Bekleidung und
Ausrüstung ist die des Infanterietruppenteils,, dem der Zug an-
gegliedert ist. Unteroffiziere, Gewehrführer und Richtschützen tragen
auf dem Mantel, dem Waffenrock und der Bluse besondere Abzeichen.
Auswahl und Ausbildung des Personals.
Das Personal wird sehr sorgfältig ausgewählt. Den Zugführer
bestimmt der Regimentskommandeur. Der Unteroffizier wird aus
der Zahl der Kapitulanten entnommen, die einen Schießschulkursus
durchgemacht haben. Die Korporäle und Gemeinen werden aus den
ausgebildeten Leuten ausgesucht, die noch mindestens ein Jahr zu
dienen haben. Für jede im Frieden vorgesehene Tätigkeit wird ein
besonderer Mann und ein Stellvertreter bestimmt, die verschiedenen
Jahrgängen angehören. Der Zug verfügt mithin stets über eine aus-
reichende Zahl ausgebildeter Leute so daß er jederzeit mobil gemacht
werden kann. Die Stellvertreter werden drei Monate nach der Ein-
stellung ausgewählt. Sie bleiben in ihrer Kompagnie und nehmen an
der besonderen Ausbildung des Maschinengewehrzuges in den vom
Regimentskommandeur festgesetzten Grenzen teil. Diese erfolgt in
der Regel an drei Tagen der Woche durch den Zugführer unter Ver-
antwortlichkeit des Bataillonskommandeurs. Das Programm wird dem
Regimentskommandeur zur Billigung vorgelegt.
Die eigentlichen Mannschaften des Zuges nehmen an allen
Übungen (Schießen, Felddienst usw.) der Kompagnie teil, der sie zur
Verpflegung zugeteilt sind.
20*
268 Das neue französische Reglement für die Maschinengewehrformationen.
Der Maschinengewehrzug kann zu allen Felddienstübungen des
Bataillons herangezogen werden.
Formationen.
Als Marsch und Versammlungsform des Maschinengewehrzuges
dient die Marschkolonne (colonne de route), in der sich die beiden
Gewehre in Kolonne zu zweien
pom —h ohne besonderen Zwischenraum
2 Di nebeneinander befinden. Die
| ; 7 d Staffel folgt in Kolonne zu
; r. zwei Tieren (Bild 1).
Zu Bewegungen auf dem
Gefechtsfelde werden die Ge-
wehre in Kolonne zu zweien
mit verschiedenen Zwischen-
räumen auseinandergezogen.
Die Staffel bleibt entweder
vereinigt hinter der Mitte oder
sie folgt geteilt den einzelnen
Gewehren. Die Wiederher-
stellung der Marschkolonne
erfolgt durch Zusammen-
schließen der Gewehre. In
schwierigem Gelände und in
Engwegen paßt der Zugführer
die Form den Umständen an.
Die Gewehre können hinter-
einander in der Kolonne zu
zweien oder, wenn erforderlich,
auch zu einem marschieren.
Für Paradezwecken, für das Biwak und in Fällen. in denen das
Gelände es bedingt, wird die Linie angewandt (Bild 2).
Sie wird aus der
engen SR Ò SE -> Marschkolonne durch Auf-
A Wa I. °
afafalefafofetef 1 TI IT marsch rechts und links
Dst f. hergestellt.
Omis a a 828 8 8 8 Der Maschinenge-
|
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Zay 77 wehrzug marschiert und
! u“ $ A p p 9 2 exerziertt grundsätzlich
im Schritt. Auf kurze
Strecken können sich die
Leute im DBedarfsfalle im Laufschritt, die Tragtiere im Trabe be-
wegen.
Das neue französische Reglement für die Maschinengewehrformationen. 269
Betrachtungen.
Die Organisation der Infanteriemaschinengewehre in Deutschland
weist der in Frankreich gegenüber zwei grundsätzliche Verschiedenheiten
auf, die Gliederung in Kompagnien und die Fortschaffung auf Fahr-
zeugen.
Unsere Maschinengewehrkompagnie bildet einen geschlossenen, selb-
ständigen Truppenteil, der für den inneren Dienst einem Bataillon an-
gegliedert ist, im übrigen aber lediglich dem Regimentskommandeur
untersteht. Führer ist ein besonders geeigneter Hauptmann. Die
Kompagnie erhält ihren eigenen Mannschaftsersatz und nimmt Kapitu-
lanten zur Ergänzung ihres Unteroffizierkorps an. Alle diese Umstände
gewährleisten zweifellos eine gute und gleichmäßige Ausbildung, die
durch die französische Organisation durchaus nicht in dem Maße sicher
gestellt ist.
Durch die Gliederung in Kompagnien wird ferner die einheitliche
Verwendung, die namentlich während der Entfaltung und ersten Ent-
wickelung des Regiments meist am Platze ist, erleichtert und damit
die Aussicht auf die Erreichung des beabsichtigten Zweckes gesteigert.
Einer der Hauptvorzüge des Maschinengewehrs ist seine Befähigung
zu plötzlichen, überraschenden Feuerüberfällen. Je größer die Feuer-
kraft ist, die bei solchen Gelegenheiten entwickelt wird, je dichter der
Geschoßhagel ist, der den Feind trifft, desto größer wird die physische
und moralische Wirkung sein, die man erzielt, desto mehr wird auch
das moralische Element bei den eigenen Truppen gehoben werden.
Der kraftvolle Feuerüberfall einer fest in der Hand ihres Führers be-
findlichen Kompagnie wird daher einen ganz anderen Eindruck hervor-
rufen, als der eines französischen Zuges.
Durch das Zusammenfassen mehrerer Züge, wie es z. B. in
Österreich vorgesehen ist, würde man sich bis zu einem gewissen Grade
helfen können. Das will das französische Reglement aber auch mög-
lichst vermieden wissen. Es stützt sich dabei wohl auf die Erfahrungen
der Japaner im ostasiatischen Kriege. Dort soll die Wirkung der
Abteilung zu sechs Gewehren nicht der Summe der Wirkung der ein-
zelnen Waffen entsprochen und der außerordentlich große Munitions-
verbrauch nicht im Verhältnis zu dem erzielten Erfolge gestanden
haben.
Dieser Umstand ist zweifellos in der Hauptsache auf eine nicht
sachgemäße Feuerleitung zurückzuführen. Ganze Abteilungen be-
schossen Ziele, die sich ihrer Art und Größe nach nur zur Bekämpfung
durch zwei oder allenfalls vier Gewehre eigneten. Derartige Fehler
müssen natürlich vermieden werden.
270 Das neue französische Reglement für die Maschinengewehrformationen.
Es ist gerade als ein Vorteil der Kompagnie zu sechs Gewehren
anzusehen, daß ihr Führer in der Lage ist, eine angemessene Feuer-
kraft gegen das zu bekämpfende Ziel einzusetzen, und daß er sich
unter Umständen mit einem Teile, z. B. einem Zuge gegen ein neu
auftretendes Ziel wenden kann, ohne vollständig von dem bisherigen,
solange es noch nicht ausreichend niedergekämpft ist, ablassen zu
müssen.
Die Japaner führen ferner darüber Klage, daß die Gewehre beim
Auftreten im Abteilungsverbande sich schwerer im Gelände verstärken
ließen, mithin ein günstigeres Ziel boten, wie bei einer Verwendung
in kleineren Gruppen, und daß sie daher meist sehr bald von der
feindlichen Artillerie aufgefunden wurden und starke Verluste durch
ihr Feuer erlitten. Diese nicht zu leugnende Tatsache ist aber wohl
weniger auf das Auftreten in großen Verbänden, als auf die beson-
deren Umstände, unter denen es erfolgte, zurückzuführen.
Die russische Artillerie war infolge der Ausstattung mit einem
ballistisch und konstruktiv besseren Feldgeschütze der japanischen
Artillerie bedeutend überlegen. Diese Überlegenheit nutzte sie in
sehr sachgemäßer Weise aus, indem sie ihren Überschuß an Feuer-
kraft gegen die Maschinengewehre der Japaner, die man als außer-
ordentlich gefährliche Gegner erkannt hatte, einsetzte. Da die japa-
nischen Gewehre damals noch zum großen Teil in hohen, weit sicht-
baren Räderlafetten festgelagert waren und daher im Gelände vielfach
keine ausreichende Deckung fanden, gelang es der russischen Artillerie
in der Regel, schnell sich gegen sie einzuschießen und ihnen empfind-
liche Verluste beizubringen.
In dieser Hinsicht liegen die Verhältnisse bei uns ganz anders.
Unsere Artillerie ist der aller anderen Staaten gegenüber mindestens
gleichwertig und mithin durchaus imstande, die gegnerische Artillerie
zu binden und an einem frühzeitigen Niederkämpfen der Maschinen-
gewehrkompagnien zu hindern. Die Gewehre selber bieten ferner
heutzutage, freigemacht, nur ein kleines, bereits an der unteren
Grenze der mittleren Entfernung in ebenem Gelände schwer auf-
zufindendes Ziel. Bei zweckmäßiger Auswahl der Feuerstellung können
sie daher auch in größeren Verbänden sehr wohl der Sicht der feind-
lichen Artillerie entzogen werden.
Durch sachgemäße Einrichtung der Stellung, Herstellung von
Erddeckungen unter Ausnutzung von Sandsäcken ist man in der
Lage, sie auch in ausreichendem Maße gegen ihre Feuerwirkung zu
schützen. Einen erhöhten Schutz würde man noch in vielen Fällen
durch die Anbringung von Schilden, wie sie z. B. in Österreich ein-
geführt sind, erreichen können.
Das neue französische Reglement für die Maschinengewehrformationen. 271
Die Fortschaffung des Materials auf Fahrzeugen hat derjenigen
auf Tragtieren gegenüber zunächst den Vorteil der größeren Beweg-
lichkeit und schnelleren Feuerbereitschaft.
Die normale Gangart der bespannten Maschinengewehrkompagnien
ist allerdings, ebenso wie die der französischen Züge, der Schritt.
Ihre Ausbildung ist soweit zu fördern, daß sie imstande sind, auch
in schwierigem Gelände der Infanterie zu folgen und die Fahrzeuge
an den befohlenen Platz zu bringen. Erfordert es die taktische Lage,
so können sie aber selbst außerhalb der Wege längere Strecken im
Trabe zurücklegen und dabei eine für die erste Gefechtstätigkeit voll-
kommen ausreichende Zahl von Mannschaften mit sich führen. Das
ist von Wichtigkeit für ihre Verwendung bei den Marschsicherungen
sowie bei allen Stellungswechseln, bei denen sie sich unter Aus-
nutzung der Deckung auf Umwegen wieder an die Infanterie heran-
ziehen müssen, ganz besonders aber dann, wenn es sich im letzten
Stadium des Angriffs darum handelt, zur Abwehr feindlicher Gegen-
stöße schnell in die genommene Stellung vorzugehen. Immerhin be-
deutet die Anwendung des Trabes bei den Maschinengewehrkompagnien
eine außerordentliche Inanspruchnahme der Kräfte der Pferde, die
nur in Ausnahmefällen gerechtfertigt erscheint.
Die Einnahme und der Wechsel der Feuerstellung wird auch
noch durch die hohe Feuerbereitschaft des im Schlitten auf dem
Fahrzeuge angebrachten Gewehres beschleunigt. Das in Frankreich
erforderliche Zusammensetzen bzw. Auseinandernehmen und das um-
ständliche Ab- und Aufpacken des Materials fällt fort.
Beim Transport auf Fahrzeugen kann ferner beim Gewehr selber
eine bedeutend größere Munitionsmenge mitgeführt werden. Bei Aus-
stattung mit der gleichen Munitionsmenge ist die Marschkolonne
wesentlich kürzer.
Unteroffiziere und Mannschaften werden durch die Überwachung
und Pflege der Pferde auf dem Marsche, besonders während der Ruhe-
pausen, weniger in Anspruch genommen. Trotzdem ist der Ausfall
von Pferden infolge von Druckschäden geringer.
Da die Zahl der unter sonst gleichen Verhältnissen zur Fort-
schaffung erforderlichen Pferde erheblich kleiner ist, verringert sich
dementsprechend auch der Bedarf an Futtermitteln.
Durch zeitweises Aufsitzen während des Marsches können die
Kräfte derjenigen Mannschaften, welchen die wichtigsten Funktionen
im Gefecht obliegen, geschont werden.
Diesen Vorteilen stehen als Nachteile gegenüber, daß die Fahr-
zeuge dem Feinde das Erkennen der Maschinengewehre als solche er-
leichtern und daß sie auf sehr schmalen Wegen, wie sie z. B. im
272 Das neue französische Reglement für die Maschinengewehrformationen.
Hochgebirge vorkommen, sowie beim Passieren lichter Wälder ohne
Wege der Infanterie nicht dauernd folgen können.
Es wird ferner nicht möglich sein, die Gewehre und die Munition
auf den Fahrzeugen ungesehen so nahe an die Stellung heran-
zuschaffen, wie auf den Tragtieren. Gewehre und Munition müssen
daher mitunter längere Strecken durch die Mannschaften vorgebracht
werden.
Da die französischen Maschinengewehrzüge mit gemischtem Ge-
rät einen großen Teil der Munition, der Reserveteile usw. in einem
Wagen mitführen, werden sie in allen diesen Fällen den Inhalt des
Wagens ebenfalls durch Mannschaften vorbringen müssen, wenn sie
mit voller Gefechtskraft in der Stellung auftreten wollen.
Für die Maschinengewehre der Infanterie ist meines Erachtens
bei den Kriegsschauplätzen, mit denen wir zu rechnen haben, die
Fortschaffung auf Falırzeugen zweckmäßiger wie diejenige auf Trag-
tieren. Bei Kämpfen in besonders gebirgigem Gelände, z. B. in den
Alpen, ist die Fortschaffung auf Tragtieren vorzuziehen.
Die Formen und Exerzierbewegungen sind in Frankreich sehr
einfach gehalten. Das entspricht durchaus unseren Ansichten. Auch
wir begnügen uns mit zwei Formationen, der Kolonne zu einem, die
als Marschform und wenn der Raum es gestattet auch zur Versamm-
lung dient, und der Linie, die außer für letzteren Zweck noch für
die Parade vorgesehen ist.
2. Das Schießen.
Feuerleitung.
Die Leitung des Feuers liegt ausschließlich in der Hand des
Zugführers.
Bei uns liegt sie zunächst dem Kompagnieführer, demnächst
aber, da dieser nicht immer in der Lage ist, alle sechs Geschoßgarben
so zu beobachten, daß er richtige Korrekturen rechtzeitig anordnen
kann, in sehr hohem Maße den Zugführern, in engeren Grenzen aueh
noch den Gewehrführern ob.
Wahl des Zieles.
Maßgebend für die Wahl des Zieles, die Feuereröffnung und die
Stärke des Feuers ist die taktische Lage.
Feuerarten.
Das französische Reglement kennt zwei Feuerarten:
1. das Feuer mit losem Seitenrichthebel (tir debloque),
2. das Feuer mit festgestelltem Seitenrichthebel (tir bloqué).
Das neue französische Reglement für die Maschinengewehrformationen. 273
Letzteres findet, da es die Garbe auf engem Raume zusammen-
hält, im Gefecht nur ausnahmsweise Anwendung, und zwar zum Be-
schießen schmaler und besonders gefährlicher Ziele (Schützengruppen
hinter einer Deckung, Maschinengewehre in Stellung usw.) sowie in
gewissen Fällen zur Erleichterung des Einschießens.
Zu Zwecken der Unterweisung wird es häufiger angewandt.
Dem tir bloqué entspricht unser Reihenfeuer, das aber lediglich
zum Einschießen dient, weil seine Garbe nach unserer Ansicht auch
zım Niederkämpfen schmaler Ziele zu eng begrenzt ist.
Zum Wirkungsschießen wird bei uns grundsätzlich das Dauer-
feuer angewandt, dem in Frankreich das Feuer mit losem Seiten-
richthebel entspricht. Dieses kann ohne und mit Seitenstreuung
(fauchage), also als Punktfeuer oder Breitenfeuer abgegeben werden.
In ersterem Falle ist es dem Feuer mit festgestelltem Seiten-
richthebel vorzuziehen, weil es eine größere Frontausdehnung deckt
und bei Bewegungen des Zieles ein Folgen mit der Richtung ge-
stattet. Es dient, wie unser Punktfeuer, zur Bekämpfung schmaler Ziele.
Bei Anwendung der Seitenstreuung, die als Regel zu betrachten
st, gibt der Richtschütze zunächst einige Schüsse auf das linke Ende
des Zieles ab. Demnächst verlegt er das Feuer ohne Unterbrechung
nach rechts. Das Ziel wird auf diese Weise in seiner ganzen Front-
breite abgestreut und das Verfahren, zur Erleichterung der Beobach-
tung immer wieder von links beginnend, so oft wiederholt, wie es
notwendig erscheint. Der Richtschütze nimmt hierbei vorwiegend
nur die dichtesten und am meisten verwundbaren Teile des Zieles
unter Feuer, während bei unserem Breitenfeuer das Ziel durch lang-
same Seitenbewegung des Maschinengewehrs gleichmäßig mit Geschossen
überstreut wird.
Auf Entfernungen über 1000 m soll der Einfluß seitlichen Windes
dadurch ausgeschaltet werden, daß das Streuen nach der Seite aus-
gedehnt wird, von der der Wind kommt.
Ermittelung der Entfernung.
Das Schießen mit einem Visier hat beim Maschinengewehr eine
solche Genauigkeit, daß ein Visierfehler von 50 m die Wirkung auf
Entfernungen unter 1000 m erheblich herabmindert, sie auf größeren
Entfernungen sogar völlig aufheben kann.
Aus diesem Grunde muß ein ganz besonderer Wert darauf ge-
legt werden, daß die Entfernung nach dem Ziel genau fest-
gestellt wird.
Als erste Maßnahme vor Beginn eines jeden Schießens stellt
daher das Reglement die sorgfältige Ermittelung der Entfernung mit
274 Das neue französische Reglement für die Maschinengewehrformationen.
dem Entfernungsmesser hin. Sie kann mit Hilfe dieses Instrumentes
auf kleinen und mittleren Entfernungen bis auf 50 m genau fest-
gestellt werden. Diese gemessene Entfernung ist nun aber nicht un-
bedingt die richtige Visierentfernung. Unstimmigkeiten können zu-
nächst in der Eigentümlichkeit der einzelnen Waffe selber begründet
liegen. Der Zugführer muß daher über ein etwaiges Zukurz- oder
Zuweitschießen seiner beiden Gewehre unterrichtet sein und diese
Fehler gleich beim Kommando der Entfernung berücksichtigen.
Weiterhin können auch besondere Umstände, wie Erhitzung des
Laufes, Ungleichheiten im Gewicht der Munition, Witterung usw. von
Einfluß auf das Schießen des Gewehres sein. Die durch Erhitzung
des Laufes hervorgerufenen Unstimmigkeiten werden durch den Aus-
gleichapparat (appareile compensateur de réglage) bestätigt. Die
anderen zufälligen Einflüsse machen sich auf kleinen Entfernungen
nur in sehr geringem Maße geltend. Über 1000 m können sie aber
loch bewirken, daß die durch ein Visier hervorgerufene Streuungs-
garbe außerhalb des Zieles fällt. Es ist daher von Nutzen, ihre
Größe festzustellen und die zunächst kommandierte Entfernung, so-
weit es möglich ist, durch die Beobachtung der Geschoßeinschläge zu
verbessern.
Tiefenfeuer.
Bei fehlender Beobachtung und wenn es die besonderen Um-
stände erfordern, kann der Zugführer, um die Aussicht, das Ziel mit
Sicherheit zu treffen, zu erhöhen, einen Geländestreifen von aus-
reichender Tiefe dadurch unter Feuer nehmen, daß er mehrere von
50 zu 50 m gestaffelte Visiere anwendet. Ausgegangen wird hierbei
von der mit dem Entfernungsmesser ermittelten Entfernung.
Mit Rücksicht auf den großen Munitionsverbrauch ist dieses
Verfahren aber nur in den Ausnahmefällen anzuwenden, in denen das
nach der taktischen Lage erwünschte Resultat durch die gewöhnlichen
Mittel nicht erreicht werden kann.
Bewegliche Ziele.
Gegen bewegliche Ziele wird mit mittlerer Geschwindigkeit ge-
feuert. Die erzielte Wirkung hängt hauptsächlich von der schnellen
Entschlußfähigkeit des Zugführers und der Ruhe der Bedienung ab.
Bei der Visierwahl muß die Zeit, die bis zur Feuereröffnung
„vergeht und der vom Ziel in dieser Zeit wahrscheinlich zurückgelegte
Weg berücksichtigt werden.
Bei breiten Zielen in rein seitlicher Bewegung wird das äußerst?
Ende in der Marschrichtung angerichtet und dieser Punkt so lange
Das neue französische Reglement für die Maschinengewehrformationen. 275
beibehalten bis das ganze Ziel ihn passiert hat. Bei schräger Bewegung
des Zieles kann in gleicher Weise verfahren werden. Erforderlichenfalls
muß durch Visierwechsel der geänderten Entfernung Rechnung ge-
tragen werden.
Gegen Infanterie, die sich in Front zeigt, wählt man zweckmäßig
das kurze Visier, das sich der mit dem Entfernungsmesser ermittelten
Entfernung am meisten nähert.
Gegen Kavallerie ist auf den nahen Entfernungen das Visier 600
zutreffend, wenn man den Fußpunkt des Zieles anrichtet. Bei uns ist
gegen Kavallerie bereits innerhalb 700 m ein Visierwechsel nicht mehr
erforderlich, weil die Flugbahn unseres S-Geschosses auf dieser Ent-
ferunng noch rasanter ist, wie die des französischen D-Geschosses.
Ist ausnahmsweise ein Schießen mit gestaffelten Visieren notwendig,
so empfiehlt es sich im allgemeinen, das Feuer mit der kürzesten
Entfernung zu beginnen.
Feuergeschwindigkeit.
Das Reglement sieht folgende Feuergeschwindigkeiten vor:
1. Das langsame Feuer von 100 bis 200 Schuß in der Minute,
Es wird zum Einschießen bei günstigen Beobachtungsverhältnissen
angewandt und wenn die taktische Lage ein ununterbrochenes lang-
andauerndes Feuer fordert.
2. Die mittlere oder normale Feuergeschwindigkeit von 200 bis
300 Schuß in der Minute. Bei ihr ist eine gute Beobachtung der
Geschoßeinschläge und eine sichere Bediennng des Gewehres gewähr-
leistet.
Der Hebel für die Regelung der Feuergeschwindigkeit ist beim
Exerzieren und beim Einnehmen der Stellung stets auf diese mittlere
Geschwindigkeit eingestellt. Während des Feuers muß der Richtschütze,
wenn nichts anderes befohlen wird, dafür sorgen, daß diese Feuer-
geschwindigkeit erhalten bleibt.
3. Das Schnellfeuer von mehr als 300 Schuß in der Minute. Es
wird nur ganz ausnahmsweise besonders gegen wichtige Augenblicks-
ziele angewandt, weil es die Bedienung erschwert und große An-
forderungen an die Ruhe der Mannschaften stellt.
Intensität des Feuers.
Die Intensität des Feuers ist von der Geschwindigkeit und von
der Zahl der gleichzeitig feuernden Gewehre abhängig.
Mit Rücksicht auf die große Feuergeschwindigkeit der Waffe
kann der Zugführer die Gefechtsaufgabe meist mit einem Gewehr
lösen. Das zweite Gewehr wird alsdann auch auf das Ziel ein-
276 Das neue französische Reglement für die Maschinengewehrformationen.
gerichtet. Es muß im Bedarfsfalle zum sofortigen Eingreifen bereit
sein. Der gleichzeitige Gebrauch beider Gewehre würde für gewöhn-
lich eine nutzlose Munitionsverschwendung zur Folge haben. In
dringenden Fällen darf der Zugführer aber Yauch nicht zögern, seine
beiden Gewehre gleichzeitig feuern zu lassen, so z. B. gegen feindliche
Abteilungen, die für die eigenen Truppen besonders bedrohlich sind
und gegen dichte, nur kurze Zeit sichtbare, Ziele.
Die Ziele werden alsdann auf beide Gewehre verteilt und je nach
den Umständen mit einem gemeinsamen oder zwei verschiedenen
Visieren geschossen.
Feuerdisziplin.
Die gute Ausführung des Schießens hängt von der Aufmerksamkeit,
der Ruhe und dem Verständnis der Bedienung ab.
Der Gewehrführer überwacht die Tätigkeit der Bedienung. Er
wiederholt während des Feuers sämtliche Kommandos, Zurufe und
Befehle des Zugführers und stellt ihre Ausführung sicher. Alle Be-
dienungsmannschalten wiederholen das Kommando Feuerpause (cessez
le feu), damit das Feuer möglichst sofort aufhört.
Aus eigener Initiative stellt der Richtschütze das Feuer ein, wenn
das Ziel verschwindet und wenn eine Ladehemmung eintritt.
In ersterem Falle wird das Feuer unverändert fortgesetzt, sobald
das Ziel wieder sichtbar wird. In letzterem Falle wird zunächst der
Seitenrichthebel festgestellt, die Waffe untersucht und nachdem die
Störung beseitigt ist, das Feuer mit gelöstem Seitenrichthebel wieder
aufgenommen.
Nach jedem Schießen meldet der Gewehrführer dem Zugführer,
wie viele Patronen verbraucht und wie viele noch in den Patronen-
kasten vorhanden sind.
Bei längerer Dauer des Schießens ordnet der Zugführer zu
geeigneter Zeit eine Reinigung des Maschinengewehrs und eine Ab-
kühlung des Laufinnern mit Wasser an. Die gleichzeitige Reinigung
beider Gewehre ist zu vermeiden.
Betrachtungen.
Während man sich bei uns für gewöhnlich zunächst durch das
zugweise, erforderlichenfalls auch kompagnieweise Einschießen im
Reihenfeuer eine sichere Grundlage für das Wirkungsschießen schafft
geht diesem in Frankreich nur ausnahmsweise ein besonderes Ein-
schießen im tir bloqu& voraus. Im allgemeinen wird das Feuer gleich
mit dem tir debloqu& avec fauchage unter Zugrundelegung der mit
dem Entfernungsmesser ermittelten Entfernung begonnen. Erst im
Das neue französische Reglement für die Maschinengewehrformationen. 277
weiteren Verlaufe dieses Schießens will man etwa erforderliche Korrek-
turen auf Grund der Beobachtung der Geschoßaufschläge, „soweit
diese möglich ist“, vornehmen.
Diese Abneigung gegen ein besonderes Einschießen ist wohl einer-
seits darauf zurückzuführen, daß die Geschoßaufschläge des einen Ge-
wehres, das in der Regel nur feuern soll, häufig nicht in Beziehung
zum Ziel zu bringen sind. Anderseits liegt ihr aber das zweifellos
richtige Bestreben zugrunde, möglichst schnell zur Wirkung zu gelangen,
weil man sich mit Beginn des Feuers als Maschinengewehrtruppe
verrät, mithin das feindliche Feuer in hohem Maße auf sich ziehen
wird. Dieser schnelle Eintritt der Wirkung erscheint aber durch das
französische Schießverfahren nicht in ausreichendem Maße gesichert.
Die Fehler, die durch die Ungenauigkeit des Entfernungsmessers,
durch die Abrundung des Visiers und durch besondere Einflüsse
(Witterung usw.) hervorgerufen werden, sind auf etwa 800 m
schon unter günstigen Verhältnissen in ihrer Gesamtsumme so be-
deutend, daß sie bewirken können, daß der nutzbare Teil der Garbe
außerhalb des Zieles fällt. Bei dem dünnen Bande der Geschoß-
aufschläge eines Gewehres im Breitenfeuer wird das aber meist erst nach
einiger Zeit an dem Ausbleiben der Wirkung erkannt werden. Die
wenigen Schüsse, die der Richtschütze zunächst ohne Änderung der
Richtung gegen das linke Ende des Ziels abgibt, werden auch nur
ausnahmsweise eine für die Beurteilung der Lage der Garbe ausreichende
Beobachtung ermöglichen.
Nur in dem seltenen Falle, daß die auf Grund der Messung
kommandierte Entfernung die genau zutreffende Visierentfernung ist,
wird man also in Frankreich gegen Ziele, gegen die man bei uns das
Einschießen für nötig hält, auf einen frühzeitigeren Eintritt einer aus-
reichenden Wirkung rechnen können.
Der Entwurf unserer Schießvorschrift gestattet im übrigen dem
Kompagnieführer, in Fällen, in denen er es unter den vorliegenden
Verhältnissen für angezeigt, hält, das Feuer gleich mit dem Wirkungs-
schießen zu beginnen.
Der tir débloqué avec fauchage wird zweifellos, wenn die Garbe im
Ziel liegt und ihre Lage während des weiteren Feuers die gleiche bleibt,
das höchste Maß von Wirkung gegen ein breites Ziel ergeben. Die
Garbe ist nun aber erfahrungsmäßig im Breitenfeuer erheblichen
Schwankungen unterworfen. Hat man gute Beobachtungsverhältnisse
am Ziel, so sind diese zu erkennen und zu berücksichtigen. Steht
z. B. das Ziel am diesseitigen Hang und wird die Garbe vor oder
hinter ihm sichtbar, so kann man sie entsprechend verbessern und
im Ziele erhalten.
278 Das neue französische Reglement für die Maschinengewehrformationen.
Derartig günstige Beobachtungsverhältnisse werden”sich im Kriege
aber nur selten ergeben.
Unsere Schießvorschrift bestimmt daher, daß das WirkungsschieBen
nur unter besonders günstigen Vorbedingungen ohne jedes Tiefenfeuer
abgegeben werden darf.
Wir verzichten damit also bei nicht ausgesprochen guter Beob-
achtung auf die erreichbare Höchstleistung, um in der Mehrzahl aller
Fälle mit Sicherheit eine ausreichende Wirkung zu erzielen und Fehl-
schießen nach Möglichkeit zu vermeiden. In Frankreich hält man am
tir débloqué avec 4 fauchage als Regel fest und gestattet nur in Aus-
nahmefällen die Anwendung von Tiefenfeuer durch Schießen mit von
50 zu 50 m gestaffelten Visieren. Bei diesem Verfahren, das in ähn-
licher Weise auch bei uns früher im Gebrauch war, ist aber, wie
Schießversuche ergeben haben, die Wirkung nicht gleichmäßig über den
nach der Tiefe bestreuten Raum verteilt. Es bilden sich vielmehr
ausgesprochene Trefferberge und Treffertäler. Wird das Ziel von
einem Trefferberge überdeckt, so ist die Wirkung gut, liegt es dagegen
in einem Treffertal, so ist das Ergebnis gleich Null. Eine Sicherheit
des Erfolges ist mithin bei diesem Verfahren, das beim Schießen mit
mehreren Gewehren auch noch Schwierigkeiten in der Visierwahl und
in der Feuerleitung mit sich bringt, nicht gegeben.
Wir haben es daher aufgegeben und an seiner Stelle ein Tiefen-
feuer nach der Strichplatte vorgesehen. Bei diesem wird nur mit
einem Visier geschossen und durch langsames Rechts- und Linksdrehen
des Handrades der Höhenrichtmaschine, für dessen Maß die Strichplatte
den Anhalt gibt, ein je nach der Entfernung verschieden tiefer Raum
gleichmäßig mit Geschossen überstreut. Die Tiefe dieses Raumes hängt
von der Art des Zieles, der Entfernung, der Genauigkeit der Entfernungs-
ermittelung und der Beobachtung ab. Sie wird im weiteren Verlaufe
des Schießens nach Möglichkeit verringert.
Die Dichtigkeit des Feuers wird bei uns nur durch das gleich-
zeitige Einsetzen einer größeren Zahl von Gewehren gegen dasselbe
Ziel bzw. den gleichen Zielabschnitt gesteigert. Da zu der Vergröße-
rung der Wirkung auch noch der nicht zu unterschätzende moralische
Eindruck hinzukommt, den ein solches Massenfeuer hervorruft, kann
hierdurch zweifellos in kürzester Zeit ein entscheidender Erfolg erzielt
werden. Die besonderen Umstände müssen natürlich stets den Munitions-
einsatz rechtfertigen. In Frankreich hält man das gleichzeitige Ein-
setzen beider Gewehre gegen dasselbe Ziel mit Rücksicht auf den
großen Munitionsverbrauch nur ausnahmsweise für gerechtfertigt und
begnügt sich im allgemeinen damit, die Dichtigkeit des Feuers durch
eine Änderung der Feuergeschwindigkeit zu regeln. Die normale Feuer-
Das neue französische Reglement für die Maschinengewehrformationen. 279
geschwindigkeit steht dabei erheblich hinterjderjenigen unseres Maschinen-
gewehres zurück. Das ist darauf zurückzuführen, daß sich der Lauf
infolge der mangelhaften Kühlung sehr schnell erhitzt. Bei einer
weiteren Steigerung der Feuergeschwindigkeit treten daher leicht Betriebs-
störungen ein. Aus diesem Grunde soll die cadence rapide auch nur
in Ausnahmefällen Anwendung finden.
Den Gewehrführern ist in Frankreich ein wesentlich geringeres
Maß von Selbständigkeit gelassen, wie bei uns. Das ist wohl auf den
Umstand zurückzuführen, daß der Zugführer dort für gewöhnlich nur
mit einem Gewehr schießt und dann natürlich auch die im weiteren
Verlaufe des Schießens erforderlichen kleineren Korrekturen, die
unserem Gewehrführer obliegen, vorzunehmen hat.
3. Taktische Verwendung.
Taktische Eigentümlichkeiten des Maschinengewehres.
Das Feuer des Maschinengewehres unterscheidet sich von dem des
Infanteriegewehres in folgenden Punkten:
Seine Geschwindigkeit ist viel größer.
Infolge der Standfestigkeit der Lafette wird es weniger durch
die seelische Erregung des Richtschützen beeinflußt.
Seine Leitung bleibt stets in der Hand des Zugführers.
Das außerordentlich dichte Feuer dieser Waffe ist daher imstande,
in sehr kurzer Zeit eine entscheidende Wirkung gegen ein gegebenes
Ziel zu erreichen.
Das Maschinengewehr ist hauptsächlich die Waffe der mittleren
und nahen Entfernungen. Auf den großen infanteristischen Feuer-
entfernungen findet es nur ausnahmsweise Verwendung. Die erzielte
Wirkung steht hier nicht im Verhältnis zu dem Munitionseinsatz. Es
setzt sich nur unnütz der Gefahr frühzeitiger Vernichtung durch die
feindliche Artillerie aus.
Für gewöhnlich richtet sich das Maschinengewehr mit kurzen,
kräftigen, nach Möglichkeit überraschend ausgeführten Feuerstößen
gegen Punkte, an denen es darauf ankommt, den Feind aufzuhalten
oder seinen Widerstand zu brechen, um das Vorgehen der eigenen
Infanterie zu erleichtern.
Die Befähigung zum selbständigen Angriff fehlt ihm.
Gegen dünne Linien und gegen Schützenketten mit großen
Zwischenräumen hat sein Feuer wenig Wirkung. Erfolg verspricht es
gegen alle lebenden Ziele in geschlossenen Formationen.
Besonders wirksam ist Längs- und Schrägfeuer.
Niemals vermögen Maschinengewehre die Artillerie zu ersetzen.
Mit ihrem weittragenden, wirkungskräftigen Geschütz leitet diese den
280 Das neue französische Reglement für die Maschinengewehrformationen.
Kampf aus der Ferne ein und folgt ihm in allen Phasen nach dem
Willen der höheren Führer, der Divisions- und Korpskommandeure,
Das Maschinengewehr ist dagegen die Hilfswaffe der Infanterie in
allen Lagen des Nahkampfes. In der Hand der niederen Truppen-
führer, der Bataillons- und Regimentskommandeure, bildet es eine
bewegliche Feuerreserve, die sich der Gefechtslage leicht anpassen
läßt und bei rechtzeitigem Eingreifen an entscheidender Stelle außer-
ordentlich wirksam ist.
Der vorzeitige Einsatz und das Zusammenfassen der Maschinen-
gewehre in größere Abteilungen ist zu vermeiden. Meist werden sie
zugweise in engster Verbindung mit der Infanterie da auftreten, wo
sie in ihrer Mitte günstige und ausreichend gedeckte Stellungen finden.
Am zweckmäßigsten stellt man sie auf einem Flügel oder hinter
Lücken in der vordersten Linie auf. Von dort aus können sie am
besten den wechselnden Gefechtsmomenten folgen und wirksam zum
Vorteil der eigenen Infanterie eingreifen.
Das Überschießen eigener Truppen ist nur dann gestattet, wenn
die Gestaltung des Geländes die Aufstellung zweier oder mehrerer
Feuerlinien übereinander ermöglicht.
Taktische Verwendung.
Der Regimentskommandeur verteilt die ihm zur Verfügung
stehenden Maschinengewehrzüge auf seine Bataillone oder Detache
ments unter Berücksichtigung der ihnen übertragenen Aufgaben.
Sache der Führer dieser Einheiten ist die Auswahl des Gelände-
abschnitts für die Gefechtstätigkeit und die Angabe des Gefecht+
zweckes.
In der Wahl der Anmarschwege und der Feuerstellung sowie in
der Feuerleitung muß dem Zugführer die größte Selbständigkeit ge
lassen werden. Er muß die Erkundung der Stellung mit besonderer
Sorgfalt ausführen, weil ihre richtige Auswahl von hoher Bedeutung ist.
Marsch auf der Straße.
Während des Marsches behält der Regimentskommandeur grund-
sätzlich die Maschinengewehrzüge zu seiner Verfügung. Er bestimmt
den Platz eines jeden in der Marschkolonne.
Erhalten die Einheiten des Regiments einen Sonderauftrag (Vor-
hut, Seitendeckung, Nachhut), so kann er ihnen von vornherein Ma-
schinengewehrzüge zuteilen. Die Führer der betreffenden Einheiten
haben alsdann die Anordnungen für den Marsch dieser Züge zu treffen.
Die Gefechtsbagage des Maschinengewehrzuges marschiert grund-
sätzlich am Anfang der Gefechtsbagage der Einheit, der er untersteht.
Das neue französische Reglement für die Maschinengewehrformationen. 281
Anmarsch zum Gefecht.
Im Bereiche des feindlichen Feuers trifft der Zugführer selb-
ständig die für den Marsch seines Zuges erforderlichen Anordnungen.
Er muß stets in enger Verbindung mit seiner Einheit bleiben.
Solange sich das Material auf den Tragtieren befindet, kann der
Zug nur auf gedeckten Annäherungswegen vorgehen.
In offenem Gelände wird das Material abgepackt und von den
Mannschaften getragen.
Der Schützenzug führt alsdann die weitere Vorwärtsbewegung
ebenso wie die Infanterie aus. Die Staffel sucht dauernd mit dem
Schützenzuge in Verbindung zu bleiben. Sie folgt ihm unter Kom-
mando des Futtermeisters in der am besten geeigneten Formation
mit je nach den Umständen und dem Gelände wechselnden Abstand.
Angriff.
Beim Angriff verstärken die Maschinengewehre das Feuer der
liegenbleibenden Gruppen und decken im Verein mit ihnen das Vor-
gehen der Nachbarabteilungen. Sie folgen, sprungweise von einer
Stellung in die andere vorgehend, mit möglichst geringem Abstand
der Infanterie, versteifen sich aber nicht darauf, sie Schritt für Schritt
zu begleiten. Beim Sturm suchen sie gleichzeitig mit ihr in die feind-
liche Stellung zu gelangen.
Das Feuer wird nur eröffnet. wenn die taktische Lage es fordert
oder sich lohnende Ziele bieten.
Besonders angezeigt ist ihre Verwendung zur Deckung der Flanken
eines Angriffs, zur Besetzung genommener Stützpunkte, zur Verfolgung
des Feindes mit Feuer, zur Abwehr von Gegenangriffen und nach
einem Mißerfolge zur ersten Aufnahme der zurückflutenden Truppen.
Verteidigung.
In der Verteidigung eignen sich die Maschinengewehre haupt-
sächlich zur Verstärkung der Infanterie bei der Besetzung von Stütz-
punkten und zur Bestreichung toter Winkel vor der Front.
Ihre Verwendung ermöglicht es dem Verteidiger, Streitkräfte für
die Behauptung des Geländes zu sparen und sich dadurch Truppen
in größerer Zahl als bewegliche Reserve zurückzuhalten.
Unter Umständen können die Maschinengewehre von vornherein
zur wirksamen Bestreichung der hauptsächlichsten Zugangswege und
von Punkten, die der Feind passieren muß (Brücken, Engwege usw.),
eingesetzt werden.
Als Grundsatz gilt aber, daß man sie zunächst ee gedeckt
Jabrbticher für die deutsche Armee und Marine, Nr. 516.
282 Das neue französische Reglement für die Maschinengewehrformationen.
zurückhält und sie erst auf mittleren und kleinen Entfernungen in
den Kampf eingreifen läßt.
Bietet das Gelände keine Deckung, so sind künstliche Deckungen
für die Gewehre und die Bedienung herzustellen. Durch Freimachen
des Schußfeldes, Festlegen von Entfernungen und Bereitstellung reieh-
licher Munition kann ihre Wirkung noch vergrößert werden.
Im weiteren Verlaufe des Gefechtes werden sie dann besonders
zur Verstärkung bedrohter Punkte, zur Abwehr feindlicher Sturm-
angriffe, zur Verhinderung von Umfassungsbewegungen und zur Be-
gleitung der Gegenstöße Verwendung finden.
Bisweilen ist es von Vorteil, den Vorposten Maschinengewehre
zuzuteilen, so besonders dann, wenn es sich um ein Aufhalten des
Feindes an bestimmten Übergängen oder um die Sicherung wichtiger
Stützpunkte handelt.
Nachtgefecht.
Beim nächtlichen Angriff können Maschinengewehre nur zum
Festhalten genommener Stützpunkte verwandt werden, in der Ver-
teidigung zum Besetzen von Verschanzungen und Stützpunkten, zum
Sperren von Kantonnements und zur Bestreichung von Straßen, Eng-
wegen usw., die der Feind passieren muß. Gegen Überfälle sind sie
durch Hindernisse zu sichern.
Die Vorbereitungen für das Schießen bei Nacht werden nach
Möglichkeit am Tage getroffen.
Rückzug.
Beim Rückzugsgefecht werden die Maschinengewehre rechtzeitig
in die Aufnahmestellungen vorausgeschickt. Sie decken durch ihr
Feuer den Rückzug der eigenen Truppen.
Verbindung und Zusammenwirken im Gefecht.
Der Zugführer erhält während der Ruhe und des Marsches alle
erforderlichen Befehle von dem Führer der Infanterieabteilung, der er
zugeteilt ist.
Sobald ein Gefecht in Aussicht steht, übergibt er dem Unter-
offizier das Kommando und begibt sich, gefolgt von dem Verbindungs-
manne, zu diesem Führer, um sich über die Gefechtslage zu orien-
tieren und seine Befehle in Empfang zu nehmen. ‚
Nachdem er genaue Anweisungen über den Gefechtsauftrag oder
das zu beschießende Ziel erhalten hat, bestimmt er schnell den Auf-
stellungsplatz seines Zuges. Der Verbindungsmann eilt zu diesem
zurück und führt ihn dorthin vor.
Das neue französische Reglement für die Maschinengewehrformationen. 283
Während des Gefechtes hält der Zugführer Verbindung mit seinem
Infanterieführer. Er unterrichtet ihn dauernd über die Lage und er-
hält von ihm erforderlichenfalls neue Weisungen.
Die für die gleiche Gefechtsaufgabe bestimmten Infanterie-
abteilungen und Maschinengewehrzüge haben sich gegenseitig zu unter-
stützen.
Sind die Züge von anderen Truppen eingerahmt, so bedürfen sie
keiner besonderen Bedeckung.
Gegen Überraschungen oder unerwartete Angriffe haben sie die
zunächst befindlichen Teile der Infanterie zu sichern.
In Momenten der Krise müssen sich die Maschinengewehre nötigen-
falls opfern, um dem Vorgehen des Feindes Halt zu gebieten und der
eigenen Infanterie zu Hilfe zu kommen.
Munitionsersatz,
Es ist von höchster Wichtigkeit, daß der Munitionsersatz dauernd
gesichert ist. |
Bei der Feuereröffnung muß jedes Gewehr über vier Patronen-
kasten und einen gefüllten Wasserkessel verfügen.
Ist eine Deckung in der Entfernung von höchstens 100 m von
den Gewehren vorhanden, so kann der Zugführer dort eine Munitions-
niederlage einrichten und nach Möglichkeit auch einen kleinen Wasser-
vorrat bereitstellen lassen.
Die Munitionszuträger besorgen den Verkehr zwischen Staffel,
Munitionsniederlage und Feuerstellung.
Der Unteroffizier hat den Munitionsersatz zu überwachen und
den Zugführer dauernd über den Munitionsbestand auf dem laufenden
zu halten. Ersatz für ausgefallene Munitionszuträger fordert er bei
den benachbarten Kompagnien an.
Der Führer der Truppe, der der Zug zugeteilt ist, ordnet auf
Antrag des Zugführers die Ergänzung der Munition der Staffel aus
der Gefechtsbagage an. Sie erfolgt durch Mannschaften aus den ver-
fügbaren Kompagnien.
In dringenden Fällen wird der Munitionswagen so schnell wie
möglich bis zur Staffel vorgeführt.
Betrachtungen.
Die vorstehend aufgeführten Vorschriften über die Verwendung
der Infanterie-Maschinengewehre decken sich in den Hauptpunkten
mit den bei uns gültigen Bestimmungen.
21*
284 Das neue französische Reglement für die Maschinengewehrformationen.
Eine wesentliche Verschiedenheit finden wir nur in der Art der
Verwendung.
Es handelt sich hier um die Frage der zugweisen und kompagnie-
weisen Verwendung, die von mir bereits in dem Abschnitt „Organi-
sation“ besprochen worden ist. Ich verweise daher auf meine dor-
tigen Ausführungen und betone hier nur nochmals, daß durch eine
einheitliche Verwendung zweifellos die Feuerwirkung und der morali-
sche Eindruck eines Feuerüberfalls ganz wesentlich gesteigert wird.
Zersplitterter Einsatz führt auch zu zersplitterter Wirkung und ver-
mindert den moralischen Eindruck.
Besonders vorteilhaft sind für die Maschinengewehre Stellungen,
die eine möglichst lange Ausnutzung des Feuers ohne Gefährdung der
eigenen Schützen gestatten, denn jeder Wechsel der Feuerstellung ist
für diese Waffe ein Moment der Schwäche. Die verschiedenen Arten
solcher Stellungen führt das französische Reglement sehr richtig auf.
Sie werden sich aber im Rahmen der großen Schlacht im Flachlande
nicht immer finden. Vielfach wird man daher gezwungen sein, die
Maschinengewehre in die Schützenlinie selbst einzuschieben. Zweifellos
hat diese Maßnahme mannigfache Nachteile im Gefolge. Der Feind
kann mit ein und derselben Garbe gleichzeitig die Schützenlinie und
die Maschinengewehre bekämpfen. Letztere ziehen ferner das Feuer
des Gegners auf sich.
Die in ihrer Nähe liegenden Teile der Schützenlinie werden mit-
hin erhöhte Verluste erleiden. Diese Nachteile müssen aber, wenn
die Umstände es erfordern, mit in den Kauf genommen werden, denn
die Infanterie kann heutzutage im Nahkampfe und bei der Entschei-
dung nicht auf die machtvolle Feuerunterstützung der Maschinen-
gewehre zeitweise ganz verzichten. Durch zweckmäßige Anordnungen
muß in solchen Fällen dafür Sorge getragen werden, daß die Schützen-
linien und die Maschinengewehre unter voller gegenseitiger Unter-
stützung, ohne Reibungen und mit möglichst geringen Verlusten an
den Feind gelangen.
Das Überschießen eigener Truppen ist in Frankreich gestattet,
wenn die Gestaltung des Geländes die Aufstellung zweier oder mehrerer
Feuerlinien übereinander ermöglicht.
Ein gefahrloses Überschießen ist in solchen Stellungen bereits
möglich, wenn die Überhöhung der Visierlinie über die Köpfe der
eigenen Infanterie 3—4 m beträgt.
Befindet sich der Feind in einer überhöhenden Stellung, 80
können die eigenen vorgehenden Schützen um so länger überschossen
werden, je steiler der Hang ist, auf dem der Gegner steht.
Das neue französische Reglement für die Maschinengewehrformationen. 285
4. Das Material.
In Frankreich sind die Infanteriemaschinengewehrzüge mit einem
verbesserten Hotchkiß-Gewehr, dem Infanteriemaschinengewehr 07 in
Dreifußlafette 07 Form C ausgerüstet.
Gewehr.
Das Gewehr (Bild 3 und 4) ist ein Gasdrucklader, bei dem der
festgelagerte Lauf (a) unten etwas vorwärts der Mitte mit einer senk-
recht zur Seelenachse liegenden Bohrung (b) versehen ist, durch die
beim Schuß, sobald das Geschoß über sie fortgeglitten ist, ein Teil
der Pulvergase in das gleichlaufend zur Seele gelagerten Gasrohr (c)
eintritt. In diesem befindet sich ein Kolben (d), der durch die Kraft
der Pulvergase nach vorwärts in Bewegung gesetzt, vermittelst der
x Schloss
AR
e æ oo... mo m
Bild 4.
Schloßbewegungsstange (e), eines Zahnradbetriebes (f) und der Vorhol-
feder (g) das Selbstladewerk in Tätigkeit setzt. Der Verschluß wird
entriegelt und zurückgezogen, der Schlagbolzen gespannt, die leere
Hülse ausgeworfen, die neue Patrone zugeführt und der Verschluß
wieder so vorgeführt, daß er im Moment des Schusses starr mit dem
Laufe verriegelt ist.
Ein Gasdruckregler (h) ermöglicht es, einen Teil der Triebgase
vor ihrem Eintritt in die Gaskammer abzuleiten und so eine größere
oder geringere Gasmenge auf den Kolben einwirken zu lassen. Da-
durch wird erreicht, daß dieser unter verschiedenen Verhältnissen,
z. B. bei erhöhtem Gasdruck infolge starker Erwärmung des Laufes
in regelmäßigem Gange erhalten wird. Der Regler kann von O
bis 8 gestellt werden. Bei Stellung auf O findet eine Ableitung von
Gasen nicht statt. Einen Anhalt für die richtige Einstellung des
286 Das neue französische Reglement für die Maschinengewehrformationen.
Reglers gibt die Entfernung, in der die ausgeworfenen Hülsen zu
Boden fallen. Diese darf in der Horizontalebene, von dem auf der
Dreifußlafette befindlichen Gewehr gemessen, nicht über 1,80 bis 2 m
und nicht unter 1 m betragen.
Der Lauf, ein Gewehrlauf (Kaliber 180 mm) mit sehr starken
Wänden und besonderen Zügen, ist in das Verschlußgehäuse ein-
‚geschraubt und wird durch einen Exzenterhebel (i) in der richtigen
Lage festgehalten. Er ragt etwa mit seinem vorderen Drittel aus
dem ihn umgebenden glatten Wärmeausstrahler (k) aus Aluminium-
bronze hervor. Dieser trägt an beiden Seiten die Schildzapfen (l)
für die senkrechte Bewegung des Gewehres und ist durch eine Schraube (m)
im Verschlußgehäuse (n) befestigt. Das Verschlußgehäuse umgibt den
gesamten Verschlußmechanismus. An seiner rechten Seite ist ein
aufklappbarer Deckel angebracht, der die Überwachung und das Aus-
wechseln der Verschlußteile erleichtert. An seiner linken Seite be-
findet sich der Ladehebel (o), durch den die für das erste Laden er-
forderliche Bewegung des Schlosses bewirkt wird.
Hinten am Verschlußgehäuse ist ein Griff (p) aus Bronze an-
gebracht, der zur Handhabung des Gewehres dient. Dort befindet
sich auch der mit einer federnden Sicherung versehene Abzug (q),
durch dessen Zurückziehen die Abgabe des Schusses erfolgt. Wird er
nicht zurückgezogen, so bleibt das Schloß in der rückwärtigen Stellung
stehen. Es wird also bei Feuerpausen keine Patrone in den Lauf
eingeführt. Dadurch werden unbeabsichtigte Entzündungen der Patrone
im Patronenlager, die bei starker Erhitzung des Laufes sonst eintreten
könnten, vermieden.
Die Visiereinrichtung besteht aus dem oben vorn auf dem Aus-
strahler angebrachten Klappkorn (r) und einem Visier (s) besonderen
Modells, dessen Fuß sich oben auf dem Verschlußgehäuse befindet.
Nähere Angaben über das Visier enthält das Reglement nicht. Es
reicht bis 2400 m zurück.
Das Gewehr besitzt eine Vorrichtung, durch die das Vorgehen
des Verschlusses mehr oder weniger verlangsamt, mithin die Feuer-
geschwindigkeit, entsprechend den darüber in der Schießvorschrift ge-
gebenen Bestimmungen geregelt werden kann. Beteiligt wird sie durch
Verschieben eines an der linken Seite des Verschlußgehäuses an-
gebrachten Hebels. Die Zuführung der im Ladestreifen befindlichen
Patronen erfolgt durch die Patronenzuführungsvorrichtung von nee
her (u Durchgangsöffnung für den Patronenstreifen).
Für das Schießen mit Platzpatronen M 05 ist ein RückstoB-
verstärker vorhanden, der, auf die Mündung aufgeschraubt, bewirkt.
Das neue französische Reglement für die Maschinengewehrformationen, 287
daß durch die Anbohrung des Laufes eine zur Betätiigung des Ge
triebes ausreichende Gasmenge nach unten strömt. |
Das Gewicht des Gewehres beträgt 23,8 kg.
Dreifußlafette.
Die Dreifußlafette 1907 Form C (Bild 5) besteht aus dem Dreh-
gestell (a) und dem Dreifuß. Ersteres ist mit seinem röhrenförmigen
Teil (b) auf den Zapfen des Hauptstücks des Dreifußes aufgeschoben.
In dem oberen gabelförmigen Teil nimmt es in entsprechend ge-
stalteten Lagen (c und c,) die Schildzapfen des Mantels auf, die in
Bild 5.
diesen durch Übergreifbänder (c,) festgehalten werden. Hinten trägt
es die Höhenrichtmaschine, deren Doppelrichtschraube (d) oben mit
einem Haken (e) versehen ist, der in die Öse der Gewehrhalte-
kuppe (Bild 1 v) eingreift, wenn das Gewehr sich auf dem Schießgestell
befindet. Die Höhenrichtmaschine wird durch ein an der linken
Seite befindliches Handrad (f) mit Getriebe betätigt.
Das Drehgestell dient dazu, dem Gewehr die Seitenrichtung zu
geben. Zu diesem Zwecke ist es bei gelöstem Seitenhebel auf einer
am rückwärtigen Teil des Hauptstücks (g) angebrachten Gleitbahn (h)
seitlich verschwenkbar. Diese Bewegung kann, wenn man sie zur
‘Abgabe von Breitenfeuer (fauchage) anwendet, nach beiden Seiten
hin begrenzt werden. Will man die gewonnene Seitenrichtung bei-
behalten, so wird der Seitenrichthebel festgestellt. An dem Hauptstück
des Dreifußes befinden sich vorn die beiden um ein Kniegelenk (i und i,)
zurückklappbaren Vorderfüße mit der zusammenlegbaren Querverbin-
dung (k). Durch Drehen einer am rechten Vorderfuß angebrachten
288 Das neue französische Reglement für die Maschinengewehrformationen.
Schraubenmutter (1) kann dieser Fuß verlängert und verkürzt, das Gewehr
also bei unebenem Boden wagerecht gestellt werden.
Hinten ist am Hauptstück, um ein Gelenk (m) drehbar, der
teleskopartig auszuziehende Hinterfuß (n und n,) angebracht. Er
trägt einen verstellbaren Sattel (o) für den Richtschuhen.
Beim Schießen mit sehr großen Erhöhungen, z. B. gegen Luft-
ziele, wird das Gelenk nach unten eingeknickt.
Alle drei Füße sind mit Bodenplatte (p) und Sporn (q) ver-
sehen.
In der normalen Anschlagstellung (Anschlag im Sitzen) steht die
Dreifußlafette in der aus Bild 3 ersichtlichen Weise auf allen drei
Füßen. Beim liegenden Anschlag ist das Gelenk, das den Hinterfuß
mit dem Hauptstück verbindet, nach unten eingeknickt, die Vorder-
füße sind in den Kniegelenken nach rückwärts geklappt. In ersterem
Falle liegt die Schildzapfenachse 0,835 m, in letzterem 0,462 m über
dem Erdboden.
Das Gewicht der Lafette beträgt 32,7 kg, das Höhenrichtfeld
45°, es reicht von — 25° bis + 20°, das Seitenrichtfeld 74°, und
zwar je 37° nach beiden Seiten.
Munition.
Das Maschinengewehr 07 verfeuert die gleichen Patronen wie die
Infanterie.
Diese sind zu je 25 auf einem Ladestreifen aus Nickelstahl an-
gebracht, auf dem sie durch zwei Reihen federnder Krallen fest-
gehalten werden. Ein Teil dieser Ladestreifen befindet sich in den
Munitionskasten Puteaux, die auf den Munitionstragesätteln und im
Vorderwagen des Munitionswagens untergebracht sind. Sie werden
mit in die Stellung genommen. Jeder Kasten enthält zwölf Lade-
streifen, also 300 Patronen. Ein anderer Teil ist in Holzkasten mit
Zinkeinsatz verpackt, die Streifen, immer zu zweien in Papier ein-
geschlagen, in dem Munitionshinterwagen untergebracht. Diese dienen
zum Auffüllen der Patronenkasten Pateaux.
Betrachtungen.
Es ist nicht zu verkennen, daß das französische Maschinengewehr
07 gegenüber dem Hotchkiß- und Puteaux-Gewehr recht erhebliche
Verbesserungen aufweist.
Immerhin steht es doch hinter den erleichterten Gewehren de
Systems Maxim, zu denen unser Maschinengewehr 08 gehört, haupt-
sächlich noch in folgenden Punkten zurück.
Das neue französische Reglement für die Maschinengewehrformationen. 289
Das gleichmäßige Arbeiten der Kolbenvorrichtung, die das Selbst-
ladewerk betätigt, ist durch den schwierig zu handhabenden Gas-
druckregler, der an und für sich zweifellos den älteren Konstruktionen
gegenüber einen Fortschritt darstellt, nicht ausreichend gesichert. Es
treten infolge zu hoher Gasdrücke immer noch Verbiegungen des Be-
wegungsmechanismus ein. Diesem Übelstande soll demnächst durch
die Einführung eines kräftigeren Gasdruckreglers und durch eine Ver-
größerung der Gaszuführungsöffnung von 3,6 auf 4,3 mm abgeholfen
werden.
Kolbenvorrichtung und Gasdruckregler verschmutzen leicht und
sind schwer zu reinigen.
Bei längerem Dauerfeuer werden die Bedienungsmannschaften
durch die Triebgase belästigt.
Die Luftkühlung wirkt auch in ihrer beim Maschinengewehr 07
verbesserten Art lange nicht so energisch, wie die Wasserkühlung des
Maximgewehres.. Nach Abgabe von etwa 500 Schüssen im Dauer-
feuer wird das weitere Schießen durch die Erhitzung des Laufes be-
einträchtigt. Die Schußweite ändert sich. Bei fehlender Beobach-
tung kann das zu einem Mißerfolge führen. Es entstehen Mündungs-
feuer, die namentlich bei trübem Wetter und dunklem Hintergrund
die Stellung des Maschinengewehres verraten. Die Luft über dem
Gewehr beginnt so stark zu flimmern, daß das genaue Anrichten des
Zieles zur Unmöglichkeit wird. Endlich wird der Lauf stark an-
gegriffen und es treten Störungen des Mechanismus ein, die zur
Unterbrechung des Feuers zwingen.
Die natürliche Abkühlung des erhitzten Laufes durch Abgabe
der Wärme an die umgebende Luft dauert sehr lange. Die für sie
erforderliche Zeit ist ja allerdings meist dadurch gegeben, daB für
gewöhnlich nur eins der beiden Maschinengewehre des Zuges das
Feuer aufnimmt. Immerhin werden aber auch Gefechtslagen vor-
kommen, in denen die Zeit zur natürlichen Abkühlung nicht vor-
handen ist. Für solche Fälle sieht das Reglement noch eine be-
sondere Kühlung mit Wasser vor, das mittelst eines Trichters vom
Patronenlager aus durch den Lauf gegossen wird. Diese Maßnahme
erfordert die Mitführung mit Wasser gefüllter Gefäße. Bei ihrer An-
wendung ‘entsteht ferner eine sehr starke, längere Zeit anhaltende
Dampfentwickelung, die die Stellung des Maschinengewehres verrät.
Neben den Nachteilen, die die Luftkühlung an und für sich schon
hat, nimmt man also noch, wenn auch in geringerem Maße, die
Hauptnachteile der Wasserkühlung mit in Kauf.
Es kommt noch hinzu, daß diese Art der Kühlung, die, wie das
Reglement sagt, très rapidement wirkt, die Waffe angreift und sich
290 Das neue französische Reglement für die Maschinengewehrformationen.
durchaus nicht besonders einfach und schnell ausführen läßt. Sie
macht eine ganze Reihe von Handgriffen und eine Neigung der
Mündung nach unten notwendig, durch die das Gewehr aus der
Schußrichtung gebracht wird. Außerdem ist bei ihrer Anwendung
große Vorsicht geboten, weil kein Wasser in das Innere des Ver-
schlußmechanismus und, so lange der Lauf noch nicht erkaltet ist.
auch nicht auf den Wärmeausstrahler gegossen werden darf.
Bei Maschinengewehren, von denen man eine hohe Leistungs-
fähigkeit verlangt, verdient zweifellos die Art der Wasserkühlung, wie
sie beim Maximgewehr vorgesehen ist, den Vorzug vor der Luftküh-
lung. Sie gestattet bei zweckmäßiger Anordnung die Abgabe von
etwa 3000 Schüssen im ununterbrochenen Feuer, ohne wesentliche
Beeinträchtigung der Treffähigkeit und bei ausreichender Schonung
der Waffe. Dieser Vorteil wiegt jedenfalls ihre bereits vorher an-
gedeuteten Hauptnachteile — Verraten der Stellung durch den nach
Abgabe eines Dauerfeuers von 600—700 Schüssen ausströmenden
Wasserdampf und Notwendigkeit der Mitführung von Wasser sowie
Schwierigkeiten seiner Beschaffung in wasserarmen Gegenden und
seine Erhaltung in brauchbarem Zustande bei strengem Frost —, bei
weitem auf. Der erstgenannte Nachteil ist bereits dadurch wesentlich
herabgemindert worden, daß der Wasserdampf durch einen Schlauch
nach dem Erdboden abgeleitet wird. Zu seiner völligen Beseitigung
ist vorgeschlagen worden, ihn in einen Kondensator zu leiten, der
2 bis 3 1 Wasser enthält, aber etwa 10 l fassen kann. Auf
diese Weise wird ein großer Teil des Wasserdampfes wieder in
Wasser verwandelt und so gleichzeitig auch der an zweiter Stelle
genannte Nachteil vermindert.
Das Auswechseln des Laufes, der mit Hilfe eines Schrauben-
schlüssels zunächst ausgeschraubt und dann nach vorwärts heraus-
gezogen werden muß, ist umständlicher und dauert, zumal wenn der
Lauf heiß geworden ist, viel länger als beim Maximgewehr. Erfolgt
das Auswechseln während des Gefechtes, so muß das Gewehr dazu
in die Deckung zurückgezogen werden. Geschieht das nicht oder ist
keine Deckung vorhanden, so ist der Mann, dem das Ausschrauben
des Laufes obliegt, im höchsten Maße gefährdet. Das Maximgewehr
kann beim Auswechseln des Laufes in der Stellung verbleiben, weil
derselbe nach rückwärts herausgezogen wird.
Ist der Lauf des Maschinengewehrs 07 stark erhitzt, so kann er
nur mit Asbesthandschuhen angelaßt werden. Das erschwert auch
alle anderen an ihm während des Schießens notwendig werdenden
Handhabungen. Zum Schutz gegen Verbrennungen durch den heißen
Lauf ist bei Stellungswechseln für den Mann, der ihn trägt, ein be-
Das neue französische Reglement für die Maschinengewehrformationen. 291
sonderer Schulterschutz, für seine Anbringung am Tragtier ein starkes
Futteral erforderlich.
Mit Rücksicht auf ihr hohes Gewicht, das ohne Futteral 4,75 kg
beträgt, können nur wenige Vorratsläufe mitgeführt werden. Der Er-
satz schadhaft gewordener Verschlußteile während des Gefechtes
nimmt mehr Zeit in Anspruch als beim Maximgewehr, bei dem in
solchen Fällen einfach das ganze Schloß mit einem Griff heraus-
genommen und durch ein Reserveschloß ersetzt wird. Aus diesem
Grunde kann der Verschluß des Maximgewehres allgemein als für den
Gebrauch einfacher bezeichnet werden, wie der des französischen Ge-
wehres, obwohl er aus einer größeren Zahl von Teilen besteht.
Die mit großer Kraft bis zu 2 m nach rechts hin geschleuderten
leeren Hülsen gefährden oder belästigen zum mindesten etwa in diesem
Raume sich aufhaltende Mannschaften. Beim Maximgewehr werden
die Hülsen durch das Ausstoßrohr nach unten ausgestoßen und fallen
dort zu Boden. |
Die Konstruktion des beim Schießen mit Platzpatronen auf die
Mündung aufzuschiebenden Rückstoßverstärkers ist zurzeit noch nicht
einwandfrei. Es ist vorgekommen, daß er geplatzt ist und daß durch
die herumfliegenden Stücke Verletzungen von Mannschaften herbei-
geführt worden sind.
Die beim Maschinengewehr 07 vorhandene Vorrichtung zur Re-
gelung der Feuergeschwindigkeit durch den Schützen während des
Gefechtes hat zweifellos seine Vorteile. Sie beugt vor allen Dingen
einer übermäßigen Verausgabung von Munition in Fällen vor, in denen
die Gefechtslage das Beschießen eines Zieles verlangt, gegen das eine
große materielle Wirkung nicht zu erwarten ist, z. B. eines Schützen-
grabens, in dem die feindlichen Schützen während des Vorgehens der
eigenen Infanterie durch das Feuer der Maschinengewehre nieder-
gehalten werden sollen. Außerdem kann durch sie einer frühzeitigen Er-
hitzung des Laufes bis zu einem gewissen Maße entgegengearbeitet werden
Bei den Gewehren des System Maxim ist eine solche Vorrich-
tung bis jetzt noch nicht vorgesehen. Ihre Anbringung halte ich für
wünschenswert. Vorbedingung ist aber, daß sie, ohne den Mecha-
nismus wesentlich komplizierter zu gestalten, kriegsbrauchbar hergestellt
werden kann. Ganz ist das in Frankreich wohl noch nicht gelungen.
Der Apparat zur Regelung der Feuergeschwindigkeit darf, wie das
Reglement ausdrücklich hervorhebt, durch den Gewehrführer und die
Bedienungsmannschaften niemals auseinandergenommen werden. Da-
nach scheint er doch recht empfindlich zu sein.
Die metallenen Ladestreifen verbiegen sich leicht und können dann
sehr uhangenehme Betriebsstörungen hervorrufen.
992 Das neue französische Reglement für die Maschinengewehrformationen.
Die beim System Maxim gebräuchlichen Patronengurte geben
jedenfalls weit seltener zu derartigen Störungen Veranlassung. Leer-
geschossene Gurte können ferner mit Hilfe eines Gurtfüllers sehr schnell
und genau während des Gefechts hinter der Stellung wieder gefüllt
werden. Es ist daher nur die Mitführung eines kleineren Teiles der
Munition in Gurten nötig, während man in Frankreich die gesamte
Munition auf Ladestreifen mitführt, weil der Patronenstreifenfüller zu
schwer und in der Handhabung so umständlich ist, daß er sich zum
Nachfüllen der Streifen hinter der Gefechtslinie nicht eignet.
Die Dreifußlafette 07 Form C ist sehr sinnreich aufgebaut. In-
folge der vielen Gelenke, Hebel und Klemmvorrichtungen steht sie
aber hinsichtlich der Einfachheit und Dauerhaftigkeit dem Gewehr-
schlitten nach.
Auf sehr festem, unebenem Boden ist ihre Standfestigkeit besser,
als die des mit vier Füßen versehenen Gewehrschlittens. Bei lockerem
Untergrund verändert sie aber durch das Schießen sehr leicht ihre
Stellung, was bei letzerem nicht der Fall ist. Das Schießen in
liegendem Anschlag ist beim Gewehrschlitten bequemer und leichter
auszuführen, wie bei der Dreifußlafette.e Dieser Umstand hat wohl
mit dazu beigetragen, daß der Anschlag im Sitzen in Frankreich trotz
der großen Feuerhöhe die normale Anschlagstellung bildet.
Der Gewehrschlitten gestattet es, das mit ihm fest verbundene
Gewehr auch längere Strecken bequem durch Mannschaften tragen
zu lassen. Das scheint bei der Dreifußlafette Schwierigkeiten zu
bereiten. Nach dem französischen Reglement soll das Maschinen-
gewehr nur in dringenden Fällen bei Stellungswechseln von wenigen
Metern zusammengesetzt vorgebracht werden. Ist Zeit vorhanden, so
sollen Gewehr, Drehgestell und Dreifuß stets getrennt werden. Als
Grund wird angegeben, daß das Vorgehen des Zuges sonst zu deutlich
sichtbar wird.
Das bei uns für das Vorbringen auf kurze Strecken vorgesehene
Ziehen des Maschinengewehrs ist in Frankreich nicht möglich.
Da sich die Dreifußlafette leicht zusammenlegen läßt und zu-
sammengeklappt wenig Platz wegnimmt, ist sie meines Erachtens für
den Transport auf Tragtieren zweckmäßiger wie der Gewehrschlitten.
Bei Fortschaffung auf Fahrzeugen ist dagegen letzterer unbedingt
vorzuziehen. Daß er sich, wenn es erforderlich wird, auch ohne
Schwierigkeit auf dem Tragtiere anbringen läßt, lehren unsere
Kämpfe in Südwestafrika. Bei den Operationen in den unwegsamen
Karrasbergen im März 1905 wurden die Maschinengewehre beim
Vormarsch der Kolonne Kamptz vom Wasserfall über Kraikluft auf
Narudas von den Fahrzeugen heruntergenommen und auf Tragtieren
Das neue französische Reglement für die Maschinengewehrformationen. 293
weiter befördert. Trotz der vorliegenden außerordentlich schwierigen
Verhältnisse ergaben sich hierbei keinerlei Anstände.
Über ein Zielfernrohr und über Schutzschilde für die Feld-
maschinengewehre enthält das französische Reglement keinerlei An-
gaben. Die mit beiden zweifellos angestellten Versuche scheinen daher
noch nicht abgeschlossen zu sein.
Festungsmasehinengewehre.
Die Festungsmaschinengewehrformationen sind mit dem Maschinen-
gewehr M/1907 und M/1900 ausgerüstet. Sie bestehen aus den für
die bewegliche Verteidigung und den für die Verteidigung der Forts
und Werke bestimmten Zügen. Erstere führen nur die Dreifußlafette,
letztere diese und die mit einem Schild versehene Wallafette M/1907
und 1907 omnibus.
Die Wallafette 1907 hat zwei kurze Vorderfüße, mit denen sie
auf den oberen Rand der Brustwehr greift und einen langen teleskop-
artig auszuziehenden Hinterfuß mit breiter Fußplatte, der auf dem
Boden steht. Mit Hilfe eines in eine Zahnstange des Hinterfußes
eingreifenden Getriebes kann auf ihm eine Konsole, die das Drehgestell
trägt. hoch- und niedergekurbelt, das Gewehr also sehr schnell aus der
Deckung in die Schießstellung gebracht werden und umgekehrt.
Das Gewicht der Lafette mit Schild beträgt 127 kg, das Höhen-
richtfeld + 25°, das Seitenrichtfeld 160°.
Die Wallafette 1907 omnibus ist zur Aufnahme des Maschinen-
gewehres 1907 und 1900 eingerichtet, im übrigen aber nach den
gleichen Grundsätzen aufgebaut wie die des Modells 1907.
Die Zusammensetzung der für die bewegliche Verteidigung be-
stimmten Züge unterscheidet sich von der der Feldmaschinengewehr-
züge nur dadurch, daß die Gefechtsbagage fortfällt und daß sich bei
der Staffel nicht sechs, sondern nur vier Tragtiere befinden.
Die für die Verteidigung der Forts und Werke bestimmten Züge
bestehen aus einem Unteroffizier als Zugführer und je zwei Gewehr-
führern, Richtschützen, Ladeschützen, Hilfsladeschützen, Munitions-
zuträgern (bei Gewehren und Wallafette vier) und einem Waffenmeister.
Die für die Feldmaschinengewehre gegebenen Vorschriften haben
auch für die Festungsmaschinengewehre Gültigkeit. Nur für die mit
Wallafette ausgestatteten Züge sind einige Abweichungen vorgesehen,
die durch die Verschiedenheit der Ausrüstung und durch ihre vor-
wiegende Verwendung im Innern der Werke bedingt sind.
Die Organisation und Ausstattung der Festungsmaschinengewehr-
züge ist, wie sich aus vorstehendem ergibt, in jeder Hinsicht allen
im Festungskriege vorkommenden Verwendungsmöglichkeiten angepaßt.
294 Die neue Gefechtsvorschrift für die russische Infanterie.
XIX.
Die neue Gefechtsvorschrift für die russische
Infanterie.
Lothar Schmidt, Hauptmann und Kompagniechef im Kgl. Bayr.
7. Inf.-Rgt. Prinz Leopold.
Am 27. Februar 1914 wurde vom Zaren eine neue Gefechts-
vorschrift für die Infanterie genehmigt. Die Vorschrift
(nastawljenje Olja djeslevii pjechoty w baju) bildet eine Ergänzung
des Exerzierreglements (strojewoj pjechötny ustáw). Während
diese lediglich die schulmäßige Ausbildung behandelt, will die Ge-
fechtsvorschrift die leitenden Gesichtspunkte für das Infanteriegefecht
geben. Es scheint somit auf den ersten Blick, als ob sie inhaltlich
dem II. Teil unseres Exerzierreglements für die Infanterie entspräche.
Dies ist jedoch nur in beschränktem Maße der Fall, denn mit gutem
Grunde ist in dem deutschen Reglement der Hauptwaffe nicht nur
der Kampf der Infanterie behandelt, sondern auch das Verhalten der
anderen Waffen mit berücksichtigt, soweit es für das Gefecht der In-
fanterie von Bedeutung ist, während in der russischen Vorschrift nur
von der Infanterie die Rede ist. Man braucht nur an eine beliebige
Gefechtshandlung, wie Angriff einer befestigten Feldstellung, Verfolgung
und Rückzug zu denken, um das Unzulängliche einer lediglich für
die Infanterie zugeschnittenen Gefechtsvorschrift zu empfinden.
Auch in Rußland hat man die Notwendigkeit einer Gefechtslehre
für die verbundenen Waffen erkannt. Sie ist in der Felddienst-
ordnung (usläw polewöj slüschby) niedergelegt, so daß also der in
unserem Ex.-R. f. d. I. behandelte Stoff in den drei erwähnten Vor-
schriften verstreut ist.
Im folgenden soll keine vollinhaltliche Übersetzung der neuen
Vorschrift geboten, sondern nur das Wesentlichste angeführt werden.
1. Allgemeine Bestimmungen.
Der Infanterie fällt die Hauptrolle im Gefechte zu; die anderen
Waffen müssen mit allen Mitteln zur Erreichung des Gefechtszweckes
. gemeinsam mit ihr zusammenwirken und ihr in schweren Augenblicken
Die neue Gefechtsvorschrift für die russische Infanterie. 295
aufopferungsvoll beistehen. Umgekehrt muß sich auch die Infanterie
nötigenfalls für die anderen Waffen aufopfern.
Die Gefechtskraft der Infanterie besteht aus dem Gewehr-
und Maschinengewehrfeuer im Vereine mit entschlossenem Vorwärts-
drängen und aus dem Bajonettkampfe.
Zum Kampfe nehmen die Infanterieabteilungen die Gefechts-
ordnung an. Diese besteht aus den Truppen der Gefechts-
abschnitte und den Reserven. So gehören zur Gefechtsordnung
der Kompagnie die Zugs-Gefechtsabschnitte (Schützenketten) und
die Kompagniereserve, zu der des Bataillons die Kompagnie-
Gefechtsabschnitte und die Bataillonsreserve, zu der des Re-
giments die Bataillons-Gefechtsabschnitte und die Regiments-
reserve. Die Gefechtsordnung der Brigade besteht aus den Ge-
fechtsabschnitten und der Brigadereserve, wobei in die Ge-
fechtsabschnitte Regimenter und Bataillone bestimmt werden können.
Die Gefechtsordnung der Division setzt sich zusammen aus den
Gefechtsabschnitten, die durch Brigaden, Regimenter, auch
Bataillone gebildet werden, und der Divisionsreserve.
Im Bedarfsfalle unterbleibt die Ausscheidung von Reserven.
Jeder, vom höchsten Führer bis zum jüngsten Soldaten,
hat es als seine heiligste Pflicht zu betrachten, daß der
angestrebte Gefechtszweck unter allen Umständen erreicht
werde, ungeachtet aller Schwierigkeiten und Verluste. Das
beste Mittel zur Erreichung dieses Zieles ist der Angriff.
Nur der Angriff schafft die Möglichkeit, dem Feinde das Gesetz
vorzuschreiben und ihn zu vernichten. Im Kopf und Herzen jedes
Einzelnen muß der unerschütterliche Wille lebendig sein, die Ver-
nichtung des Feindes bis zum Ende durchzuführen. Jeder Führer
muß von dieser Notwendigkeit durchdrungen sein und sie seinen Unter-
gebenen einimpfen.
Im Gefechte hat jeder Vorgesetzte die Pflicht, den Angriffs-
geist und die Entschlossenheit seiner Mannschaft anzufeuern; die
Offiziere müssen durch ihr persönliches Beispiel voranleuchten. Alle
Befehlshaber müssen sich durch Initiative «und Verantwortungs-
freudigkeit auszeichnen.
Sobald von einer Gefechtsgruppe ein Erfolg erzielt worden ist,
müssen alle Nachbarabteilungen, ohne Befehle abzuwarten, selb-
ständig eingreifen, um durch Ausnutzung des Erfolges die Entscheidung
herbeizuführen.
[Es folgen nun Bestimmungen über den Platz des Führers, die
Beobachtung auf dem Gefechtsfelde, die Führung vermischter Ver-
296 Die neue Gefechtsvorschrift für die russische Infanterie.
bände und sehr eingehende Weisungen für den Verbindungsdienst auf
dem Gefechtsfelde von der Kompagnie bis zum Regiment.]
Alle Führer sind verpflichtet, eine genaue Erkundung des
Kampffeldes vornehmen zu lassen; hierbei dürfen auch die scheinbar
unbedeutendsten Geländefalten, die an den Gegner eine gedeckte An-
näherung ermöglichen, nicht außer acht gelassen werden. Im Ge-
fechte sind Maßnahmon zur Verminderung der Verluste zu treffen.
Hierzu gehört: rasches und entschiedenes Vorwärtsdrängen, Entfaltung
eines wirksamen Feuers und Ausnützung des Geländes. Es können
aber Fälle eintreten, in denen trotzdem eine Annäherung an den
Gegner ausgeschlossen ist; dann kann zur Verminderung der Ver-
luste der Angriff unter dem Schutze der Dunkelheit erfolgen. Stets
ist jedoch zu bedenken, daß die Erfüllung des Gefechts-
zweckes höher steht als die Sorge, die Verluste zu ver-
ringern.
Die Infanterie muß die für das Gefecht nötigen Schanz-
arbeiten selbst ausführen können; alle Führer haben dafür zu sorgen,
daß durch die Ausführung dieser Arbeiten der Angriffsgeist nicht ge-
lähmt werde.
2. Aufklärung.
Die Infanterieaufklärung wird sich höchstens auf die Entfernung
etwa eines halben Tagemarsches erstrecken können. Wenn Patrouillen
weiter als 4—5 Werst entsendt werden, so werden zu ihrer Unter-
stützung kleine Infanterieabteilungen (Züge, Halbkompagnien, Kom-
pagnien) nachgeschickt, die mit technischen Verbindungsmitteln, Rad-
fahrern oder Reitern, auszustatten sind.
Sind vor der Front der Infanteriepatrouillen Kavallerie-
aufklärungsabteilungen tätig, so machen diese bei allmählicher An-
näherung der Infanterie die Front frei, um weiterhin gegen Flanke
und Rücken des Feindes aufzuklären.
Damit die Aufklärung in der feindlichen Front nicht unter-
brochen wird, ist es daher notwendig, die Infanterieaufklärungs-
abteilungen frühzeitig vorzutreiben.
Die Infanterie entsendet zur Aufklärung „Patrouillen“ (dosöry)
und „Aufklärungsabteilungen“ (pärtii); beide gehen entweder
selbständig vor oder sie haben als Rückhalt schwache Infanterie-
abteilungen.
Die Patrouillen klären hauptsächlich gegen bestimmte Punkte
oder in bestimmten Richtungen auf, während sich die Tätigkeit der
Die neue Gefechtsvorschrift für die russische Infanterie. 297
Aufklärungsabteilungen gegen eine Front oder einen bestimmten Be-
zirk richtet ').
Die Stärke der Patrouillen und Aufklärungsabteilungen, bei
denen hauptsächlich die Aufklärer (die früheren „Jagdkommandos“)
Verwendung finden, richtet sich nach dem Auftrag und der Ent-
fernung.
Um die Meldungen rasch zurückzubringen, können mit technischen
Mitteln ausgestattete Zwischenposten aufgestellt werden.
Dem Führer jeder Patrouille, Aufklärungs- und Unterstützungs-
abteilung wird ein bestimmter Auftrag erteilt; ferner sind ihnen
bekanntzugeben: Nachrichten über den Feind und die eigenen Truppen;
an wen und wohin zu melden ist; ob Meldungen in gewissen Zeit-
abschnitten zu erstatten sind; Nachrichten über benachbarte Patrouillen,
Aufklärungs- und Unterstützungsabteilungen, wenn notwendig, bis zu
welchem Zeitpunkt zu melden ist, Rückkehr und Verhalten nach
Durchführung des Auftrages.
Die selbständig vorgehenden und die von den Aufklärungs-
abteilungen vorgetriebenen Patrouillen benützen, soweit dies mit ihrer
Erkundungsaufgabe vereinbar ist, das Gelände zur gedeckten An-
näherung. In ein Gefecht lassen sie sich nur ein, wenn ihr Auftrag
auf andere Weise nicht zu erfüllen ist.
Die Unterstützungsabteilungen sollen die feindliche Aufklärungs-
tätigkeit verhindern und durch die Zurückwerfung der gegnerischen
Patrouillen den eigenen die Möglichkeit verschaffen, die Aufklärung
gegen Front und Flanke des Feindes erfolgreich durchzuführen.
3. Vormarsch zum Gefecht.
Der Vormarsch erfolgt nach der Karte, nach Geländepunkten
oder nach dem Kompaß. Die Marschrichtung ist genau einzuhalten;
wenn nötig, wird eine Anschlußtruppe bestimmt.
Die zu wählende Formation wird durch das Gelände und das
feindliche Feuer bedingt.
Die Schützenkette wird im Bereiche des feindlichen Infanterie-
feuers angewendet.
Die Linie können die in Reserve folgenden Truppen in der
Artillerie- und Infanteriefeuerzone annehmen; zur Verminderung der
Verluste können die Rotten geöffnet und die eingliedrige Formation
angewendet werden.
Kolonnen (Zug- und Gruppenkolonne) werden von Reserven
hinter Deckungen angenommen.
1) Eine etwas verkünstelte und wenig praktische Unterscheidung, die
aus der Felddienstordnung übernommen wurde.
Jahrbücher für die deutsche Armee und Marine. Nr. 516. 22
298 Die neue Gefechtsvorschrift für die russische Infanterie.
Die in Züge auseinandergezogene Kompagnie') wird mit
Vorteil im Fernfeuer der gegnerischen Artillerie angewendet; der Vor-
zug dieser Formation wird nur dann voll ausgenützt, wenn die Zug-
führer selbständig die dem Gelände und der feindlichen Feuerwirkung
angepaßte Form mit ihren Zügen einnehmen.
Die Reservekolonne des Bataillons?) wird nur außerhalb des
feindlichen Feuers angewendet.
Das in Kompagnien auseinandergezogene Bataillon’)
kann sich in der Zone des feindlichen Feuers bewegen; zur Ver-
minderung der Verluste können die Kompagnien sowohl Formation
wie Zwischenräume und Abstände beliebig verändern.
Das Vorgehen der Schützenlinien erfolgt je nach dem Grad des
feindlichen Feuers im Schritt oder im Laufschritt, nötigenfalls mit ein-
gelegten Atempausen. Es springen Züge, deren Unterabteilungen oder
einzelne Leute; Länge der Sprünge im offenen Gelände etwa 100 Schritt.
Im heftigen Feuer nahe am Gegner kann statt des Springens
das Kriechen angewendet werden.
Mit dem Vorgehen gegen die feindliche Front ist stets die Um-
fassung anzustreben; die Umfassungstruppe kann durch Schräg-,
günstigenfalls sogar durch Flankenfeuer wirken und den Gegner in der
für ihn gefährlichsten Richtung angreifen.
Die Umfassungstruppe wird schon frühzeitig beim Anmarsch an
den Gegner bestimmt; sie soll dann bei weiterer Annäherung an den
Feind unbemerkt von diesem eine Vorwärtsstaffelung einnehmen
und im gegebenen Augenblick unter Drehung der Front zum ent-
scheidenden Flankenstoße vorbrechen.
Umfassungen durch Teile der Reserve oder der Schützenlinie
lassen sich in der Nähe des Gegners nur schwer durchführen; trotzdem
hat sie jeder Führer aus eigenem Antriebe zu versuchen, wenn es die
Geländeverhältnisse und sonstigen Umstände zulassen.
4. Das Infanteriefeuer.
Das Infanteriefeuer wird als Salve oder als Schützenfeuer
abgegeben; bei letzterem kann die zu verfeuernde Patronenzahl be-
stimmt werden N.
1) und 3) Das Verhältnis der Züge bzw. Kompagnien zueinander wird
durch Befehl geregelt (eine oder mehrere Gefechtslinien, Staffelung,
Zwischenraum und Abstand). Die Zug- bzw. Kompagnieführer haben
volle Freiheit in der Wahl der Formation.
2) Entspricht unserer früheren Doppelkolonne (2 Kompagnien neben-,
2 hintereinander).
4) Die Kontrolle läßt sich im Gefecht wohl kaum durchführen.
Die neue Gefechtsvorschrift für die russische Infanterie. 299
Die Regel ist das Schützenfeuer; die Salve wird nur angewendet
auf weitere Entfernungen gegen große und wichtige Ziele, bei der
Verfolgung, zur Abwehr des Sturms bei Nacht und zum Ein-
schießen.
Stets ist die Verbindung von Frontal- und Flankenfeuer an-
zustreben.
Auf unbekannte Entfernungen befindliche oder schlecht sicht-
bare Ziele können durch Feuer auf Geländestreifen bekämpft
werden, auch kann der Raum, den der Gegner durchschreitet, mit
Massenfeuer belegt werden. Letzteres wird namentlich dann ab-
gegeben, wenn der Feind die Auffüllung seiner bisher lose und un-
zusammenhängend vorgegangenen Schützenlinien vornimmt.
Der rasche Munitionsverbrauch der Maschinengewehre fordert
dazu auf, diese Waffe nur gegen taktisch wichtige und leicht zu
fassende Ziele zu verwenden. Die große materielle und moralische
Wirkung wird noch] bedeutend gesteigert, wenn die Feuereröffnung
überraschend und womöglich flankierend erfolgt. Der beste Erfolg
wird auf Entfernungen von einer Werst und darunter erzielt werden,
vorausgesetzt, daß die Entfernung zum Ziel richtig erkannt wird,
worauf ein besonderes Augenmerk zu richten ist.
Eine Anhäufung von Maschinengewehren soll vermieden werden ;
am besten verwendet man sie zugweise, was auch die verdeckte
Aufstellung erleichtert. Stets ist Kreuz- und Flankenfeuer an-
zustreben, sei es durch die Maschinengewehre allein oder im Verein
mit dem Gewehrfeuer.
Im Gefecht sind stets mehrere Feuerstellen für die Maschinen-
gewehre auszusuchen und auch möglichst gedeckte Wege aus einer
Stellung zur andern damit der Stellungswechsel rasch und unter Ver-
meidung von Verlusten vor sich gehen kann.
Im Regimentsverbande verbleiben die Maschinengewehre ent-
weder in der Hand des Regimentskommandeurs oder sie werden auf
die Bataillone verteilt. Stets ist dem Führer der Maschinengewehre
ein ganz bestimmter Gefechtsauftrag zu erteilen.
Feuerleitung der Infanterie. Die Feuereröffnung erfolgt
auf Befehl der in der Schützenkette befindlichen Führer; sie soll
möglichst spät erfolgen; über 1 Werst Entfernung nur auf große
und wichtige Ziele. Wirkungsloses Feuer hebt nur die Zuversicht
des Gegners.
Jedem Teil der Schützenlinie wird eine bestimmte Aufgabe
erteilt, die sie mit ihrem Feuer erfüllen soll. Das zu beschießende
Ziel wird von den Unterabteilungen in Unterabschnitte zerteilt.
Die Ziele werden womöglich nach Geländegegenständen bezeichnet.
22*
300 Die neue Gefechtsvorschrift für die russische Infanterie.
Die Entfernung zum Ziel kann ermittelt werden: durch
Schätzen, durch Messen, durch Erfragen bei schon im Gefechte stehenden
benachbarten Truppen, durch Abmessen auf der Karte; inder Verteidigung
ist auch die Entfernung zu ermitteln nach Geländestreifen, die der
Angreifer durchschreiten muß.
Die Wahl der Feuerart und die Feuergeschwindigkeit hängt
ab von der Art des Zieles und seiner Wichtigkeit sowie von der der
Schützenlinie gestellten Aufgabe.
Die Feuerwirkung wird von besonderen Beobachtern ver-
folgt; außerdem haben sich sämtliche Führer und Schützen nach
Möglichkeit an der Beobachtung zu beteiligen.
Die Feuerdisziplin umfaßt: Genaue Schußabgabe, pünktliche
Befolgung aller Feuerbefehle, Anwendung der richtigen Feuer-
geschwindigkeit, sofortiges Einstellen des Feuers beim Verschwinden
oder der Vernichtung des Zieles, rasches Überlenken des Feuers
auf neu auftauchende wichtige Ziele (hierbei Anstreben von Feuer-
vereinigung, Kreuz- und Flankenfeuer), Selbstbeherrschung der Schützen.
gewandte Geländeausnützung, Haushalten mit der Munition.
Zur Festigung der Feuerdisziplin kann vorübergehend vom
Schützenfeuer zur Salve übergegangen werden, wenn die Stimme
durchdringt, wenn nicht, kann das Feuer mit Angabe einer bestimmten
Patronenzahl angewendet werden.
Munitionsersatz. Um die Mannschaft zum Haushalten mit
der Munition anzuhalten, hat jeder Schütze seinem Gruppenführer zu
melden, wann er die Hälfte seines Patronenvorrates verschossen hat.
Der Patronenersatz wird bewerkstelligt: durch Leute, die die
Patronen von den Patronenkarren in die Schützenlinien vorbringen (in
Mantelschößen, Säcken u. dgl.), durch Herbeiführung der Munition
auf Tragetieren, wenn dies gedeckt geschehen kann, durch unmittel-
bare Ausgabe aus den Patronenkarren an die Mannschaft hinter
Deckungen vor dem Gefecht, durch Heranziehen von mit Patronen
gefüllten Gefäßen, wie Körben usw., mittelst Leinen, durch die
die Schützenlinien verstärkenden Reserven.
Im Hinblick auf die Schwierigkeit der Munitionsergänzung im
Gefecht soll der Inhalt der Patronenkarren womöglich schon vor dem
Eintritt in den Kampf verteilt werden; die entleerten Patronenkarren
werden durch gefüllte aus den Munitionskolonnen ergänzt.
Den Toten und Verwundeten sind die Patronen abzunehmen.
5. Der Sturmangrift.
Der Sturm hat unabhängig von der Entfernung zum Gegner
dann zu erfolgen, wenn nach Lage der Verhältnisse der Augenblick
Die neue Gefechtsvorschrift für die russische Infanterie. 301
gekommen ist, zum Bajonettangriff zu schreiten oder wenn beim
Feinde eine Erschütterung der moralischen Kräfte bemerkbar wird.
Anzeichen hierfür können sein: regelloses oder schwaches Feuer, Hin-
und Herrennen in der feindlichen Stellung u. dgl.
Der Sturmangriff erfolgt nicht nur gegen den erschütterten
Feind, sondern auch auf einen noch zur Abwehr bereiten
Gegner, wenn dies der Gefechtsauftrag oder die Notlage der Kameraden
erheischt. Der Erfolg hängt von der richtigen Wahl und klaren Be-
zeichnung der Angriffsrichtung und von dem Geschick ab, den rich-
tigen Zeitpunkt für den Beginn des Sturmes zu wählen.
Stets ist anzustreben, Frontal- und Flankenangriff zu ver-
einigen. Der Sturm soll rasch, entschieden und mit ele-
mentarer Gewalt, wie ein Orkan, vor sich gehen.
Die Infanterie schreitet zum Sturm, indem sie den Feind auf
die nächsten Entfernungen in der Bewegung mit Feuer überschüttet');
unmittelbar vor dem Bajonettkampfe werden Handgranaten ge-
worfen. Stößt man unvermutet auf den Feind, so ist, ohne die Feuer-
waffe anzuwenden, sofort zum Bajonett zu greifen. Alle Führer sind
verpflichtet, während des Sturmes durch persönliches Beispiel und
Anfeuerung den Angriffsgeist in ihren Mannschaften aufs höchste zu
entflammen.
Der Antrieb zum Sturm kann nicht nur vom obersten Führer,
sondern auch von jedem Unterführer in den Schützenkette ausgehen,
wenn die Lage dazu auffordert. In diesem Falle haben die benach-
barten Teile die stürmende Abteilung ohne Schwanken zu unterstützen,
indem sie entweder den Sturm mitmachen oder den Gegner mit Feuer
überschütten. Letzteres haben auch die Maschinengewehre zu tun,
die darauf Bedacht nehmen müssen, die stürmenden Kameraden nicht
zu gefährden; sie suchen flankierend zu wirken.
Vor dem Sturm hat eine Erkundung des zu durchschreitenden
Angriffsgeländes und — wenn notwendig — das Wegräumen von
Hindernissen stattzufinden.
Dem Sturm hat sich die Behauptung des Errungenen und die
energische Aufnahme der Verfolgung anzureihen. Zweck der Ver-
folgung ist die Vernichtung des Feindes; es soll ihm jede Möglichkeit
genommen werden, sich zu neuem Widerstand zu stellen. Die Ver-
folgung geschieht durch Feuer und Nachdrängen; dieses vornehmlich
durch frische Truppen. Hierbei ist darauf Bedacht zu nehmen, daß
sich der Verfolger nicht in einen Hinterhalt locken läßt.
~ 1) Ungestümes Anstürmen und gleichzeitig Feuer in der Bewegung
ıst ein Widerspruch!
302 Die neue Gefechtsvorschrift für die russische Infanterie.
Mißlingt der Sturm, so ist er bis zum Gelingen zu
widerholen; deshalb soll sich der abgewiesene Angreifer in aller-
nächster Nähe des Feindes wieder festsetzen.
6. Das Gefecht der Kompagnie.
a) Angriff.
Bevor sich die Kompagnie vom Bataillon trennt, wird der
Kompagnieführer über seinen Gefechtsauftrag und den des Bataillons
unterrichtet. Beim Vormarsch, der durch Patrouillen zu sichern ist,
wählt er die dem Gelände und dem feindlichen Feuer angepaßte For-
mation. Er sorgt für Aufklärung, Sicherung und Verbindung. Das
Vorgehen wird anfänglich im Schritt erfolgen können, über offene und
vom feindlichen Feuer beherrschte Räume wird gelaufen.
Auf Grund der eigenen Erkundungen und der von den Patrouillen
einlaufenden Meldungen entwirft der Kompagnieführer seinen Angriffs-
plan. Er läßt die Kompagnie rechtzeitig die Gefechtsordnung ein-
nehmen, spätestens zu dem Zeitpunkte, wenn sie in den Bereich des
feindlichen Infanteriefeuers gelangt.
Großen Wert wird auf die eingehende Unterweisung der Mann-
schaft vor dem Gefecht gelegt. Sie hat sich auf folgende Punkte
zu erstrecken: Nachrichten über Feind und eigene Truppen, Lösung
des der Kompagnie erteilten Gefechtsauftrages, Angriffsrichtung, Ge-
fechtsaufträge für jeden in die Feuerlinie bestimmten Zug, Platz des
Patronenkarrens und des Verbandplatzes.
Die Entwickelung der in die Gefechtsabschnitte bestimmten Züge
soll möglichst gedeckt erfolgen.
Der Angriff geschieht in der Weise, daß die einzelnen Züge oder
deren Unterabteilungen!) bis zum einzelnen Mann hinab unter gegen-
seitiger kräftiger Feuerunterstützung von einer Feuerstellung zur anderen
vorlaufen. Von dem wellenweisen Vorgehen mit darauffolgendem
Ausfüllen wird viel Gebrauch gemacht. Den Zugführern ist beim
Heranführen ihrer Züge an den Feind volle Freiheit gewährleistet.
Trotz Strebens nach ausgiebiger Feuerwirkung darf nie der Drang
nach vorwärts erlahmen.
Der für die Umfassung bestimmte Teil soll rechtzeitig und mög-
lichst unbemerkt den Feind in der Flanke anfallen.
Auf dem Angriffsfelde gelegene, vom Gegner besetzte wichtige
1) Der Zug wird in Gruppen (otdeljenje) zu 4—6 Rotten eingeteilt,
jede Gruppe zerfällt wieder in Unterabteilungen (swend, „Kettenglied* ge-
nannt) zu 2—3 Rotten, von „Ältesten“ (Mannschaften) geführt, während
an der Spitze der Gruppen Unteroffiziere stehen.
Die neue Gefechtsvorschrift für die russische Infanterie. 303
Geländepunkte oder Stützpunkte hat der Angreifer durch Feuer oder
Bajonett in seine Gewalt zu bringen.
Zum Eingraben schreiten die Schützen auf Befehl ihrer Führer
dann, wenn längere Zeit in einer Stellung ausgeharrt werden muß,
oder zur Verstärkung des dem Feinde abgerungenen Bodens.
Jeder Einzelerfolg irgendeines Teiles muß durch selbsttätiges
und entschlossenes Zugreifen der benachbarten Teile voll ausgenutzt
werden.
Die Kompagniereserve ist nicht an einen bestimmten Abstand
hinter der Schützenlinie gebunden; ihr Führer verfährt selbständig,
führt sie in der geeigneten Form von einer Deckung zur anderen und
verstärkt im Bedarfsfalle die Schützenlinie.
Der Angriff endigt mit dem Sturmanlauf und dem Bajonett-
kampfe. Nach dem Einbruch in die Stellung hat sofort deren Be-
festigung und die Verfolgung einzusetzen.
b) Verteidigung.
Mit der Auswahl der Verteidigungsstellung hat jeine eingehende
Erkundung des vom Gegner zu durchschreitenden Angriffsgeländes
Hand in Hand zu gehen. Die Besetzung der Stellung hat unter dem
Gesichtspunkte zu erfolgen, daß keine toten Winkel entstehen, und
daß der Angreifer sein Vorgehen womöglich unter dem Kreuzfeuer
des Verteidigers ausführen muß.
Sich scharf abhebende Linien, wie Waldränder usw., werden bei
der Besetzung vermieden.
Die Stellung wird in Zugsabschnitte eingeteilt; verfügt die Kom-
pagnie auch über Maschinengewehre, so sind sie womöglich zur flan-
kierenden Bestreichung des Angriffsgeländes zu verwenden.
Die Zugführer richten ihre Züge in der Stellung jein, erkunden
das Gelände in ihrem Abschnitt im Hinblick auf tote Winkel usw.
und legen die Entfernungen fest.
Je nach der Gefechtslage findet die künstliche Verstärkung der
Stellung statt. Die Unterweisung der Mannschaft vor dem Gefecht .
wird in der gleichen Weise, wie beim Angriff beschrieben, durchgeführt,
Die Stellung wird vorwärts, seitwärts und rückwärts durch
Patrouillen gesichert, Beobachter in der Stellung, die unter Umständen
nach vollendeter Arbeit von den Truppen geräumt wird, spähen nach
dem Feinde aus, die Verbindung mit den Nachbartruppen wird her-
gestellt.
Nicht immer wird die Stellung gleich stark besetzt; je nach den
Verhältnissen liegen in den Abschnitten dichte oder dünne Schützen-
ketten, manche Teile können auch völlig unbesetzt bleiben, wenn ihr
804 Die neue Gefechtsvorschrift für die russische Infanterie.
Vorfeld von den benachbarten Abschnitten unter Schrägfeuer genommen
werden kann.
Um die Stellung nicht vorzeitig zu verraten, soll das Feuer erst
auf etwa ein Werst Entfernung eröffnet werden, vorher nur auf be-
sonders groe und lohnende Ziele.
c) Übergang zum Angriff.
Die Kompagnie geht zum Angriff über, wenn der Gegner durch
ihr Feuer erschüttert ist oder Verwirrung zeigt. Der Angriff erfolgt
entweder auf höheren Befehl oder aus eigenem Antrieb des Kompagnie-
führers, wenn er bemerkt, daß der feindliche Angriff erlahmt oder
wenn benachbarte Teile unterstützt werden müssen. Geht ein Teil
des Verteidigers zum Angriff vor, so haben sich die benachbarten
Abteilungen ohne Schwanken und ohne Befehle abzuwarten, an-
zuschließen, namentlich müssen Stützpunkte vor der Front, die in der
Hand des Feindes sind, diesem rasch entschlossen entrissen werden.
Gelingt der Gegenangriff nicht, so ist das Gewehr- und Maschinen-
gewehrfeuer aufzunehmen, der Gegner auf die nächsten Entfernungen
mit Handgranaten zu bewerfen und dann erneut zum Sturm zu
schreiten.
7. Das Gefecht des Bataillons.
a) Angriff.
Nach erhaltenem Auftrag setzt der Bataillonskommandeur sein
Bataillon in einer dem Gelände entsprechenden Formation in Marsch;
vorher trifft er noch die nötigen Maßnahmen für Aufklärung, Ver-
bindung und Sicherung (durch Marschfeldwachen und Patrouillen).
Nachdem er sich über die Durchführung des Gefechtsauftrages
schlüssig gemacht hat, teilt er den Kompagnieführern mit: Nach-
richten über den Feind und benachbarte eigene Truppen, wie das
Bataillon die Aufgabe zu lösen hat, Verteilung der Kompagnien in
die Gefechtsabschnitte und in die Reserve, Sonderaufträge für die
Kompagnien, Aufstellungsplätze der Patronenkarren und den Ver-
bandplatz, Standpunkt des Bataillonskommandeurs (außerdem ge-
gebenenfalls Auftrag für die Maschinengewehre).
Der Übergang in die Gefechtsordnung muß noch außerhalb der
Zone des feindlichen Artilleriefeuers erfolgen, also im offenen Gelände
auf 5—6 Werst, im bedeckten Gelände entsprechend näher.
Die Entwickelung des Bataillons, die möglichst gedeckt vor sich
gehen soll, wird durch die schon vor dem Abmarsch entsandten
Marschfeldwachen und Patrouillen gesichert. Die entwickelten Kom-
Die neue Gefechtsvorschrift für die russische Infanterie, 305
pagnien gehen möglichst lange im Schritt vor, ohne an die Einhal-
tung der Seitenrichtung gebunden zu sein; unter Ausnutzung des
Geländes rückt vielmehr jede Kompagnie für sich selbständig in der
geeignetesten Form vor, wobei nur auf die Innehaltung der Marsch-
richtung und Aufrechterhaltung der gegenseitigen Verbindung zu
sehen ist.
Die Bataillonsreserve folgt hinter einem Gefechtsabschnitte oder
noch besser gestaffelt. Die Staffelung gewährt den Vorteil, daß
die Umfassung des feindlichen Flügels vorbereitet wird, daß gegne-
rischen Umfassungsversuchen leicht entgegengetreten werden kann und
daß unnötige Verluste vermieden werden.
Der Bataillonskommandeur kann die Reserve zur Bildung neuer
Gefechtsabschnitte und im Notfalle auch zur Verstärkung der Kom-
pagniegefechtsabschnitte verwenden; in der Regel wird er sie dort
einsetzen, wo er den Hauptstoß führen will. Diesen bereitet er
auch insofern vor, als er das Gewehr- (und ev. auch das Maschinen-
gewehr-) Feuer seines Bataillons auf den als Einbruchstelle in Aus-
sicht genommenen Abschnitt der feindlichen Stellung vereinigt.
Er sorgt dafür, daß der Drang nach vorwärts nicht erlahmt; im
gegebenen Augenblick setzt er seine eigene Person ein, um den An-
griffsgeist zu beleben. Von ihm geht auch der Befehl zum Sturm-
angriff aus.
Im Falle des Mißlingens des Sturmes ist er hartnäckig so oft zu
wiederholen, bis das Ziel erreicht ist.
Nach dem Sturm wird die Verfolgung eingeleitet und die Ord-
nung in den Verbänden hergestellt.
b) Verteidigung.
Der Besetzung der Stellung hat eine eingehende Gelände-
erkundung vorauszugehen, die sich zu erstrecken hat: auf die
Stellung des gesamten Bataillons, auf das Vorgelände (hinsichtlich
des Schußfeldes, der toten Winkel, der Verhältnisse für den Gegen-
stoß), auf das Gelände in beiden Flanken (im Hinblick auf eigene
und feindliche Umfassungen) und auf das Rückengelände (etwaige
Hindernisse, Stützpunkte, Aufnahmestellungen).
Die gegenseitige Feuerunterstützung aus den einzelnen Abschnitten
der Stellung heraus muß vereinbart werden; das Schußfeld wird
frei gemacht.
Die Stärke der Stellung wird erhöht durch die Besetzung und
Behauptung von Stützpunkten. Solche können sein Gelände-
gegenstände, die in verteidigungsfähigen Zustand versetzt worden
sind oder Schützengräben, die gruppenweise — unter Umständen
306 Die neue Gefechtsvorschrift für die rnssische Infanterie.
in Verbindung mit Geländegegenständen — angelegt werden können
Von diesen Stützpunkten aus muß das Vorgelände unter Kreuzfeuer
genommen werden können und der Übergang zum Angriff gewähr-
leistet sein.
Stützpunkte sind nicht nur in der Stellung, sondern auch
hinter ihr anzulegen, um die Stellung auch weiterhin behaupten zu
können, wenn der Feind die Frontlinie durchbrochen hat.
Die Unterweisung der Kompagnieführer über Feind, eigene Ab-
sicht usw. erfolgt in analoger Weise wie beim Angriff beschrieben.
Alle vorbereitenden Maßnahmen und das Einrücken der Truppen
in die Abschnitte sollen möglichst unbemerkt vom Gegner vor
sich gehen.
Das Streben des Verteidigers muß sein, durch sein Feuer den
feindlichen Angriff zum Stocken zu bringen, dem Gegner möglichst
hohe Verluste beizubringen, ihn moralisch und physisch zu erschüttern
und dann zum Angriff überzugehen.
Um das Vordringen des Feindes aufzuhalten, kann es angezeigt
sein, die Bataillonsreserve zum umfassenden Flankenstoß einzusetzen.
c) Übergang zum Angriff.
Jeder Teilerfolg ist durch selbsttätiges Eingreifen der Nachbar-
truppen voll auszunutzen; dies wird am besten durch den Angriff
geschehen. Den Angriff des ganzen Bataillons befiehlt im allgemeinen
der Bataillonskommandeur; auch wenn es sich darum handelt, eine
zum Angriff vorgegangene Kompagnie rasch zu unterstützen, werden
den Kompagnien und der Bataillonsreserve bestimmte Gefechts-
aufträge erteilt.
Gelingt der Gegenstoß nicht, so ist das Gewehr- und Maschinen-
gewehrfeuer wieder aufzunehmen und der Feind aus nächster Nähe
mit Handgranaten zu bewerfen.
Auch wenn der Feind in die Stellung eindringt, so hält die Be-
satzung in den in und hinter der Stellung angelegten Stützpunkten
hartnäckig aus und ergreift jede Gelegenheit, um erneut zum Gegen-
sto vorzubrechen.
8. Rückzug in der Nähe des Feindes.
Der Rückzug erfolgt nach unglücklichem Gefechte oder dann,
wenn unter Vermeidung eines entscheidenden Abschlusses der Gegner
lediglich aufgehalten werden sollte.
Im Falle eines erzwungenen Rückzuges müssen die Führer
trachten. rasch Stützpunkte und günstige Feuerstellungen zu ge-
winnen, von denen aus dem nachdrängenden Feind erneut wieder
- m e messing
Die neue Gefechtsvorschrift für die russische Infanterie. 307
entgegengetreten werden kann. Sind noch frische Kräfte zur Ver-
fügung, so sind sie in erster Linie zu verwenden; hierbei ist flan-
kierende Wirkung anzustreben.
Der Rückzug erfolgt in der Regel in Staffeln; auf die Deckung
per Flanken ist besonders zu achten.
Wird ein Teil der Gefechtsfront zum Rückzug gezwungen, so
haben die benachbarten Abteilungen entschlossen zu Hilfe zu eilen,
um den Kameraden die Möglichkeit eines geordneten Rückzuges und
des Überganges zum Angriff zu verschaffen.
9. Gefecht des Regiments, der Brigade und der Division.
Da diese Truppen in der Regel im Verein mit anderen Waffen
kämpfen, so weist die Gefechtsvorschrift auf die Bestimmungen der
Felddienstordnung hin; sie hebt lediglich hervor, daß das Gefecht des
Regiments, der Brigade und der Division nicht in den Kampf der
einzelnen Kommandoeinheiten auseinanderfallen darf.
10. Gefecht gegen Kavallerie.
Die Infanterie soll die Reiterei kalten Blutes, im Vertrauen auf
ihre Feuerwaffe, erwarten; Formationsveränderungen sind zu ver-
meiden; Schützenlinien verbleiben in ihren Stellungen; in den ge-
schlossenen Abteilungen werden der Reiterei möglichst viel Gewehre
entgegengestellt, sofern dies ohne komplizierte Formationsänderungen
möglich ist; keinesfalls darf Unruhe in die Abteilung kommen.
Benachbarte Abteilungen, namentlich solche im Staffelverhältnis,
unterstützen sich gegenseitig und werden die Kavallerie häufig flan-
kierend beschießen können.
Gelingt es der Reiterei, einzubrechen, so werden rasch Haufen
gebildet.
11. Nachtgefechte.
Nächtliche Unternehmungen bedürfen gründlicher Vorbereitung
und eingehender Unterweisung aller Unterführer; sie sind mit der
größten Stille durchzuführen. Besonders wichtig ist das Einhalten
der Marschrichtung; auch wenn verläßliche Führer zur Stelle sind,
sind für die Einhaltung der Richtung meist künstliche Mittel, wie
nach dem Feind zu abgeblendete Laternen usw., für die rückwärtigen
Truppen notwendig.
Beim Vorgehen werden alle Zwischenräume und Abstände ver-
kürzt; Formation des Bataillons: in Kompagnien auseinandergezogen,
der Kompagnie: in Linie oder in Zügen auseinandergezogen. je nach
Gelände, Grad der Dunkelheit und Nähe des Feindes.
308 Die neue Gefechtsvorschrift für die russische Infanterie.
Beim Angriff ist jedes Schießen zu vermeiden. Stößt
man auf feindliche Patrouillen usw., so sind sie mit dem Bajonett
niederzumachen. Auf Flanken- und Rückenschutz ist besonders Be-
dacht zu nehmen, mit der Entsendung von Patrouillen vorsichtig zu
verfahren, um den Feind nicht auf den bevorstehenden Angriff auf-
merksam zu machen.
Wird aus der Verteidigungsstellung heraus ein feindlicher
Angriff erkannt, so ist rechtzeitig zum GegenstoB zu schreiten, um
dem Feind das Eingraben vor der Stellung zu verwehren. Künstliche
Hindernisse, und seien sie noch so einfach, sind stets an geeigneten,
im eigenen Feuerbereich liegenden Stellen anzulegen. Heben sich die
Silhouetten des Gegners ab oder kommt er in das Scheinwerferlicht,
so wird das Feuer begonnen. Die vor der Front liegenden eigenen
Patrouillen, die das Herannahen des Gegners melden sollen, werden
zu diesem Zweck mit Handgranaten ausgestattet; auch können Feuer-
zeichen, wie Abbrennen von Strohhaufen usw. vereinbart werden.
Verwendung der Scheinwerfer. Vom Scheinwerferlicht grell
beleuchtete Gegenstände erscheinen dem Auge näher, im Dunkel
liegende weiter als sie in Wirklichkeit sind. Die Sichtbarkeit mancher
Farben ist bei Beleuchtung eine andere als bei Tageslicht, so sind
z. B. die dunkelgrauen Soldatenmäntel schwer zu erkennen, während
das hellere Feldgrau der Uniformen fast weiß erscheint und deshalb
deutlich sichtbar ist. Am leichtesten wird die Truppe durch blinkende
Waffen und Ausrüstungsgegenstände verraten.
Zum Scheinwerfer gehören das Bedienungspersonal und die Be-
obachter.
Man stellt die Scheinwerfer gewöhnlich an hoch gelegenen Punkten
auf, doch sind stets mehrere Aufstellungsplätze zu erkunden.
Die Aufgabe der Scheinwerfer ist: Beleuchtung des Gegners zum
Beschießen, zur Erkundung seiner Stellung und Bewegungen, Blendung
des Gegners, Auffangen des feindlichen Scheinwerferlichtes, Beleuch-
tung des Geländes bei Ausführung nächtlicher Arbeiten und endlich
Signalisieren.
Die Angriffstruppe wirft sich, sobald sie in das Scheinwerferlicht
gerät, zu Boden und verbleibt regungslos; blinkende Gegenstände sind
zu verbergen. Besonders ungünstig sind Kolonnenformationen, die
auf zum Gegner abfallenden Hängen in den Lichtkegel fallen, da sie
in ihrer ganzen Tiefe beleuchtet werden; es sind daher dort breite
Formationen anzunehmen.
Außerhalb des feindlichen Feuerbereiches werden die Schatten-
streifen von zum Gegner hinziehenden Gebüschen, Hängen usw. zur
Vorbewegung ausgenützt, im feindlichen Feuerbereich wird, je näher
Die neue Gefechtsvorschrift für die russische Infanterie. 309
man an den Feind kommt, das Verhalten dem am Tage gleich
werden, d. h. die Vorbewegung wird in Schützenketten oder einzeln,
springend oder kriechend erfolgen müssen.
Geraten Scheinwerfer in feindliches Feuer, so wechseln sie ent-
weder ihren Platz oder sie verändern — nach vorheriger Abblendung —
ihre Lichtstärke, um dem Gegner einen Aufenthaltswechsel vorzu-
täuschen.
Mit diesem Abschnitt endigt die Vorschrift. Wie schon eingangs
angedeutet, wird der Umstand, daß die Gefechtsvorschrift lediglich
den Infanteriekampf, nicht auch den der verbundenen Waffen ins
Auge faßt, vielfach als Mangel empfunden werden, denn man ist
häufig gezwungen, gleichzeitig die „Felddienstordnung“ mit zu Rate
zu ziehen. Anderseits muß aber anerkannt werden, daß das be-
schränkte Ziel, das sich die Vorschrift gesteckt hat, sicher erreicht
worden ist. i
Die Gefechtsvorschrift ist modern. Sie berücksichtigt nicht nur
die technischen Neuerungen (Ma:chinengewehre, Handgranaten, Schein-
werfer), sondern sie gewährt auch, was wichtiger ist, im Infanterie-
gefechte allen Führern die Freiheit, ohne die eine erfolgreiche Durch-
führung des neuzeitlichen Infanteriekampfes undenkbar ist. Alle ein-
engenden Bestimmungen, alle Zahlenangaben. die die Selbsttätigkeit
lahmlegen oder die zu schematischer Auffassung führen könnten, hat
man zu vermeiden gewußt.
Eine außerordentlich schmiegsame und brauchbare Form ist die
Kompagnie „in Züge auseinander gezogen“. Hierbei wird das gegen-
seitige Verhältnis der vier Züge durch Befehl des Kompagnieführers
genau so geregelt, wie das der Kompagnien im Bataillonsverbande
auf Befehl des Bataillonskommandeurs. Den Zugführern ist dabei die
größte Freiheit hinsichtlich Wahl der Formation usw. eingeräumt.
Diejenigen Bestimmungen der Vorschrift, die besondere Beachtung
verdienen, seien zum Schlusse kurz zusammengestellt:
Da die russischen Infanteriepatrouillen häufig in ihren „Unter-
stützungsabteilungen“* Rückhalt und Hilfe finden, müssen die gegne-
rischen Patrouillen stark gemacht werden.
Umfassungen, bisweilen durch „Vorwärtsstaffelungen“ an-
gebahnt, werden stets angestrebt, im großen und im kleinen; auf
Kreuzfeuer wird großer Wert gelegt.
Eigenartige Durchführung der Munitionsergänzung durch Her-
anziehen von mit Patronen gefüllten Körben usw. in die Schützen-
linie vermittelst Leinen neben den sonst üblichen Verfahren.
In der Verteidigung im allgemeinen kein Weitfeuer; keine
Rückenstellungen, wohl aber Stützpunkte hinter der Stellung.
310 Literatur.
Feuervereinigung durch den Bataillonskommandeur auf
das entscheidende Ziel.
Forderung, mißglückte Sturmversuche hartnäckig bis zum Ge
lingen zu wiederholen; um die Notwendigkeit des Gegenstoßes
aus der Verteidigung heraus deutlich vor Augen zu führen, wird ihm
ein besonderes Kapitel gewidmet.
Berichtigung.
Frankreich.
Im Absatz 1, S. 75, des Juliheftes ist durch ein Versehen die
6. Kavalleriedivision fortgelassen worden. Diese 6. Kavallerie-
division Lyon zählt 9 Regimenter in 3 Brigaden. Die 1. Kavallerie-
division Paris weist 7, l die 2. Lunéville 8, die 3. Compiègne 8, die
4. Sedan (in 4 Brigaden) 8, die 5. Reims 6, die 6. s.o., die 7.
Melun 8, die 8. Dôle 8, die 9. Tours 9, die 10. Montauban 8 Re-
gimenter auf. Nach der im Herbst (s. Bericht in diesem Heft) zu
vollziehenden Neubildung der Chausseurregimenter 22 und 23 ist eine
Änderung in der Zusammensetzung einiger Kavalleriedivisionen zu er-
warten. Dauernd zugeteilt sind jeder Kavalleriedivision heute schon
eine reitende Abteilung und eine Radfahrergruppe eines Jäger-
bataillons. 18
Literatur.
I. Bücher.
Die russische Armee. Wien 1913. L. W. Seidel & Sohn, K. u. K. Hof-
buchhändler. 173 Seiten.
In knapper und übersichtlicher Darstellung ist in dem Buche alles
Wissenswerte über die Gliederung, Wehrpflicht, Kriegsformation,
Mobilmachung, ständige und Feldbefestigung sowie Gefechtsweise der
russischen Armee zusammengetragen. Es ist nur schade, daß manche
der Angaben heute schon veraltet sind. Das Buch wurde im Januar
1912 abgeschlossen, und gerade dieses Jahr brachte außerordentlich
wichtige Veränderungen für die russische Armee, wie das neue Wehr-
gesetz, die Felddienstordnung mit Gefechtsvorschrift für alle Waffen,
eine teilweise Umbewaffnung der Artillerie und vieles andere,
Ein glücklicher Gedanke, der Nachahmung verdient, war es, das
Buch mit einer Reihe von Photographien auszustatten, und zwar nicht
Literatur. 311
nur mit Aufnahme von Gefechtsbildern aller Waffengattungen, sondern
auch mit Landschaftsbildern, die militärgeographisch von Inter-
esse sind.
Wenn bei einer Neuauflage alle inzwischen eingetretenen Ver-
änderungen Berücksichtigung finden, wird das kleine Buch ein sehr
handliches, praktisches und zuverlässiges Orientierungsmittel über das
russische Heerwosen bilden. Sch.
Die französische Armee. Zweite Auflage. Mit zahlreichen Anlagen,
Bildertafeln und Textabbildungen. 1913. 5,50 M., geb. 7 M.
E. S. Mittler & Sohn, Kgl. Hofbuchhandlung, Berlin SW 68,
Kochstr. 68/71.
Neben dem amtlichen Material der französischen Militärverwaltung
sind vom Bearbeiter alle Quellen herangezogen worden, die sich in
der Presse, in Fachwerken, Berichten über das Kriegsbudget, Kammer-
und Senatsverhandlungen seit Jahren finden ließen. Im Jahre 1909
erschien die erste Auflage dieses Buches, bei der schnellen Entwicke-
lung des französischen Heerwesens wäre es von Vorteil gewesen, den
Zeitpunkt für den Abschluß der zweiten Auflage genauer anzugeben.
Es hat sich aber nicht vermeiden lassen, daß einige Wochen nach
Erscheinen der zweiten Auflage auch diese schon in vielen Punkten
nicht mehr zutrifft.
Die neue Auflage behandelt die Organisation, Stärke und Gliede-
rung des französischen Heeres in Krieg und Frieden, die Territorial-
armee, die Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften, die einzelnen
Waffengattungen, das Luftfahrwesen, die Kolonialtruppen, die Taktik
und Ausbildung der verbundenen Waffen, das Unterrichtswesen, den
inneren Dienst, das Ersatzwesen, Pferdezucht, Herstellung von Waffen,
Munition und Feldgerät, Mobilmachung und Aufmarsch, Eisenbahnen,
Wasserstraßen, Etappendienst, Verpflegungs- und Sanitätswesen. Ein
besonderer Abschnitt ist der Marine gewidmet. Zweckmäßig wäre es
gewesen, die Herausgabe des Buches bis zum Erscheinen der neuen
Felddienstordnung hinauszuschieben. Balck.
General Bonnal. Questions de critique militaire et d'actualité. Serie 6.
Paris, Chapelot, 1914.
Der General Bonnal, als Militärschriftsteller mit stark chauvi-
nistischem Einschlag bekannt, hat die Gepflogenheit, kleine Aufsätze,
die er unter bestimmten Eindrücken oder aus besonderem Anlaß ge-
schrieben hat, gesammelt in Buchform erscheinen zu lassen. Einzelne
aus früheren Sammlungen könnten auch deutsche Leser interessieren,
insofern sie auf französische Militärverhältnisse ein Licht werfen. Die
jetzt vorliegende sechste Sammlung hat diesen Wert nur in bedingtem
Grade. Einzelne kriegsgeschichtliche Exkurse sind von einer staunens-
werten Seichtheit, z. B. „Dennewitz“, bei dessen Durchsicht man
sich unwillkürlich fragt: Was sollen diese oberflächlichen Redensarten ?
312 Literatur.
In einer Tageszeitung mögen sie ein berechtigtes Füllsel sein, aber
in einem Buche machen sie eine merkwürdige Figur, da sie weder
„aktuell“ noch „kritisch“ sind.
Ähnliches läßt sich z. B. von dem Aufsatz „Die letzten großen
Manöver in Deutschland und in Frankreich“ sagen. Man ist
berechtigt anzunehmen, daß es sich nach der Überschrift um eine
sachliche Besprechung der Vorgänge handeln soll. Über die deutschen
Herbstübungen hört man eigentlich nur die Versicherung, daß die
freundlichen Worte, die Kaiser Wilhelm an den griechischen König
bei dessen Eintreffen in Berlin gerichtet hatte, ein schwerer Fehler
gewesen waren, und über die französischen Manöver finden sich auch
nur einige nichtssagende Wendungen. Im besonderen hört man nichts
von den Differenzen, die sich zwischen Leitung und Führung ab-
spielten und zu einem kleinen Skandälchen entwickelten. Der Bericht-
erstatter hat aber nicht nur abfällig zu urteilen. Eine Stelle im be-
sonderen aus dem etwas chauvinistisch angehauchten Artikel: „Um
die deutsche Gefahr zu beschwören“ (pour conjurer le peril allemand)
verdient festgehalten zu werden: „Wir müßten Bismarck eine schöne
Weihekerze opfern und eine zweite Kaiser Wilhelm II., weil sie uns,
einer nach dem anderen, in einer heilsamen Furcht erhalten haben.
Ohne ihre Drohungen (richtiger würde es heißen, ohne die tat-
kräftigen Gegenzüge gegen die Rüstungen und gegen das französische
Revanchegeschrei) wäre unser Land längst in völligen Verfall geraten.“
Das ist insofern richtig, als kaum abzusehen ist, wohin die Entartung
der französischen Parlamentswirtschaft Frankreich schon jetzt geführt
hätte, wenn man der Nation nicht andauernd die militärische Möglich-
keit vor Augen hielte, schließlich mit fremder Hilfe doch noch den
bestimmenden Einfluß auf Deutschland wieder zu gewinnen. —l.
Colonel de Cissey. La cavallerie dans le groupe d’armees, l'armée et
le corps d'armée. Paris, Chapelot, 1914.
Die Neuorganisation der französischen Kavallerie, die im vorigen
Jahre auf Grund des Wehrgesetzes vom 7. August 1913 ins Leben
trat, hat die Aufmerksamkeit der militärischen Kreise nicht allein in
Frankreich, sondern auch bei uns in hervorragender Weise auf sich
gelenkt. Es handelte sich weniger um eine Vermehrung, als um
eine andere Gliederung, die geeignet war, die taktischen Grund-
sätze für die Verwendung der französischen Kavallerie in einem zu-
künftigen Kriege zu bestimmen, Grundsätze, die fast gleichzeitig
reglementarisch festgelegt wurden in der Veröffentlichung des Kriegs-
ministeriums: „Conduite des grandes unités“ vom 28. Oktober 1913
und in dem Dekret vom 2. Dezember 1913: „Service des armées en
campagne“, Titel VI Cavalerie.
Oberst de Cissey bespricht auf Grund dieser Bestimmungen die
Gliederung und die Tätigkeit der Kavallerie in einer Vereinigung
Literatur. 313
mehrerer Armeen (groupe d’armees), in einer Armee (mehrere
Armeekorps) und im Armeekorps.
Jede Gruppe von Armeen, d. i. eine Vereinigung mehrerer Armeen,
deren gemeinsame Operationen auf dem Plan des Oberkommandos
beruhen, muß vor ihrer Front ein Kavalleriekorps — bestehend aus
mehreren Divisionen — unter einheitlicher Führung haben. Dieser
Kavallerie wird hinsichtlich der Erkundung eine wichtige Rolle zu-
fallen, doch ist dies nicht ihre Hauptaufgabe, und es wäre ein großer
Fehler und ein Zeichen mangelnder Tatkraft des Armeeführers, wenn
er Ergebnisse der Erkundung erwarten wollte, ehe er einen Entschluß
faßt. Um Resultate zu erzielen, muß etwas riskiert werden. Für
die großen Truppenkörper muß der Plan, der ihre Vereinigung und
ihre ersten Operationen regelt, fertig sein, ehe man etwas vom Feinde
weiß. Er muß aufgesucht werden, um geschlagen zu werden.
Während des Vormarsches muß dann der leitende General suchen,
die Stellung und die Stärke des Gegners kennen zu lernen, um danach
seine Maßnahmen zu treffen; es wäre fehlerhaft, die Operationen leiten
zu wollen ohne Berücksichtigung der gegnerischen Maßnahmen, aber
die Hauptsache ist immer, ihn zu schlagen. Die Ausführung des
einmal gefaßten Planes aufschieben, um die Ergebnisse der Erkundungen
abzuwarten, würde der Gefahr aussetzen, dem Willen des Gegners
folgen zu müssen, anstatt ihm den unsrigen aufzuzwingen.
Ein in dieser Weise formiertes und geführtes Kavalleriekorps wird
dem Oberkommando die verschiedenartigsten und wichtigsten Dienste
leisten können: Aufklärung über die Lage des Gegners, Bestimmung
der Objekte, gegen die sich der Angriff richten kann usw. Nächstdem
bildet es aber in der Hand des Oberkommandos eine sehr bewegliche
Macht, deren energisches und überraschendes Eingreifen auf einem
Punkte des Kriegstheaters das Auftreten der anderen Waffen be-
günstigen oder selbst ein entscheidendes Resultat erzielen kann.
Der Kavallerie, die einer Armee zugeteilt ist, fällt die gleiche
Aufgabe zu, natürlich in engeren Grenzen. Nicht die Sicherung ist
ihre Aufgabe — damit sind gemischte Detachements oder kleine
Kavallerieabteilungen zu betrauen —, sondern sie soll den Feind auf-
suchen, ihn aufhalten und womöglich zurückwerfen; sie muß deshalb
immer vereinigt bleiben. — Anders ist es mit der den Armeekorps
zugeteilten Kavallerie, die dem Befehl des kommandierenden Generals
untersteht und nach der neuen Organisation aus einem Regiment
besteht. Sie bildet stets einen Bestandteil der Avantgarde und hat nicht
auf große Entfernungen aufzuklären, sondern sie hat etwa in der Be-
grenzung eines Tagesmarsches Nachrichten über die Anwesenheit oder
den Anmarsch des Feindes einzuziehen, um dadurch der Infanterie
die Möglichkeit zu schaffen, rechtzeitig die nötigen Maßregeln zu
treffen. Sie sucht den Gegner auf, kann ihn aber nicht bekämpfen;
das ist Sache der Infanterie. Der Verf. legt großen Wert auf das
gemeinsame Handeln der Kavallerie und der Infanterie, die der Avant-
Jahrbücher für die deutsche Armee und Marine. Nr. 516. 23
314 Literatur.
garde angehören. Unserer Ansicht nach geht er hierin zu weit, wenn
er sagt, daB die Kavallerieabteilungen stets dem Infanterieoffizier zu
unterstellen sind, der die in der Front oder in den Flanken detachierten
Abteilungen zu führen hat; die Infanterieoffiziere müßten deshalb
gelernt haben, die zugeteilte Kavallerie — 1 oder 2 Eskadrons — ent-
sprechend zu verwenden. Unserer Ansicht und unseren Erfahrungen
nach wird dies in vielen Fällen nicht vorteilhaft oder ausführbar
sein und für den jungen Offizier eine Aufgabe, der er nicht ge-
wachsen ist,
Erhält das Armeekorps, was häufig vorkommen wird, eine Auf-
gabe, die sein selbständiges Auftreten und Handeln verlangt, so wird
ihm mehr Kavallerie zugeteilt werden müssen. Cissey hält ein
Regiment pro Armeekorps für das Minimum und wünscht, daß man
im Kriegsfalle jeder Division eine gewisse Anzahl von Reserveeskadrons
zuteile, die zur Verstärkung oder zeitweisen Ablösung der Avant-
gardenkavallerie verwendet werden könnten.
In seinem Schlußwort sagt Oberst de Cissey, daß diese Einteilung
der Kavallerie in Kavallerie der Armeegruppen, der Armeen und der
Armeekorps schon vor 23 Jahren von G. Gilbert, dem bekannten
französischen Militärschriftsteller, empfohlen und jetzt durch das neue
Gesetz festgelegt wurde. Das Studium der Kriegsgeschichte — speziell
der Jahre 1870/71 — rechtfertige die Aufstellung selbständiger
Divisionen schon im Frieden und es sei eine glänzende Recht-
fertigung seiner — Gilberts — damals aufgestellten und verfochtenen
Lehren, daß in den letzten Jahren die Gliederung der Kavallerie
in Divisionen und die Verlängerung der Dienstzeit durchgeführt
worden sei.
Nicht allein den Kameraden von der Kavallerie, sondern allen
Offizieren kann das Buch des Oberst de Cissey zur Lektüre und zum
Studium warm empfohlen werden. v. W.
La vie militaire en France et à l’Etranger. Deuxième année 1912
à 1913. Paris, Felix Alcan.
Der im Jahre 1913 zum ersten Male erschienene vie militaire ist
jüngst der 2. Band gefolgt, der gleich dem ersten eine Reihe all-
gemein wichtiger militärischer Fragen bringt und erörtert. Es sind
hierbei, ganz im besonderen aber bei dem letzten Abschnitt des
2. Bandes, sämtliche großen Militärmächte berücksichtigt. Voraus-
zuschicken bleibt, daß die Verlagsbuchhandlung bemüht gewesen ist,
sich die Mitwirkung bedeutender und im allgemeinen sachlicher Mit-
arbeiter zu sichern, so die des General Percin, des Oberstleutnant
Mordacq u. a., es ist aber anderseits auch festzustellen, daß nicht
allenthalben eine das Buch ungünstig beeisflussende Schönfärberei
vermieden wurde. Das trifft in erster Linie für die Auseinander-
setzungen des M. Jean Dany über „les armées du monde“ zu. Von
357 Seiten, die das ganze Buch zählt, entfallen 200, also mehr als die
Literatur. 315
Hälfte, auf dieses, das allgemeinste Bemerken verdienende Kapitel.
Es ist deshalb um so mehr zu bedauern, daß der Herr Verfasser sich
reinster Objektivität zu befleißigen nicht verstanden hat. Und er ist
denn auch von Frankreichs eigener Presse sehr bald verbessert
worden. So gibt er als Friedensstärke des französischen Heeres die
Zahl 650000 Mann an! Nach dem Heereshaushalt beträgt sie aber
162450 Mann, ist also etwa 100000 Mann höher! — Unter anderem
ist bemerkenswert, was der Herr Verfasser über die Bildung der
Reservetruppenteile, über die Aufstellung von Truppen der zweiten
Linie sagt. Auch die über Schaffung von Truppenübungsplätzen ge-
gebenen Bemerkungen verdienen Beachtung.
Im allgemeinen kann das Buch empfohlen werden, jedoch nur
mit dem Hinweis, daß nicht alle Zahlen anstandslos entgegen-
zunehmen sind. H.
Fliegerkursus, Leitfaden für die Militär- und Zivilfiieger, von Josef
Flassig, K.K. Leutnant und Feldpilot der österreichischen Luft-
schifferabteilung. Wien 1913. Druckerei und Verlagsaktien-
gesellschaft vorm. R. v. Waldheim, Jos. Eberle & Co. Leipzig:
Otto Klemm. Preis 6 M.
Unter obigem Titel ist das erste Werk erschienen, das sich der
theoretischen Ausbildung von Flugführern widmet. Sein Verfasser
ist einer der bekanntesten österreichischen Militärpiloten. Seine reichen
praktischen Erfahrungen hat er ganz besonders in dem Kapitel „Die
Schule des Fliegens“ verwertet, das uns als das wichtigste und wert-
vollste des ganzen Bandes erscheint. Das Buch soll in erster Linie
auf den theoretischen Teil der Flugführerprüfung vorbereiten, für die
besondere Bestimmungen bestehen. Und deshalb haben auch die Ab-
schnitte, die sich mit den Eigenschaften der Luft, dem Luftwiderstand,
der Materialkunde und Festigkeitslehre beschäftigen, ihre Berechtigung.
Allerdings scheinen einzelne dieser Kapitel, wie z. B. das Kapitel
„Materialkunde“ zu weit auszuholen. Diese Angaben lassen sich bei
Bedarf ohne Schwierigkeit aus technischen Handbüchern herausfinden.
Hierdurch stellt sich das praktische Büchlein vielleicht unnützerweise
teuer. Ein weiteres lehrreiches Kapitel befaßt sich mit der Unter-
suchung der Brennstoffe und Schmiermittel. Ein ausführlicher Teil
ist dem Benzinmotor gewidmet. Das letzte Kapitel behandelt das
gegenwärtig sehr aktuelle Thema der flugtechnischen Photographie,
Auch hierüber existiert bisher nur eine spärliche Literatur. Alles in
allem kann diese Neuerscheinung allen Fliegern und solchen, die es
werden wollen, zur Anschaffung empfohlen werden. Bei der Reich-
haltigkeit des Inhalts wird jeder etwas finden, was ihn besonders
interessiert. Wh.
A. de Tarlöo. Murat. Paris, Chapelot, 1914.
Über Murat, den Schwager Napoleons, ist schon viel geschrieben.
Das meiste allerdings mit den Ereignissen der großen Zeit verflochten,
23°
316 Literatur.
in der er lebte und in der er seine Reitergeschwader oft dürftigster
Ausbildung mit seinem nie versagenden Angrifisgeist, theatralisch
ausgeputzt, zum Massenstoß führte. Was Tarié mit dem uns vor-
liegenden kleinen Werk für einen Zweck verfolgen will, sagt er nicht
ausdrücklich, aber man findet beim Lesen, daß er weniger die eigent-
liche Führertätigkeit, als in mehr belletristischer Art den Lebensgang
Murats schildern will. Dazu ladet dieser echte Mann von Napoleons
Gnaden auch mehr ein, als zu einer kritischen Würdigung seiner
militärischen Leistungen. Ein tüchtiger Draufgänger, wenn Napoleon
ihm klare Befehle und bestimmte Ziele gab. Versagend, wenn er
selbständig handeln sollte und sich die Aufgaben klaren Blicks selber
stellen mußte. Als ihm nach dem Zusammenbruch des französischen
Heeres 1812 in Rußland der Oberbefehl übergeben wurde, ließ er seine
Stellung im Stich und zog sich nach seinem Königreiche in Italien
zurück, Damals sagte Napoleon von ihm: „Der König hat die Armee
verlassen; er ist ein braver Soldat auf dem Schlachtfelde, aber ist
schwächlicher als ein Frauenzimmer oder ein Klosterbruder, wenn er
keinen Feind vor sich hat, er hat keine Spur von moralischem Mut‘
und’ einige Zeit später: „Nach meiner Abreise von der Armee haben
Sie sich im höchsten Grade pflichtwidrig verhalten. Das kommt von
Ihrer Charakterschwäche. Sie sind auf dem Schlachtfelde ein brauch-
barer Soldat, aber übrigens haben Sie weder Charakter noch Tat-
kraft... . Ich hoffe, Sie gehören nicht zu denen, die da glauben,
daß der Löwe tot ist, diese Rechnung wäre grundfalsch,. Nach meiner
Abreise aus Wilna haben Sie mir alles nur denkbar Schlimme zu-
gefügt, aber wir wollen davon nicht reden. Der Titel König hat
Ihnen den Kopf verdreht, wenn Sie den Titel behalten wollen, so be-
tragen Sie sich gut.“
Daß sich ein Mann wie Murat nicht aus dem Gewirr der folgenden
Ereignisse retten konnte, lag in seinem Wesen und der Natur der
Dinge. Seine standrechtliche Erschießung schloß ein zwar äußerlich
glänzendes, aber des inneren Ernstes entbehrendes Leben ab. Aber
er starb würdig, wie ein Mann, der dem Tode hundertmal unerschrockep
ins Auge gesehen hatte.
Die Schilderung Tarles ist mehr eine anregende, wenn auch nicht
immer alle Vorkommnisse in richtiger Schärfe würdigender Lesestof,
als ein belehrendes kriegsgeschichtliches Werk. Die eingefügten
Bilder sind nur teilweise gelungen. —.
—— Z
Druck von A. W. Hayn's Erben (Curt Gerber), Potsdam.
XX.
Die geschichtliche Entwickelung der neuen
französischen Taktik.
Von
Balck,
Generalmajor und Inspekteur der Feldtelegraphie.
„Il faut changer la tactique tous les dix ans“, hatte einst der
große Schlachtenkaiser gefordert, fast buchstäblich genommen, sind
die Franzosen dieser Mahnung gefolgt. Reglements bezeichnen den
Niederschlag der taktischen Anschauungen eines Zeitabschnitts; nur
nach Niederlagen findet ein scharfer Bruch mit früheren Anschauungen
statt, unter normalen Verhältnissen sind die verschiedenen Reglements
eines Heeres die Stufen in einer organischen Entwickelung, die nur
durch äußere Einflüsse vorübergehend unterbrochen sein kann. Dem
frischen Zufassen, dem Angreifen verdankte die französische Armee
ihre Erfolge im Feldzuge gegen Österreich 1859. Unter dem Eindruck
der überraschenden Schießerfolge der preußischen Infanterie im Feld-
zuge gegen Österreich war in Frankreich mit Einführung des
Chassepotgewehres dann eine Überschätzung der Feuertaktik ent-
standen, die den französischen Anschauungen bisher gänzlich fremd ge-
wesen war. In den „Observations sur l’instruction sommaire pour
les combats“ vom Jahre 1867 wurde die Defensive empfohlen. Der
Gegner sollte zum Angriff starker Stellungen veranlaßt werden, um
dann unter dem Massenfeuer der gedeckt stehenden Infanterie zu-
sammenzubrechen; planmäßig entwickelt wurde die Neigung, auf weiten
Entfernungen mit 5 bis 6 Patronen pro Gewehr und Minute zu
feuern. Die französischen Übungen zeigten deutlich folgendes Bild:
Zurückweichen der Schützen vor dem Angriff des Feindes auf Unter-
stützungen und Reserven, die verdeckt im Gelände postiert gewesen
waren, bei Annäherung des Gegners aufsprangen, ihn mit Feuer über-
schütteten, seine Verwirrung durch einen Gegenangriff ausbeuteten.
Jahrbücher für die deutsche Armee und Marine. Nr. 517.
318 Die geschichtliche Entwickelung der neuen französischen Taktik.
Der Niederschlag der Erfahrungen des Krieges von 1870 war
das unter dem Einflusse des Generals Ducrot verfaßte Reglement
vom Jahre 1875, das, beeinflußt durch die politische Lage
nach einem unglücklichen Feldzuge, mehr als je zuvor die Verteidigung
bewertete, durch Vergrößerung der Abstände und Zerlegung in kleine
Abteilungen die feindliche Feuerwirkung abschwächen wollte. Der
Schwerpunkt des Kampfes aber wurde in die Schützenlinie gelegt, die
den Kampf einleitet, durchführt und entscheidet. Hauptfeuerart war
die Salve. Das Bataillon blieb zwar die taktische Einheit, die selb-
ständig gemachten Kompagnien waren indessen die eigentlichen
Gefechtskörper.
Mit dem Wiedererstarken der eigenen Kraft erwachte das Selbst-
gefühl und das Vertrauen zu eigenen Leistungen. Das Reglement
vom 29. Juni 1884 tat einen entscheidenden Schritt vorwärts. Die
Vorzüge der Offensive wurden wieder gewürdigt, die passive Ver-
teidigung grundsätzlich verworfen, eine aktive Verteidigung nur zu-
gelassen, um eine ausgesprochene Unterlegenheit in der Zahl aus-
zugleichen. Die Entscheidung in der Verteidigung sollte durch einen
Gegenangriff herbeigeführt werden.
Der hier zum erstenmal wieder betonte offensive Gedanke des
französischen Exerzierreglements erfuhr die äußerste Steigerung in der
„Gefechtsvorschrift* (Instruction de combat) des Generals
Boulanger vom Jahre 1887. Diese verwarf eine Feuervorbereitung
des Angriffs fast gänzlich, verbot in den notwendigen Pausen während
des Vorgehens sogar das Hinlegen und suchte unter Betonung des
ernstlichen Wollens an den Feind zu gelangen, den Erfolg durch ein
übermäßig schematisiertes Angriffsverfahren zu erreichen.
„Der Angriff allein verbürgt entscheidende Erfolge, dieser Satz
muß als Grundsatz unserer militärischen Erziehung und als leitender
Gedanke bei allen Übungen betrachtet werden. Eine tapfer und
energisch geführte Infanterie kann selbst unter dem heftigsten Feuer
vorgehen, selbst gegen gut verteidigte Schützengräben und sich ihrer
bemächtigen.“ Die Frontbreite eines Bataillons sollte 250 m nicht
übersteigen. Regelmäßige Ausgangsform zum Gefecht bildet die
„Colonne pour le combat“, eine geöffnete Doppelkolonne mit gleichen
Zwischenräumen und Abständen, die bei Anwendung von Halb-
kompagnien bis auf 200 m Zwischenraum und 300 m Abstand ver-
größert werden konnten. Sobald das Feuer auf 600 m eröffnet
wurde, hatten die nachfolgenden Abteilungen ohne Rücksicht auf
Verluste im Vorgehen zu bleiben und die Schützenlinie vorzureißen.
Den Bestimmungen der französischen Gefechtsvorschrift war keine
lange Dauer beschieden; mit dem Sturze des Kriegsministers Boulanger
Die geschichtliche Entwickelung der neuen französischen Taktik. 319
brach auch seine Schöpfung zusammen. Die offensive Tendenz und
der Normalangriff sowie eine große Schichtung der Truppe nach der
Tiefe bleiben in dem neuen Reglement vom 3. Januar 1889 be-
stehen. Übernommen wurde ferner die Doppelkolonne Boulangers,
mit der Abänderung jedoch, daß die „Colonne de peloton“, die Teilung
in zwei Halbkompagnien, aufgegeben und die Zugkolonne wieder
eingeführt wurde. Die einzelnen Züge konnten gestaffelt, schachbrett-
förmig in Linie oder mit geöffneten Rotten vorgehen.
Bevorzugt wurde eine treffenweise Gliederung der Truppe, so daß
sich ganz von selbst ein Feuer- und ein Stoßtreffen ergab, die Feuer-
taktik beruhte auf Anwendung der Salve, eng gefaßte schematische
Vorschriften legten der freien Führung der Truppe Zügel an. Unter
der Herrschaft dieses Reglements geschah die Umbewaffnung der
Infanterie mit einem kleinkalibrigen Magazingewehr, dem Lebelgewehr,
mit einem Röhrenmagazin zu acht Patronen unter dem Mittelschaft.
Auf die Abfassung einer neuen Vorschrift, die am 15. April 1894
herausgegeben wurde, scheinen die Ausführungen des Verfassers des
„Sommernachtstraumes* Einfluß gehabt zu haben. Wir sehen in
dieser Vorschrift Verzicht auf Schützenlinien und Unterstützungen,
Einführung starrer geschlossener eingliedriger Linien, die unter dem
Schutze von aus den vorderen Kompagnien vorgesandten Aufklärern
vorgehen sollten.
Der Tirailleur französischer Herkunft, der vor 100 Jahren wesent-
lich dazu beigetragen hatte, die gesamte Lineartaktik über den Haufen
zu werfen, war dem Reglement fremd. In der durch die Friedens-
tätigkeit systematisch geförderten Selbsttätigkeit der Führer und
Schützen auf deutscher Seite lagen die wesentlichsten Unterschiede
der deutschen und französischen Infanterietaktik. Bei uns eine viel-
leicht zu geringe Berücksichtigung der durch die neuen Waffen be-
dingten Formen; auf der anderen Seite eine übermäßige Betonung
der Form und zu geringe Berücksichtigung des physischen und
moralischen Elemente. In der Anwendung des Reglements zeigte
sich auch der Nachteil, der bei so eng gefaßten Gefechtsvorschriften
entstehen mußte. Fast jede Division, fast jedes Armeekorps besaß
eine eigene Gefechtstaktik, die häufig genug in geradem Widerspruch
zu dem gültigen Reglement stand, so daß die Einheitlichkeit der
Anschauung in der Armee auf das ernsteste gefährdet wurde.
Die Erfahrungen des Burenkrieges mußten demnach je nach der
Auffassung der höheren Führer eine verschiedene Auffassung erfahren,
auf der einen Seite als Wortführer der General Négrier, auf der
anderen die Generale Langlois und Bonnal. General Négrier wollte
den Kampf der Massen ersetzen durch den Kampf langer dünner
248%
320 Die geschichtliche Entwickelung der neuen französischen Taktik.
Linien und durch das Zusammenwirken zahlreicher nebeneinander vor-
gehender Kolonnen. Keine starren zusammenhängenden Gefechts-
formen und eng nebeneinander gepreßte Verbände wurden mehr
geduldet, vielmehr größte Bewegungsfreiheit gefordert. Lücken zwischen
den größten Einheiten sind unbedenklich. Der Frontalangriff ist
außerordentlich schwierig, die Entscheidung muß daher durch Ver-
bindung von frontalem und flankierendem Feuer erstrebt werden.
Wenn aber der Gegner der Umfassung neue Kräfte entgegenstellt, so
muß der Angreifer die Entscheidung notgedrungen im Frontalkampf
suchen. Die Artillerie muß auf eine große Front verteilt werden,
aus der sie durch konzentrisches Feuer auf ein bestimmtes Ziel zu
wirken vermag. Das Artillerieduell ist nicht mehr erster Akt der
Schlacht. Der Verteidiger wird sein Feuer oft so spät wie möglich
eröffnen. Die Infanterie feuert nur liegend, geht sprungweise von
Deckung zu Deckung und kriecht auf den nahen Entfernungen.
Die Gegner dieser Richtung traten für schmalere Fronten und
Tiefengliederung und Herbeiführen der Entscheidung durch den Massen
stoß der unter dem Schutze des Artilleriefeuers herangeführten Reserve
ein. Die verfrühte Ausgabe eines Reglementsentwurfes vom
Jahre 1901, der den Anschluß an die Ausführungen der bis noch
vor kurzem gültigen Felddienstordnung vom 28. Mai 1895 erstrebte,
räumte mit einer Anzahl nicht mehr kriegsgemäßer Formen auf,
schaffte die Salve ab, führte als eigentliche Kampftruppe die Schützen-
linie wieder ein, gab '!der Kompagniekolonne (Züge in Marschkolonne
nebeneinander) volle Gleichberechtigung neben der schwerfälligen Zug-
kolonne; an Stelle der sehr zweckmäßigen Doppelreihenkolonne würde
eine Kolonne aus Gruppen zu vieren eingeführt. Die Gefechts-
vorschrift rechnete nur mit geplantem Angriff, bei dem in der
Division die Brigaden hintereinander Verwendung finden sollten. Jede
ins Gefecht tretende Truppe wird im Angriff und in der Verteidigung
in drei Gruppen gegliedert, in die Feuertruppe, Sturmtruppe und
Reserve.
Besonders hervorgehoben wurde die Bedeutung der moralischen
Faktoren: „Die materiellen Hilfsmittel des Reglements sind ohne
Wert, wenn sie nicht durch moralische Faktoren belebt werden. Die
Ehre ist die oberste Richtschnur für alle Handlungen der Führer und
der Soldaten. Der feste Wille zu siegen entfesselt die höchste Kraft,
die Kühnheit läßt selbst das Höchste auszuführen versuchen, durch
die feste Grundlage in der Ausbildung entstehen gegenseitiges Vertrauen
und einheitliches Zusammenwirken aller Anstrengungen. Kühnheit im
Angriff, Zähigkeit in der Verteidigung werden selbst in den ver-
zweifeltsten Fällen den Sieg an die Fahnen heften. Schon im Frieden
Die geschichtliche Entwickelung der neuen französischen Taktik. 321
vermag der Führer der Truppe seinen Geist einzuimpfen und ihren
moralischen Wert zu heben... Das Reglement kann in diesem Punkte
keine festen Sätze aufstellen, es durfte aber nicht stillschweigend die
moralischen Faktoren übergehen, ohne die ein Sieg unmöglich ist.“
Die endgültige Fassung des Reglements vom 3. Dezember
1904 suchte die Anschauung beider Parteien zu einen, allerdings war
der Vorsitzende der Reglementskommission, der General Millet, An-
hänger der N£grierschen Richtung. Ein solches, aus gegenseitigen
Zugeständnissen geschaffenes Reglement konnte die Truppe nicht be-
friedigen, wenn auch die Beseitigung eines schematischen Angriffs-
verfahrens des Entwurfs vom Jahre 1901 bis zu einem gewissen
Grade gelang.
Eigenartig aber bleibt noch eine Gliederung des Gefechtsverlaufes
in verschiedene, sich aneinander schließende Phasen.
In einer Aufsatzreihe in der „France militaire“ unterzog General
Luzeux die Vorschrift einer scharfen Kritik. „Ein Reglement ist
kein taktisches Lehrbuch, es verlangt feste Bestimmungen. Jeder
Satz ist mit ‚nach den Umständen‘ und ‚nach den Verhältnissen‘
eingeschränkt. Gewiß ist es theoretisch sehr schön gedacht, der
Freiheit des Handelns, der Einsicht des einzelnen den weitesten Spiel-
raum zu gewähren; in der Praxis erweist sich aber eine feste Norm gar
oft als unerläßlich. Die Verfasser des Reglements haben nicht unter-
scheiden können, was fest vorzuschreiben und was dem Urteil des
einzelnen zu überlassen war. Das Reglement ist für geistig sehr
hochstehende Führer geschrieben. Modern in dem Reglement ist die
Bewertung der Feuertaktik: ‚Die Infanterie erobert und behauptet
das Gelände. Sie vertreibt den Gegner endgültig aus seinen Stellungen.
Ihre beiden Kampfmittel sind das Feuer und die Vorwärtsbewegung.
Das Feuer dient zur Vorbereitung, die Vorwärtsbewegung zur Durch-
führung. Wenn das Feuer den Feind hinreichend geschwächt hat,
so beginnt die Vorwärtsbewegung, um den Feind anzugreifen. Die
Vorwärtsbewegung ist allein entscheidend und unwiderstehlich, aber
vorher muß ihr starkes, wirksames Feuer den Weg gebahnt haben.“
In Überschätzung der eigenen Feuerwirkung glaubt man geschlossene
Formen in vollem Umfange für den Angriff verwenden zu können.
Nachteilig sind die unverkennbaren und schwer zu vereinigenden
Gegensätze.“
Ganz ähnlich äußerte sich im Jahre 1912 der Oberst Reibel:
„Das Reglement ist unklar, ‘weil es alles berücksichtigen will, un-
beabsichtigt begünstigt es Untätigkeit und Zaghaftigkeit durch Be-
rücksichtigen von Einzelheiten und gewissen Vorschriftsmaßregeln und
Außerachtlassen der eigentlichen Gesichtspunkte.“ Die den Franzosen
322 Die geschichtliche Entwickelung der neuen französischen Taktik.
ungemein zusagende Angriffslust setzte sich nicht in das Suchen nach
dem Begegnungskampf um, im Gegenteil, die französischen Führer
suchen, um sicher zu gehen, den geplanten Angriff: der von der
Vorschrift gepredigten Entfesselung des Individuums steht gegenüber:
Einschränkung der Selbsttätigkeit, Denkfreiheit und Verantwortungs-
freudigkeit. Mit dem brutalen Massenstoß der Gefechts-
führung steht wenig im Einklang eine Vorliebe für Ent-
sendungen, für vorgeschobene und Aufnahmestellungen.
Vorgeschobene Detachements und Heeresavantgarden passen mehr in
den Haushalt der Verteidigung, als daß sie das Rüstzeug eines den
entscheidenden Angriff suchenden Führers sind. Das Reglement
predigt die Offensive, die Führung neigt indessen dazu, die Initiative
dem Gegner freiwillig zu überlassen. Nicht das Feuer gegen gut im
Gelände eingenistete Schützen, das der Angriff fordern muß, wird
geübt, sondern das Rafalefeuer, die Ausnützung höchster Feuerkraft
gegen die günstigen Ziele des Angreifers.
Die Bedeutung des Geländes für gedeckte Annäherung wurde
besonders hoch bewerte. „Die sorgsamste und unablässige Aus-
nützung aller im Gelände vorhandenen Deckungen gestattet es der
Infanterie, mit relativ geringen Verlusten an den Feind heran-
zukommen.“ Dieser Satz bildet den Grundzug des französischen
Reglements. Die Führung verzichtet auf zusammenhängende Fronten
und fordert den Vorteilen des Geländes entsprechend angleiche Ver-
teilung der Kräfte!) Wo Geländedeckungen fehlen, da setzt das
Feuer ein: „Le mouvement en avant seul est décisif et irresistible.
Le feu est l'element de préparation, le mouvement est l’element
d'exécution.“ Das Feuer ist nur das Mittel, die Vorwärtsbewegung
ist der Zweck, das ist der Grundzug der französischen Taktik; die
Forderung der Vernichtung des Gegners, damit Aufstellung des Satzes
von der Notwendigkeit der Feuerüberlegenheit Grundzug der deutschen
Taktik. Von der vorbereitenden infanteristischen Feuervorbereitung
schweigt das französische Reglement. Hier tritt nun die Artillerie
ein, sie soll dem Gegner zunächst die Bewegungsfreiheit nehmen, ihn
lähmen und ihn dann vernichten. Die Weiterführung des Gedankens,
daß Vorwärtsbewegung mit entscheidenden Massen der Zweck ist,
führt zu einem Verzicht auf zusammenhängende Kampflinien mit
einem Höchstmaß an Feuerkraft, sie bedingt eine übermäßige Be-
1) „Suivant la configuration du sol et la disposition particulière des
abris les troupes engagées sur le front viennent donc ... . se grouper
plus nombreuses sur les points favorables, tandis qu'elles ne laissent que
de faibles fractions sur les espaces découverts et battus“ (Nr. 258).
Die geschichtliche Entwickelung der neuen französischen Taktik. 323
wertung der Vorteile des Geländes, Entstehen von Gefechtsgruppen,
die sich an günstige Geländeteile anklammern.
Das Reglement glaubte auf geschlossene Formen für den Sturm
nicht verzichten zu können. Die Stoßtruppe soll unter voller Aus-
nutzung des Geländes an die Gefechtslinie herangeführt werden, um
dieser in biegsamen Formen, die nur wenig Verluste durch feind-
liches Feuer erleiden und nach der Tiefe gegliedert sind, als „Troupes
d'assaut“ den Antrieb zum Sturm geben. Voraussetzung ist völliges
Lähmen des Verteidigers durch Artilleriefeuer. „Nicht die unablässig
verstärkte Schützenlinie bestimmt die Zeit des ersten Erfolges, sie
hat nicht das Recht, selbständig zum Sturme vorzubrechen, falls sie
den Zeitpunkt zum Vorbrechen für gekommen erachtet, sondern von
rückwärts wird ihr der Antrieb zum Sturm gegeben. Sobald die
Masse die Feuerlinie erreicht, muß sie mit einem einzigen Sprunge
den Raum zwischen der Feuerlinie und dem Feinde durchmessen.“
(Kapitän Buat.)
Auf diese Vorschrift ist es zurückzuführen, wenn der Infanterie
vorgeworfen wird: „Man manövriere, um zu manövrieren, treibe
strategischen Dilettantismus, betrachte nicht die Handlung, durch die
man dem Gegner den eigenen Willen aufzwinge, sondern das
Manöver als Ziel der Tätigkeit. Wir haben zu viel Methoden, jeder
hat die seine und befolgt sie nicht einmal immer. Alle Weisungen
des Kriegsministers betonen nachdrücklichst Vorgehen, Offensive; die
gegebene allgemeine Richtschnur für die Manöver bezeichnet als
deren ausgesprochenen Hauptzweck, den Geist der Offensive zu
fördern.
Aber trotzdem ist dieser Geist der Offensive in Gefahr zu ver-
schwinden. Wir werden mit dem Geiste der Offensive geboren, aber
weder unsere militärische Erziehung, noch unser Kampfverfahren sina
offensiv.“
Lähmend auf den Angriffsgedanken wirkte noch eine übertriebene
Bewertung der Verbindungen und der Unterstützung des Angriffs durch
Artillerie. Stimmen machten sich geltend, daß man in dieser Richtung
des Guten bereits zu viel getan habe, „daß man die Artillerie so
gründlich mit der Infanterie verbunden habe, daß sie eines Morgens
erwachen werde, unfähig, zeitgerecht und ohne Aufforderung zu
handeln, und zwar zum größten Schaden der Infanterie)“ Über
dem geistreichen Gedanken der „Neutralisation* der feindliehen
Waffenwirkung wurde die Vernichtung vergessen. Man glaubte, im
Gegensatz zum Reglement, den Angriff in kurzer Zeit durchzuführen,
1) Cap. d’artillerie Blaise, Etudes tactiques de l'artillerie. Paris 1912.
324 Die geschichtliche Entwickelung der neuen französischen Taktik.
man will als Vorbedingnng den Gegner nicht vernichten, sondern nur
lähmen; man ignorierte die jüngste Kriegserfahrung, die nur selten
ein derartiges Angriffsverfahren gezeigt hatte, sondern weit mehr dem
deutschen Verfahren recht gab, wenn es vom langsamen, munition-
und kräfteverzehrenden Heranarbeiten an den Feind spricht, wenn es
die Notwendigkeit des entschlossenen Vorgehens zum Sturm betont,
aber auch die Schwierigkeiten des Angriffsstoßes hervorhebt.
Der Gegensatz zwischen Felddienstordnung 1895 und Exerzier-
reglement 1904, zwischen den Wortführern der beiden Parteien mußte
in hohem Maße die Ausbildung beeinflussen und Unsicherheit ver-
breiten. Etwa seit dem Jahre 1911 mehrten sich die Stimmen, die
der französischen Taktik vorwarfen, daß sie das Manöver im Gegen-
satz zur Schlacht begünstige, so daß der Geist der Offensive ver-
loren gehe. Man wolle den Angriff, aber ohne die Gefahr und den
erforderlichen Einsatz auf sich zu nehmen. Die Führung zeige sich
schüchtern im Angriff, aber angriffsfreudig in der Verteidigung; man
empfahl, „dem Feinde die Vorhand in den ersten Bewegungen zu
lassen, wenn man ihre Absicht erkannt hat, sie mit einem kräftigen
Gegenangriff zu beantworten“. So gewann das französische Kampf-
verfahren in dem Streben, etwas Besseres zu schaffen als das brutale
deutsche Angriffsverfahren, einen durchaus künstlichen Charakter.
Die Militärliteratur erkannte die Widersprüche und suchte sie zu
beseitigen durch Betonen der Bedeutung moralischer Faktoren, indem
sie an die Lehren des am 15. August 1870 in Longeville bei Metz
gefallenen Obersten Ardent de Picq anknüpfte und die Frage der
Schwächeanwandlung im Gefecht, der Paniken behandelte.
In diesem Sinne wirkten besonders der General Maudhuy in
seinem Buche „L’infanterie“ und schließlich Oberstleutnant
Montaigne in seinem breit philosophisch angelegten Werke „Vain-
cre“. Für ihn ist das Überwinden oder Nichtüberwinden der Furcht
im Menschen die Haupttriebfeder aller Vorgänge in der Kriegs-
geschichte. „Die Furcht ist unser eigentlicher Feind, sie beherrscht
uns ganz und gar, Seele, Körper, Hirn. Gegen sie müssen wir Körper,
Seele und Hirn schützen, gegen sie unser ganzes Sein stärken. Un-
bedingt liegt hierin viel Wahres, die physische Furcht ist leichter zu
bemeistern als die seelische, die sich uns erfahrungsgemäß im Mantel
taktischer Lehren zu nahen pflegt.
Diesem Streit der Meinungen machten mit einem Schlage die
neuen französischen Vorschriften für Truppenführung und Felddienst
ein Ende, indem sie ohne weiteres die von der jungen Richtung ver-
tretenen Ansichten zu eigen machte und rücksichtslos für das Vor-
handensein einheitlicher taktischer Anschauungen in der Armee ein-
Die geschichtliche Entwickelung der neuen französischen Taktik. 825
trat. Die Vorschrift „Conduite des grandes unités“ soll ein tak-
tisches Lehrbuch darstellen, an das sich der Unterricht an der Kriegs-
akademie (école supérieure de la guerre) und dem Lehrkursus für höhere
Truppenführung in Paris (centre des hautes études) unbedingt zu
halten hat. So wird es gelingen, in allen Schichten der Armee ein
heitliche Grundsätze und Bestrebungen großzuziehen, die im Kriege
reiche Früchte tragen werden.
In der Vorschrift wird die Forderung betont, die organisierten
Streitkräfte des Feindes in einer Entscheidungsschlacht schnell zu
vernichten; so geschickt entworfen es auch sein mag, das Manöver
kann wohl den Sieg vorbereiten, aber nimmermehr erringen. Be-
sitznahme eines Gebietes, Einnahme einer Festung, kann niemals die
gleiche Wirkung wie eine Schlacht erreichen. „Ausschließlicher Zweck
der Heeresbewegungen, das einzige Mittel, den Willen des Feindes zu
brechen, ist die Schlacht, und diese zu suchen, ist die erste Aufgabe
des Führers. Die begonnene Schlacht muß durchgeführt werden ohne
irgendeinen Nebengedanken bis zur äußersten Grenze der Kräfte.“
Nur der Angriff allein führt zu positivem Erfolge. Ohne jedoch die
Bedeutung der Sicherung zu unterschätzen, hat der Ausschuß bei
Bearbeitung der Vorschrift den durch Kriegserfahrungen bestätigten
Grundsatz aufgestellt, ‚daß eine jede kräftige Offensive notwendiger-
weise den Feind zu Abwehrmaßregeln zwingt, daß diese Offensive da-
her die beste Gewähr ist, den Führer und die eigenen Truppen vor
den Gefahren der Überraschung zu sichern. Der Erfolg im Kriege
hängt mehr von der Beharrlichkeit und Ausdauer in der Ausführung,
als von der Geschicklichkeit in Ausführung irgendeines Manövers ab.“
Sehr richtig ist der Hinweis, daß jede Anordnung verfrüht ist,
die auf einem abschließenden Urteil über die Bewegungen des Feindes
aufbaut, solange dieser noch die Freiheit hat, Änderungen in seiner
Gliederung vorzunehmen. Im Laufe der Operationen wird man eine
Reihe von Möglichkeiten des Handelns für den Feind ausschalten
und so schließlich seine Absichten durchschauen können; es ist daher
geboten, die Armee so zu gliedern, daß sie leicht allen Forderungen
einer wechselnden Lage Rechnung tragen kann.
Die auf Grund dieses Planes erforderlichen Entschlüsse und Be-
fehle müssen sich ohne Unterbrechung und ohne Zeitverlust folgen,
selbst auf die Gefahr hin, in das Dunkle hineinzubefehlen. Ein
Führer, der erst das Eintreffen genauer Nachrichten abwarten will,
läuft Gefahr, daß sein Gegner den Schleier durch entschlossenes
Handeln zerreißt. Sind erst einmal die Kräfte vereinigt, so gewährt
eine nach festem Plan kraftvoll geführte Offensive das beste Mittel,
dem Feinde seinen Willen aufzuzwingen. Eine solche Offensive macht
326 Höhe der mutmaßlichen Verluste im jetzigen Kriege.
Eindruck, zwingt den Feind, sich zu verteidigen und stört seine An-
griffspläne. Die Anordnungen für Ausführungen von Bewegungen
müssen die Überraschung in Rechnung stellen, um dem Feind die
Freiheit des Handelns zu nehmen; die Überraschung ist in ihrer
Wirkung für den Feind eine Gefahr, die er unmöglich und vollständig
zur richtigen Zeit beseitigen kann. Zuerst angreifen und den Feind
überraschen, wird demnach den Grundsatz des französischen Angriffs
bilden. ‚‚Jede Einheit hat die unbedingte Pflicht, der Nachbartruppe
zu Hilfe zu kommen, insoweit dieses mit ihrer Aufgabe vereinbar ist.
Anderseits hat keine Truppe das Recht, auf die Unterstützung der
Nachbartruppen zu rechnen, da die durch Lösung anderer Aufgaben
in Anspruch genommene Truppe vielfach nicht in der Lage ist, Hilfe
zu leisten. Die Seitenverbindungen dürfen niemals zur Folge haben,
die Bewegungsfreiheit einer Truppe zu beeinträchtigen und so zu
zwingen, sich eng nach dem Verhalten des Nachbarn zu richten.“
In diesem vorgezeichneten Rahmen ist das neue Exerzierreglement
für die Infanterie abgefaßt, daß unter dem 20. April 1914 die Ge-
nehmigung des Kriegsministers Noulens erhielt. Nebenher ist aber
auch noch der Entwurf eines Reglements für die Infanteriemaschinen-
gewehre vom 19. Juli 1912 vorhanden.
XXI.
Höhe der mutmasslichen Verluste
im jetzigen Kriege.
Von
von Richter, Generalmajor z. D.
Verwandte unserer im Felde stehenden Soldaten werfen ver-
schiedentlich die Frage auf, wie hoch wohl in den Kriegen der Neu-
zeit die Verlustzahl gewesen sei. Sie entstammt zweifellos dem Ge-
danken, danach annähernd die Wahrscheinlichkeit der Gefährdung
ermessen zu können, die ihren Angehörigen in dem uns aufgezwungenen,
gewaltigen Ringen droht.
Die Antwort wäre unschwer aus der Statistik zu erbringen, die
die blutigen Verluste in den verschiedenen Kriegen nachweist für
beide Teile der Kämpfenden, größere Verbände, einzelne Truppenteile
Höhe der mutmaßlichen Verluste im jetzigen Kriege. 327
und Waffengattungen. Sie wäre aber völlig ungeeignet, einen brauch-
baren Anhalt zur Beurteilung der zukünftigen Gefährdung des
Einzelnen zu geben. In der über größere Verbände aufgestellten
Statistik wechseln Truppen von sehr hohen mit solchen von sehr
niedrigen Verlusten. Jene gehörten vielleicht dem mit schweren
Opfern durchgeführten Angriff auf die Einbruchstelle an, diese einer
nicht ins Nahfeuer gekommenen Verstärkung oder Reserve. Dort
mußte möglicherweise das Vorgehen in deckungslosem Gelände er-
folgen, hier war die Annäherung an den Gegner uneingesehen möglich.
So betrugen die Verluste der Gardeschützen in der Schlacht bei
Gravelotte—St.-Privat 50°/, ihrer Stärke, die der Gardejäger nur
etwa 5,5°/,. Der hohe Satz bei den Gardeschützen ist darauf
zurückzuführen, daß sie an dem Sturm auf St.-Privat teilnahmen,
der gegen das überlegene Chassepot auf nahezu deckungslosem Ge-
lände in dichten Schützenlinien, gefolgt von geschlossenen Unter-
stützungstrupps, geführt wurde. Der niedrigere Ausfall bei den
Gardejägern erklärt sich daraus, daß sie nach Besitzergreifung von
Ste.-Marie aux Chönes in diesem Orte als Reserven zurückgehalten
wurden. So richten sich die Verluste nach den Gefechtsaufgaben,
den Kampfbedingungen und Geländeverhältnissen. Diese Umstände
sind so wechselnd, daß kein Fall dem anderen gleicht und die
Verlustziffern nicht für Berechnungen künftiger Möglichkeiten heran-
gezogen werden können.
Im allgemeinen lehrt die Kriegsgeschichte, daß die Ver-
vollkommnung der Waffen nicht eine Vergrößerung, sondern eine
Verringerung der Verluste herbeiführt, da die Gefechte auf immer
größeren Entfernungen geführt und Deckungen mehr ausgenutzt
werden. Der Russisch-Japanische Krieg erbrachte aber den Beweis,
daß besondere Eigenschaften der Gegner eine Ausnahme von der
Regel aufzustellen vermögen. Die Japaner waren Verluste wenig
beachtende, zähe Angreifer, die Russen standhafte Verteidiger. Da-
durch kam es zu Nahkämpfen, die im allgemeinen blutiger verlaufen.
Auch daraus ergibt sich, daß jeder Krieg sein eigenes Gepräge hat
und dementsprechend auch seine Begleiterscheinungen.
Eine große Beruhigung aber muß es gewähren, daß die durch
moderne Infanteriegeschosse erzeugten Verletzungen nicht entfernt
mehr die Bedeutung besitzen wie zur Zeit der Gewehre größeren
Kalibers. Aus dem Russisch-Japanischen Kriege ist bekannt, daß
selbst Lungenschüsse vielfach nicht tödlich waren, die derart Ver-
wundeten sich sogar ohne Hilfe zum Feldlazarett begeben und nach
verhältnismäßig kurzer Zeit als geheilt entlassen werden, ja einzelne
zur Truppe zurückkehren konnten. Knochenschüsse in Armen oder
328 Höhe der mutmaßlichen Verluste im jetzigen Kriege.
Beinen machen eine Amputation nur ausnahmsweise nötig; meist
bleibt die Gebrauchsfähigkeit des betreffenden Gliedes erhalten, wenn
schon zuweilen eine Verkürzung eintritt. Diese Erfahrung ist neuer-
dings durch Heilerfolge bei Kämpfern bestätigt worden, die bei
Durazzo verwundet waren. Durch Schrapnellkugeln verursachte
Wunden sind in der Regel schwerer, kommen aber nicht so häufig
vor wie die durch Gewehrgeschosse hervorgerufenen. Im Russisch-
Japanischen Kriege entfielen von 100 blutigen Verlusten beiderseits
85 auf Infanterie- und nur 15 auf Artilleriefeuer.
Weiterhin ist es trostreich, daß bekanntlich nicht jede Kugel
trifft. Früher galt die Ansicht, daß jeder Tote eine seinem Gewicht
entsprechende Masse an Eisen und Blei erfordere. Für den Krieg
1904/05 ist ermittelt, daß etwa 275 kg Geschoßgewicht dazu ge-
hörten, um 1 Mann außer Gefecht zu setzen.
Nun muß allerdings berücksichtigt werden, daß die Russen ihre
Munition häufig vergeudeten, indem sie Geländestreifen unter Feuer
nahmen, in denen sich überhaupt kein Gegner befand, oder bei Nacht
eine Kanonade eröffneten und fortsetzten, die keine Wirkung haben
konnte, und daß die Japaner wegen Unterlegenheit ihrer Geschütze
den Artilleriekampf meist auf zu großen Entfernungen mit hierfür
minderwertigen Geschossen führten, weshalb sie zur Erreichung des Ge-
fechtszweckes größere Munitionsmengen einsetzen mußten. Ähnliches
kann aber auch künftig wieder vorkommen. Bewegliche Ziele werden,
von Deckung zu Deckung eilend, sich nur kurze Zeit dem Feuer aus-
setzen, und die gegen sie gerichteten Geschosse sind ohne Erfolg,
wenn nicht zuvor die Entfernung ermittelt war. Die auf längere
Zeit an ihre Stellung gebundene, noch dazu durch Schilde geschützte
Feldartillerie verschwindet nicht selten ganz im Gelände und verrät
sich auch nicht mehr durch den Pulverrauch ihrer Geschütze; um
sie zu bekämpfen, müssen Geländestreifen von gewisser Tiefe unter
Streufeuer genommen werden, was viel Munition erfordert und die
Wirkung herabsetzt. Das sind gewichtige Gründe, die dafür sprechen,
daß die Höhe der blutigen Verluste im Verhältnis zur aufgewandten
Munitionsmenge eher sinken als steigen dürfte.
In dem jetzigen Kriege wird aber eine neue Erscheinung schärfer
hervortreten als früher. Das ist das Vertikalfeuer aus Haubitzen
mit Sprenggranaten (Füllung: Pikrinsäure, Melinit, Lyddit usw.). Die
Ansichten über seine Wirkung im Feldkriege sind geteilt. Die einen
meinen, daß erkennbare Ziele, gegen die man sich in engeren Grenzen
einschießen kann, völlig vernichtet werden, die anderen, daß wegen
geringer Streuwirkung der Geschosse gegen nicht genau festzustellende
Ziele nur ein sehr bedingter Erfolg zu erwarten sei. Die Zweifel
Ein Blick auf Verwendung und Tätigkeit der Kavallerie im Kriege 1914. 329
können erst durch Bekanntgabe des Anteils geklärt werden, den die
Feldhaubitzen an der Wirkung gehabt haben. Behalten die Anhänger
des Steilfeuers recht, so besitzen wir den Vorteil, nicht nur mit
leichten, sondern auch schweren Feldhaubitzen genügend ausgerüstet
und ausgebildet zu sein, während die Franzosen sich erst vor kurzem
zur Einführung neuer Geschütze in ihre schwere Artillerie des Feld-
heeres entschlossen, sonach noch nicht fertig gerüstet sind und den
Gebrauch des neuen Geräts nicht genügend beherrschen.
Auch die aus Luftfahrzeugen geworfenen Bomben werden dem
Steilfeuer zuzurechnen sein. Es bleibt zunächst offene Frage, welche
Wirkung sie gegen Truppen äußern.
Mit welcher Zuverlässigkeit und Rechtzeitigkeit Flugzeuge die
Erkundung verdeckter Ziele und die Beobachtung dagegen aufnehmen
werden, um das Steilfeuer aussichtsreich zur Geltung bringen zu
können, bleibt abzuwarten. Diese Ungewißheit bildet einen weiteren
Grund, weshalb über die Höhe der zu erwartenden Verluste einiger-
maßen zutreffende Mutmaßungen nicht aufgestellt werden können.
XXII.
Ein Blick auf Verwendung und Tätigkeit der
Kavallerie im Kriege 1914.
Von
Frhr. von Welck, Oberstleutnant a. D.
Seit Jahren hat man nicht nur in der Tagespresse, sondern auch
in zahlreichen Schriften auf die Möglichkeit bzw. Wahrscheinlichkeit
eines europäischen Krieges hingewiesen, in dem Frankreich und
Deutschland als die Hauptgegner betrachtet wurden, bestrebt, durch
Bündnisse ihre Kriegsstärke zu erhöhen. Viele dieser Schriften sind
sehr bekannt geworden und haben sich einer größeren oder geringeren
Aufmerksamkeit der militärischen Kreise erfreut. Wir erinnern bei-
spielsweise an: Bernhardi, Deutschland und der nächste Krieg;
Osten-Sacken, Deutschlands nächster Krieg; Hoppenstedt, Die Millionen-
schlacht an der Saar; Dinant, Einem neuen Sedan entgegen u.a. Es
ist eigentümlich, daß die in Frankreich erschienenen Schriften den
330 Ein Blick auf Verwendung und Tätigkeit der Kavallerie im Kriege 1914.
künftigen Krieg meist dramatisch ausmalen, während die in deutscher
Sprache erschienenen die Frage mehr vom kriegswissenschaftlichen
Standpunkt aus behandeln, indem sie die beiderseitigen Streitkräfte,
die Ausbildung, Bewaffnung, Taktik usw. in Vergleich ziehen. Es
bildet namentlich die Eröffnung des künftigen Krieges den Gegen-
stand vielfacher Erörterungen. Ganz allgemein aber begegnet man
der Ansicht, daß die Feindseligkeiten durch das offensive Vorgehen
und Einbrechen großer Kavalleriemassen eröffnet werden. Es hat
wohl in Deutschland keinen sich für diese Fragen Interessierenden
gegeben, der nicht überzeugt gewesen wäre, daB vom ersten Tage des
Kriegsausbruchs an unsere beiden Gegner, Frankreich und Rußland,
die Feindseligkeiten in dieser Weise eröffnen würden, daß sie die
Grenze mit starken Kavalleriemassen überschreiten und den Versuch
machen würden, unsere Mobilmachung, unseren strategischen Aufmarsch
zu stören, unsere rückwärtigen Verbindungen zu unterbrechen, Brücken,
Eisenbahnen und sonstige Verkehrsmittel zu zerstören. Von Frankreich
war man berechtigt, dies zu erwarten, weil man dort seit mehr als
40 Jahren die Revancheidee groß zog und kein Mittel unversucht
ließ, die Wehrkraft im allgemeinen und die Offensivkraft an der Ost-
grenze im besonderen zu erhöhen. Die Einführung der dreijährigen
Dienstzeit war die eingreifendste Maßregel, durch die der Bestand des
Heeres um rund 235000 Mann erhöht wurde, und die Aufstellung
eines neuen Armeekorps — des XXI. — mit dem Hauptquartier
St.-Die, also unmittelbar an der deutschen Grenze, und die Bildung
von 2 neuen Kavalleriedivisionen gestattete, deren Zahl damit von
8 auf 10 erhöht wurde.
Da wir uns hier lediglich mit der Kavallerie beschäftigen
wollen, so sei über die Aufstellung dieser 10 Divisionen, deren jede
2 Brigaden zu 3 Regimentern umfaßt, gesagt, daß nicht weniger als
7 derselben gegen die deutsche Grenze aufgestellt sind, denen aber zu Auf-
klärungszwecken noch die Korpskavallerie des 2., 6., 7., 20. und
21. Armeekorps zuzurechnen ist. Von diesen 7 Divisionen stehen 3
unmittelbar an der Grenze, 2 in zweiter Linie und 2 in dritter
Linie'). Die Divisionen sind schon im Frieden vollständig organisiert
und mit den erforderlichen Spezialwaffen versehen. Berücksicbtigt
man nun, daß der Offensivgeist in der französischen Armee von
jeher, namentlich aber in den letzten Jahren, außerordentlich empfohlen
und gepflegt wurde und daß noch im vorigen Jahre neue Vorschriften
erlassen wurden, die diesen Zweck ganz speziell für die Kavallerie
verfolgen, so war nichts berechtigter, als die oben bezeichnete An-
1) Siehe Jahrbücher f. A. u. M., Augustheft 1914.
Ein Blick auf Verwendung und Tätigkeit der Kavallerie im Kriege 1914. 331
nahme, daß wir mit einer vehementen Offensive der französischen
Kavallerie bei Kriegsausbruch würden zu rechnen haben. Daß man
sich in Frankreich mit dieser Absicht sehr lebhaft beschäftigte, geht
u. a. daraus hervor, daß die oben erwähnten, im Oktober vorigen
Jahres vom Kriegsministerium erlassenen Vorschriften über die
„Führung großer Truppenkörper* bezüglich der Kavallerie empfehlen,
mehrere Divisionen in Kavalleriekorps zu vereinigen, sie einem
gemeinsamen Chef zu unterstellen und ihm eventuell noch eine größere
Zahl von Infanteriebataillonen beizugeben. Diese Kavalleriekorps sollen
in erster Linie die feindliche Kavallerie werfen, dann aber die Er-
kundung und Aufklärung übernehmen, die feindlichen Truppen aller
Waffen aufhalten, die Umgehung auf dem Schlachtfelde durchführen
und den Rückzug decken. Als erste und wichtigste Aufgabe wird
aber stets bezeichnet, die feindliche Kavallerie zu schlagen
(. . .„il doit toujours tenir compte de la nécessité de mettre préalablement
la cavalerie ennemie hors de cause.“ ...„Tant que la cavalerie
ennemie n’a pas été battue ...le commandant du corps de cavalerie
a intérêt . . . à conserver ses divisions assez rapprochées ...“), dann erst
hat man freie Hand, sich gegen die andern feindlichen Abteilungen
zu wenden und sie mit allen Kräften anzugreifen. Diese Vorschriften
und Direktiven wurden noch weiter ausgeführt und präzisiert durch
das im Dezember desselben Jahres erschienene Reglement über den
Dienst der Armeen im Felde.
Nach diesem flüchtigen Blick auf unseren westlichen Nachbarn
fragen wir, wie steht es in dieser Beziehung bei unserem anderen
Hauptfeinde, bei der russischen Armee? Auch hier findet man schon
in Friedenszeiten eine große Ansammlung von Kavallerie längs der
Grenze und die ebenfalls schon im Frieden durchgeführte Formation
von Kavalleriedivisionen. Vor Durchführung der Kriegsvorbereitungen,
die allerdings schon wesentlich früher in Angriff genommen wurde,
als man es ahnte, waren an der Westgrenze in erster Linie
disloziert gegen Deutschland:
das 20. Armeekorps Riga mit einer Kavalleriebrigade = 2 Regimenter
a 2 Š Grodno mit der 2. Kav.-Div. = 4 š
w 3 z Wilna FE ee ? N =4 Š
” 4 n Minsk n nn ” Se oaen n
„n 6 x Bjelostock „ „ 4. 2 = ;
„ 15. 5 Warschau „ „ 6.u.15., == =
„ 19. : Brest-Litowsk m. d. 7. 5 = 5
und der 1. Don.-Kas.-Div. = 4 š
„ 23. a Warschau mit 1 Garde-Kav.-Brig. = 2 =
332 Ein Blick auf Verwendung und Tätigkeit der Kavallerie im Kriege 1914.
In zweiter Linie:
das 22. Armeekorps in Helsingfors mit 1 Kav.-Regt. = 1 Regiment
Gardekorps, 1. u. 18. Armeekorps in Petersburg
mit der 1. u. 2. Garde-Kav.-Div. = 10 Regimenter
eine Garde-Kav.-Brig. = 2 ;
13. Armeekorps in Smolensk mit einer Brigade = 2 A
Grenadier-, 17. u. 25. Armeekorps in Moskau
mit der 1. Kav.-Div. = 4 e
und 6 Sotnien Kasaken.
Gegen Österreich. In erster Linie:
das 14. Armeekorps Lublin mit der13.u. 14. Kav.-Div. = 8 Regimenter
"D o . Kowno „ „ il: % = 4
„ 12. 5 Winniza, „ 12. = —=4
und der 2. komb. Kasak.-Div. = 4
» 9. M Kiew mit der 9. Kav.-Div. . . . = 4
5.21. = Kiew „ » — s N —
In zweiter Linie:
das 10. Armeekorps Charkow mit der 10. Kav.-Div. = 4 Regimenter
Wir finden also gegen Deutschland: 10 Kavalleriedivisionen,
4 selbständige Brigaden, 1 Regiment und 6 Sotnien Kasaken, zu-
sammen 51 Regimenter, 6 Sotnien.
Gegen Österreich: 7 Kavalleriedivisiinen = 28 Regimenter.
Daß hier unmittelbarvor dem Kriegsausbruch vielfacheVeränderungen,
d. h. Verstärkungen, eingetreten sind, ist selbstverständlich. Was nun
die Gefechtskraft und wohl auch die Gefechtsausbildung der russischen
Kavallerie betrifft, so darf man sie ohne weiteres als der der
französischen Kavallerie überlegen bezeichnen. Auch das Pferde-
material ist für die Zwecke und für die Taktik der russischen
Kavallerie sehr brauchbar und namentlich sehr ausdauernd. Die
Kasaken im besonderen sind noch seit den Feldzügen 1812 und 1813,
die sie nach Deutschland und Frankreich führten, mit einem gewissen
Nimbus umgeben. In den späteren Kriegen des vorigen Jahrhunderts
wurde dieser Ruf der russischen Kavallerie allerdings nicht gerecht-
fertigt, und sowohl im Russisch-Türkischen Feldzug 1877/78, wie im
Kriege gegen Japan versagte sie gänzlich. Es war dies um so auf-
fallender, als sie in beiden Fällen sehr schwache Kavallerie gegen
sich hatte und als im Jahre 1876 die großen strategischen Kavallerie-
manöver in Polen stattgefunden hatten, die die Grundlage für die
neue Verwendung und Kampfweise der‘ Kavallerie abgeben sollten
und die, nach russischen Quellen, einen glänzenden Verlauf genommen
3 3 3 3 3
Ein Blick auf Verwendung und Tätigkeit der Kavallerie im Kriege 1914. 333
hatten. Man war hiernach und nach allem, was man sonst vom
jetzigen Stand der russischen Kavallerie gehört hatte, wohl berechtigt
anzunehmen, daß sofort nach der Kriegserklärung die russische
Kavallerie Ostpreußen und Galizien überfluten, unsere Mobilmachung
stören, unsere schwachen Grenzdetachements zurückdrängen und unsere
rückwärtigen Verbindungen unterbrechen würde. Man brauchte dabei
nicht so weit zu gehen wie die Franzosen, die die Hufe der russischen
Kasakenpferde schon auf dem Berliner Pflaster hörten. Diese An-
nahme einer entschlossenen und kühnen Offensive der russischen
Kavallerie ist aber, zum großen Teil wenigstens, illusorisch geworden,
wenn auch lange nicht in dem Maße wie bei ihren französischen
Verbündeten. An Versuchen, in dieser Weise vorzugehen, hat es
in den ersten Wochen des Krieges nicht gefehlt, sie sind aber durch-
gängig gescheitert an der Wachsamkeit, an der Tapferkeit und an
der taktischen Überlegenheit der deutschen und österreichischen
Truppen. Wir gestehen, daß wir der im Frieden schon durch-
geführten Formierung von Kavalleriedivisionen, wie sie bei unseren
beiden Gegnern besteht, einen wesentlichen Vorteil gegenüber unserer
Gliederung in Brigaden einräumten, geben aber nach den Resultaten
gern zu, daß wir uns geirrt haben, insofern, als es bei einem Material
an Offizieren, Unteroffizieren und Mannschaften wie das unsere und
bei deren moralischer und militärischer Überlegenheit wenig auf die
Form ankommt. Wir hatten geglaubt, daß es uns, mangels großer,
schon im Frieden bestehender Kavalleriekörper, vielleicht an den er-
forderlichen Führern fehlen würde, die ja gerade bei unserer Waffe
eine so überaus große Rolle spielen. Sagte doch General v. Pelet-
Narbonne in seinem bekannten Vortrag über „Die Vorbedingungen
des Erfolges für die Reiterei im nächsten europäischen Kriege“, den
er im Oktober 1904 hielt, daß er die Bedeutung der Persönlich-
keit, d. i. des Führers, für die Waffe so hoch schätze, daß alles
andere dagegen zurückträte, und Verdy schreibt, daß kein Gefecht
so große Ansprüche an das Führertalent stelle wie das einer
Kavalleriedivision.
Die Tatsachen und die Erfahrungen haben gezeigt, daß unsere
Befürchtungen grundlos waren. Die Vorbildung unserer Offiziere und
die ihnen innewohnenden moralischen Eigenschaften ermöglichen es,
stets die rechten Leute für den rechten Platz zu finden. Namen,
die bisher, weiteren Kreisen wenigstens, unbekannt waren, haben sich
jetzt als Feldherren und auch als Kavallerieführer erwiesen, die denen _
unserer Gegner weit überlegen sind und auf die das Vaterland stolz
sein kann. |
Jahrbücher für die deutsche Armee und Marine. Nr. 517. | 25
334 Ein Blick auf Verwendung und Tätigkeit der Kavallerie im Kriege 1914.
Es sind nun jetzt nahezu acht Wochen seit Ausbruch des Krieges
vorüber, und in diesen ersten Wochen mußte sich die oben bezeichnete
Tätigkeit der Kavallerie — kühnes Vordringen in das feindliche
"Gebiet — geltend machen. Von diesen Aufgaben hat die französische
Kavallerie, soweit man es nach den vorliegenden, allerdings sehr
diskreten Berichten beurteilen kann, nichts geleistet; die russische
hat, wie schon oben erwähnt, mehrfach dahin zielende Versuche ge-
macht, ist aber meistens von den Grenzschutztruppen oder von
unserer Kavallerie zurückgewiesen worden.
Um so erfreulicher ist es, daß man von unserer deutschen
Kavallerie — soweit sich bis jetzt ihre Leistungen übersehen lassen —
große selbständige Tätigkeit, Entschlossenheit und reiterliche Kühnheit
feststellen kann.
Wir werden versuchen, im nachstehenden eine kurze Übersicht
der bisher bekannt gewordenen Tätigkeit der sich gegenüberstehenden
‘Kavallerie — deutsch-österreichischen und französisch-russisch-eng-
lischen — in den ersten Wochen seit Kriegsausbruch zu geben, be-
merken aber ausdrücklich, daß wir zu diesem Zweck in der Haupt-
sache nur auf die in der Tagespresse erschienenen Berichte an-
gewiesen sind.
Wir blicken zuerst nach der Ostgrenze, von wo -die ersten
Nachrichten über das Vorgehen der feindlichen Kavallerie eintrafen.
Am 31. Juli war die allgemeine Mobilmachung der russischen Armee
und Flotte befohlen worden — 24 Stunden früher nur die von
16 Armeekorps -— und es fand infolgedessen eine Verstärkung der
russischen Grenztruppen längs der Westgrenze statt, die Eisenbahnen
wurden militärisch besetzt usw. Die 2. und 3. russische Kavallerie-
division wurde aus ihren Garnisonen Suwalki und Kowno noch näher
an die Grenze herangezogen, in den Abschnitt Wirballen— Augustowo.
Noch in der Nacht vom 1. auf 2. August überschritt eine stärkere
Kavallerieabteilung mit Geschützen die Grenze bei Schwidden, süd-
lich von Bialla, und 2 Schwadronen Kasaken reiten gegen Johannis-
burg und zerstören die Eisenbahn Johannisburg—Lyck. Sie stießen
in Johannisburg auf eine Abteilung unserer Dragoner, doch ist über
ein Gefecht nichts Näheres bekannt geworden.
Die Kasakenschwadronen gehörten angeblich dem 4. Don-
Kasakenregiment der 4. Kavalleriedivision, 6. Armeekorps — Bjelo-
stok — an.
Dieser Versuch, den Grenzschutz bei Schwidden zu durchbrechen,
wurde am 6. August wiederholt, ebenso wurde eine Überschreitung
der Grenze bei Grodken, zwischen Lautenburg und Soldau, von einer
russischen Kavalleriedivision versucht. An beiden Stellen wurden die
Ein Blick auf Verwendung und Tätigkeit der Kavallerie, im Kriege 1914. 335
Russen abgewiesen und mußten über die Grenze zurück. Auch bei
Eydtkuhnen stieß am 2. August eine russische Kavalleriepatrouille
vor, und von verschiedenen anderen Stellen - wurden Grenzüber-
schreitungen durch. kleinere Kavallerieabteilungen gemeldet, so z. B.
am 4. August gegen Tarpupönen bei Insterburg, wo ein ge-
mischtes Detachement unsere, den Grenzschutz bildende Kavallerie
angriff, aber ohne Erfolg. Sie zog sich schließlich in südlicher
Richtung wieder über die Grenze zurück. Bei Prosken in Ost-
preußen, dicht an der russischen Grenze, stieß eine deutsche Patrouille
bereits auf russische Kavallerie, und ebenso gingen gegen Wreschen
— östlich von Posen — kleinere russische Kavallerieabteilungen vor,
die abgewiesen wurden.
Am 6. August überschritt die russische 3. Kavalleriedivision
(Kowno) die Grenze bei Romeiken, südlich von Eydtkuhnen, zog
sich aber bei Erscheinen deutscher Kavallerie wieder zurück.
Am 9. August versuchte die russische 3. Kavalleriedivision über
Romeiken auf Schleuben vorzugehen, wurde aber zurückgewiesen,
Man ersieht aus diesen ersten Grenzüberschreitungen, daß die
russischen Grenztruppen auf die Mobilmachung und den Kriegs-
ausbruch wohl vorbereitet waren und durchaus nicht davon über-
rascht wurden, daß sie aber auch diesen ihren Vorteil recht zu be-
nutzen verstanden und richtigen Gebrauch von ihrer Kavallerie
machten. Daß sie die in den ersten Tagen ziemlich unverteidigte
deutsche Grenze nur mit schwachen Kavallerieabteilungen über-
schritten und infolgedessen sich größere Erfolge entgehen ließen, mag
daran gelegen haben, daß sie über den Grad unserer Kriegs-
vorbereitung nicht unterrichtet waren und deshalb erst Erkundungen
vornehmen wollten. Jedenfalls fehlte es stets an der Ausnutzung
eines errungenen Vorteils.
Vom 3. August an waren aber nun unsere Vorbereitungen längs
der Grenze auch durchgeführt, was sich sofort geltend machte, und
zwar zunächst von Schlesien aus.
Am 3. August drangen die deutschen Grenzschutztruppen über
die russische Grenze vor und besetzten nach kurzem Gefechte Czen-
stochau, Bendin und Kalisch. In Kalisch rückte das I. Bataillon
Infanterieregiment Nr, 155 mit Maschinengewehrkompagnie (Garnison
Ostrowo) und das 1. Ulanenregiment (Militsch) ein. Daß bei den
anderen Kolonnen sich ebenfalls Kavallerie in der Vorhut befand,
wird nicht besonders erwähnt, ist aber selbstverständlich.
Am folgenden Tage (4. August) besetzte unsere Kavallerie
Wielun, südlich von Kalisch. Aber auch von Ostpreußen aus begann
nun unsere Kavallerie sich geltend zu machen und die Grenze zu
25°
336 Ein Blick auf Verwendung und Tätigkeit der Kavallerie im Kriege 1914.
überschreiten. Nachdem an. diesem Tage 8 Mann einer russischen
Ulanenpatrouille bei Langwethen im Regierungsbezirk Gumbinnen
durch unseren Lanästurm gefangengenommen worden waren, drang
unsere Kavallerie über die Grenze vor und griff das von russischen
Truppen besetzte Kibarty — östlich von Stallupönen — an und
schlug die Besatzung in die Flucht. „Eine in der Nähe befindliche
russische Kavalleriedivision sah dem Kampfe untätig zu.“ Das
russische Detachement wurde verfolgt.
Der erste größere Zusammenstoß mit russischer Kavallerie fand
am 5. August bei Soldau in Ostpreußen nahe der Grenze an der
Eisenbahnlinie Soldau—Mlawa— Warschau statt. Die Russen hatten
am 4. August den Versuch gemacht, dieses Städtchen mit einer
Kavalleriedivision zu überfallen, sie gerieten aber in das Feuer unserer
Infanterie — I. Bataillon Infanterieregiment Nr. 59 — und wurden
nicht allein blutig abgewiesen, sondern eine der beiden Brigaden
wurde vernichtet, während die andere, durch unsere Kavallerie
verfolgt, bei Neidenburg weitere Verluste erlitt.
Am 7. August wurde zum ersten Male von den Versuchen
russischer Kavallerie berichtet, die Galizische Grenze zu über-
schreiten.
Sie wurden aber auch hier zum Rückzuge genötigt, während die
österreichische Kavallerie ihrerseits die galizisch-russische Grenze über-
schreitet und die Orte Olkusch und Wolbrom (zwischen Myslowitz
und Krakau) besetzt.
Am 9. August warfen unsere Grenzschutztruppen bei Bialla,
10 km östlich von Johannisburg, wo schon in den ersten Tagen Ge-
fechte stattgefunden hatten, den Angriff einer russischen Kavallerie-
brigade zurück und erbeuteten 8 Geschütze.
An der galizischen Grenze fanden beinahe täglich Scharmützel
zwischen russischer und österreichischer Kavallerie statt; es waren
hier meist Kasakenabteilungen, die in Tätigkeit treten, aber aus-
nahmslos zurückgewiesen werden und Verluste erleiden.
Bei Miechow (in Polen, nördlich von Krakau) wurde eine Ab-
teilung von 1000 Kasaken von galizischen Jungschützen überfallen
und mit einem Verluste von etwa 400 Toten und Verwundeten zum
Rüokzuge genötigt.
Am 15. August drangen 2 russische Kavalleriedivisionen, gefolgt
von Infanterie, nach dem dicht an der ostpreußischen Grenze ge-
legenen Städtchen Marggrabowa (ÖOletzko) vor und steckten es in
Brand. Sie wurden aber genötigt, sich wieder über die Grenze
zurückzuziehen. Am gleichen Tage wich ein bei Mlawa stehendes
Ein Blick auf Verwendung und Tätigkeit der Kavallerie im Kriege 1914. 337
russisches Kavalleriekorps vor dem Anmarsch einer deutschen Kolonne
nach Süden aus.
Angesichts dieser Erfolge an der russischen Grenze, wo die feind-
lichen Kavallerievorstöße, die nicht allein in großer Zahl, sondern
auch mit Geschick und Energie unternommen wurden, ausnahmslo
zurückgewiesen wurden, ist es von großem Interesse und bezeichnend
für die Lage, daß der Leiter der Presseabteilung des Großen General-
stabes, Major Nicolai, bei einer Besprechung den Vertretern der
Presse sagen konnte: „Wir haben erreicht, daß der gefürchtete
russische Kavallerie-,‚Einfall zerschellte“.
Auch Generalfeldmarschall v. d. Goltz sprach sich kürzlich im
„Tag“ in diesem Sinne aus; er sagte, daß es im Osten so aussehe,
als ob die russische Kavallerie durch die ersten üblen Erfahrungen,
die sie gemacht, von den befürchteten Einbrüchen im ost- und west-
preußischen Gebiet vorläufig abgeschreckt sei.
Faßt man also die Operationen an unserer Ostgrenze bis Mitte
August zusammen, die man wohl im allgemeinen als vorbereitende
bezeichnen darf, so zeigt es sich, daß die Befürchtung, die russische
Armee werde mit ihren an der Grenze massierten Kavallerie-
divisionen Ostpreußen, Westpreußen, Schlesien und Galizien von
Kriegsbeginn an überfluten, unbegründet war. Der deutsche und
österreichisch-ungarische Grenzschutz hat allenthalben seine Pflicht getan.
Von Mitte August an werden die Vorstöße der russischen Kavallerie
immer seltener, teils wohl ihres geringen Erfolges wegen, teils weil
sich die Truppen mehr und mehr zu großen Massen zusammenballen
und es anstatt zu Vortruppengefechten zu großen Schlachten aller
Waffengattungen kommt.
Über die Tätigkeit der Kavallerie in den großen Schlachten in
Ostpreußen sowohl wie in Galizien liegen noch keine näheren Be-
richte und Nachrichten vor; wir verlassen demnach jetzt diesen
Kriegsschauplatz und werden in einem weiteren Aufsatz im nächsten
Hefte der Jahrbücher unsere Blicke nach unserer Westgrenze lenken
und dort die Tätigkeit unserer Kavallerie sowie der französischen und
englischen verfolgen und einer kurzen Besprechung unterziehen.
338 Befestigungen und übermächtige Angriffsmittel.
XXI
Befestigungen und übermächtige
Angriffsmittel.
Von
Woelki, Oberst z. D.
Das überraschende Auftreten von 42 cm-Geschützen und deren
enorme Wirkungen vor Lüttich und Namur lenkten das Interesse
auch auf ihre Ziele wie die Deckungen gegen solche übermächtigen
Angriffsmittel überhaupt; die Frage nach Gegenmitteln und Abhilfen
wurde aktuell. |
Zweifellos haben sich ja auch Geschütze (bzw. Mörser) von solcher
bisher ungebräuchlichen Größe gegenüber den zeitig normalen Be-
festigungen als durchaus übermächtig erwiesen. Es war auch längst
eine Steigerung der gebräuchlichen und bekannten Geschütze usw. als
Angriffsmittel erwartet, wie sie der allgemeinen Entwickelung der
Technik im allgemeinen und der Geschützkonstruktion im besonderen,
dazu der neueren Geschichte (1870:21 cm, 1904/5:28 cm) entspräche;
es sickerte auch von geheim gehaltenen Vorbereitungen und Be-
schaffungen in weitere Kreise, daß auf ein neues stärkeres Material
hüben wie drüben zu rechnen sei; die tatsächliche Steigerung des
Kalibers bis auf 42 cm war schließlich doch eine große Überraschung
und der Eindruck seiner ersten Erfolge um so mächtiger.
Authentisch bekannt ist in weiteren Kreisen noch über Zahl, Art
und Handhabung der fraglichen Geschütze so viel wie nichts; sie
stehen auch noch am Anfang ihrer Geschichte in Anwendung,
Leistung, Dauer usw. Es kann darum auch hier kaum mehr als
eine theoretische Betrachtung über die einschlägigen Kriegsverhältnisse
geboten werden; immerhin mag und wird eine solche dazu dienen,
den bleibenden Wert dieser wie sonstiger übermächtiger Mittel zu be-
leuchten, ihre praktische Anwendbarkeit nach den anhaftenden Mängeln
und Vorzügen aber — unter Ausschluß aller phantastischen Über-
treibungen — zu begrenzen.
Da muß denn zunächst daran erinnert werden, daß bis vor
kurzem für alle Kriegsmittel, auch die der Belagerung bzw. zum
Angriff auf Festungen, als maßgebend angesehen wurde, daß solche
auch auf den allgemein vorhandenen Straßen und, außerhalb solcher,
mit Schmalspur- (Feld-) Bahnen an den Ort ihrer Verwendung (in
Stellung) zu schaffen möglich war. Damit war denn aber ein Kaliber
Befestigungen und übermächtige Angriffsmittel. 339
von über 25, höchstens 30 cm, ausgeschlossen. Auch der jetzt bekannt
gewordene schwere Mörser der Österreicher von 30,b # cm (Seelen-
durchmesser) erfordert denn auch zum Transport nicht nur eine
Trennung von Rohr und Lafette, sondern auch dem Vernehmen nach
einen eigenen Automobilbetrieb. Der Sprung nun auf 42 cm ist
— dem Vernehmen nach — nur dadurch ermöglicht, daß man sich
von dieser Rücksicht frei machte und für die Heranschaffung starkes
Schienenmaterial voraussetzte bzw. für stärkere Steigungen besonders
bereit hielt. Dergleichen macht freilich den Apparat entsprechend
schwerfällig. Überall hin ist er gewiß nicht — mit Vorteil — zu
schaffen, geschweige voll auszunutzen. Das kann man wenigstens
vorläufig — bis zum Eingang genauerer Berichte — voraussetzen;
selbst, wenn man annimmt, daß in den dicht mit Eisenbahnen über-
zogenen Gegenden in Mitteleuropa auch um die großen Festungen,
die ja gemeinhin auch Mittelpunkte des Verkehrs bilden, es weiter
keine Schwierigkeiten haben wird, die erforderlichen Batteriestellungen
zu finden und auszubauen. Denn damit allein ist denn doch nicht
der Standpunkt von 1412 wieder erreicht, wo eine „faule Grete“ die
Trutzburgen in der Mark nacheinander niederwarf! Vielmehr führt
gerade der Vergleich mit diesem Vorgang auf die große Verschieden-
heit und damit verbundenen Schwierigkeit in bezug auf die heutigen
Mittel und Umstände hin. Freilich, hier wie dort, jetzt wie damals
dienten übermächtige Mittel dazu, um die letzten und festesten Wider-
stände zu brechen! Und ebenso bleibt nach wie vor Vorbedingung
der Ausnutzung: eine zweifellose Übermacht des Angreifers im all-
gemeinen. Und diese Bedingung behindert und beeinflußt denn auch
die Kriegführung derart, daß sie die allgemein bevorzugte Beweglich-
keit des Heeres — wenigstens an der betreffenden Stelle und für
eine gewisse Zeit — beeinträchtigt, wenn nicht lahmlegt. Und dies
eben im Verhältnis des Unterschiedes der heutigen Kriegsverhältnisse,
Maße und technischen Mittel zu denen von vor 500 Jahren!
Überhaupt: so vorzüglich sich auch bisher die neuen über-
mächtigen Geschütze bewährt haben mögen, auch sie bleiben im
Banne und abhängig von vielfachen Verhältnissen und (günstigen)
Umständen, und je mächtiger sie sind, um so mehr.
Das beweist schon ihr kurzes bisheriges Auftreten. So haben
die Österreicher, trotz ihres eigenen Angriffs gegen Rußland, ihre be-
treffenden schwersten Geschütze entbehren und fortleihen können!
Und Frankreich ist erst recht nicht in die Lage gekommen, die etwa
bereitgehaltenen schwersten Angriffsmittel zu versuchen. Uns aber
steht noch (18. September 1914) eine Unzahl von Befestigungen
— allein in Frankreich — im Wege, darunter solche (Nancy, Verdun),
340 Befestigungen und übermächtige Angriffsmittel.
vor denen wir schon wochenlang liegen, ohne daß uns der Besitz
übermächtiger Angriffsmittel schon den Erfolg verschafft hätte; wo-
gegen wir selbst anderseits großen Vorteil von einer Festung normaler
Stärke westlich der masurischen Seen (etwa um Hohenstein) gehabt
und Milliardenwerte damit erspart hätten (wenn anders wir nicht von
vornherein für dort größere Truppenmassen übrig hatten).
Zur rechten Würdigung der neuesten und schwersten Geschütze
wird später der Vergleich von Anwendung und Leistung mit denen
der schon vorhandenen Geschütze dienen, zumal verlautet, daß erstere
in den weiteren Belagerungen, wie von Maubeuge, eben als ein Glied
unter die mancherlei Angriffsmittel einrangiert und ausgenutzt sind.
So wird wohl am besten ihre Zweckmäßigkeit erprobt; wogegen die
bisherigen „schweren Geschütze des Feldheeres“, längst über dies
Stadium hinaus, sich, wie verlautet, allenthalben ohne Anstand und
Einschränkung aufs neue voll bewährt haben. Noch am ehesten
können wir vorläufig die fraglichen neuesten Geschütze als treffenden
Ausdruck der Energie unserer Kriegführung, die stellenweise zu be-
schleunigen sie sich auch schon als geeignet erwiesen haben, schon
ansehen.
Es scheint nun wohl auch, daß fortan die alte Art der Be-
lagerung, mit völliger Einschließung und systematischem Vorgehen,
nicht mehr nötig und zu umgehen ist. Haben doch schon 1870
fortgeschrittene Geister eine andere Art der Bekämpfung von Paris
— eben ohne völlige Einschließung — angeregt, und ist auch
Sewastopol gefallen, obwohl es nur von einer Seite angegriffen war!
Kriegsmittel und deren Gebrauch, Raum- und Massenverhältnisse sind
eben im letzten Jahrhundert derart verändert, daß sie mit dem
schematischen Verfahren von früher her in Widerspruch geraten
(sind). Darum aber gibt es wohl noch der altbewährten Grund-
sätze genug, die volle Geltung behalten. Und dazu gehört in erster
Linie der:
Einsatz und möglichen Erfolg sorgfältig — vorher —
gegeneinander abwiegen! sich auch nicht auf ein bestimmtes
Verfahren — und noch weniger: Mittel — festlegen oder aus-
schließlich einrichten — vielmehr stets und in jedem Falle das
eben geeignetste, zum Erfolg am sichersten führende wählen!
Bei der großen Zahl und Verschiedenheit der zugehörigen Punkte,
Mittel und Verhältnisse, wie der wechselnden Bedürfnisse, kann dabei
auch das Aufkommen, wie der Besitz eines bisher ungebräuchlichen
und für die vorhandenen Deckungen übermächtigen Angriffsmittels,
noch nicht die bestehenden Befestigungen ohne weiteres wertlos und
hinfällig machen; — nur die Zahl der Mittel ist sicher und durchweg
Befestigungen und übermächtige Angriffsmittel 341
um ein entsprechend wirkungsvolles vermehrt, somit die Diffe-
renzierung der Mittel und Gegenmittel erschwert. Von der großen
Auswahl von Angriffsverfahren sind gleich zu Beginn des gegen-
wärtigen Krieges der Sturm — sozusagen: aus freier Hand und Ferne,
wie in unmittelbarer Folge, als teilweiser Gegensatz, die Vernichtung
der Befestigung aus der Ferne — mit bestem Erfolge vorgeführt.
Da bedarf es für jeden Einsichtigen nur eines geringen Nachdenkens,
um die Fülle der dabei in Betracht. kommenden Umstände — dar-
unter Faktoren, die immer schwer einzuschätzen und abzusehen sind
— ebenso die Gewalt der Hauptmomente — einzuschätzen, wenn
nicht schon völlig zu fassen! Und das sind nur zwei, wenn auch
besonders markante, Angriffsarten! Dazwischen und daneben gibt es
natürlich noch eine unendliche Folge von durch die verschiedensten
Umstände bedingten Verfahren.
Unter den bedingenden „Umständen“ nehmen naturgemäß hier
die Befestigungen als Ziele (Objekte) der Angriffsmittel einen ent-
sprechend großen Raum wie Maß der Wichtigkeit ein; aber es er-
scheint schlechterdings ausgeschlossen, daß ein besonderes Angriffs-
wie auch Verteidigungsmittel, und wäre es noch so mächtig und
absonderlich, für alle Fälle genügte, noch die vorhandenen Be-
festigungen bzw. Angriffsverfahren allgemein und durchweg überflüssig
und hinfällig machte.
Daß es schließlich auch Gegenmittel, selbst gegen die gewaltigsten
Zerstörungsmittel gibt, daran ist nicht zu zweifeln; es ist vielmehr
mit Sicherheit anzunehmen, daß solche genau der Energie der An-
griffskraft angepaßt werden können — theoretisch! Praktisch freilich
ist es immer ein Fehler, wenn man sich zu genau an den errechneten
oder auch durch Versuche erprobten Grad (Stand, Verhältnis an
Energie, Stärke, Widerstand usw.) hält. Zumal bei allen Ein-
richtungen, Bauten und Vorkehrungen, die für längere Zeit (als
„permanent“) bestimmt sind. Dazu sind denn doch die Fortschritte
der Technik erfahrungsgemäß zu groB — wenn nicht sprungweise.
Zu dieser Erkenntnis bedurfte es für Einsichtige auch nicht erst einer
solchen Erfahrung wie der jüngsten. Auch in den Jahrbüchern für
die Armee und Marine ist gelegentlich der Verfasser für ein „Zuviel“,
ein Übermaß der als zurzeit für nötig festgestellten Sicherungen usw.
eingetreten. (Wie er denn auch noch vor wenigen Monaten darauf
hingewiesen, daß es wohl immer leichter bleiben würde, eine „faule
Grethe“ zu beschaffen, wie überall, wo es nötig wäre, die entsprechend
starken Sicherungen anzulegen.) Aber in diesen Fragen ist stets und
vor allem das Bereitsein oder -stellen von den zugehörigen Geld-
mitteln maßgebend — und abträglich. Dies um so mehr, wenn die
342 Befestigungen und übermächtige Angriffsmittel.
Notwendigkeit der Verteidigung nicht unmittelbar und durchaus droht,
man vielmehr hoffen kann, den nächsten Krieg angriffsweise zu
führen. Ein weiterer Grund, mit Vermehrung der Verstärkung zurück-
zuhalten, kann auch der sein, daß man den Anstoß zur allgemeinen
bezüglichen Verstärkung — also auch bei den eventuellen Gegnern —
vermeiden möchte. Gereicht es doch in diesem Kriege uns nur zum
Vorteil, daß die Sicherungen (Stärken der Deckungen usw.) in den
uns vorliegenden Befestigungen so ziemlich gleichmäßig und ohne
ein „Zuviel“ gehalten sind.
Der Umstand, daß es schon von lange her ganze Befestigungen
und noch mehr Befestigungsteile gibt, die von Natur her auch der
neuesten Geschütze und Geschosse spotten, darf hier wohl nicht über-
gangen werden. Es gehören dazu zweifellos die Felsenfestungen
und solche Teile von Befestigungen, die den gewachsenen Felsen ge-
hörig ausnutzen. Gegen Skarpen und Unterkunftsräume in genügend
festem Fels sind Geschütze machtlos — von den Räumen freilich
sind nur solche und so weit sicher, als sie in ihren Wänden und
Decken nicht zu schwach gehalten oder durch Öffnungen, zumal nach
dem Feinde hin, geschwächt und gefährdet sind; die „verteidigungs-
fähigen“ Anlagen, wie Scharten usw., bilden da die schwachen
Punkte — des weiteren eine Schwierigkeit, die noch der besonderen
Durcharbeitung und Abhilfe bedarf.
Den fehlenden Felsboden künstlich durch Beton und neuerdings,
mit noch größerem Erfolge, durch Eisenbeton (Monier-Konstruktion)
zu ersetzen, ist nicht mehr neu. Schon vor mehr denn 20 Jahren
schlugen weitsichtige Ingenieure Forts als geschlossene Betonklötze
vor. Immerhm wird es diesbezüglich noch der Anpassung an die
zeitigen und in Aussicht stehenden Bedarfswiderstände wie der
Sicherung einer entsprechend starken Offensivkraft bedürfen. Teil-
weisen Anhalt hierfür bieten die vorhandenen Anlagen gegen schwerste
Schiffsgeschütze.
Ein anderes ist es, der Wirkung solch übermächtiger Angriffs-
mittel, wie sie die neuesten Landgeschütze darstellen, auszuweichen,
ihnen durch entsprechende Anordnung der Befestigungen zu begegnen.
In diesem Falle befindet sich ja die Feldbefestigung schon längere
Zeit gegenüber der schweren Artillerie des Feldheeres; sie, die Feld-
befestigung, wird ja denn auch um so weniger von dem neuen An-
griffsmittel betroffen, als sie keine dem betreffenden Aufwand an
Kraft entsprechenden Ziele bietet. Das dort, im Feldkriege, vor-
herrschende Prinzip der Verteilung und Maskierung liegt denn
auch für die permanente Ortsbefestigung nahe, — aber nur, soweit
es eben angeht. Besonders wichtige und wertvolle Punkte kann man
Belle-Alliance. 343
weder verteilen noch verstecken. Sind sie es doch gerade, auf deren
Behauptung — so wie sie eben sind — es ankommt, ja, deren Wert
oft gerade in ihrer Offensivkraft liegt! Sie zur ausschließlichen
passiven Rolle verurteilen, wäre nichts weniger, als damit die
wirksamste Art der Verteidigung aufgeben. Vielmehr kann die Ver-
teidigung, zumal als Landesverteidigung, die „stärkere Form“ nur
darstellen, wenn sie (gerade) sich vornehmlich und zumeist auch der
stärkeren Mittel bedient. Es bleibt dann nur noch übrig, die Not-
wendigkeit der Befestigung wie die Möglichkeit der Anwendung von
in Frage kommenden Angriffsmitteln ebenso genau wie umsichtig zu
prüfen — und danach, wo und wie es nötig ist, auch an Ver-
stärkung — bis zur unbedingten Sicherheit — nicht zu sparen.
XXIV.
Belle-Alliance.
(Mit einem Blatt mit 5 Bildern.)
Von
v. Hagen,
Major und Adjutant Generalkommandos XXI. Armeekorps.
Es ist im allgemeinen üblich, eine Schlacht nach einem Gelände-
punkte zu bezeichnen, der auf dem Kampffelde oder in seiner un-
mittelbaren Nähe sich befindet. Dieser Sitte folgend, haben die
Preußen die Schlacht vom 18. Juni 1815 die Schlacht bei Belle-Alliance
genannt, nach dem Pachthofe dieses Namens inmitten der französischen
Schlachtstellung, während die Franzosen vielfach von der Schlacht bei
Mont St.-Jean sprechen, nach einem Dorfe in Wellingtons Stellung,
dessen Kirchturm das Ziel der zahlreichen Sturmangriffe ihres Heeres
gewesen ist. Dagegen hat Wellington die Schlacht diejenige von
Waterloo genannt, nach einem Dorfe, das 4 km nördlich des Schlacht-
feldes liegt und mit der Schlacht selbst nichts zu tun hat. Waterloo
ist aber am Vorabend der Schlacht Wellingtons Hauptquartier ge-
wesen, und nach einem englischen Brauche wird eine Schlacht nach
dem Hauptquartier des siegreichen Feldherrn vom Vorabend der
Schlacht bezeichnet. Wellington soll also der Sieger des Tages ge-
wesen sein. In dieser Auffassung ist auch Wellingtons Schlacht-
344 Belle-Alliance.
bericht vom 19. Juni 1815 abgefaßt und läßt dem entscheidenden
Anteil des preußischen Heeres die waffenbrüderliche Anerkennung
nicht widerfahren. In jenen Tagen mögen Gründe der Staatsklugheit
Wellingtons Verhalten, wenn nicht entschuldigen, so doch in milderem
Lichte erscheinen lassen. Wellington hat aber auch späterhin nichts
getan, um seine Landsleute über den wahren Sachverhalt aufzuklären,
sondern er hat die Berichte seiner Unterführer über die Schlacht der
öffentlichen Kenntnis vorenthalten. Erst Jahrzehnte nach Wellingtons
Tode haben die sogenannten Waterloovorlesungen des Oberstleutnant
Chesney in England richtigere Anschauungen über die Schlacht ge-
zeitig. Der britische Nationalstolz indessen, der mit Recht der
glänzendsten Seesiege sich rühmen kann, hat sich daran gewöhnt,
auch den Sieg vom 18. Juni 1815, eine der bedeutungsvollsten Land-
entscheidungen aller Zeiten, für sich in Anspruch zu nehmen. Im
Hinblick auf die bevorstehende 100jährige Wiederkehr jenes denk-
würdigen Tages hat es sich die folgende Darstellung zur Aufgabe
gemacht, zu prüfen, ob der englische Anspruch berechtigt ist, und
welcher Anteil jedem der beiden verbündeten Heere an dem Siege
gebührt.
Die Darstellung konnte sich nicht auf eine Schilderung der
Schlacht allein beschränken, sondern mußte einen Überblick über den
gesamten, nur viertägigen Feldzug geben, da ohne dessen Kenntnis
eine gerechte Würdigung der Tätigkeit beider Heere am Schlachttage
selbst nicht möglich ist.
Am Abend des 14. Juni 1815, dem Vorabend des Feldzuges,
standen die Armeen an der niederländisch-französischen Grenze einander
gegenüber (Bild 1).
Die preußische Armee unter Blücher zählte 113000 Mann
(I., II., IV. A.K. je 30000, III. 23000). Die Infanterie war erst
kürzlich aus Linie und Landwehr neu zusammengestellt; die Linie
enthielt zahlreiche Rekruten, die ebenso wie ein Teil der Landwehr
der Kriegserfahrung entbehrten. Kavallerie und Artillerie waren neu
gebildet. Der Geist der Truppe war vorzüglich, ausgenommen aller-
dings bei den aus den neuen preußischen Provinzen am Rhein ent-
nommenen Mannschaften, die noch vor Jahresfrist französische Unter-
tanen waren, zum Teil unter französischen Fahnen gedient hatten.
Verpflegungsschwierigkeiten in dem zwar verbündeten, aber armen
und nur widerwillig Unterhalt gewährenden Lande nötigten zur Ein-
nahme weit ausgedehnter Quartiere, die sich längs Sambre und Maas
von Thuin bis Lüttich über 90 km in die Tiefe und beiderseits des
Hauptquartiers Namur, über 40 km in die Breite erstreokten. Die
rückwärtigen Verbindungen führten über Aachen zum Rhein.
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|
Belle-Alliance. 345
Wellingtons Heer, 93000 Mann, bestand nur zu etwa einem
Drittel aus Engländern, nämlich 32500 Mann zum Teil in Spanien
bewährter guter Truppen; 24500 Mann waren Niederländer,
36000 Mann dagegen Deutsche, d. h. Hannoveraner, Braunschweiger
und Nassauer. Diese bunt zusammengewürfelte Schar als kriegs-
brauchbares Werkzeug mit starker Faust zusammenzuhalten, mag der
„eiserne Herzog“ in seiner kalten Unnahbarkeit und unerbittlichen
Strenge der geeignete Mann gewesen sein. Die Niederländer galten
als nicht ganz zuverlässig; sie hatten noch kürzlich in französischen
Reihen gedient, unter Napoleons Herrschaft gestanden. Das Heer
war in ein I., II. Armeekorps, ein Reserve- und ein Kavalleriekorps
eingeteilt. Auch Wellingtons Quartiere zwischen Lys— Schelde—Dyle und
Sambre hatten eine große Ausdehnung — über 60 km in die Tiefe
und an der Grenze ebensoviel in die Breite —, aber nicht aus Ver-
pflegungsrücksichten, wie die preußische Armee, denn die Verpflegung
war durch Zufuhr aus England geregelt und gut, sondern aus folgenden
strategischen Erwägungen.
Es war bekannt, daß die Heere Wellingtons und Blüchers zu-
sammen den Truppen, die Napoleon an der niederländisch-französischen
Grenze vereinigen konnte, erheblich überlegen waren; daher galt ein
Angriff Napoleons für sehr unwahrscheinlich. Sollte Napoleon dennoch
angreifen, so war Wellington überzeugt, sein Angriff würde aus der
Linie Lille-Valenciennes gegen Gent oder Brüssel gerichtet sein. In
Gent hielt der flüchtige Franzosenkönig Ludwig XVIII. sich auf;
Brüssel war der Sitz der niederländischen Regierung. Die Art der
Unterbringung sollte nun nach Wellingtons Ansicht seine Armee in-
stand setzen, einem solchen Angriff die Stirn zu bieten und gleich-
zeitig die auf Antwerpen und Ostende führenden rückwärtigen Ver-
bindungen der Armee zu decken. Es ist klar, daß die Armee bei
überraschendem Angriff in ihrer Verzettelung die ihr zugedachte Auf-
gabe kaum lösen konnte, ohne empfindlichen Teilniederlagen sich aus-
zusetzen.
Wellingtons Hauptquartier lag fast in der äußersten Nordostecke
des Quartierbezirks, in Brüssel; der Gang der Meldungen und Befehle
mußte daher in einer Zeit, die, abgesehen von einfachen Feuerzeichen,
auf das Pferd als Nachrichtenbeförderungsmittel angewiesen war, er-
heblich mehr Zeit in Anspruch nehınen, als wenn der Feldherr in der
Mitte des Unterkunftsraumes oder noch näher der Grenze seinen Auf-
enthalt genommen hätte.
Die verbündeten Armeen verweilten zum Teil bereits seit April
in ihren Quartieren und warteten den Aufmarsch der Österreicher
und Russen am Mittel- und Oberrhein ab, um mit jenen gemeinsam
346 Belle-Alliance.
Ende Juni den Feldzug zu eröffnen. Anscheinend sind keine be-
stimmten Abmachungen darüber getroffen worden, wie man im Falle
feindlichen Angriffs einander unterstützen wollte, denn einmal galt
ein Angriff Napoleons, wie erwähnt, für unwahrscheinlich, dann aber
waren der Angriffsmöglichkeiten so mancherlei längs der Grenze von
Lille bis südlich Namur, daß für jeden einzelnen möglichen Fall doch
Verabredungen nicht hätten getroffen werden können. Wellington
und Blücher begnügten sich daher mit der festen Zusicherung gegen-
seitiger schleuniger Hilfeleistung.
Napoleon verfügte über 124500 Mann in 6 Armeekorps und
4 Kavalleriedivisionen. Der Gesamtheit seiner Gegner erheblich unter-
legen, dem einzelnen dagegen überlegen, hatte er den Entschluß ge-
faßt, ehe die Verbündeten aus ihren, wie ihm bekannt war, aus-
gedehnten Quartieren sich versammeln könnten, ohne vorherige Kriegs-
erklärung plötzlich in ihre Mitte einzubrechen, um sie vor ihrer Ver-
einigung zu schlagen. Als Einbruchspunkt wählte er die Gegend von
Charleroi, die er von den Preußen besetzt wußte. Hier durfte er
erwarten, daß ihm das angriffslustige Temperament des Marschall
Vorwärts eher Gelegenheit zum Kampfe und damit zum Siege geben
würde als weiter westlich das Heer des bedächtigen englischen Feld-
herrn. In Eilmärschen hatte er daher seine Truppen aus Lille,
Valenciennes, Mezieres, Diedenhofen, Paris am 14. Juni abends eng
und, wie er hoffte, überraschend um Beaumont versammelt.
Diese Hoffnung war aber trügerischh Die Bewegungen der
Franzosen sind in Namur wie in Brüssel gemeldet worden.
Da indessen in den vergangenen Wochen mehrfach alarmierende
Gerüchte von der Abreise Napoleons von Paris und von Ver-
sammlungsmärschen längs der Grenze eingegangen waren, aber jedes-
mal als falsch sich erwiesen hatten, so wurde auch diesmal den
Meldungen von der Zusammenziehung starker Kräfte bei Beaumont
kein Glauben geschenkt. Immerhin entschloß sich Blücher, seine
Armeekorps auf die möglicherweise drohende Gefahr hmzuweisen
(Bild 2) und bestimmte Fleurus dem I., Mazy dem Il., Namur dem
III. Armeekorps als Sammelpunkte bei feindlichem Angriff. Dem
am weitesten entfernten IV. Armeekorps sandte er den Befehl, sich
am 15. derart zusammenzuziehen, daß es in einem Tagemarsch
Hannut erreichen könne, d. h. die Armee blieb trotz der drohenden
Gefahr in ihren ausgedehnten Quartieren, nur der entfernteste Teil
sollte 10—15 km nach der Grenze zu aufschließen. Wellington
nahm aus den erhaltenen Nachrichten überhaupt keinen Anlaß, das
geringste anzuordnen. Zweifellos wäre es am Platze gewesen, beide
Heerführer hätten wenigstens ein Zusammenziehen der einzelnen
Belle-Alliance. 347
Divisionen oder Brigaden auf ihren Alarmsammelplätzen befohlen;
das Verharren in den weiten Quartieren in unmittelbarer Nähe des
versammelt gemeldeten Feindes war ein höchst gefährliches Unter-
nehmen.
Als gegen Mitternacht im preußischen Hauptquartier, wahr-
scheinlich durch Verrat übergegangener französischer Offiziere, ein
Angriff Napoleons am 15. erheblich an Wahrscheinlichkeit gewann,
befahl Gneisenau, Blüchers Generalstabschef, an Stelle des Feld-
marschalls, der sich zur Ruhe begeben hatte, das I., II. und
III. Armeekorps sollten am 15. bei den bereits bekannten Punkten
sich versammeln, das IV. Armeekorps sollte statt bis auf einen
Tagemarsch an Hannut nach Hannut selbst rücken.
Auffallenderweise hat der Abgesandte Wellingtons im preußischen
Hauptquartier, Oberst Hardinge, weder die neuen Nachrichten noch
die nächtlichen Befehle Gneisenaus nach Brüssel gemeldet; und auch
Blüchers Stab hat eine sofortige Mitteilung darüber an den preußischen
Vertreter im englischen Hauptquartier, den General von Müffling, ver-
absäumt (Bild 2). í
Am 15. Jumi trat Napoleon in drei Kolonnen über Châtelet-
Charleroi-Marchienne den Vormarsch an und stieß auf das
I. preußische Armeekorps, das sich bei Fleurus zusammenziehen
sollte. Die westlichsten Teile dieses Armeekorps kamen in Gefahr,
abgeschnitten zu werden, zumal die Sambrebrücken unzerstört den
Franzosen überlassen wurden; jedoch gelang es ihm am Abend
nach einem Verlust von etwa. 1200 Mann bei Fleurus sich zu
sammeln.
Inzwischen hatte Blücher am Vormittag beschlossen, seine
Armee am folgenden Tage bei Sombreffe zu versammeln in einer
Stellung Sombreffe-Tongrinne, die er schon früher hatte erkunden
lassen. Zu diesem Zweck mußte das III. Armeekorps noch am 15.
über seinen Sammelplatz Namur hinausrücken und auf das bei Mazy
sich vereinigende II. Armeekorps aufschließen, während an das
IV. Armeekorps der Befehl erging, nach einer Rast bei Hannut
möglichst noch am 15., sonst am 16. mit Tagesanbruch nach Gem-
bloux zu marschieren. Dieser Befehl blieb jedoch infolge Ungeschick
des Überbringers, einer Kavallerieordonnanz, stundenlang in Hannut
uneröffnet liegen, während das IV. Armeekorps am 15. überhaupt
nicht nach Hannut gelangte, sondern mit seiner Vorhut 13 km
östlich Hannut bei Waremme Halt machte. Das hatte folgenden
Grund:
Der Kommandierende General des IV. Armeekorps hatte den Befehl,
am 15. statt bis einen Tagemarsch östlich Hannut gleich nach Han-
348 Belle-Alliance.
nut selbst zu marschieren, erst am 15. während des Marsches in die
Quartiere östlich Hannut erhalten und die Lage nicht für so dringend
erachtet, seine für den 15. einmal gegebenen und in der Ausführung
begriffenen Befehle zu widerrufen. Dieser Ungehorsam findet in der
höflichen Form von Gneisenaus Sehreiben an den dem Patent nach
älteren General sowie in dem Fehlen näherer Angaben in diesem
Schreiben über die eigene Absicht und die Aufgaben der anderen
Armeekorps wohl keine genügende Erklärung. Er sollte sehr be-
deutungsvoll werden; denn als endlich am 16. früh der Befehl ein-
ging, möglichst noch am 15. nach Gembloux zu rücken, da trennte
eine Entfernung von über 50 km das Armeekorps von dem Sammel-
punkte der Armee bei Sombreffe, eine Entfernung, die das Korps
unmöglich in einem Tagemarsclı bewältigen konnte. Diese bedauer-
liche Tatsache ist dem preußischen Hauptquartier erst am 16. früh
bekannt geworden; bis dahin rechnete es noch auf eine Vereinigung
aller vier Armeekorps am 16. bei Sombreffe.
Napoleon begnügte sich am 15. damit, das I. preußische
Armeekorps zurückzudrängen und bezog am Abend mit dem Gros
seiner Armee Biwaks bei und nördlich Charleroi. Sein linker Flügel
drängte einen schwachen Posten Wellingtons von Frasnes auf Quatre-
Bras zurück. Bei letzterem Orte machte die französische Kavallerie
vor der nassauischen Brigade Halt, die zum I. Armeekorps des
deutsch-englisch-niederländischen Heeres gehörte.
Diese nassauische Brigade ist die einzige Truppe Wellingtons,
die am 15. ihren Standort änderte; sie tat es aus eigenem Antrieb
ohne Befehl, denn der englische Feldherr hatte noch keinerlei An-
ordnungen getroffen. Er konnte den Entschluß zur Versammlung
seines Heeres noch nicht finden, obwohl er spätestens 3° nach-
mittags darüber unterrichtet war, daß die Vorposten des I. preußischen
Armeekorps am Morgen bei Thuin angegriffen, daß also die Feind-
seligkeiten eröffnet waren. Er verharrte bei seiner vorgefaßten
Meinung, daß der Hauptangriff Napoleons weiter westlich — etwa
über Mons — gegen seine Armee erfolgen werde, und erst nachdem
zwischen 5 und 6° nachmittags der Angriff starker Kräfte unter
Napoleons persönlicher Führung auf das I. preußische Armeekorps
gemeldet war, erließ er zwischen 6 und 7° abends die ersten
Befehle. Sie ordneten im wesentlichen nur die Versammlung der
Divisionen auf den Alarmsammelplätzen an. Das hätte schon am
14. abends befohlen werden können, ohne etwas aus der Hand zu
geben. Die Versammlung der Armee behielt sich Wellington vor,
bis von Mons Meldung eingegangen wäre.
Belle-Alliance. 349
Gegen 8° abends brachte Müffling die Nachricht, daß
Blücher am 16. einen Angriff bei Sombreffe annehmen wollte und
um Nachricht bäte, wann und wo der Herzog seine Armee zu ver-
sammeln gedenke (Bild 3) Nun wurden durch Nachtragsbefehle
gegen 10° abends drei Divisionen des I. Armeekorps nach Ni-
velles, eine nach Braine le Comte, zwei Divisionen (von 3'/,) des
II. Armeekorps und das Kavalleriekorps nach Enghien beordert.
Immer noch wäre die Armee nach diesen Befehlen keineswegs ver-
sammelt, sondern auf über 20 km in Breite und Tiefe (Reservekorps
noch bei Brüssel) auseinandergezogen gewesen, mit dem linken Flügel
bei Nivelles 20 km von Sombreffe entfernt, also zur Unterstützung
der Preußen kaum in der Lage. Dabei darf man nicht übersehen,
daß erst noch diese Befehle zum Teil über 40 km in die Stabs-
quartiere der Divisionen übermittelt werden mußten, und daß dann
die Truppen noch Märsche von meist über 20, zum Teil über 40 km
zurückzulegen hatten (Bild 3).
Wellington begab sich nach Ausgabe dieser Befehle auf den
Ball der Herzogin von Richmond, den viele englische Offiziere, auch
der Führer des I. Armeekorps, der Prinz von Oranien, besuchten.
Während des Festes um Mitternacht empfing der Herzog die
Meldung, daß seine nassauische Brigade bei Quatre-Bras dem Feinde
dicht gegenüberstände. Also der Feind auf der Straße nach Brüssel,
nur noch 30 km von seinen Toren entfernt! Erst jetzt wurde der
Ernst der Lage in seiner ganzen Tragweite erfaßt. Neue Nachtrags-
befehle wurden gegeben, die jedoch weder dem Wortlaut noch dem
Inhalte nach bekannt sind. Vielleicht waren es mündliche Weisungen
an die auf dem Ballfest anwesenden Führer, die nun eiligst sich zu
ihren Truppen verfügten, um ihnen die Marschrichtung nach Nivelles
und Quatre-Bras zu geben.
Gegen !/,7° vormittags brach Wellington von Brüssel auf
und kam etwa um 10° bei Quatre-Bras an. Hier fand er den
Führer des I. Armeekorps mit einer seiner (vier) Divisionen vor, die
nach dem ursprünglichen Befehle Wellingtons bei Nivelles, 9 km
weiter westlich, stehen sollte, aber selbständig bei Quatre-Bras
Stellung genommen hatte. Der Division gegenüber befanden sich
schwache französische Vorposten.
10% vormittags sandte der Herzog folgendes eigenhändige
Schreiben an Blücher ab: Auf den Höhen hinter Frasnes. „Meine
Armee ist folgendermaßen aufgestellt: Das I. Armeekorps hat eine
Division hier und bei Quatre-Bras und den Rest bei Nivelles. Die
Reserve ist im Marsch von Waterloo nach Genappe, wo sie mittags
anlangen wird. Die englische Kavallerie wird zur gleichen Zeit in
Jahrbücher für die deutsche Armee und Marine. Nr. 517. 26
350 Belle-Alliance.
Nivelles sein. Das II. Armeekorps ist bei Braine le Comte. Ich
sehe nicht viel vom Feinde vor uns und erwarte die Nachrichten
von Euerer Hoheit und die Ankunft der Truppen, um meine
Operationen für den Tag bestimmen zu können.“ Die hier ge-
machten Angaben über die Lage von Wellingtons Heer entsprachen
bezüglich des I. Armeekorps allenfalls den Tatsachen; für die übrigen
Teile mußte die einfachste Berechnung von Raum und Zeit dem
Herzog ihre Unrichtigkeit dartun. Es ist daher schlechterdings kaum
möglich anzunehmen, er habe diese Angaben in gutem Glauben
gemacht. Dagegen liegt die Annahme nur zu nahe, Wellington habe
dadurch, daß er die Versammlung seiner Armee erheblich vor-
geschrittener erscheinen ließ, als sie es in der Tat war, Blücher zum
Stehenbleiben veranlassen wollen. Denn wenn Napoleon am 16.
nicht durch die bei Sombreffe standhaltenden Preußen gefesselt
wurde, sondern mit seinen Hauptkräften auf Brüssel vorrückte, dann
war das Heer Wellingtons in seiner Zersplitterung wehrlos. Die
einzige Möglichkeit, es aus dieser mißlichen Lage zu befreien, in die
es lediglich die durch Wellingtons Zaudern verspäteten Versammlungs-
befehle gebracht hatten, beruhte im Standhalten der Preußen.
Da die Franzosen Quatre-Bras gegenüber sich ruhig verhielten,
beschloß Wellington, sich persönlich mit Blücher in Verbindung zu
setzen, und ritt gegen 1° zur preußischen Armee hinüber nach Brye,
wo Blücher inzwischen sein I., II. und III. Armeekorps nördlich des
Ligne-Baches vereinigt hatte. Beide Feldherren trafen bei einer Mühle
östlich Brye zusammen. Leider liegen über den Inhalt der Verhand-
lungen, die zwischen Wellington und Gneisenau geführt wurden,
keine bestimmten Nachrichten vor, nur das steht fest: Wellington
hat nicht etwa die Angaben über die Versammlung seiner Armee
richtig gestellt, sondern den Verbündeten erneut in dem Vertrauen
bestärkt, daß er zur Unterstützung nicht nur gewillt, sondern auch
in der Lage sei.
Als Wellington gegen 3° nachmittags wieder bei Quatre-Bras
anlangte, fand er die dort stehende Division in heftigem, nachteiligem
Gefecht gegen eine Übermacht. Marschall Ney hatte sich mit dem
I. französischen Armeekorps und starker Kavallerie — 20000 Mann —
auf die höchstens 8000 Mann zählende Division geworfen und war
im Begriff sie zu schlagen. Da langten zwischen 3 und 4° nach-
mittags weitere Truppen des englischen I. und Reservekorps an, so
daß die Überlegenheit an Zahl allmählich auf seiten des Herzogs sich
neigte und die Franzosen auf Frasnes zurückgedrängt wurden. Erst
bei sinkender Nacht, zu spät, um am Ausgang des Kampfes noch
etwas zu ändern, traf das I. französische Armeekorps bei Frasnes
Belle-Alliance. 351
ein. Ney hatte vergeblich auf die Unterstützung dieses Korps ge-
wartet, das Napoleon bereits am 15. seinen Befehlen unterstellte.
Wir werden später die Ursachen seines Ausbleibens erfahren. Auch
auf gegnerischer Seite trafen während der Nacht noch Truppen, vor
allem das Kavalleriekorps ein, so daß schließlich 45000 Mann der
deutsch-englisch-niederländischen Armee bei Quatre-Bras versammelt
waren, während 48000 Mann, das ganze II. Armeekorps und Teile
des I. und Reservekorps bei Nivelles-Braine le Comte-Enghien und
Brüssel die Nacht verbrachten. Wellington verlegte sein Haupt-
quartier nach Genappe und beorderte für den 16. alle Truppen nach
Quatre-Bras bis auf 17000 Mann des II. Armeekorps, die bei Hal
die Straße Mons-Brüssel decken sollten, die gar nicht gefährdet war.
Vom Ausgang der am Nachmittag von den Preußen herübertönenden
Schlacht war noch nichts bekannt.
Indessen hatten die Preußen vergeblich auf die Engländer
gewartet. Blücher hatte die ursprünglich ins Auge gefaßte Stellung
Sombreffe-Tongrinne verändert, indem er den rechten Flügel in die
weniger günstige Linie St. Amand-Ligny vorschob, lediglich zu dem
Zweck, der von Quatre-Bras her erwarteten englischen Hilfe das
Eingreifen zu erleichtern. Infolgedessen bildete die preußische
Stellung einen in der Mitte nach Nordosten einspringenden Winkel
und bot ihren rechten Flügel, im Falle die englische Hilfe ausblieb,
dem Feinde zur Umfassung dar.
Um Mittag waren in dieser Stellung 81000 Mann vereinigt;
daß auf das IV. Armeekorps am 16. nicht mehr gerechnet werden
konnte, war bekannt. Es mag dahin stehen, ob. das preußische
Hauptquartier überhaupt zum Stehenbleiben sich entschlossen hätte,
wenn ihm die wahren Verhältnisse bei dem verbündeten Heere be-
kannt gewesen wären; zum mindesten muß angenommen werden,
daß der rechte Flügel alsdann in eine der Lage besser entsprechende
Stellung zurückgenommen wurde. Die von englischen Schriftstellern
aufgestellte Behauptung, Wellingtons Hilfeversprechen sei auf die
preußischen Maßnahmen am 16. eigentlich ohne Einfluß gewesen,
dürfte auf preußischer Seite keinen Glauben finden.
2% nachmittags griff Napoleon mit dem Gros seiner Armee,
dem III., IV. und Gardekorps, dem 1., 2. und 4. Kavalleriekorps,
rund 70000 Mann, an. Während der Schlacht traf das VI. Armee-
korps, 10000 Mann, bei Fleurus ein, fand aber keine Verwendung
mehr. Den ganzen Nachmittag wogte der Kampf hin und her, bis
bei sinkender Nacht die Einnahme von Ligny durch die französische
Garde die Entscheidung brachte. Der rechte preußische Flügel wurde
auf Tilly zurückgedrückt, während der linke südlich Sombreffe gegen
26*
352 Belle-Alliance.
unterlegene französische Kräfte sich hielt, Teile des hier fechtenden
III. Armeekorps gar nicht eingesetzt wurden.
Der rechte preußische Flügel wäre vernichtet worden, wenn
das ursprünglich dem Marschall Ney für den Angriff auf Quatre-Bras
unterstellte I. französische Armeekorps — 20000 Mann — so, wie
es Napoleon ihm befahl, umfassend in die Gegend westlich Brye vor-
gestoßen wäre. Allein die Anwesenheit eines Teiles der Streitkräfte
Wellingtons bei Quatre-Bras hatte wenigstens das Gute, daß sie Ney
veranlaßte, das I. Armeekorps gegen Napoleons Befehl zurückzurufen,
als es nur noch wenige Kilometer vom preußischen Flügel entfernt
war. So kam es, daß dieses Armeekorps weder bei Ligny, noch bei
Quatre-Bras am Kampfe teilgenommen hat. Der rechte preußische
Flügel aber, das I. und II. Armeekorps, vermochten unter dem
Schutze der Dunkelheit und einer Nachhut bei Brye über Tilly in
Richtung Wavre zurückzugehen, keineswegs vernichtet, wie Napoleon
beabsichtigt und gehofft, allerdings nach erheblichen Verlusten.
20000 Mann etwa hat die Schlacht den Preußen gekostet. Das
III. Armeekorps verließ das Schlachtfeld erst nach Mitternacht und
marschierte nach Gembloux. Das IV. Armeekorps war am 16. abends
nur bis Beaudeset, 4 km nördlich Gembloux, 12 km vom Schlacht-
felde entfernt, gelangt (Bild 3 u. 4).
In den letzten Kämpfen bei Ligny wurde Blücher durch
einen Sturz seines Pferdes verwundet und wäre beinahe in Gefangen-
schaft geraten. Erst in Mellery, 7 km nördlich des Schlachtfeldes,
führte ein glücklicher Zufall ihn in der Nacht wieder mit seinem
Stabe zusammen, und hier traf der greise Feldmarschall die be-
deutungsvollste Entscheidung des ganzen Feldzuges: er gab den Be-
fehl zur Versammlung des Heeres am 17. bei Wavre. Es lag nahe,
die Armee auf ihre rückwärtigen Verbindungen, also in östlicher
Richtung, zurückzuführen und an geeigneter Stelle zu vereinigen, aber
dann wäre weiterhin ein gemeinsames Handeln mit Wellington wohl
unmöglich geworden, denn es stand zu erwarten, daß in diesem
Falle auch Wellington an seinen Verbindungen festhalten und auf
seine Schiffe ausweichen werde. Die Versammlung bei Wavre da-
gegen unter Verlegung der rückwärtigen Verbindungen über Löwen
(Bild 1) erlaubte das fernere Zusammengehen mit dem Verbündeten
und legte die Grundlage für den glücklichen Ausgang des Feldzuges.
Dieser Entschluß ist dem Hauptquartier Blüchers sicherlich nicht
leicht geworden, denn das Fuhrwesen jener Tage war mangelhaft, der
Zustand der Wege kläglich; das Land, obwohl verbündet, stellte allen
Verpflegungsmaßnahmen Schwierigkeiten entgegen; schließlich war,
nicht ganz unberechtigt, wie wir gesehen haben, die Empfindung vor-
Belle-Alliance. 353
herrschend, daß dieses Wagnis der Verlegung der Verbindungen einem
Verbündeten zuliebe unternommen wurde, der sich am 16. als nicht
sehr zuverlässig erwiesen hatte.
Der Marsch nach Wavre vnllzog sich vom Feinde fast ganz un-
behelligt, beim I. und II. Armeekorps größtenteils noch in der Nacht
vom 16./17., beim III. und IV. Armeekorps dagegen erst in den
Nachmittagsstunden des 17. Am Abend des 17. finden wir alle vier
Armeekorps um Wavre versammelt, nach den Verlusten des 15. und
16. noch etwa 92000 Mann stark.
Gneisenau hatte bereits am 16. abends einen Offizier an Welling-
ton geschickt mit der Nachricht vom Ausgang der Schlacht. Dieser
Offizier wurde verwundet und konnte daher seine Botschaft nicht
ausrichten. Der Oberst Hardinge aber, Wellingtons Abgesandter im
preußischen Hauptquartier, ward ebenfalls durch eine Verwundung in
der Schlacht verhindert, seiner Meldepflicht zu genügen. Die zeit-
weilige Trennung des preußischen Hauptquartiers während des Rück-
zuges in den ersten Nachtstunden ließ diese bedauerlichen Umstände
wahrscheimlich erst spät bekannt werden. So kam es, daß Welling-
ton erst am 17. 7° früh durch einen eigens zu diesem Zweck von
ihm entsandten Offizier die Nachricht erhielt, daß Napoleon siegreich
bei Ligny stände, die Preußen im Rückzuge auf Wavre seien. Wenn
er, seinerseits vom Feinde weniger in Anspruch genommen als das
preußische Hauptquartier, schon früher Schritte zur Aufnahme der
Verbindung getan hätte, so wäre diese für ihn höchst wichtige Fest-
stellung früher erfolgt; daher kann nicht lediglich dem preußischen
Hauptquartier die Schuld beigemessen werden an diesem Vorkommnis,
das im übrigen üble Folgen nicht gehabt hat.
Es ist leicht verständlich, daß der vorsichtige Wellington es unter
diesen Umständen nicht unternehmen wollte, Napoleon allein bei .
Quatre-Bras die Spitze zu bieten, zumal über die Hälfte seiner Armee
auch am Morgen des 17. daselbst noch nicht eingetroffen war. Er
befahl daher den Rückzug auf der großen Straße nach Brüssel in
eine Stellung, die auf seine Veranlassung bereits früher erkundet und
ins Auge gefaßt war, bei Mont St. Jean, 18 km südlich Brüssel.
Aber er konnte sich immer noch nicht entschließen, seine ganze
Armee dort zu vereinigen, sondern er beließ 17000 Mann bei Hal an
der Straße Mons— Brüssel, die nicht im geringsten gefährdet war.
Das ist wohl mit Recht von vielen Schriftstellern als ein Fehler be-
zeichnet worden. Diese 17000 Mann wurden am 18. bei Mont
St. Jean schmerzlich entbehrt.
An Blücher ließ Wellington sagen, er werde Napoleon bei Mont
St. Jean standhalten, wenn zwei preußische Armeekorps zu seiner
354 Belle-Alliance.
Unterstützung herankämen. Blüchers Antwort ließ auf sich warten,
denn erst nach dem Eintreffen der besonders vom I. und II. Armee-
korps sehnlichst erwarteten Munitionskolonnen und des letzten (IV.)
Armeekorps bei Wavre in den Abendstunden des 17. war seine Armee
wieder gefechtsfähig. Daher konnte erst um Mitternacht vom 17./18.
an Wellington die Nachricht abgehen, zwei Armeekorps würden mit
Tagesanbruch von Wavre nach Chapelle St. Lambert zu Wellingtons
Unterstützung aufbrechen, die beiden anderen sollten sich bereit-
halten, zu folgen. Für die Stimmung im preußischen Hauptquartier
bezeichnend ist eine Nachschrift, die Gneisenau Blüchers Antwort bei-
fügte; darin wurde der General v. Müffling ersucht, festzustellen, ob
denn die Engländer wirklich bei Mont St. Jean stehen bleiben
wollten. Nach den Erfahrungen des 16. war man etwas mißtrauisch
geworden.
Napoleon glaubte am 17. die Preußen in aufgelöstem Rück-
zuge nach dem Rhein und beauftragte Grouchy an der Spitze von
33000 Mann, fast ein Drittel der gesamten Armee, mit ihrer Ver-
folgung. Dieser Marschall hat sich mit der Ausführung seines Auf-
trages nicht beeilt, denn wir finden ihn am Abend des 17. bei Gem-
bloux, kaum 1'/, Meilen vom Schlachtfelde von Ligny entfernt und
über den wahren Rückzug der Preußen noch ganz im unklaren.
Indessen führte Napoleon persönlich das Gros seiner Armee —
nach den Verlusten des 15. und 16. noch etwa 73000 Mann (ein-
schließlich Ney) — gegen Wellington auf Quatre-Bras vor. Er ver-
mochte nur noch mit der Kavallerie Wellingtons Nachhut zu erreichen
und ihr zuzusetzen. Am Abend machten die französischen Vortruppen
bei Belle-Alliance halt, dicht vor den englischen Stellungen. Die
Armee biwakierte in einer 7 km tiefen Kolonne beiderseits ihrer An-
marschstraße von Genappe bis Belle-Alliance (Skizze 4 u. 5).
Die Stellung, in der Wellington die Franzosen erwartete, lag
auf einem flachen Höhenrücken, der im Süden von Mont St. Jean
etwa dem Wege Braine l’Alleud—Ohain folgend von West nach Ost
zieht. Dieser Weg, damals großenteils von dichten Hecken begleitet
und eingeschnitten, bildet den vorderen Rand der Höhe nach Süden
zu. Man hatte von ihm aus einen vortrefflichen Überblick über die
wogenden Getreidefelder südlich bis zum Höhenrücken bei Mont
Plaisir—Belle-Allianee—Plancenoit und nordöstlich. Nach Norden
gewährte der Abfall des Geländes den Reserven gedeckte Aufstellung.
Braine l’Alleud war ein starker Stützpunkt im Westen der Stellung,
während die Gehöfte Hougoumont—la Haye Sainte—Papelotte—is
Haye—Smohain vorgeschobene Punkte bildeten, von denen besonders
la Haye sich gut zur Verteidigung eignete. Die Schwäche der
Belle-Alliance. 355
Stellung lag in ihrer östlichen Flanke, wo zahlreiche Waldstücke dem
Feinde gedeckte Annäherung ermöglichten. Sie war durch den An-
marsch der Preußen gesichert.
Wellington ließ am 18. früh die Stellung ohne Rücksicht auf die
Kriegsgliederung derart besetzen, daß die nicht zuverlässigen Nieder-
länder mit einer Division außerhalb der eigentlichen Stellung bei
Braine l'Alleud. mit einer Brigade in der Mitte nordöstlich la Haye
Sainte von deutschen und englischen Kerntruppen umrahmt standen,
während ihre Kavalleriedivision bei Mont St. Jean in Reserve zurück-
gehalten wurde. Vortruppen hielten die vor der Front liegenden
Gehöfte stark besetzt. Rund 69000 Mann — 31000 Deutsche,
24000 Engländer, 14000 Niederländer — waren so in der Haupt-
sache in einer Front von wenig über 3 km vereint — heute die Aus-
dehnung einer Infanteriedivision.
Napoleon vollzog in den Morgenstunden des 18. seinen Auf-
marsch zu beiden Seiten der Straße Genappe — Belle-Alliance: I. und
II. Armeekorps in vorderer Linie, dahinter VI., Kavallerie und Garde.
Er sah bei dieser Gelegenheit — zum letzten Male — einen großen
Teil seines Heeres an sich vorbeimarschieren, indem er seitlich der
Marschstraße bei Rosomme seinen Standort gewählt hatte. Aus
vielen Tausend Kehlen tönte der begeisterte Ruf „vive l’empereur!“
zur englischen Stellung hinüber, von wo man das eindrucksvolle
Schauspiel deutlich verfolgen konnte. Da Napoleon abwartete, bis
der größte Teil der Armee aus den tief gestaffelten Biwaks auf der
einen Straße heranmarschiert und in dem von nächtlichen Regen-
güssen aufgeweichten Erdreich seitlich der Straße an den befohlenen
Stellen eingetroffen war, verzögerte sich der Angriff bis gegen Mittag
— ein verhängnisvoller Aufschub, denn trotz grundloser Wege
arbeiteten sich inzwischen die Preußen von Wavre her durch die
Sümpfe des Lasnebaches gegen die rechte Flanke der Franzosen heran,
Um 11° begann die Schlacht mit einem Angriff der linken
Flügeldivision des II. französischen Armeekorps auf Schloß Hougou-
mont. Der Busch südlich des Schlosses wurde genommen, die Be-
satzung des Schlosses aber — 4 englische Gardekompagnien,
1 Bataillon Nassauer, 2. Kompagnien Hannoveraner — hielt sich.
Der Kampf um das Schloß währte ununterbrochen erbittert bis zum
Ende der Schlacht, doch ohne, daß es dem Angreifer gelungen wäre,
auch nur vorübergehend in den Besitz der Schloßgebäude zu gelangen,
obwohl späterhin auch noch Teile einer zweiten Division des II. fran-
zösischen Armeekorps dagegen eingesetzt wurden.
Um 1° war Napoleon im Begriff, den Hauptangriff gegen
die linke Hälfte der englischen Stellung anzusetzen, als er von seinem
356 Belle-Alliance.
Standpunkt südlich Belle-Alllance mit dem Glase dunkle Marsch-
kolonnen östlich der Waldungen bei Lasne zu erblicken glaubte und
gleichzeitig von einem aufgefangenen Schreiben des Generals v. Bülow
(IV. preußisches Armeekorps) an Müffling Kenntnis erhielt, wonach
Bülow die französische rechte Flanke angreifen wollte. Napoleon ent-
sendete daher die ihm zunächst befindlichen beiden Kavalleriedivisionen
(Domon nnd Subervie) zum Schutze der rechten Flanke und ließ ihnen
alsbald das VI. Armeekorps (ohne eine bei Grouchy befindliche
Division etwa 8000 Mann) folgen nach der Gegend nordöstlich Plan-
cenoit. Damit waren lediglich durch die Annäherung der Preußen
bereits 10000 Mann von 73000 dem Kampfe gegen Wellington ent-
zogen, die ursprüngliche Überlegenheit Napoleons schon jetzt in eine
Unterlegenheit um etwa 6000 Mann verwandelt.
Um 1° begann der Hauptangriff mit dem Feuer einer Artillerie-
linie von 80 Geschützen des I. und II. Armeekorps auf die Mitte
der feindlichen Stellung und um 2° traten die 4 Divisionen des
I. Armeekorps zwischen Papelotte und Straße Belle-Alliane—Mont
St. Jean zum Angriff an. Da das Geschützfeuer die Deutschen und
Engländer hinter dem deckenden Höhenrande nicht zu fassen
vermochte — nur die niederländische Brigade (Bylandt) östlich
la Haye Sainte auf dem vorderen Hange stehend, hat stark darunter
gelitten —, traf der Angriff auf unerschütterte Infanterie; zudem in
ungewohnter und ungeschickter Form, nämlich in dieken Divisions-
kolonnen, unternommen, scheiterte er unter großen Verlusten. Die
Kavalleriebrigaden Posonby und Somerset stürzten den weichenden
Franzosen nach, ließen sich aber zu weit fortreißen und erlagen den
Kürassieren Milhauds und den Lanciers Jacquinots.
Es trat nun eine Pause in der Schlacht ein, nur bei Hougoumont
tobte der Kampf weiter.
Etwa 4° nachmittags schien ein erneuter Vorstoß des I. fran-
zösischen Armeekorps gegen la Haye Sainte mehr Erfolg zu haben.
Dies gewahrend, stürzte Ney an der Spitze des 4. Kavalleriekorps
auf die Deutschen und Engländer dicht westlich la Haye Sainte. Er
traf auf die im Laufschritt heraneilenden Reserven: das Korps Braun-
schweig, die Brigaden du Plat, W. Halkett, Adam, das nassauische
Regiment unter Kruse, und wurde von ihnen im Verein mit den
Kavalleriebrigaden Grant, Dörnberg, Arentsschild. Somerset blutig ab-
gewiesen. Die französische Gardekavalleriebrigade Lefebre nahm die
Zurückströmenden auf und riß sie wieder vor. Der Angriff wurde
erneut, indes nach hartnäckigem Kampfe abermals abgeschlagen.
Jetzt tönte Kanonendonner aus östlicher Richtung: bei Plance-
noit war der Kampf gegen die Preußen entbrannt. Die Lage war
Belle-Alliance. 357
für die Franzosen äußerst bedenklich geworden; Ney hatte an-
scheinend den Eindruck, als ob ein Erfolg gegen Wellington nur
noch möglich sei, wenn er sofort errungen würde. Daher stürzte er
sich, vor Kampfeswut jeder ruhigen Überlegung unfähig, etwa
5° nachmittags mit den eben geworfenen Reiterscharen erneut auf
den Feind. |
Diesmal spielte sich der Kampf vor allem westlich la Haye Sainte
bis nördlich Hougoumont ab; auch die letzten Reserven Wellingtons
wurden in ihn verwickelt. Gleichzeitig ging das unermüdliche
I. französische Armeekorps erneut vor, und nun endlich gelang es
ihm, la Haye Sainte seinen heldenmütigen Verteidigern, Hannoveranern
und Nassauern, zu entreißen. Wellingtons Mitte nördlich la Haye Sainte
wurde durchbrochen, seine Lage kritisch. Flüchtige bedeckten die
Straße Mont St. Jean—Brüssel. Frische Truppen, die Lücke zu
schließen, waren wohl noch vorhanden, nämlich auf den äußersten
Flügeln, aber sie waren nicht rechtzeitig heranbeordert. Es ist
daher verständlich, wenn jetzt Wellington den Befehl zum Rückzug
gegeben hat, wie es Fürst Thurn und Taxis in einem Briefe vom
Schlachtabende selbst an den Feldmarschall Fürst Wrede bezeugt.
Indes die Ausführung sollte ihm erspart bleiben, denn auch Neys
Kräfte waren erschöpft und seine Bitte an Napoleon um Unterstützung
verhallte ungehört.
Ursprünglich sollte das VI. Armeekorps Neys Angriff unter-
stützen, indessen dieses Armeekorps stand schon seit einer Stunde
im erbitterten Kampfe mit den Preußen; seine letzte Reserve, die
Garde, wagte aber Napoleon angesichts der noch ungeklärten Lage
in seiner rechten Flanke vorerst weder bei Plancenoit noch gegen
Mont St. Jean zur Entscheidung einzusetzen. An die vom Kampfe
noch unberührte rechte Flügeldivision des II. französischen Armee-
korps scheint in der Hitze des Gefechtes niemand gedacht zu haben.
So vermochte Ney seinen Erfolg nicht auszubeuten, sondern nur
la Haye Sainte einstweilen zu behaupten, Wellington aber gewann Zeit,
von seinem rechten Flügel die Brigade Clinton und die niederländische
Division Chasse, vom linken Flügel die Brigaden Vivian, Vandeleur,
Vincke heranzuziehen. Letztere waren entbehrlich geworden, da
auch bei Ohain mittlerweile preußische Truppen eingetroffen waren.
Den Preußen wenden wir uns nun zu.
Blücher hatte für den 18. die Anordnung getroffen, daß das
IV. Armeekorps mit Tagesanbruch über Wavre auf Chapelle St. Lam-
bert aufbrechen, das II. Armeekorps ihm folgen solle. I. und
III. Armeekorps hatten sich bereit zu halten, ebenfalls den Abmarsch
anzutreten. Zweifellos ist die Maßnahme, die beiden zuerst für
358 Belle-Alliance.
den Abmarsch bestimmten Armeekorps auf eine Straße hintereinander
zu setzen und dazu das am weitesten östlich biwakierende Korps an
den Anfang, keine glückliche zu nennen, so erwünscht es vielleicht
war, das IV. Armeekorps, das noch nicht gefochten hatte, zuerst
an den Feind zu bringen.
Als die Vorhut des IV. Armeekorps Wavre durchschritt, brach
ein Brand im Dorf aus, der im Verein mit den Bagagen des II. und
IV. Armeekorps, die nach Löwen (Bild 1) bestimmt waren, und
deren Bewegung anscheinend gleichfalls nicht sehr geschickt geregelt
war, die Durchmarschstraße zeitweise sperrte. Daher erweiterte sich
der Abstand zwischen Vorhut und Gros des IV. Armeekorps auf
mehrere Kilometer. Des weiteren hielten grundlose Wege und die Sümpfe
des Lasnebaches die Truppen auf, und es bedurfte des persönlichen
Eingreifens und ermunternden Zuspruchs Blüchers. um diese Schwierig-
keiten zu überwinden. So kam es, daß die Vorhut des IV. Armee-
korps erst 9° vormittags bei Chapelle St. Lambert, 13 km von
ihrem Biwakplatz südöstlich Wavre, ankam, während das Gros gar
erst 3° nachmittags daselbst eintraf.
Während des Marschs um Mittag ging eine Mitteilung
Wellingtons bei Blücher ein, die dringend die Heranführung eines
Armeekorps unmittelbar an den linken Flügel von Wellingtons
Stellung erbat. Nun erhielt das südwestlich Wavre biwakierende
1. Armeekorps den Befehl, nach Ohain zu marschieren. Das konnte
nur unter Kreuzung der Marschstraße des IV. und II. Armeekorps
geschehen. Die Vorhut des I. Armeekorps benutzte die Lücke
zwischen Vorhut und Gros des IV. Armeekorps, um diese Straße zu
überwinden; das Gros des I. Armeekorps mußte den Vorbeimarsch des IV.
und II. Armeekorps abwarten und kam daher zum Eingreifen in die
Schlacht zu spät. Nach alledem muß man cs als ein großes und
durch die getroffenen Anordnungen nicht gerade verdientes Glück
bezeichnen, daß die Preußen zur Entscheidung bei Belle-Alliance
noch zurecht gekommen sind. Hätte Napoleon am 18. in der Frühe
angegriffen — und die preußische Heeresleitung mußte damit
rechnen, daß dies der Fall sein würde —, so wäre die deutsch-
englisch-niederländische Armee wahrscheinlich vor Ankunft der Preußen
geschlagen worden.
Um Mittag bei Ch. St. Lambert eintreffend ließ Blücher
sofort das Bois de Paris westlich des Lasnebaches von Bülows Vorhut
besetzen und die nach und nach eintreffenden Truppen daselbst auf-
marschieren. Er selbst beobachtete vom Westrande dieses Waldes
den Gang der Schlacht und als er kurz nach 4° nachmittags die
Bedrängnis des verbündeten Heeres erkannte, setzte er 4% nach-
Belle-Alliance. 359
mittags die zur Stelle befindlichen beiden vorderen Brigaden des
IV. Armeekorps mit der Richtung auf den Pachthof von Belle-
Alliance zum Angriff an. Die Brigaden drängten die französische
Kavallerie und die Vortruppen des VI. Armeekorps, die sich ihnen
entgegenstellten, auf Plancenoit und nördlich zurück und schritten
zum Angriff auf dieses Dorf. |
Gerade als der Kampf um Plancenoit entbrannte, langte vom
Ill. Armeekorps aus Wavre die Meldung an, daß es von überlegenen
Kräften angegriffen würde — Grouchy mit seinen 33000 Mann war
gegenüber dem wenig über 20000 Mann zählenden III. Armeekorps
vor Wavre erschienen. Blücher ließ antworten: das Korps solle
sich allein verteidigen, so gut es könne; die Entscheidung liege bei
Mont St. Jean!
Die Osthälfte von Plancenoit wurde vom IV. Armeekorps im
ersten Ansturm genommen. Angesichts dieser Gefahr für Flanke und
Rücken seiner Armee entsandte Napoleon fast die Hälfte seiner
Garde — 10 Bataillone von 23500 Mann —, um das Dorf wieder
zu nehmen. Es gelang, aber die Preußen griffen erneut an. Noch
mehrfach sollte in hin- und herwogendem erbitterten Häuserkampf
das Dorf den Besitzer wechseln, bis bei sinkender Nacht der Sieg
sich endgültig den Preußen zuneigte.
6° abends erreichte die Vorhut des I. preußischen Armeekorps
Ohain und gab Wellington, wie oben erwähnt, durch ihr Erscheinen
die Möglichkeit, drei Brigaden vom linken Flügel nach der durch-
brochenen Mitte zu ziehen; das preußische II. Armeekorps begann
hinter dem IV. einzutreffen.
Es war etwa 7° abends. Der Kampf um Plancenoit tobte
noch unentschieden, das Korps Zieten näherte sich Papelotte, da
entschloß sich Napoleon zu einem letzten verzweifelten Versuch, die
kurz vorher erschütterte und durchbrochene englische Mitte ganz
über den Haufen zu werfen, um so noch in letzter Stunde den Sieg
an seine Fahnen zu fesseln. Adjutanten jagen die Front entlang und
verbreiten die Mär, der Kanonendonner in Rücken und Flanke rühre
von Grouchy her, der zu Hilfe komme. Neuer Kampfesmut belebt
die erschöpften Reihen. Und nun erscheint Napoleon selbst auf dem
Plan an der Spitze der letzten Reserve, 10 Bataillone der alten
Garde, deren Bärenmützen schon so oft das Zeichen zum letzten
Sturm und zum endgültigen Siege gegeben hatten. Reste des I. und
II. Armeekorps schließen sich an; nur 3 Bataillone der alten Garde
bleiben westlich Plancenoit an der Chaussee zurück zum Schutze des
Kaiserlichen Hauptquartiers und zur Deckung des Rückzuges bei un-
glücklichem Ausgang.
360 Belle-Alliance.
Der englischen Mitte westlich la Haye Sainte gilt der Angriff; er
trifft auf die eben durch frische Kräfte ergänzten feindlichen Linien,
während rechte Flanke und Rücken der stürmenden Garde bereits
durch die Artillerie des I. preußischen Korps bedroht werden. Dieser
gefahrvollen Lage ist auch die in zahllosen Schlachten bewährte
Garde nicht gewachsen. Angesichts des ruhigen, geschlossenen, aus
nächster Nähe mit vernichtender Wirkung abgegebenen Feuers der
englischen, hannöverschen und nassauischen Infanterie, zudem von
den Niederländern von Braine l’Alleud her in der linken Flanke
gefaßt, gerät die Angriffsfront ins Wanken; sie stutzt, hält und wird
geworfen.
Zur selben Zeit haben die Preußen Plancenoit endgültig ge-
nommen — die vorderste Brigade des II. Armeekorps hat hier die
Entscheidung gebracht — und das I. preußische Armeekorps treibt
den rechten Flügel des I. französischen Armeekorps vor sich her.
So in Flanke und Rücken unmittelbar bedroht, vermochte die
kaiserliche Garde nicht wieder Front zu machen und den Angriff zu
erneuern; sie wurde alsbald in den Rückzug des I. Armeekorps und
der Truppen, die bei Plancenoit gefochten, hineingerisssen. Nun
flutete die gesamte französische Armee auf und westlich der Straße
Mont St. Jean—Genappe nach Süden; nur wenige Gardekarrees be-
wahrten ihre Haltung, die Masse des Heeres verlor jede Ordnung und
hörte auf keinen Befehl mehr.
Wellington erkannte mit taktischem Scharfblick trotz zunehmender
Dunkelheit den Zustand des Feindes und befahl, wie er sagt, den
Angriff auf der ganzen Linie! Nur ganz schwache Teile der deutsch-
englisch-niederländischen Armee vermochten an diesem „Angriff“ Teil
zu nehmen. Als bald darauf Wellington und Blücher bei Belle-
Alliance zusammen trafen, erbot sich Blücher, die Verfolgung zu
übernehmen, obwohl seine Truppen drei Meilen unter den er-
schwerendsten Umständen marschiert waren und ein äußerst verlust-
reiches Dorfgefecht angriffsweise geführt hatten, während die er-
matteten Krieger Wellingtons auf dem Schlachtfelde Biwak bezogen.
An der Spitze der Preußen hat nun Gneisenau eine
Verfolgung ins Werk gesetzt, wie sie einzig in der Geschichte
dasteht.
Jeder, der Kriegsgeschichte kennt, weiß, daß die Ausnutzung
des Sieges durch die Verfolgung die Hauptsache ist; eine geschlagene
aber unverfolgte Armee erholt sich und muß von neuem geschlagen
werden — siehe die Preußen nach Ligny! Diese Hauptsache, die
Verfolgung, ist mit ganz geringen Ausnahmen allein von den Preußen
geleistet worden. Das Gros der an der Schlacht beteiligten
Belle-Alliance. 361
preußischen Truppen kam noch bis Genappe, 7 km südlich Bele-
Alliance. Von Wellingtons Truppen hat nur das Hannoversche
Landwehrbataillon Osnabrück an diesem ersten Teil der Verfolgung
Teil genommen. Von Genappe an setzte sich Gneisenau persönlich
an die Spitze einer auserlesenen Schar, die den flüchtigen Feind
noch aus sieben Biwaks aufhetzte und erst bei Mellet, 20 km südlich
des Schlachtfeldes halt machte, als die Niederlage des französischen
Heeres in völlige Auflösung und Vernichtung verwandelt war. Aber
auch 13000 Mann der Armee Wellingtons, 7000 der Armee Blüchers
lagen tot oder verwundet auf dem Schlachtfelde.
Indessen führten 20000 Preußen unter Thielmann bei
Wavre einen erbittertten Kampf gegen 33000 Franzosen unter
Grouchy und hielten dieses Drittel der französischen Heeresmacht von
der Hauptentscheidung fern.
Wir sind am Ende des viertägigen Feldzugsdramas angelangt
dessen Folgen: die Abdankung Napoleons, seine Verbannung nach
St. Helena und die endgültige Wiederherstellung des Friedens in
Europa einen Wendepunkt in der Weltgeschichte bedeuten.
Der Anteil der verbündeten Heere an dem gemeinsam er-
rungenen Erfolge läßt sich etwa in folgenden Stichworten zusammen-
fassen:
Die deutsch-englisch-niederländische Armee ist am 15.
ganz untätig, ihr Führer zaudernd.. Am 16. verspricht Wellington
eine Hilfe, die er in dem in Aussicht gestellten Maße nicht zu
leisten vermag; es gelingt ihm aber, mit einem Drittel seiner Armee
ein Drittel des französischen Heeres bei Quatre-Bras zu fesseln. Am
17, führt er seine Truppen nach Mont St. Jean zurück in der Er-
wartung, durch die Preußen von Wavre her unterstützt zu werden.
Am 18. wäre seine Armee ohne die preußische Unterstützung ge-
schlagen worden. Sie hat den Angriffen einer wenn auch geringen
Minderzahl mit einer Zähigkeit und Tapferkeit stand gehalten, an
der ihrem Führer fraglos ein großes persönliches Verdienst beizu-
messen ist. Indessen steht ein Fünftel der Armee tatenlos bei Hal.
Die Preußen haben am 15. bereits 3 Armeekorps fast ver-
einigt, liefern am 16. die unglückliche Schlacht bei Ligny im Ver-
trauen auf die englische Hilfe, ehe das IV. Armeekorps zur Stelle
ist. Am 17. gehen sie unter Verlegung ihrer rückwärtigen Ver-
bindungen auf Wavre zurück, um weiter mit Wellington gemeinsam
handeln zu können. Am 18. bringen sie die Entscheidung in der
Schlacht und übernehmen allein die Verfolgung, obwohl ihre
Nachhut von fast einem Drittel der französischen Armee bei Wavre
schwer bedrängt wird.
362 Ein Wort über die „Deutsche Reitvorschrift 1912“.
Die Leistungen des preußischen Heeres in Marsch und Gefecht,
die Schnelligkeit, Kühnheit und Uneigennützigkeit der Entschlüsse
seiner Führer brauchen einen Vergleich mit Truppe und Führer des
verbündeten Heeres nicht zu scheuen; beiden Teilen gebührt daher
gleicher Anteil am Enderfolg und gleiche Ehre, und es entspricht
nicht den Tatsachen, wenn der Sieg einseitig als ein Sieg Welling-
tons bezeichnet wird. Von einem englischen Siege kann aber
noch weniger die Rede sein, da nur 24000 Engländer, dagegen
etwa 88000 Preußen, Hannoveraner, Braunschweiger und Nassauer,
also Deutsche, und 14000 Niederländer in der Schlacht mit-
gekämpft haben; ein Fünftel der Teilnehmer auf verbündeter
Seite waren Engländer, zwei Drittel Deutsche. Noch ungünstiger
wird dieses Verhältnis für die Engländer, wenn die 20000 Preußen,
die bei Wavre fochten, als am Erfolge des Tages beteiligt mit-
gerechnet werden!
XXV.
Ein Wort über die „Deutsche Reit-
vorschrift 1912“.
Von
Spohr, Oberst a. D.
Über die Wirkung dieser neuen Vorschrift auf die Reitausbildung
der Armee schon heute ein Urteil abzugeben, wäre verfrüht. Hiu-
reichende Erfahrungen in dieser Hinsicht können erst in einigen Jahren
vorliegen.
Um so mehr erscheint es erwünscht, wenn Mitglieder der Aller-
höchst zur Ausarbeitung der Reitvorschrift berufenen Kommission, die
über den „Werdegang der Verhandlungen derselben bis in die kleinsten
Einzelheiten unterrichtet sind“, sich darüber vernehmen lassen, was
die verschiedenen in der Kommission vertretenen Richtungen er-
strebten, wie sich die Ansichten schließlich in Kompromissen aus-
geglichen und im Resultat ausgedrückt haben.
In dieser Richtung nun hat ein hervorragendes Mitglied der
Kommission, Herr Generalmajor v. Redwitz, langjähriger Kom-
mandeur der Königlich Bayerischen Reitschule, es unternommen, die
u n F ppa
Ein Wort über die „Deutsche Reitvorschrift 1912“. 363
„neue Reitvorschrift im Lichte der Reitkunst“!) zu beurteilen,
und zwar in sehr umfassender Weise (in fünf Bänden).
Der erste Band befaßt sich mit den Seitengängen. Mich mit
seinen Ansichten in objektiver Weise auseinanderzusetzen, scheint mir
um so mehr angebracht, als dadurch auch das Urteil der Reiterwelt
über die neue Reitvorschrift selbst eine weitere Klärung erfahren
dürfte.
Ich beginne zunächst mit einigen formellen Anmerkungen über
die Ausdrucksweise des Herrn Verfassers, die mir mit einer deutschen
Reitvorschrift in einigen Punkten nicht recht vereinbar erscheint.
Für den „Gegengalopp“ z. B. bedient sich der Verfasser noch
des französischen Ausdrucks „Contregalopp“, schreibt aber „Conter-
galopp“. Das französische Wort „contre“ bedeutet aber für sich
allein, wie in allen Zusammensetzungen, genau dasselbe wie unser
Vorwort „gegen“. Warum sollten wir es daher nicht durch dieses
wiedergeben ?
Sodann bedient sich der Verfasser der sprachgemischten und in
sich einen Widerspruch enthaltenden Bezeichnung „Contra-Schulter-
herein“ für einen Seitengang, der durch unser einfaches und klares
„Kruppeherein“ genau und zutreffend bezeichnet wird, da man
der Behinderung durch die Bande halber von einem „Schulter-
heraus“ wenigstens in der umschlossenen Bahn nicht gut reden kann.
Wenn wir die Bezeichnung „Travers“ und „Renvers“ bei-
behalten haben, während sie auch įm Deutschen ganz bezeichnend
durch „Queergang“ und „Gegenqueergang“ wiedergegeben werden
könnten, so tun wir das, weil sich jene französischen Ausdrücke in
alle Sprachen der zivilisierten Welt eingebürgert haben. Aber wir
schreiben sie dann auch richtig in französischer Sprache und deutschi-
sieren sie nicht nach dem Vorgange von „Conter“ mit „Trawähr“
und „Rangwähr“, wie das der brave deutsche Spießbürger etwa mit
„Büro“ macht, wobei nach deutscher Aussprache der Ton auf die
erste Silbe fallen würde, während er bei dem französischen Ausdruck
„Bureau“ auf die zweite Silbe fällt.
In der Einleitung betont General v. R. die Wichtigkeit der
Seitengänge. Wenn er aber auf S. 1 in Satz 2 sagt: „Die Lektion
Schulterherein setzt den Reiter instand, das Pferd zur Einhaltung
der beabsichtigten Bewegungsrichtung „mechanisch zu zwingen“,
so möchte ich dem widersprechen, da gerade in diesem Seitengange
1) Unter dem Titel: „Die deutsche Reitvorschrift 1912 im
Lichte der Reitkunst“. Erster Band: Die Seitengänge. Von Max
Freiherr v. Redwitz, Königlich Bayerischem Generalmajor z. D. Bei
E. Siegfried Mittler & Sohn in Berlin soeben erschienen.
364 Ein Wort über die „Deutsche Reitvorschrift 1912“.
die freie Bahn dem Pferde ein Ausweichen mit der Vorhand nach
vorne wie nach den Seiten gestattet. Völlig zutreffend aber ist der
Satz auf den „Seitengang Kruppeherein“, wo die Bande den
Reiter mechanisch sehr unterstützt.
Wenn Verfasser S. 2 sagt: „Die hohe Schule stellt ein logisch
aufgebautes System höherer Gymnastik dar und nicht eine Anzahl
von unzusammenhängenden Kunststücken, die außerhalb der natür-
lichen Begabung des Pferdes liegen,“ so wird man ihm ebenso zu-
stimmen müssen, wie, wenn er S. 3 den Schalen erwähnt, den das
unglückselige System Plinzner angerichtet hat und noch anrichtet.
Indem nun General v. R. mit Besprechung der „Seitengänge*“
beginnt, also gleichsam in medias res der Dressur eintretend, sich die
Grundlage derselben für den dritten und vierten Teil vorbehält, so
lag die Versuchung dafür wohl in der neuen Reitvorschrift selbst, die
gerade bezüglich der Seitengänge ein Kompromißsystem entwickelt.
dessen Unhaltbarkeit sich wohl im Gebrauche zeigen wird. „Kom-
promisse“ mögen in der Diplomatie und Regierungskunst notwendig
sein, in der Reitkunst, die ein durchgearkeitetes, absolut ge-
horsames Pferd liefern soll, sind sie vom Übel.
In Abschnitt 1: Schenkelweichen, gefällt mir besonders die
wiederhergestellte Bedeutung des Zügels und seiner Hilfen. Er ist
für das rohe Pferd das deutlichste Mittel, ihm den Willen des Reiters
klarzumachen und bleibt für Bearbeitung des Genicks und Halses
ein solches bis zur Beendigung der Dressur. Die Sätze S. 5:
„Der Zügel bahnt dem Schenkel den Weg, nicht umgekehrt“
und „der Schenkel muß tastend folgen“ sind durchaus zutreffend.
Die Folgerung aber: „Im Sinne der Reitkunst gibt es somit
kein Schenkelweichen, sondern nur ein Zügelweichen“, geht
zu weit und ihr kann ich mich nicht anschließen. Denn dem Zügel
weichen zunächst nur Kopf und Hals, die Beine folgen erst, wenn
der Schenkel den Rumpf bearbeitet.
Ich komme nun zu einer Reihe von Behauptungen des Herrn
Verfassers, durch die er sich selbst in einzelne Widersprüche verwickelt
und die sicher vermieden worden wären, wenn er die wichtigsten
Prozesse. für die Dressur: Hergabe des Rückens und Auf-
richtung des Halses seiner Besprechung der „Seitengänge“ voraus-
geschickt hätte.
So erteilt er S. 8 und 9 der unrichtigen Regel der Reitvor-
schrift (S. 122/123) über das Schenkelweichen ein Lob, das
er durch den unmittelbar in gesperrtem Druck folgenden Satz wieder
zurücknimmt. Denn „Schenkelweichen“ unterscheidet sich eben
von „Schulterherein* dadurch, daß bei ersterem der auswendige
Ein Wort über die „Deutsche Reitvorschrift 1912“. 365
Schenkel nicht tätig, also nicht „verwahrend“ (ein recht unzu-
treffender Ausdruck) oder vielmehr „vollbiegend“ mitwirkt, sondern
nur in einfacher Fühlung mit der Pferdehaut im Bügel herunterhängt.
Dann ist das „Schenkelweichen“ eine leichte Vorübungslektion für
das „Schulterherein“, und der Satz des Verfassers: „ein Fehler in
der Dressur unterstützt somit den Reiter in rascherer Erzielung des
Gehorsams“, trifft nicht zu, da ein Fehler gar nicht vorliegt.
Mit den folgenden Ausführungen S. 9—17 bin ich im all-
gemeinen einverstanden, doch leiden sie wieder unter der nicht
scharfen Unterscheidung zwischen „Schenkelweichen“ und
„Schulterherein“. Erst im letzteren wirken der auswendige
Zügel und Schenkel mit: Damit stimmen die Ansichten de la
Gueriniere’s, Hünersdorfs und Sohrs (S. 13) sowohl unter sich,
wie mit der Reitvorschrift, genau überein.
Die Vorwürfe, die General v. R. dem General v. Troschke
(S. 14) und Seeger (S. 15) macht, sind nicht berechtigt, wenn man
mit Seidler (S. 15), das „Schenkelweichen“ für eine Einleitungs-
lektion für „Schulterherein‘ hält, was durchaus richtig ist. Wenn,
wie es S. 15 heißt, das zur Erzielung des Gehorsams unentbehrliche
Schenkelweichen als die erste Frucht erklärt wird, die dem Reiter
durch die Lektion „Schulterherein“ in den Schoß fällt, so ist das
ein „öçtegov Trpwregov“, so ungefähr, als wenn man sagen wollte,
das „Gehenlernen‘ das Kindes ist die reife Frucht, die ihm durch
das Laufen in den Schoß fällt.
Auch der Vorwurf, den der Verfasser S. 17 dem österreichischen
Exerzierreglement macht, ist nicht berechtigt. Denn die von ihm
angeführte Stelle (S. 17) Ziff. 689 der „Abrichtung der Remonten“,
zeigt deutlich, wenn auch in größter Kürze, den Übergang vom
„Schenkelweichen“ zum „Schulterherein“,
Das französische l’appuyer (S. 18) und die Vorschrift, das
l’epaule en dedans nur auf dem Zirkel vorzunehmen, charakterisieren
nur diese, im ganzen reiterlich nicht sehr veranlagte Nation.
Die Ausführungen v. Longchamps-B&srier’s S. 18—19 sind
durchaus richtig und sprechen ganz besonders für die Benutzung des
Seitenganges: „Kruppeherein“.
Der zweite Abschnitt „Schulterherein“ ist ebenfalls nicht frei
von Widersprüchen. Nach den im ganzen richtigen Betrachtungen
S. 20 und 21 wird auf der letzteren unten der gesperrt gedruckte,
ganz richtige Satz des Stallmeisters Schmidt: „Ein Weichen vor
dem Schenkel kann auch nur dann erreicht werden, wenn
er verhältnismäßig weiter zurückliegt‘“ (S. 22 oben) mit den
merkwürdigen Worten bestritten: „Wie soll der Schenkel aber dann
Jabrbücher für die deutsche Armee und Marine. Nr. 517. 27
366 Ein Wort über die „Deutsche Reitvorschrift 1912“,
beim Schulterherein den inneren Hinterfuß zum weiten Vortreten
heranholen‘‘, und, um dieses zu erreichen, wird geradezu die Wirkung
des inneren Schenkels nahe dem Gurt“ gefordert.
Diese Wirkung gilt weit weniger dem Heranholen und Unter-
schieben des inneren Hinterfußes als der Sorge, dem Pferde nicht
durch vorzeitige scharfe Wirkung zum Vortreten Veranlassung
zum Widerstande, Spornschlagen usw. zu geben.
Ich erinnere mich, daß in den fünfziger Jahren in der Berliner
Lehreskadron auf recht weites Zurücklegen der Schenkel hinter
dem Gurt auf den falschen Rippen besonders gehalten wurde, und
zwar gerade im Anfange der Dressur, so lange das Hervorholen der
Hinterbeine und deren weites Untersetzen nach vorn im Vorder-
grunde stand. Und es ist auffallend, wie schon der Beginn dieser
Hilfe, das Loslassen und Ausholen des dicht am Gurt anliegenden Unter-
schenkels das Pferd vorwärts treibt. Erst später, wenn der Schenkel sica
dem Pferde in dieser Weise als ‚„‚Herr‘‘ bewiesen hat, findet er auch
„dicht hinterm Gurt“ den nötigen Gehorsam nach vorwärts!). Dort
ist er allerdings zum Hohlbiegen des Pferdes um dessen Mitte am
besten Platze. Daher ist der Ausspruch von Seidler (S. 22 unten)
durchaus richtig. Doch würde auch in diesem statt des Ausdrucks
„verwahrend‘, der sich mit dem „teils vordrückend‘“ schlecht ver-
trägt, die Anweisung ‚sowohl voll (d. h. konvex) biegend als zugleich
schiebend vordrückend“ richtiger sein.
Das sog. „Verwahren‘“ verführt nur allzuleicht zu einem „von
vorne nach rückwärts“ wirkenden Gebrauch des Schenkels und
Sporns, wodurch nach meiner Erfahrung eine große Anzahl von
Pferden gründlich verritten wird.
Damit erledigen sich dann auch die übrigen Ausführungen S. 23,
während ich der letzten Ausführung (S. 24), die „Reitvorschrift ließe
den äußern Schenkel, je mehr sie ihn vortreibend gebrauchen wolle,
um so näher dem Gurt wirksam werden‘, nicht zustimmen kann. Je
mehr dieser Schenkel vortreiben soll, desto weiter von hinten her
muß er wirken, was sich dann auch mit seiner voll (konvex) biegenden
Wirkung am besten vereint.
Über das „Durchreiten der Ecken im Schulterherein‘
(S. 24—33) erörtert der Verfasser eine Reihe von Ansichten von
Autoritäten und Handbüchern, die sich alle kurzer Hand erledigen
lassen, wenn man die S. 25 vorgeführte Figur der Huftritie im
1) Wie dieses mit der Tätigkeit des „gemeinschaftlichen Rippen
muskels*, je nachdem dieser vorne oder hinten seinen Kraftansatz nimmt-
zusammenhängt, habe ich in Teil I und II meiner „Logik in der Reit-
kunst“ an den betreffenden Stellee genau dargelegt.
Ein Wort über die „Deutsche Reitvorschrift 1912“. 367
Schulterherein auf dem Zirkel einfach auf das „Eckenpassieren“
überträgt. Ist doch das letztere nichts anderes, als das Durchreiten
der Ecke auf dem kleineren Zirkel, wie ihn die Volte darstellt.
Es ist daher klar, daß die Vorhand den kürzeren, die Hinterhand
den längeren Weg hat, daß der aber wieder eine Wendung um die
Vorhand, noch um die Hinterhand bedingt, weil die Winkelstellung
des Pferdes zum Hufschlage auf dieser kleinen Zirkellinie ebenso
dieselbe bleiben muß, wie das auf dem größeren Zirkel der Fall war.
Wenn man aber schwachen Reitern gestatten will, sich im
Eckenpassieren bald mehr einer „Wendung um die Vorhand“, deren
Nachteile der Verfasser S. 33 richtig schildert, bald mehr einer
solchen „um die Hinterhand“ zu nähern (s. Stallmeister Schmidt,
S. 32), so ist das nur eine, Fehler erzeugende, Nachsicht. Die An-
weisung des österreichischen Exerzierreglements (S. 32, Ziff. 388) ist
durchaus richtig. Die Franzosen vermeiden das ihnen für den ge-
meinen Reiter zu schwierig erscheinende Eckenpassieren im „Schulter-
herein“ ganz und reiten diese nur auf dem größeren Zirkel (S. 33).
Die „Gewichtsverlegung im Schulterherein“ (S. 33—35)
weist alle die Unklarheiten auf, welche eine reinmechanische Ausübung
der Reitkunst herbeiführen muß. Nach den Ausführungen des Ver-
fassers in seiner Schlußbemerkung hat sie in der neuen Reit-
vorschrift (S. 128, Abs. 2) ihren völlig verwirrenden Ausdruck
gefunden. Es kommt doch immer und lediglich darauf an, das
Gewicht da wirken zu lassen, wo es wirken soll, d. h. entweder
biegend auf die Gelenke der Hinterhand oder streckend auf den
Rücken. Ersteres kann immer nur bei dem Hinterfuß der Fall
sein, der im Vortreten schon die Hüftlinie passiert hat,
und nur 80 lange, bis er im Abschieben wieder die Hüftlinie
nach rückwärts überschreitet, um mit Krane zu reden, „hinter
der Vertikalen ausharrt“. Dann kann von einem Biegen der Ge-
lenke nicht mehr die Rede sein, wohl aber von einem stärkeren
Strecken des Rückens. Ob dieses im Vordergrunde d. h. in den
Absichten des Reiters steht, oder das Biegen des gleichzeitig im
Vorschreiten begriffenen anderen Hinterfußes, wird die Einwirkung
des Reitergewichtes bestimmen, wobei es selbstverständlich ist, daß
dieses, d. h. der Schwerpunkt des Reiters, immer im Sinne der
Bewegung des Pferdes mitgehen muß.
Über die Längsbiegung des Pferdes, S. 36—42, lenkt der
Herr Verfasser in eine Beweisführung ein, wie ich sie — bis
heute als einziger — in meiner „Logik in der Reitkunst“ vor-
geschlagen habe, nämlich in die aus dem Gebiete der Anatomie.
Leider beschränkt er sich dabei auf die Anatomie des Skelettes
27°
368 Ein Wort über die „Deutsche Reitvorschrift 1912“.
und vernachlässigt völlig den lebendigen Muskelzug, der das
Skelett beherrscht. Er gelangt daher auch zu einer irrtümlichen
Schlußfolgerung und spricht dem Pferde die größere Biegsamkeit im
Brustkorbe, die geringere in der Lendenpartie zu, während
sich die Sache gerade umgekehrt verhält, wie auch die gesamte
Reiterwelt bisher immer angenommen hat. Die Figur zu S. 40 be-
weist nichts für des Verfassers Behauptung, da die Enden der
Wirbelfortsätze sich bei seitlichen Krümmungen in der Lende nicht
nur an-, sondern auch übereinander zu schieben imstande sind. Die
Ansicht Kranes (S. 41 unten) ist daher durchaus richtig.
Wie sehr der Muskelzug das Knochengerüst beherrscht, zeigen
uns die sog. Schlangenmenschen, die Biegungen auszuführen im-
stande sind, die man mit einem menschlichen Skelett nicht aus-
führen köunte, ohne dasselbe zu zerbrechen. Man denke nur an die
Rückwärtsbeugung, bis der Hinterkopf die Fersen berührt.
Die deutlich sichtbaren Seitenschwingungen, die gewandt
springende Pferde beim Passieren höherer Hindernisse mit der Hinter-
hand nach der Seite des zuletzt abspringenden Hinterfußes ausführen,
sprechen ebenfalls gegen den Verfasser.
Unter 4 führen seine Betrachtungen über „Kontra-Schulter-
herein“ (richtiger „Kruppeherein“) hauptsächlich den Satz aus: daß
diese Lektion „nur als eine örtlich, mechanisch zwingende, aber
niemals die Gymnastik der Hinterhand, somit den Gang
fördernde“ zu betrachten sei. Wie konnte er nur übersehen, daß
sie gerade in dem Maße, wie sie das erstere ist, auch das zweite
sein muß? Sie ist der die Dressur am meisten fördernde Seiten-
gang, das zwingende „Gegen-Schulterherein“ mit stärkster Biegung
der Hankengelenke des äußeren Hinterbeins; stärkstem Zwange
zur Hergabe des Rückens und zur richtigen Biegung des
Genicks.. Man wird bei Pferden, die befähigt und geneigt sind,
der seitlichen Biegung des Genicks und der Hergabe des Rückens zu
widerstreben, oft von ihm Gebrauch machen müssen, um das
„Schulterherein“ überhaupt nur möglich zu machen. „Kruppe-
herein“ ist die vornehmste Lektion zur Korrektur verrittener
Pferde und die beste Vorbereitung zum Travers, wie zum Renvers,
sobald man nur auch den biegend-vorwärts wirkenden inneren
(der Bahn zugekehrten) Schenkel gehörig zur Geltung bringt, was in
der umschlossenen Bahn um so rücksichtsloser geschehen kann und
darf, als die Bande dem Pferde den Widerstand durch Vorwärts-
drängen unmöglich macht. Nur die heutige Kompromißreiterei,
die stets auf Paktieren mit dem Pferde, statt auf Erzwingung
absoluten Gehorsams ausgeht, konnte diesen wichtigsten aller
Ein Wort über die „Deutsche Reitvorschrift 1912“. 369
Seitengänge so in den Hintergrund treten lassen, wie dies auch in
der neuen Reitvorschrift der Fall ist, die diesen Seiten-
gang gar nicht aufnahm. Der dafür S. 48 (vorletzter Absatz)
angeführte Grund ist durchaus nicht stichhaltig, da der Lektion
„Schenkelweichen“ vor dem äußeren Schenkel gerade der wich-
tigste Moment, die vorwärtsschiebend biegende Wirkung des
inneren Schenkels abgeht. Das deutet dann endlich auch die Schluß-
bemerkung des Verfassers S. 49, wenn auch recht schüchtern, an.
Nach dem Vorstehenden muß ich mir schon aus Gründen des
mir gestatteten Raumes, versagen, auf die Irrtümer des Verfassers,
die sich in seinen Betrachtungen über Travers (unter 4) und
über Renvers (unter 5) finden, hier näher einzugehen. Nur das
muß ich erwähnen, daß sie alle den beiden Quellen entspringen:
1. Sich der zwingenden passiven Dienste der Bande nicht be-
dieneu zu wollen und 2. beim vollbiegenden — das ist die
richtige Wirkung, während die „verwahrende“ eine durchaus
unrichtige darstellt — Schenkel (dem äußeren im Travers, dem
inneren im Renvers) sich der vorwärtsschiebenden Wirkung zu
enthalten.
Nichts beweist den Kompromißcharakter der neuen Reit-
vorschrift mehr, als diese mangelhafte Bewertung der nach
allen den alten „Evangelisten“ der Reitkunst: Plurinel, New-
Castle, de la Gueriniere, Hünersdorf, Seeger usw. die Dressur
hauptsächlich fördernden und vollendenden doppeltgebogenen
Seitengänge.
Interessant ist es aber, daß ein dem Herrn Verfasser sehr nahe-
stehender, erfahrener und praktisch ausgezeichneter Reiter mir in
einem Privatbriefe wörtlich schreibt: „die Reitvorschrift ist ein
italienischer Salat von Ansichten, Compromissen und
Spezialsporten geworden, die den verschiedensten Systemen
entnommen sind“, das ist eine Ansicht, die ich teile, und der
auch der Herr Verfasser sicherlich schärferen Ausdruck verliehen
haben würde, wenn ihm nicht so viele Rücksichten oder Pflichten
vorgeschwebt hätten, worüber uns erst seine Schlußbemerkung S. 84
aufklärt.
Das, was S. 69—78 über Plie geboten wird, zeichnet sich mehr
durch das genaue Eingehen auf die verschiedensten Ansichten der
erwähnten „Evangelisten“ der Reitkunst aus, als durch eine
folgerichtige Durchführung der eigenen Ansicht. Die richtige
Ansicht über das französische „Plié“ ist die S. 69 von Holleuffer
angeführte. Plie ist ein mit starker Biegung von Genick und den
oberen vier Halswirbeln ausgeführter Gang auf einem Hufschlage.
370 Ein Wort über die „Deutsche Reitvorschrift 1912“.
Wird er in Stellung und Gegenstellung, schließlich von Schritt
zu Schritt wechselnd, ausgeführt, so wie es mein verstorbener
Freund Otto Digeon v. Monteton in seinen Schriften schildert, so
bildet er nicht nur die sorgsamste und vollendetste Gymnastik des
Genicks und Halses, sondern auch die sicherste Gewähr für
volle Hergabe des Rückens und die beste Vorbereitung für
echte Hankenbiegung, d. h. Senkung der Kruppe in den Hüft-
gelenken und starke Zusammenbiegung der Backen- und
Kniegelenke, Je mehr das „Pli6“ in hoher Aufrichtung des
Halses geritten wird, um so schöner sind seine Wirkungen.
Was unter 6. über die „Übergänge aus einem Seitengang
in den anderen“ ausgeführt wird, ergibt sich viel sicherer, wenn
man sich die vorbereitenden Übungen des Schenkelweichens und
des Biegens (Plie) nicht ersparen und daran kürzen will, und sich
auch nicht scheut, die sich folgerichtig ergänzenden Seitengänge alle
vier (Schulterherein, Kruppeherein, Travers und Renvers
auch dem reitenden Gemeinen beizubringen, was ich in langjähriger
Ausübung meiner Funktionen als Reit- und Dressur- (Remonte-) Lehrer
gar nicht schwer gefunden habe. Von meinen Inspekteuren, den
Generalen Perle und v. Röhl, wurde es auch strenge gefordert. Des
näheren darf ich wohl hier auf meinen zweiten Teil der „Logik
in der Reitkunst“ verweisen, wo die halben und ganzen
Wechselungen sehr genau und zutreffend beschrieben sind.
Dadurch, daß sich die Reitvorschrift die halben Wechse-
lungen ersparen will, wird am Gange der Dressur nichts erspart,
sondern deren Dauer verlängert und sie selbst lückenhaft.
Wenn daher unter 7. „Vorschläge zur Kürzung und
Ergänzung der Reitvorschrift“ dem Herrn Verfasser nur
Schulterherein als „unentbehrlicher* Seitengang erscheint, so
muß ich dem nach meiner über 70jährigen Erfahrung entschieden
widersprechen, das wäre eine geradezu die Reitdressur und Reitkunst
zerstückelnde Kürzung.
Seinen übrigen kritischen Bemerkungen in diesem Kapitel und
dem, was er über die Bedeutung der „hohen Schule und deren
Pflege in der Armee“ sagt, kann ich nur voll und ganz zu-
stimmen, mit dem Wunsche, daß es auch von maßgebender Seite
berücksichtigt werde.
Wenn ich sonach dem von mir als Reiter und Kenner hoch-
geschätzten Herrn Verfasser in manchem nicht zustimmen konnte, so
bin ich mir wohl bewußt, daß damit vielfach Punkte berührt sind,
wo der Herr Verfasser seiner eigentlichen Meinung nicht voll und ganz
Ausdruck geben konnte. Anderseits scheint er mir aber auch noch
Literatur. 371
zu sehr an dem alten System der „Evangelisten“ der Reitkunst
zu hängen, die doch von Anatomie und Physiologie (besonders
Muskellehre) des Pferdes nur sehr lückenhafte Kenntnisse besaßen
— was bei der damaligen mangelhaften Verfassung dieser Wissen-
schaften sehr entschuldbar war — und daher vorzugsweise auf die
Erfahrung angewiesen waren, die ihnen die mechanische Aus-
übung der Reitkunst allmählich und mühsam — man denke nur
an die große Rolle der mechanischen Hilfsmittel: Longe, Kapp-
zaum, spanischer Reiter, Sandsäcke, Pilaren usw. — ver-
schafften.
Der Weg des Fortschritts in der Reitkunst liegt in ihrer
Begründung der Gymnastik des Pferdes auf Anatomie
und Muskellehre, so wie ich ihn in meinen vier Teilen der „Logik
in der Reitkunst“ beschritten habe.
Ich bin mir wohl bewußt, daß die Anforderungen, die ich
dabei an das Denken und Studieren . der Reiterwelt gestellt habe,
in der heutigen Zeit des Naturalismus und des vermeintlich an-
geborenen Könnens, meine Popularität nicht zu heben geeignet
waren und sind.
Literatur.
I. Bücher.
Die bulgarische Armee. Mit einer Beilage, Textskizzen und Abbil-
dungen. Wien 1913. L. W. Seidel & Sohn. 2,40 Kr.
Es ist schwer, ein zutreftendes Bild der Armeen der Balkanstaaten
zu geben, weil die durch den letzten Balkankrieg notwendig gewor-
denen Neuorganisationen noch nicht durchgeführt sind. Vielfach ist
auch nicht bekannt, in welcher Weise die Vermehrung des Heeres
beabsichtigt ist. Diese Schwierigkeiten zeigen sich auch bei diesem
Buche, das mehr oder minder nur den Stand des Heeres wiedergibt,
wie er vor dem Kriege bestand. Die beigegebene Karte trägt z. B.
den veränderten territorialen Verhältnissen noch keine Rechnung. Da
auch im ganzen Texte der Balkankrieg, die Mobilmachung, die Neu-
formationen usw. gar nicht erwähnt sind, so scheint der Text vor
dem Kriege abgeschlossen zu sein. Dadurch wird der Wert dieses
Buches sehr wesentlich beeinträchtigt. v. S.
372 Literatur.
Die Ereignisse zur See und das Zusammenwirken von Heer und
Flotte im Balkankrieg 1912/13. Von Hans Rohde, früher
Ördonnanzoffizier im Stabe des Armeeoberkommandos auf Galli-
poli. Mit 10 Kartenbeilagen in Steindruck. Berlin 1914. Ver-
lag von R. Eisenschmidt. M. 4,50, geb. M. 5,50.
Das Werk bringt eine Zusammenstellung der seitens der Kriegs-
marinen Griechenlands, der Türkei und Bulgariens im letzten Balkan-
kriege vollbrachten Taten, wobei ihre Rückwirkung auf die Kriegs-
ereignisse am Lande dargelegt wird. Mit anerkennenswerter Klarheit
weist der nichtseemännische Verfasser darauf hin, welche gewaltigen
Nachteile das völlige Versagen der freilich geringen türkischen Marine
im Ägäischen Meere für den Aufmarsch der türkischen Armee bei
Beginn des Krieges, für den Transport auf kürzesiem Wege weiterer
Truppen aus Kleinasien und durch die ungestörten Maßnahmen
Griechenlands hatte, das die Agäis beherrschte. Was bei rück-
sichtslosem Draufgehen und Einsetzen zur Gewinnung der Seeherr-
schaft hätte erreicht werden können, wie sich die Dinge voraussicht-
lich wesentlich günstiger für die Türkei hätten entwickeln können,
zeigt das Beispiel der „Hamidieh“, deren Taten in der ganzen Welt
Aufsehen erregten, obwohl sie nur das allein Gegebene darstellten.
Immerhin war es eine rühmliche Ausnahme von dem allgemeinen
Nichtstun, das nur im Anfang im Schwarzen Meer den allerdings
kaum nennenswerten und doch wagemutigen bulgarischen Torpedo-
booten gegenüber und dann bei der Verteidigung der Tschatalscha-
stellung kräftigem Auftreten Platz machte. Die großen Erfolge des
Handelns blieben nicht aus, namentlich bei letzterer Gelegenheit. Auch
dort war aber kein Gegner zur See vorhanden, vor dem die Türken
offenbar Furcht hatten, wie ihr ständiges Verkriechen nach zweck-
losem Kanonieren bei mehreren Ausfällen aus den Dardanellen bewies.
Das lesenswerte Buch, das auch Parallelen mit Vorgängen zur
See während des Russisch-Japanischen Krieges zieht, ist ein wert-
voller Beitrag zur Lehre von der Bedeutung eines richtigen Ver-
wendens vorhandener, wenn auch noch so kleiner Seemacht für den
Ausgang eines Krieges. v. N.
Der Seekrieg zwischen Rufsland und Japan 1904 bis 1905. Von
Curt Freiherr von Maltzahn, Vizeadmiral a. D. Ill. Band.
Ereignisse bei beiden Parteien bis zur Schlacht bei Tschuschima.
Die Schlacht von Tschuschima, das Ende des Krieges und der
Friedensschluß. Schlußwort. Mit 9 Skizzen im Text und 6 Karten
in Steindruck. Berlin 1914. Ernst Siegfried Mittler & Sohn,
Kgl. Hofbuchhandlung, Berlin.
Mit dem vorliegenden dritten Band schließt das hochbedeutsame®
Werk, auf das der Verfasser mit Recht stolz sein kann.
Es erübrigt sich, über den Inhalt und seine Behandlung etwas
anderes zu sagen, als daß sie gleich vollendet sind, wie in den ersten
Literatur. 373
Bänden. Ja, er ist für den Leser noch wertvoller insofern, als er die
Kritik eines Fachmannes von Ruf über die Vorgänge bringt, die
tatsächlich die entscheidenden in dem Kriege waren, so interessant
auch die Vorereignisse genannt zu werden verdienen. Über den
russischen Hauptführer urteilt der Verfasser, wie nicht anders zü er-
warten war, ohne Schönfärberei gerecht und nicht schlecht, wenn
auch dessen Fehler, namentlich die unglückselige Formation zu Be-
ginn der Schlacht, scharf hervorgehoben werden. Um so vernichten-
der fällt das Urteil über Nebogatoff aus! Der Verfasser sagt mit
Recht, die russische Flotte konnte nicht siegen und deckt schonungs-
los die Gründe dafür auf. Wenn die Russen lernen wollen, müßte
jeder russische Seeoffizier das Buch lesen und studieren. Den
Deutschen diene es als Mahnung, nicht von ihrem Tun und Treiben
abzulassen. v. N.
Der Feldverpflegungsdienst bei der Truppe. Ein Ratgeber für Offi-
ziere aller Waffen. Von H. Bober, Oberst und Kommandeur
des Inf.-Regts. Freiherr von Sperr (3. Westfälisches) Nr. 16. Mit
einer Abbildung im Text. Berlin 1914. E. S. Mittler & Sohn.
Bei der großen Wichtigkeit, die in einem künftigen Kriege
die Verpflegung des Heeres beansprucht, mehren sich auch in der
Militärliteratur die Veröffentlichungen über diesen Gegenstand. Das
vorliegende Buch, der 20. Band aus der Handbibliothek des Offiziers,
ist in der Hauptsache eine recht brauchbare Zusammenstellung aus
den verschiedenen einschlägigen Vorschriften. Obgleich es sich
bis in Einzelheiten vertieft, wie z. B. Umänderung eines gelieferten
Wagens in einen Marketenderwagen, geht die Übersichtlichkeit nicht
verloren. Das Buch will „ein zuverlässiger Ratgeber sein“, es soll
„auf die Wichtigkeit einer sorgfältigen Vorbereitung der Mobilmachung
des gesamten Verpflegungsdienstes aufmerksam machen“ und dazu
anregen „im Frieden darüber nachzudenken, wie unter schwieriger
Verpflegungslage Aushilfen gefunden werden können“.
Die beiden ersten Absichten werden erfüllt; ob der letzte Zweck
erreicht wird, bleibt fraglich. Denn die Herren, für welche die Arbeit
geschrieben ist, sind entweder junge Offiziere, wie die Bataillons- usw.
Adjutanten, oder es fehlt ihnen der militärische Überblick, wie den
Herren des Beurlaubtenstandes, aus deren Reihen die Verpflegungs-
offiziere trotzdem am zweckmäßigsten genommen werden, da ihnen
auf kaufmännischem und wirtschaftlichem Gebiet meist praktische Er-
fahrungen zur Seite stehen. Jedenfalls sind beide Arten von Offizieren
kaum in der Lage, „im Frieden darüber nachzudenken, wie unter
schwieriger Verpflegungslage Aushilfen gefunden werden können“.
Am ehesten floch die Zahlmeister, an welche sich das Buch in dritter
Linie wendet, wenn sie nicht im Formenkram untergehen. Ein „zu-
verlässiger Ratgeber“ sollte aber durch Beispiele zeigen, wie man sich
helfen muß, ohne den Wortlaut der Vorschriften erfüllen zu können
374 Literatur.
oder ohne die vorgeschriebenen Nahrungsmittel zu verwenden, auf
welche man doch nicht in allen Lagen wird rechnen können, Unsere
letzten Feldzüge 1866, 1870/71, in China und in Südwestafrika geben
hierzu genügend Gelegenheit. Das regt leichter zum Nachdenken an
und gräbt sich für den Notfall besser in das Gedächtnis ein, als wenn
man nur die Vorschriften oder dem Ähnliches nachliest. Vielleicht
erweitert Verfasser in einer Neuauflage seine Arbeit in diesem Sinne.
Der Preis von 2,50 M. für die jetzige Ausgabe ist zu teuer; bei
einer erweiterten neuen Auflage dürfte er nicht erhöht werden, damit
das Buch auch wirklich in möglichst viele Hände kommt, was es ver-
dient, —f.
Anwendung der Feldbefestigung beim Infanterieangriff. Öster-
reichisch-ungarische, japanische und deutsche Anschauungen.
Von J. F. (Separatabdruck aus der „Milit. Rundsch.“ 3. Jahrg.
Nr. 15 und 22.) Wien 1914. Verlag von L. W. Seidel & Sohn,
K. u. K. Hofbuchhändler.
Verfasser geht davon aus, da aus den Erfahrungen des man-
dschurischen Feldzuges auf der einen Seite die extremsten Folgerungen
gezogen wurden, auf der anderen hingegen diese Erfahrungen aus
Überschätzung der Leistungen und Fehler der einen und anderen
Partei ignoriert wurden.
Viele anfänglichen Mißerfolge der tapferen Japaner sind gewiß
ihrer zu geringen Überlegenheit an Zahl, dem Mangel an modernem
Geschütz und insbesondere an schweren Brisanzgeschossen zuzu-
schreiben, aber diesen Tatsachen gegenüber muß festgestellt werden,
daß auch die Kampfmittel und Anlagen des Verteidigers in jeder Be-
ziehung noch unzulänglicher und unmoderner waren. Es unterliegt
keinem Zweifel, daß mancher Mißerfolg hätte vermieden werden
können, wenn die Idee des „Schnellangriffs“* nach Sauerscher Theorie
nicht das japanische Armeeoberkommando von Anbeginn an zu sehr
beeinflußt hätte. Erst als wahre Hekatomben dieser Idee in den
Augusttagen geopfert waren, zogen die Japaner aus diesen vergeb-
lichen Opfern die Lehre, daß die verschiedenen Formen, die der In-
fanterieangriff, je nach der Situation, annehmen muß, deutlich er-
kennen lassen, daß sich seine Durchführung nicht für alle Fälle fest-
setzen läßt. Jedes einseitige starre System oder Schema muß und
wird auch fernerhin im Kriege versagen, denn Angriffsform und An-
griffsvorgang wechseln je nach Lage, allein die Energie des Wollens
bleibt stetige Grundbedingung für alle Fälle,
Jedenfalls rechnen die neuen Gefechtsvorschriften damit, daß die
Infanterie — entgegen dem brennenden Wunsche nach rascher Ent-
scheidung - oft nur nach und nach, mühsam von Karmpfstellung zu
Kampfstellung den Raum nach vorwärts gewinnen können wird und
behandeln diese Frage sehr eingehend. Vor allem weisen sie nach,
daß die Hilfsmittel der Feldbefestigung sehr häufig werden heran-
Literatur. 375
gezogen werden müssen, um gegenüber den mehr oder weniger stark
befestigten Stellungen des Feindes, sei es, überhaupt vorwärts zu
kommen, sei es, um bereits gewonnenes Gelände einstweilen fest-
zuhalten, um von ihm aus als neu gewonnener Basis nach den er-
forderlichen Vorbereitungen mit Aussicht auf Erfolg weiter vorgehen
zu können.
Verfasser weist nach, inwieweit in den einzelnen österreichisch-
ungarischen Vorschriften diesen Ansichten Rechnung getragen ist. Er
zitiert die hierauf bezüglichen Stellen aus dem „Entwurf der Feld-
befestigungsvorschrift für die Truppen des K. u. K. Heeres“ von 1908,
aus dem „Entwurf des Exerzierreglements für dieK. u. K. Fußtruppen“
von 1911, aus dem „Technischen Unterricht für die Pioniertruppe“*
und aus dem Dienstbuch „Kampf um feste Plätze“ und weist ver-
gleichend nach, daß die hierin für die Anwendung der Feldbefestigung
beim Angriff gegebenen Vorschriften denen in den Vorschriften Japans
— Entwurf der Feldbefestigungsvorschrift, Neuauflage 1908 (übersetzt
von K. u. K. Hauptmann Winternitz) — und Deutschlands — Feld-
pionierdienst aller Waffen (F.Pi.D.) 1911 — voll entsprechen. Alle
diese Vorschriften stimmen unbedingt darin überein, daß sie unter Be-
tonung des Offensivgeistes allen Mitteln heutiger Kriegstechnik, der
hohen Waffenwirkung modern ausgerüsteter Gegner und den reichen
Kampferfahrungen des mandschurischen Krieges in vollstem Maße
Rechnung tragen, ohne damit irgendwie den Angriffsgedanken zu
Grabe zu tragen.
Verfasser hebt besonders die japanische und deutsche Vorschrift
hervor, die in knapper Form alles das umfassen, was in den zum
Vergleich herangezogenen österreichischen Vorschriften verstreut be-
handelt ist; er empfiehlt auch für die österreichische Infanterie die
Ausgabe einer Vorschrift, die in lapidarer Kürze eines Katechismus
alles zu enthalten hätte, was die Infanterie beim Angriff auf be-
festigte Stellungen zu tun hat, denn eine gute Infanterie muß der
Angrifisaufgabe gegen jede Befestigung gewachsen sein: Von der in
wenigen Stunden oder erst im Verlaufe des Gefechts durch den Gegner
hergestellten flüchtigen Anlage bis zu der von langer Hand sorgfältig
und stark befestigten Position und bis zum permanenten Werk eines
festen Platzes.
Alles in allem ein lesenswertes Schriftchen, das in gedrängter
Kürze Formen und Mittel des Angriffs auf befestigte Stellungen kritisch
und vergleichend mit den fremden Vorschriften beleuchtet. À.
L’intendance en campagne. Parl G. Nony, Sous-Intendant militaire
de 2e classe. Paris 1914. Henri Charles Lavauzelle. 10 Frs.
Das sehr umfangreiche Buch von fast 500 Seiten behandelt die
gesamte Tätigkeit der Intendantur im Felde. Der Hauptteil der Dar-
stellung ist dem Verpflegungswesen gewidmet, die übrigen Zweige der
Verwaltung, wie Bekleidung, Kassenwesen usw. treten dagegen sehr
376 Literatur.
zurück. Nach einer sehr ausführlichen historischen Darlegung des
Verpflegungswesens, wobei namentlich der Feldzug von 1870/71 be-
sprochen wird, setzt der Verfasser die Gliederung des Heeres, seine
Verwaltungseinrichtungen und die Grundsätze des Verpflegungsdienstes
auseinander. Hierauf werden die einzelnen Organe, die Ausrüstung
der Truppen, die Organisation der Kolonnen und der Gang der Ver-
sorgung der Truppen mit Lebensmitteln erörtert.
Die ganze Darstellung ist sehr weitschweifig und behandelt auch
den ganzen Etappendienst, die Einrichtung der Eisenbahnen für mili-
tärische Zwecke usw. Man bekommt aber auf diese Weise einen sehr
guten Einblick in die inneren Verhältnisse des französischen Heeres.
Die Verpflegung ist ganz auf den Nachschub aufgebaut, gelegentlich
wird einmal erwähnt, daß die deutsche Heeresverwaltung in sehr
optimistischer Weise immer noch an eine Ausnutzung des Operations-
gebietes durch die Truppe dächte, sogar an Ort und Stelle Brot er-
‚ backen wolle. Der Verfasser hält dies für gänzlich ausgeschlossen.
In einem gewissen Gegensatz hierzu steht seine Bemerkung, der man
nur zustimmen kann, daß, wenn die Truppe nicht ständig auf die
Ausnutzung des Landes hingewiesen wird, sie sehr leicht dazu kommt,
dies zu vernachlässigen und sich nur auf den ihr sehr viel bequemeren
Nachschub zu verlassen.
Von unserer Auffassung aus ist der französische Nachschub zu
sehr auf die Benutzung der Eisenbahnen in unmittelbarer Nähe der
Truppen berechnet. Es wird sich kaum durchführen lassen, daß die
Truppenfahrzeuge regelmäßig zu den Eisenbahnausladeorten fahren,
um sich dort wieder zu ergänzen. Erst wenn dies nicht mehr mög-
lich ist — bei Entfernungen der Truppe von der Bahn über 20 km —
sollen die Verpflegungskolonnen des Korps als Bindeglied dazwischen
eingeschoben werden. Die ganze Organisation der Kolonnen erscheint
nicht sehr zweckmäßig. Auffallend ist die starke Vereinigung der
Kolonnen und Verpflegungsanstalten bei der Armee, wodurch die Be-
deutung des Armeekorps etwas gedrückt wird. In eigenartiger Weise
ist die Fleischversorgung geregelt. In weit rückwärts der Armee ge-
legenen Orten ein Tierpark mit Schlächtereien. Von hier wird das
geschlachtete Fleisch auf besonderen automobilen Fleischwagen in
den Bereich der Truppen geführt und auf die bei jedem Bataillon be-
findlichen Fleischwagen verladen.
Die für den nächsten Tag notwendigen Lebensmittel — ohne
Fleisch — werden schon abends an die Mannschaften verteilt und
teils im Tornister, teils auf der Gefechtsbagage mitgeführt, so daß der
Mann unmittelbar nach dem Einrücken im Quartier mit dem Kochen
beginnen kann. Fahrbare Feldküchen sollen eingeführt werden.
Merkwürdig wenig eingehend werden die Bewegungen der Ko-
lonnen besprochen, worauf wir gerade so hohen Wert legen. bie
Einrichtung von Feldmagazinen und Ausgabestellen findet anscheinend
nicht in demselben Umfange wie bei uns statt.
Literatur. 377
Beim Lesen des Buches stören sehr die vielen Abkürzungen.
Wer sich für das Verpflegungswesen der fremden Heere inter-
essiert, wird dieses Buch mit Nutzen lesen. Den Intendanturbeamten
sei es in erster Linie emptohlen. v. Schreibershofen.
Fliegerschule. Von Heinz Erblich, Autotechnische Bibliothek. Bd. 50.
Berlin W 62. Verlag Richard Carl Schmidt & Co.
Ein recht übersichtliches Werkchen, das allen denen, die sich
dem Flugwesen widmen wollen, ein helfender Berater sein will. Der
Verfasser setzt richtigerweise keine oder nur geringe Vorkenntnisse
über die zu behandelnde Materie voraus und bemüht sich deshalb
durch gemeinfaßliche Darstellung das Eindringen in die Kenntnis des
Motorenwesens, dem das dritte Kapitel gewidmet ist, zu erleichtern.
Ebenso klar und dabei kurz gehalten ist das Kapitel über die ge-
bräuchlichen Flugzeugtypen. Im Anfangskapitel setzt der Verfasser,
der selbst geprüfter Flugzeugführer und durch seine Leistungen einer
weiteren Öffentlichkeit bekannt geworden ist, die Licht- und Schatten-
seiten des Fliegerberufes auseinander, und gerade hierdurch entspricht
er ganz besonders dem eigentlichen Zweck des Büchleins, ein Berater
für künftige Flieger zu sein. Ein Anhang behandelt Anstellungs-
verträge für Flugzeugführer, Bestimmungen der Nationalflugspende,
Bestimmungen des D. L. V., eine Karte der Flugstützpunkte usw. Das
Buch wird deshalb auch als Nachschlagebuch seinen Dienst tun.
Alle künftigen Militärflieger seien auf diesen neuen Band der Auto-
technischen Bibliothek hingewiesen. Wh.
Fliegerhandbuch. Ein Leitfaden der gesamten Flugtechnik, Von K.
u. K. Hauptmann und Feldpiloten Robert Eyb (Bibliothek für
Luftschiffahrt und Flugtechnik, Bd. 13). Berlin 1914. Richard
Carl Schmidt & Co. 400 Seiten mit 134 Abbildungen und 1 Tafel.
Preis elegant gebunden 10 M.
Handbücher für Flieger und „Fliegerschulen“ scheinen sich gegen-
wärtig zu überstürzen. Das obige Werk ist unseres Wissens aber das
erste in Deutschland erschienene Handbuch. Der Verfasser ist einer
der bekanntesten österreichischen Militärflieger. Er behandelt sein
Thema in folgenden sieben Abschnitten: Vorkenntnisse, Experimente,
Wetterkunde, Der Motor, Entwurf und Bau, Propeller, Fliegen. Die
einzelnen Kapitel sind ebenso ausführlich wie klar gehalten — und
hierin hebt es sich besonders vorteilhaft von früher erschienenen
Fliegerhandbüchern ab. Die Ausführungen sind durch eine Reihe
bisher an keiner anderen Stelle veröffentlichter, zum Teil vom Ver-
fasser selbst entworfener Skizzen erläutert,
Durch die dienstliche Stellung und die reichen militäraviatischen
Erfahrungen des Verfassers erhält dieses Buch in erster Linie eine
militärische Bedeutung und stellt einen neuen Stein dar, auf dem die
Vorbildung, Ausbildung und Fortbildung unserer Militärflieger fuben
378 Literatur.
kann, und einen neuen Beitrag für die militäraviatische Unterrichts-
literatur. . Wh.
Die Steuerreserven Englands und Deutschlands. Beitrag zur Frage
der Rüstungsgrenze beider Staaten. Von Julius Wolf. Geheftet
2 M. Verlag Ferdinand Enke in Stuttgart.
Professor Julius Wolf versucht hier den Nachweis zu führen. daß
Deutschlands steuerliche Leistungsfähigkeit größer ist als die Englands.
Er begründet diese seine Ansicht unter Zuhilfenahme sehr umfang-
reichen Materials und beweist, daß wir uns mit unserer steuer-
lichen Leistungsfähigkeit Großbritannien gegenüber nicht zu ver-
stecken haben. Wolf weist in seiner Schrift darauf hin, daß England
nicht hoffen könne, durch weitere Steigerung seiner Rüstungen, die
Deutschland dazu zwingen würde, gleichfalls weiter zu rüsten und den
Atem zu nehmen, Vielmehr drohe die Gefahr, daß England der Atem
eher ausginge als uns. Mb.
Französischer Sprachführer für Unteroffiziere und Mannschaften.
Moyzischewitz. Oldenburg i. Gr. Gerhard Stalling. 0,25 M.
Das billige Heftchen ist so praktisch eingerichtet, daß es selbst
in der Hand des einfachen Soldaten ein vorzüglicher Wegweiser in
welschem Lande sein wird. Der Stoff ist so angeordnet, daB der
Mann, um sich verständlich zu machen, nur auf die der deutschen
Redensart gegenüberstehende französische Übersetzung mit dem Finger
zu zeigen hat.
Es empfiehlt sich für Angehörige unserer Truppen, das praktische
Heftchen ins Feld nachzuschicken. Sp.
Die Mobilmachung des Offiziers, Sanitäts- und Veterinäroffiziers
sowie Beamten. Kurt Raile. München 1913. Lindauersche
Buchhandlung. 0,50 M.
Das vorliegende Buch bietet in seiner knappen Form und über-
sichtlichen Anordnung des behandelten Stoffes ein äußerst brauch-
bares Hilfsmittel, die meist kurze Zeit vom Tage der Mobilmachung
an bis zum Einrücken ins Feld zur Beschaffung und sachgemäßen
Verpackung der Feldausrüstung zweckentsprechend auszunützen.
Auch für Erledigung und Ordnen der persönlichen Angelegen-
heiten vor Verlassen des Standortes finden sich so wertvolle und er-
schöpfende Ratschläge, daß die Anschaffung des Buches nur empfohlen
werden kann. Sp.
Kriegsgeschichte Deutschlands im neunzehnten Jahrhundert. Von
Colmar Frhr. v. d. Goltz, Kgl. preußischem Generalfeld-
marschall. II. Teil: Im Zeitalter Kaiser Wilhelms des Sieg-
reichen. (Das neunzehnte Jahrhundert in Deutschlands Ent-
wickelung. Herausgegeben von Paul Schlenther. Bd. IX.) Berlin
1914. Georg Bondi. 10 M.
In dem vorliegenden Bande hat die im Jahre 1910 unter dem
Titel: „Im Zeitalter Napoleons“ erschienene erste Hälfte der „Kriegs-
Literatur. 379
geschichte Deutschlands im neunzehnten Jahrhundert“ ihre Forsetzung
und ihren Abschluß gefunden. Wie schon der I. Teil, so steht auch
der vorliegende nicht nur kriegswissenschaftlich auf hoher Stufe,
sondern ist auch nach Form und Inhalt ganz besonders geeignet, bei
dem deutschen Volke das Verständnis für die Geschichte des ver-
gangenen ereignisreichen Jahrhunderts zu fördern.
Weder der Wiener Kongreß, noch der zweite Pariser Frieden
hatte die Hoffnung der deutschen Patrioten erfüllt. Statt des ersehn-
ten Reiches mit der Kaiserkrone war ein Staatenbund ins Leben ge-
rufen worden, der unmöglich jemanden befriedigen konnte. Preußen
vor allem war trotz seiner gewaltigen Leistungen in den Befreiungs-
kriegen stiefmütterlich behandelt worden. Mit zwingender Notwendig-
keit drängte seine politische wie territoriale Lage zur fortgesetztien
Kraftanstrengung auf dem Gebiete der Weiterentwickelung seiner
Heeresmacht. Aber trotz des die allgemeine Wehrpflicht einführenden
Boyenschen Wehrgesetzes, das bei allen seinen großen Vorzügen an
dem Fehler krankte, die Stärke des stehenden Heeres und der Land-
wehr „nach den jedesmaligen Staatsverhältnissen“ zu regeln, trat
unter dem Einfluß der heiligen Allianz in den nächsten Jahren ein
gefährlicher Stillstand in dem weiteren Ausbau der Heeresmacht ein.
Das gleiche war auch bei den Heeren der übrigen Staaten des
deutschen Bundes einschließlich Österreichs der Fall. So blieb nicht
nur das „kriegerische Rüstzeug“ Deutschlands in den langen folgen-
den Friedensjahren hinter den Forderungen der Zeit zurück, auch der
„führende Geist“, der es brauchen sollte, wurde kleinlich, behutsam
und schwunglos. „Er hatte den Zug von Größe verloren, der ihn zu-
vor bis nach Leipzig und Belle-Alliance geführt hatte.“ Deutlich
traten diese MißBstände in den Kämpfen der Sturm- und Drangperiode
von 1848 bis 1850, bei den Ereignissen im Großherzogtum Posen, be-
sonders aber im Kriege gegen Dänemark, hervor; auch den „Kriegs-
marsch“ durch die Pfalz und Baden, den Holsteinisch-Dänischen Krieg
und Österreichs Kämpfe in Italien und Ungarn durchwehte kein
frischerer Zug.
Es war ein durchaus glücklicher Gedanke, daß der Verfasser die
Kämpte dieser Periode sowie Politik und Heerwesen während der Zeit
des Stillstandes ausführlicher schilderte, als sie es anscheinend ihrer
Bedeutung nach im Rahmen einer Kriegsgeschichte „im Zeitalter
Kaiser Wilhelms des Siegreichen“ verdienen. Nur so konnte der Be-
weis für die Größe der Aufgabe erbracht werden, die schon der Prinz
von Preußen klaren Blickes erfaßt, die er dann als Prinzregent ein-
geleitet und, unterstützt von seinen Paladinen Bismarck, Moltke und
Roon, trotz Widerstrebens einer kurzsichtigen Volksvertretung glück-
lich und tatkräftig durchgeführt hat. Denn erst der preußischen
Armeereform von 1860 und ihrer großzügigen Weiterentwickelung war
es zu danken, daß Preußen, stark und wohlgerüstet, in die Deutsch-
land einigenden Kämpfe der Jahre 1864, 1866 und 1870/71 eintreten
380 Literatur.
und sie zum glücklichen Ende führen konnte. Daß deren Darstellung
den größten Raum des vorliegenden Bandes einnimmt, ist selbst-
verständlich.
Auf den blutgetränkten Schlachtfeldern Böhmens wurde die Frage
der Vorherrschaft in Deutschland gelöst. Unter der unbestrittenen
Führung Preußens schloß sich Norddeutschland im Norddeutschen
Bunde zusammen. Schon zwei Jahre später konnte Moltke das stolze
Wort aussprechen: „Frankreich ist dem Norddeutschen Bunde nicht
gewachsen.“ Nach weiteren drei Jahren war der Erbfeind über-
wunden, die Sehnsucht des deutschen Volkes erfüllt: Über dem neuen
Deutschen Reich strahlte die Kaiserkrone. Der großartige Aufschwung
von Technik, Handel, Industrie und Verkehrswesen, sowie eine ge-
schickte Weltpolitik haben seitdem die Weiterentwickelung der
deutschen Heeresmacht in neue Bahnen gewiesen und die Schaffung
und Ausgestaltung einer Seemacht erforderlich gemacht. Die bitteren
Erfahrungen Preußens in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahr-
hunderts sind nicht vergebens gewesen. Mit Recht können wir heute
sagen: „Wir stehen auf der Höhe unserer Zeit.“
Eine chronologische Tafel der kriegerischen und für die Aus-
gestaltung des deutschen Heerwesens wichtigen Ereignisse von 1795
bis 1913 sowie eine Übersicht über die Zusammensetzung der an den
Kriegen Deutschlands im neunzehnten Jahrhundert beteiligten größeren
Heere schließt den Band ab. Beide werden dem Leser zur schnellen
Orientierung willkommen sein. Das Studium der kriegerischen Er-
eignisse selbst wird durch 71 dem Bande beigegebene Textskizzen
wesentlich erleichtert.
„So wird dieses großartige Werk zum Lese-, Lern- und gleich-
zeitig zum Nachschlagewerk, vor allem aber zu einem hervorragenden
Mittel für die Förderung des Geistes und des Verständnisses für die
Geschichte unseres Vaterlandes während jener zuerst so traurigen
und dann doch wieder so ruhmreichen Periode.“ Dieses über den
I. Teil des Werkes gefällte Urteil gilt im vollen Maße auch für den
II. Band. der vor dem ersten noch das größere stoffliche Interesse
voraus hat, denn so fesselnd auch die napoleonischen Kriege sein
mögen, die zur Einheit Deutschlands führenden Kämpfe werden immer
das für uns wichtigste Ereignis des 19. Jahrhunderts bleiben.
Fr.
Druck von A. W. Hayn's Erben (Curt Gerber), Potsdam.
Zu: v. Hagen, Belle-Alliance.
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XXVI.
Das russische Feldheer
und der Kriegsschauplatz im Königreich Polen.
Von f
v. Richter, Generalmajor z. D.
Eine der wichtigsten, aber auch am schwierigsten zu lösenden
Aufgaben des Generalstabes ist in Friedenszeiten die Herbeischaffung
fortlaufender, zuverlässiger Nachrichten über Organisation, Bewaffnung,
Ausbildung und beabsichtigte Verwendung derjenigen Armeen, mit
denen es zum Zusammenstoß kommen kann. Der zusammengetragene
und verarbeitete Stoff dient zur Beurteilung der Schlag- und Leistungs-
fähigkeit des Gegners im Kriege, zum Erkennen seiner Stärke und
Schwächen. Um jener begegnen oder sie möglichst überbieten zu
können, müssen entsprechende Maßregeln getroffen werden, wie es
bei uns z. B. mit Beschaffung der 42-cm Mörser zur schnellen Be-
kämpfung der für den Einmarsch in Frankreich hinderlichen Sperr-
forts geschah. Diese bieten im Ernstfalle willkommene Gelegenheit,
sie zur Erlangung einer Überlegenheit auszunützen.
Unterzieht man in dieser Hinsicht das russische Heer einer Be-
urteilung, so springt seine gewaltige numerische Überlegenheit als
eine seiner Stärken, vielleicht der bedeutendsten, ins Auge. Es sind
an aktiven Truppen!) bei ihm nicht weniger als 37 Armeekorps vor-
handen, wovon 30 in Europa, 2 in Turkestan und 5 in Sibirien.
Ihre Zusammensetzung ist in den 3 Hauptwaffen nicht gleichmäßig,
wie bei uns. Im allgemeinen besteht in Europa ein jedes aus 2 In-
fanteriedivisionen, vereinzelt durch Schützenbrigaden verstärkt,
1 leichten Feldhaubitzabteilung zu 12 Geschützen und 1 Sappeur-
1) Vgl. „Die russische Armee“. 1912. Berlin, Hofbuchhandlung
E. S. Mittler & Sohn. |
Jahrbüicher für die deutsche Armee und Marine. Nr. 518. 28
382 Das russische Feldheer und der Kriegsschauplatz im Königreich Polen.
bataillon, in Turkestan aus 2 bis 3 Schützenbrigaden und 1 Sappeur-
bataillon, in Sibirien aus 2 Schützendivisionen, 1 leichten
Feldhaubitzabteillung zu 12 Geschützen und 1 Sappeurbataillon.
Jede Infanterie- und Schützendivision setzt sich zusammen aus
2 Brigaden zu je 2 Regimenten mit je 4 Bataillonen und
1 Artilleriebrigade in 2 Abteilungen zu je 3 fahrenden Batterien
mit zusammen 48 Geschützen; einzelnen Korps tritt noch 1 fahrende
Gebirgsabteilung oder -batterie hinzu. Bei der Infanterie besitzt
jedes Regiment und selbständige Bataillon 1 Maschinengewehr-Kom-
mando zu 4, im Kriege zu 8 Gewehren.
Eine selbständige Schützenbrigade besteht aus 4 Schützen-
regimentern (in Turkestan kommen Abweichungen vor) zu je 2 Ba-
taillonen und aus einer Schützenartillerieabteilung zu 3 fahrenden
Batterien oder fahrenden Gebirgsbatterien. Auch hier verfügt jedes
Regiment über 1 Maschinengewehrkommando zu 4 Maximgewehren
im Frieden, 8 im Kriege, ein Teil vermutlich über 1 Radfahrer-
kompagnie.
Jede Kavalleriedivision setzt sich aus 2 (bei der Garde die
erste Division aus 3) Brigaden zu je 2 NRegimentern, jede
Kosakendivision aus 2 Brigaden zu je 2 Regimentern zusammen.
Zugeteilt sind jeder 1 fahrendes Maschinengewehrkommando zu 8 Ge-
wehren und 1 reitende oder Kosakenartillerieabteilung zu 2 Batterien
mit zusammen 12 Geschützen.
Die selbständigen Kavalleriebrigaden zählen je 2 Kavallerie-,
die selbständigen Kosakenbrigaden je 2 bis 3 Regimenter und
zum Teil reitende oder Kosakenartillerie.. Jede soll über 4 fahrende
Maschinengewehre verfügen.
Von der Feld- und Gebirgsartillerie bestehen:
71 Brigaden, darunter 11 Schützenartillerie in Sibirien,
171 Abteilungen, darunter 46 Schützenartillerie, wovon 30
in Sibirien,
442 fahrende Feldbatterien, darunter 1 der Offizierartillerie-
schule,
31 reitende Feldbatterien, darunter 1 der Offizierartillerie-
schule und 2 Ersatzbatterien,
50 Gebirgsbatterien, darunter 16 Schützenartillerie in Sibirien
und 7 reitende,
20 Kosakenbatterien, darunter 1 reitende. Außerdem sind
für 19 die Stämme schon im Frieden vorhanden.
An schwerer Artillerie sollen 74 Mörser- und 24 schwere Batterien
vorhanden sein. Sie scheiden im Kriege aus dem Verbande . des
Das russische Feldheer und der Kriegsschauplatz im Königreich Polen. 383
Armeekorps aus und werden den Armeen unmittelbar unterstellt.
Ihre Zusammensetzung schwankt nach Zahl der Batterien und Art
der Geschütze.
Für den Luftkrieg sind verfügbar zwei Luftschifferbataillone,
14 Luftschifferkompagnien (darunter 4 sibirische) und 3 Flieger-
kompagnien.
Inwieweit die vom Chef des Generalstabes der Duma an-
gekündigte, umfangreiche Neubildung von Infanterie- und Kavallerie-
truppenteilen, sowie die vollständige Umänderung der Organisation der
Feldartillerie durchgeführt sind, ist nicht bekannt geworden. — Luft-
fahrzeuge sollen in ausreichender Menge zur Verfügung stehen, doch
soll es an ausgebildetem Personal mangeln.
Da den stehenden Heeren unmittelbar die Reservetruppen
folgen, so daß schon in den Anfangsschlachten mit ihrer Mitwirkung
zu rechnen ist, so müssen auch sie kurz erwähnt werden. Vermut-
lich gelangen bei der Infanterie 38 Divisionen zur Aufstellung, wo-
von 32 in„Europa, bei der Kavallerie, und zwar nur bei den Kosaken,
53 Regimenter, mit zusammen 347 Sotnien 2. Aufgebots und
45 Regimenter mit 265 Sotnien 3. Aufgebots. Davon entfallen auf
Sibirien 8 Regimenter mit 53 Sotnien bzw. 5 Regimenter mit
35 Sotnien. Wieviel an Artillerie aufgestellt wird, richtet sich nach
Schaffung von Reservekorps und -divisionen, die in der Zusammen-
setzung den aktiven Verbänden entsprechen dürften.
Zur Ausbildung des Ersatzes wird für jedes Infanterie-
regiment der Linie und Reserve 1 Bataillon mit so vielen Kom-
pagnien geschaffen, als das Regiment Bataillone besitzt; sie können
bei Bedarf verdoppelt werden. Für die Kavallerie entstehen aus den
im Frieden vorhandenen 64 Ersatzeskadrons für jedes Regiment 2 be-
rittene und 1 unberittene Eskadron, für die Kosaken auf jedes
Sweno (Begriffszusammenfassung für je 3 aus den 3 Aufgeboten
hervorgehende Regimenter) 1 Ersatzsotnie. Die fahrende Artillerie
stellt vermutlich für jede Brigade 1 Ersatzbattere zu 8 Ge-
schützen und für jede selbständige Abteilung 1 zu 4 Geschützen
auf. Für die reitende Artillerie entstehen aus den im Frieden
vorhandenen 2 Ersatzbatterien 8 zu 3 Zügen mit 2 Geschützen.
Von der unserem Landsturm entsprechenden Reichswehr ist
so viel bekannt, daß sie in je 20 Divisionen des ersten und zweiten
Aufgebots je zu 4 Regimenten mit 4 Bataillonen Infanterie,
1 Reiterregiment mit 4 Sotnien und 2 fahrenden Batterien auf-
gestellt werden .soll.
Die Stärke der Armee im Frieden ist nicht veröffentlicht.
28°
384 Das russische Feldheer und der Kriegsschauplatz im Königreich Polen.
Sie wird zu 1240000 Mann veranschlagt'). Im Kriege dürfte sie
einschließlich der Reservetruppen eine Höhe von 2400 000 Mann er-
reichen. Das sind gewaltige Massen, an die wir nicht annähernd her-
anreichen. Nach welcher Richtung sie zur Geltung kommen, haben
die Österreicher in ihren heldenhaften Kämpfen bei Lemberg erfahren
müssen. War glücklich ein Infanterieregiment abgeschlagen, so traten
an seine Stelle immer wieder neue, ohne daß sich der Bestand
merkbar erschöpft. Doch auch hier muß der Grundsatz zur An-
wendung kommen, daß man die Massen nicht zählen, sondern nach
ihrer Bedeutung wägen soll. Und dazu wird man das Menschen-
material einer Prüfung zu unterziehen haben.
Seit Generationen ist die Ernährung in breiten Schichten des
Volkes eine mangelhafte und dem Genuß des Alkohols wird besonders
auf dem Lande und von den städtischen Arbeitern stark gefrönt.
Dies Laster muß bei den Nachkommen zur Entartung führen und
vornehmlich in Herabsetzung der geistigen Fähigkeiten in die Er-
scheinung treten. Nun ist zwar im Laufe dieses Jahres ein strenges
Verbot ergangen und erneut eingeschärft, das den Alkoholgenuß völlig
aus dem Heere verbannen soll. Bei jeder Gelegenheit kehrt die
Mannschaft aber doch zu dem langgewohnten Genußmittel zurück.
Nach Besetzung von Lemberg sind alkoholführende Läden in erster
Linie ausgeraubt worden. Und da die Offiziere mit schlechtem Bei-
spiele vorangehen, so sehen sie den Leuten durch die Finger.
Zu der minderwertigen geistigen Veranlagung kommt die mangel-
hafte oder ganz fehlende Schulbildung hinzu. Die Statistik führt
nicht weniger als 70°/, Analphabeten auf! Auf dem Lande ohne
Anregung, in den großen Städten unter ungünstigen Bedingungen
lebend und aufhetzenden Einflüssen ausgesetzt, fristen die meisten
ein stumpfsinniges Dasein, unfähig, sich aus eigener Kraft aufzu-
schwingen, und deshalb staatsumwälzenden Ideen leicht zugänglich,
Körperlich durch die bessere Kost und die Ausbildung zur Leistungs-
fähigkeit während der Dienstzeit zwar gekräftigt, aber wenig ein-
drucksfähig und unselbständig, erschlaffen die Leute nach größeren
Anstrengungen leicht, neigen zur Mutlosigkeit, und die Zahl derer, die
zu selbständigen, mit Umsicht, Entschlußfähigkeit und Wagemut ver-
bundenen Aufträgen geeignet sind, ist beschränkt. Im allgemeinen sind
es Herdenmenschen, die so lange aushalten, als sie sich mit dem Nachbar
1) Nach anderer Schätzung soll die gesamte Armee im Sommer 1914
auf 1415000, im Winter 1914/15 auf 1860000 Köpfe gelangen, wovon
1017000 bez. 1337000 in Europa. Wurden, wie wahrscheinlich, die
Reservisten in diesem Frühjahr nicht entlassen, so ist mit einer Friedens-
stärke von 1840000 Mann zu rechnen, davon 1320000 in Europa.
Das russische Feldheer und der Kriegsschauplatz im Königreich Polen. 385
in enger Fühlung und unter strenger Aufsicht ihrer Führer wissen. Sind
diese gefallen, so halten sie meist nicht mehr stand und ergeben sich
oder zeigen dem Feinde den Rücken. Deshalb sind sie für die Ver-
teidigung geeigneter als für den Angriff. Im zähen Widerstand haben
sie im Russisch-Japanischen Kriege zuweilen Tüchtiges geleistet, im An-
sturm sind sie in der Regel zusammengebrochen. Diesem Umstand
dürften es die Österreicher neben ihrer unvergleichlichen Tapferkeit
mit zu danken haben, daß sie dem mehr als doppelt so starken
Gegner bei Lemberg erfolgreichen Widerstand leisten konnten.
Vor allem fehlt dem russischen Soldaten jede Begeisterung für
den Krieg. Er zieht nicht für die Ehre oder Verteidigung seines
Vaterlandes ins Feld, sondern unter dem Zwange des herrschenden
Stammes. Für dessen Absichten, alle Slawen unter dem Moskowiter-
tum zu vereinigen, den Zugang zum Mittelländischen Meer zu
erzwingen, die orthodoxe Kirche auszubreiten usw., fehlt ihm
das Verständnis völlig. Er fühlt sich gewissermaßen zur Schlacht-
bank geführt. Daher auch das Widerstreben der von den Russen
unterjochten und geknechteten Polen, Kleinrussen, Kaukasier usw.
bei der Mobilmachung. Die Einberufenen haben sich vielfach bis
aufs äußerste widersetzt, so daß an einzelnen die schwersten Strafen
als Abschreckungsmittel verhängt sind. Um sie willfähriger zu machen,
ist ihnen vorgespiegelt, daß es sich um ein großes Kaisermanöver
handle. Kein Wunder, daß auf solche Elemente kein Verlaß ist,
daß Kosaken hinter der Front aufgestellt werden, um Weichende in
den Kampf zurückzutreiben, und Offiziere Gummiknüttel führen
sollen, um durch sie mangelndem Tatendrange aufzuhelfen.
Wie der Offizier, so der Soldat! Der Offizier soll der Führer
des Soldaten sein und ihm als leuchtendes Beispiel vorangehen.
Finden sich auch in bevorzugten Regimentern tüchtige Offiziere nach
Bildung und Erziehung, die in jeder Hinsicht als Vorbilder dienen
können, so mangelt es daran doch bei den meisten Provinzregimentern,
teils weil der Ersatz aus ungeeigneten Schichten der Bevölkerung
entnommen wurde, teils weil die entlegenen kleinen Standorte zu
wenig Anregung zur Weiterbildung bieten. So begegnet man häufig
Abneigung gegen planmäßige Arbeit, Hang zur Bequemlichkeit, Mangel
an Selbstzucht, Scheu vor Verantwortung.
Solche Eigenschaften machen nicht zum Führer im Gefecht und
Zum Erzieher in Manneszucht geeignet. Dazu kommt, daß die
Friedensausbildung zur Hebung der Führereigenschaften und zur
Förderung der geistigen Regsamkeit nicht angetan ist.
Ein russischer Offizier kennzeichnet das hierbei übliche Verfahren,
386 Das russische Feldheer und der Kriegsschauplatz im Königreich Polen.
wie folgt'!): „Unser Leitspruch ist: ‚Erst abwarten, erst die Lage sich
klären lassen‘. Die Friedensausbildung unterdrückt nicht nur die
Betätigung der Initiative, sondern verfolgt sie in jeder Weise, be-
ginnend mit Bändigung Ungehorsamer und aufhörend bei allen, die
eigene Meinung zu haben wagen. Wir tun das, was nicht schwer
ist, was keinen Entschluß verlangt. Im Gefühl unserer taktischen
Schwäche fangen wir immer mit dem Leichteren an (Marsch, Ruhe,
Vorposten) und verwenden hierauf den größten Teil der Zeit; da sie
aber beschränkt ist, so sind wir in dem Wichtigsten, dem Angriff,
nicht geübt. So genügt vor allem nicht die Schulung im Begegnungs-
kampfe. Sobald es zum Zusammenstoß mit dem Gegner kommt.
sind wir verloren, geben unzusammenhängende Befehle oder gar keine,
den Unterführern überlassend, nach eigenem Gutdünken zu handeln.
Am verderblichsten bleibt, daß die Initiative völlig unseren Händen
entgleitet. Wir ordnen uns völlig und freiwillig dem Willen des
Gegners unter, und sowie auch nur die leiseste Möglichkeit besteht,
sich an eine, wenn auch schlechte Stellung zu klammern, sofort tun
wir es. Der Gegner wird sich an unserer Stellung den Kopf ein-
rennen und dann werden wir zum Angriff übergehen — so recht-
fertigen wir unsere taktische Ungewandtheit und den Mangel an
Öffensivgeist. Theoretisch wird der Angriffsgedanke von allen Vor-
schriften vertreten, das Entscheidende ist aber, ob er auch zur Tat
wird.“ Nach dem Grundsatze, daß im Kriege nur geht, was im
Frieden anerzogen ist, dürfte sich die Gefechtstätigkeit der Russen im
Sinne dieser Schilderung abspielen. Die bisherigen Erfahrungen
sprechen dafür. Denn sind die Russen mit dem Feinde in nahe
Berührung getreten, so haben sie zum Spaten gegriffen und die ge-
wählte Stellung um so stärker ausgebaut, je mehr Zeit ihnen gelassen
wurde. Und wie sie sich im Russisch-Japanischen Kriege mehrere
stark befestigte Linien hintereinander schufen, so auch in den Kämpfen
östlich Lemberg, wo zu den Erdarbeiten hinter dem Rücken der
Armee Bauern herangezogen wurden. So sind zwar die Vorschriften
in offensivem Sinne geändert worden, der unentschlossene Geist der
Truppe ist ihnen aber nicht gefolgt. Nun zeigt es sich, daß es leicht
ist, die Truppe in die geschaffenen Deckungen hinein zu bringen, aber
schwer, sie feindwärts wieder herauszubekommen. Darf sie damit
rechnen, daß ihr im Rücken eine neue Zufluchtsstätte offen steht, so
gewinnt diese mit der Annäherung des Angreifers an Anziehungskraft.
Weiß der Soldat, daß er beim begonnenen Kampfe siegen oder
sterben muß, so schlägt er sich anders, als wenn ihm bekannt ist.
1) Vgl. v. Löbellsche Jahresberichte, Jahrgang 1913.
Das russische Feldheer und der Kriegsschauplatz im Königreich Polen. 887
daß die Führung bereits die Möglichkeit eines anfänglichen Mißerfolges
in Rechnung gestellt hat.
Soviel über die Führung! Wie steht es mit dem Vorbilde, das
die Offiziere ihren Untergebenen in der Manneszucht sein sollen? Er-
wähnt war schon, daß sie dem Alkoholgenuß trotz aller Verbote
weiter frönen. Zuweilen sollen sie sich in berauschtem Zustande ge-
zeigt haben. Ganz so, wie im fernen Osten, führen sie Weiber mit
sich, aus deren Vorhandensein gar kein Hehl gemacht wird. Und in
einem Fahrzeug eines in Ostpreußen gefangenen Kommandierenden
Generals wurde die silberne Bowle gefunden, die ein Kreis seinem
Landrat gestiftet hatte. Das sind von mehreren Seiten überein-
stimmend behauptete Tatsachen, die näherer Beleuchtung nicht be-
dürfen. Ein Offizierkorps, von dem Mitglieder sich so weit vergessen
und damit bekunden, daß sie jedes Begriffes von Ehre und Pflicht
bar sind, hat keinen Anspruch auf Achtung und ist zum Erzieher der
Untergebenen völlig ungeeignet.
Diese Betrachtungen lassen die Bedeutung der gewaltigen Masse
nach ihrem inneren Werte weniger bedenklich erscheinen. Dazu
kommt, daß Teile von ihr nicht verfügbar sind, weil sie in den
Bezirken unzuverlässiger Stämme zur Unterdrückung staatsfeindlicher
Bestrebungen verbleiben müssen. Und schließlich sind die bisherigen
Verluste an Gefangenen und Gefallenen doch schon so bedeutend,
daß sie in Rechnung gestellt werden müssen. Ihre Zahl dürfte nach
den Schlachten in Ostpreußen und Galizien mit 400000 nicht zu
hoch veranschlagt sein. Das entspricht dem Bestande von etwa
10 Armeekorps. Danach schrumpft auch der Umfang des mächtigen
Heereskolosses bemerkenswert zusammen.
Die Bewaffnung des Heeres kann als durchaus zeitgemäß be-
zeichnet werden.
Die Infanterie führt ein Magazingewehr von 7,62 mm-Kaliber
mit Spitzgeschoß, auf dem das Bajonett stets aufgepflanzt getragen
wird Der Ladestreifen enthält 5 Patronen, von denen der Mann
120 bei sich führt. Die das gleiche Kaliber besitzenden Maschinen-
gewehre können ihre Feuergeschwindigkeit als Höchstleistung bis
600 Schuß in der Minute steigern. Sie sind mit abnehmbaren Schutz-
schilden ausgerüstet und werden auf Tragetieren oder zweirädrigen
Karren fortgeschafft.
Die Kavallerie ist mit einem Gewehr gleichen Kalibers, wie die
Infanterie, bewaffnet, auf das, mit Ausnahme der Kosaken, der Säbel
als Bajonett aufgepflanzt werden kann. Die Taschenmunition des
Mannes beträgt 40 Patronen. Die Stahlrohrlanze, die einem Teil der
Kosaken fehlt, wird nur vom ersten Gliede getragen. Konstruktion
388 Das russische Feldheer und der Kriegsschauplatz im Königreich Polen.
und Fortschaffung der Maschinengewehre sind die gleichen, wie bei
der Infanterie.
Bei der Feldartillerie führen fahrende und reitende Batterien
die gleichen Schnellfeuerkanonen von 7,62 cm-Kaliber, deren 6,56 kg
schweren Geschosse, Schrapnells und Granaten, eine größte Schußweite
von 6400 m und einen Brennzünderbereich bis 5500 besitzen.
Die leichten Feldhaubitzen haben ein Kaliber von 12,20 cm und
ihre 23 kg schweren Granaten und Schrapnells sollen übereinstimmend
im Az- und Bz-Feuer Schußweiten’bis zu 7700 m erreichen'). Ältere
Haubitzen gleichen Kalibers langen nur bis auf Entfernungen von
6400 m.
Auch die Gebirgsgeschütze sind in zwei Konstruktionen von
gleichem Kaliber wie die Feldkanonen vorhanden. Die neueren M/09
tragen im Az-Feuer bis 6400 m, im Bz-Feuer bis 5100 m, die älteren
mit beiden Zünderarten nur bis 4200 m. Über die Einrichtung ihrer
Geschosse ist nichts bekannt. Diejenigen der neueren Konstruktion
dürften technisch auf der Höhe stehen und eine beachtenswerte
Wirkung ausüben können, wenn schon diese nicht an die der Feld-
artillerie heranreicht.
Mit Ausnahme der älteren Feldhaubitzen sind die Feld- und
Gebirgsgeschütze mit Rohrrücklauf, Schutzschilden und Panorama-
fernrohr versehen.
In der schweren Artillerie des Feldheeres werden 10,67 cm-
Kanonen und 15,24 em-Haubitzen mitgeführt. Über ihre ballistischen
Leistungen und Geschosse ist nichts veröffentlicht.
Zur Beurteilung der Waffen mögen folgende Angaben dienen:
Das Infanteriegewehr ist nach technischer Vollkommenheit
und ballistischen Leistungen dem anderen Armeen als ebenbürtig an-
zusehen. Das gleiche kann von den Maschinengewehren behauptet
werden. Über das Dragoner- bzw. Kosakengewehr fehlen nähere
Angaben.
Die Feldkanone bildet das Hauptkampfgeschütz der Artillerie.
Ihre Tragweite reicht zwar im Az-Feuer nicht an die der Feldkanone
Deutschlands heran, übertrifft sie aber im Bz-Bereich um einige
hundert Meter. Die Schrapnellwirkung ist wegen kleinerer Zahl der
Füllkugeln wahrscheinlich etwas geringer zu veranschlagen als bei
uns; über die Granatwirkung, die vermutlich der unsrigen sich nähert,
fehlen Angaben. Zum Bekämpfen starker gedeckter Ziele könnte sie,
weil mit Bz ausgestattet, geeignet sein. Von der Detonation der
Granaten erwarten die Russen einen starken moralischen Eindruck bei
1) Nach anderen Angaben mit Az 7500, mit Bz 7200 m.
Das russische Feldheer und der Kriegsschauplatz im Königreich Polen. 389
nicht beschossenen Truppen. Das kann zutreffen, wenn die ersten,
in der Nähe einer Truppe einschlagenden Geschosse Granaten sind.
Nach den Erfahrungen des Russisch-Japanischen Krieges hält aber
der Eindruck nicht lange vor. Zum Zerstören von Baulichkeiten,
Ortschaften und Erdwerken und auf Entfernungen über den Bz-Bereich
hinaus erhält die Granate den Vorzug. Truppen hinter Flechtwerk,
Zäunen und dünnen Lehmwänden werden mit Schrapnells bekämpft.
Auf Nahentfernungen wird das Schrapnell als Kartätsche verwendet.
Infolge der hohen ballistischen Beanspruchung ist die Feldkanone
schwerer geworden, als für ausreichende Beweglichkeit zulässig. Auch
steht die Lafette beim Schießen nicht so still, daß mehrere Schüsse
ohne Nachrichten hintereinander abgegeben werden können. Immerhin
reicht die vorhandene Feuergeschwindigkeit völlig aus.
Die leichte Schnellfeuerhaubitze ist als ein Geschütz von
hoher Leistungsfähigkeit nach ihrem Brennzünderbereich und Zahl der
Füllkugeln des Schrapnells,, nach Wucht und Sprengwirkung der
Granate zu beurteilen. Ihre genügende Beweglichkeit für ein Feld-
geschütz muß in Frage gestellt werden. Das hohe Gewicht ihrer
Geschosse beschränkt deren Zahl oder verlangt viele Munitionswagen.
Die Gebirgsgeschütze besitzen eine nicht zu unterschätzende
Leistungsfähigkeit nach Tragweite und vermutlich Geschoßwirkung, so
daß sie dort, wo Feldgeschütze nicht hingelangen können, sei eg wegen
Steilheit oder unzureichender Deckung des Geländes, diese zu ersetzen
vermögen.
Bezüglich der schweren Artillerie des Feldheeres kann nur
vermutet werden, daß die 10,67 cm-Kanone ein wuchtiges, sehr weit
reichendes Schrapnell und eine Granate besitzt. Die 15,24 cm-Haubitze
wird eine Granate von 40—45 kg Gewicht und 7—8 kg Spreng-
ladung führen, auch soll sie Schrapnells verfeuern. Ihre Beweglichkeit
dürfte geringer, ihre Wirkung vielleicht etwas höher als die unserer
schweren Feldhaubitze zu bewerten sein.
Die Munitionsausrüstung einer fahrenden Batterie für das
Geschütz wurde im Jahre 1912 angegeben auf 1012 Schuß, wovon
600 Schuß in den Lokalartillerieparks.. Danach würden im Felde nur
412 Schuß zur Verfügung stehen, einschließlich der bei der Batterie-
reserve und den Ärtillerieparks mitgeführten. Das ist fast die gleiche
Zahl, wie sie bisher bei uns vorgesehen, aber auch als zu knapp
beurteilt war. In Rußland kommt dazu, daß die nur mit 168 Schuß
auf das Geschütz bei der Gefechtsbatterie ausgerüsteten reitenden
Batterien für die Ergänzung auf die Artillerieparks des betreffenden
Armeekorps angewiesen sind, wodurch der Vorrat für die fahrenden
Batterien unter Umständen noch herabgesetzt wird. Für jede Feld-
390 Das russische Feldheer und der Kriegsschauplatz im Königreich Polen.
haubitze waren 300, für jedes Gebirgsgeschütz 240 Schuß bei der
Batterie und dem leichten Feldhaubitz- bzw. Gebirgspark vorgesehen.
Die Felduniform, von graugrüner Farbe und bequemem Schnitt,
besteht aus Schirmmütze, einreihigem Waffenrock und Stiefelhose. Im
Sommer kann eine Hemdbluse zu jedem Dienst getragen werden.
Alle glänzenden oder auffallenden Teile sind vermieden.
Die russischen Vorschriften für die Ausbildung der Truppen
zum Gefecht gehen von durchaus gesunden Grundsätzen aus. Daß
ihre richtigen Absichten an mangelndem Unternehmungsgeist. schwach
ausgeprägtem Pflichtgefühl, fehlender Bildung der Mannschaften, un-
zureichender bei unteren Führern, scheitern, war angedeutet.
Im Angriff werden das Begegnungsgefecht und allgemeiner An-
griff auf eine Verteidigungsstellung unterschieden.
Im Begegnungsgefecht soll ein Vorsprung in der Kampfbereitschaft
erstrebt und deshalb Schnelligkeit bei Entwickelung der Vorhut und
des Gros zur Geltung kommen. Jene hat wichtige Geländepunkte zu
besetzen zur Sicherung der Artilleriestellung und der Entwickelung
des Gros. Die Vorhutbatterien sollen verwegen, schnell und ent-
schlossen auftreten, um möglichst die feindlichen Marschkolonnen zu
beschießen und sie zu übereilter Entwickelung zu zwingen. Fällt dem
Gegner die Vorhand und Überlegenheit zu, so kann der Führer der
Vorhut genehmigen, daß sich die Geschützbedienung deckt. Ein
Zurückhalten kommt also nicht in Betracht. Das Vorziehen der
Artillerie des Gros erfolgt in der Regel in eine Bereitstellung zu
gleichzeitiger Feuereröffnung und zwar gewöhnlich nur mit einer der _
Gefechtslage entsprechenden Zahl von Batterien. Kommt es aber
darauf an, Erfolge der Vorhut zu sichern oder ihr dringend nötige
Unterstützung zu bringen, so werden die Batterien nach Maßgabe
ihres Eintreffens eingesetzt. Das Bestreben, sich von Anfang an
günstige Bedingungen zu schaffen und den Gegner in die Verteidigung
zu werfen, tritt deutlich in die Erscheinung. Unterstützt soll das
Vorgehen werden durch Unternehmungen der Kavallerie gegen die
feindliche Flanke und den Rücken.
Zum Angriff auf einen entwickelten Gegner sollen die Truppen,
zu mehreren Marschkolonnen entfaltet, anrücken, wodurch schnelle
und gleichzeitige Entwickelung erreicht werden kann. Den Erfolg er-
wartet man vom richtigen Zusammenwirken der Infanterie und
Artillerie, wobei diese ihre ganze Tätigkeit auf Unterstützung und
Förderung jener zu richten hat. Ihre Anfangsentfernungen soll die
Artillerie unter Ausnutzung der Vorteile der Deckung so nahe, als
Gefechtslage und Gelände gestatten, auswählen, weiterhin aber auch
offene oder halbverdeckte Stellungen nicht scheuen, wenn es die Ver-
Das russische Feldheer und der Kriegsschauplatz im Königreich Polen. 391
hältnisse fordern. Der einleitende Artilleriekampf ist nicht Selbst-
zweck, sondern dient der Unterstützung des Infanterieangriffs. Ist
dieser bis zum Bereich des wirksamen (Gewehrfeuers vorgetragen, so
soll sich die Masse der Artillerie gegen die Infanterie des Verteidigers
und seine Maschinengewehre wenden, während der Rest das feindliche
Artilleriefeuer abzulenken und das Auftreten neuer Batterien zu ver-
hindern sucht.
Unter dem Schutz des Artilleriefeuers gewinnt die Infanterie
Gelände bis zur Einnahme ihrer ersten Feuerstellung. Die folgende
soll einige hundert Meter davor liegen und in verschiedenen Sprüngen,
die als Ruhestellungen gelten, gruppenweise erreicht werden. Die
zuerst in die Feues oder Ruhestellung gelangenden Schützen haben
dort eine Deckung auszuheben, die von den folgenden verstärkt wird.
Läßt sie sich mit dem Spaten nicht schaffen, so dient ein mit Erde
gefüllter Sandsack, der gerollte Mantel oder die Zeltbahn als Schutz.
Die Sturmstellung muß als Rückhalt für Mißerfolge unbedingt zur
Verteidigung eingerichtet werden. Zum Begleiten des Infanterie-
angriffs werden Batterien oder Züge den Angrifistruppen beigegeben,
die sich dem Vorgehen anpassen und mit zunehmender Annäherung
der Gegner auf den Flügeln oder in den Zwischenräumen der Infanterie
Stellung nehmen, um deren Gefährdung auszuschließen. Sind Gebirgs-
batterien verfügbar, so wird man sie hierzu heranziehen, weil sie sich
leichter dem Gelände anschmiegen und weil sie beweglicher sind.
Zur Erschütterung der Einbruchstelle soll möglichst starke, ein-
heitlich geleitete Artillerie unter Heranziehung noch nicht eingesetzter
Reserven einschließlich der leichten Haubitzen und schweren Artillerie
in dem betreffenden Gefechtsabschnitt zu überwältigendem Feuer
vereinigt werden. Infanterie und Artillerie müssen sich hier Hand in
Hand arbeiten. Das Vorgehen jener ruft die Verteidigungsinfanterie
an die Feuerlinie, wodurch sie dem Artilleriefeuer ausgesetzt und so in
die Deckung zurückgezwungen oder mindestens zu schlechtem Zielen
veranlaßt wird, was dann der Angriffsinfanterie zu weiterem Vordringen
verhilft. Während diese selbst durch Handgranaten den Verteidiger
aus seinen Schützengräben zu vertreiben sucht, wird der Sturm von
den Nachbarabschnitten aus durch Gewehr- und Maschinengewehrfeuer
unterstützt und der dort gegenüberstehende Verteidiger durch Teil-
angriffe gefesselt. Gegen Reserven soll sich Kavallerie wenden, des-
gleichen die Artillerie von da ab, wo sie die stürmenden Truppen
durch ihr Feuer gefährden könnte. Gelingt der Angriff, so soll Ver-
folgungsfeuer das Wiederfrontmachen des Feindes verhindern, die
Kavallerie seinen Rückzug zur Auflösung steigern. Große Bedeutung
wird der Parallelverfolgung beigemessen. Stellt sich aber ein MiB-
392 Das russische Feldheer und der Kriegsschauplatz im Königreich Polen.
erfolg ein, so sollen die vordersten Batterien den ersten Widerstand
bis zur Aufopferung leisten und die im Vorgehen angelegten Deckungen
und geeignete Geländegegenstände von der Infanterie besetzt und be-
hauptet werden. |
Auffallend ist das grundsätzliche Schaffen und Ausgestalten von
Deckungen in den Feuer- und Ruhestellungen. Das stärkt den Trieb
nach vorwärts nicht und verzögert das Vortragen des Angriffs, wenn-
schon etwaigem Zurückweichen ein gewisser Halt gegeben wird. Es macht
den Eindruck, als solle von vornherein auf günstige Rückzugsverhältnisse
Bedacht genommen werden, weil man dem Gelingen des Angriffs
mißtraue. Erst wenn es sich um das Vorgehen gegen eine stärker
befestigte Feldstellung handelt, würde das Verfahren gerechtfertigt
sein, dann sogar das Anlegen von Schanzen als Stützpunkte, das die
Russen unter Umständen ganz allgemein beabsichtigen.
Nachtangriffe werden häufiger geübt. Bei ihnen soll von der
Schußwaffe kein Gebrauch gemacht, sondern die Entscheidung mit
dem Bajonett gesucht worden. Von einer Verfolgung wird im Falle
des Gelingens meist abgesehen werden und man wird sich damit be-
gnügen müssen, die genommene Stellung zu sichern.
In der Verteidigung kann es die Absicht sein, dem Gegner
nur Aufenthalt zu bereiten, um Zeit zu gewinnen, oder nachhaltigen
Widerstand zu leisten und sich den Übergang zur Offensive im ge-
gebenen Augenblick vorzubehalten. Danach richtet sich die Stärke
der Verteidigungsanlagen, Art und Umfang der Vorbereitungen zur
Abwehr des Gegners, der Zeitpunkt für die Aufnahme und das Ab-
brechen des Gefechtes. Befestigungen werden gruppenweise angelegt
und geschlossene Stützpunkte geschaffen. Vorgeschobene Stellungen
sind gestattet, müssen aber im wirksamen Artilleriefeuerbereich der
Hauptkräfte liegen. Um die eigene Stellung nicht zu verraten, kann
es vorteilhaft sein, dem Angreifer die Feuereröffnung zu überlassen,
doch darf das nicht dazu führen, die Gelegenheit zu verpassen, jenen
an Besitzergreifung wichtiger Punkte oder Überschreiten gefährdeter
Stellen zu hindern. Handelt es sich nur um Zeitgewinn, so soll die
Artillerie den Gegner schon auf weiter Entfernung zur Entwickelung
zwingen und bei eigener Unterlegenheit an Zahl mit Teilen nach und
nach in verschiedenen Abschnitten auftreten, um das Vorrücken der
Infanterie zu erschweren und gegen überlegene Artillerie Erfolge er-
zielen zu können. Dabei wird übersehen, daß jeder Stellungswechsel
die Wirkung unterbricht und daß er entweder im Flankenfeuer oder
weit ab von der Feuerlinie vor sich gehen muß, also mit Verlusten
oder Verzögerung verbunden sein wird. Reserven sollen nahe heran-
gehalten werden. Handelt es sich um eine Entscheidung, so soll der
Das russische Feldheer und der Kriegsschauplatz im Königreich Polen. 393
Gegenstoß erfolgen, sobald Anzeichen einer Feuerüberlegenheit vor-
handen sind, oder als letztes Mittel, um den Einbruch abzuwehren.
Auch eine zweite Stellung kann neben der ersten in Aussicht
genommen und vorbereitet werden trotz der mit solchen Vorsichts-
maßregeln im Russisch-Japanischen Kriege gemachten schlechten Er-
fahrungen. Das ist bezeichnend dafür, wie tief das Bewußtsein von
der schwachen Widerstandsfähigkeit der Truppe die Vorstellungen der
Vorschriften beherrscht.
Die Kavallerie soll während der Schlacht entweder durch
Attacken eingreifen, die Reserven auf sich ziehen oder vorhandene
Lücken schließen. Ihre Massenverwendung in Kavalleriedivisionen
oder -korps ist so einseitig beabsichtigt, daß es eine Divisionskavallerie
in unserem Sinne nicht gibt. Diese scheint durch reichliche Zuteilung
von Meldereitern an die Infanterie ersetzt werden zu sollen. Die
Aufgaben bei der Verfolgung in Verbindung mit reitender Artillerie
und Maschinengewehren entsprechen den allgemein herrschenden Grund-
sätzen. Die bei der ganzen Kavallerie eingeführte „Lava“ besteht in
einem Anreiten auf den geschlossenen Gegner in aufgelöster Ordnung
aus Front, Flanken und Rücken, Sie dient einerseits zum Verschleiern
der eigenen Bewegungen, anderseits zur Aufklärung der feindlichen
und verfolgt zugleich den Zweck, die Ordnung des Gegners zu lockern,
um dann mit geschlossenen Abteilungen über ihn herfallen zu können,
Sie kann sowohl zu Pferde, als zu Fuß ausgeführt werden.
Mitteilungen aus verschiedenen Schlachten in Ostpreußen und
Russisch-Polen bzw. Galizien lassen von der bisherigen Tätigkeit
der drei Hauptwaffen in diesem Kriege folgendes all-
gemeine Urteil zu.
Die Infanterie entschließt sich nicht zu einem kraftvollen Angriff.
War er angesetzt, so erlahmt er durch Schaffen und Ausnutzen von
Deckungen. In befestigten Stellungen hält die Besatzung so lange
stand, bis der Gegner zum Angriff mit dem Bajonett übergeht, den
sie nicht abwartet. Das Feuer ist kein wohlgezieltes und ordnungs-
mäßig geleitetes. Vielfach wird es mit zu hoch gestelltem Visier ab-
gegeben und gefährdet mehr die hinteren, als die vorderen Reihen
des Angreifers. Erlahmt die Widerstandskraft der vorderen Teile, so
wird sie durch die hinteren selten gestärkt. Jene ergeben sich bald,
diese wenden sich zu zügelloser Flucht, um durch Erreichen eines
Verstecks dem befürchteten Erschossenwerden zu entgehen. Trotz der
rückwärts ausgehobenen Verteidigungsanlagen kommt es nicht zu
deren regelrechter Besetzung, die Truppe löst sich auf, ihr Halt ist
gebrochen.
Dié Artillerie hat aus den Erfahrungen des Russisch-Japanischen
394 Das russische Feldheer und der Kriegsschauplatz im Königreich Polen.
Krieges gelernt. Sie hält sich nicht mehr zurück, sondern kämpft
Schulter an Schulter mit der Infanterie und setzt auch rechtzeitig
ihre schweren Geschütze ein. Die Feldartillerie soll sich sehr schnell
und zutreffend einschießen und früh zur Wirkung gelangen. Sie sucht
ihrer Infanterie Halt zu geben und scheut hierbei vor dem Verlust
an Geschützen nicht zurück. In allen Gefechten wurde die Wahr-
nehmung gemacht, daß ihre Geschosse großenteils nicht springen. Man
schob das zunächst auf schlechte Zünder, zumal durch sie auch im
Russisch-Japanischen Kriege die Wirkung vielfach herabgesetzt war.
Neuerdings ist aber festgestellt, daß ein Teil der Geschosse nur mit
Sand gefüllt ist, weshalb sie bloss als Volltreffer wirken können. Ver-
mutlich liegen hier schwere Sünden der Fabriken und Abnahme-
kommissionen vor.
Selbständige Kavallerie ist anfangs gegen unerschütterte Infanterie
und Maschinengewehre unter schweren Verlusten angeritten, ob aus
Unterschätzung der Feuerwirkung oder infolge ungenügender Auf-
klärung, ist nicht zu beurteilen. Von ihrer Tätigkeit während der
Schlacht hat nichts verlautet.
Die Verhältnisse des Kriegsschauplatzes sind in vieler Be-
ziehung für die Bewegungen, Verpflegung, Unterkommen, den Nach-
schub usw. von einschneidender Bedeutung. Deshalb soll zum Schluß
ein kurzer Überblick über das russische Polen nach seinen Boden-
verhältnissen, Verkehrsmitteln, Klima, Bevölkerung und Fruchtanbau
gegeben werden, da dies Land mit dem weiteren Vordringen unserer
Heere nach Osten an Bedeutung gewinnt. Die Angaben sind größten-
teils nach dem 1907 erschienenen Werke „Rußland“ von Prof. Dr.
A. v. Kraßnow gemacht. Wird sich auch in den seitdem verflossenen
sieben Jahren viel gerändert haben, so gewähren sie doch für da-
malige Verhältnisse ein zusammenhängendes Bild, das durch sehr ver-
einzelt erhältliche neuere Daten an Übereinstimmung verlieren würde.
Russisch Polen umfaßt einen Teil der sarmatischen Tiefebene von
im allgemeinen 100 bis 150 m Meereshöhe. In der Provinz Suwalki
finden sich als Fortsetzung der Masurischen Seen zahlreiche Seen, nach
Osten zu kleiner und seltener werdend.. Am Niemen, der Warthe
und Prosna, sowie in den Provinzen Plozk und Lomsha treten zahl-
reiche Moräste und Brüche auf. Die oberen Erdschichten bestehen
meist aus mächtigem Geschiebesande und Lehm. Westlich der Pilica
ist der Boden mager und unfruchtbar, um Lubin und nördlich der
Weichsel zwischen Olkusz und Sandomierz außerordentlich ergiebige
Schwarzerde. Nur im Süden, in den Provinzen Petrokow und Kielce
mit Ausläufern nach Lublin bis zum südlich gerichteten Lauf des
Bug erhebt sich als Scheide zwischen Oder und Weichsel ein Hügel-
Das russische Feldheer und der Kriegsschauplatz im Königreich Polen. 395
land mit dem Lysa Gora als höchstem Punkt (611 m). Südlich von
ihm und mit ihm gleichlaufend von WNW. nach OSO. streichen drei
Hügelreihen mit Erhebungen von 300 bis 500 m. An der galizischen
Grenze ist die Gegend höchst malerisch und führt den Namen
„Polnische Schweiz“.
Von den Flüssen sind Niemen und Weichsel schiffbar, diese von
Sandomierz ab für Dampfschiffe. Von ihrem Eintritt in Polen bis
etwa in Höhe von Warschau nehmen Warthe, Weichsel und der
Grenzfluß Bug ihren Lauf in nördlicher Richtung und wenden sich
dann nach Westen oder Nordwesten. Ihre Nebenflüsse strömen ihnen
bis zu jener Ablenkung in nordöslicher oder nordwestlicher Richtung zu.
Einem Vormarsch von Westen stellen sich die Flüsse daher als
Hındernisse entgegen, da sie in ihrem mittleren und unteren Laufe
nur auf den spärlich vorhandenen Brücken überschritten werden
können und ihre Breite (Weichsel schon bei Iwangorod 1800 m),
sowie der schnell wechselnde Wasserstand einen Brückenschlag er-
schweren.
Das Klima ist im ganzen gemäßigt und wärmer als unter
gleicher Breite in Rußland. Für Warschau, das eine mittlere Jahres-
temperatur von + 7,4 Grad aufweist, liegt die Januar-Isotherme
auf — 4°, für das an der Grenze Polens liegende Kowno auf — 5°,
die Juli-Isotherme auf + 19 bzw. 18°. Die jährliche Niederschlags-
menge wird zu 50 cm angegeben.
Von den 483700 qkm sind 53 °j, bebaut, 13°, unbenutzbar,
23°), Wald und 11°/, Wiesen. Der größte Teil des unterm
Pfluge gehaltenen Landes besteht aus Getreidefeldern, die hauptsäch-
lich mit Roggen und Weizen, dann mit Hafer und Gerste bestanden
sind. Außerdem werden Hirse, Buchweizen, Zuckerrüben, Kartoffeln
und Tabak angebaut. Futtergräser gibt es verhältnismäßig wenig
und die Heuzubereitung ist höchst primitiv. Welchen Umfang
Gemüsebau, Obst- und Viehzucht erreichen, ist im einzelnen nicht
bekannt. Auf 100 Einwohner entfielen 130 Stück Vieh.
Verhältnismäßig kräftig entwickelt ist die Industrie, worin die
Provinzen Warschau und Petrokow obenan stehen. Die erste Stelle
nehmen Webereien, Zuckerfabriken und Brauereien ein. Außerdem
finden sich Gerbereien, Ziegeleien, Tabak- und Papierfabriken in
größerer Zahl. Der Bergbau liefert Steinkohlen und Zink in beträcht-
lichen Mengen.
Von den Verkehrswegen sind Eisenbahnen, die von Deutschland
herüberführen, nur in sehr geringer Zahl vorhanden, und zwar die
Linien Eydtkuhnen—Kowno, Prostken—Bielostok, Ilowo— Warschau;
Thorn — Skiernewice, Ostrowo — Warschau, Kattowitz— Warschau und
396 Das russische Feldheer und der Kriegsschauplatz im Königreich Polen.
die von dieser an der Grense auf Iwangorod über Rodom abzweigende
Bahn. Querverbindungen zwischen ihnen sind selten.
Außerordentlich gering ist auch die Zahl der Chausseen. Es soll
vorkommen, daß an Stelle einer auf der Karte verzeichneten in Wirk-
lichkeit nur ein elender Feldweg vorhanden ist. Die Regierung hat
zwar die Fluchtlinie genehmigt und das Geld zum Bau angewiesen,
doch verwendete es der betreffende Verwaltungsbeamte zu anderen
Zwecken. Die Benutzung der Feldwege ist von Untergrund und
Witterungsverhältnissen abhängig. Da nichts zu ihrer Aufbesserung
geschieht, werden schlechte Stellen umgangen, wodurch sich ihre oft
recht erhebliche Breite erklärt. Dort, wo sie Bäche oder Gräben
schneiden, findet sich die zerfallene Brücke in der Regel durch einige
hinübergelegte Baumstämme ersetzt.
Flüsse und Kanäle spielen als Verkehrswege eine große Rolle.
Aber auch sie werden von der Regierung stiefmütterlich behandelt.
Wenn sich ihre Vernachlässigung, ebenso wie diejenige der Chausseen,
den Bewohnern nicht schwerer empfindlich macht, so liegt das z. T.
daran, daß im Winter die Schlittenbahn einen billigen und bequemen
Verkehr ermöglicht.
In Rußland sind die polnischen Provinzen am dichtesten be-
völkert, und zwar kamen 1907 auf das Quadratkilometer 85 Ein-
wohner. Das Verhältnis der Stadt- zur Landbevölkerung stellte sich
wie 22 zu 78. In den Provinzen Suwalki, Siedlee und Lublin
herrschen Litauer und Kleinrussen vor. Dazwischen leben zahlreiche
Juden, die den Ortschaften nicht selten ein ihren Lebensgewohnheiten
entsprechendes Gepräge geben. Die schlechten sanitären Verhältnisse
der Dörfer machen sie für Unterkunft nicht empfehlenswert.
Die geringe Zahl gut gehaltener Kunststraßen, die schlechten
Landwege, der vielfach tiefe, sandige Boden sind Truppenbewegungen,
besonders in den nördlichen und mittleren Provinzen, wenig günstig.
Die Benutzung der Eisenbahnen ist durch ihre geringe Zahl beschränkt
und durch ihre größere Geleisebreite erschwert. Der Nachschub an
Heeresbedarf aller Art im Bewegungskriege wird daher ernsten
Schwierigkeiten begegnen. Die Landbevölkerung ist im allgemeinen
arm. Ihre Lebenshaltung ist die denkbar einfachste und die Reinlich-
keit liegt in jeder Hinsicht im argen. Daß die sanitären Vorkehrungen
vielfach geradezu bedenklich sind, war angedeutet. Befände sich das
Land in normaler Verfassung, so dürfte damit gerechnet werden, daß
unsere Truppen einen großen Teil ihres Unterhalts aus ihm decken
könnten. Da aber die Lebensmittel von den Russen entweder für
sich in Anspruch genommen oder, wie bei ihnen üblich, vernichtet sein
dürften, so wird sich bald Zufuhr aus der Heimat als notwendig erweisen.
Das französische Heer unmittelbar vor dem Kriege im eigenen Lichte. 397
Beim Vordringen durch Polen können unsere Truppen entgegen-
kommender Aufnahme durch die Bevölkerung gewärtig sein. Gelten
sie ihnen doch als Befreier vom russischen Joch. Das ist im Gegen-
satz zu den fanatischen, haßerfüllten Einwohnern auf dem westlichen
Kriegsschauplatz ein nicht zu unterschätzender Vorteil, der manche
Schattenseiten des Landes und seiner Bevölkerung ausgleichen mag.
XXVII.
Das französische Heer unmittelbar vor dem
Kriege im eigenen Lichte.
Von G. R.
Die in der ersten Hälfte September erfolgte Einbeorderung des
Rekrutenjahrganges 1914, der nach Sicherstellung der ersten Grund-
lagen der Ausbildung diejenige des Jahrganges 1915 gefolgt ist,
beweist zweierlei. Wenn man den in diesem Herbst normal fälligen
Rekrutenjahrgang 1914, eingeschlossen die noch nicht Eingestellten der
Jahresklasse 1913, nicht sofort bei der Mobilmachung eingereiht
hat, so ergibt sich daraus, daß man ohne ihn genug Menschenmaterial
übrig hatte, um, nach Aufstellung der planmäßigen Kriegsformationen
erster Linie, auch noch den vorgesehenen Rahmen der Ersatztruppen-
teile auszufüllen. Das Heeresgesetz vom 7. August 1913 hat be-
kanntlich die im Kriege zur Verfügung stehende Heereskraft Frank-
reichs um drei Jahrgänge crhöht, den der 2Vjährigen als jüngsten
dann je einen durch die Ausdehnung der Pflichtigkeit bei der Territorial-
armee (Landwehr) und der Reserve der Territorialarmee (Landsturm)
von sechs auf sieben Jahre, womit der Gesamtumfang der Pflicht-
zeit von 25 auf 28 Jahre kam. Nach der eingetretenen bedeutenden
Erhöhung der Friedensstärke (siehe unten) hat man bestimmt und
berechtigt darauf gezählt, daß die drei jüngsten Jahrgänge der Reserve
ausreichten, um die aktiven Truppen auf den Kriegsstand zu bringen, eine
Berechnung, die gestimmt zu haben scheint, — die dann folgenden fünf
bis sechs älteren Reservejahrgänge zur Bildung von Reserveformationen
zu verwenden, danach zwei oder auch mehr Jahrgänge der Reserve,
deren Zahl im ganzen bekanntlich elf beträgt, zur Bildung von
Reserveformationen zu benutzen. An solchen rechnete man planmäßig
Jahrbücher für die deutsche Armee und Marine. Nr. 518. 29
398 Das französische Heer unmittelbar vor dem Kriege im eigenen Lichte.
bei jedem Infanterie-, Zuaven- und Kolonialinfanterieregiment mit
einem Bataillon, bei jedem Jägerbataillon mit einigen Ersatzkompagnıen.
der Kavallerie (außer den zu 6 Eskadronen mobilmachenden Korps-
kavallerieregimentern, bei denen die Ersatzformationen nicht ganz klar),
je 1 Ersatzeskadron, Feldartillerie je 1 Abteilung pro Regiment.
Die Einbeorderung des Rekrutenjahrganges 1914 in der ersten
Hälfte September beweist aber auch, daß zu dieser Zeit durch
Schließen der durch Verluste und Einbuße an Gefangenen entstandenen
Lücken der Bestand der Ersatzformationen stark aufgebraucht war.
was sich auch aus einer Bekanntmachung des Kriegsministers schließen
läßt, ebenso wie aus der Tatsache, daß übereilt ausgebildete Leute
Jahrgang 1914 schon am 20. Oktober bei Truppen I. Linse ge-
fangen genommen worden sind. Genaue Daten über den Ertrag der
Aushebung des die Ersatzeinheiten auffüllenden Jahrgangs 1914 werden
amtlich natürlich nicht veröffentlicht, bzw. gelangen nicht ins Ausland.
Man kann aber ein annähernd zutreffendes Bild gewinnen, wenn man
das Ergebnis der Aushebung des Jahrgangs 1913, das amtlich genau
bekannt gemacht wurde, zugrunde legt, die besonderen auf diesen
Jahrgang Einfluß übenden Verhältnisse berücksichtigend. Vorher einige
Scheinwerferstrahlen auf die Armee überhaupt.
Es ist von hohem Interesse, an der Hand französischer Urteile
und Veröffentlichungen einen . Blick auf die Armee unmittelbar
vor dem Kriege zu werfen. Die Frage, ob unsere französischen
Gegner zu dem für sie günstigsten Zeitpunkt des Entwickelungs-
zustandes ihrer Armee auf allen Gebieten in den Krieg eintraten, den
sie, wie wir bei der Genehmigung des Wehrgesetzes vom 7. August
1913 und den letzten Kadergesetzen schon aussprachen, entschieden
ad hoc vorbereiten wollten, soll hier nicht erörtert werden. Die nach
Abschluß des Krieges zu schreibende Geschichte wird sich ja auch
eingehend mit dieser Frage zu beschäftigen haben. Wir weisen hicr,
um einige Anhaltspunkte in Klagen der französischen Presse zu geben,
nur kurz auf die Humbertsche Kritik der Lücken im Kriegsmatenal,
die von der französischen Presse betonte noch nicht volle Durch-
führung der Kadersgesetze, die erst kurze Zeit bestehende dreijährige
Dienstzeit, zwei Jahrgänge unter den Waffen, die erst zehn bzw.
neun Monate dienten, die noch nicht in Fleisch und Blut über-
gegangenen neuen Vorschriften „Anleitung für die Führung großer
Verbände im Kriege“, neues „Reglement für den Dienst im Felde“
vom 28. Oktober 1913 bzw. 2. Dezember 1913, das neue „Exerzier-
reglement für die Infanterie“ vom 20. April 1914, erst am 1. September
1914 in Kraft zu treten bestimmt, die erst am 1. Oktober auf-
zustellenden Chasseurregimenter 22 und 23 und die für denselben
n maae, a zn en En m í‘
Das französische Heer unmittelbar vor dem Kriege im eigenen Lichte. 399
Zeitpunkt erst vorgesehenen 3 weiteren neuen Batterien der schweren
Artillerie des Feldheeres, die die 5 schweren Regimenter auf im
ganzen 58 Batterien bringen sollten, hin.
Treklagt wurde in der französischen Presse auch bei dem Kriegs-
beginn, daß die Neugliederung der Luftschiffertruppen für
das Heer — der neue Marineluftschifferdienst wurde durch Erlaß vom
16. Juni neu organisiert und eine Luftflotte geschaffen, die im Verein
mit der Marine handeln soll (leitendes Organ [Paris Rue Royal] des
Marineluftschifferdienstes mit der Bezeichnung Zentraldienst der Marine-
luftschiffahrt) — nach dem betreffenden Gesetzentwurf, vom Senat
zwar am 12. Juli, trotz Bedenken des Armee- und Finanzausschusses
wegen nicht erfolgter Festlegung eines bestimmten Etats, Überlassen
eines zu großen Spielraumes, als dringlich angenommen, aber noch
nicht durchgeführt werden konnte. Der damalige Kriegsminister
Messimy, der seitdem zurückgetreten ist, angeblich weil er der Heeres-
leitung seine Pläne aufdringen und eigentlich selbst die Operationen
leiten wollte, Millerand Platz machend, hat damals im Senat betont,
daß bei der sprunghaften Entwickelung des Luftschifferwesens ein
unabänderliches Kadergesetz nicht vorgelegt werden könne und auch
erklärt, er halte das Luftschifferwesen nicht für eine Waffe, sondern
einen Dienstzweig, da kein Offizier seine ganze Laufbahn in diesem
Dienst zubringen könne. Von 1915 ab, also zu einem späteren
Termin, als der damals nicht bestimmt in Aussicht stehende Kriegs-
beginn eintrat, rechnete man mit der folgenden Gliederung des
Luftschifferwesens für die Armee:
1. Eine Anzahl von Lenkluftschiffkolonnen, die der Kriegsminister
geheim hielt, da sie den Bedürfnissen bei der Mobilmachung
und den Lieferungen von Luftschiffen durch die Fabriken ent-
sprechen sollte.
2. 2 Fliegerregimenter, das erste aus 3 Gruppen von Flugzeug-
geschwadern, im ganzen 10 Geschwader, 4 Arbeitersektionen;
das zweite aus 3 Gruppen von Flugzeuggeschwadern, im ganzen 11,
4 Arbeitersektionen.
3. 1 Gruppe von 3 Flugzeuggeschwadern, davon 1 in Algerien,
2 in Marokko, 1 Arbeitersektion.
4. 1 Luftschifferregiment zu 10 Kompagnien und 1 Arbeiter-
kompagnie.
5. Flugzeuggeschwader für einzelne Waffen, und zwar 10 für
Kavallerie, 20 für Artillerie.
6. 10 Lenkballonzerstörergeschwader zu Angriff und Verteidigung
von Lenkluftschiffen. un
400 Das französische Heer unmittelbar vor dem Kriege im eigenen Lichte.
7. Als Maximalstärke für 1915 angesetzt: 5 Oberste, 3 Oberst-
leutnants, 19 Majors, 155 Hauptleute, 200 Leutnants, 77 Ver-
waltungsoffiziere, 426 außer Etat zu stellende Unteroffiziere.
Das war der vom Parlament dicht vor der Mobil-
machung genehmigte Plan — die Geschehnisse des Krieges und
die Enttäuschungen über den Fliegerdienst in Frankreich beweisen
wohl, wie es mit seiner Durchführung beim Kriegsbeginn aus-
gesehen hat.
Als Poincaré auf der Heimreise von Petersburg, nach vorheriger
heimlicher Einbeorderung von Reservistenjahrgängen, wie
sich jetzt aus Aussagen von Gefangenen feststellen läßt, die Besuche
an den übrigen Höfen aufgebend, in Frankreich eintraf, war ihm
dorthin von Petersburg aus schon der als früherer aktiver Offizier
mit einem gesunden militärischen Urteil ausgestattete Chefredakteur
der France Militaire, Marty-Lavauzelle (heute in der Stellung eines
Generalstabsoffiziers bei der mobilen Armee), vorausgeeilt und hatte
zunächst damit begonnen, in seinem Blatte die von ihm festgestellte
außerordentliche Bereitschaft der russischen Armee über
den grünen Klee zu loben, dann aber von den eigenen, von ihm an
die Humbertschen Kritiken vom 14. Juli geknüpften Klagen über
das fsanzösische Kriegsmaterial nichts mehr wissen zu wollen. Figaro
war darin noch viel weitherziger, nur die Unvollständigkeit des
Materials der schweren Artillerie des Feldheeres beklagend, dabei aber
sonderbarerweise bemerkend, sämtliche Autoritäten seien noch lange
nicht darüber einig, ob man weittragende Geschütze im Feldkrieg
überhaupt brauche. Im übrigen habe man Rimailhohaubitzen genügend
für die 58 Batterien im Bestande, die planmäßig am 1. Oktober den
5 Regimentern der schweren Artillerie angehören sollten und von
denen 55 (damals) beständen. Figaro war es auch, der, oberflächlich
und leichtfertig genug, aussprach, wenn sich tatsächlich ergeben sollte,
daß man für jeden mobil zu machenden Mann nur drei Stiefel habe,
statt zwei Paar, so lasse sich dem bald abhelfen und französische
Soldaten der ersten Republik hätten ja auch ohne Schuh-
werk Siege über ganz Europa davongetragen.
Die „France militaire“ betonte zunächst, die demokratische Ver-
fassung des Landes hätte diesem die Verpflichtung auferlegt, das
Unmögliche zu leisten, durch die absolute Vollkommenheit des Kriegs-
materials die numerische Unterlegenheit wettzumachen, in die man
im Lauf der Zeit Deutschland gegenüber kommen könne. Daß im
Kriegsmaterial Lücken existierten, sei daher ein schwerer Fehler.
Beständen aber Lücken im Kriegsmaterial, so dürfe man diese
auch nicht übertreiben. Habe man leichte Feldhaubitzen uoch
Das französische Heer unmittelbar vor dem Kriege im eigenen Lichte. 401
nicht, so könne das 7,5 cm-Feldgeschütz mit dem System Malandrin
diesen Mangel auch gegen Ziele dicht hinter Deckung einigermaßen
ersetzen (?), zumal das französische Feldgeschütz der deutschen
Flachbahnkanone enorm überlegen sei(?). Sei in der Armierung der
Festungen nicht durchweg das modernste Material vorhanden, so
hätten sie doch seit 1911 derartige moderne Ergänzungen an Vorräten
aller Art erhalten, daß sie auch einer längeren Belagerung mit den
modernsten Mitteln erfolgreich Widerstand leisten könnten. Wenn
das Belagerungsmaterial nicht völlig modern, so sei zu bedenken, daß
Frankreich die Hauptentscheidung in offenen Feld-
schlachten und nicht im Festungskriege suchen werde. Für
den Feldkrieg bezeichnete die France militaire die
französische Armee auch als besonders vorgebildet, und
zwar durch den in den letzten Jahren ihr eingeeimpften Geist der
Offensive und den Willen zum Siege. Diese Vorschulung,
schrieb sie, ist erfolgt, durch die Reorganisation der höheren
Kommandoführung, die ihre Aufgabe durchaus begriffen hat. Die
Armee bildet, so fuhr sie fort, mit den hohen moralischen Qualitäten,
die sie besitzt, ein harmonisches Ganze, indem sie in der Lage
ist, wirksamst an dem Verständnis und der Ausführung der von der
Leitung gegebenen Befehle mitzuarbeiten. In dem enormen Organismus,
den die Armee darstellt, hat die Schaffung und Verbreitung einer
Methode zum Zusammenwirken von Truppen und Dienst-
zweigen in den letzten Jahren eine sehr glückliche Lösung gefunden.
Das verdanken wir dem allgemeinen Generalstab und der
oberen Kriegsschule. Einheit der Gesichtspunkte der Führung,
so fährt, dem Sinne nach, das genannte Blatt fort, ist seit mehreren
Jahren auf verschiedenen Wegen angestrebt und wirksam gefördert
worden und die vor wenig Jahren bewirkte Reorganisation der Heeres-
leitung und namentlich Schaffung der Stellung des Chefs des allge-
meinen Generalstabs, des designierten, dem Kriegsminister für Schulung,
Mobilmachung, Operationsplan (vom oberen Kriegsrat zu begutachten) der
Armee verantwortlichen Generalis:imus, Erweiterung der Gesichtspunkte
der oberen Kriegsschule, des oberen Kriegsrat:, dem alle durch „lettre
de service“ immer für ein Jahr designierten Armeeführer als Mitglieder
angehörten, des Zentrums für die höheren militärischen Studien in
Paris, die Zuteilung der Kriegsgeneralstäbe schon im Frieden an den
Generalissimus und die designierten Armeeführer, dauernde Zusammen-
arbeit des Generalissimus im Frieden mit den bestimmten General-
stabschefs der Armeeoberkommandos im technischen Generalstabs-
komitee, dem diese Chefs angehören, jährliche Berufung der kom-
mandierenden Generale und der sämtlichen Generalstabschefs nach
402 Das französische Heer unmittelbar vor dem Kriege im eigenen Lichte.
Paris zum großen Generalstabe, Armeemanöver, Generalstabsreisen im
Armeeverbande, geleitet vom Generalissimus, neue Vorschriften wie
„Anleitung zur Führung großer Verbände im Kriege“, neues „Reglement
für den Dienst im Felde“, neues „Exerzierreglement für die Infanterie“
im Einklang mit dem Felddienstreglement. Auch das Zusammen-
wirken der verschiedenen Waffen auf den Gefechtszweck hin, das
nach der eigenen Kritik der France Militaire bei den Armeemanövern
1913 noch zu wünschen übrig ließ, nannte das Blatt dicht vor dem
Kriege durch die neuen Vorschriften und das neue Schulungsprogramm
für 1914 wesentlich gefördert. Die Probe auf das Exempel, der
währende Krieg gibt sein praktisches Urteil ab über diese der Führung
der Armee wie auch die im folgenden den einzelnen Waffen vor dem
Kriegsbeginn ausgestellten Zeugnisse. Der Infanterie werden in der
France Militaire infolge ihrer Organisation, Dienstdauer und Übungen,
überlegene Qualitäten besonders auch in der Offensive von dem
leitenden Fachblatt zugetraut, der Kavallerie und Feldartillerie
ebenso und in anderen Fachblättern laut verkündet, qualitativ über-
legene, dauernd im Frieden schon in Divisionen gegliederte
und in solchen wie im Korps geübte Kavallerie und Feld-
artillerie, von unbezähmbarem Offensivdrang beseelte Infanterie
- würden die deutsche Armee baldigst aus dem Felde schlagen.
Dem Fliegerdienst wurde in der France Militaire die erste Stelle in
Europa eingeräumt und er ein unvergleichliches Werkzeug für Auf-
klärung und Feststellung der feindlichen Gefechtsentwickelung genannt.
Von den Dienstzweigen der Armee wurde der Intendantur, wenn auch
ihr Kriegsmaterial noch verbe-serungsbedürftig sei, zuerkannt, daß sie
in bezug auf Methode des Nachschubes unter Bereitstellung der
Vorräte aller Art ohne Zweifel Zuverlässiges leisten werde. Das gelte
auch in der Abhilfe für die bei manchen Verbänden noch fehlenden
Feldküchen, die Einzelzelte, während der blaugraue Mantel und Über-
zug über die Käppis den Mangel der Durchführung einer trikoloren
Feidbekleidung die größten Nachteile nehmen werde. Das Schluß-
urteil des leitenden Militärfachblattes lautete dicht vor Kriegsbeginn
über Zustand und die Bewertung der eigenen Armee dahin, daß die eifrige
Arbeit — beim allgemeinen Generalstab auch in der Sicherstellung
der Einheit der Ansichten ber der Führung — von Führern und
Truppen Frankreich eine Heereskraft zur Verfügung stelle,
zu deren sämtlichen Schichten man im höchsten Maße
volles Vertrauen haben dürfe So das Urteil der France
Militaire über Qualitäten der Armee dicht vor der allgemeinen
Mobilmachung. Wir betonen „allgemeine“, denn der partielle
Übergang von dem Friedens- auf den Kriegsfuß war, wie wir jetzt
Das französische Heer unmittelbar vor dem Kriege im eigenen Lichte. 403
ganz bestimmt wissen, schon eingetreten, als der allgemeine befohlen
wurde. Von Gefangenen wissen wir, daß eine große Zahl von
Reservisten im Mai zu einer Übung einbeordert und über die gesetz-
liche 23 tägige Zeit der Übungen der Reservisten ersten Appells zurück-
gehalten wurde, bis die Kriegserklärung erfolgte. Mehreren Zeitungen,
darunter der „Kölnischen Volkszeitung“, ist von Augenzeugen, un-
abweisbar zuverlässig und Dokumente für die spätere Darstellung des
Kriegsbeginns liefernd, mitgeteilt, daß am 29. Juli, also lange vor
dem offiziell bekanntgegebenen Mobilmachungsbefehl (nach anderen
Augenzeugen von Westen nach Osten schon am 27. Juli) bereits lange
Militärzüge kriegsstarker Verbände des XIV.Korps vonLyon das XV. und
X VI. an die Ostgrenze gingen, wo die starken Deckungstruppen schon so-
wieso Kompagnien zu 218 Mann, Kavallerieregimenter zu 740 Mann,
780 Pferden sämtliche in Frankreich) und sofort ausrückefähige
Batterien infolge des sogenannten verstärkten Etats im Frieden zählten,
sowie daß fünf Jahrgänge von Reservisten schon vor dem allgemeinen
Mobilmachungsbefehl heimlich zu den Waffen berufen wurden, also
Menschenmassen, die nicht allein ausreichten, um die aktive Armee
auf den Kriegsfuß zu bringen, sondern auch um zum mindesten die
planmäßig -— auch die Dreiteilung des Korps ermöglichend — mit
jedem aktiven Korps gleich ausrückende Reservebrigade und sechs
Verstärkungsbatterien aufzustellen. Der Verlauf der bisherigen welt-
geschichtlichen Ereignisse des Krieges zeigt uns, daß trotz dieser
heimlich außerordentlich weit getriebenen Steigerung der Bereitschaft,
die u. a. sogar in allen Grenzzonen lange vor der Mobilmachung schon
Schützengräben und Batteriestellungen mit Fernsprechverbindungen
nach den möglichen feindlichen anlegen ließ, trotz stellenweise
überhetzter Verbände vom Exerzierplatz direkt in den Aufmarsch-
raum verladender, ihnen nicht einmal zum Wechseln des Exerzier-
anzugs Zeit gebender Mobilmachung, trotz einem Blocksystem,
das eine Zugfolge von 20 Minuten erlauben sollte, der franzö-
sische Plan, in der Form des Überfalls durch das
obere Elsaß, zwischen Straßburg und Metz hindurch und
durch Belgien in rascher Offensive in Deutschland ein-
zubrechen, durch deutsches sehr schnelles Zugreifen ver-
eitelt wurde, das in dem Rahmen des französischen strategischen
Aufmarschplanes sehr starke Änderungen vorzunehmen
zwang, Verschiebungen von Süden und Osten nach Norden nötig
machte. Wir kommen darauf weiter unten zurück.
Die Jahrgänge der aktiven Armee und ihre Reserve mußten bei
der Mobilmachung ein buntes Gemisch von Produkten der ver-
schiedenen Wehrgesetze aufweisen, Jahrgang 1913 als einziger nach
404 Das französische Heer unmittelbar vor dem Kriege im eigenen Lichte.
dem Gesetze vom 7. August 1913 zu dreijähriger Dienstdauer aus
gehoben und rund neun Monate unter den Waffen, sieben nach dem
Wehrgesetz vom 21. März 1905 mit zweijähriger Dienstverpflichtung
ausgehobene Jahrgänge (1912 bis 1906), davon die aktiven 1912 (in
demselben Jahr wie Jahrgang 1913, nur einen Monat früher, Oktober,
eingestellt), zehn, Jahrgang 1911, rund 21 Monate unter den Fahnen,
die übrigen zwei Jahre aktiv gedient, weiter sechs Jahresklassen
(1905 bis 1900) nach dem Gesetze von 1889 ausgehoben, nominell
mit dreijähriger, '/, aber nur mit nicht ganz einjähriger Ausbildung.
Einen im dritten Jahre dienenden ältesten Jahrgang hatte
man in der aktiven Armee also beim Kriegsbeginn nicht.
Jahrgang 1911 war im Oktober 1912 mit einem runden Sull von
242000 Mann für den Dienst mit der Waffe ausgehobener und
220000 Mann wirklich eingestellten Ende Juli 1914 nach prozentualen
Abzügen noch etwa 200000 Mann stark. Was dem Jahrgang 1912.
dem letzten noch unter der Wirksamkeit des Wehrgesetzes vom
20. März 1905 stehenden und die Zurückgestellten des Jahrganges
1911 in ihren Erträgen betrifft, so blieben von den Leuten des Jahr-
ganges 1912, nach Abzug der :ungen Leute fremder Nationalität bzw.
der von ausländischen Eltern Geborenen, der in früheren Jahren über-
sehenen, das 49. Lebensjahr erreicht habenden und damit nicht mehr
in das Heer einzustellenden, auf den Listen übrig 309540 Mann.
Von diesen fehlten bei der Musterung und Aushebung nach den
amtlichen im Parlament vorgelegten Listen ohne Entschuldigung 13973.
In den Kantonen, in denen nur 100 Dienstpflichtige zu untersuchen
waren, begnügte man sich mit 1 Militärarzt, in 304 Kantonen, in
denen 101 bis 200 zu untersuchen waren, verwendete man 2 Militär-
ärzte, in 79 Kantonen, mit mehr als 200 zu Untersuchenden, traten
3 bis 4 Militärärzte in Tätigkeit. 19384 junge Leute wurden aus-
gemustert, so daß die Listen endgültig 290196 behielten. Von diesen
wurden 221099 für den Dienst mit der Waffe tauglich erklärt, ab-
gesehen von denjenigen, die Aufschub erhielten, 10261 den Hilfs-
diensten überwiesen, nach Abzug derjenigen, denen Aufschub bewillist
wurde, 28969 hatten sich schon vor der Aushebung freiwillig gestellt.
49 wurden ausgeschlossen, 28029 für den Hilfsdienst tauglich be-
fundene wurden weiterer Körperentwickelung halber gemäß Artikel 19
des Gesetzes noch zurückgestellt. Anderseits wurden von 27000 zum
zweiten Male gemusterten Leuten des Jahrgangs 1911 dienstuntauglich
befunden 7623, für den Waffendienst tauglich 2019, für Hilfsdienste
6999, 89 hatten sich vor der Aushebung freiwillig gemeldet, 275
wurden abermals zurückgestellt. Im ganzen lieferten Jahrgang 1911
und Zurückgestellte Jahrgangs 1911 an in den Waffendienst 1913 im
Das französische Heer unmittelbar vor dem Kriege im eigenen Lichte. 405
Oktober einzustellenden 233063, von denen aber 10344 sich erst
nach der Aushebung meldeten und 1816 ihrem Alter nach nur in
der zweiten Reserve zu dienen brauchten. Die Zahl der in die Hilis-
dienste einzureihenden Leute mit den zurückgestellt gewesenen betrug
im ganzen 17038, so daß im Oktober 1913 wirklich einstellbar waren
237881, die nach der Aushebung sich meldenden abgerechnet. Bei
Jahrgang 1913. dem ersten 20jährige unter die Fahnen bringenden
und unter Wirksamkeit des Gesetzes vom 7. August 1913 stehenden,
wiesen die Rekrutierungsstammrollen 321359 junge Leute auf, 17220
wurden ausgemustert. Die übrigen 304282 verteilten sich auf die
einzelnen Kategorien der Rekrutierungslisten wie folgt: für den Dienst
mit der Waffe tauglich 200151, für Hilfsdienste brauchbar 8623,
zum Dienst verpflichtet, durch freiwillige Meldung oder als ein-
geschriebene der seemännischen Bevölkerung 32134, ausgeschlossen 35,
zurückgestellte 54274, Aufschub erhalten 7657. Von den 208 174 Dienst-
pflichtigen, die für den Dienst mit den Waffen oder die Hilfsdienste
tauglich gefunden wurden, waren 1011 wegen ihres Alters dem Dienst
im aktiven Heere nicht mehr überweisbar, so daß die Zahl der Ein-
zustellenden des Jahrgangs 1913 207163 betrug, Todesfälle, Nicht-
gestellung und vor allem auch freiwillige Meldungen, die erst nach
der Aushebung erfolgten, die betreffenden wollten noch des Vorteils,
auch bei dreijähriger Verpflichtung den Truppenteil wählen zu können,
teilhaftig werden — setzten im Moment der Einstellung die Zahl aber
auf 186067 herab, die in den Tagen vom 26. bis 28. November 1913
zur Einreihung kamen, unter ihnen 9341 Analphabeten. Als Familien-
stützen wurden 21037 bezeichnet. Die Zalıl der freiwilligen Meldungen
für die französischen Truppen belief sich auf 69848, davon 60203
für Heimattruppen, 3685 für die Kolonialtruppen, 5960 für die Flotten-
bemannung. Die Heimatinfanterie erhielt 24174, die sich auf drei,
vier oder fünf Jahre verpflichteten, die Kavallerie 20655, Artillerie
11194, die anderen Waffen 4180. Wenn man die freiwilligen Meldungen
zu den Fremdenregimentern 3189 und den eingeborenen 13362, hin-
zufügt, so kommt man auf 76399 Freiwillige auf 3—5 Jahre.
Die Zahl der freiwilligen Meldungen zum Dienst infolge Besuchs der
großen Schulen betrug 1193. Die im Jahre 1913 auf Grund des
Gesetzes vom 21. März 1905 abgeschlossenen Kapitulationen von
Unteroffizieren, Korporalen oder Brigadiers bzw. Gemeinen belieien
sich bei den Heimattruppen auf 16808 und verteilten sich wie folgt:
(Infanterie: 6985 Unteroffizier, 750 Korporale, 648 Gemeine;
Kavallerie: 2175 Unteroffizier, 580 Korporale, 901 Gemeine;
Artillerie: 3220 Unteroffiziere, 225 Brigadiers, 207 Gemeine; anderer
Waffen: 992 Unteroffiziere, 119 Korporale, 163 Gemeine.)
406 Das französische Heer unmittelbar vor dem Kriege im eigenen Lichte.
1. Unteroffiziere: 13172, nicht gerechnet 1130 Offizieranwärter.
2. Korporale oder Brigadiers: 1674.
3. Gemeine: 1962.
Gegenüber den Zahlen von 1912 wiesen die vorgenannten ein
Weniger auf an Unteroffizieren von 395, Korporalen oder Brigadiers
636, Gemeinen 107. Den Kapitulationen müssen noch diejenigen hin-
zugefügt werden, die auf Grund des Artikels 44 des Gesetzes vom
7. August 1913 eingegangen wurden und deren Gesamtzahl sich auf
7157 erhob, 428 bzw. 202 bzw. 109 Unteroffizier, Korporale und
Gemeinde kapitulierten dabei, nachdem sie schon aus dem aktiven
Dienst ausgeschieden waren. 6265 Leute des Jahrgangs 1913, darunter
auch Freiwillige, wurden als fahnenflüchtig erklärt. Legt man die
Ergebnisse des Jahrgangs 1913 zugrunde — die Freiwilligen nicht
gerechnet, von denen man aber annehmen kann, daß sie ebenso zahl-
reich bzw. noch zahlreicher, beides wegen des Krieges, ausgefallen
sein werden, als 1913 —, so kann man für den nach Kriegsbeginn in
die Ersatzformationen eingereihten Jahrgang 1914 und für den in den
ersten Oktobertagen ebenfalls zu demselben Formationen tretenden
Jahrgang 1915 je 225000 Mann für den Dienst mit der Waffe
rechnen, so daß Frankreich im ganzen rund 450000 Mann jungen
Nachwuchses zum Füllen der Rahmen der Ersatzformationen und zum
nachherigen Nachschieben für die Feldarmee verfügbar haben kann.
Am 31. Juli 1914, wenige Tage vor dem „offiziellen“,
nach dem tatsächlichen Mobilmachungsbeginn, war es, als der
Chefredakteur der France Militaire in seinem Blatte die folgenden
Auslassungen niederlegte: „Heute bin ich in unmittelbarem Kontakt
mit den Organen, die uns, dank einer rastlosen Arbeit ohne jeden
Zweifel ein „glorreiches Morgen“ sichern. Im Kriegsministerium, in
den Vorzimmern des Ministers und im Großen Generalstab habe ich
niemals größere Ruhe und Entschlossenheit gefunden. Die Stunde ist
schwerer als manche andere, in der unsere Heeresleitung in
wilde Aufregung versetzt war, aber das Vertrauen ist heute
unbeschränkt, Heeresleitung und Führung, wie Generalstab
sehen mit eisiger Ruhe der Zukunft entgegen und der
designierte Generalissimus erklärte offen, alle bis zu dieser Stunde
befohlenen Maßnahmen seien mit der Sicherheit eines Uhrwerks aus-
geführt worden. Und das trägt nicht wenig dazu bei, das absolute
Vertrauen zu denen zu festigen, die morgen unsere militärischen
Geschicke lenken können, zu der Sicherheit, daß die Mobilmachung,
deren Plan der Generalstab ausgearbeitet, absolut reibungslos und mit
überraschender Schnelligkeit (wenn man schon 2717 Aufmarschtransporte
vornahm!!) 1200000 Mann erster Linie an die Grenze werfen wird.
Das französische Heer unmittelbar vor dem Kriege im eigenen Lichte. 407
Das Bild, das uns entgegenstrahlt, ist ein so erhebendes, daß Frank-
reich es nie vergessen wird. Wir geben Europa das Beispiel einer
eroßen Nation, die Bewunderung abzwingt, die auch den Sieg er-
zwingen kann, wenn das Schwert gezogen wird.“ Als diese
Auslassung, über deren Schlußsatz in bezug auf deren Richtigkeit, der
Krieg ja sein entscheidendes Urteil abgeben wird, niedergeschrieben
wurde, war man in den leitenden französischen politischen und Heeres-
kreisen — und wahrscheinlich nicht ohne Ahnung des Schreibers —
schon völlig sicher, daß der Krieg ausbrechen werde, sicher, daB man
sich auf den britischen Beistand zur See und zu Lande in Frankreich,
im Osten auf die numerisch gewaltigen, schon mobilen und zum
Teil einschließlich Sibirien aufmarschierten Heere Rußlands, auf das
Fehlen jeden Einspruchs Belgiens gegen Verletzung der Neutralität
durch französische Truppen, ja auf dessen Hilfe zur Durchführung
der schon lange zwischen Frankreich — Rußland — England— Belgien
vereinbarten Pläne verlassen könne, war man entschlossen, das
Odium des politischen, kriegserklärenden Angreifers Deutschland zu-
zuschieben, dadurch Italien, äußerlich wenigstens, von der Erfüllung
des casus foederis zu entlasten, von der Südgrenze Frankreichs mög-
lichst alles, aus Nordafrika. nicht nur den als besonders militärisch
befähigt eingeschätzten Generalgouverneur Lyautey, sondern auch
möglichst viel Truppen in Frankreich gegen Osten bzw. Norden ein-
zusetzen. Man berücksichtigte dabei nicht, daß Lyautey am 11. Juli
1914 die Anwesenheit der rund 82000 Mann in Marokko als un-
abweisbar der Lage nach nötig, die Sicherheit Algeriens, das immer
stärkere Nachschübe nach Marokko liefern gemußt, die Schaffung
neuer algerischer Tiralleurbataillone gefordert hatte, man am 18. bis
25. Juli sogar 1000 französische Geniesoldaten nach Marokko senden
gemußt, nicht daß der Abgeordnete für Nancy, Ludre, am 27. Juli,
also unmittelbar vor der Kriegserklärung, im „Echo de Paris“ den
Brief eines Generalstabsoffiziers aus Marakesch veröffentlichte, in dem
es hieß: „Sollte man den General Liautey ablösen, so würde in kurzer
Zeit der allgemeine Aufstand ausbrechen. Um ihn zu unterdrücken,
hätten wir 100000 Mann mehr nötig. Unsere ganze Okkupation ist
gebrechlich und unsicher, alles basiert auf der Autorität des Generals
Liautey. Geht er fort, so zerfällt alles.“ Liautey wurde aber wenige
Tage nachher abberufen und er hat den größten Teil der Truppen
mitgenommen, obgleich auch in Tunis die Lage durchaus keine sichere
war und von französischen Generalresidenten als solche zugegeben
wurde.
Die Quittung ist ja dann auch bald eingetreten, von den
afrikanischen, zum Teil in Südosten, zum Teil im Norden verwendeten
408 Das französische Heer unmittelbar vor dem Kriege im eigenen Lichte.
Truppen sieht man sich gezwungen, starke Teile, angeblich der un-
günstigen Wirkung des Klimas auf die Afrikaner wegen, in Wirklich-
keit aber auch wegen der Lage in Afrika, dorthin zurück-
zutransportieren, ob mit oder ohne Liautey ist zunächst nicht fest-
zustellen. Allem Anscheine nach hat Liautey als Armeeführer in
Frankreich Verwendung gefunden. An sonstigen Armeeführern, außer
dem Generalissimus Joffre, sind bisher in französischen, britischen
und holländischen Mitteilungen Dubail, Castelnau mit Pau, der zu-
nächst im Elsaß kommandierte, Gallieni, Führer der Armee von Paris,
dessen Gouverneur Michel, dann aus einem Befehl Joifres für den
6. September Sarail, Langle de Cary, Foch, Franchet d’Espeny be-
kannt geworden. Über die Zusammensetzung der französischen
„Armeen“ nach Korps weiter unten das aus verschiedenen Quellen
bekannt Gewordene.
Neben aktiven Korps sind auch auf den verschiedenen Kampf-
feldern (schon in Belgien z. B. zur Unterstützung der britischen
Korps) Reservedivisionen aufgetreten, so daß man zu der
Annahme berechtigt ist, daß die Aufstellung dieser Verbände
planmäßig so erfolgt ist, wie man sie nach den französischen Vor-
schriften, nach den Kadergesetzen und nach dem, was in der
französischen Presse veröffentlicht wurde (in den Jahrbüchern von
uns früher schon berührt) lange vor Beginn des Krieges annahm.
Jedem aktiven Korps entspricht also, neben den oben schon
berührten, 6 Bataillonen, 6 Verstärkungsbatterien, umfassenden, sofort
mit dem aktiven Korps ausrückenden gemischten Reservebrigaden,
1 Reserveinfanteriedivision aus 2 Reservebrigaden zu je 3 In-
fanterieregimentern & 2 Bataillone (für jedes Reserveregiment beim
cadre complementaire des aktiven Regiments und dem Sonderstab der
Infanterie alle Führer bis zu den Kompagniechefs abwärts einschließ-
lich, 6 Adjudands und 24 bis 36 Unteroffiziere und Sergeanten im
Frieden schon vorhanden) 1—2 Jägerbataillone, mehrere Eskadrons,
9 Reservebatterien, 1 Geniekompagnie an kombattanten Truppen. Jede
Reservedivision hat im Frieden schon ihren Führer für den Krieg im
Korpsbezirk vorrätig, in dem Divisionsgeneral „inspecteur des-
formations de reserve et de la preparation militaire“, der
auch die Übungen der Reserveverbände im Frieden leitet bzw. über-
wacht. Diese Generale wurden durchweg aus solchen gewählt, die
sich als Divisionskommandeure schon bewährten. Reservedivisionen
haben auch im Frieden wiederholt an den Armeemanövern teilgenommen.
Eigentliche Armeemanöver standen für 1914 nicht auf dem Programm
verzeichnet, man hatte auf solche verzichtet, um besonders das
neue „Felddienstreglement“ und die „Anleitung zur Führung
Das französische Heer unmittelbar vor dem Kriege im eigenen Lichte. 409
großer Verbände“ durchzuerproben, sowohl bei den sogenannten pro-
gressiven Manövern, die mit Brigademanövern beginnen, in Korps-
manövern enden sollten, als bei den angesetzten Operationen von
2 Armeekorps gegeneinander. Von 1914 ab sollten jährlich an den
Armeemanövern mindestens 3 Armeekorps und 1 Kavalleriedivision
auf jeder Seite teilnehmen und bei den nicht an den Armeemanövern
beteiligten Korps fortschreitende Manöver, abschließend mit solchen
benachbarter Korps gegeneinander, oder mit solchen von Korps gegen
Fiaggenfeind endigend, stattfinden, während man in diesem Jahr schon
Operationen von Kavalleriekorps zu 3 Divisionen und je '/, ge-
mischte Division gegeneinander angesetzt hatte. Man wird es im
französischen Heere zweifellos bedauern, daß vor Beginn des Krieges
die vorgesehenen Übungen, auch Proben aufs Exempel des Zu-
sammenwirkens der verschiedenen Waffen auf den Gefechts-
zweck hin nicht mehr stattgefunden haben. In einem bekannt
gewordenen Erlaß klagt der Generalissimus Joffre über in fast allen
Kämpfen hervorgetretenen Mangel an Zusammenwirken der ver-
schiedenen Waffen auf den Gefechtszweck hin, eine Klage, die seine
Kritiken der Armeemanöver im Jahre 1913 schon nachdrücklich aus-
gesprochen haben, und die wir in manchen Privatbriefen französischer
Zeitungen wiederfinden.
Die planmäßige Zusammensetzung höherer Verbände
gaben vor dem Kriege französische amtliche Quellen wie folgt an:
Großes Hauptquartier, zusammengesetzt aus dem Militär-
kabinett des Generalissimus (Joffre), dem großen Generalstab mit dem
Chef des Generalstabs (major général), der im Frieden als erster Ober-
quartiermeister im Generalstab tätig ist (jetzt General Belin), Ober-
quartiermeistern und Abteilungschefs (aides majors généraux), dem
Leiter der Heeresversorgung (directeur de l’arriere) .dem, neben dem
selhständigen Etappendienst auch der Chef des Feldeisenbahnwesens
(directeur des chemins de fer aux armées) untersteht, den obersten
Waffen- und Feldverwaltungsbehörden der Armeegruppe, endlich den
dem Großen Hauptquartier zugeteilten Behörden und Truppen.
Ein Armeeoberkommando — die Armeeführer werden im
Frieden durch Bestallung aus den Mitgliedern des oberen Kriegsrates
auf je ein Jahr bestimmt — gliedert sich in zwei Gruppen. Die
erstere von beiden umfaßt den Generalstab mit dem Chef des General-
stabes im Armeehauptquartier und den Telegraphendirektor, Gruppe 2,
unter dem Direktor der Armeeversorgung (directeur des étapes et
des services de l'armée), der seine Weisungen unmittelbar vom Armee-
oberkommando erhält, die obersten Feldverwaltungs- und Etappen-
behörden der Armee. In der Hand des Direktors der Armeeversorgung
410 Das französische Heer unmittelbar vor dem Kriege im eigenen Lichte.
sind alle Verwaltungsgeschäfte in vorderer Linie, wie auch auf den
rückwärtigen Verbindungen und alle den Nachschub betreffenden An-
gelegenheiten vereinigt. Durch diese Zusammenfassung der Obliegen-
heiten des Oberquartiermeisters und des Etappeninspekteurs soll das
sichere Ineinandergreifen aller Zweige der Armeeversorgung gewähr-
leistet werden. Die Armee, die strategische Einheit im heutigen
Kriege, deren Frontausdehnung im Kampfe schon mit dem schärfst-
bewaffneten körperlichen Auge nicht mehr zu übersehen ist, umfaßt:
1. Den Armeestab.
2. 3—4 Armeekorps (normal rechnete man in Frankreich vor dem
Kriegsbeginn mit 6—7 Armeen).
3. 1—2 Kavalleriedivisionen (deren im Frieden 10 bestanden, und
zwar aus je 6 Regimentern, 6 Maschinengewehren, 1 Radfahrer-
gruppe, 1 reitenden Abteilung zu 3 Batterien, 1 Sappeur- und
1 Telegraphenradfahrerdetachement, 6 Flugzeugen. 1 Divisions-
ambulanz.
4. Armeeartillerie aus 1 Regiment schwerer Artillerie des Feld-
heeres mit 3 Abteilungen zu 3 Batterien und 3 Munitions-
kolonnen (siehe weiter unten auch bei Armeekorps).
5. Armeeartilleriepark aus dem Stabe und soviel Divisionen, als
die Armee Armceekorps zählt, jede Division in 4 Staffeln ge-
gliedert, davon 2 auf der Achse, 1 auf den Eisenbahnen und
1 in Zwischenmunitionsdepots.
6. Armeegenietruppen, und zwar 1 Telegraphenkompagnie zu 6 Zügen,
1 Luftschifferkompagnie mit Park und Flugzeuggeschwader zu
mindestens 3 Sektionen, 1 Armeebrückentrain zu 4 Abteilungen
mit 1 Kompagnie, 1 Geniepark mit Fahrradkompagnie.
7. Leichte Feldlazarette, je 1 pro Korps.
8. Armeetrain mit 2 Kolonnen pro Armeekorps, (planmäßig 4,
davon aber 2 zur Verfügung des Oberkommandos), jede Sektion für
einen Tag Proviant und Fourage für 1 Armeekorps transportierend.
9. Feldbäckerei.
10. Schlachtviehpark der Armee, an lebenden Häuptern den Fleisch-
bedarf für zwei Tage des Armeebestandes enthaltend.
Jedes mobile Armeekorps weist nach den französischen Vor-
schriften noımal, außer dem Generalkommando, auf:
a) 2 aktive Infanteriedivisionen, jede zu 2 Brigaden, à 2 Regi-
menter zu 3 Bataillonen, 6 Maschinengewehren, 13 berittenen Gelände-
aufklärern, das mobile Regiment 66 Offizieren, 3266 Mann aufweisend,
1 bis 2 Jägerbataillone, mit 4 bis 8 Maschinengewehren, weiter 1 Es-
kadron Divisionskavallerie, dem Korpskavallerieregiment entnommen,
das zu 6 Eskadrons mobil macht, 1 Divisionsartillerieregiment zu
Das französısche Heer unmittelbar vor dem Kriege im eigenen Lichte. 411
9 Batterien in 3 Abteilungen à 3 Batterien, jede Abteilung 12 Offi-
ziere rund 510 Mann, 510 Pferde, 66 Geschütze (36) und Fahrzeuge
enthaltend, 1 Divisionspionierkompagnie, einige von den 8 Ambulanzen
und 6 Lazarettsektionen, die dem Korps von seinen 16 erst- und 12
letztgenannten übrig bleiben, 1 Divisionskrankenträgerkompagnie, end-
lich Divisionsschlachtviehpark zu 100 Häuptern.
b) 1 sofort mobil werdende Reservebrigade und 6 der im Frieden
in aktiven Stämmen schon bestehenden 10 Verstärkungsbatterien, die
Reserveregimenter, gebildet wie die aktiven, die 6 Verstärkungsbatte-
rien 24 Geschütze aufweisend, die gemischten Reservebrigaden, dem
kommandierenden General neben der Korpsartillerie ohne Zerreißung
der Verbände eine Verfügungstruppe von rund 8000 Mann und 24
Geschützen zur Verfügung stellend, die Dreiteilung des mobilen Armee-
korps ohne weitere Reibungen so ermöglichend.
c) Korpkavallerie, von dem mit 6 Eskadrons mobil machenden
Korpskavallerieregiment noch etwa 4 Eskadrons übrig bleibend.
d) 1 Regiment Korpsartillerie zu 12 Batterien in 4 Abteilungen
zu 3 Batterien, 48 Geschütze, die, unter Heranziehung der
6 Verstärkungsbatterien, in 2 Gruppen zu 9 Batterien mit
72 Geschützen geteilt werden, so daß im ganzen an Flachbahn-
geschützen bei dem Armeekorps 144 vorhanden sind. Nach den
Wahrnehmungen bei den Kämpfen und den Wegnahmen von
Rimailhohaubitzen in solchen durch deutsche Truppen kann ge-
schlossen werden, daß man die schwere Artillerie des Feld-
heeres nicht mehr absolut nur als Armeeartillerie be-
trachtet, sondern schwere Feldhaubitzen auch den Armee-
korps zugeteilt hat, wo ihre Wirkung, nach veröffentlichten Feld-
postbriefen, eine ganz gute, namentlich auch gegen Ziele dicht hinter
Deckungen, gewesen ist.
e) Korpsgenietruppen, nämlich 1 Korpsgeniekompagnie mit Korps-
telegraphensektion, 1 Korpsbrückentrain zu 2 Abteilungen mit 1 Kom-
pagnie, 1 Korpsgeniepark mit 1 Kompagnie, endlich 1 Korpsflugzeug-
geschwader, das planmäßig 6 Flugzeuge haben sollte, von dem man
aber nicht bestimmt sagen kann, mit wieviel es ausgerückt ist.
f) 1 Korpskrankenträgerkompagnie.
g) 16 Ambulanzen und 12 Lazarettsektionen, zur Hälfte in Re-
serve bei der Armee.
h) Korpsmunitionspark aus 3 Staffeln, darunter 2 zu je 4 Artillerie-.
2 Infanteriemunitionskolonnen, 1 dritte Staffel mit 3 Munition führenden
Parksektionen und 1 Materialsektion.
Da bei der Batterie 228 Schrapnells, 84 Granaten 312 Schuß
pro Geschütz, im Munitionspark des Korps 267, darunter '!/, Gra-
412 Das französische Heer unmittelbar vor dem Kriege im eigenen Lichte.
naten vorhanden, so ergeben sich 574 Schuß pro 7,5 cm, während
pro Rimailho-Haubitze auf dem Schlachtfeld 500 Schuß angegeben
werden, für den Infanteristen 88 Patronen Taschenmunition, 103
in Kompagnie-Patronenwagen, 110 in Munitionskolonnen, total 301
Patronen.
i) Korpsverpflegungstrain mit 4 Sektionen (nahezu 1300 Pferde
notwendig, sofern man nicht Lastzüge verwendet hat, deren aber je
eine schwere Automobilkompagnie zu 4 Sektionen ein Tag Proviant
für das Korps bez. 1600 t Munition transportierend in französischen
‚Berichten als bei jedem Korps vorhanden, erreicht worden ist), jede
Sektion einen Tag Proviant und Fourage für das ganze Korps führend.
k) Feldbäckerei, Schlachtviehpark und mobiles Remontedepot.
Die Stärke des mobilen Korps wurde in Frankreich auf 42000
Mann mit 144 Geschützen veranschlagt, 30 — 32 — 6 — 36 an kombat-
tenten Truppenverbänden, zu denen, nach der vorhin gemachten Be-
merkung, ja aber noch schwere Feldhaubitzen zu rechnen sein
würden.
Hinter den oben beleuchteten Reserveformationen stehen
diejenigen der Landwehr (Territorialarmee), deren Leute normal am
dritten Mobilmachungstag einbeordert werden sollten. Die mit ihnen
aufzustellenden Territorial- (Landwehr-) Formationen zeichnen sich schon
dadurch ab, daß man im Frieden jedes Territorialinfanterieregiment
alle zwei Jahre neun Tage üben läßt. Die Landwehrmannschaften
sind im Durchschnitt 35—40 Jahre alt. Planmäßig stellt jeder Korps-
bezirk 8 Territorialinfanterieregimenter, 1—2 Eskadrons, 1—2 Ab-
teilungen Artillerie, 1 Geniebataillon, 1 Traineskadron auf. Dazu
kommen 32 Bataillone Zollbeamte und eine Reihe von Formationen
von Forstbeamten, beide Kategorien auch Festungsverbände aufstellend.
Für Etappen- und Besatzungszwecke normal bestimmt werden die
Truppen der Territorialarmee doch auch zu Feldzwecken erster Linie
verwendet und sind in einzelnen ihrer Verbände schon in den bis-
herigen Feldkämpfen aufgetreten, was in Zukunft sicher noch mehr
der Fall sein wird.
Die Siegesgewißheit, mit der das französische Heer in den Krieg
zunächst eintrat, hatte zweifellos einen breiten Teil der Grundlage
in der Hoffnung auf britische, belgische und vor allem russische
Hilfe. Die urkundlich belegte Geschichte des Krieges wird zu erweisen
haben, ob sie nicht trügerisch war, ob das Bild, das im Lichte der
eigenen Ansicht reflektierte, durch die scharfe Brille objektiver Kritik
in Frankreich betrachtet wurde, ob vor allem auch die Einheit der
Gesichtspunkte in der höheren Führung so zuverlässig sicher bervortrat,
daß die in der französischen Presse bald nach dem Fall von Namur
Das französische Heer unmittelbar vor dem Kriege im eigenen Lichte. 413
erschienene Nachricht, Generalissimus Joffre wolle wegen Uneinigkeit
der Generale von seinem Posten zurücktreten — eine bewußte Lüge war.
Schon heute läßt sich, ohne eine Widerlegung fürchten zu müssen
und ohne ein Geheimnis zu verraten, aussprechen, daß die viel-
gepriesene Einheit der Gesichtspunkte bei der oberen
Führung nicht bestanden hat, bevor die lange Rückwärts-
bewegung der französischen Nordkräfte und der allgemeinen
Linie Paris—-Verdun zum Stehen gekommen, und derGeneralissimus
seinem Willen bei den auf kürzerer (immer noch enormer) Front ver-
sammelten Armeen bessere Geltung verschaffen konnte. Unbestreitbar
ist der Plan für den ersten französischen Aufmarsch ein verfehlter,
nur mit gewaltiger Mühe zu verbessernder gewesen, ist der von langer
Hand her entworfene Operationsplan — der bestand, als man dicht
vor dem Kriege in Frankreich die eigene Armee so zuversichtlich ein-
schätzte — gescheitert. Wenn man einen von der „Lothringer Volks-
stimme“ veröffentlichten, im Taschenbuche eines bei Verdun gefangenen
französischen Generalstabsoffiziers gefundenen Aufmarschplan auch
nicht als absolut in der Zusammensetzung der Armeen nach Korps
zutreffend ansehen kann, so ist doch sicher, daß der Aufmarsch eine
I. Armee (Dubeil) bei Belfort, eine VII. etwas weiter westlich zwischen
Belfort und Epinal, die II. um Epinal, III. um Toul, IV. um Verdun,
V. um Maubeuge (bestätigt auch durch ersten Bericht French’s), eine
VI. im Lager von Paris vorsah, während andere Armeen im Süden
in der Bildung begriffen waren. Zutreffend ist auch, daß die V. Armee,
zunächst 4 Korps und einige Reservedivisionen mit 6 britischen In-
fanterie-, 2 Kavalleriedivisionen, ebensoviel belgischen Infanterie- und
Kavalleriedivisionen durch Belgien in der Richtung Koblenz-Köln vor-
gehen sollte, daß die Richtung einer zweiten Offensivbewegung zwischen
Straßburg und Metz hindurchführen sollte, und daß aus dem Belforter
Loch und über die Vogesenpässe die Richtung eines dritten Offensivstoßes
mit starken Kräften eine Umfassung auch unserer linken Flanke er-
möglichen sollte. War der Schwerpunkt des Aufmarsches französischer-
seits nach Osten verlegt, so deutscherseits nach Norden. Dieses, das
rasche deutsche Zugreifen in Belgien, die unerwartete Ausdehnung des
deutschen rechten Flügels bis zur Schelde, während Joffre diesen
nicht über Maas und Sambre hinausgehend dachte und selbst um-
fassen wollte, wie die starke Belforter Armeegruppe (unter Paus Ober-
leitung) der linken, der Sieg in Lothringen, der auch die Flanken-
unternehmungen im oberen Elsaß scheitern ließ, fällten in der Praxis
das erste Urteil über die französische Führung und nötigten zu den
gewaltigen Kräfteverschiebungen, die man die Quittung auf den ver-
fehlten ersten Aufmarsch nennen muß. Ist der erste französische
Jahrbücher für die deutsche Armee und Marine. Nr. 518. 30
414 . Die Heere unserer Gegner.
Offensivplan gescheitert, so muß man andererseits anerkennen, daß
der zweite, aus der allgemeinen Linie Paris—Verdun begonnene,
zweckmäßiger entworfen war, wenn er auch zu dauernden Erfolgen —
trotz allen zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln des Landes, trotz
Möglichkeit rapider Kräfteverschiebung durch das engmaschige Bahn-
netz, trotz steter Verlängerung der Front bzw. Flanke zum Umfassen
des rechten deutschen Flügels — nicht geführt hat.
XXVII.
Die Heere unserer Gegner.
Von
Frhr. von der Osten-Sacken und von Rhein,
Oberstleutnant a. D.
Der größte Krieg, den die Welt je erlebt hat, ist entbrannt.
Weit über die Grenzen Europas hat er seine Kreise gezogen. Wer
sehen wollte, wußte es längst, daß er kommen würde; freilich, auch
er konnte nicht ahnen, welche gewaltige Ausdehnung der Kampf an-
nehmen würde. Als Eduard VII. längst schon begonnen hatte, Deutsch-
land und das im Bunde mit diesem befindliche Österreich-Ungarn
einzukreisen, hoffte man bei uns noch immer, eine Gegnerschaft
Englands vermeiden zu können. Ja selbst an einen Krieg mit Frank-
reich und Rußland wollte man noch nicht glauben, trotzdem es seit
1908 auf der Balkanhalbinsel mächtig wetterleuchtete Erst die in
immer kürzeren Zwischenpausen wiederkehrenden und immer heftiger
werdenden Krisen in diesem alten Wetterwinkel Europas ließen die
drohende Gefahr offenkundiger werden. Fast war es schon zu spät,
daß die Erkenntnis derselben bei uns zum Durchbruch kam. Erst
im letzten Augenblick wurden die durch Parteipolitik verschuldeten
Versäumnisse an unserer Wehrmacht gutgemacht, freilich nur zum
Teil war dies noch möglich. Diese Aufraffung tat bitter Not, denn
groB ist die Zahl der Gegner und die Macht, über die sie verfügen.
Nur auf Österreich gestützt, haben wir fast gegen eine Welt an-
zukämpfen. Dem französischen Chauvinismus und dem von ihm er-
kauften russischen Panslavismus hat sich als treibende Kraft das
scheinheilige englische Krämertum zugesellt. Aber da sie ihrer Kraft
Die Heere unserer Gegner. 415
noch immer nicht trauten, haben diese drei sich nicht entblödet,
nicht nur Rußlands gehorsame Vasallen auf der Balkanhalbinsel und
das neutrale Belgien mit sich fortzureißen, sondern sie haben auch
noch die gelbe Rasse auf uns gehetzt. So ist das widersinnigste
Bündnis zustande gekommen, das die Welt je gesehen hat. All diese
Mächte haben gerüstet und gerüstet, um dann 1916 über uns her-
zufallen. Doch ganz sollte ihnen ihr Plan nicht glücken. Noch ehe
ihre Rüstungen vollendet waren, machte es die Verfahrenheit seiner
inneren Politik für den Testamentsvollstrecker Eduard VII. nötig, den
Krieg vom Zaun zu brechen, während gleichzeitig der Fürstenmord in
Serajewo Rußland zwang, als Schützer des verbrecherischen Serben-
tums in die Schranken zu treten.
Aber wenn auch unsere Gegner ihre Kriegsvorbereitungen nicht
ganz haben zu Ende führen können, so sind doclı ihre Kräfte gewaltig
und in ihrer Gesamtheit denen Deutschlands und Österreich-Ungarns
zahlenmäßig erheblich überlegen. Doch das braucht uns nicht zu
schrecken. Noch nie ist Deutschland besiegt worden, wenn es einig
war, und noch nie ist es so einig gewesen wie heute, wo es im
Bunde mit dem Kaiserstaat an der blauen Donau, zwischen dessen
Völkern die gemeinsame Gefahr den inneren Frieden hergestellt hat, in
den Kampf für sein und dessen Dasein eingetreten ist. Zu einem Volk
von 120 Millionen Menschen haben sich die Stämme beider Völker
vereint, und ein solches Volk ist unbesiegbar, wenn es sich dessen
bewußt ist, daB es seine heiligsten Güter zu verteidigen hat. Die
Übermacht der Feinde ist groß, aber an innerem Wert stehen ihre
Streitkräfte weit hinter den unseren zurück, und darum sind die Aus-
sichten auf Erfolg für uns. Die Betrachtung der feindlichen Streit-
mittel wird uns dies zeigen. Da die Entscheidung auf dem Lande
fallen muß, so können wir hierbei die Flotten außer Betracht lassen.
Wie groß auch die materielle Überlegenheit der feindlichen Flotten
sein mag, zu der Entscheidung auf dem Lande können sie nicht bei-
tragen. Ist diese aber für uns ausgefallen, dann werden siclı vielleicht
auch noch Mittel und Wege finden, unsere überseeischen Gegner zwar
nicht niederzukämpfen, aber doch zu dämpfen und zur Anerkennung
unserer berechtigten Forderungen zu nötigen. Doch das ist eine
cura posterior.
Unser ältester Gegner ist Frankreich, das seit einem Jahr-
tausend Deutschlands Erbfeind gewesen ist. Da das Verlangen, für
Waterloo Vergeltung zu üben, zum gänzlichen Zusammenbruch seines
rückständigen Heerwesens geführt hatte, sah es sich nach dem Frank-
furter Frieden gezwungen, dieses herzustellen. Der Neubau wurde
auf einer völlig neucn und modernen, sich vielfach an das preußische
30*
416 Die Heere unserer Gegner.
Muster anlehnenden Grundlage aufgeführt. Er vollzog sich mit einer
bewundernswerten Energie. Kein persönliches, kein finanzielles Opfer
war den Franzosen zu viel und zu groß; willig unterzog sich das
freiheitsliebendste Volk der Welt dem größten Zwange. Hierfür war
nur eine Deutung möglich. Wie Preußen nach Jena sein Heer ledig-
lich für den Kampf gegen Napoleon hergestellt hatte, so tat es jetzt
Frankreich ausschließlich für den Kampf gegen das neuerstandene
Deutsche Reich. Und während es diesem Zweck Milliarden über
Milliarden opferte, gab es andere dafür her, sich den Beistand Ruß-
lands zu erkaufen und dieses für den Krieg gegen den gemeinsamen
Feind möglichst stark zu machen. So haben es zielbewußtes Streben
und glühender Patriotismus dahin gebracht, daß jetzt Frankreich
trotz mancherlei Vergreifens in den Mitteln ein sehr gefährlicher
Gegner ist, dessen Bewältigung, auch wenn es auf sich allein an-
gewiesen wäre, eine schwierige und zeitraubende Aufgabe für uns
sein würde.
Die Grundlage des französischen Heerwesens bildet die allgemeine
Wehrpflicht. In keinem anderen Lande der Welt ist sie so rücksichts-
los und so streng durchgeführt als in Frankreich; nicht nur sind alle
Vergünstigungen beseitigt, auch die Anforderungen an die körperliche
Brauchbarkeit der Rekruten sind erheblich geringer als bei uns. Während
bei uns bis zum Vorjahre von 100 bei der Aushebung endgültig ab-
gefertigten Leuten nur 57 eingestellt wurden. nahm man in Frankreich
damals schon trotz des erheblich schwächeren Menschenschlages 82.
die zumal bei der allgemeinen Verseuchung durch Schwindsucht,
Geschlechtskrankheiten usw. zum großen Teil nur zum Lazarettfutter
gut genug waren. Die strenge Durchführung der allgemeinen Wehr-
pflicht bat es Frankreich aber bis zum Vorjahre ermöglicht, ein fast
ebenso starkes Heer zu halten und die gleiche Zahl von Mannschaften
für den Kriegsfall auszubilden wie Deutschland mit seinem allmählich
auf 28 Millionen angewachsenen Mehr an Einwohnern. Erst unsere
vorjährige Heeresverstärkung brachte hierin eine Änderung hervor.
Doch sofort griff Frankreich zu dem letzten ihm bleibenden Mittel,
um das alte Verhältnis herzustellen, indem es die dreijährige Dienst-
zeit herstellte und die allgemeine Dienstverpflichtung um drei Jahre
verlängerte. Dadurch stieg die Friedensstärke der Armee ohne die
Offiziere und Kolonialtruppen, aber einschließlich der Mannschaften
des Hilfsdienstes und der zum Heere zählenden Gendarmerie auf
762000 Mann, d. h. fast 2°/, der ohne die Kolonien 39,8 Millionen
zählenden Bevölkerung. Daß das Land die hierdurch bedingt
Steigerung der Heereskosten und die Entziehung so zahlreicher Arbeits-
kräfte auf die Dauer nicht würde tragen können, war sofort klar.
Die Heere unserer Gegner. 417
Die Herstellung der dreijährigen Dienstzeit war eine Verzweiflungstat,
die den nahen Krieg in Aussicht stellte.
Nach dem neuen Gesetz dauert die Wehrverpflichtung 28 Jahre,
davon 3 Jahre aktiv und 11 Jahre in der Reserve des stehenden
Heeres und je 7 Jahre in der Territorialarmee und deren unserem
gedienten Landsturm entsprechender Reserve. Da alle nur irgend
brauchbaren Leute gedient haben, gibt es keine unserem Millionen
umfassenden, ungedienten Landsturm entsprechende Kategorie, daher
auch heute nicht mehr die Möglichkeit besteht, Truppenimprovisationen
nach Art derer Gambettas vorzunehmen. Ein entschiedener Fehler
des Gesetzes ist, daß bei den zur Verwendung in erster Linie be-
stimmten Truppen sich innerhalb derselben Verbände (Kompagnie,
Eskadron, Batterie) Leute von 14 Jahresklassen befinden;. darunter
leidet die an sich schon mangelhafte Disziplin ebenso wie der Gefechts-
wert, denn der ältere verheiratete Mann schlägt sich schlechter, als
der junge Bursche es tut. Was die durch das neue Gesetz bewirkte
Ausdehnung der allgemeinen Wehrverpflichtung auf drei weitere Jahres-
klassen betrifft, so muß sie ebenfalls als eine Maßregel von zweifel-
haftem Wert bezeichnet werden. Wenn man durch sie auch die
Verfügung über drei weitere Jahrgänge erhielt, so war doch der eine
derselben kaum schon brauchbar, die beiden anderen aber kaum noch
brauchbar. Namentlich die Verlegung des Diensteintritts vom 21. auf
das 20. Lebensjahr, in dem die körperliche Entwickelung vielfach
noch nicht abgeschlossen ist, muß zumal bei einem im allgemeinen
so schwächlichen Ersatz, wie der französische ist, sehr nachteilig
wirken. Indessen glaubte man, diesen Ausweg nicht vermeiden zu
können, da die beabsichtigte Zurückhaltung der Jahresklasse 1910,
die nach dem alten Gesetz 1912 entlassen werden mußte, große Miß-
stimmung in Volk und Heer erregte und bereits Veranlassung zu
groben Ausschreitungen und Meutereien gab. So sah man sich ge-
nötigt, im Herbst 1913 zwei Jahrgänge Rekruten einzustellen, was
bei deren jugendlichem Alter sofort ein gewaltiges Anschwellen des
Krankenbestandes zur Folge hatte.
Die strenge Durchführung der Wehrpflicht und die Ausdehnung
der Dienstpflicht auf 28 Jahresklassen ergeben natürlich eine außer-
ordentlich hohe Zahl von ausgebildeten Mannschaften. Seitens des
französischen Kriegsministeriums ist sie auf 4'/, Millionen, seitens des
Armeeausschusses in der Deputiertenkammer sogar auf 4?/, Millionen
angegeben worden. Bei der Höhe des Rekrutenkontingents, das bei
der äußerst geringen Bevölkerungszunahme hauptsächlich infolge der
immer schärferen Handhabung des Aushebungsgeschäfts freilich nur
sehr allmählich von 200000 auf 250000 Mann angewachsen ist,
418 Die Heere unserer Gegner.
müßte die Zahl der ausgebildeten Mannschaften eigentlich erheblich
höher sein. Daß sie es nicht ist, zeigt uns, um wieviel höher der
erfahrungsmäßige Abgang unter den Mannschaften des Beurlaubten-
standes bei den Franzosen als bei uns ist. Es ist dies die natürliche
Folge davon, daß bei ihnen so viele Mannschaften eingestellt werden,
die nach unseren Begriffen überhaupt nicht brauchbar sind. Der von
ihnen erhoffte Gewinn aus der strengen Durchführung der allgemeinen
Wehrpflicht schrumpft also namentlich bei den älteren Jahrgängen
mehr und mehr zusammen. Über die Verteilung der erwähnten
4°/, Millionen auf die verschiedenen Heereskategorien verlautet nichts.
Man wird aber kaum sehr fehl gehen, wenn man unter Berück-
sichtigung der ursprünglichen Stärke der Jahresklassen annimmt, daß
von ihnen
1762000 Mann auf das stehende Heer und
etwa 2100000 , „ dessen Reserve,
„ 1100000 „ „ auf die Territorialarmee und
» 800000 „ „ deren Reserven entfallen.
Damit soll nun aber nicht gesagt sein, daß die Mannschaften in
den verschiedenen Kategorien nun auch wirklich in dem angegebenen
Umfange verfügbar sind, vielmehr wird sich in allen ein erheblicher
Ausfall ergeben. Wollte wirklich ein Staat von noch nicht 40 Millionen
Einwohnern eine so starke Kriegsmacht aufstellen, so würde das ge-
samte staatliche und bürgerliche Leben ruhen. Man bedenke nur,
welche gewaltige Zahl von vollwertigen Arbeitskräften schon das
öffentliche Verkehrswesen, die im Kriegsfalle aufs äußerste angespannte
Heeresindustrie usw. beanspruchen. Und auch das bürgerliche und
Erwerbsleben, namentlich der Ackerbau dürfen selbst bei für den
Import offenen Häfen nicht ruhen, denn dann würden alle staatlichen
und privaten Einnahmequellen versiegen und bei einem längeren
Kriege, wie der jetzige zu werden verspricht, schließlich Volk und
Heer verhungern. So erscheint es kaum denkbar, daß irgend ein
Land mehr als 9°/, seiner Bevölkerung unter die Waffen rufen kann.
In dem vorliegenden Falle sind dies etwa 3600000 Mann. Der
Anteil. der hiervon auf die Flotte zu rechnen ist, wird durch Kolonial-
truppen ausgeglichen.
Aber auch wenn das französische Heer nur diese Stärke erreicht,
so bleibt es doch immer gewaltig, und es muß mehr als zweifelhaft
erscheinen, ob es bei der Mobilmachung wird möglich gewesen sein,
die Armee in der vorgesehenen Weise mit Chargen zu besetzen. Trotz
des geringen Sollstandes an Unteroffizieren wurde dieser bereits vorher
fast durchweg nicht erreicht, so daß zu allen möglichen Aushilfs-
mitteln gegriffen werden mußte. Und fast noch größer war der
Die Heere unserer Gegner. 419
Mangel an Berufsoffizieren, an deren Zahl über 2700 fehlten. Dieser
Fehlbetrag mußte um so empfindlicher sein, als auch an Offizieren
des Beurlaubtenstandes kein Überfluß vorhanden war. So ist man
schon nach kaum zweimonatiger Dauer des Krieges genötigt gewesen,
die Offiziere zu warnen, sich nicht unnötig Gefahren auszusetzen,
denn wenn man auch in Frankreich nicht sehr bedenklich in der
Auswahl der Offiziere ist, so scheint man doch vorläufig keine Neigung
zu verspüren, die seiner Zeit von Gambetta bei der Besetzung der
Offizierstellen gemachten Experimente zu wiederholen und die bereits
vorhandenen Ungleichmäßigkeiten in der Herkunft der Offiziere mit
den sich daraus ergebenden Folgen noch zu vermehren. Übrigens
kann den französischen Offizieren im allgemeinen nicht das Lob ver-
sagt werden, daß sie ihren Leuten tüchtige Führer sind, wenn sie
sich auch um den inneren Dienst wenig kümmern, daher sie es auch
vielfach an Fürsorge für ihre Untergebenen fehlen lassen. Die Folge
hiervon ist, daß sehr zum Schaden der an sich schon schlechten
Mannszucht trotz des Hervorgehens eines großen Teils der Offiziere
aus dem Unteroffizierstande zwischen ihnen und ihren Leuten kein so
inniges Verhältnis wie zwischen unseren Offizieren und Mannschaften
besteht.
An Truppen hatte Frankreich beim Kriegsausbruch:
a) Linientruppen:
636 Bat. Inf. — 173 Lin.-Inf.-Reg. = 528 Bat. (davon 12 Reg.
= 44 Bat. Fest.-Inf.), 32 Jäg. u. Alpen-Jäg.-Bat. mit zusammen
10 Abt. Radfahrer, 4 Reg. Zuaven = 20 Bat., 9 Reg. Eingeborene
(Turkos) = 39 Bat., 2 Fremd.-Reg. = 12 Bat., 5 Bat. leichte afrik.
Inf. (Disziplinartruppen) —, mit je 1(Jäg.-Bat. je 2)Masch.-Gew.-Sekt.—,
336 Feld-, 79 Dep.-Esk. — 79 (12 Kur.-, 32 Drag.-, 21 Jäg.-,
14 Hus.-) Reg. zu 4 Feld-, 1 Dep.-Esk., 10 (6 afrik. Jäg.-, 4 Spahis-)
Reg. zu 5 Feld-Esk. — mit 36 (bei jeder Brig. 1) Masch.-Gew.-Sekt.,
693 Batt. Feldart. — 42 Div.-Reg. zu 9 Batt., 20 Korpsart.-
Reg. zu 12 Batt., 2 Gebirgsart.-Reg. = 15 Batt., 7 Abt. 155 mm-
Batt. zu 3 Batt., 10 reit. Abt. zu 2 Batt., 5 afrik. Abt. = 19 Batt. —,
59 Fest.-, 38 Küst.-Batt. — 11 Reg., 2 afrik. Abt. —,
6 Genie-Reg. — 20 Bat., 1 Eisenb.-Reg. = 3 Bat., 1 Telegr.-
Reg. = 3 Bat., 1 afrik. Sappeur-Bat., Fliegertruppen usw.
Train, Verwaltungstruppen, Gendarmerie.
Diese Truppen bildeten 21 in ihren Ergänzungsbezirken stehende
Armeekorps, davon das XIX. in Algier und 10 bereits im Frieden
formierte Kavalleriedivisionen. Der Gefechtsstand der Truppen ist
annähernd der gleiche wie bei uns, doch haben alle Batterien nur je
420 Die Heere unserer Gegner.
4 Geschütze. Zu bemerken ist noch, daß sich bei jedem Linien-
infanterieregiment 13 berittene Aufklärer befinden.
b) Kolonialtruppen (Eingeborene):
521/, Bat. Inf. — 16 Reg., 4 Bat., 2 Komp. —,
3 Esk. Spahis,
65 Batt. — 7 Art.-Reg. = 24 fahr., 9 Gebirgs-, 32 Fuß-Batt. —,
2 Genie-Komp.
Außerdem stand in Marokko eine Anzahl von Marschtruppen.
Der größte Teil dieser Truppen — 36 Bat. usw. — befand sich ständig
in Europa, wo es ein besonderes Kolonialkorps von 3 Divisionen bildete.
Zu diesen unter a und b genannten Truppen sollten nun noch
bei der Mobilmachung kommen
c) Reservetruppen:
596 Bat. Inf. — 173 Res.-Reg. (Nr. 201 bis 371) = 529 Bat.,
31 Res.-Jäg.-Bat., 4 Res.-Zuaven-Reg. = 12 Bat., 8 Res.-Kolonial-
Reg. = 24 Bat. —,
? Esk. Kav. — bei jedem Korpskavallerieregiment 2 Esk.
und außerdem bei jedem Drag.-, Hus.- u. Jäg.-Reg. 4 Esk., doch
wurde diese Zahl als kaum erreichbar bezeichnet —,
300 Feld-Batt. — bei jedem Korpsartillerieregiment 6 Ver-
stärkungs-Batt. u. 1 Res.-Reg. zu 9 Batt. —,
11(?) Abt. Fußart.,
? Genietruppen (beabsichtigte Stärke unbekannt),
Train, Verwaltungstruppen.
Die Truppen, für die schwache Stämme an Offizieren und bei
der Infanterie auch an Unteroffizieren bestanden, waren planmäßig
bei den betreffenden Linientruppen aus dem Überschuß an Reserve-
mannschaften aufzustellen. |
d) Territorialarmee:
508'/, Bat. Inf. — 145 Terr.-Inf.-Reg. = 435 Bat., 7 Terr.-
Jäg.-Bat., 14 Terr.-Zuaven-Bat., 40 Bat. (37 Bat., 12 Komp., 15 Sekt.)
Zollbeamte, 12'/, Bat. (50 Komp., 37 Sekt., 15 Det.) Forstbeamte —,
39 Esk. Kav.,
177—171 fahr., 6 Gebirgs- — Batt., Feldart.,
12 (davon I in Algier) Abt., 1 Bat. Fußart.,
21 Terr.-Gen.-Bat., desgl. 1 Komp. u. 1 Sekt. in Nordafika,
Train usw.
e) Reserve der Territorialarmee:
Die Anzahl der zur Aufstellung bestimmten Formation ist un-
bekannt. Ihre Bildung dürfte in Anlehnung an diejenigen der Terri-
torialarmee erfolgt sein.
Die Heere unserer Gegner. 421
f) Ersatztruppen:
Auch über die für die Feld-, Reserve- und Territorialtruppen in
Aussicht genommenen und zur Aufstellung gelangten Ersatzformationen
ist Näheres nicht bekannt geworden.
Die planmäßige Kriegsstärke der Feld- und Reservetruppen ein-
schließlich der technischen Truppen, der Trains usw. kann zu
2000000 Mann, die der Territorialarmee zu 800000 Mann an-
genommen werden. Hierzu würden dann noch die Reserve der
Territorialarmee und die Ersatztruppen kommen.
Ein normal zusammengesetztes Armeekorps zählt 30 Bataillone,
6 (4) Eskadrons, 37 (einschl. 1 schwere) Batterie usw. = 48000 Mann,
144 Feld-, 4 schwere Geschütze. Es setzt sich zusammen aus
2 Infanteriedivisionen. 1 Reserveinfanteriebrigade, 1 Kavallerie-
regiment, der Korpsartillerie und den Parks und Trains, wozu unter
Umständen noch 1 oder mehrere Jägerbataillone treten. Die In-
fanteriedivision umfaßt 2 Brigaden zu 2 Regimentern, 1 Divisions-
artillerieregiment zu 9 Batterien, 1 Pionierkompagnie und Sanitäts-
formationen; Kavallerie wird ihr nach Bedarf zugeteilt, wenn die
berittenen Aufklärer der Infanterieregimenter nicht ausreichen. Das
Korpsartillerieregiment, das durch die Verstärkungsbatterien auf
18 Batterien gebracht wird, wird in 2 Gruppen eingeteilt. Das
VI. Korps (Chälons s. M.), das XIX. (Algier) und das Kolonialkorps
haben eine etwas abweichende Zusammensetzung. Einschließlich dieser
sind 22 Armeekorps mit 46 Infanteriedivisionen vorhanden.
Zu einer normal zusammengesetzten Reservedivision gehören
3 Brigaden zu 2 Regimentern, 1 Kavallerieregiment, 1 Artillerie-
regiment zu 9 Batterien usw. einschließlich der Trains usw. zählt die
Division 24000 Mann, 36 Geschütze. Es sind 20 Reservedivisionen
vorhanden.
Die 10 Kavalleriedivisionen sind ähnlich wie die unseren zu-
sammengesetzt, doch haben sie nur je 2 reitende Batterien und die
Maschinengewehre sind auf die Brigaden verteilt. Der Verpflegsstand
einer Division beträgt etwa 4800 Mann. Daß die planmäßige Auf-
stellung von 10 Reservekavalleriebrigaden möglich gewesen ist, bleibt
höchst unwahrscheinlich.
Einschließlich aller besonderen Formationen dürften die vorstehend
aufgeführten Streitkräfte bei Beginn des Krieges rund 1700000 Mann
gezählt haben. Ob aber die vorhergesehenen Reserveformationen der
Kavallerie in vollem Umfange haben aufgestellt werden können,
bleibt bei dem herrschenden Pferdemangel, wie schon gesagt, mehr
als zweifelhaft. Außerdem soll schon vor einiger Zeit ein Teil der
Kolonialtruppen aus der Front zurückgezogen sein, wahrscheinlich
422 Die Heere unserer Gegner.
wegen ihrer geringen Brauchbarkeit und behufs Verwendung in
Marokko, die Truppen sollen aber durch Besatzungs- und Marine-
truppen ersetzt sein.
Angeblich sollen bei der Mobilmachung außer den Truppen des
Gouvernements von Paris 5 Armeen gebildet worden sein:
I. Armee (Maubeuge): I., II., III. und X. Armeekorps,
II. Armee (Verdun): IV., VL, IX. und XI. Armeekorps,
III. Armee (Toul): V., VIII. und XX. Armeekorps,
IV. Armee (Epinal): XII., XIII., XVII. und XVIII. Armeekorps,
V. Armee (Belfort): VII., XIV., XV. und XVI. Armeekorps.
Die verfügbaren Reservedivisionen dürften sich bei den Armeen
befunden haben, zu denen ihre Korps gehörten. Das XIX. und das
Kolonialkorps sind in dieser Einteilung nicht erwähnt, ebenso auch
die Kavalleriedivisionen nicht. Die Engländer und Belgier sollten auf
dem linken Flügel operieren.
Die Zahl von 1700000 Mann gilt aber nur für die zur Ver-
wendung in der ersten Linie bestimmten Streitkräfte. Der an
Linien- und Reservetruppen verbleibende Rest von etwa 130 Ba-
taillonen ist freilich in Paris, sowie in den zunächst bedrohten
Festungen und in Nordafrika unentbehrlich und bedarf sogar noch
eines starken Zuschusses aus der Territorialarmee. Da aber Frankreich
nur gegen uns Krieg führt, so kann es seine anderen festen Plätze
entblößen und mindestens die Hälfte seiner Territorialtruppen d. h.
etwa 500000 Mann zur Verstärkung der Feldarmee heranziehen.
Die Verwendbarkeit dieser Truppen kann freilich bei der Schwäche
und dem Minderwert der Stämme, bei dem schon vorgeschrittenen
Lebensalter der meist verheirateten Mannschaften und bei der
schwachen Beigabe an Kavallerie, Artillerie nsw. nur eine sehr
geringe sein. So werden sie in der Hauptsache nur in zweiter Linie
und für Nebenaufgaben verwendet werden können. Aber in einem
Kampf auf Sein oder Nichtsein, wie der jetzige ist, wird man unter
Umständen auch sie vorne einsetzen müssen. Tatsächlich haben wir
ja auch bereits 3 Territorialdivisionen Schulter an Schulter mit den
Engländern zu bekämpfen gehabt. Was sie geleistet haben, ist
freilich nicht bekannt geworden. Die zweite Hälfte der Territorial-
truppen ist, wie schon gesagt wurde, solange Frankreich selbst be-
droht ist, für Besatzungszwecke unentbehrlich. Auf die Reserve der
Territorialarmee ist für den Feldkrieg überhaupt nicht zu zählen.
Ihre Verwendbarkeit beschränkt sich auf den Besatzungsdienst in
den nicht bedrohten Festungen, auf den Bahnschutz u. dgl. mehr.
Es bleiben noch die Ersatztruppen zu erwähnen. Die Wirkung
der modernen Feuerwaffen hat auch die Bedeutung der Ersatztruppen
Die Heere unserer Gegner. 423
gesteigert. Die Verluste sind namentlich bei der Infanterie ins Un-
geheuerliche gewachsen. Bereits in der zweiten Hälfte des Monats
September soll die Zahl der Verwundeten bei der französisch-eng-
lischen Armee, von den Toten ganz abgesehen, sich auf 300000 Mann
belaufen haben. Dazu kamen mehr als 120000 Gefangene, von
denen fast 80000 Mann auf die Feldarmee entfielen. Diese Ver-
luste, die in ihrer überwältigenden Mehrheit die Infanterie betroffen
hatten, mußten baldigst ersetzt werden, denn es war Gefahr vor-
handen, daß sonst ganze Korps und Divisionen mit ihrer Artillerie,
ihren Trains usw. ausfielen. Über die Zusammensetzung und an-
fängliche Stärke der französischen Ersatztruppen verlautet nichts.
Letztere muß aber den ungeahnten Anforderungen in keiner Weise
entsprochen haben. So muß man schon jetzt, Mitte Oktober, daran
denken, die erst im September eingestellten, zum großen Teil noch
in der körperlichen Entwickelung begriffenen Rekruten der Jahres-
klasse 1914 nach nur vierwöchiger Ausbildung in die Front zu
schicken! Dabei zählt diese Klasse höchstens 250000 Mann, so daß
sie bald aufgebraucht sein wird. Wird Frankreich dann, wie es jetzt
schon heißt, auch die noch minderwertigere Jahresklasse 1915 ein-
berufen? So sind die Aussichten auf Deckung der Abgänge sehr
trübe. Sind schon die bisherigen Verluste schwerlich ganz gedeckt,
so werden es die künftigen höchstens durch fast unausgebildete Leute
werden können, die in ihrer überwiegenden Zahl naturgemäß Lazarett-
futter werden müssen. Für ganz ausgeschlossen muß es aber gelten,
daß es auch noch möglich ist, aus einem Teil der Rekruten der
Jahresklasse 1914 neue Heeresteile zu bilden, wie dies noch m Un-
kenntnis von der Höhe der zu erwartenden Verluste ursprünglich
beabsichtigt gewesen sein soll. Bei einer so scharfen Handhabung
der allgemeinen Wehrpflicht wie in Frankreich lassen sich nicht auch
noch Gambettasche Heere aus der Erde stampfen.
Fassen wir das Gesagte zusammen, so ergibt sich daraus, daß
die französische Feldarmee bei Beginn des Krieges höchstens einen
Verpflegungsstand von 1700000 Mann Linien- und Reservetruppen
und etwa 500000 Mann Territorialtruppen gehabt haben kann. Die
bisherigen Verluste dürften erst zum Teil gedeckt sein, die künftigen
nur noch durch einen minderwertigen und auch zahlenmäßig unzu-
länglichen Ersatz gedeckt werden können, die Improvisation neuer
Truppen in nennenswertem Umfange aber überhaupt ausgeschlossen sein.
Dennoch muß die militärische Machtentfaltung Frankreichs im
Verhältnis zu seiner Bevölkerungszahl als eine gewaltige bezeichnet
werden. Aber unter dem „rage du nombre“, dem die Franzosen ver-
fallen sind, haben andere wichtige Zweige des Heerwesens leiden
424 Die Heere unserer Gegner.
müssen, für die es zum Teil an Geld gefehlt hat. So entspricht
u. a. die Ausrüstung selbst bei den in erster Linie verwandten
Truppen nicht den Anforderungen der Zeit. Beispielsweise haben
die Franzosen statt eine wenig sichtbare Felduniformen einzuführen,
ihre weithin leuchtenden Uniformen beibehalten. Wenn hierbei auch
die Eitelkeit mitgesprochen haben mag, so trifft doch die Schuld die
oberste Heeresleitung und Heeresverwaltung, da sich beide sagen
mußten, daß dadurch der modernen Waffenwirkung Vorschub ge-
leistet werden würde. Auch sonst scheint die Ausrüstung sehr
lückenhaft zu sein. Bekannt ist ja, daß bei der Mobilmachung
die Reservisten sich selbst Stiefel und warmes Unterzeug mit-
bringen mußten. Ebenso soll es sehr schlecht um das Lederzeug
bestellt sein.
Noch schlimmer ist es, daß auch die Bewaffnung zum Teil nicht
auf der vollen Höhe der Zeit steht. So führt die Infanterie noch
immer das alte, einst ja sehr gute 8 mm-Lebel-Gewehr M/86/93 mit
Visiereinrichtung bis 2000 m und mit einem 8 Patronen fassenden
Röhrenmagazin im Vorderschaft, das noch Einzelladung erfordert; die
Taschenmunition, die als unzulänglich bezeichnet werden muß, be-
steht aus 88 Patronen, während weitere 162 Patronen auf den
Kompagniepatronenwagen und bei den Kolonnen mitgeführt werden.
Die Maschinengewehre nach dem System Hotchkiß oder Puteaux, die
bis zu 600 Schuß in der Minute abgeben können, sind natürlich
ganz modern; sie werden auf Protzen oder Tragetieren, zum Teil
auch schon in auseinandergenummenem Zustande auf Fahrrädern be-
fördert, mit denen eine Marschgeschwindigkeit von 10 bis 15 km
erreicht werden soll. Die Kavallerie ist durchweg mit Degen und
Karabinern M/90, ebenfalls 8 mm-Kaliber, bewaffnet; außer den
Kürassieren, die noch den mit einem grauen Überzug ver-
sehenen Küraß tragen, führen die bei den Kavalleriedivisionen
befindlichen Regimenter Lanzen. Das Hauptgeschütz der Feld-
artillerie ist das 75 mm-Geschütz M/97 mit Rohrrücklauf und
Schutzschilden, das für die reitende Artillerie etwas verkürzt ist.
Zwei Batterien jeden Korps sollten 105 mm-Geschütze erhalten, doch
ist es nicht bekannt geworden, ob dies auch wirklich geschehen ist.
Die anfangs von mancher Stelle behauptete Überlegenheit des fran-
zösischen 75 mm-Geschützes über unsere Feldkanone hat sich ia
keiner Weise bewährt. Eher ist das Gegenteil eingetreten, wie dies
die Erfahrungen des ersten Balkankrieges auch erwarten ließen und
unsere Sachverständigen nie bezweifelt haben. Eine Überlegenheit
aber besitzt die französische Artillerie zweifellos durch ihre stärkere
Munitionsausrüstung; die Batterie hat auf 4 Geschütze 12 Munitions-
Die Heere unserer Gegner. 425
wagen, von denen 6 zur Gefechtsbatterie gehören, so daß für jedes
Geschütz bei dieser 168 und in der Staffel 144 Geschosse mit-
geführt werden, davon im ganzen 228 Schrapnells und bei der Staffel
84 Granaten, während weitere 267 Geschosse sich noch in dem
unseren Kolonnen entsprechenden Munitionspark befinden. Eine so
starke Munitionsausrüstung verführt nun aber leicht zur Munitions-
vergeudung. Tatsächlich scheint denn auch schon Munitionsmangel
zu herrschen. Bereits wird berichtet, daß die Feldartillerie sehr viel
sparsamer schießt, als im Anfang, sowie daß viele Blindgänger vor-
kommen sollen. Offenbar hat man schon auf ältere Bestände, Übungs-
munition usw. zurückgreifen müssen. Die Ergänzung der Kriegs-
bestände hat mit dem gewaltigen Bedarf anscheinend nicht Schritt
halten können. Sehr schwach und minderwertig ist die schwere
Artillerie des Feldheeres, die bei jedem Korps nur aus einer Batterie
von 4 schweren 155 mm-Feldhaubitzen (Rimailhohaubitzen) besteht.
Zu lange haben die Bedenken gegen die unvermeidliche Verlängerung
der Marschkolonnen einer Vermehrung der schweren Artillerie ent-
gegenstanden. Man hat sich jetzt durch Heranziehung einer großen
Zahl von Festungs- und Küstengeschützen zu helfen gesucht. Viel-
leicht werden auch noch die im Creuzot für Japan hergestellten ganz
modernen schweren Geschütze — mit dem japanischen Instruktions-
personal — bei der französischen Armee Verwendung finden.
Einen stark vernachlässigten Zweig des französischen Heerwesens
hat von jeher das Verwaltungswesen gebildet. Daran hat sich kaum
etwas geändert. Es geht dies schon aus der lückenhaften Ausrüstung
der Truppen hervor. Und ob die Verwaltung ihrer wichtigsten Auf-
gabe, der Verpflegung der Armee, wird gerecht werden können, muB
um so zweifelhafter erscheinen, als sie bei den heutigen Massen-
heeren tatsächlich sehr schwer zu erfüllen ist. Für die Zeit des
Aufmarsches und der ersten Operationen hat ja die Verpflegung von
langer Hand vorbereitet werden können. In der dann folgenden
Periode des Stellungskrieges, in der wir uns jezt befinden, wurde die
Ernährung bisher dadurch wesentlich erleichtert, daß die in Paris
aufgehäuften großen Vorräte auf den hinter der Front nach Osten
und nach Norden laufenden Eisenbahnlinien bis in die Nähe der
Truppen geschafft werden konnten. Dennoch scheint hier schon
zeitweise Mangel eingetreten zu sein, denn mehrere Armeebefehle
mußten gegen das Plündern und Rauben von Lebensmitteln bekannt
gegeben werden. Für die Fortsetzung der Operationen, wenn jener
bisher aus der Lage der Bahnen gezogene Vorteil nicht mehr vor-
handen sein wird, ist dies nicht sehr viel versprechend. Ein schlecht
426 Die Heere unserer Gegner.
genährter Soldat schlägt sich aber auch schlechter als ein gut ge-
nährter und büßt an Marschfähigkeit ein.
Ein anderer Erbfehler der französischen Armee ist die schlechte
Organisation des Sanitätswesens, das noch fast in allen von ihr ge-
führten Kriegen versagt hat. Den ungeahnten großen Verlusten
gegenüber baben sich die sanitären Vorkehrungen schon in den ersten
Wochen des Krieges als durchaus unzulänglich erwiesen. Man weiß
nicht, wo man mit diesen Massen von Verwundeten bleiben soll.
Überall fehlt es an Personal und an Material für die Einrichtung
von Lazaretten. . Dadurch ‚verzögert sich nicht nur die Heilung der
Kranken und Verwundeten, sondern der Prozentsatz an Geheilten
wird auch geringer. Das ist nicht nur vom allgemeinen mensch-
lichen Standpunkt aus zu beklagen, sondern auch vom militärischen,
denn die Armee leidet Mangel an Ersatz.
Große Dienste hat den Franzosen jetzt schon ihr ausgedehntes
Festungssystem gewährt, für dessen Anlage sie namentlich in den
ersten Jahren nach dem Kriege 1870/71 gewaltige Summen aus-
gegeben haben. Die Erfahrungen von Lüttich, Namur, Maubeuge
und Antwerpen sind allerdings nicht dazu angetan, für den Wert der
Festungen zu sprechen. Selbst die stärksten Festungen haben sich
ja den Fortschritten des Geschützwesens gegenüber als wehrlos er-
wiesen. Man darf aber doch nicht übersehen, daß die Franzosen es
gerade ihren Festungen zu danken haben, daß nicht schon unsere
ersten Siege die möglichen Folgen gehabt haben. Die genannten
Festungen und die kleineren Plätze an der französisch-belgischen
Grenze haben uns freilich nicht aufhalten können, Lille und die
Festungen zweiter Linie, darunter selbst der große Platz Reims, sind
sogar von den Franzosen freiwillig geräumt worden. Dafür haben
ihnen aber die Befestigungen an ihrer Ostgrenze, die großen und
modernen Lagerfestungen Belfort, Epinal, Toul und Verdun mit den
dazwischen liegenden Sperrforts unschätzbare Dienste geleistet, indem
sie das Operationsgebiet in zwei Teile trennte, die Umfassung des
rechten Flügels verwehrten und die Verfolgung und Vernichtung der
an der lothringischen Grenze geschlagenen Armee verhinderten. Außer
dem vorgeschobenen Fort Manonvillers haben wir bisher nur das
Sperrfort Camp des Romains bei St. Mihiel nehmen können, und die
dadurch geschaffene Lücke ist nicht breit genug, um mit stärkeren
Massen durch dieselbe vorgehen und die rechte Flanke der fran-
zösischen Hauptarmee umfassen zu können. Zweifellos werden ja
auch die genannten Befestigungen auf die Dauer nicht unseren
schweren Geschützen widerstehen können, aber doch ist heute schon
der Beweis erbracht, welchen Nutzen eine solche zusammenhängende
Die Heere unserer Gegner. 427
Kette von Befestigungen haben kann, zumal in Verbindung mit
einem Teil der Feldarme. Von ebenso großem Nutzen für die
Franzosen hat sich auf ihrem linken Flügel das Vorhandensein der
gewaltigen Lagerfestung Paris erwiesen. Als Zentrum des fran-
zösischen Bahnnetzes ist sie zum großartigsten Manövrierpunkt ge-
worden, der eine beliebige Verschiebung der französischen Heeres-
massen auf den hinter der Front entlang laufenden Eisenbahnen
gestattete. Hierdurch ist die deutsche Offensive länger aufgehalten
worden, als sie es vielleicht durch die Bezwingung von Paris werden
wird. Der Fall von Antwerpen hat ja gezeigt, daß es bei der
Überlegenheit unseres Geschützmaterials nicht nötig ist, eine so ge-
waltige Festung einzuschließen und förmlich zu belagern, daß viel-
mehr schon ein rasch vorschreitender gewaltsamer Angriff zum Ziel
führt, selbst wenn der Verteidiger das Äußerste abwarten will. Bei
den Fortschritten der heutigen Artillerie kann Paris wohl zum
Manövrierpunkt des Feldheers dienen, aber nicht wie 1870/71 noch
einmal nach dessen Besiegung zum Kristallisationspunkt des ganzen
Krieges werden.
Es erübrigt noch, über die Ausbildung und den Geist der fran-
zösischen Armee zu sprechen. Ihre Ausbildung ist eine durchaus
kriegsmäßige. Dabei ist der Mann von seinem Offizier in dem ab-
soluten Gefühl seiner Unbesiegbarkeit erzogen. Eine gewisse Schwierig-
keit besteht für die Infanterie darin, daß das Reglement von 1904
erst im Frühjahr 1914 durch ein neues ersetzt worden ist, das sich
kaum schon ganz eingebürgert haben dürfte, so daß die Ausbildung
nicht den allerneusten Anforderungen entspricht. Zu betonen ist, daß
der Angriff bei der Ausbildung der französischen Infanterie wieder zu
seinem vollen Recht gekommen ist. Ganz besonders aber muB der
umfangreiche und geradezu meisterhafte Gebrauch hervorgehoben
werden, den die französische Infanterie von dem Spaten zu machen
versteht. Die Kavallerie, die noch immer keine Einheitskavallerie ist,
reitet nach deutschen Begriffen schlecht und ist im Sicherungs- und
Aufklärungsdienst nicht genug ausgebildet. Daher sie es bei ersterem
an Sorgfalt und bei letzterem an Unternehmungsgeist fehlen läßt. Außer-
ordentlich gerühmt wird dagegen die Ausbildung der Feldartillerie, die
allen Anforderungen der Neuzeit durchaus entspricht; nur die schon
erwähnte Munitionsvergeudung verdient getadelt zu werden. Sehr
schlecht ist es um die Ausbildung der schweren Artillerie bestellt. Bei
dem Ausbruch des Krieges besaß ja Frankreich an schwerer Artillerie
nur die wenigen Rimailho-Batterien, so daß diese Waffe erst gleichsam
improvisiert werden mußte. Für ihren feldmäßigen Gebrauch war sie
natürlich in keiner Weise vorbereitet, und dies wird sich sehr fühlbar
428 Die Heere unserer Gegner.
machen, wenn der gegenwärtige Stellungskrieg sich in einen Be-
wegungskrieg verwandelt, der heutzutage eine bewegliche schwere
Artillerie unentbehrlich macht. Die technischen Truppen sind in der
französischen Armee verhältnismäßig schwach entwickelt. Besonderer
Erwähnung verdient das Fliegerwesen, auf das im Gegensatz zu dem
Luftschifferwesen von Anfang an ein großer Wert gelegt wurde. So
sind denn auch große Fliegerleistungen erzielt worden, trotzdem haben
sich aber die deutschen Flieger den französischen an Zahl und im
allgemeinen auch an Güte überlegen gezeigt.
Der Geist der französischen Armee hat sich im großen ganzen
bisher trefflich bewährt. Der Franzose hat viele sehr gute militärische
Eigenschaften und einen glühenden Patriotismus. Sieht er, daß es vor-
wärts geht, dann ist er ein guter und auch gehosamer Soldat. Aber
ihm fehlt die Ausdauer. Bleibt der erhoffte Erfolg aus oder schlägt
gar in das Gegenteil um, dann verfällt er leicht der Indisziplin und
Panik, diesen beiden Erbfeinden französischer Soldatenehre. Diese
alte Erfahrung hat sich auch in der ersten Phase des jetzigen Krieges
wieder bestätigt. Nur dank den der Verfolgung ein Ziel setzenden
lothringischen Festungen und der von frischen Kräften genommenen
Aufnahmestellung an der Marne hat die Armee ihren inneren Halt
wiedergefunden. Die trotz aller Verluste erfolglosen Angriffe auf
unsere Stellung an der Aisne und das Fehlschlagen der versuchten Um-
fassung haben aber diesen Halt anscheinend wieder schwer erschüttert.
Bereits klagen die Engländer, daß die Stoßkraft der französischen
Armee bedenklich erlahmt, und unsere Truppen dürften das auch wohl
merken. Gehen aber die jetzigen Kämpfe für die Franzosen verloren,
dann droht der Rückzug für sie sehr bedenklich zu werden. Und
die Gefahr eines Zusammenbruches ist dann um so größer, als die
französische Armee infoge der strengen Durchführung der allgemeinen
Wehrpflicht in ihren Reihen viele schwächliche und körperlich
minderwertige Leute zählt. Solche Elemente sind aber den Strapazen
eines Bewegungskrieges nicht gewachsen. Haben sie nicht schon
vorher die Lazarette überfüllt, dann brechen sie jetzt zusammen,
bleiben liegen und gehen dauernd verloren. Und ihr Beispiel wirkt
ansteckend auf eine durch Indisziplin und Panik zersetzte Masse. Das
ist die große Gefahr des „rage du nombre“. Ihr gegenüber war selbst
ein Napoleon machtlos; der Zusammenbruch der großen Armee von
1813 war in der Hauptsache in der Überschätzung der Zahl be-
gründet, durch die er die ihr fehlende Güte ausgleichen zu können
geglaubt hatte. Wohl verleiht die Aufregung des Kampfes auch dem
schwächlichen Soldaten für Stunden und selbst Tage wunderbare Kräfte,
aber sie erlöschen selbst bei den kräftigsten Leuten unter den dauernden
Zum derzeitigen Festungs- und Stellungskrieg. 429
Anstrengungen und Entbehrungen des Bewegungskrieges. Die Schwäche
der menschlichen Natur läßt sich auch von dem größten Genie nicht
meistern.
Vorläufig ist es nun freilich noch nicht so weit. Noch ist die
uns augenblicklich gegenüberstehende französische Armee bei ihrer
zahlenmäßigen Stärke, dank deren bisher immer wieder frische
Kräfte in den Kampf geführt werden konnten, ein hochachtbarer
Gegner. Und auch ihre bisherige Führung verdient vollste Anerkennung.
Aber mal muß doch der Augenblick eintreten, wo die frischen Kräfte
zu Ende gehen, je eher, je schwerer die Verluste ersetzt werden
können. Und wenn dann der Zusammenbruch eintreten wird, dann
wird er von unserer Seite zu einem vollständigen gemacht werden
können, denn Frankreich wird über keine Kräfte mehr verfügen, um
dies zu verhindern. Hoffen wir, daß der Augenblick nicht zu fern ist.
(Schluß folgt.)
XXIX.
Zum derzeitigen Festungs- und Stellungskrieg.
(Abgeschlossen am 15. Oktober 1914.)
Von
Woelki, Oberst z. D.
I.
Der große vaterländische Krieg währt nun schon im dritten
Monat, und soviel Erfolge und hervorragende Begebnisse er bereits
gezeitigt hat, über die eingesetzten Kräfte und maßgebenden Faktoren,
wie über Pläne, Gründe und Ursachen, ist noch kaum etwas Sicheres
verlautet. Da muß es denn auch erst einer späteren Zeit überlassen
bleiben, die treibenden Kräfte und erzielten Wirkungen zu mustern
wie Folgerungen daraus zu ziehen; hier aber können vorläufig nur
die bekanntgewordenen Vorgänge mit ihren offensichtlichen Bestand-
teilen und Ergebnissen vom Standpunkt und in Vertretung der
Kriegsbefestigung aufgegriffen und, soweit eben angängig, mit den
auf diesem Gebiet bisher geltenden Ansichten und vorherrschenden
Strömungen verglichen werden.
Gleich zu Beginn des Krieges erfolgte die überraschende Ein-
nahme Lüttich. Dabei war zuerst ein normal-sturmfreies Fort aus
Jahrbücher für die deutsche Armee und Marine. Nr. 518. 31
430 Zum derzeitigen Festungs- und Stellungskrieg.
dem Anmarsch im Sturm genommen, die Stadt, die keine Umwallung
besaß, im Straßenkampf erobert, und dann die übrigen Forts mit den
ebenso überraschend wie übermächtig auftretenden 42 cm-Geschützen
zerstört. Die ganze Aktion hat wenige Tage gedauert'!). Nicht ganz
s0 schnell-gewaltig in Form eines infant. bzw. artill. Überfalles verlief
die demnächstige Bezwingung von Namur, zumal die Verteidiger schon
mehr Zeit und Gelegenheit hatten, den Anmarsch durch Zerstörungen
zu erschweren und erhebliche Kräfte heranzuziehen, die erst zurück-
zudrängen waren. Und noch mehr entsprach dem bezügl. bisher
üblichen Verfahren — bei größter Beschleunigung — die Eroberung
von Maubeuge, die von den genannten Festungen auch an sich als die
stärkste angesehen werden konnte. Allen diesen Festungen fehlte
eine eigentliche oder doch vollständige innere Umwallung; bei allen
waren auch die Intervalle (zwischen den Forts) nicht oder doch
nicht genügend ausgebaut, und zwar gerade bei Lüttich am wenigsten
(soviel wie gar nicht) und bei Maubeuge am meisten, insbesondere
durch Zwischenwerke verstärkt.
Wenn nun schon diese beiden Umstände die so schnelle Er-
oberung (durch ein mehr oder weniger abgekürztes Verfahren unter
Anwendung von neuen, übermächtigen Mitteln) doch im wesentlichen
erklären könnten, so darf doch nicht die so außerordentliche Schwung-
kraft und Wucht vergessen werden, mit der der Angriff eben erfolgte.
Namentlich die Erstürmung eines normalen Forts, auch unter Um-
ständen, wie sie vorgelegen, ist und bleibt eine seltene Heldentat, auf
die gemeinhin, nach wie vor, nicht zu rechnen ist.
Bezüglich der beiden vorerwähnten Mängel mag daran erinnert
werden, daß das Fehlen einer inneren Umwallung — entgegen einer
überhandgenommenen Strömung — von fachmännischen Autoritäten,
d. h. solchen Sachverständigen, die in dem betreffenden Gebiet wirklich
zu Hause waren, niemals gebilligt, sondern daß man solche Umwallung
stets und gerade unter Hinweis auf solche und andere, den vorliegenden
verwandte Fälle als nach wie vor unentbehrlich, des weiteren aber
auch als Reservestellung noch unter Umständen für schr wertvoll er-
achtet hat. So auch vom Verfasser in den Jahrbüchern, in denen er
auch kürzlich (Juniheft) aus dem Kampfe um Port Arthur
die immer stärker hervortretende Bedeutung der Intervalle
(Zwischenräume zwischen den Forts) herleitete, indem gerade
in ihnen, wie in dem Kampf um sie, die eigentliche Stärke bzw.
1) Nach dem Bericht des Generals Leman war die Stadt selbst am
7. August erobert, vom 11.—14. erfolgte die Beschießung des Hauptforts
Loucin, in dem sich L. befand, mit 10, 15 und 21 Kalibern, am 14. und
15. dazu mit dem 42 cm-Mörser, am 15. nachm. 5° war das Fort zerstört.
Zum derzeitigen Festungs- und Stellungskrieg. -431
Entscheidung läge; wogegen die Forts unaufhaltsam zur bloßen
Sicherung der betreffenden Punkte, wenn nicht zu Zielen herab-
sänken und keine Aussicht hätten, dem auf sich gelenkten
und ohne weiteres überlegenen Feuer auf die Dauer zu wider-
stehen, geschweige solches zu überwältigen.
Das hat sich denn auch hier bewahrheitet und bedarf wohl keiner
weiteren Begründung. Es wäre denn auf den allgemeinen Charakter
der heutigen Kriege hinzuweisen: mit der schier unbeschränkten
Massenhaftigkeit und Weitläufigkeit, Mannigfaltigkeit — bis
zur Formlosigkeit, Vermehrung der Mittel — bis zu denen des Luft-
krieges Steigerung der Mittel zur größten Intensität, selbst zur über-
mächtigen Wirkung — letztere zumal auf engbegrenzte Punkte —,
die, wie Massierungen überhaupt, als Überbleibsel aus einer anderen
Periode keinesfalls mehr die Rol!e spielen können, die ihnen vormals
zugefallen war. Die Massen sind es, die Menge und Fülle von
Kräften, Mitteln, die vorläufig und immer noch wachsend (ganz ab-
gesehen von überraschend auftauchenden und übermächtigen Mitteln)
allenthalben vorherrschen; setzen doch wahrlich nicht aus Zufall In-
fanteriegeschosse und Schrapnells bei weitem am meisten Kämpfer
außer Gefecht u. dgl.
Solchen, so vorherrschenden Umständen kann und darf sich auch
die Kriegsbefestigung nicht entziehen, wird vielmehr erst dann ihrer
Aufgabe voll gerecht werden, wenn sie ihnen gebührend Rechnung
trägt (keineswegs aber — wie früher wohl — auf Ansammlung und
Konzentrierung Anhäufung und Herausforderung hinausläuft) und zu-
gehörige Schlagworte und Grundsätze, wie: „Wenig, aber vom Besten“,
„nur wenige, unvermeidliche Festungen, aber stark ausbauen“, „nur
eine Linie, aber mit allen Mitteln“ u. dgl. m., als hierbei nicht zu-
treffend zurückweist.
Besonders deutlich trat die Erscheinung der Massenbetätigung
in der zweiten Periode dieses Krieges hervor. Diese begann be-
kanntlich auf unserm linken Flügel (in Frankreich) bereits am
22. August, als der diesseitig siegreiche Vorstoß vor der Stellung von
Nancy zum Stehen kam, —. entwickelte sich dann stoßweise vor
Verdun, um dann Mitte September, nach Zurücknahme des vor-
gestürmten rechten Flügels, dort anschließend, in westlicher Richtung
bis zur Oise und weiter — als Stellungs- (Positions-) Krieg sich
hinzuziehen, — in einer Front von Belfort, über Epinal, Verdun,
Reims bis auf Amiens hin, wo noch die unvermeidlichen Umgehungs-
versuche anschlossen. Was diesen leidigen Zustand herbeigeführt
hatte, war, — welche tatsächlichen Gründe auch immer vorgewaltet,
— doch augenscheinlich ein eingetretener Ausgleich der Kräfte im
31*
432 Zum derzeitigen Festungs- und Stellungskrieg.
ganzen, hauptsächlich durch Aufbietung der äußersten Kräfte des
Verteidigerss und Ausnutzung aller geeigneten Mittel und Ein-
richtungen, wie derjenigen des Verkehrs und — besonders — der
vorbereiteten Landesverteidigung, d. h. der Festungen; dazu mit
einer Energie, ja Fanatismus, daß selbst nicht vor eigener Ver-
wüstung des Landes zurückgeschreckt wurde, nur, um dem Angreifer
eine Schwierigkeit mehr zu schaffen.
Die Rolle der Festungen war dabei bestimmend; zumal nach
Osten zu. Diese Festungen sollen zwar nicht mehr ganz auf der
Höhe der Zeit stehen, sind jedenfalls nicht gegen die neuesten über-
mächtigen Angriffsmittel gesichert. Aber, nicht nur, daß unser An-
griffsplan es vorzog, sie zunächst zu umgehen, — sie erfüllen doch
tatsächlich noch im vollen Maße ihre ihnen zugefallene Aufgabe.
Freilich unter besonderen Umständen (auf die noch einzugehen bleibt):
— gleichwohl kann es wohl nicht bestritten werden, daß die fran-
zösische Landesbefestigung sich im ganzen durchaus be-
währt. Daran wird kaum geändert, daß es an einzelnen Stellen,
wie vor Nancy, mehr die natürliche Stärke der Stellung ist, die zur
Geltung gelangt, wie auch, daß die Truppenmassen des Verteidigers
nicht so des Zuschusses an Kraft durch Befestigungen bedürfen, —
(als die ursprünglich wohl geringer angesetzten); die Unterstützung
der Landesverteidigung gerade im kritischen Moment bleibt immer
noch entscheidend und maßgebend. Wirksam freilich nur als Mittel
bei geschickter Anwendung! Und daß die Franzosen ein großes
Talent gerade für die Verteidigung, deren Mittel und Gebrauch von
jeher gehabt und behalten haben, steht ja fest. Der jetzige Krieg,
lange mit allem Fleiß vorbereitet, gibt ihnen denn auch die beste
Gelegenheit, ihre stärksten Eigenschaften im hellsten Lichte glänzen
zu lassen. (Sie darum als Vorbilder und Lehrmeister anzunehmen,
ist freilich damit noch nicht gegeben! Das wäre doch nur solchen
Völkern ratsam, die von gleichem Geist und Sinn erfüllt, auch die-
selbe Gelegenheit hätten!)
Daß im übrigen die Festungen als Depots, Sammelpunkte,
Rückhalte, Basis und Zuflucht für Verteidigungskräfte recht nützlich
sein können und, je größer sie sind, um so mehr Schutz gewähren,
ist wohl nie bestritten worden. Wie sich denn auch in diesem
Kriege die Festungen Belfort, Epinal, Toul—Verdun — ferner
Antwerpen — in dieser Beziehung schon vollauf bewährt haben.
Das den Festungen zugehörige Gebiet wird freilich nachgerade kaum
als größer in Anspruch genommen werden können, als ihre Schlag-
und Schußweite reicht, — (an den Besitz eines Ortes denjenigen
weiter Landstrecken zu knüpfen, wird nur in seltenen Fällen ge-
Zum derzeitigen Festungs- und Stellungskrieg. 433
lingen) —; aber immer bleiben sie noch die „festen Plätze“, die
erst mit besonderen Operationen zu nehmen bleiben, ehe das Land,
der Verteidiger niedergerungen werden kann. (Daß der Kommandant
einer kleinen Festung [Montmedy] es vorgezogen hat, bei der ersten
Gelegenheit mit seiner Besatzung, soweit sie marschfähig war, sein
Schicksal im freien Felde heraufzubeschwören, anstatt solches mit
dem der Festung zu verbinden, ist doch nur ein Einzelfall, der zudem
noch nicht genügend aufgeklärt ist.)
Zu den Fällen, daß Festungen in früheren Kriegen (Feldzügen)
zu Angel- und Entscheidungspunkten für die Gesamtoperation
wurden, ist in diesem Kriege die neue Erscheinung getreten, die in
der Verbindung von Festungsgruppen mit Truppenmassen
und Volksaufgeboten größeren Umfangs gegeben ist. Durch diese,
die sich im gleichen Sinne wie „Befestigung und äußere Reserve“
betätigt, gewinnen unzweifelhaft beide Teile an Kampfkraft, indem
die Festung fast unangreifbar wird, solange die Durchführung des
Angriffs durch die äußere Reserve, wie durch eine Entsatzarmee,
gestört werden kann; wogegen die Festung, eben nach Größe und
Widerstandskraft, der sich an sie anlehnenden Truppe bzw. Armee
Stütze, Schutz und Versorgung bieten kann. In welchem Umfange
dies bei den schon genannten Festungen (zumal Belfort und Verdun)
und, mehr noch, in dem größeren, durch die Sperrfortslinie ver-
bundenen Kampffelde Verdun—Toul, zur Geltung gebracht ist, darauf
möchte erst nach Abschluß der Kämpfe weiter eingegangen werden;
einstweilen aber wird es genügen, den rechten Augenpunkt für diese
hochbedeutsame Erscheinung zu gewinnen, und auch später fest-
zuhalten, wenn die eingehenderen, aber doch zumeist einseitig be-
leuchteten, wenn nicht schon gefärbten, Berichte ablenken und ver-
wirren könnten.
Neben den Festungen der Ostfront fesseln besonders Ant-
werpen und Paris das allgemeine Interesse. Beide Festungen sind
als Zentralreduits für die Verteidigung im größten Maßstabe und
äußerste Kraftentfaltung der betreffenden Staaten bestimmt. Zudem
ist Antwerpen durch seine Lage zur See, Paris aber durch die Aus-
dehnung seiner Befestigung, einer völligen Einschließung entzogen.
Nun ist ja freilich trotzdem Antwerpen einem ungeahnt schweren,
ebenso machtvollen wie heldenmütigen Angriff zum Opfer gefallen!
Sicher schneller, als seine Erbauer ahnten! Zumal im Vergleich mit
der ruhmvollen Verteidigung vor 83 Jahren! Wie zum Ausdruck
des Wandels der Zeiten und Umstände! Die Akten über diese Be-
lagerung sind noch nicht geschlossen, und wird noch weiteres darüber
zu sagen sein. Vorläufig aber nur eins noch: Es ist ja wohl richtig,
434 Zum derzeitigen Festungs- und Stellungskrieg.
daß die Festung Antwerpen ihre Bestimmung, den tatsächlichen Besitz
dieses (wichtigsten) Hauptortes bis zum wirksamen Eingreifen der
fraglichen Schutzmächte zu wahren, — nicht erfüllt hat. Aber es
leuchtet doch ebenso ein, daß diese Aufgabe nur eine bedingte sein
konnte und im vorliegenden Falle besonders durch die voreilige
Parteinahme bzw. Aufgabe der Neutralität, verschärft und ge-
fährdet war!
Paris ist vorläufig nur mittelbar, aus der Ferne zur Geltung
gelangt. Gleichwohl hat es sicherlich schon den Krieg in Plan und
Ausführung mächtig beeinflußt. Und dies nicht nur einseitig. Ist
es doch, so wie es ist, für alle Fälle ein Hauptfaktor und für
Frankreich der entscheidende Im besonderen bietet es für eine
Verteidigung im großen Stile, nach Lage, Hilfs- und Verkehrsmitteln
die denkbar günstigsten Vorbedingungen. Gelingt &, die ent-
sprechenden Truppenmassen zur Verfügung zu stellen und diese in
einem kriegstüchtigen Zustande zu halten, dann bietet ihre Be-
zwingung eine Aufgabe, wie sie noch nicht gelöst ist, und die im
besonderen eine Heeresmacht erfordert, die heranzuführen, zu unter-
halten und mit Erfolg einzusetzen besondere Schwierigkeiten bietet.
1870 war die Kriegslage nicht nur durch die geringeren Raum- und
Größenverhältnisse, sondern vor allem dadurch für den Angreifer eine
günstigere, daß die allein kriegstüchtige Armee des Verteidigers, bis
auf einen kleinen Teil (Korps Vinoy), schon vorher außer Gefecht
gesetzt war. Die zeitigen Umstände machen es denn auch wohl er-
klärlich, daß die deutsche Heeresleitung, sobald sie zutage traten,
ihrerseits für sich günstigere Kampfverhältnisse aufsuchte. Erst wenn
die Feldarmee Frankreichs gründlich und nachhaltig geschlagen ist,
ihre Kriegstüchtigkeit zum großen Teil verloren hat, kann auch die
nötige Übermacht erreicht werden, um diese zeitig mächtigste Be-
festigung zu überwinden.
Daß die hier vorstehend hervorgeschobene Verbindung von Armee
und Befestigung auch ihre Kehrseite und Gefahren hat, liegt auf der
Hand; es wird dieser Umstand auch nicht aus der Welt geschafft,
daß man die Mißerfolge regelmäßig auf grobe Fehler oder völlige
Verkennung der beiderseitig verschiedenen Grundlagen zurückzuführen
vermag. Man denke an die Rheinarmee und Metz 1870 als Gegen-
stück zu Sewastopol 1854/55! — mit dem unwiderleglichen Zeugnis
dafür, daß die Bewegungs- (Aktions-) Freiheit der Truppe nun
einmal ihre Hauptstärke ist. So wie sie solche verliert oder auf-
gibt, wird sie auch für die Festung nur zum Ballast und Verderb.
Diese Beweglichkeit der Truppe (activité et celerit6) ist es eben, die
die Festung mehr als deren Größe (Umfang) schützt, namentlich
Zum derzeitigen Festungs- und Stellungskrieg. 435
gegen Ein- und Abschließung, — solange sie sich eben unabhängig
fühlt und ihre Basis noch verlegen kann. Andernfalls wird ein
rühriges Freikorps mehr leisten, als eine schwerfällige, minderwertige
Truppenmasse im Banne der Festung mit nur beschränkter und be-
dingter Aktion. Die Festung bildet dagegen, bei der Verbindung
mit einer Armee, stets die piece de resistance, der Hort des Wider-
standes und der Sicherheit gegen alle möglichen Angriffe. Wenigstens
der Theorie nach. In der Wirklichkeit aber beeinträchtigt bekannt-
lich der Grundsatz: „Je billiger, desto besser“, zumeist auch den
Erfolg. „Billig“ ist dabei hauptsächlich auch in bezug auf Er-
sparung von Kräften gemeint, also auch von solchen geistig-
moralischer Art. Weil nun aber daraus sich nur eine durchaus be-
dingte und relative Größe ergeben kann, so liegt darin auch eine
Quelle von Mißerfolgen. Und es erscheint schon als ein Glücksfall,
wenn einmal die so vermehrten Voraussetzungen und erschwerten
Bedingungen für den Erfolg auch zutreffen; wie es gewiß einer recht
großen Vor- und Umsicht bedarf, den angestrebteu Wert der be-
treffenden Festung auch zu erreichen; — der aber sofort wieder in
Frage gestellt wird, sobald eine unvorhergesehene Minderung der
Kriegstüchtigkeit der betreffenden Kräfte irgendwie eintritt.
Denn vor der Sicherung und dem passiven Schutz, den Anlagen und
Verstärkungen an sich gewähren sollen und können, steht doch un-
bedingt die Kriegstüchtigkeit der Kräfte, stehen die Vorteile, die
diese für den Kampf bietet. Ist doch die activité erst das Element,
daß auch in der Verteidigung — und gerade in ihr! — die meiste
Aussicht auf Erfolg hat und bringt.
Die Stärke jeder Befestigung ist aber nicht nur zumeist eine
bedingte und relative, sie macht sich vielmehr noch als bloße An-
sichtssache geltend. Auch hierfür bietet Sewastopol ein be-
zeichnendes Beispiel. Zum Angriff hierauf waren die Verbündeten
zuerst um die permanent ausgebaute Nordseite herum nach der Süd-
seite gezogen, sahen dann aber auch diese für zu stark an, um sie
im gewaltsamen Angriff nehmen zu können! obwohl sie nur ganz
flüchtig befestigt war, — um erst während der Belagerung unter der
genialen Leitnng von Todleben immer mehr zu erstarken. Und im
gegenwärtigen Kriege erleben wir es, — als’ Gegenstück zur Er-
oberung des als uneinnehmbar geltenden Antwerpens, — daß eine
ausgesprochene Festung — Reims — vom Verteidiger, noch unter
dem Eindruck der ersten Niederlagen, ohne Schwertschlag aufgegeben,
vom Angreifer ohne besondere Würdigung besetzt und — wieder
aufgegeben wird, — um gleich darauf hartnäckig-anhaltend ver-
teidigt zu werden! (So erscheint wenigstens vorläufig der Hergang.)
436 Zum derzeitigen Festungs- und Stellungskrieg.
Ist inzwischen die Stärke der Festung entsprechend gewachsen ?
Dann aber kann diese Verstärkung doch nur in der Art der Aus-
nutzung — wenn nicht in der Wandlung der geistig-moralischen
Potenzen beruhen. So kann schließlich eine Schranke (die tatsächlich
kaum mehr Bedeutung hat wie ein Kreidestrich) zum Kampfpreis
werden, vor dem sich ev. Hindernisse türmen und Schwierigkeiten
häufen, bis stärkere moralische Kräfte sie hinwegfegen.
Es hieße denn auch, Zweck und Aufgabe von Festungen, wie
Befestigungen überhaupt, verkennen, wollte man ilınen durchaus ein
solches Maß von passiver Stärke zuteilen, daß sie sich selbst über-
lassen und damit dem Angreifer zum Zielobjekt seiner Zerstörungs-
mittel preisgegeben werden könnten. Wo es vielmehr heutzutage an
Verteidigungskräften fehlt, da lohnt es eben gar nicht, eine
solche passive Stärke anzustreben, die nicht im Verhältnis zu dem
allgemeinen Wert stände, eben heutzutage, wo es an Kräften im all-
gemeinen nicht fehlt, es vielmehr nur darauf ankommt, diese bis zur
höchsten Leistung anzusetzen und auszunutzen.
Wenn es denn dabei nicht mehr zeitgemäß ist, besondere An-
häufungen von Mitteln und Kräften vorzubereiten, weil eben die Ver-
hältnisse allgemein in die Weite und Breite gehen, so werden deren
Gegengewichte nicht sowohl in Äußerlichkeiten, als vielmehr, wenn
nicht ausschließlich, in dem inneren Gehalt, nach Herkunft und
Auswahl, nach Anlage und Schulung, zu suchen sein.
Wenn und wo es aber dennoch nicht von vornherein gelingt,
gegen übermächtigen Angriff (mit bezügl. Mitteln) den völligen Schutz
zu erreichen, noch eine dauernde Sicherung zu gewährleisten, da sorge
man für und halte sich an Reserven; die ja schon sowieso durch
die eingetretene Weitläufigkeit und mangelnde Konsistenz der Kampf-
ordnung nötiger wie vordem geworden, und um so leichter durch den
überreichen Vorrat an Kräften und Material zu haben sind. Es kann
sich nur noch darum handeln, die dazu gehörigen Folgerungen und
Maßnahmen auch durchzuführen. So genügt es zumeist noch nicht,
die Reserven einfach bereitzustellen, wo es sich schon nach Richtung
und Art vorhersehen läßt, wie die Reserve am wahrscheinlichsten
und (besten) wirksamsten eingesetzt werden kann: sicher doch allemal
da, wo die größte Gefahr droht bzw. der größte Erfolg winkt. Solche
Fälle dann vorzubereiten, und für sich günstig zu stellen, soweit als
Zeit und Mittel vorhanden, gehört darum zu den Kriegsvorbereitungen,
die als geboten erscheinen. Und so sind Reservestellungen ebenso
ins Auge zu fassen, wie man zur sicheren Entwickelung der Haupt-
stellung Vortruppen und Vorstellungen verwendet. Die Erfahrungen
des bisherigen Kriegsverlaufs dürften übrigens schon genügen, den
Zum derzeitigen Festungs- und Stellungskrieg. 437
Vorkämpfern für die grundsätzliche eine Linie den Boden stark zu
schmälern (abzugraben). Es bedurfte auch für jeden Unvoreingenom-
menen nicht erst des Falles von Lüttich, Namur usw., um die Lehre:
„In der Fortslinie sind alle Kräfte bis zur Erschöpfung einzusetzen,
da eine Fortsetzung des Kampfes rückwärts vorzubereiten nicht lohnt
und seine Vorbereitung von der Hauptstellung ablenkt“, als bedingt
und beschränkt zu erkennen.
Durch solche wechselnden Auffassungen und Rücksichten wird
aber — eigentlich — die alte Norm der Widerstandsfähigkeit von
Festungen nicht berührt; es muß vielmehr ihr zufolge nach wie vor
verlangt werden,
die Festungen gegen Zerstörung aus der Ferne, wie gegen An-
griffe (Stürme) ohne umständliche und zeitraubende Vorberei-
tungen, zeitgemäß zu sichern,
ohne jedoch weiter sich durch einzelne, noch so epochemachende Er-
findungen der Technick beirren, vielmehr ((sich) nur noch angelegen
sein zu lassen, für entsprechend zu treffende Gegenmaßregeln genügend
freies Feld — nach jeder Richtung — bereit zu haben. Man muß
eben durchaus dem Umstand Rechnung tragen, daß auch in der Ver-
teidigung das Überraschen und Zuvorkommen das wirkungsvollste
Leitmotiv und die geistig-moralische Potenz auch hier, — wenn
nicht mehr noch wie sonst, die stärkste ist, zu deren Mehrung
und Ersatz passive Hilfsmittel heranzuziehen, immer nur eine Aus-
hilfe bleibt, deren Wert durch die mannigfachsten Umstände bedingt ist.
Der gegenwärtig im Westen andauernde Stellungs- (Positions-)
Krieg beansprucht schließlich auch noch ein besonderes Interesse:
als eine Erscheinung, die die neueren Kriege regelmäßig aufweisen,
also wohl in den derzeitigen Verhältnissen begründet sein muß; in
erster Linie sicherlich in den Volksaufgeboten und deren psychologischen
Verfassungen und Prozessen (Reaktion auf die übergroße An-
spannung der aufreibenden Kämpfe zu Beginn des Krieges usw.), zu
einem großen Teil aber auch in der großen Stärke der Verteidigung
mit den zeitig wirksamen Fernfeuerwaffen, wogegen der An-
griff — mit dem Fortgang des Krieges wachsend einen sehr er-
heblichen Überschu8 an Kampfkraft erfordert, — wie er in diesem
Stadium nicht sicher, noch immer, zur Hand ist, und den noch zu
gewinnen und abzuwarten die Armeen fesselt, — trotz der Gefahren,
die diese Lage mit sich bringt und trotz der schönen Schlagworte
von den Vorzügen des Angriffs — bis zu seiner vermeintlich — einzigen
Berechtigung! Vor der Gewalt der Tatsachen verblassen aber alle
Theorien und guten Vorsätze, und statt des frischen, fröhlichen Drauf-
gehens wird unter den übermächtigen Umständen Aus- und Durch-
438 Zum derzeitigen Festungs- und Stellungskrieg.
halten bis zum endlichen Durchsetzen der Idee das beiderseitige
Ziel, mit wachsendem Einsatz und Risiko! Und die Zähig-
keit wird der Haupbestandteil der zum Erfolge führenden Tat-
kraft. Den äußerst nachteiligen, entnervenden Wirkungen des Still-
liegens gegenüber wächst dann die Wichtigkeit der Bewegung in jeder
Art, der activite, bis zur rastlosen Tätigkeit. Und so entstehen
dann wohl Befestigungen wie Verbesserungen der Unterkunft
fast von selbst, und es handelt sich für die Leitung besonders noch
darum, sie nicht aus dem allgemeinen Rahmen wie dem Gefechts-
zwecke, herausfallen zu lassen, vielmehr sie dem Endziel ausschließlich
dienstbar zu machen. Da nun dieses doch nur das schließliche
Hervorbrechen sein kann, oder sein sollte, somit dem Zweck der
bloßen Verteidigung (der ausschließlichen Abwehr) widerstreitet, so
gilt es hier augenscheinlich, die beiderseitigen Bedürfnisse, wenn auch
nicht zu vereinen, so doch auszugleichen. Diese Aufgabe vornehm-
lich durch Stützpunkte, Hindernisse mit Durchlässen u. dgl. zu
lösen, ist noch nicht einwandsfrei gelungen, wenigstens liegt noch
kein bewährtes Beispiel vor; gerade die vermeintlich widerstands-
fähigsten sind nicht angegriffen oder fielen aus nicht zugehörigen,
anderen Gründen, während recht mangelhafte (Stellungen) doch noch
behauptet sind; — immer in Erhärtung der alten Wahrheit, daß es
nicht so die passiven Mittel, als vielmehr die richtig eingesetzten
Triebe und Kräfte sind, auf die es in jedem Falle, also auch in der
Verteidigung, ankommt. Von den Trieben, die dem Drange nach
Befestigung entsprechen, wie deren Mitteln und Anlagen, erscheinen
dann nur solche sicher vorteilhaft, die zur angriffsweisen Be-
tätigung führen; wogegen die bloße Festigkeit der Stellung, wie die
Sicherheit, die sie bietet, zur Beharrung und Versumpfung führt.
Nebenbei läßt eingebildete Stärke der Anlagen leicht auch diejenigen
des Gegners als uneinnehmbar erscheinen usf., — und nur zu leicht
wird so (nur) das Grab der Kampfkraft hergerichtet; während doch
die Aufgabe bzw. das Ziel der Befestigung wie der Verteidigung
(nach Clausewitz) nur sein kann: den „Schild“ und die Gelegenheit
herzugeben (bzw. herzurichten) „zu um so wirksameren
Streichen!*
(Die einschlägigen Vorgänge bis zum 15. Oktober auf den öst-
lichen Kriegsschauplätzen sollen zusammen mit denen des an-
schließenden Zeitraums im nächsten Artikel behandelt werden.)
Literatur. 439
Literatur.
I. Bücher.
Kriegsgeschichtliche Übersicht der wichtigsten Feldzüge seit 1792.
Von Adolf von Horsetzky, K. u. K. General d. Inf. Wien
1914. Seidel & Sohn. XXIV und 742 Seiten, 3 Textskizzen,
ein separater Kartenband mit 41 Tafeln. Geb. 30 M.
Auf dem ganzen Gebiet der kriegsgeschichtlichen Literatur ist
mir kein Handbuch bekannt geworden, das in so hervorragender
Weise den weitgehendsten Anforderungen gerecht wird. Aus be-
scheidenen Anfängen herausgewachsen, eine einfache, plastisch wirkende
Darstellungsmethode in den Skizzen zu immer größerer Vervollkomm-
nung entwickelnd, ist das Werk bis zur 7. Auflage in 25 Jahren fort-
geschritten. Wir wollen es dem Verfasser nicht verübeln, wenn er
mit besonderem Interesse die österreichischen Feldzüge und die Ent-
wickelung des österreichischen Heeres und Kriegswesens behandelt,
in der neuen Auflage tritt aber der universelle Charakter erheblich
mehr als früher in den Vordergrund. Die 7. Auflage ist durch die
Aufnahme des Burenkrieges, des Russisch-Japanischen Krieges, sowie
einer kurzen Darstellung des Balkankrieges (nach dem „Streffleur“)
erweitert worden. Außerdem wurden die älteren Feldzüge, namentlich
die der französischen Republik und des Kaiserreiches, durch die in-
zwischen veröffentlichten grundlegenden Werke der Generalstäbe neu
bearbeitet. Neu aufgenommen wurde auch der an militärischen Lehren
reiche nordamerikanische Sezessionskrieg 1861/65. Wertvoll ist auch
die Verdoppelung der „Schlußbemerkungen“ mit einem Überblick über
die Entwickelung des Heerwesens seit 1866 bis zur Gegenwart.
Ich kann es mir nicht versagen, an dieser Stelle einiges über die
Behandlungsweise des Stoffes heranzuziehen: „Das Studium der Stra-
tegie ist, wenn es wirklich praktische Ergebnisse zutage fördern soll,
ohne einen gewissen Reichtum an kriegsgeschichtlichen Kenntnissen
undenkbar; ja es muß geradezu in allen seinen Stadien auf dem Boden
der Kriegsgeschichte aufgebaut sein.
Es muß mit derselben beginnen und zwar mit dem Studium einer
möglichst nüchternen, nur das Tatsächliche hervorhebenden, von jeder
kritischen Beleuchtung absehenden Darstellung einer Anzahl von Feld-
zügen, um die Studierenden sofort daran zu gewöhnen, immer zuerst
die Tatsachen nach ihren gegenseitigen räumlichen und zeitlichen Be-
ziehungen genau und gewissenhaft klarzulegen, bevor daran gegangen
werden kann, Betrachtungen oder Nutzanwendungen an dieselben zu
knüpfen. Nur zu oft wird beim ersten Unterrichte in der Kriegs-
geschichte nicht der Sinn für das rein Tatsächliche, für das Konkrete,
für Raum- und Zeit- und geographische Verhältnisse, sondern der Sinn
für rasche und oberflächliche Kritik geweckt.
440 Literatur.
Ebenso wird bei der zweiten Phase des Unterrichts in der Stra-
tegie, d. i. bei der Formulierung der aus der Kriegsgeschichte zu ab-
strahierenden allgemeinen Grundsätze der Kriegführung, der engste
Zusammenhang mit dem wirklichen Verlauf der Ereignisse festgehalten
werden müssen. Die Mehrzahl der kriegsgeschichtlichen Erfahrungs-
sätze muß ihre Lokalfarbe behalten; sie erhalten die wahre Bedeutung
erst durch die sie begleitenden und begründenden Umstände sowie
durch den Charakter der leitenden Persönlichkeiten.
Wer die allgemeinen Grundsätze des Krieges wie mathematische
Wahrheiten und nur als Ergebnis der Spekulation auffaßt, der stellt
den Krieg in einer so abstrakten abgeklärten Form dar, daß er von
dem wirklichen Kriege und von der Art und Weise, wie im Ernstfalle
die theoretischen Lehrsätze angewendet, wie Entschlüsse gefaßt und
Anforderungen gestellt werden, unmöglich die richtigen Vorstellungen
hervorrufen kann. Es ist daher sehr wichtig, den Krieg sofort in
seiner wahren Gestalt zu lehren. Man gibt sonst den Schülern einen
zu allgemeinen, zu idealen Maßstab an die Hand, so daß sie mit dem-
selben allenfalls theoretischen Problemen, aber nie den eminent
praktischen Vorgängen des Krieges gegenüber auskommen könnten.
Als dritter und letzter Teil des Unterrichts in der Strategie wird
mit Recht eine Reihe von Detailstudien gefordert und zwar haupt-
sächlich behufs Klarstellung der operativen und marschtechnischen
Momente beim Auftreten großer Armeen. Es wird auch hierbei wieder
auf kriegsgeschichtliche Beispiele reflektiert werden müssen, in welchen
— wie in den Feldzügen 1812 in Rußland, 1813 in Deutschland und
1870 in Frankreich — die Verwendung und Bewegung von einer
halben Million Streitbaren, d. h. annähernd so großen Heereskörpern,
wie sie in den künftigen Kriegen der Großmächte sich gegenüber-
stehen dürften, in allen ihren Eigentümlichkeiten praktisch demonstriert
werden kann.
Wir können das hervorragende Werk nur auf das Allerwärmste
empfehlen.
Der Dienst des Unteroffiziers. Auf Veranlassung und zunächst nur
für den Dienstgebrauch der Königlichen Unteroffiziersschule
Weißenfels bearbeitet. Heft 1: Allgemeine Rechte und
Pflichten des Unteroffiziers, Heft 2: Der Unteroffizier
im Aufsichts- und Wachtdienst, Heft 3: Der Unter-
offizier in besonderen Stellungen als Feldwebel, Furier,
Kammer-, Schießunteroffizier. Von Hauptmann a. D. Balthasar.
Berlin 1914. E. S. Mittler & Sohn.
In den drei Heften, deren 1. und 2. in sechster, deren 3. bereits
in achter Auflage erschienen ist, wird der gesamte Dienst des Unter-
offiziers besprochen. Heft 1 ist etwas trocken behandelt. Wenn in
dieses wichtige Thema bei einer Neuauflage mehr Wärme und mehr
Schwung hineingelegt würde, so wird es den Unteroffizieren und denen,
Literatur. 441
die es werden wollen, nicht allein in den Verstand, sondern auch in
Herz und Gemüt gehen.
Der Wunsch des Verfassers, seine Arbeit möge nicht nur den
Unteroffizierschülern, sondern auch den Unteroflzieren von Nutzen
sein, ist sehr gerechtfertigt, denn auch diese können sehr viel aus
ihr lernen. Wir gehen sogar weiter und empfehlen diese Hefte jedem
angehenden und jedem jungen Kompagniechef, auch sie werden
manchen guten Fingerzeig finden. —f.
„Animal-Flight.“ Eine Sammlung von Beobachtungen. Von Dr. E,
H. Hankin. Verlag Jliffe & Sons, London. Preis 13 M.
Nächst den Werken von Lilienthal und Mouillard das bedeutendste
und sicher das eingehendste moderne Buch über die Theorie des
Vogelfluges. Der Verfasser legt seinen Betrachtungen Beobachtungen
zugrunde, die er zum Teil auf recht originelle Weise an Vögeln,
Fledermäusen, Insekten und auch fliegenden Fischen gemacht hat.
Eine Reihe klarer Zeichnungen veranschaulicht die verschiedenen
Flügelstellungen. Von den obengenannten beiden Werken unterscheidet
es sich zunächst schon dadurch, daß die geschilderten Beobachtungen
vorzugsweise an Landvögeln und viel seltener an Seevögeln gemacht
sind. Dr. Hankin geht ebenso ausführlich auf die Theorie des Vogel-
fluges wie auf die meteorologischen Verhältnisse ein. Das Buch ent-
hält in seinen 400 Seiten ein reiches Beobachtungsmaterial, auf das
sich alle Vogelfluginteressenten getrost stützen können. Ein alpha-
betisc hes Inhaltsverzeichnis trägt zur Erhöhung der Übersichtlichkeit
erheblich bei. Wh.
Einführung in die Gebrauchsnahme des Batterierichtkreises M/5
und der Geschützrichtkreise (-fernrohre) M/8 und 9. Von
Hauptmann Großmann, K. u. K. Hauptmann und Lehrer an der
K. u. K. Technischen Militärakademie. Wien. Seidel & Sohn.
Die Schrift behandelt sehr gründlich die wissenschaftlichen Grund-
lagen der in Österreich eingeführten Richtkreise und ihren Gebrauch
für das indirekte Richten, Messen von Geländewinkeln, für Feuer-
verteilung und Schußbeobachtung, für die Zielzuweisung von einem
entlegenen Standpunkte aus und Ermittelung der Überschießbarkeit
der vorliegenden Deckung usw. Beigefügte Tabellen enthalten die
Beziehungen zwischen den Elementen des Dreiecks Geschützaufstel-
lung, Beobachter, Ziel, die zur Schulung ohne Zuhilfenahme der In-
strumente dienen können.
Wer sich außer mit dem praktischen Gebrauch der Instrumente
auch mit der Theorie ihrer Verwendung befassen will, findet in der
Arbeit einen zuverlässigen Ratgeber. v. Rr.
W.-T.-B. Kriegsdepeschen 1914. (Erster Monat — August.) Berlin,
Verlag von Boll & Pickardt. Preis des Monatsheftes 40 Pf.
Die amtlichen deutschen Depeschen vom heutigen Kriege haben
durch ihre bewundernswerte Form und ihren so unfehlbar zuver-
442 Literatur,
lässigen Inhalt eine ganz besondere Bedeutung gewonnen und haben
schon jetzt einen bleibenden Wert. Dem hat schon ein „General-
vertrieb der Amtlichen Nachrichten aus großer Zeit 1914“ Rechnung
getragen, indem er seinen Abonnenten die ÖÜriginalabzüge der
W.-T.-B.-Depeschen liefert. Der Verlag von Boll & Pickardt gibt die-
selben Depeschen und amtlichen Kundgebungen in gut ausgestatteten
Monatsheften heraus, die in ihrer einwandfreien Form sehr will-
kommen sein werden, und deren Bezug nur warm empfohlen werden
kann. W.
Kriegsgebetbüchlein für Soldaten im Feld. Von Professor D. Dr.
v. Wurster.
Trostbüchlein für die Trauer um die fürs Vaterland Gefallenen.
Von demselben
Gott mit uns! Ausgewählte Lieder von Krieg und Sieg für unsere
Söhne im Felde. Von Viktor Hermann.
Unter diesen Titeln hat der Verlag der Evangelischen Gesellschaft
in Stuttgart, Färberstraße 2, drei Heftchen herausgegeben, die ihren
Zweck in ganz besonders glücklicher Weise erfüllen. In dem erst-
genannten sind die kurzen und mannhaften, den verschiedenen Lagen
im Felde angepaßten Gebete hervorzuheben. Ihnen folgt eine Reihe
ebenso kurzer und kerniger „Sprüche zu Trost und Kraft“ und endlich
eine vortreffliche Auswahl von 30 unserer besten geistlichen Lieder.
Im zweiten Heft findet der Verfasser warme und zu Herzen gehende
Worte des Trostes für die Hinterbliebenen, — in beiden ist jedes
Weichliche glücklich vermieden, es sind echte Soldatenbücher. Das
Liederbuch endlich ist ebenso sorgfältig zusammengestellt und ent-
hält neben geistlichen Liedern 20 unserer schönsten Vaterlandslieder
von E. M. Arudt, E. Geibel, M. v. Schenkendorf und anderen,
Der geringe Preis von 15 bzw. 20 und 15 Pfennigen (bei größeren
Bestellungen noch billiger!) sollte ebenfalls dazu treiben, die Heftchen
in weitgehendstem Maße den Feldbriefen und Gabensendungen bei-
zulegen, — sie werden unseren braven Truppen hochwillkommen sein!
W,
„Der Urofse Krieg“ isi der Titel einer fortlaufenden Darstellung
der Kriegsereignisse, die der Stiftungsverlag in Potsdam in wöchent-
lichen Einzelheften herausgibt, deren Reinertrag den Zwecken der
Kriegshilfe zufließen soll. Das vorliegende erste mit Abbildungen ver-
sehene Heft schildert den in ihm besprochenen Zeitabschnitt in sehr
übersichtlicher und fesselnder Weise. Dazu kommt der geringe Preis
von 10 Pfennigen für das einzelne Heft, bzw. ein vierteljährlicher
Abonnementspreis von 1,50 M. (bei dem genannten Verlag, oder bei
allen Buchhandlungen und Postanstalten) bei portofreier Zustellung,
— die Hefte erscheinen als zur Massenverbreitung ganz besonders
geeignet, W.
Literatur. 443
il. Ausländische Zeitschriften.
Wegen Ausbleibens der ausländischen Zeitungen ist es, wie die Leser bereits
selbst gesehen haben werden, nicht möglich, die Abteilung „Ausländische Zeit-
schriften“ während des Krieges weiterzuführen. Wir geben aber nachstehend einen
uns noch zugegangenen Beitrag:
Revue du gónie militaire. (April) Berger: Die Hängebrücke
von Mecchra ben Abbu. — Die Belagerung von Adrianopel. — Zum
neuen Hahn „Doseur-Economiseur“. -- (Mai.) Belagerung von
Adrianopel (Forts). — Baurdan: Geometrische Bestimmung der
Ladungselemente zur Zerstörung von Kunstbauten der Verkehrswege.
— Pneumatisches Feststampfen des Betons. — Asphaltpflaster. —
(Juni.) Belagerung von Adrianopel (Schluß). — Metallbekleidung für
feuchte Räume.
Rivista di artiglieria e genio. (April) Wild: Bemerkungen zu
den „Lehren des Balkankrieges mit Bezug auf die taktische und
technische Verwendung der Artillerie“. —- Levi: Die sparsamere Ver-
teilung der Sparren bei der Konstruktion von Dächern. — Ricci:
Noch über den Irrtum bei der Vorbereitung des Küstenfeuers. —
Ferreri: Brücke in Eisenbeton auf dem Tanaro. — Bravetta: Das Aus-
brennen der Geschütze. — Gekrümmte Oberflächen und Verankerungen
bei Eisenbetonarbeiten. — Scipioni: Französische Bestimmungen für
die Verwendung großer Einheiten. — Notizen: Österreich-Ungarn:
Neuformation der Feldartillerie und der Festungsartillerie. — Belgien:
Infanterieschanzzeug. — Bulgarien: Neuordnung der technischen .
Truppen. — Dänemark: Dasselbe — Frankreich: Instruktion über
Verbindung (der Truppenteile); Fernmesser für Feldartillerie; Schulter-
bleche für Feldbatterien; Neuordnung des Luftdienstes; Der Funken-
telegraphendienst im Kriege. — Deutschland: Neue Feldkanone;
Anhang zum Exerzierreglement der Feldartillerie; Apparat Leppin für
optische Telegraphie mit elektrischem Licht. — England: Luftfahr-
vorschrift. — Rumänien: Artilleriematerial. — Schweiz: Feldhaubitze;
Einheitsgeschoß. — Türkei: Spitzgeschoß. — Etatszahlen der fran-
zösischen und der deutschen Batterien. (Mai.) Strazzeri: Ver-
wendung der Artillerie in Libyen. — De Martino: Über Deckenkon-
struktionen in Militärfabriken. — Sesini: Vergleich der verschiedenen
Gesetze des Luftwiderstandes bei Bewegung der Geschosse. — Otto-
lenghi: Die Rücklaufartillerie für den Belagerungspark. — Taraglio:
Einrichtung, um die Fahrzeugräder elastisch zu machen. — Amerika-
nische Versuche zur Präzisionsbestimmung eines Fernmessers mit
eigener Basis. — Der Munitionsverbrauch im Mandschurischen Kriege.
— Universal-Brückenbock, — Luftbeobachtung für die Artillerie. —
Notizen: Österreich-Ungarn: Fernmesser. — Belgien: Neue Heeres-
ordnung. — Frankreich: Aufstellung neuer Artillerieeinheiten; Unter-
richt für Pulverfabrikation. — Rußland: Militärluftschiffahrt; Neue
Artillerieschule. — Eine neue Automobilkanone. — Einrichtung zur
444 . Literatur.
Nachrichtenübermittelung fur Flugzeug. — Beobachtung und Benach-
richtigung vom Flugzeug. — Chemische Feuerlöschmittel. — Wirkung
elektrischer Ströme auf den menschlichen Körper.
Ill. Verzeichnis der zur Besprechung eingegangenen Bücher.
(Die eingegangenen Bücher erfahren eine Besprechung nach Malsgabe ihrer Bedeutung und des ver-
fügbaren Raumes. Eine Verpflichtung, jedes eingehende Buch zu besprechen, übernimmt die
Leitung der „Jahrbücher“ nicht, doch werden die Titel sämtlicher Bücher nebst Angabe des Preises
— sofern dieser mitgeteilt wurde — hier vermerkt. Eine Rücksendung von Büchern findet nicht statt.)
1. v. Bedwitz, Die deutsche Reitvorschrift 1912 im Lichte der
Reitkunst. 3. Heft. Die Grundsätze der Dressur. Berlin 1914.
E. S. Mittler & Sohn. 3 M.
2. Andriot, Les grands hommes de guerre. Ney. Paris 1914.
Chapelot. 1,50 Frs.
3. Raila, Die Mobilmachung des Offiziers, Sanitäts- und Vetrinär-
offiziers sowie Beamten. München 1913. Lindauersche Buchhandlung.
0,50 M.
4. E. v. Schmid, Das französische Generalstabswerk über den
Krieg 1870/71. Heft 13. Leipzig 1914. Friedrich Engelmann, Verlags-
buchhandiung. Geh. 7 M., geb. 8 M.
5. Moyzischevitz, Französischer Sprachführer für Unteroffiziere
und Mannschaften, 8. Tausend. Oldenburg i. Gr. Gerhard Stalling.
0,25 M. |
6. Illustrierter deutscher Armee- und Reichskalender 1915.
Minden i. W. Verlag von J. C. C. Bruns. 0,50 M.
7. Müller, Der Große Krieg. Potsdam 1914. Stiftungsverlag.
Heft 0,10 M.
8. Militärhinterbliebenengesetz nebst Erläuterungen und Bei-
spielen nach den kriegsministeriellen Ausführungsbestimmungen,
2. Auflage. Oldenburg i. Gr. 0,80 M.
9. Graff, Grundriß der geographischen Ortsbestimmung aus astro-
nomischen Beobachtungen. Berlin 1914. G. J. Göschensche Verlags-
buchhandlung G. m. b. H. Brosch, 8 M., geb. 8,80 M.
10. Hermann, Gott mit uns! Ausgewählte Lieder vom Krieg und
Sieg für unsere Söhne im Feld. Kart. mit Reichsfarben. 0,15 M.
50 Stück à 0,14 M., 100 Stück à 0,13 M. Stuttgart 1914. Verlag der
Evangelischen Gesellschaft.
11. Dr. Wurster, Kriegsgebetbüchlein für Soldaten im Feld. Kart,
0,15 M., 50 Stück à 0,14 M., 100 Stück à 0,13 M.
12. Dr. Wurster, Trostbüchlein für die Trauer um die fürs
Vaterland Gefallenen. Brosch. 0,20 M., 5 Stück 0,75 M.
13. W.-T.-B. Kriegsdepeschen 1914. Erster Monat (August).
Berlin 1914. Boll & Pickardt. 0,40 M.
Druck von A. W. Hayn's Erben (Curt Gerber), Potsdam.
XXX.
Die Heere unserer Gegner.
Von
Frhr. von der Osten-Sacken und von Rhein,
Oberstleutnant a. D.
(Schluß.)
Unser zweiter Gegner ist Rußland. Seit unser Vaterland sich
von der Bevormundung durch dieses freigemacht hat, ist aus dem
selbstsüchtigen Freunde ein grimmiger Gegner geworden. Begierig hat
Rußland die von Frankreich ihm gebotene Hand ergriffen und mit
Hilfe der französischen Milliarden sich von langer Zeit her für den.
Kampf vorbereitet. Und für diesen Krieg hat es sich anders vor-
gesehen wie für den gegen die verachteten Japaner, in dem es nicht
wagte, seine europäischen Grenzen zu entblößen und sich zum größten
Teil mit sibirischen und neuzusammengestellten Truppen behalf, deren
Minderwert zum großen Teil den allen Erwartungen widersprechenden
unglücklichen Augang des Feldzuges in der Mandschurei verschuldete.
Wie Frankreich, so hat auch Rußland bereits bald nach unseren
großen Erfolgen gegen ersteres die allgemeine Wehrpflicht eingeführt.
Nach den neuesten Abänderungen vom 23. Juni/6. Juli 1912 be-
steht eine 23jährige Dienstpflicht vom vollendeten 21. bis zum voll--
endeten 43. Lebensjahr. Bei der Infanterie und Fußartillerie dienen
die Mannschaften 3 Jahre aktiv, 7 bzw. 8 Jahre in der ersten
und zweiten Kategorie der Reserve und 5 Jahre im ersten Auf-
gebot der Reichswehr. Bei der Kavallerie, der reitenden Artillerie
und den Ingenieur- und Eisenbahntruppen dauert die Dienstverpflich-
tung in den verschiedenen Kategorien 4, 7, 6 und 5 Jahre. Bei
den Kosaken währt sie im allgemeinen 1 Jahr in dem Vorbereitungs-
kursus, je 4 Jahre in den drei Aufgeboten der Frontkategorie, 5 Jahre
in der Ersatzkategorie und ohne Altersbeschränkung in der Heeres-
reserve. Wer eine Hoch- oder Mittelschule durchgemacht hat, dient
3 und bei freiwilligem Eintritt nur 2 Jahre; wenn er das Offizier-
examen abgelegt hat, verkürzt sich die Dienstzeit auf 2 bzw.
1!/, Jahre.
Jahrbücher für die deutsche Armee und Marine. Nr. 519. 32
446 Die Heere unserer Gegner.
Dank der allgemeinen Wehrpflicht und seinem Bevölkerungs-
stande von fast 170 Millionen Seelen (1. Januar 1911) befindet sich
Rußland bezüglich der zulässigen Heeresstärke in der glücklichen Lage
der unbegrenzten Möglichkeiten. Bei seinen ungünstigen wirtschaft-
lichen Verhältnissen kann es aber diesen Vorzug nicht ausnutzen.
Seit 1911 wurden alljährlich ohne die Kosaken 455003) Rekruten
eingestellt. Die Gesamtstärke des Friedensstandes, über die nichts
veröffentlicht wurde, betrug nach den letzten Löbellschen Jahres-
berichten bei 10°, Ausfall ohne die 47000 Mann der Flotte
1180000 Mann aktive, Besatzungs-, Ersatztruppen (letztere im Frieden
nur bei der Kavallerie und reitenden Artillerie vor-
handen),
60000 Mann Kosaken,
60000 Mann Grenzwache,
38000 Mann Konvoi- und Lokaltruppen,
1338000 Mann.
Da aber wahrscheinlich die Reservisten im Frühjahr 1914 nicht
entlassen waren, so muß mit einem Friedensstande von 1750000
gerechnet werden, davon 1380000 Mann in Europa.
Im Kriege sollten planmäßig aufgestellt werden:
a) Feldtruppen
(aktive, durch die 1. Kategorie der Reserve ergänzte Truppen):
1258 Bat. — 280 (12 Garde-, 16 Gren.-, 208 Armee-Inf.-, 44
sibir. Schütz.-) Reg. zu 4 Bat. = 70 Div. zu 16 Bat., 60
(4 Garde-, 20 Armee-, 12 finnische, 8 kaukasische, 22 tur-
kestanische) Schütz.-Reg. zu 2 Bat. — 17 Schütz.-Brig. zu
8 (2 zu 6) Bat., 6 Kuban-Plastuni- (Fußkosaken-) Bat.
= 1 Brig. —
zu 4 Komp., mit je 8 (im Frieden 4) Maximgewehren bei
jedem Regiment und jedem selbständigen Bataillon und
1 Radfahrer-Kumpagnie bei einem Teil der Schützen-Regi-
menter;
388 Esk., 319 Sotn. — 4 Garde-Kür.-Reg. zu 4 Esk., 23 Drag.-.
19 Ulan.-, 20 Hus.- (einschl. je 2 Garde-) Reg. zu 6 Esk..
2 Reit.-Reg. zu 6, 2 Reit.-Div. zu 2 Esk. (Sotn.),
sowie an Kosaken:
3 Garde-Reg. zu 4, 44 Reg. zu 6, 6 zu 4, 1 zu 3, 3 Div.
zu 2 Sotn., 10 selbständige Sotn. —
eingeteilt in 2 Garde-, 16 Armee-Div. (diese zu 3 Kav.-,
Die Heere unserer Gegner. 447
1 Kos.-Reg.), 6 Kos.-Div., 8 selbständige Brig. usw. mit 8
bzw. 4 Maximgewehren bei jeder Division bzw. selbständigen
Brig. ;
637 Batt. — 441 leichte, 50 (einschl. 7 reit.) Gebirgs-, 74
Mörser- und Haubitz-, 28 reit., 20 reit. Kos.-, 24 schwere
Batt. —
= {0 Brig. (den Div. entsprechend) = 434 Batt.,
17 Abt. (den Schütz.-Brig. entsprechend) = 49 Batt.,
36 Mörser- oder Haubitz-Abt. = 73 Batt.,
1 Garde-Brig. und 23 Abt. reit. Art. = 52 Batt.,
8 schw. Abt. = 24 Batt.,
5 selbständige Batt.
70 Bat., 20 Komp. — 39 Sapp.-Bat. (117 Sapp.-, 54 Telegr.-
Komp., 39 Scheinwerfer-Abt.), 1 Sapp.-Komp., 9 Pontonier-
Bat. (18 Komp.), 7 Funkentelegr.-Komp., 2 Luftschiffer-Bat.
(5 Komp.), 9 desgl. Komp., 3 Flieger-Komp., 4 Reg. und
11 Bat. (76 Komp.) Eisenbahn-Truppen —.
24 Train-Bat. (im Frieden 5 Kader-Bat. zu 4, 1 kaukasisches
Kader-Bat. zu 2 Komp. und 2 einzelne Komp.).
Der fechtende Stand der Bataillone und Schwadronen beträgt
ungefähr 900 bzw. 150 Mann. Die Fußbatterien haben je 8, die
reitenden je 6 Geschütze.
Die Truppen bildeten vor dem Kriege 37 Armeekorps, von denen
das Garde-, das Grenadierkorps und die Korps I bis XXV in den
sieben Militärbezirken des europäischen Rußlands standen, während
sich 3 Korps im Kaukasus, 2 in Turkestan und 5 und außerdem
eine nicht eingeteilte Infanteriedivision in Sibirien befanden.
Eine geplante sehr bedeutende Vermehrung der aktiven Truppen
ist infolge des vorzeitigen Ausbruchs des erst für 1916 in Aussicht
genommenen Krieges nicht ausgeführt worden.
b) Besatzungstruppen
(aktive, durch die I. Kategorie der Reserve ergänzt):
62 Bat. = 261 Komp. Festungsartillerie,
17 Sappeur-, 16 Mineur-Komp. usw.
c) Reservetruppen
(aus der 2. Kategorie der Reserve neu gebildet):
620 Bat. — 32 (?) Div. = 128 Reg. = 512 Bat. in Europa,
| 6 (?) Div. = 24 Reg. = 96 Bat. in Asien, Kuban-Plastuni
(Fußkos.) = 12 Bat. im Kaukasus —;
32*
448 Die Heere unserer Gegner.
612 Sotn. — 53 Kos.-Reg. II. Aufgebots = 347, 45 Kos.-
Reg. III. Aufgebots = 265 Sotn. —;
Art. und Ingen. der Reservetruppen nach Bedarf, außerdem
19 Kos.-Batt.
d) Ersatztruppen:
Infantrrie: Bei jedem Regiment zu 4 (2) Bat. 1 Ersatz-Bat. zu
4 (2) Komp.;
Kavallerie: Im Frieden vorhanden 64 Esk., aus denen 128 be-
rittene und 64 unberittene Esk. gebildet werden;
bei den Kosaken: Für jedes Sweno (Reg. I. Aufgebots mit den
entsprechenden Regimentern II. und Ill. Aufgebots) 1 Ersatz-
Sotn.;
bei der Fußartillerie: 1 Ersatz-Batt. zu 8 Gesch. für jede Bri
gade und 1 Ersatz-Batt. zu 4 Gesch. für jede selbständige
Abt.;
bei der reitenden und Kosaken-Artillerie: unter Benutzung der
beiden schon im Frieden vorhandenen Ersatzbatterien für je
3 Batt. 1 Ersatz-Batt. zu 6 Gesch.;
bei den Ingenieurtruppen: 4 Ersatz-Bat.
e) Grenzwache:
31 Brigaden, davon 24 in Europa, aus denen an den bedrohten
Grenzen je 1 Bat. zu 1000 Mann und je 1 Reit.-Reg. zu
400 Mann gebildet werden sollen.
f Konvoi- und Lokaltruppen.
g) Reichs wehr:
20 Div. des I. und 20 Div. des II. Aufgebots zu 16 Bat.,
4 Sotn., 2 Batt., 1 Sapp.-Komp.,
Festungstruppen = 20 Bat., 20 Art.-Komp.,
Rest der Heereswehr der Kosaken.
Eine Infanteriedivision besteht in der Regel aus 16 Bat., 6 Batt.,
1 Sapp.-Komp. = 20500 Mann, 48 Gesch. Eine Schützenbrigade
ist im allgemeinen 8 Bat., 3 Batt. = 10250 Mann stark. Zu einem
Armeekorps gehören meist 2 Infanteriedivisionen, 1 Mörser- (Haubitz-)
Abteilung zu 2 Batt., 1 Sapp.-Komp. usw. = 44100 Mann, 112
Gesch.
Die Trains befinden sich zum Teil bei den Divisionen. Darüber
hinaus ist dem Garde-, III., VIII., XII. sowie dem I. und II. kau-
kasischen Korps noch je eine Schützenbrigade zugeteilt. Das XVI.
Korps hat 3 Divisionen, dagegen besteht das XIV. aus einer Division
Die Heere unserer Gegner. 449
und 2 Schützenbrigaden, das XXII. aus den 3 finnischen und die
beiden turkestanischen aus den 6 entsprechenden Schützenbrigaden.
Von den 11 sibirischen Schützendivisionen bilden 10 die entsprechen-
den 5 Korps, während eine selbständig ist. Die Kavalleriedivisionen
zählen in der Regel in 2 Brigaden 18 Esk., 6 Sotn., 2 Batt.
= 4600 Mann, 12 Gesch. Im Frieden unterstehen sie den Armee-
korps, im Kriege werden sie aber selbständig verwandt oder in
Kavalleriekorps zu 2—3 Divisionen zusammengestellt. Als Ersatz
sollte bei der Mobilmachung jede Infanteriedivision 2—3 Sotnien
Grenzwehr oder Kosaken II. Aufgebots erhalten. Die anfängliche
Gesamtstärke der Feldarmee — aktive, Reservetruppen und Grenz-
wehr — wird auf 2400000 Mann geschätzt. Einschließlich der Er-
satz- und Besatzungs- sowie der Konvoi-und Lokaltruppen und der
Reichswehr kann die ursprüngliche gesamte Kriegsstärke zu
4000000 Mann angenommen werden. Der frühe Beginn der Kriegs-
vorbereitungen und die große Zahl der vorhandenen Reservisten
dürften es möglich gemacht haben, allen in der russischen Armee
gemachten Erfahrungen zuwider die Truppen in vollzähliger Stärke
aufzustellen. Von einer Verwendung des verbleibenden sehr erheb-
lichen Überschussess an Reservisten zu Neuaufstellungen ist wahr-
scheinlich mit Rücksicht auf den im Frieden schon großen Mangel an
Offizieren sowie an Ausrüstung und Waffen Abstand genommen
worden.
Die im allgemeinen für den Aufmarsch der Armee maßgebende
Verteilung der Korps usw. auf die verschiedenen Militärbezirke geht
aus folgender Zusammenstellung hervor. Bis zur Mobilmachung
standen in dem Bezirk
Petersburg: Garde-, I., XVIII., XXI. K. = 7 Inf.-Div., 4 Schütz.-
Brig.. 2 Kav.-Div.,
Wilna: II., III, IV. XX. K. = 8 Inf.-Div., 1 Schütz.-Brig., 2 Kav.-
Div., 1 Kav.-Brig.,
Warschau: VI., XIV., XV., XIX., XXXIII. K. = 9 Inf.-Div., 2 Schütz.-
Brig., 7 Kav.-Div., 1 Kav.-Brig.,
Kiew: IX., X., XL, XIL, XXI. K. = 10 Inf.-Div., 1 Schütz.-Brig,,
5 Kav.-Div.,
Odessa: VII, VII. K. = 4 Inf.-Div., 1 Schütz.-Brig., 1 Kav.-Div.,
Moskau: Gren.-, V., XIII., XVIL, XXV. K. = 10 Inf.-Div., 1 Kav.-
Div., 2 Kav.-Brig.,
Kasan: XVI., XXIV. K. = 5 Inf.-Div., 1 Kav.-Div.,
Kaukasus: I., II., III. kaukas. K. = 6 Inf.-Div., 2 Schütz.-Brig.
1 Fußkos.-Brig., 4 Kav.-Div.,
450 Die Heere unserer Gegner.
Turkestan: I., II. turkest. K. = 6 Schütz.-Brig., 1 Kav.-Div., 2 Kav.-
Brig.,
Sibirien: I. bis V. sib. K., 11. sib. Schütz.-Div. = 11 Inf.-Div.,
2 Kav.-Brig.
Gesamtzahl: 70 Inf.-Div, 17 Schütz.-Brig, 24 Kav.-Div.,
8 Kav.-Brig.
Wenn auch die zahlenmäßige Stärke der russischen Armee nicht
der Bevölkerungszahl des Reiches entspricht, so bleibt sie doch eine
gewaltige. Dazu war durch die wohl nur zum Teil rückgängig ge-
machten Probemobilmachungen der letzten Jahre sowie durch die Zu-
rückhaltung der Reservisten im Frühjahr 1914 und bis zum Februar
d. J. zurückreichende anderweitige Maßregeln alles soweit für den
Krieg vorbereitet, daß bei dessen Ausbruch ein großer Teil der Armee
bereits in verwendbarem Zustande teils schon an der Grenze stand,
teils sich dorthin unterwegs befand oder wenigstens sehr bald aus-
rücken konnte So konnte die Hauptmasse des Heeres trotz der
groBen Ausdehnung des Reiches und trotz seines noch immer sehr
spärlichen Eisenbahnnetzes in kurzer Zeit und in überraschender
Stärke die Operationen beginnen und auch der noch fehlende Teil in
verhältnismäßig kurzer Frist auf dem Kriegsschauplatz eintreffen.
Bereits Ende August standen gegen uns 3 Armeen = 11 Korps,
2 Reserve-, 8 Kavalleriedivisionen = 550000 Mann, während die
Österreicher sich 40 Infanterie- und Reservedivisionen und 11 Ka-
valleriedivisionen — 850000 Mann gegenüber hatten und vermutlich
10 Reservedivisionen = 200000 Mann in den auf dem Kriegsschau-
platz und den anliegenden Gouvernements belegenen Festungen standen
Von den sibirischen Truppen befand sich hierbei schon das III. Korps,
ebenso auch ein Teil der kaukasischen, der durch gleichstarke andere
— ukränische — Truppen abgelöst war. Außerdem befand sich ein
Korps noch bei Petersburg sowie einige Reservedivisionen im Küsten-
gebiet des Schwarzen Meeres. Da weder dieses, noch der Kaukasus,
Turkestan und trotz der japanischen Freundschaft das östliche Sibirien
ganz entblößt werden konnten, so beliefen sich die damals noch in
Aussicht stehenden Verstärkungen höchstens auf das Petersburger.
4 sibirische und 1 turkestanisches Korps sowie auf etwa 6 europäische
Reservedivisionen und einen Teil des II. und III. Aufgebots der Ko-
saken, alles in allem vielleicht 400000 Mann. Wieweit zurzeit (Ende
November) die Aufstellung der Reichswehr durchgeführt ist, entzieht
sich der Beurteilung; zu einer Verwendung im freien Felde ist sie
nicht geeignet, höchstens kann ihr I. Aufgebot die in den Festungen
stehenden Reservedivisionen ablösen und so 200000 Reservetruppen
Die Heere unserer Gegner. | 451
verfügbar machen. Die ursprüngliche Gesamtstärke der im Felde
stehenden Streitkräfte kann somit auf 1400000 Mann, die der mög-
lichen Verstärkungen auf 600000 Mann geschätzt werden.
Entsprechen nun diese Zahlen auch nicht dem Stande der Be-
völkerung des russischen Reiches, so sind sie doch sehr groß. Den-
noch brauchen sie uns nicht schrecken. Durch die nach dem un-
glücklichen Kriege gegen Japan vorgenommene Reform konnte wohl
die zahlenmäßige Stärke der Armee und ihre Schlagfertigkeit erhöht,
nicht aber die zumeist in dem Volkscharakter begründeten großen
inneren Schwächen der Armee beseitigt werden.
In dieser Beziehung ist in allererster Linie der unglaublich tiefe
Kulturzustand des russischen Volkes zu erwähnen. Seit Menschen-
gedenken sind dessen weiteste Schichten unterernährt und dem Genuß
des Alkohols verfallen. Dazu fehlt fast jede Ausbildung der geringen
geistigen Veranlagung des Volkes. Stumpfsinnig lebt die große Masse
dahin, ohne jeden eigenen Trieb. Die allgemeine Wehrpflicht hat nun
zwar die Möglichkeit gegeben, aus der Masse der Pflichtigen die besten
Elemente für das Heer auszuwählen, aber trotzdem weist dieses nach
der Statistik 70°/, Analphabeten auf. So ist es erklärlich, daß in
der Masse des Heeres trotz des gegen die Deutschen gepredigten
Hasses jede Begeisterung für den Krieg fehlt, sowie daß den ein-
gezogenen Reservisten der Grund ihrer Einziehung verheimlicht werden
mußte. Und nicht minder begreiflich ist es, daß solche Soldaten zu
größeren und namentlich selbständigen Leistungen, wie sie der moderne
Krieg erfordert, unfähig sind. Lediglich der nur dem Zwange nach-
gebende echt slawische Herdentrieb beherrscht diese Massen. Daher
sind sie auch für die Offensive wenig geeignet. Nur solange die
Offiziere oder die Peitschen der Kosaken sie antreiben, was zahlreiche
Augenzeugen bekundet haben, gehen sie vorwärts; fallen die Offiziere
und treiben die Kosaken sie nicht mehr an, dann werfen sie die
Waffen und ergeben sich, wie die große Zahl der bei allen Gelegen-
heiten gemachten Gefangenen beweist. Zweifellos hat die russische
Armee durch die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht an innerem
Wert eingebüßt. Die alten Berufssoldaten, aus denen sie sich vorher
zusammensetzte, standen auf einer militärisch ungleich höheren Stufe
als ihr jetziges Menschenmaterial, das bei der Verkommenheit des
größten Teils des russischen Volkes nicht in 3 bis 4 Jahren zu
brauchbaren Soldaten erzogen werden kann.
Den Mannschaften entspricht die Masse der Offiziere. Kein
zweites Offizierkorps weist — zum Teil selbst innerhalb der ein-
zelnen Regimenter — solche Gegensätze auf wie das russische, Gegen-
sätze, die jedes Gefühl für Zusammengehörigkeit und Kameradschaft
452 Die Heere unserer Gegner.
ausschließen. An Herkunft und Bildung werden minimale An-
forderungen gestellt; nur Juden dürfen nicht Offiziere werden. Bei
den bevorzugten Truppen, wie den Garden, den Grenadieren, einem
Teil der Kavallerie und den Ingenieuren, finden sich zwar die Söhne
der ersten Gesellschaftsklassen, daher diese Offiziere meist auch in
hohem Ansehen stehen, aber selbst bei ihnen treffen wir Begriffe von
Ehre und Pflichtgefühl an, die uns fremd sind und sie nicht geeignet
erscheinen lassen, Vorbild und Erzieher des Mannes zu sein. Die übrigen
Offiziere entstammen fast ausnahmslos durchaus ungeeigneten Volks-
schichten. In den kümmerlichsten Verhältnissen leben sie dahin,
ohne Möglichkeit, sich in den vielfach sehr entlegenen Garnisonen
fortzubilden. Die Unterdrückung jeder sich etwa regenden Selb-
ständigkeit vermehrt noch die in dem Volkscharakter liegende Scheu
vor Verantwortung. Wenige von ihnen sind zur Bekleidung höherer
Führerstellen geeignet. Ihre Beförderungsaussichten sind denn auch
sehr gering. Nicht nur werden 35°/, der Oberstleutnantsstellen
(unterster Stabsoffiziergrad) außer der Reihe besetzt, bei den alten
Garderegimentern fehlt auch noch dieser Grad, daher ihre An-
gehörigen sehr schnell die Stabsoffizierzeit durchmachen.
Daher besizt auch die russische Armee viele jugendliche Führer.
die in der den höheren russischen Ständen eigenen Nichtachtung des
Lebens ihrer Untergebenen von ihren Truppen den rücksichtslosesten
Gebrauch machen. Nicht unerwähnt bleiben dürfen auch die für die
russischen Generale höchst bezeichnenden Barbereien, durch die sich
viele von ihnen in Ostpreußen mit einem untilgbaren Schandmale
bedeckt haben.
Die Bekleidung, Ausrüstung und Bewaffnung der in erster Linie
verwandten Streitkräfte entsprechen den Anforderungen der Zeit. Die
Bekleidung besteht aus einer graugrünen Felduniform, einreihigem
Waffenrock, Stiefelhose und Schirmmütze.
Die Infanterie führt das 7,62 mm-Gewehr M/93, System Mossin
(Nagant) mit Magazin für fünf Patronen im Mittelschaft, Visier-
einrichtung bis 1920 m und stets aufgepflanztem Bajonett. Die
Taschenmunition beträgt 120 Patronen.
Die Kavallerie ist mit dem gleichkalibrigem Dragonergewehr 91
und 40 Patronen Taschenmunition ausgerüstet. An der Säbelscheide
ist ein aufpflanzbares Bajonett angebracht. Bei dem Kosakengewehr
M;91 fehlt dasselbe. Die gesamte Reiterei führt im ersten Gliede
Stahlrohrlanzen.
Die mit abnehmbaren Schutzschilden versehenen Maschinengewehre
nach dem System Maxim entsprechen in Laufkonstruktion und
Munition dem Infanteriegewehr und können in der Minute 600 Schuß
m — a a p u -M
Die Heere unserer Gegner. 453
abgeben. Bei der Infanterie ruhen sie auf fahrbaren Lafetten,
während sie bei der Kavallerie auf zweirädrigen Karren oder Trage-
tieren mitgeführt werden.
Die fahrende und reitende Artillerie hat das 7,62 em-Putilow-
Geschütz 00 und 02 mit Rohrrücklauf und Schutzschilden. Die
Munition besteht aus Granaten und Schrapnells. Die größte Schuß-
weite beträgt 6400 m im Aufschlag- und 5500 m im Brennzünder-
feuer. An Munition werden in der Gefechtsbatterie. der Batterie-
reserve und dem Artilleriepark für jedes Geschütz der leichten fahrenden
bzw. reitenden Artillerie 412 bzw. 168 Schuß mitgeführt, weitere
600 Schuß befinden sich in den Lokalartillerieparks. Wie weit der
Ersatz des Feldmörsers durch die leichte 12,19 em-Feldhaubitze durch-
geführt ist, ist nicht bekannt geworden. Die schwere Artillerie des
Feldheeres besteht aus 15 cm-Feldhaubitzen und aus 42 Linien-
kanonen Schneider zu 10,67 cm. Der anfangs beobachtete Um-
stand, daß viele Geschosse nicht sprangen, weil sie mit Sand gefüllt
waren, macht sich in geringerem Maße noch immer bemerkbar.
Die Heeresleitung hat seit dem Kriege in der Mandschurei
zweifellos Fortschritte gemacht. Zwar spricht die Schlacht bei
Tannenberg für ein gewisses, zum Teil wohl durch die mangelnde
Beweglichkeit der Truppen verschuldetes Ungeschick der Führung,
während die opfervollen Kämpfe um Przemysl neben der Energie
der Führer die volle slawische Nichtachtung des Blutes der Stürmer
erkennen lassen, im ganzen muß aber doch die Kraft der Heeres-
leitung anerkannt werden. Auch war bisher ein gewisses Geschick in
dem bei den nur spärlich gesäten Eisenbahnen und den schlechten
Wegen besonders schwierigen Herüberwerfen der ungelenkten Heeres-
massen nicht zu verkennen. Wie sie sich allerdings aus der seit der
Schlacht von Kutno eingetretenen Krisis herauswickeln wird, das -
wird abgewartet werden müssen.
Die Gefechtsvorschriften für die Infanterie, die wie das neue
französische Reglement erst wenige Monate vor dem Kriege heraus-
gegeben und daher den Truppen auch noch nicht in Fleisch und Blut
übergegangen sind, suchen den modernen Anforderungen möglichst
gerecht zu werden. Die Neigung zur reinen Defensive in tief ge-
gliederten Stellungen ist entschieden verworfen, dagegen der Wert
der Offensive und Selbsttätigkeit hervorgehoben. Aber die Defensive liegt
den Russen zu sehr im Blut, sie ist begründet in dem slawischen
Herden- und Selbsterhaltungstrieb und dem sich aus ihm ergebenden
Mangel an Selbstvertrauen und Selbsttätigkeit. Jahre werden ver-
gehen, bis in dieser Beziehung wird Wandel geschaffen werden können.
Vorläufig ist der Russe nur schwer aus seinen tiefen, mit Geschick
454 Die Heere unserer Gegner.
und Schnelligkeit angelegten Schützengräben nach vorwärts heraus-
zubringen, hinter denen bereits während des Gefechts die Bevölkerung
neue anlegen muß, ein Beweis für das geringe Zutrauen, welches die
schlecht schießende Infanterie zu ihrer eigenen Widerstandskraft hat.
Wo zum Angriff übergegangen wurde, da erlahmte er meist sehr
schnell infolge des Strebens, Deckungen zu suchen oder zu schaffen,
zumal er aus Mangel an Beweglichkeit der Truppen noch immer in
zu dichten Formen geführt wurde und daher mit außerordentlichen
Verlusten verbunden war. Daß trotz derartiger Verluste die An-
griffe in der Schlacht bei Lemberg mit großer Zähigkeit immer
wieder geführt werden konnten, war lediglich dem steten Einsetzen
der ununterbrochen anlangenden Verstärkungen zu danken.
Die minderwertigste Waffe der russischen Armee ist ihre
Kavallerie. Sie hat die Erwartungen nicht erfüllt, die man bei ihrer
Stärke hegen mußte. Abgesehen von den Kosaken, die Naturreiter
sind, reitet der Russe schlecht und ist ein schlechter Pferdepfleger.
Naturgemäß kommt hier der Mangel an Selbsttätigkeit ganz besonders
zum Ausdruck. Wiederholt haben kleinere preußische und öster-
reichische Kavallerieabteilungen stärkere russische Massen werfen
können, deren einzelne Teile sich nicht rechtzeitig unterstützt hatten.
Die aufgelöste Attackenform (Lava) hat sich nicht bewährt. Die
Aufklärung — auch die durch die Flieger — scheint nicht genügt
zu haben. Die Kosaken haben gänzlich versagt und nur im Morden
und Plündern großes geleistet.
Die beste Waffe der russischen Armee ist die Artillerie, die sehr
geschickt ihre Stellungen einnimmt und auch gut schießt, in ihrer
Wirkung aber vielfach durch das Nichtkrepieren der Geschosse be-
einträchtigt wird. Sehr schwach ist die Ausstattung der Armee mit
Haubitzen und schwerer Artillerie, doch soll angeblich Japan
wenigstens mit letzterer ausgeholfen haben.
Daß der Train nicht die gestellten Anforderungen erfüllen kann,
liegt bei seiner mangelhaften Organisation auf der Hand. Für die
höhere Truppenführung müssen hieraus fortlaufend außerordentliche
Schwierigkeiten erwachsen, wenn auch bisher darüber nichts ver-
lautet.
Den größten Krebsschaden der Armee bildet die Verwaltung.
Die bei ihr eingerissene Korruption ist weltbekannt. Daß die bisher
verwandten Geschosse der Artillerie teilweise mit Sand gefüllt waren,
wurde schon erwähnt. Nicht besser steht es um die Verpflegung.
Auch die Konservenbüchsen waren zum Teil mit Sand gefüllt. Wie
schr die Truppen trotz aller Genügsamkeit anfangs Mangel litten,
ist schon oft berichtet worden. Bei der Armut des Landes und den
Die Heere unserer Gegner. 455
seither vereinigten großen Massen kann hierin keine Besserung ein-
getreten sein. Zweifellos hat der Hunger dazu beigetragen, daß sich
so viele Russen gefangen gegeben haben.
Nicht besser steht es um das Sanitätswesen. Die furchtbaren
Verluste haben alle Erwartungen weit übertroffen. Dazu haben
schwere Epidemien in erschreckender Weise um sich gegriffen. Den
sich hieraus ergebenden Anforderungen gegenüber haben sich die
sanitären Vorkehrungen in keiner Weise als genügend erwiesen. Es
wird berichtet, daß bis Moskau fast alle größeren Gebäude mit Ver-
wundeten und Kranken gefüllt seien und in ihnen Zustände herrschen
sollen, wie Wereschtschagin sie verewigt hat. Der Abgang an Toten
soll infolgedessen ein ungeheurer sein.
Ein großer, die Aufstellung neuer Truppenteile erschwerender
Mißstand besteht auch in dem Fehlen von Reservebeständen an Be-
kleidung, Ausrüstung und Bewaffnung. Die Ausstattung der in
erster Linie verwandten Truppen war gut, die der in zweiter Linie
stehenden ließ bereits zu wünschen, und für neue Truppen fehlt es
an allem. Schon Ende Oktober wurde aus Warschau berichtet, daß
dort Infanterie mit ganz alten Gewehren durchgekommen sei, an
denen statt der Bajonette alte Kavalleriesäbel mit Stricken befestigt
gewesen wären. Nach Zeitungsnachrichten sollen sich in den Depots
der Infanterie-Regimenter nur noch je 100 Gewehre befinden. Auf-
fallend ist jedenfalls die große Zahl der unbewaffneten Gefangenen.
An Geschützen zum Ersatz der verloren gegangenen, deren Zahl
bereits auf 1600 angegeben wird, soll es bei der geringen
Leistungsfähigkeit der Putilowwerke fast ganz fehlen. Angeblich hat
man sich zu helfen gesucht, indem man Geschütze der kaukasischen
Armee herangezogen hat, was sich jetzt strafen dürfte. Auch die
Ergänzung des Pulvers soll wegen Mangels an Salpeter auf Schwierig-
keiten stoßen.
Der Vollständigkeit halber seien hier noch die auf dem Kriegs-
schauplatz gelegenen Festungen erwähnt. Von diesen können nur
Kowno, Nowogeorgiewsk und Brest-Litowsk einem ernsthaften Angriff
Widerstand leisten. Die Forts von Warschau, die Befestigungen von
Iwangorod und das wolhynische Festungsdreieck sind veraltet.
Ossowez und einige noch am Njemen und Narew gelegene verein-
zelte Werke haben nur die Bedeutung von leicht zu beseitigenden
Sperren. Wie weit der in großem Stil geplante Ausbau von Grodno
schon ausgeführt ist, ist unbekannt.
Ziehen wir aus den vorstehenden Ausführungen die Schluß-
folgerung, so wird sie dahin lauten, daß die russische Armee nicht
durch ihren inneren Wert, sondern nur durch ihre zahlenmäßige Stärke
456 Die Heere unserer Gegner.
gefährlich ist, vorausgesetzt, daß die Führung von dieser Gebrauch zu
machen versteht. Schon aber ist die Einbuße an Zahl eine un-
geheure. Bereits am 1. November wurde die Zahl der Toten auf
327000, die der Verwundeten auf 575000 und die der Gefangenen
auf 280000 Mann (darunter 4000 Offiziere) angegeben, so daB die
Gefechtsverluste damals schon 1182000 Mann betragen haben würden.
Von den Verwundeten dürften bei dem schandbaren Zustand der
sanitären Einrichtungen nur wenige wieder dienstfähig werden. Seit-
her sind weitere 100000 Mann bei Kutno, Lodz usw. zu Gefangenen
gemacht, und mindestens ebenso hoch wird der Abgang an Toten
und Verwundeten in diesen Kämpfen gerechnet werden müssen.
Außerdem sollen im ganzen über 150000 Mann durch Krankheiten
dahingerafft sein. So beträgt der gesamte Abgang schon 1532000
Mann, d. h. mehr als Dreiviertel der ursprünglich gegen Deutschland
und Österreich aufgestellten Streitkräfte und mehr als der ganze
fechtende Stand derselben. Wieweit es bisher möglich gewesen ist,
diese Verluste zu decken, entzieht sich der Beurteilung; mehr als zur
Hälfte wird es kaum haben geschehen können, so daß wir annehmen
können, daß die uns und den Österreichern gegenüber stehende Armee
zurzeit ungefähr 1235000 Mann stark sein wir. Und wie die
Truppen an Zahl eingebüßt haben, ‘so auch an inneren Wert. Vier
Korps sind ganz vernichtet, und alle anderen haben schwer gelitten.
An Stelle der ursprünglichen Kämpfer stehen zumeist schlecht aus-
gerüstete Ersatzmannschaften in den gelichteten Reihen, denen es bei
den unverhältnismäßig großen Verlusten an Offizieren an der nötigen
Zahl von Führern fehlt. Dabei sind die Aussichten für weiteren Ersatz
sehr schlecht, denn wenn es auch nicht an Leuten fehlt, so doch nicht
nur an Offizieren, sondern auch an Waffen usw. Es kommt aber auch
noch etwas anderes hinzu. Die 400000 Mann Linien- und Reserve
truppen, die früher zum Schutz des Küstengebiets des Schwarzen Meeres,
des Kaukasus, Turkestans, in Sibirien und in und bei Petersburg als
unentbehrlich bezeichnet wurden, dürften jetzt nach der Kriegs-
erklärung der Türkei für diese Zwecke nicht mehr ausreichen. Schon
hat der Generalgouverneur des Kaukasus um Verstärkungen gebeten,
und auch nach Bessarabien sollen weitere Kräfte in Marsch gesetzt
sein, um die dortigen Truppen auf 3 Korps zu bringen. Es
scheint sich aber auch im Inneren des gewaltigen Reiches zu
regen, denn bereits wird von Revolten berichtet, zu denen die
fortgesetzten Einziehungen von Reservisten — für die Reichswehr (?)
— und von Rekruten — für die Ersatztruppen — Anlaß gegeben
haben. Und ob das Elend in dem teilweise von Mißernten und
Seuchen heimgesuchten Lande bei der so schon herrschenden Gärung
Die Heere unserer Gegner. 457
nicht noch ernstere Aufstände hervorrufen wird, ist noch nicht ab-
zusehen. Daher kann die Zahl von 1235000 Mann, die jetzt noch
gegen uns und Österreich im Felde stehen dürften, als das Höchst-
maß für die augenblickliche Leistungsfähigkeit Rußlands angesehen
werden, und dieses wird schwerlich in der Lage sein, die kommenden
Verluste einigermaßen zu ersetzen. Gewiß ist die zahlenmäßige Stärke
der russischen Armee noch sehr groß, aber bei der hohen Überlegenheit
unserer und der österreichischen Truppen an innerem Wert braucht
sie uns nicht zu schrecken.
Zu Frankreich und Rußland hat sich als Dritter im Bunde
England gesellt. Dank seiner insularen Lage hat es sich bisher
damit begnügen können, fast ausschließlich Seemacht zu sein. Darum
hat es von jeher seine Feindschaft gegen diejenige festländische Mach t
gerichtet, die die zweitstärkste Flotte besaß, in der es eine Gefahr
für seine Abgeschlossenheit wittertee So ist es jahrhundertelang
Frankreichs erbitterter Gegner gewesen, wie es jetzt der unsere ist.
Aber die Bezwingung einer Macht, deren Hauptstärke auf dem Fest-
lande liegt, kann nur auf diesem geschehen. Deshalb hat England
in früheren Jahrhunderten die größten Bündnisse gegen Frankreich
angezettelt und sich jetzt als treibende Kraft dem russisch-fran-
zösischen Bündnis angeschlossen. Doch seine Rechnung sollte es
trügen. Gegenüber dem hohen Wert unserer Flotte hat es bisher
zum ersten Male nicht gewagt, von seiner gewaltigen Übermacht zur
“See Gebrauch zu machen, während der Landkrieg die Aufbietung
starker Kräfte nötig gemacht hat.
Für eine solche war aber England in keiner Weise vorbereitet.
Hatte es doch als einzige unter den europäischen Großmächten trotz
mancherlei Mahnungen das Werbesvstem beibehalten, das ihm nur
die Haltung einer verhältnismäßig schwachen und im Kriege nicht
sehr erweiterungsfähigen stehenden Armee gestattete, von der noch
dazu starke Teil in Ostindien, sowie in Ägypten und den Kolonien
unentbehrlich waren. Außerdem waren noch einige schwache
Kolonialkorps und die eingeborene ostindische Armee vorhanden.
Von dem stehenden Heere standen vor Ausbruch des Krieges in
England 83 Bat., 16 Kav.-Regt., 125 Batl. usw. = 141289 Mann,
in den Kolonien und Ägypten 22 Bat., 3 Kav.-Reg., 4 Batt.
usw. = 41901 Mann,
Ostindien 52 Bat., 9 Kav.-Reg., 56 Batt. usw. = 75807 Mann.
Die Kolonialkorps zählten zusammen 8765 Mann, die eingeborenen
ostindischen Truppen 136 Bat., 38 Kav.-Reg, 12 Batt. = 159450
(im Kriege 214400) Mann.
458 Die Heere unserer Gegner.
Seit dem vorigen Jahr sind die Bataillone nicht mehr in 8,
sondern nur noch in 4 Kompagnien eingeteilt; im Kriege zählen sie
1015 Mann, 2 Maschinengewehre. Die Regimentsverbände der
Infanterie, die meist 2 Bataillone zählen, sind fast sämtlich durch
Abkommandierungen nach Indien und den Kolonien zerrissen. Die
Kavallerieregimenter zählen 3 Eskadrons = 534 Mann (Kriegsstand)
und 2 Maschinengewehre. Die schweren Batterien haben nur +.
alle anderen 6 Geschütze.
Zur Ergänzung der Truppen auf den KriegsfußB und zur Auf-
füllung der Kaders von 70 Reserve- und 27 Extra-Reservebataillone
sollte die Armeereserve (eine Art Dispositionsurlauber) dienen. Eine
zweite Reserve bildete die aus der früheren Miliz entstandene, durch
besondere Werbung mit durchaus unzulänglicher Übungsverpflichtung
ergänzte Spezialreserve, die zur Auffüllung der sehr zahlreichen Hilfs-
formationen des Feldheeres (Trains usw.) und der Ersatztruppenteile
sowie zur Bildung von besonderen Truppenteilen dienen sollte, die
bestimmt waren, die in den Kolonien stehenden Truppen behufs Ver-
wendung auf dem Kriegsschauplatz abzulösen.
Eine außerdem noch vorhandene, sehr unvollzählige und aus fast
unausgebildeten Freiwilligen bestehende milizartige Territorialarmee
war nur für den Schutz des Landes gegen eine Invasion bestimmt.
In 14 Divisionen und 14 berittenen Brigaden sollte sie 207 Bat..
55 Reg. (zu 4 Esk.) Yeomanry, 137 Batt. zählen. Die in den
Kolonien vorhandenen Milizen waren ebenfalls nur für deren unmittel-
bare Verteidigung bestimmt.
Die Feldarmee, d. h. der zur Führung eines kontinentalen Krieges
bestimmte Teil des britischen Heeres besteht aus 6 Infanterie-
divisionen, die 3 Korps bilden, 1 Kavalleriedivision, 2 berittenen Bri-
gaden und den Armeetruppen. Eine Infanteriedivision hat 12 Bat.
(3 Inf.-Brig.), 2 Komp. ber. Inf., 3 Feldart.- und 1 Feldhaubitz-Abt.
zu 3 Batt., 1 schw. Batt. usw. und zählt einschließlich der zahl-
reichen Trains usw. 18664 Mann, 76 Gesch. Die in 4 Brigaden
zu 3 Regimentern eingeteilte Kavalleriedivision ist 36 Esk., 4 reit.
Batt. usw. = 9847 Mann, 24 Gesch. stark; auch sie ist mit Trains
usw. versehen. Die zur Verbindung der vorgeschobenen Kavallerie
mit den Infanteriedivisionen bestimmten berittenen Brigaden zählen
je 1 Kav.-Reg., 2 beritt. Bat. zu 3 Komp. und 2 Maschinengew.,
1 reit. Batt. usw. = 2210 Mann, 6 Gesch. Zu den Armeetruppen
gehören 1 beritt. Brigade, 2 Esk. Spezial-Res.-Kav., 1 Inf.-Bat.,
2 schw. Batt. usw. Die Gesamtstärke der Feldarmee ist auf
160 000 Mann, 492 Gesch. zu schätzen. Bei einer Frontstärke von
Die Heere unserer Gegner. 459
84000 Mann Inf., 6500 Reit., 492 Gesch. ist der Verpflegungsstand
außerordentlich hoch.
Die Besatzungs- und Ersatztruppen wurden zusammen auf
127000, die Territorialarmee auf 270000 Mann geschätzt. Außer
Landes können nur die neueintretenden Rekruten verwandt werden.
Die Unzulänglichkeit der Feldarmee hat die Regierung veranlaßt,
Teile der in den Kolonien stehenden Truppen, sowie auch einen Teil
der eingeborenen indischen Truppen, nach den Höchstangaben bisher
65000 Mann, nach Frankreich zu ziehen. Dafür sind Truppen der
Spezialreserve — zunächst 9 Bat., 11 Batt. — nach Indien geschickt
worden. Auch hat Kanada Freiwillige und Milizen, angeblich 50000
Mann, von denen aber erst 10000 Mann zur Stelle sein dürften,
etwa 10000 Mann zur Verfügung gestellt. Eine weitere Heranziehung
überseeischer Truppen dürfte aber durch die Kriegserklärung der
Türkei, sowie vielleicht auch durch den Burenaufstand unmöglich
geworden sein, es vielmehr jetzt geboten erscheinen, aus England
noch weitere Truppen nach Ägypten und den bedrohten Kolonien zu
schicken. So ist England auf die Hilfsmittel des Heimatlandes an-
gewiesen, wenn es sein Feldheer verstärken will. Das Ergebnis der
Werbung ist aber trotz aller Lock- und Zwangsmittel bisher so gering
gewesen, daß der Ruf nach der allgemeinen Wehrpflicht immer lauter
wird. Damit dürfte es aber wohl noch lange sein Bewenden haben.
Vorläufig hat das Parlament sich mit der Zustimmung zur Verstärkung
des Heeres auf 1 und sogar 2000000 Mann begnügt. Doch bei dem
jetzigen System ist das ein unerreichbares Ziel. Man wird einstweilen
zufrieden sein müssen, wenn man die Abgänge wird ersetzen können, die
bereits am 1. November 57000 Mann betrugen und inzwischen auf über
80000 Mann gestiegen sein sollen. An die Bildung der von Kitchener
gewünschten Reservearmee ist nicht zu denken. Selbst wenn sich
genügend Mannschaften fänden, so würde es an Offizieren und Unter-
offizieren zu ihrer Ausbildung und Führung fehlen. Herrschte doch
bereits vor dem Kriege großer Mangel an ersteren. Die Engländer
selbst rechnen damit, daB ein Teil der Reservearmee erst im Früh-
jahr, die große Masse derselben aber erst gegen Ende nächsten Jahres
verfügbar werden wird. Bis dahin werden wir aber hoffentlich mit
unseren anderen Gegnern fertig geworden sein.
Die reguläre Armee ergänzt sich, wie schon gesagt wurde, durch
inländische Werbung, natürlich aus der Hefe des Volkes. Hierin
liegt auch zum Teil die Erklärung für die schlechte Disziplin, von
der die im letzten Jahre vorgekommenen 36 Meuterein Zeugnis ab-
legen. Für die Intelligenz des Ersatzes spricht es gerade nicht, daß
sich unter den angeworbenenen Rekruten durchschnittlich 10°/, An-
460 Die Heere unserer Gegner.
alphabeten befinden. Die Geworbenen müssen zwischen dem
vollendeten 17. und 30. Lebensjahre stehen und sich zu einer zwölf-
jährigen Dienstzeit verpflichten, davon sieben Jahre bei der Fahne
und fünf in der Reserve. Verlängerung der aktiven Dienstzeit bis
zum 42. Lebensjahr ist gestattet. Der Jahresbedarf an Rekruten
beträgt etwa 35000 Mann. Er kann nur schwer und in der Haupt-
sache nur durch sehr junge Mannschaften gedeckt werden. Die
lange Dienstzeit und die nationale Vorliebe für Sport machen aus
dem Engländer einen guten Soldaten. Es ist aber sehr anspruchs-
voll, und wenn er leistungsfähig bleiben soll, muß er namentlich seine
gewohnte Nahrung in reichlichem Maße erhalten.
Dem englischen Offizierkorps wurde bis vor kurzem seine einheit-
liche Zusammensetzung aus ähnlichen Kreisen wie bei uns nach-
gerühmt. Infolge des großen Mangels haben neuerdings aber auch
andere Elemente Zutritt gefunden. Und auch ihren Anschauungen
nach sind die englischen Offiziere nicht mit den unseren zu ver-
gleichen; wenn man sie als „gentlemen“ bezeichnen will, muß man
diesen Begriff — in englischer Weise — auf Äußerlichkeiten be-
schränken. Für den Krieg ist der Offizier fast noch mehr als der
Soldat durch seine Übung in allen Arten des Sportes und durch
mannigfache koloniale Unternehmungen gut vorbereitet. Freilich in
Europa hat England seit 60 Jahren keinen Krieg geführt. In dieser
Beziehung fehlte es an allen Erfahrungen. Daher hat dann auch bei
den Manövern die Gewandtheit der Führung bis in die höchsten
Stellen hinauf viel zu wünschen gelassen. Die inzwischen gemachten
blutigen Erfahrungen dürften bereits manches gebessert haben.
Was die indischen Truppen anlangt, so sollen sie sich, wo Teile
von ihnen schon in den Kampf gekommen sind, gut geschlagen
haben. Man soll es indessen für nötig befunden haben, sie auf die übrigen
Truppen zu verteilen. Ihrer ersprießlichen Verwendung stehen aber die
klimatischen Verhältnisse des Kriegsschauplatzes entgegen, trotzdem
ein großer Teil, wie die Gourkahs, aus dem höher gelegenen Norden
Indiens stammt. Bereits wird auch gemeldet, daß die zuletzt an-
gekommenen Truppen zur Entlastung der Franzosen in Algier und
Maroko verwandt werden sollen, wo sich das Umsichgreifen des
heiligen Krieges bereits fühlbar machen soll. Eine große Erschwernis
für die Verwendung der Inder liegt in ihrem großem Troß.
Die Felduniform der Engländer ist kakifarbig. selbst bei der
schottischen Infanterie.
Die Bewaffnung der Armee entspricht den modernen Anforde-
rungen. Die Infanterie ist mit dem 7,7 mm-kalibrigen Lee-Enfield-
Gewehr mit 10 Patronen fassendem Magazin im Mittelschaft be-
Die Heere unserer Gegner. 468
waffnet; einige Regimenter führen ein neues 6,9 mm-Gewehr. Die
Taschenmunition besteht aus 115 Patronen. Die Maschinengewehre
sind teils nach dem System Maxim, teils nach dem System Colt kon-
stryiert und haben das gleiche Kaliber wie das bisherige Infanteriegewehr.
Die Kavallerie führt Säbel und Karabiner, zum Teil auch Lanzen.
Die Artillerie hat Rohrrücklaufgeschütze mit Schutzschilden.
Das Kaliber bei der fahrenden Artillerie ist 8,38, bei der reitenden
7,62, bei der Haubitze 11,75 und bei der schweren Artillerie 12 cm.
Die Fechtweise der Infanterie ist veraltet und schwerfällig. Die-
Kavallerie soll den Erwartungen nicht entsprechen. Gelobt wird die
Artillerie.
Im ganzen muß die englische Armee als ein sehr willkommener
und brauchbarer Zuschuß für die französische bezeichnet werden. Doch ist
sie vorläufig nicht stark genug, den Ausschlag für diese zu geben, und
daß sie es je werden wird, erscheint mehr als zweifelhaft. In diesem
Kriege der Millionenheere spielt die englische Armee nur eine Nebenrolle:
Frankreichs anderer Verbündeter auf unserem westlichen Kriegs-
schauplatz, Belgien, hatte beim Kriegsausbruch ein Friedensheer
von 43000 Mann, das bei einer Mobilmachung planmäßig auf
6 Divisionen = 101000 Mann Feldtruppen und 81500 Mann Ersatz-
und Besatzungstruppen gebracht werden sollte. Doch dazu kam es.
nicht. Die Mobilmachung hatte kaum begonnen, als das Land bereits
von unseren Heeresmassen überschwemmt wurde. Durch den raschen
Fall von Lüttich und Namur ging dann noch ein starker Bruchteil
der wartenden Streitkräfte verloren, während der Rest mit Ausnahme
eines kleinen Teils, der sich an die französische Armee anschloß, in:
Antwerpen eingeschlossen wurde, bei dessen Fall es nur schwachen
Kräften gelang zu entkommen. Es muß anerkannt werden, daß diese-
schwachen und schwer erschütterten Heeresreste bei der Verteidigung
des letzten schmalen Striches ihres heimischen Bodens sich über
alles Erwarten gut geschlagen und ihren Verbündeten probe Dienste:
geleistet haben.
In den letzten Kämpfen sollen sie aber so furchtbare Verluste:
erlitten haben, daß die französische Heeresleitung, die die 6. Division.
bereits nach Paris zurückgeschickt hatte, sich entschlossen haben soll,
den kaum noch verwendbaren Rest auf die französischen und.
englischen Truppen zu verteilen. Damit und mit der Unmöglichkeit
einer Ergänzung würde die belgische Armee, deren Gesamstärke nur
noch 20000 Mann betragen soll, als solche aufhören zu bestehen.
Ein ähnliches Geschick dürfte auch der Armee Serbiens drohen,
dessen Armee nach den letzten Erfolgen der Österreicher vor dem
Zusammenbruche zu stehen scheint. Auch Montenegro, das in diesem.
Jahrbücher für die deutsche Armee und Marine. Nr. 519. 33
462 Die Heere unserer Gegner.
Kriege nach den vorangegangenen beiden Balkankriegen überhaupt keine
große militärische Leistungsfähigkeit mehr gezeigt hat, scheint jetzt ganz
am Ende seiner Kräfte angekommen zu sein. So ist denn alle Aus-
sicht vorhanden, daß bald ein namhafter Teil der auf dem südöstlichen
Kriegsschauplatz gefesselten österreichischen Streitkräfte für den
Kampf gegen Rußland verfügbar werden wird.
Von unseren Gegnern bleibt noch Japan zu erwähnen. Dessen
Heer zählt 19 Divisionen, 4 Kavallerie- und 3 Artilleriebrigaden und
wird auf 580000 Mann berechnet. Die japanischen Truppen sind
ganz modern bewaffnet, gut ausgebildet und von hervorragender
Tapferkeit und Disziplin. Ob aber uns gegenüber die im Kampfe
mit Rußland errungenen Lorbeeren nicht rasch dahin welken würden,
erscheint sehr fraglich. Die Eroberung von Tsingtau ist keine Heldentat
gewescen. Japanische schwere Artillerie soll sich ja ber:its bei der fran-
zösischen und russischen Armee befinden. Daß aber Japan dem Drängen
Englands und neuerdings auch Rußlands nachgeben und stärkere Kräfte
nach Europa senden wird. erscheint mehr als zweifelhaft. Seine
Politik ist Abonteuern abgeneigt und es weiß, daß ein Sieg Rußlands
und Englands für Japan größere Gefahren birgt als ein solcher, Deutsch-
lands. Höchstens dürfte es für die Niederhaltung Indiens sorgen,
wenn England nicht rechtzeitig erkennt, daß es hier die Japaner nie-
mals wieder los werden wird.
Man hat berechnet, das von den 1800 Millionen Bewohnern der
Erde jetzt nach dem Eintritt des Islams in den Kampf die Hälfte
an demselben beteiligt ist. Es ist ein Weltkrieg, wie er noch nie
dagewesen ist, und sein Ausgang wird voraussichtlich für lange Zeit
für die äußere Entwickelung der Staaten bestimmend sein. Die
Übermacht der Feinde ist groß, aber ihre Hilfsmittel sind, was Ruß-
land und England anbetrifft, noch nicht voll entwickelt und bedürfen
wohl noch langer Jahre, um zu einer solchen Entwickelung zu 'ge-
langen. Daß der auf die Dauer nicht zu vermeidende Krieg nicht erst
später zum Ausbruch gekommen ist, ist ein nicht hoch genug zu schätzen-
der Glücksfall für uns und die ganze germanische Rasse, gegen die er
gerichtet ist. Was in Jahren vielleicht nicht mehr möglich gewesen
wäre, noch ist es möglich, noch ist die feindliche Übermacht nicht so groß,
daB wir sie nicht besiegen könnten. Aber wir können nicht nur siegen,
wir müssen es auch, denn es handelt sich um unser politisches Dasein
und um die Kultur der Welt, wie die Schandtaten unserer Gegner be-
weisen. Und diese Erkenntnis hat den wundervollen Geist erweckt,
der im Volk und Heer lebt, nicht nur bei uns, sondern auch bei `
unseren Verbündeten. Er bürgt uns dafür, daß wir nicht nur siegen
können und müssen, sondern auch siegen werden.
Zum 25jährigen Jubiläum des modernen deutschen Schießwollpulvers: 463
XXXI.
Zum 25jährigen Jubiläum des modernen
deutschen Schiesswollpulvers.
Von
Oberst z. D. v. Neyman.
Die Einführung und beginnende Massenfertigung des deutschen
Schießwollpulvers geht auf das Jahr 1889 zurück.
Über seine Herstellungsweise hat der Kgl. Militärchemiker Dipl.-
Ing. Ziegler im Jahrgang 1913 der „Kriegstechnischen Zeitschrift“
unter der Aufschrift „Moderne Kriegspulver. Ihre Geschichte, Her-
stellung, Wirkungsweise und Prüfung“ ausführlich berichtet.
Im folgenden soll einiges über die Versuche mitgeteilt werden,
die in den Jahren 1887—1889 in den Kgl. Pulverfabriken der Ein-
führung des „rauchlosen Pulvers“ vorausgingen.
Allerdings hatten auch schon etwa 30 Jahre früher Versuche
zur Herstellung von Treibmitteln aus Schießbaumwolle stattgefunden,
dieselben führten jedoch damals zu keinem Erfolge.
Um ein vollständiges Bild zu erhalten, mögen hier die ge-
schichtlichen Daten wiedergegeben werden, die zum Teil aus der
obengenannten Arbeit des Dipl.-Ing. Ziegler entnommen sind: |
Schönbein und Böttger erfanden 1846, beide selbständig, die
Schießbaumwolle.. Noch im selben Jahre gelang es auch dem
Artillerieoffizier Werner Siemens in Berlin und Professor Otto in
Braunschweig, ein gleiches Präparat herzustellen. |
Mit der Siemensschen Schießbaumwolle wurden in der Pulver-
fabrik Spandau sogleich Versuche angestellt, aber 1847 wegen un-
günstiger Ergebnisse wieder aufgegeben.
In den fünfziger Jahren wurden in Österreich durch Hauptmann
v. Lenk und in der Pulverfabrik Spandau durch Major, später Oberst
Otto Treibmittel für Gewehre und Geschütze aus gesponnenen Schieß-
wollsträhnen hergestellt.
1858 kamen in Preußen 1200 Infanteriepatronen mit Schieß-
wolladung mit nicht ungünstigem Ergebnisse zum Beschuß. 1859
konnte Österreich mehrere Batterien ins Feld führen, deren Treit-
ladungen aus dergleichen Schießwolle bestanden. Jedoch brachten
verschiedene Explosionen die Verwendung von Schießwolle zu Treib-
ladungen in Preußen im Jahre 1863 und in Österreich im Jahre 1865
für mehrere Jahrzehnte zum Stillstand.
33*
464 Zum 25jährigen Jubiläum des modernen deutschen Schießwollpulvers.
Als indessen noch in den sechziger Jahren der englische
Chemiker Abel die Schießwolle durch Mahlen und gehöriges Aus-
kochen in sogenannten Mahl- und Waschholländern in ihrer Lager-
beständigkeit wesentlich verbesserte. begann man wieder Schießwolle
herzustellen, sie jedoch für militärische Zwecke zunächst nur als
Sprengmittel zu verwenden, z. B. als Sprengladungen für Torpedos,
Granaten und als Kavalleriesprengpatronen.
1884 wurde in der Kgl. Pulverfabrik bei Hanau die Schieß-
wollfabrikation im Großen aufgenommen.
Als Mitte der achtziger Jahre der französische Chemiker Vieille
die Schießwolle durch Anwendung eines geeigneten Lösungsmittels in
eine plastisch bildsame Masse überzuführen wußte, war der Ausgangs-
punkt für das moderne Schießwollpulver gefunden.
Neben der Schießbaumwolle wurde auch ziemlich früh nitrierter
Holzzellstoff zu Spreng- und Treibmitteln verwendet. So stellte der
ehemalige Oberst Schultze das sogenannte „Holzpulver“ her, auch
„weißes“ oder „Schultzepulver“ genannt. Dasselbe wurde zumeist für
Jagdzwecke verwandt, war aber auch, in gröberer Form, in den
achtziger Jahren für Sprengladungszwecke in der deutschen Armee
in Benutzung.
Die Köln-Rottweiler Pulverfabriken hatten ein Schießpulver aus
nitrierter Holzkohle ausprobiert, das auch, nach der Erfindung des
Vieilleschen Schießwollpulvers, für kurze Zeit unter dem Namen
R.C.P. in der deutschen Armee eingeführt war, bis es den Kgl.
Pulverfabriken zu Spandau und bei Hanau, wie erwähnt, im Jahre
1889 gelang, ein dem französischen Schießwollpulver mindestens
gleichwertiges Pulver aus reiner Schießwolle herzustellen.
Der Vollständigkeit halber sei noch angeführt, daß auch Nitro-
glyzerin, neben seiner‘ Verwendung als Sprengmittel, zur Herstellung
von Treibmitteln auszunützen versucht wurde. Im Jahre 1888 er-
hielt Alfred Nobel ein Patent auf ein Pulver aus Nitroglyzerin in
Verbindung mit Kollodiumwolle, das unter dem Namen Ballistit
zunächst in der italienischen Armee eingeführt worden ist. Später
fanden auch in der deutschen Armee für bestimmte Geschütztypen
Nitroglyzerinpulver Verwendung.
. Was nun die Versuche der beiden Kgl. Pulverfabriken aus den
Jahren 1887—1889 anlangt, so waren dieselben anfänglich ein Tasten
nach den verschiedensten Richtungen hin. Wie sehr man noch auf
das alte Schwarzpulver eingeschworen war, zeigt die Tatsache, daß
vorübergehend Gemenge von Schwarzpulver mit Schießwolle probiert
wurden. Wenn auch in der Folge hauptsächlich Schießbaumwole
als Grundstoff diente, so hatten doch noch andere Stoffe die Ehre,
Zum 25jährigen Jubiläum des modernen deutschen Schießwollpulvers. 465
zu den Versuchen herangezogen zu werden, z. B. Holzstoff, Moos,
Mannazucker usw., selbstverständlich nach voraufgegangenem Nitrie-
rungsprozeß.
Um die Schießwolle nach dem Vorgange von Vieille formbar zu
machen, wurden die verschiedensten Lösungsmittel versucht. Es
seien u. a. angeführt: Essigäther, Ameisenäther, Isobutylalkohol,
Azeton. Amylacetat, Äthyläther, Ätheralkohol u. dgl.
Man wandte auch verschieden hergestellte Schießwollsorten mit
größerer und geringerer L osnpnKer; desgl. Gemenge von Schießwolle
mit Kollodiumwolle an.
Ferner benutzte man allerlei Zusätze, von denen einige die
folgenden schönen Namen führten: Trinitrophenol, Trinitrotoluol, Azotin,
Hexanitrodiphenylamin, Resorzin, Tetranitronaphthalin, Kampher usw.
Wenn man sich vorstellt, daß die verschiedenen Grundstoffe mit
den zahlreichen Lösemitteln und den mannigfachen Zusätzen kom-
biniert wurden und daß außerdem sowohl Lösemittel wie Zusätze
in den verschiedensten Mengeverhältnissen ausprobiert werden mußten,
so kann man sich wohl ein ungefähres Bild von der Masse der her-
gestellten Versuchspulversorten machen. Auch die äußere Form fand be-
sondere Berücksichtigung. Neben der Blättchenform in verschiedenen Ab-
messungen wurde ebenso die Körnerform versucht. Alle diese un-
zähligen, mit den primitivsten Mitteln hergestellten Versuchssorten
mußten nun fortlaufend auf Anfangsgeschwindigkeit und Gasdruck
beschossen werden.
Erschwert und vervielfältigt wurden die Versuche noch dadurch,
daß in kurzen Zwischenräumen die Gewehrkaliber wechselten. War
man im Anfange noch von dem 11 mm-Gewehr ausgegangen, so
folgten bald das 9 mm- und 3 mm-Kaliber, ja auch noch kleinere
Gewehrkaliber wurden in den Versuchsbereich gezogen.
Mit dem Kaliber änderte sich die Länge und Form der
Patronenhülse sowie des Geschosses. Jede einzelne Konstruktions-
änderung schuf aber wieder andere Bedingungen für die ballistische
Wirkung des Treibmittels. Es mußten demgemäß immer wieder neue
Versuchsreihen durchprobiert werden. Ihre Zahl war Legion. Dazu
traten die Geschützpulverversuche.
Sicher waren die Versuchsjahre in hohem Grade anregend und
interessant, aber ebenso auch mühevoll und aufregend. Tagsüber
Herstellung der Versuchssorten bzw. deren Überwachung abwechselnd
mit fortlaufenden Probebeschüssen der inzwischen fertiggestellten
Sorten, des Abends Zusammenstellung und Vergleichen der Beschuß-
ergebnisse, Grübeln über neue Kombinationen sowie über die ein-
fachste und beste Art der Herstellung und der hierzu erforderlichen
466 Zum 25jährigen Jubiläum des modernen deutschen Schießwollpulvers.
mechanischen Einrichtungen. Waren die Pulversorten anfänglich mit
den primitivsten Mitteln von Hand hergestellt worden, so wiesen
doch die Beschußergebnisse darauf hin, in die mechanische Bear-
beitung des Pulvers durch entsprechende maschinelle Einrichtungen
größere Exaktheit hineinzubringen. So wurde aus dem einfachen
Gefäß, in dem der gelatinierte Schießwollbrei mit einem Rührholz
von Hand gemengt wurde, mit der Zeit eine maschinell angetriebene
moderne Misch- und Knetmaschine; aus der Holzrolle, mit der die
Pulvermasse wie Nudelteig ausgewellt wurde, ein Walzwerk, das
Blattstreifen von genauen Abmessungen lieferte. Die ursprünglichen
Hand- bzw. Heckenscheren, die die Blattstreifen in Blättchen
zerschnitten, verwandelten sich nach vielen Versuchen und Be-
mühungen in komplizierte Blättchenschneidemaschinen. Natürlich gab
es dabei mancherlei Umwege. Es wurden u. a Nudelpressen, Papier-
schneidemaschinen, Bohnenschneidemaschinchen u. dgl. in den Ver-
suchsbereich gezogen. Um die Schnittränder der einzelnen Blättchen
mechanisch glatter zu machen, wurden neben dem Polieren mit
Graphitzusatz versuchsweise auch verschiedene Lacksorten in den
Poliertrommeln zugesetzt. Kurz, es wurde eben alles versucht, was
irgendwie zum Erfolge beitragen konnte. Man träumte von nichts
anderem als von Versuchspulversorten. Die Gaukelbilder der er-
hofften Erfolge oder unerwünschter Mißerfolge beunruhigten selbst den
Schlaf der Nächte.
Dazu kamen einige, den Nerven gerade nicht sehr zuträgliche
Explosionen, obwohl man in der Kenntnis und Behandlung der
Schießwolle doch schon ein gut Stück weiter vorgeschritten war als
zu Ottos und Lenks Zeiten. Nicht wenig Kopfzerbrechen bereiteten
auch die vielen, vielen Berichte an die mit der Zeit natürlich immer
ungeduldiger werdenden vorgesetzten Behörden. Es mußte darin
Licht und Schatten so verteilt werden, daß die Aussicht auf baldigen
Erfolg stets rege blieb.
Schließlich aber wurde durch die gemeinsame Arbeit der beiden
Kgl. Pulverfabriken das Ziel erreicht. Und so konnte im Jahre
1889 ein kriegsbrauchbares Schießwollblättchenpulver eingeführt und
im Wege der Massenfertigung hergestellt werden. Wenn auch später
dann noch mancherlei Änderungen und Verbesserungen damit vor-
genommen worden sind, so bleibt doch 1889 das Geburtsjahr des
modernen deutschen Schießwollpulvers, und es trifft sich eigen, daß
wir in diesem Jahre des großen Weltbrandes, bei dem es auf den
blutigen Schlachtfeldern im Westen und Osten seine Feuerprobe
besteht, sein 25jähriges Jubiläum begehen können.
Samaan
Bisheriger Anteil der Feld- und schweren Artillerie an den Gefechten. 467
XXXII.
Einiges über den bisherigen Anteil der Feld-
und schweren Artillerie an den Gefechten der
Monate August bis Oktober 1914.
Von
v. Richter, Generalmajor z. D.
Nach Äußerungen von Mitkämpfern und Berichterstattern
scheint die Artillerie im jetzigen Kriege eine wesentlich andere Rolle
zu spielen als im Russisch- Japanischen. Damals wurde ein sehr hartes
Urteil über sie gefällt. Die russische vergeudete Munitionsmengen,,
ohne damit angemessene Wirkung zu erzielen, weil sie sich nicht
nach den Bedürfnissen der Infanterie richtete und den Kampf auf
übergroße Entfernungen führte, ausgedehnte Geländeabschnitte unter
Streufeuer nahm, in denen sich kein Feind befand, und des Nachts
ohne genügende, Tags zuvor getroffene Vorbereitung gegen wirkliche:
oder nur vermutete Truppenbewegungen feuerte. Die japanische
wagte es wegen geringerer Reichweite ihres Schrapnell-Bz-Bereichs
nicht. auf wirksame Kampfentfernungen an die russische heranzugehen,
konnte deshalb gegen diese nicht aufkommen und griff wegen zu
weiten Abbleibens zu spät oder gar nicht in die Verfolgung ein. Be-
sonders absprechend urteilte man über das Schrapnell. weil es den
Erwartungen in keiner Weise entsprochen habe, zu denen es nach
Friedenserfahrungen berechtigen mußte. Man übersah oder wollte
übersehen, daß Feldgeschütze, um die es sich zu Beginn des Krieges
fast ausschließlich handelte, gegen Truppen in stark ausgebauten
Befestigungsanlagen, wie sie die Russen schufen, nichts auszurichten
vermögen und daß die Artillerie schon einen großen Erfolg dadurch
erreichte, dab sie den Gegner in die Deckungen bannte, der
Infanterie so die Annäherung an sie ermöglichend. Die später heran-
gezogenen schweren Kanonen und Haubitzen vermochten an dem ab-
sprechenden Urteil nicht viel zu ändern, weil beide Gegner ihre Ver-
wendung nieht genügend beherrschten oder die Geschoßwirkung nicht
ergiebig genug war.
Im jetzigen Kriege kämpfen Feldkanonen und leichte Haubitzen.
neben der schweren Artillerie des Feldheeres.. Geschütze und Ge-
schosse stehen auf der Höhe der zur Zeit erreichbaren Leistungs-
fähigkeit und sind solange im Gebrauch, daß ihre Verwendung be-
herrscht werden kann. In welchen Gefechten Feld- und schwere
p aia,
468 Bisheriger Anteil der Feld- und schweren Artillerie an den Gefechten.
Artillerie zusammen auftraten und in welchem Stärkeverhältnis zu-
einander, ist ebensowenig auf unserer, wie auf feindlicher Seite be-
kannt. Dort, wo ein deutsches Armeekorps kämpfte, wird auch das
zugehörige Bataillon zu 16 schweren Feldhaubitzen eingesetzt sein.
Bei den Franzosen dürften in den Anfangsgefechten, soweit sie nicht
in Anlehnung an von langer Hand vorbereitete Verteidigungsanlagen
stattfanden. nur wenige oder gar keine schweren Geschütze (kurze
155 mm Kanonen) verwendet sein. Denn ihre Zahl beschränkt sich
auf 8 für jedes Armeekorps und ihr Gewicht macht sie für den Be-
wegungskrieg ungeeignet. Ob in Versuch gewesene leichte oder
schwere Haubitzen noch rechtzeitig zur Einstellung gelangten, entzieht
sich der Kenntnis. Neuerdings sollen in den Befestigungsanlagen bei
Dixmuiden Ende Oktober neue schwere Haubitzen in Tätigkeit ge-
treten sein. —- Das Eingreifen der englischen Artillerie kann nicht
beurteilt werden, da sie mit und neben den französischen Truppen
kämpfte, so daß ihr Anteil am Gefechtsverlauf nicht abzuwägen ist.
Sie wird deshalb wie ein Teil der franzüsischen behandelt. — In
Rußland erfolgt die Zuteilung der schweren Artillerie an die Armeen
nach Bedarf. Hier fehlt also jeder Anhalt über ihre Beteiligung,
soweit sie nicht aus ihrer Wirkung abzuschätzen ist. Nur vereinzelt
ist das möglich, wo für ihre Erfolge kennzeichnende Angaben vor-
liegen. — Der Anteil, der jeder von beiden Waffen im Kampfe zufällt,
ist demnach nicht scharf auseinander zu halten. Es kommt auch
keineswegs auf ein genaues Abwägen an. wenn sie nur je nach ihrer
Leistungsfähigkeit und ihren Aufgaben zum Gelingen beitragen.
Ganz allgemein wird übereinstimmend anerkannt, daß die Artil-
lerie bei Freund und Feind das Ziel schnell und sicher erfasse, die
Entfernung zutreffend ermittele und rasch zur Wirkung gelange, die
gelegentlich als fürchterlich, vernichtend, als in den Reihen des
Feindes oder in den eigenen entsetzlich wütend usw. geschildert wird.
Den französischen Batterien werden die Vorzüge schnellen und zuver-
lässigen Verfahrens besonders nachgerühmt, die ihnen eine weit vor-
geschobene, gründliche Erkundung und nicht selten die genaue Be-
kanntschaft des Geländes sichern. Und wenn von unserer Feldartillerie
behauptet wird, sie sei nicht besser, aber viermal zahlreicher als die
ihrer Gegner, so muß der als zahlenmäßige Überlegenheit aufgetretene
Eindruck doch der besseren Wirkung zugeschrieben werden, da inner-
halb des Armeekorps die Zahl der Geschütze, wenigstens im Ver-
gleich zu Frankreich, die gleiche ist. Es’ mag hier das Urteil
eines englischen Berichterstatters aus den Kämpfen am Yserkanal
als kennzeichnend, wenn auch vielleicht nicht voll beweis-
kräftig angeführt werden, wonach die verbündeten Truppen keine
Bisheriger Anteil der Feld- und schweren Artillerie an den Gefechten. 469
Furcht vor der deutschen Infanterie hätten, aber die Wirkung
der deutschen Artillerie und Maschinengewehre eine gewaltige sei.
Handelt es sich um Verluste der Infanterie durch Feuer der Feld-
artillerie, so werden sie ausschließlich den Schrapnells zugeschrieben.
So setzen die Österreicher 90°/, ihrer bei Mitrovica, allerdings durch
die Serben, verursachten Verwundungen ilınen auf Rechnung
und von den im September in den überfüllten Lazaretten Odessas
untergebrachten zahlreichen Schwerverletzten sollen die meisten durch
Schrapnellkugeln außer Gefecht gesetzt sein. Auch aus unseren Ver-
lustlisten ist zu entnehmen, daß einzelne Kompagnien hauptsächlich
unter Artilleriefeuer schwer gelitten haben. Gegen unsere in ver-
deckter Stellung stehenden Batterien soll die Wirkung franzö-
sischer Schrapnells im allgemeinen gering sein und diejenige der Granaten
nur bis auf wenige Meter vom Aufschlage reichen. Wenn trotzdem
einzelne Batterien auffallend hohe Verluste erlitten, so muß vermutet
werden, daß sie beim Auffahren oder aus der Flanke gefaßt werden
konnten oder sich in offener Stellung dem feindlichen Feuer bieten
mußten. Welcher Gefährdung eine Batterie in solcher Lage aus-
gesetzt sein kann, zeigt das Schicksal einer österreichischen, im Auf-
fahren begriffenen, von der in kurzer Zeit nur noch ein Geschütz
übrig geblieben sein soll.
Auch über Zerstörungen am Feldgerät wird gelegentlich berichtet.
So sind im Gefecht Lei Bialla & russische Geschütze erobert
worden, .von denen aber 2 nicht mehr transportfähig waren. Wie-
wohl nichts darüber verlautete, wodurch die betreffenden Beschädi-
gungen herbeigeführt sind, müssen sie zweifelsohne dem Feuer unserer
Feldgeschütze zugeschrieben werden, die unserer beteiligten Grenz-
schutzabteilung angehört haben dürften. Das ist die nächstliegende
und jedenfalls viel einleuchtendere Erklärung als die Annahme,
Infanteriefernfeuer oder Zerschlagen von Rädern durch die eigene Be-
dienung habe die Fahrbarkeit aufgehoben Auch aus der Schlacht
bei Saarburg sind erhebliche Beschädigungen an allen französischen
Geschützen festgestellt, die in unsere Hände fielen. Welchen Umfang
hier die Zerstörungen erreichten, ist nicht geschildert. Daß Treffer
von Geschossen unserer Feldkanonen oder leichten Haubitzen die
völlige Zerträmmerung von Rädern, Lafetten, Protzen usw. ver-
ursachen können, ist zur Genüge erwiesen.
Dort, wo Granaten der schweren Haubitzen einschlagen, richten
sie geradezu eine Verwüstung an. Ein Augenzeuge zeichnet davon
folgendes Bild: „Der Erfolg gegen eine etwa 75 m hinter einer Deckung
stehende, nur etwa 10 Minuten beschossene französische Batterie war
dır, daß 2 Geschütze, alle Munitions- und der Beobachtungswagen
470 Bisheriger Anteil der Feld- und schweren Artillerie an den Gefechten.
liegen blieben, eine zertrümmerte Lafette mit Rohr auf den neben-
stehenden Munitionswagen hinaufgeworfen war.“ Mit dieser Schilderung
decken sich Friedenserfahrungen und Klagen der Franzosen und Eng-
länder, daß die schweren Haubitzen ihren Truppen Schrecken durch
den Anblick fast zerrissener Verwundeter einjagen, die schwersten
Verluste verursachen und sich der Gegenwirkung durch ihre großen
Schußweiten entziehen. Andererseits haben auch feindliche schwere
Geschütze uns und namentlich unseren Verbündeten ein harten Stand
bereitet, wobei die ungeheuere örtliche materielle und moralische
Wirkung betont wird.
Man mag die Wirkung der schweren Feldhaubitzen noch so hoch
bewerten gegen erkennbare Artillerie in Stellung, „Infanterie in oder
hinter Deckungen und namentlich stärker ausgebaute Anlagen, so kann
sie doch gegen Truppen in Bewegung nicht ergiebig sein. Das liegt
an der nur mäßigen Ausbreitung ihrer durchschlagskräftigen Spreng-
teile und der längeren Flugzeit ihrer Geschosse. Wenn nun von einem
Kriegsteilnehmer veröffentlicht wird, daß eine schwere Batterie, der er
zugehörte, bei eintretender Dämmerung auf 7300 m durch eine
Salve eine feindliche Batterie vernichtet habe, die auf einer Chaussee
im Galopp zuückgehend eine der Entfernung nach bekannte Wege-
kreuzung passierte, so fordert die Behauptung solcher Leistungsfähigkeit
die Kritik heraus. Die Entfernung liegt an der äußersten Grenze
der Schußweite.. War sie nach der Karte abgemessen, so wird sich
ganz naturgemäß ein nicht unerheblicher Unterschied gegen die beim
Schießen herausgekommene ergeben, es wird also schwerlich das Ziel an
dem betreffenden Kreuzungspunkt mit einer Salve getroffen werden oder
höchstens ganz zufällig, War die Entfernung aber bereits früher er-
schossen, so muß die Chaussee derart zerstört gewesen sein, daß eine
Batterie auf ihr nicht mehr galoppieren konnte. Und wie stellt sich
die Beobachtung auf fast 7'/, km bei Dämmerung? Unser Scheren-
fernrohr leistet Außerordentliches, Aber bei Dämmerung auf der
Entfernung noch die Waffengattung, die Bewegungsart und ob Freund
oder Feind unterscheiden zu können, übersteigt das Mögliche. Außer-
dem würde die galoppierende Batterie die gefährdete Stelle wahr-
scheinlich früher hinter sich gelassen haben, als sie die Salve erreichen
konnte. — Die gleiche Batterie soll bei nächster Gelegenheit, während
sie selbst im Auffahren wirksam beschossen wurde, in knapp einer
Viertelstunde eine feindliche Feldabteilung zu drei Batterien lahm-
gelegt haben. Alle Achtung sowohl vor der Bedienung, die in dem
meist sehr schweren Artilleriefeuer der Franzosen ihre Geschütze noch
tadellos bedient, als auch vor der Wirkung gegen Batterien, die sich,
wenn auch in Teilen erkennbar, mit bisher ungeahnter Geschicklichkeit
Bisheriger Anteil der Feld- und schweren Artillerie an den Gefechten. 471
der Geländedeckung anpassen und meist keine zusammenhängende
Feuerlinie bilden. Bevor nicht nähere Angaben vorliegen, die die
ganz außergewöhnlichen Leistungen nach etwa sie begünstigenden
Umständen begreiflich erscheinen lassen, wird man Zweifel hegen
dürfen, ob die behauptete Wirkung in dem Umfange zur Geltung
kam, wie sie der Betreffende wahrzunehmen glaubte.
Es soll hier nicht in ein Abwägen der Vorzüge und Nachteile
der auf den Kriegsschauplätzen verwendeten Geschützkonstruktionen
eingetreten werden. Nur folgendes sei hervorgehoben. Die französischen
Feldkanonen besitzen hohe ballistische Eigenschaften. Ihre Flugbahn
ist sehr gestreckt und die Tiefenwirkung des Schrapnells groß, was
sie zum Bekämpfen nicht dicht hinter Deckungen stehender oder sonst
geschützter Truppen besonders geeignet macht. Treffen diese Voraus-
setzungen aber zu, dann wandelt sich der Vorzug in den Nachteil,
daß die Wirkung mit zunehmender Deckung des Zieles schnell sinkt.
Darauf sind auch die erwähnten geringen Verluste unserer in Stellung
befindlichen Batterien zurückzuführen. Denn auf den Kampfent-
fernungen zwischen 2500 und 5000 m fallen die steilsten Schrapnell-
kugeln unter nur etwa 14—28 Grad ein, während unsere Bedienung
durch die Schilde unter etwa 31 Grad gedeckt ist. Die Anwendung der
Granaten im Azfeuer mit auf den Kopf gesetzter Scheibe') zur Be-
kämpfung verdeckter Ziele ist ein Aushilfsmittel von zweifelhaftem
Wert. — In den ballistischen Leistungen stehen die russischen Feld-
kanonen den französischen nahe, weshalb auch nach dieser Richtung
die Wirkung der Schrapnellkugeln bei übereinstimmender Treffläche
annähernd gleich zu beurteilen sein wird. Wie die Russen das Be-
kämpfen von Zielen dicht hinter Deckungen aus Feldkanonen be-
absichtigen, ist nicht bekannt. — Wenn nun auch bei uns die Flugbahn
nicht so gestreckt, mithin die Tiefenwirkung der Schrapnellkugeln
nicht so groß ist, so wird dieser Unterschied im Vergleich zu den
französischen und russischen durch ihre größere Dichtigkeit wieder aus-
geglichen, die bei jenen trotz gleicher Zahl durch größere Ausbreitung,
bei diesen durch etwas geringere Zahl herabgesetzt ist. Vor allem
gewähren aber auch die Geschosse unserer Feldkanonen bekanntlich
die Möglichkeit erfolgreichen Gebrauchs gegen stark gedeckte Truppen,
was in diesem Spatenkriege nicht zu unterschätzen ist. Und in dieser
Hinsicht stehen die leichten Haubitzen den Feldkanonen vorteilhaft
zur Seite, ebenso dis schweren, wenn die Ziele ihrer Lage nach er-
kennbar. sind. Eine Verwendung in diesem Sinne beabsichtigen die
1) Durch dieses Hilfsmittel soll erreicht werden, daß die Flugbahn
eine gekrümmtere Gestalt annimmt und dadurch zum Überschießen von
Deckungen besser geeignet wird. Ä `
472 Bisheriger Anteil der Feld- und schweren Artillerie an den Gefechten.
Franzosen mit ihren kurzen 155 mm-Kanonen nicht. Wie sich der
‘Gebrauch ihrer seit Ende Oktober in die Erscheinung getretenen
schweren Haubitzen gestalten wird, bleibt abzuwarten. Den Russen
bieten ihre leichten und schweren Haubitzen die Möglichkeit zum Be-
kämpfen von Truppen dicht hinter Deckungen. Ob sie dieselben
‘ganz allgemein dazu einsetzen wollen oder nur gegen Schildartillerie,
entzieht sich der Kenntnis.
Nicht unerwähnt darf bleiben, daß ein immerhin in Betracht zu
ziehender Teil der französischen und russischen Schrapnells nicht in
‚Sprengteile zerlegt wird und deshalb nur als Vollgeschoß zur Geltung
kommt.
Die Unterschiede in der Leistungsfähigkeit des Geräts sind nicht
so bedeutend, daß von einer entschiedenen Überlegenheit auf einer
‚Seite gesprochen werden könnte. Hinzu kommt, daß die Richtgeräte,
Ferngläser und Entfernungsmesser auf annähernd gleicher Höhe stehen.
Bietet sonach die Bewaffnung und Ausrüstung den Gegnern die Mög-
lichkeit, sich ziemlich gleichwertig gegenüber zu treten, so wird sich
zeigen, welcher von ihnen durch einsichtsvolleren Gebrauch dem anderen
seinen Willen aufzuzwingen weiß. Mangels von Auslassungen feind-
licherseits läßt sich noch nicht erkennen, ob und wie die Wirkung
unserer Kanonen- und leichten Haubitzgeschosse gegen lebende Ziele
dicht hinter Deckungen zur Geltung kommt. Sie kann nur im Bz-
Feuer eintreten und der reicht bei den Kanonen bloß bis 5000, bei
‚den leichten Feldhaubitzen bis 5300 m. Nun soll sich der Artillerie-
kampf vielfach auf großen Entfernungen von 5000 m, ja sogar darüber
abspielen. In diesem Falle würde sonach jene Eigenschaft der Ge-
‚schosse nicht zum Ausdruck gelangen, vielmehr den Franzosen und
Russen ein Vorteil aus ihrem um einige hundert Meter weiter tragenden
Bz-bereich gegen nicht verdeckte Ziele erwachsen, was sich beim Vor-
gehen zur Stellung und ihrem Einnehmen bemerkbar machen kann.
Bei der russischen 12,2 cm-Haubitze beträgt der Unterschied zu
ihrem Gunsten sogar etwa 1200 m. `
In dieser Hinsicht sind die schweren Feldhaubitzen von der Ent-
fernung unabhängiger. Innerhalb ihrer Tragweite bis etwa 7500 m,
die sie auch zur Teilnahme an der Abwehr englischer Kanonenboote
bei Nieuwpoort befähigt haben dürfte, bleibt sich die zerstörende
Wirkung ihrer Granaten auf allen Schußweiten nahezu gleich.
In dem waldreichen Gelände des üstlichen Frankreichs soll unsere
Artillerie den Angriff der Infanterie gegen Verteidigungsstellungen
mangelnder Übersicht wegen in einzelnen Fällen nicht so haben vor-
bereiten können, wie es notwendig gewesen wäre. Ob die Möglichkeit
vorlag, die Hemmnisse des unübersichtlichen Schußfeldes zu über-
Bisheriger Anteil der Feld- und schweren Artillerie an den Gefechten. 473,
winden, läßt sich nicht beurteilen. In anderen Fällen sei unsere-
Infanterie, ohne die Vorarbeit der Artillerie abzuwarten, tollkühn vor--
wärts gestürmt. Der Erfolg soll ihr zugefallen sein. Aber mit welchen
Opfern wurde er denn erkauft! Hier müßte das Zusammenwirken
von Infanterie und Artillerie versagt haben und es würde Sache der‘
Führung sein, zur Vorbeugung ähnlicher Vorkommnisse in die Kampf--
bedingungen regelnd einzugreifen.
Im Bewegungskriege kann die größere Beweglichkeit unserer Feld-
kanonen gegenüber den französischen und russischen insofern ins Ge--
wicht fallen, als sie bei Gleichheit der Verhältnisse ein früheres Ein--
nehmen der Stellung und einen Zeitgewinn zur Vorbereitung der
Feuereröffnung sichert. Je häufiger es zu Stellungskämpfen kommt,
um so mehr verliert dieser Vorzug an Bedeutung, tritt aber anderer-
seits in sein Recht für unsere in Russisch-Polen beteiligte Artillerie,
wegen der außerhalb der sehr seltenen Kunststraßen äußerst schwierigen
Bodenverhältnisse.
Wie sich Munitionsverbrauch und -ersatz stellen, ist. noch nicht
zu übersehen. Der Aufwand an Geschossen dürfte nicht gering sein,
selbst wenn sich beide Parteien in befestigten Stellungen gegenüber--
stehen. Während der Dauer einer offenen Schlaeht kann die Feuer-
tätigkeit eine ununterbrochene sein im Wechsel zwischen langsamem-
und bis zur höchsten Geschwindigkeit gesteigertem Feuer. In wochen-
langem Gegenüberstehen treten verschieden lange Pausen ein, zwischen.
denen die Feuertätigkeit aufflammt zur Bekämpfung sich unangenehm.
bemerkbar machender Batterien oder der in Schützengräben gedeckten.
Besatzung, zur Verhinderung ihres Wiedererscheinens an der Feuerlinie,
Abwehr feindlicher Vorstöße, Störung von Arbeiten an den Anlagen.
usw. In der offenen Schlacht kommt es darauf an, einen möglichst:
hohen Bestand an Schießbedarf in der Nähe der Feuerlinie zur Ver-
fügung zu haben, denn die Ergänzung ist, wenn überhaupt ausführbar,.
sehr schwer. Im Stellungskriege wird der tägliche Durchschnittsbedarf
im allgemeinen geringer sein und gesicherte Bereitstellung und Zufuhr
sind anzunehmen. Immerhin ist die Zahl der Fälle, die die Tätigkeit
der Artillerie auslösen können, nicht gering und es muß eine ange--
messene Munitionsreserve vorhanden sein, um auch gelegentlichen
Höchstforderungen entsprechen zu können. Günstig ist es, daß.
unsere leistungsfähigen Waffenfabriken den Bedarf decken und die:
Bahnverbindungen seine rechtzeitige Zuführung bisher ermögliehen
können. | oo:
Zur Beurteilung der taktischen Verwendung fehlt es zunächst an-
Anhaltspunkten. Ob sie den darüber im Frieden aufgestellten Grund --
sätzen entsprach oder welche Änderungen sie unter dem Zwange be-
474 Die bisherige russische Kriegs- und Kampfführung.
sonderer Kampfbedingungen erfuhr. wird sich erst später ausweisen.
So viel dürfte jetzt schon feststehen, daß die Artillerie sich auf den
Verlauf der Gefechte einen mitentscheidenden Einfluß zu sichern
wußte.
XXXIII.
Die bisherige russische Kriegs- und Kampf-
| führung.
(Durcbgeführt bis Ende Oktober.)
Von
G. Rh.
„Der Anblick der ıussischen Armee gewährt den Eindruck einer
Kraft, die man nicht moralisch und materiell brechen kann,“ schrieb der
Chefredakteur der „France militaire“, der Poincaré auf seiner Reise
nach Petersburg begleitet hatte, am 21. Juli 1914. „Man ist er-
staunt,“ fuhr das Blatt fort, „Oberste von 35, Generale von 45
Jahren zu finden, daneben allerdings auch zahlreiche, die etwa das
Alter der unserigen haben, und ein jüngst erschienener Erlaß, der die
Altersgrenzen für Beförderung einerseits und Ausscheiden aus der
Armee anderseits herabsetzt, will nicht nur die jüngste Kategorie in
die hohen Stellungen gebracht sehen, sondern auch im Frontdienst
Erfahrene, die zumeist den Krieg in der Mandschurei mitgemacht
und aus ihm Lehren gezogen haben.“
Eine gewisse Einseitigkeit der russischen Generale, die fast ihre
ganze Dienstzeit im Generalstab zugebracht, die Gefahr, die Fühlung
mit der Truppe zu verlieren, vorkommende Fragen theoretisch zu
behandeln und die Initiative der Untergebenen einzuschränken, wurde
von dem genannten Blatte zugegeben. Den Generalstab nannte es
dabei ein bewundernswertes Instrument für die Kommandoführung.
Das Nichtbestehen eines einheitlichen Offizierstyps, das Vorhanden-
sein von Cöterien in der Armee je nach der Vorbildung der Offiziere
von Regimentern und Waffen wird zugegeben; seit kurzer Zeit sind
die Junkerschulen mit ihren geringen Anforderungen an das Allgemein-
wissen der ÖOffizieranwärter verschwunden, die Kriegsschulen allein
bestehen, die Zöglinge der ersteren überwiegen aber noch bei weitem,
und es gibt zahlreiche Offiziere, die über den Gesichtskreis ihres
Dienstgrades nicht hinauskommen. „Unmäßigkeit kennt die
Die bisherige russische Kriegs- und Kampfführnng. 475
russische Armee nicht mehr,“ schrieb damals das Blatt, —
Ostpreußen hat darin traurige Erfahrungen gemacht. Mangelnde
Selbständigkeit bei Unteroffizieren und Mannschaften wird zugegeben;
nicht weiter wunderbar, da sie ja selbst bei der Masse der Offiziere
eingestanden wird. Vorzügliche Schießausbildung gehört nach
„France Militaire“ zu den Faktoren, die aus der russischen In-
fanterie eine überaus wertvolle Waffe machen. Der Flieger-
dienst wird mit Hochdruck gefördert, Kraftwagendienst in jeder Form
in der Armee angewendet, die für Nachschübe sehr stark auf ihn
rechnet. Der Vertreter des Kriegsministers, General Wernander, er-
klärte dem Chefredakteur der „France Militaire“: „Vom mandschu-
rischen Kriege bestehen in unserer Armee keine Spuren
mehr, als die des Fortschritts. Wir haben rastlos ge-
arbeitet und dürfen beim Ausblick rings um uns herum
durchaus ruhig sein.“ „France Militaire“ wies dann auf den
letztbeschlossenen bis 1918 durchzuführenden Armeeausbauplan hin,
der auch die Artillerie vermehrte, die Zahl der Geschütze für jedes
Korps von 108 auf 144 bringen und die schwere Artillerie des Feld-
heeres wesentlich steigern wollte. Wie weit man mit der Ver-
mehrung der Artillerie der Armeekorps unmittelbar vor dem
Kriege gediehen war, was man beider Mobilmachungetwa indieser
Beziehung improvisiert hat, vermögen wir nicht zu beurteilen.
Bisher rechnete man bei der Mehrzahl der Armeekorps (insoweit
nicht noch Gebirgsbatterien zugeteilt waren) für die Division mit
einer Feldartilleriebrigade zu 6 Batterien à 8 Geschütze und für das
Korps an schwerer Artillerie 2 12 cm-Haubitzbatterien zu 6 Ge-
schützen, so daß sich zusammen 108 Geschütze ergaben. In den
Kämpfen in Galizien haben aber die Österreicher über an Zahl und
Kaliber stark überlegene Artillerie bei den russischen Armeekorps
geklagt. Man muß also auf eine improvisierte Steigerung schließen,
oder aber auf eine Verwendung von Belagerungsformationen, oder‘
artiller istischen Festungseinheiten bei den Feldarmeekorps.
Südlich Ljublin sind Festungs- bzw. Belagerungskaliber schon
sehr zeitig wieder gegen deutsche Batterien fühlbar geworden, die schon
auf 9000 m wirksam von ihnen beschossen wurden ohne Gegen-
wirkung leisten zu können. Weiter ist im Verlauf der ersten Oktober-
kämpfe mit Sicherheit erkannt worden, daß große japanische
Geschützkaliber auf seiten der Russen und zwar von japanischen
Offizieren kommandiert, auch in Feldschlachten, so z. B. bei der
2. russischen (Gegen-) Offensive mit den hinter der Linie Kowno—
Grodno retablierten und verteilten Armeen I und II (auch X) auf-
getreten sind.
476 Die bisherige russische Kriegs- und Kampfführung.
Werfen wir einen Blick auf die Kriegshandlungen, wie sie bisher
verlaufen, um daraus Schlüsse auf die Berechtigung oder Nicht-
berechtigung des von der „France Militaire“ beim Kriegsbeginn ent-
worfenen Biides der russischen Streitkraft zu ziehen. Den Standpunkt
der Moral der russischen Kriegührung zeichnen Legionen von Morden
und Brandstiftungen, Schandzeichen auf ewige Zeiten. Das
Urteil über die russische Strategie haben die bisherigen Er-
eignisse des Feldzuges in Ostpreußen und Galizien schon mit ehernem
Griffel in die Blätter der Kriegsgeschichte eingetragen. Einheit der
Gesichtspunkte bei den Armeeführern und den ihnen untergeordneten
kommandierenden Generalen, Sicherstellung der Übereinstimmung in
der Auffassung der Lage und des ÖOperationsentwurfs durch das
große Hauptquartier, das heißt den nach eigener Auffassung
„majestätischen“ (Insterburg) Großfürsten Nikolaus Nikolajewitsch,
haben bis jetzt völlig gemangelt. Die Führer von Armeen oder
Gruppen von Armeen, denn Shilinsky nennt sich in dem berühmten
Bazillenerlaß z. B. „Oberbefehlshaber der Armeen“, haben auch.
wenigstens so weit der ostpreußische Kriegsschauplatz in Frage
kommt, augenscheinlich nicht das Bedürfnis gehabt, sich zu gemein-
samem Handeln. zum Zusammenwirken auf das gesteckte erste große
Operationsziel hin, dauernd in Verbindung zu setzen und zu halten.
Das wortbrüchige Rußland war, dank den von den Zentralmächten
nicht gekannten heimlichen Vorbereitungen seiner unentwegt fort-
gesetzten Mobilmachung, dank seiner gewaltigen numerischen Über-
legenheit über das im Westen mit seinen Hauptkräften gefesselte
Deutschland, über Österreich-Ungarn, das auch den serbischen Schau-
platz mit durchaus nicht schwachen Abgaben zu bedenken hatte, zu
einer strategischen Offensive durchaus berechtigt und befähigt.
Es war anzunehmen, daß man sie mit den voll bereiten Kräften
sofort ansetzen und dem Gegner, der wesentlich später die Mobil-
machung begann, zuvorkommen und versuchen würde, ihm das Gesetz
des Handelns zu geben. Hauptziel der Offensivoperationen gegen
Ostpreußen mit mindestens 22 (mit Schützenbrigaden 22'/,) aktiven,
6 Reserve- und 8 Kavalleriedivisionen in drei Armeen, mußte natur-
gemäß die Vernichtung der dort vorhandenen deutschen Streit-
kräfte und dann über Königsberg vorgehend (mit anderen Heeres-
teilen scheinbar auch durch Schlesien und Posen) Berlin zum Stoß
in das Herz Deutschlands sein. Das Schlagwort mußte lauten: Fest-
halten möglichst starker deutscher Kräfte, um den französischen
Bundesgenossen und seine britisch-belgischen Anhängsel zu entlasten,
der verbündeten Überlegenheit im Westen damit die Möglichkeit zu
schaffen (womit sie auf das Bestimmteste rechnete!), den
ne En a
Die bisherige russische Kriegs- und Kampfführung. 477
lange erwogenen französischen, mit Briten und Belgiern
schon lange vereinbarten Operationsplan der überfallartigen
Offensive gegen Deutschland mit Einbruch auf drei großen
Linien zum vollen Triumph zu bringen. Der Plan, für dessen
Durchführung man russischerseits nicht nur Kräfte von erdrückender
zahlenmäßiger Überlegenheit, sondern auch die beste Auswahl des
russischen Heeres an Armeekorps einsetzte, war nicht schlecht, die
Art des Versuchs seiner Ausführung aber um so schlechter.
Dieser ergab ungeheure Niederlagen durch den Mangel an einheit-
licher Leitung der Armeen von seiten des großen russischen Haupt-
quartiers und den Mangel an Übereinstimmung im Handeln der
russischen Heerführer. Auf der inneren Linie operierend konnte die
wagemutige Feldherrnnatur des Generalobersten von Hindenburg (vor
die hinter dem Njemen formierte in Teilen am 17. August bei
Stallıpönen, am 20. August bei Gumbinnen direkte Schlappen erlebt
habende, dann aber mit Vortruppen bis Tapiau, dicht bei Königsberg
gelangte, mit dem Gros in der allgemeinen Linie Allenburg—Dreng-
furt—Nordenburg in vorbereiteter Stellung gebliebene Armee
Rennenkampf einen dünnen Schleier ziehend) zunächst gegen die von
Südosten eingebrochene Narew-Armee Shilinsky (und zwar mit
wesentlich unterlegenen Kräften) einen kühnen Ausfallschlag
führen und sie durch doppelte Umfassung mit dem Zentrum Hohen-
stein vernichten. Und das, obwohl die Massen Rennen-
kampfs kaum über zwei Tagemärsche entfernt standen,
über Gegner und eigene Nebenarmee pflichtmäßig unterrichtet sein
mußten, ein Zusammenwirken der beiden russischen Armeen die
deutsche umklammern konnte. Mit schwachen Kräften die Trümmer
der 5 Korps und 3 Kavalleriedivisionen Shilinskys weiter zu Tode
hetzend, so daß die Narewarmee zu existieren aufhörte, schwenkte
der kühne deutsche Oberführer auf der inneren Linie dann gegen die
Njemen- und Grodnoreservearmee, die zusammen einen Bestand von
9!/, Armeekorps und 5 Kavalleriedivisionen aufwiesen, ein, deren
linken Flügel durchbrechend, so daß nur schleuniger Rückzug und
'vorübergehendes Halten des weniger mitgenommenen russischen
rechten Flügels den mit Unrecht viel gepriesenen Führer Rennen-
kampf vor dem Schicksale rettete, das Shilinsky in Masuren ge-
troffen hatte. Vom ostpreußischen Schauplatz, wo die russische
Offensive zusammenbrach, wie vom galizischen, wird die Kriegs-
geschichte über die russische Führung zu berichten haben, daß sie
die Lehren des mandschurischen Krieges nicht ver-
standen hat.
Gegen Galizien wollte der russische Operationsplan gleichzeitig
Jahrbücher für die deutsche Armee und Marine. Nr. 519. 34
478 Die bisherige russische Kriegs- und Kampfführung.
den zweiten gewaltigen Offensivstoß gerichtet sehen und zwar mit
rund 66 aktiven und Reservedivisionen sowie mit gewaltiger Massen-
kavallerie, der doppelten Kraft, die Österreich-Ungarn zunächst hier
einsetzen konnte. Die über Krakau auf dem Umwege durch Galizien
(wo man die dort in zwei Gruppen stehenden österreichischen Streit-
kräfte bald zu vernichten und an Serbien Anschluß zu nehmen hoffte)
gegen Schlesien gerichtete gewaltige Offensive erschien den russischen
Oberführern auf diesem Schauplatz, Iwanow und Rußky als die für den
Gegner gefährlichste und für die Russen aussichtsreichste und den
kürzesten (? Um-)Weg wählende. Die österreichische Heeresleitung
begegnete ihr zuerst durch eine Offensive mit zwei Armeen, die die
Erfolge von Krasnik bis Ljublin und am Hucwaflusse brachte, während
in Ostgalizien bis zur dritten Kriegswoche auch die österreichische
Devensive erfolgreich war. In der dann folgenden Riesenschlacht,
zu welcher die Russen ihre obengenannten Kräfte verfügbar hatten,
betonten beide Gegner augenscheinlich ihren linken Flügel.
. Die Russen gewannen in Galizien gegen Lemberg schrittweise
Boden, die österreichische linke Flügel- und Zentralarmee, Dankl und
Auffenberg, hefteten bei Tomaszow und Samosc nach wochenlangem
_ Ringen Siege an ihre Fahnen (und erbeuteten 20000 Gefangene und
180 Geschütze), die zum Vorstoß auf Ljublin ausgenutzt wurden.
Von einem Siege der Russen, einer Niederlage der Österreicher war
nicht zu reden. Nach freiwilliger Räumung Lembergs am 4. September
nach einer Offensive (9. September) dieses Flügels, die Gefangene und
Trophäen in die Hand unserer Verbündeten lieferte, zwang ein un-
geheuer überlegener russischer Vorstoß, der den österreichischen Nord-
flügel in die Gefahr der Trennung von den Hauptkräften brachte,
nachdem dieser Flügel seine Aufgabe erfüllt, den stärksten feindlichen
Stoß von der Hauptrichtung abzulenken, zum Zurückgehen in den
von Natur sehr starke Stellungen bietenden „Neugruppierungsraum“,
der auch die zu ausgedehnte Front wesentlich verkürzte. Hier wagte
die russische Führung, obwohl ihre riesenhaft überlegenen
Kräfte für die Verbindung von Front- und dem gegen vor-
bereitete Stellungen unentbehrlichen Flankenangriff günstig
standen, nicht, alles an alles zu setzen. Sie begnügte sich
zunächst mit dem Teilerfolg der freiwilligen österreichischen
Räumung Lembergs, obwohl sie sich sagen mußte, daß die so
hochwichtige Offensive gegen Westgalizien und Schlesien
sich an den österreichischen starken Stellungen totlaufen
müßte, wenn sie nicht bald genommen würden. Sie wagte den
entscheidenden Schlag, trotz günstiger strategischer Kräfte-
gruppierung, enormer Überlegenheit an Zahl und Artillerie, selbst
Die bisherige russische Kriegs- und Kampfführung. 479
dann nicht, als sie bestimmt wußte, daß die Lage von Tag
zu Tag sich für sie ungünstiger gestalten mußte und daß
mit Sicherheit auf baldiges Zusammenwirken starker, kühn
und energisch geführter deutscher Kräfte mit den völlig kampf-
kräftigen österreichischen zu einer machtvollen neuen Offensive
zu rechnen war. Sie versäumte auch hier die günstigen Augen-
blicke, sie zeigte sich ihrer Aufgabe nicht gewachsen, die
als Ziel Vernichtung des Gegners haben mußte, die nur
erreichbar war bei vollem Kräfteeinsatz und bei festem Willen
zu siegen, koste es was eg wolle. Starke Einbußen aus den Reihen
ihrer besten Truppen, staıke kaum wieder zu ersetzende Verluste an
Artillerie hatten die Russen allerdings zu verzeichnen.
Der Plan, Deutschland-Österreich in dem kritischen Moment
stärkster Bindung deutscher Kräfte im Westen durch drei Gegner
überfallartig niederzuwerfen, war völlig gescheitert. Die Ausnutzung
des Zurückdrückens der Österreicher über Lemberg nach Westen ist
der Entschlußunfähigkeit des großen russischen Hauptquartiers nicht
einmal möglich gewesen, aus Mangel an Willen, die Entscheidung mit
vollem Einsatz zu suchen. Mitgewirkt hat bei diesem Schwanken
auch wohl, daß man für nötig gehalten hat, Teilkräfte gegen Ost
preußen ahzuzweigen, wo drei russische Armeen bereits zertrümmert
worden waren und der Name des deutschen Oberkommandierenden
allein schon sich wie ein Alp auf die Entschlüsse der russischen
Führer legte.
Am 29. September kündete die Besetzung des Gouvernements
Suwalki und die Beschießung von Ossowecz mit Belagerungsgeschützen
den Beginn eines neuen Feldzugsabschnittes an, der mit einer deutsch-
österreichischen Offensive einsetzte, ohne dabei zu übersehen, daß im
Norden ev. mindestens vorübergehend eine Defensive notwendig
werden könnte. Am 30. September erfuhr die Öffentlichkeit von
dem Beginn der deutsch-österreichischen Offensive. Mit 5 Armeekorps
hielt Rußland damals Przemysl eingeschlossen und drei Tage später
(2. Oktober) sandte der Öberkommandierende der russischen Be-
lagerungsarmee dem Kommandanten die Aufforderung zur Übergabe
und hielten russische Abteilungen das Maramarosgebiet noch eine
Reihe von Tagen besetzt. Russischerseits bestand der Gedanke an
Offensive gegen Ostpreußen weiter und sollte dazu die Njemen- und
Grodno-Reservearme hinter der Njemenliniie Kowno—Olita—Grodno
bereitgestellt werden. Die Offensive wollte aber nicht nur den
Gegner werfen, sondern durch Umfassung seines linken Flügels auch
nach Südwesten abdrücken. Der am 6. Oktober von Grodno ein-
setzende ÖOffensivstoB auf Augustowo—Suwalki erlitt mit seinem
| 34*
480 Die bisherige russische Kriegs- und Kampfführung.
linken Flügel (XXII. und III. sibirisches Korps) eine Niederlage,
Angriffe der russischen I. und X. Armee, dabei auch kaukasische
Truppen, wurden am 9. und 10. Oktober, unter einem Umfassungs-
versuch bei Schirwindt mit derselben Hartnäckigkeit gegen unseren
linken Flügel, wie in Frankreich gegen unseren rechten, unter starken
Verlusten, auch an Geschützen, blutig abgewiesen. Der einzige mit
einer Kolonne gegen Lyck gelungene Einbruch wurde bald zurück-
geworfen. Gegen Ostpreußen also ein Scheitern der Offensive auf
zweifellos längere Zeit, bei Fortschreiten der deutsch-österreichischen
Offensive sogar offensiver Vorstoß, der am 29. Oktober schon gegen
Augustowo einsetzte, und die Notwendigkeit eines Rückzuges aus Be-
sorgnis des Abgeschnittenwerdens. Von Warschau—Iwangorod aus
sollte eine zweite gewaltige Offensive unter Umfassung des linken
Flügels einer verbündeten Mittelgruppe und Abdrücken von den Ver-
bindungen der deutschen Heeresteile weiter nach Galizien hinein
geführt werden. Nicht allein aus dem Innern, also von rückwärts,
bzw. auch dem fernen Osten, sondern auch aus Galizien (angeblich
20 Divisionen) wurden sehr bedeutende Verstärkungen in dem Raume
Warschau—Ljublin—Iwangorod bereitgestellt. Die Richtung der
Hauptoffensive, die natürlich auch wieder mittelbar den Nebenzweck
"hatte, sehr starke Kräfte zu binden, damit die Franzosen im Westen
zu entlasten, war über Krakau— Ratibor— Breslau—Liegnitz— Berlin
gedacht und sollte wieder das Herz Deutschlands treffen. Logisch
war, daß man auf diese Offensive, von deren Fortgang doch auch
die Möglichkeit der dritten Offensivenrichtung durch Galizien (schon
wegen der Sicherung von deren rechter Flanke) abhing, den
stärksten Kräfteeinsatz verwendete und auch das höchste Maß von
Schnelligkeit des Beginnes mit höchster Energie einsetzte. Beide
letztgenannten scheinen zunächst gemangelt zu haben, obwohl hinter
der Weichsel das große strategische Bahnnetz beginnt, das gegenüber
dem westlich der Weichsel, den Russen reichliche Mittel für Kräfte-
nachschub, Kräfteverschiebungen sowie Verpflegungstransporte sicherte.
Und auch wohl weil zunächst nicht der feste Wille bestand, alles
an alles zu setzen und der Name des deutschen Oberführers seine
Wirkung nicht verfehlt hat. Soll man den Beginn dieser Offensive
kurz charakterisieren, so läßt sich sagen, daß noch am 20. Oktober
die deutsch-österreichische Heeresleitung das Gesetz des Handelns
gab. Am 4. Oktober wurde in der Linie Ostrowetz—Opatow die
verstärkte Gardeschützenbrigade geworfen; an demselben Tage 50 km
südlich von Opatow der Brückenkopf Sandomir von unseren Verbündeten
genommen und am 5. Oktober bei dem rund 50 km nördlich von
Östrowetz liegenden Radom 2'/, russische, von der 50 km entfernten
Die bisherige russische Kriegs- und Kampfführung. 481
Festung Iwangorod kommende Kavalleriedivisionen und ein Teil
der Hauptreserve der genannten Festung auf diese zurückgeworfen.
Am 13. Oktober wurde die russische Vorhut südlich von Warschau blutig
zurückgewiesen und ein Versuch, südlich Iwangorod die Weichsel zu
überschreiten, verhindert. Am 10. Oktober waren bei Krojeg, süd-
westlich Warschau, unseren vorgehenden Spitzen schon 2000 Mann
des II. sibirischen Korps in die Hände gefallen. Am 15. Oktober
stehen die deutschen Truppen vor Warschau und werfen einen von
mindestens acht russischen Korps auf der 100 km messenden Linie
Iwangorod— Warschau über die Weichsel unternommenen Vorstoß
mit schwersten Verlusten für die Russen zurück, 8000 Gefangene
und 25 Geschütze wurden deutsche Beute. Aus der laut vorher ver-
kündeten Schlacht von „Krakau“ war eine Schlacht von Warschau,
aus einem Sieg bei Krakau eine Niederlage bei Warschau geworden.
Wenige Tage nachher schlug vereinigte deutsch-österreichische Ka-
vallerie eine große russische 'Reitermasse, die von Warschau nach
Westen, um den deutschen linken Flügel festzustellen, die linke
Flanke zu beunruhigen und Störungen der rückwärtigen Verbindungen
zu bewirken, vorgegangen war, auf Sochaczew zurück. Der 23. Ok-
tober brachte einen österreichischen Sieg über zwei vorwitzige rus-
sische Divisionen bei Iwangorod.. Man muß zu dem Gedankenkommen,
daß die Russen durch die Vorbewegung der deutschen von Bendzin
und Kalisch vorgegangenen Armeen überrascht worden sind. Das
Erscheinen vor Warschau hatte aber zur schärfsten Anstrengung in
der Sammlung und Häufung der Kräfte zum Teil per Bahn, zum
Teil durch die Gewaltmärsche veranlaßt. General Rußky der für
Shilinsyk die Armee in der Linie Nowo-Georgiewsk— Warschau— Iwan-
gorod führt, glaubte gegen den 22. Oktober die nötige erdrückende
Überlegenheit zur Hand zu haben. Das Bahnnetz östlich der Weichsel
gab zudem die Möglichkeit, unbemerkt vom Gegner den Schwerpunkt der
Kräfte wechselnd dahin verlegen zu können, wo er geboten schien. Das
Vorgehen auch über Nowo-Georgiewsk — wie gleichzeitig über War-
schau—Iwangorod — bedrohte den deutschen linken Flügel Vor
Iwangorod die Kämpfe noch am 25. und 26. Oktober fortsetzend gingen
die Verbündeten in vollster Ordnung staffelweise von links zur Neu-
gruppierung der Kräfte zurück. Zu einer energischen Verfolgung
des unbesiegten durch seine Kavallerie vorzüglich verschleierten
Gegners konnte die ungeheuer an Kräften überlegene
russische Führung wieder nicht Mut finden. Von seiten
der Verbündeten war den Russen der Plan zunächst ver-
eitelt, die große Entscheidungsschlacht in dem Raum zu
schlagen, der den Russen nur erwünscht sein konnte. Dies
482 Die bisherige russische Kriegs- und Kampfführung.
wegen Anlehnung an die starke Festungsline Brest— Litowsk— War-
schau—Iwangorod mit einem zum stärksten Widerstand vorbereiteten
und armierten Vorterrain nach Westen, Möglichkeit mit den Bahnen
östlich der Flußlinie unbemerkt Kräfte nach dem Punkte zu ver-
schieben, den man besonders betonen wollte, des Uferwechsels an
mehreren Stellen ohne größere Gefahr, der Aussicht den linken Flügel
der Verbündeten zu umfassen. Die in vollster Ordnung und Kampf-
bereitschaft erfolgte strategische Rückwärtsbewegung der Verbündeten
erlaubte diesen das Gelände zu wählen, in dem sie einen Kampf an-
nehmen wollen, sich den Kampfraum nicht vorschreiben zu lassen,
die- Kräfte neu zu gruppieren, ihre Verteilung dem Einfluß des
Gegners zu entziehen, während die seinige erkundet wurde, da der
Schleier der Weichselfestungslinie fehlte, dies eigene Bahnnetz zu Ver-
schiebungen auszunützen, dem an Zahl noch enorm überlegenen Gegner
die Trümpfe aus der Hand zu nehmen.
Der durch Eingreifen starker deutscher Kräfte ermöglichte ver-
bündete Einmarsch in Russisch-Polen mit den Zielen Iwangorod und
Warschau hatte naturgemäß auch der nördlich und südlich von
Krakau gestandenen Heeresgruppe günstigere Verhältnisse für eine
Offensive geschaffen. Sie haben sich in der Fortwirkung so günstig
gezeigt, daß die geplante russische Offensive auf den galizisch-un-
garischen Schauplatz, zumal von Galizien aus auch Kräfte in den
Raum Iwangorod-Warschau verschoben werden mußten, sehr bald in
die Defensive umschlug. Przemysl mit seiner geschickten und ener-
gischen Verteidigung hat dabei große Dienste geleistet, indem es den
vorgehenden österreichischen Kräften einen sehr guten Stützpunkt
bot. Von Krakau aus ging beiderseits der Weichsel eine Heeres-
gruppe vor. Damit ist den zwischen Weichsel und Karpathen, bzw.
über die letzteren hinaus operierenden Kräften Luft gemacht worden.
Sie hatten nun eine gedeckte linke Flanke und konnten in direkt
östlicher Richtung vorgehen mit dem Ziele Przemysl und Lücke
zwischen San und Dnjestr. Die Russen hatten zur Sicherung der
Belagerung von Przemysl zwei Tagemärsche westlich Przemysl in der
allgemeinen Linie Laneut—Dynow starke Stellungen bezogen, um das
Vorgehen der Österreicher aufzuhalten. Die russischen Schutz-
stellungen wurden genommen, Przemysl, das den Russen angeblich
70000 Mann Verlust gekostet, entsetzt. Einen starken Tagemarsch
östlich des entsetzten Przemysl haben die Russen eine starke Stellung
ausgebaut in der allgemeinen Linie Medyka im Norden, Stary Sambor
im Süden. Um diese Stellung wird heute noch (31. Oktober) von
den Österreichern angriffsweise energisch gefochten. Der Kampf
scheint wiederum den Charakter des Stellungskrieges annehmen zu
Die bisherige russische Kriegs- und Kampfführung. 483
wollen, wobei die Österreicher noch gerade vor Monatsschluß südlich
Stary Sambor einen glänzenden Teilsieg zu verzeichnen hatten. Der
Karpathenflügel unserer Verbündeten schritt rüstig vorwärts, bis über
die Quellflüsse des Djnestr vorbiegend, die die russische Stellung un-
haltbar machen. Starke Fortschritte in gleicher Richtung des
rechten Flügels würden das Schicksal der russischen Offensive durch
Galizien hindurch bald entscheiden. 54000 Gefangene und eine große
Anzahl von Geschützen haben die Russen schon eingebüßt, die
früher 3 gegen 1, jetzt noch 2 gegen t Österreicher fechten.
Einen neuen Akt im Kriegsdrama kündet der Schluß
des Oktobers an, man kann wohl sagen den Beginn des
Weltkrieges. Welchen Strich das Eingreifen der Türkei durch
Rußlands Operationspläne machen wird, läßt sich heute erst ahnen.
An neuen Vorschriften als Grundlagen für ein modernes
Kampfverfahren hat es der russischen Armee in den letzten
Jahren nicht gefehlt. Sie enthalten zum Teil von den unserigen
abweichende, ja manchmal diesen entgegengesetzte Anschauungen.
1910 erschien die Gefechtsvorschrift der Infanterie, in demselben
Jahre die russische Feldpioniervorschrift, 1912 die Gefechtsvorschrift
für Artillerie und am 10. November 1912 die neue Felddienstordnung.
Die bis jetzt in den verschiedenen Kämpfen deutscher gegen
russische Truppen gemachten Beobachtungen bewiesen, daß ihr
Inhalt noch nicht zum unverwischbaren Eigentum der Truppe ge-
worden ist.
Der Anblick der Marschkolonne einer russischen Infanterie-
division (divisionsweiser Marsch wurde besonders durch den früheren
Generalgouverneur des Militärbezirks Warschau, Skalon, empfohlen),
zeigte durchweg einen sehr weiten, oft 3 km überschreitenden Abstand»
der (wenn wir die Divisionskavallerie als voraus annehmen, eine Spitzen-
kompagnie, dann mit 500 m Abstand eine weitere Kompagnie, eine
Maschinengewehrabteilung zu 8 Gewehren, 2 Infanterie- und 2 Sappeur-
kompagnien als Vortrupp, diesen mit 2—3 km Abstand folgend
nach der Marschordnung die einige Reiter, 1 Bataillon, 1—2 Batterien,
2 Bataillone als Haupttrupp umfassende) Vorhut von dem Gros.
Diesem weiten, die Vorhut immerhin doch über ?/, Stunden auf Unter-
stützung des Gros warten lassenden Abstand ist auch wohl die
Beobachtung zuzuschreiben, daß in den Kämpfen, in denen die Russen
in der Vorbewegung waren, die Vorhuten sich fast immer
zunächst defensiv verhielten, wozu zweifellos auch die nur
schwache Ausstattung der Vorhut mit Artillerie beitrug. Wo diese
schwache Artillerie von der stärkeren deutschen Vorhutartillerie er-
kannt worden, wurde sie auch niedergebrochen. Da die Vorhut dem
484 Die bisherige russische Kriegs- und Kampfführung.
Gros nach der Felddienstordnung „möglichst günstige Verhältnisse für
dessen Gefechtseintritt“ schaffen soll, so versteht man diese schwache
Ausstattung um so weniger, als man doch mit der „Vorhutartillerie
den feindlichen Vormarsch zum Stocken und den Gegner zu ver-
frühtem Aufmarsch bringen“ wollte. Die Grundsätze für das
Begegnungsgefecht, schnelles Zugreifen, Ausnützen günstiger
Momente, schneller Entschluß, scheinen der russischen Führung und
Truppe noch nicht zu eigen geworden zu sein, wobei man allerdings
bedenken muß, daß die letzte Felddienstordnung zum erstenmal diese
Gefechtsart etwas eingehender behandelt. Bei dem russischen Ver-
fahren sind in den bisherigen Kämpfen — nach veröffentlichten Mit-
teilungen von Kriegsteilnehmern — auch in den Fällen, in denen es
sich, wie z. B. mehrfach bei der zweiten Offensive (Gegen-) der hinter
dem Njemen retablierten Kräfte, um von den Russen gemachte
Begegnungsgefechte handelte, zwei einander entgegengesetzte Er-
scheinungen hervorgetreten, entweder sehr frühzeitige Ent-
faltung und Entwickelung, oder sehr späte Entwickelung.
Stellenweise ist schon auf 5 km von einem gleichfalls in der Bewegung
gemeldeten Feind ein Auseinanderziehen der Bataillone der Vorhut
beobachtet worden, bei Herankommen auf über 2 km an deutsche in
der Entfaltung befindliche Kräfte die Bildung von Schützenlinien,
wobei Bataillone bis zu 800 m Breitenentwickelung zeigten, und, un-
unterbrochen vorgehend, eine erste immer über 1000 m vom Feinde
abliegende Feuerstellung zu erreichen suchten. Das von der Feld-
dienstordnung betonte Vorgehen der Heeres- bzw. der Vorhutkavallerie
gegen Flanke und Rücken des Gegners bei der Vorhutentwickelung,
um den eigenen Truppen einen Vorsprung in der Entwickelung zu
schaffen, hat man bei Einleitung der bisherigen Kämpfe nie auf
russischer Seite wahrgenommen. Die am 5. Oktober bei Radom ge-
schlagenen 2!/, russischen Kavalleriedivisionen mit Teilen der Haupt-
reserve von Iwangorod mögen eventuell die Aufgabe gehabt haben,
die Vorwärtsbewegung deutscher Marschkolonnen aufzuhalten und
deren Stärke zu erkunden. Statt Erfolg hatten sie Niederlagen zu
verzeichnen. Von der strategischen Aufklärung der in zahllosen
großen Verbänden — Divisionen und scheinbar auch Korps — auf-
getretenen Heereskavallerie, die, außer durch ihre reitende Artillerie,
durchweg auch durch Teile von Schützenbrigaden unterstützt wurden,
erfahren wir, wie hier schon bemerkt werden soll, nichts. Von den
nach Rennenkampfschem System gegen die preußische Grenze los-
gelassenen Reitermassen wurden am 5. August bei Soldau eine
russische Kavalleriebrigade vernichtet, erlitt am 9. August eine
Kavalleriedivision starke Einbußen und verlor 8 Geschütze, am
Die bisherige russische Kriegs- und Kampfführung. 485
10. August wurde eine Kavalleriedivision bei Romeiken mit blutigen
Köpfen über die Grenze durch Landwehr und Landsturmtruppen
heimgesandt. Deutsche Kavallerie durchbrach die Linie der Russen,
denen es trotz enormer Überlegenheit an Kavallerie nicht gelungen
war, unsere Mobilmachung und unseren Aufmarsch zu stören, ja nicht
einmal ausgiebige Nachrichten zu bringen, meldete das „Wo“ und
„Wann“ starker russischer Kräfteansammlungen, schlug sich mit stark
überlegenen russischen Reitermassen herum und brachte neben er-
schöpfenden Meldungen auch 500 Gefangene als Beute heim. Daß
der Dienst der Aufklärung um die Flügel herum durch die drei vor-
handenen russischen Kavalleriedivisionen in der Schlacht um Hohenstein
nicht Befriedigendes geleistet hat, beweist die unterlegenen Kräften des
Generalobersten von Hindenburg möglich gewesene und zur Vernichtung
der Narewarmee führende doppelseitige Umfassung durch rechts und
links heranmarschierende, von der Kavallerie doch nicht zu über-
sehende deutsche starke Kräfte Daß die Njemenarmee, die mit der
Grodno-Reservearmee zusammen eine sehr starke Überlegenheit
besaß, von dieser für sie unendlich wichtigen Tatsache, von der
Richtung der schwächeren Hindenburgschen Kräfte zum Durchbruch
ihres linken Flügels, nicht rechtzeitig unterrichtet worden ist, bleibt
ein Schandfleck der Pflichtversäumnis der russischen Reitermassen.
Und das Schuldkonto wird wohl noch größer werden. Von einem in
der Felddienstordnung so stark betonten Zusammenwirken von Reiter-
massen mit den übrigen Waffen im Kampfe, oder gar von einer auf
Schlachtenentscheidung zielenden Tätigkeit der russischen Reitermassen
hat man nichts erfahren. Man darf objektiv aussprechen, daß Heeres-
wie Korpskavallerie unserer russischen Gegner in kaum glaubhafter
Weise versagt haben — Plündern ausgenommen. Nach russischen
Berichten über den jüngsten Kampf bei Augustowo soll dort sehr
starke russische Kavallerie deutsche Marschkolonnen in der Vor-
bewegung wenigstens aufgehalten und das Vorgehen der eigenen
Divisionen verschleiert haben. Genauere deutsche Meldungen über
den deutscherseits erfolgreichen Schlag werden aber wohl das Gegen-
teil ergeben.
Haben wir oben von stellenweise wahrgenommener sehr zeitiger
Entfaltung und Entwickelung beim Vorgehen der Russen gesprochen,
so hat man anderseits vielfach eine gewisse Scheu vor zeitiger Ent-
wickelung beobachtet, als wenn die Führer der aufgelösten Ordnung, wegen
Gefahr für die Mannszucht, abgeneigt wären. In der Gruppenmarsch-
kolonne sind auseinandergezogene Kompagnien der Vorhutbataillone
einer Division, meist zwei in erster Linie, und ebenso diejenigen
zweiter Linie, dem Feuer aufmerksamer deutscher Artillerie zum Opfer
486 Die bisherige russische Kriegs- und Kampfführung.
gefallen. Auch Reserven haben stellenweise dasselbe Schicksal erlebt.
Ein klassisches Beispiel dafür bietet das, was man an durch Schrapnell-
feuer niedergemähten russischen Gruppenkolonnen bei Hohenstein sehen
konnte. Ein zweites liefert die versuchte Umfassung am 12. Oktober
bei Schirwindt, wo ganze Verbände in das dichteste Feuer ın
Kolonnen vorgingen und der Feuerwirkung völlig erlagen. Russischer-
seits wird als Grund für diese Erscheinung angegeben, daß die Verbände
zu ?/, aus kaum ausgebildeten, den modernen Kampf nicht kennenden
Rekruten bestanden. Das wäre dann aber ein Beweis für starke Ab-
nutzung der weiteren übrigen Kriegskraftreserven, die man doch immer
unerschöpflich nennt. In der ersten Feuerstellung der Infanterie sah man
meist sehr kampfkräftige Schützenlinien. Die Russen haben in ihrer
Gefechtsvorschrift für die Infanterie ja auch den Hinweis, zum Er-
ringen der Feuerüberlegenheit in die Schützengräben soviel Gewehre
zu bringen, als der Raum gestatte und von der früheren Gewohnheit
abzulassen, für das Infanteriefeuergefecht nur unbedeutende Kräfte in
den Schützenlinien aufzulösen. In der ersten Feuerstellung arbeiteten
die Russen mit dem Spaten. Obgleich ein Erkämpfen der
infanteristischen Feuerüberlegenheit aus dieser ersten Feuerstellung
nicht wohl angängig, blieben die Schützen in ihr längere Zeit, wahr-
scheinlich um der auf die Gefechtsabschnitte verteilten Artillerie, die,
so lange ihre Infanterie noch nicht in den Bereich des deutschen
Infanteriefeuers getreten war, die deutsche Artillerie bekämpfte und
dazu rückwärts der eigenen Infanterie meist im Abteilungsverband,
niemals mehr aber in Halbbatterien, in Stellung ging, Zeit zu lassen,
ihr Feuer gegen die Infanterie zu richten, ehe die Infanterie sich zu
weiterem Vorgehen entschloß. Bei diesem Vorgehen sowohl wie auch
beim Vorziehen aus der Marschkolonne bzw. der Entwickelung des
Gros wurden der deutschen Artillerie vielfach lohnende Ziele geboten.
Das russische Feuer aus der ersten Feuerstellung erwies sich im all-
gemeinen als ziemlich unwirksam:
1. weil, trotz der neuen Schießvorschrift, die das Gefechtsschießen
in die erste Linie stellte, die Schulausbildung viel zu wünschen
übrig ließ;
2. die Schützen in der Deckung durchrissen, um den Kopf möglichst
bald wieder in die Deckung zu bringen.
Das Vorgehen in die nächste vielfach 400—500 m vorwärts der
ersten gelegenen Feuerstellung erfolgte in Zügen mit mehreren in
voller Deckung verbrachten Atempausen. Gefeuert wurde dabei von
dem vorgehenden Zuge bei diesen Atempausen nicht und erst das
Feuer wieder aufgenommen, wenn der Zug voll in der neuen Feuer-
stellung angekommen war. Die bis dahin in der ersten Feuerstellung
Die bisherige russische Kriegs- und Kampfführung. 487
liegen gebliebenen und feuernden Züge folgten in gleicher Weise dem
ersten, sobald dieser das Feuer aufgenommen. Bei dieser Art ihres
Vorgehens haben die russischen dichten Schützenlinien durch Infanterie-,
Maschinengewehr- und Schrapnellfeuer meist schwere Verluste erlitten.
Maschinengewehr- und Schrapnellfeuer machten auf sie auch den
größten moralisch niederdrückend wirkenden Eindruck. Das Vorgehen
geschah immer sehr langsam, als wenn man stets sich über eine
deckungslose Ebene vorzubewegen hätte. Oft ist das Vorgehen,
trotzdem man, wie oben schon bemerkt, die frühere Gewohnheit, nur
Teile des Regiments für den Feuerkampf einzusetzen, aufgegeben hat,
im Infanterie-, Maschinengewehr- und Schrapnellfeuer niedergebrochen,
ehe es überhaupt Nahentfernungen erreichte, wo sonst gewöhnlich
einzelne Deckungen ausgehoben wurden und zwar von je einem
Schützen der Rotte, während der Nebenmann feuerte. Die Schulung
im Begegnungsgefecht hat sich, wie oben schon bemerkt, was den
raschen Entschluß, das Zufassen, das Handeln, auch wenn man nicht aus-
giebige Nachricht vom Feinde hat, betrifft, bei Führern und Truppen noch
als unzulänglich gezeigt, deutsche Truppen durften des Erfolges immer
sicher sein, wenn cs gelang, die Russen in die Bewegung hineinzureißen.
Das Zusammenwirken der verschiedenen Waffen auf den Gefechts-
zweck hin hat augenscheinlich stellenweise stark zu wünschen übrig
gelassen, obwohl die Gefechtsvorschriften als Grundbedingung für den
Erfolg im Angriff dauernde Unterstützung der Infanterie durch
Artilleriefeuer bezeichnet. Diese Unterstützung fehlte manchmal schon
bei der Vorhut, die, wie oben bemerkt, freilich auch meistens nur
mit einer Batterie zu acht Geschützen ausgestattet war. Ein Hinein-
werfen von Batterien des Gros, um in Eile die Vorhutartillerie und
Infanterie zu entlasten, den Gegner noch in der Entfaltung zu fassen,
ist sehr selten wahrgenommen worden. Es verging fast durchweg
längere Zeit, ehe die Batterien des Gros das Feuer begannen, und
man gewann den Eindruck, daß auch im Begegnungsgefecht die ganze
Artillerie erst in Stellung ging und Feuerbereitschaft meldete, wie bei
vorbereiteten Stellungen, oder bei einem Gegner, der in der Entwicke-
lung weit vorausgeeilt, ehe sie das Feuer eröffnete. Meist wurden
verdeckte Stellungen gewählt, gegen die sich unsere leichten und
schweren Feldhaubitzen aber als sehr wirksam erwiesen. Ob die
Wahl der Stellungen immer auf die geeignetsten getroffen ist — be-
merkenswert war das erkennbare Streben, nach flankierendes Feuer
ermöglichenden Stellungen — kann nicht beurteilt werden. Das Ein-
nehmen derselben hat recht oft zu schweren Verlusten der russischen
Artillerie geführt, die, sobald sie offen auffuhr oder erkennbar war,
durch schwere und leichte Feldhaubitzen, oder auch durch Granatfeuer
488 Die bisherige russische Kriegs- und Kampfführung.
unserer Kanonenbatterien niedergeworfen wurde. Daher auch die
großen Verluste, welche die russische Armee an Geschützen aufzuweisen
hat, auch in Geländen, in denen sie nicht, wie in Masuren, in
Sümpfen stecken geblieben sind. An uns allein hat die russische
Artillerie über 1000 Geschütze verloren, deren Ersatz bald eine Un-
möglichkeit werden dürfte. Die stellenweise gute Wirkung russischer,
nicht mehr vereinzelt verwendeter, sondern meist im Abteilungs-
verbande auftretender Batterien, die manchmal auch verdeckte Stellun-
gen ganz gut ausgenutzt haben, gegen sichtbar gewordene deutsche in
Stellung bzw. in Bewegung bewies die zweifellos besser gewordene
Schießausbildung und widerlegt beweiskräftig die Fabel von der viel-
fach nur mit Sand gefüllten russischen Artilleriemunition. Nach den
Gefechtsvorschriften und der Felddienstordnung soll die Entschei-
dung im Angriff durch Umfassung gesucht werden, den Mit-
teilungen von Teilnehmern ist aber kein Fall entnehmbar, in welchem
man die für die Umfassung bestimmten Kräfte schon im Anmarsch
russischerseits so abgesetzt hat, daß der Umfassungsversuch nicht
durch deutsche Abteilungen flankiert und hinfällig geworden wäre.
Bei dem am 6. Oktober von Grodno einsetzenden Offensivstoß
der neugegliederten Njemen- und Grodno-Reservearmee auf Augustowo-
Suwalki mit dem III. sibirischen und Teilen des XXII. (finnischen)
Korps, die schon einmal bei Lyck eine Niederlage erlitten hatten,
trat die deutsche Führung dem anfangs energisch geführten russischen
Angriff in der Front in der Hauptsache mit so starkem Artilleriefeuer
entgegen, daB eine Umfassung des nördlichen russischen Flügels mög-
lich wurde und zwar derart, daß Teile unserer Umfassungstruppen
mit völlig verwandter Front kämpften. Der russische Angriff
kam ins Stocken, während der deutsche kräftig einsetzte, die weichen-
den Russen einige Tausend Gefangene und 6 Batterien einbüßten.
Die volle Ausnutzung des Sieges wurde gehindert durch frische russi-
sche Heeresteile, wahrscheinlich eine neue Armee, Plehwe, die vom
Norden, von Olita, hinter der Njemenlinie, unseren Umfassungsflügel
in den Rücken zu fassen drohten und ihn zum Einnehmen einer nach
Nordosten gerichteten Front veranlaßten. Zur Umfassung im Gefecht
waren die bei Olita aufgestellten russischen Heeresteile von vornherein
aber augenscheinlich nicht bestimmt. Der mit dem Verlust von
3000 Gefangenen und 26 Geschützen geendete strategische Umfassungs-
versuch bei Schirwindt am 12. Oktober (wo auch russische Verbände
in Kolonnen im Gefecht auftraten, ihrer Hauptmenge nach aus nicht
feldmäßig ausgebildeten Rekruten gebildet. Sie wurden durch Feuer
einfach hingemäht) gehört nicht in das taktische Gebiet.
In der Verteidigung sind, neben dem überall deutlich hervor-
Die bisherige russische Kriegs- und Kampfführung. 489
getretenen Geschick der Russen für die Anlage feldmäßig verstärkter
Stellungen (vielfach waren von langer Hand her an der Grenze gegen
Ostpreußen schon mit Beton befestigte Schützengräben mit Kopf-
deckungen angelegt), Anpassen an das Gelände und Unsichtbarmachen
von Schützengräben und Batteriestellungen, auch die mehr passiven
Tugenden der Russen, Ausdauer und Zähigkeit (oft Berge von Leichen
in den zäh verteidigten Schützengräben), in den Kämpfen klar zum
Ausdruck gekommen. Wenn man aus der Verteidigung zum Angriff
überzugehen versucht hat, was trotz der nachdrücklichen Empfehlung
der offensiv zu führenden Verteidigung in der Felddienstordnung, nicht
sehr oft eingetreten, ist dies in der Form von kurzen Gegenstößen
aus der Stellung heraus, die dann im feindlichen Feuer zusammen-
brachen, erfolgt. Die Hauptreserve ist durchaus nicht immer recht-
zeitig eingesetzt worden. Das Feuer aus den meist sehr ausgedehnten,
auch Vorpositionen mit Infanteriebesetzung aufweisenden Verteidigungs-
stellungen war bei der Infanterie (vielfache Anwendung von Salven
war noch bemerkbar, erklärlich nur durch eventuelles Bedürfnis dieser
Maßnahme zur Erhaltung der Feuerzucht) und Artillerie entschieden
wirkungsvoller als beim Angriff. Eine Erklärung, neben den sonstigen
die Feuerangabe in der Verteidigung begünstigenden Umständen, finden
wir in der von Kriegsteilnehmern (wie auch in Frankreich) fest-
gestellten Tatsache, daß, im eigenen Lande wenigstens, die Russen
Fernsprechleitungen von den eigenen bis in die Nähe der wahrschein-
lichen deutschen Artilleriestellungen, zum Teil unterirdische, gehabt
haben, die Entfernungen ganz genau kannten und über die Lage der
Schüsse sofort unterrichtet wurden. Die Russen haben, wie die Fran-
zosen, die von dem französischen General Percin stets betonte Ver-
bindung „liaison en bas“ entschieden ausgebaut und ihr alle Mittel
dienstbar gemacht, um wenigstens die Übereinstimmung der Feuer-
wellen der Artillerie mit dem beabsichtigten Vorgehen der Infanterie-
Schützenlinien in Einklang zu bringen und ebenso sofort Nachricht zu
erhalten, wenn sich feindliche Artillerie ihren vorgesehenen Stellungen
in der Bewegung näherte. Daß man auch in offener Feldschlacht
große Kaliber verwendet hat, wurde oben schon hervorgehoben. Die
Gefechtsvorschriften betonen nachdrücklich, daß die Hauptstärke der
Verteidigung im Feuer liege. Vor allen russischen Stellungen wurden
künstliche Hindernisse modernster Art gefunden. In der Schlacht um
Hohenstein ist man russischerseits zu den sonst grundsätzlichen Auf-
nahmestellungen beim Rückzuge nicht gekommen, weshalb die
deutsche doppelte Umfassung und sofort einsetzende Verfolgung auch
zur reinen Vernichtung der russischen Narewarmee führte. In dem
Kampf gegen die Njemen- und Grodno-Reservearmee hat der länger
490 Die bisherige russische Kriegs- und Kampfführung.
haltende rechte russische Flügel im Sinne einer Aufnahmestellung ge-
wirkt. Bei Augustowo rettete die Annäherung der von Olita in Be-
wegung gesetzten Streitkräfte die Russen, deren rechter Flügel von
uns schon weitüberholend umfaßt war, während neue Umfassung un-
serem Flügel vom Rücken drohte, vor einer Katastrophe, die der-
jenigen von Hohenstein— Tannenberg einigermaßen ähnlich werden
konnte.
In dem zweiten Feldzugsabschnitt, der, wie schon oben dargelegt,
mit der deutsch-österreichischen Offensive zu beiden Seiten der Weichsel
und in Galizien einsetzt, an der ostpreußischen Grenze aber zunächst
auch den Abschnitt einer nachhaltigen Defensive aufweist, begegnen
wir bei dem vom Njemen aus auf dem ganzen Bogen von Schirwindt
bis gegenüber Lyck mit 6—8 Armeekorps noch auf russischem Boden
unternommenen Vorstoß einer für die russische Fechtart sehr bezeich-
nenden Erscheinung. Bei Tage haben wir fast durchweg nur Feuer-
kampf von russischer Seite gegen Schützengräben und Artillerie zu
verzeichnen, Angriffe nur bei Nacht und auch in dieser ein Nieder-
brechen der russischen Angriffe im Maschinengewehr-, Infanterie- und
Artilleriefeuer, so wie das Licht der Scheinwerfer vorgehende Linien
oder Schwärme erkennen ließ. Die enormen Verluste, die selbst auf
die weniger eindrucksfähigen russischen Gemüter ihre Rückwirkung
nicht verfehlen werden, dürften die Angriffslust der Russen im Kampfe
noch wesentlich herabdrücken.
Wie wenig man in Rußland für den heutigen Festungskrieg
ausgebildet ist. hat greifbar deutlich der verunglückte, von vornherein
den Todeskeim in sich tragende Versuch, den neuzeitlich befestigten
Platz Przemysl durch gewaltsamen Angriff zu nehmen, gezeigt. In
der damaligen Lage schon an und für sich verfehlt, hat der Mangel
an Verständnis bei der obersten Führung zeigende Versuch nicht
weniger als 70000 Mann Verlust gekostet, mehr als der fechtende
Stand von 2 vollen Armeekorps ausmacht. Bei der Räumung Galiziens
vor der mächtig einsetzenden deutsch-österreichischen Offensive mit
auch über die Karpathen vorbrechendem rechten Flügel hat nach der
raschen Überwältigung der sechs als Halteflügel bei Lancut gelassenen
Divisionen durch entschlossenen österreichischen Angriff auch das Re-
nomee der passiven Tugenden, Zähigkeit und Ausdauer der Russen,
stark gelitten. Der Rückzug über den San ist zu einer kleinen Bere-
sinakatastrophe geworden. Was den artilleristischen Angriff auf
Przemysl betrifft, so sind die Russen wahrscheinlich durch frühere
Spionage, vielleicht auch noch durch Verräterei während des Krieges
in einer ungewöhnlich genauen Weise nicht nur über alle Einzelheiten
der Befestigungsanlagen unterrichtet gewesen, sondern auch über Ziel-
. Zum derzeitigen Festungs- und Stellungskrieg. 491
objekte, deren genaue Lage und Bestimmung ihnen nur Verräterei be-
kanntgegeben haben konnte. Ihre Batterien waren ausgezeichnet und
genau nach Kalibern den zu bekämpfenden Zielen entsprechend an-
gelegt. Für die BeschieBung setzten die Russen 15 cm-, 18 cm-, 21-
und 24 cm-Kaliber ein, sowie auch eine größere Anzahl von Marine-
geschützen. Eine nicht unbeträchtliche Menge der schweren Geschütze
ist bei dem Entsatz der Festung durch die österreichische Offensive
von unseren Verbündeten genommen worden. Die Russen schossen
auch mit großer Präzision, aber nur sehr geringer Wirkung. Die aus-
gesprochen offensiv geführte Verteidigung der von fast 5 Armeekorps
eingeschlossenen Festung, zahlreiche Ausfälle, wirksamstes Feuer auch
aus vorgeschobenen Stellungen, haben die Russen von dem Grade des
zu erwartenden Widerstandes bald zu überzeugen gewußt und zu der
blutigen Quittung ihres verunglückten Versuches geführt.
XXXIV.
Zum derzeitigen Festungs- und Stellungskrieg
II.
(Abgeschlossen am 15. November 1914.)
Von
Woelki, Oberst z. D.
Die hier in Betracht kommenden Vorgänge auf den östlichen
Kriegsschauplätzen, und zwar in Ostpreußen und Polen einerseits und
in Galizien anderseits, verlangen von vorneherein eine besondere Be-
handlung; sind es doch nicht nur die räumlichen Entfernungen, sondern
vielmehr noch wesentlich verschiedene Hauptfaktoren, die Kräfte auf
eigentümlichen Kampffeldern, die hier zur Geltung kommen. Aus-
führlich auf diese Unterschiede einzugehen verbietet sich aus nahe-
liegenden Gründen; folgende Richtlinien dürften genügen:
| 1. Die sarmatische Tiefebene, als Teil der großen nördlichen
Tiefebene zweier Erdteile, hat einen besonderen Charakter, den sie
auch auf ihre Bewohner, und zwar bis in deren geistige Entwickelung
‚wie typische Betätigung ausübt und behauptet — ganz abgesehen
492 Zum derzeitigen Festungs- und Stellungskrieg.
von deren Herkommen — und vielleicht ursprünglichen Veranlagung.
Finden wir doch dieselben Rassen auch in dem südlich anschließenden
Galizien.
2. Entgegen dem alten: Ex oriente lux, hat sich in diesem Teile
Europas die Kultur von Westen nach Osten verbreitet bzw. Fuß ge-
faßt, wie dies auch in der norddeutschen Tiefebene als äußerstem
Ausläufer der sarmatischen, wohl zu merken ist.
3. Nun setzt aber eben diese Kultur — im weitesten Begriff —
beim Übergang bzw. auf der Grenze des deutschen zum polnisch-
russischen Gebiet, in solchem Maße und Umfang ab, daß jedem
Fremden (Westeuropäer) das Verständnis für die dahinterliegende Welt
gemeinhin fehlt; die weiten Strecken unfruchtbaren und unwirtlichen
Charakters (als bloto oder bagno, Wald und Unland), im Wechsel
mit wenig ausgenutzten, fruchtbaren Feldern, mit durchweg un-
gepflegten Wegen und Wasserstraßen, geben immerhin ein Bild des
Landes mit seinen, ihm seit einem Jahrtausend und mehr zugehörigen
Bewohnern — in Bedürfnislosigkeit, Unreinlichkeit, in harmlosem
Stumpfsinn — wie, erregt, in Brutalität, in Trr ksucht usw., mit
weitem Gewissen, kleinen Listen und niedrigen Gelüsten, in Passivität
und Zähigkeit, in Geringschätzung des Lebens, in kindischem Aber-
witz und bigotter Frömmigkeit. Alle Umwohner — abgesehen von
den Hintersassen im Nordosten — stehen seit jeher geistig höher,
und der jahrtausendelange Völkerdünger aus dem Westen hat die
Grundzüge ihres Wesens nicht berührt, nur teilweise verdeckt (Otez
l’epiderme et vous verrez le barbare“). Selbst die Westslawen, ein-
schließlich der Polen, sehen allgemein auf den Russen als solchen,
den „Moskowiter“ (moskal), herab; allein die brutale Gewalt ihrer
Überzahl imponiert ihnen.
4. Einen Gradmesser der Kultur von Land und Leuten liefert
der für die Kriegführung so wichtige Zustand der Wege. Diese sind
aber dort, wie schon angeführt, fast durchweg ungepflegt oder ver-
wahrlost, führen ungebessert über Flugsand, Letten und Weichland,
das in großen Flächen ohne Abwässerung nur zu bald in nasser
Jahreszeit den in Westeuropa unbekannten Zustand des bloto an-
nimmt, den Napoleon seinerzeit mit den Worten bezeichnete: „Jävais
trouvé ici le cinquième élément, qui etait la boue.“
5. Die Bedeutung der Witterung und Jahreszeit, zumal auf
dem nördlichen Kriegsschauplatz, ist für die Kriegführung schon
darum besonders groß, wie sich schon gezeigt hat. Während die
— übrigens ungewöhnliche — Trockenheit dieses Sommers bis in den
September hinein dort das Gelände weit und breit offen — zugäng-
lich erscheinen ließ, hat allein schon ein anhaltender Regen Ende
Zum derzeitigen Festungs- und Stellungskrieg. 493
September die militärische Verwendbarkeit der dortigen Gegend er-
heblich verändert, und zwar zumeist vermindert. Und es konnte
eine Stellung zum Schutze Ostpreußens an seiner Ostgrenze genommen
werden, die vor dem zu verteidigen zu viel Truppen erfordert hätte.
6. Die Kriegführung wie das Heer der Russen entsprechen
dem allgemeinen Volkscharakter neuerdings um so mehr, als (bzw.
seitdem) das völkische Selbstbewußtsein, erwacht und bewußt gepflegt,
eifersüchtig den nationalen Zuschnitt wahrt. Auch die Befestigung
stellt sich hier bewußt als Ergebnis der Verarbeitung von (Gelände
und) Stoff durch die schaffenden geistigen Kräfte und Neigungen
dar. Daß der Russe zur Verteidigung nebenbei vorzugsweise ver-
anlagt ist, geht schon aus Obigem hervor; ebensowie, daß in seiner
Heimat die Befestigungen anders ausfallen müssen wie in Mittel-
europa. Nicht mit Unrecht haben denn auch die russischen Ingenieure
(wie Generale) ein besonderes Gewicht auf die Begünstigung des
Gegenstoßes — neben der zähen Ausdauer — und dazu auf Reserve-
stellungen, gelegt; gegen Panzerbefestigungen dagegen sich lange ab-
wehrend verhalten.
7. Stellungen im gebräuchlichen Sinne sind in dem zumeist
unruhigen Gelände, mit unsicheren Übergängen, selten ausgesprochen
und — von den Jahreszeiten bzw. der Witterung abhängig, Da
spielt denn eine so fortlaufende Überhöhung wie die des rechten
Weichselufers — wenn auch mit Ausnahme der Strecke im Bereich
von Warschau — eine so große Rolle — also, daß die Russen ihre
erste Hauptverteidigungsstellung von jeher darauf gewählt hatten.
Von solchen Stellungen, wie sie vor 100 Jahren in Frage kamen
(Drissa), kann bei den jetzigen Raum- und Maßenverhältnissen nicht
mehr die Rede sein. Jetzt laufen die wichtigsten an den großen
Flüssen entlang: Njemen zwischen Grodno und Kowno, Weichsel
zwischen Iwangorod und Nowo Georgiewsk, Narewlinie, Wartalinie und
Sanlinie, wovon die drei ersten seit etwa 1880 befestigt sind; aber
nicht stetig noch gleichbleibend, vielmehr wurden Kriegsplan und
Zweck mehrfach geändert. Wenn dann die Probe auf das Exempel
nicht ganz stimmt, so fällt dies auch wieder auf Rechnung der
„breiten“ russischen Natur (szerokaja naturja) mit dem unzuverlässig
arbeitenden Staats- und Militärmechanismus.
Von bisherigen Stellungskämpfen ist zu erwähnen: In Ost-
preußen war zunächst nur die Deimelinie befestigt und wurde auch
nach dem Rückzug unserer Truppen (23. August) dort gehalten; da
sie aber keine Fortsetzung nach den masurischen Seen besaß, blieb
sie ohne eigentliche Bedeutung. Erst nach den siegreichen Schlachten
und der Besetzung von Suwalki wurde, unter Ausnutzung der
Jahrbücher für die deutsche Armee und Marine. Nr. 519, 33
494 Zum derzeitigen Festungs- und Stellungskrieg.
günstigeren Verhältnisse (s. oben)eineVerteidigungsstellung Wladislawow —
Suwalki eingerichtet und besetzt. Wenn auch deren genauere Lage
nicht angegeben werden kann, so ist doch anzunehmen, daß wesent-
lich die Hindernislinien, die die Szeszuppe bilden und begleiten, aus-
genutzt sind: derart, daB zunächst nur Umgehungsversuche übrig
blieben, die, nördlich (Schirwindt) durch das vorliegende, allgemein
unwegsame Waldgelände nach dem Njemen hin, und südlich über das
Sumpfdefilee von Augustow — und weiter: von der Narewlinie her
immer nur im beschränkten Maße gemacht sind (neuerdings sind
freilich auch von Kalwarya solche erfolgt).
Die russische Verteidigungsstellung (Anfang September) in Ost-
preußen zog sich hinter (östlich) der Alle über Rössel nach den
Seen, war mit bekanntem Geschick ausgebaut und stark armiert. Sie
ist auch nicht direkt genommen, fiel vielmehr durch Umgehung an
und durch die Seen, also durch russisches Ungeschick — ähnlich wie
die Kintschou-Enge (Mai 1904).
Ob und in wie weit die nun (Anfang November) vor unserer Armee
liegende Wartalinie in Polen vordem schon von uns ausgebaut und ein-
gerichtet war, ist nicht bekannt. Jedenfalls erleichtert das weit fort-
laufende Sumpfhindernis zurzeit noch wesentlich die Verteidigung des
rückwärtigen Gebietes. Vor ihr bilden auch die Linien Lenciza— Lodz und,
noch mehr, Lowicz— Skiernewice mit*der Bzura wesentliche Abschnitte.
Der diesseitige Aufmarsch gegenüber der schon genannten mäch-
tigen Stellung Iwangoroed—Nowo Georgiewsk im Oktober konnte
keinen anderen Zweck haben, als die russische Hauptmacht hierher
zu ziehen; die Linie zu nehmen (forcieren), dazu war von vornherein
wenig Aussicht — wohl aber das Vorbrechen aus dieser Stellung, das
immerhin ein gewisses Geschick erfordert und leicht Blößen gibt, zu
erfolgreichen Stößen auszunützen — was ja auch — teilweise — ge-
lungen ist.
Bei den gegenwärtig, Mitte November, dort, im Nordosten, vor-
herrschenden Witterungs- und Wegeverhältnissen sind größere Opera-
tionen mehr noch wie sonst erschwert. Das mag ein Hauptgrund
für die Russen sein für ihren Vorstoß zu beiden Seiten der Weichsel;
führt er doch durch die an sich gangbarsten Gegenden! (Masovien
und Cujavien.) Daraus könnte sich wohl ein Angriff auf Thorn usw.
entwickeln. Wie ja auch Przemysl (s. nachfolgend) wieder ein-
geschlossen ist (nachdem die Österreicher Mittelgalizien haben räumen
müssen). Da nun die Witterungs- und Wegeverhältnisse demnächst
noch ungünstiger werden müssen, so dürfte es im Osten überhaupt
(bald) zu einem gewissen Stillstand kommen und so ebenfalls in
Stellungs- und Belagerungskrieg auslaufen.
Zum derzeitigen Festungs- und Stellungskrieg. 495
Nach österreichischen Berichten bot die Gegend von Lemberg
(geräumt am 5. Oktober) keine geeignete Stellung. Es scheint auch,
daß der mächtige Wall der Karpathen nicht so leicht vor dem feind-
lichen Durchbruch geschützt werden konnte, wie man anzunehmen
geneigt war. — Bei Wiederaufnahme der Offensive seitens unserer
Verbündeten — im Oktober — werden zwar die Stellungen der San-
linie wie zwischen Medica—Stary Sambor viel genannt, ohne daß
jedoch etwas Besonderes darüber berichtet ist. Das Hauptinteresse
nimmt hier die Festung Przemysl in Anspruch.
Nach Zeitungsberichten soll nach etwa i4tägiger Vorbereitung
am 5. Oktober die Beschießung mit 8-, 10-, 15-, 18- und 21 cm-
Kalibern sowie 8zölligen Marinegeschützen eröffnet sein. (Danach
scheint die angekündigte französische Lieferung schwerer Belagerungs-
geschütze vor Ausbruch des Krieges noch nicht geschehen zu sein.)
Die russische Artillerie soll vortrefflich gearbeitet haben. Das Feuer
hat bis zum 8. mit steigender Heftigkeit gedauert, währenddessen
die Infanterie sich mit viel Geschick heranarbeitete, wobei ein be-
sonderes Verfahren beobachtet wurde, das augenscheinlich eingeübt
war. Die Mannschaft lief dabei sprungweise etwa 70 m vor, indem
sie ihre Zeltdecke als Maske benutzte und grub sich außerordentlich
schnell ein usw.
Aus einem etwas unklaren Bericht über die Behauptung des
gestürmten „Forts Siedliska, Werk I“ geht hervor, daß das Fort
Senkpanzer besessen, die auch „den schwersten Angriffsgeschützen
widerstanden und bis zuletzt funktioniert“ hätten. Die Sturmfreiheit
des Werkes beruhte auf einem Drahthindernis auf dem Glacis und
einer — anscheinend nicht sehr hohen Konterskarpe — (ohne Gitter).
Dagegen lag — anscheinend nahe — „links vorn“, also wohl vor
dem Schulterpunkt, ein ma (!), in den die Russen 10 Bataillone
vorgeschoben hatten.
Am 7. Oktober 3° früh setzte ein furchtbares Schrapnelfeuer
ein; im selben Augenblick hörte die Besatzung ein wütendes Gebrüll
und Geheul, mit dem die Russen in dichten Rudeln in den Graben
„springen“ (!) und den Wall hinaufklettern. Sie hatten sich an das
Drahthindernis „auf dem rechten Flügel, dessen Böschung flacher
ist“ (?), lautlos herangeschlichen, mit Drahtscheren, die sie auf
ihrem Gewehrlauf hatten, das Hindernis durchschnitten, den (!) Horch-
posten erschossen und brachen nun ins Fort hinein. — Aber nur die
Hälfte des „I. Sturmbataillons‘ kam über den Graben. Denn sofort
traten die „‚flankierenden Maschinengewehre‘ in Tätigkeit. Die
dahinterfolgenden Bataillone „ließen wir nicht mehr heran, diejenigen
aber, die nun einmal drin waren, machten uns die Hölle heiß“ (be-
35*
496 Zum derzeitigen Festungs- und Stellungskrieg.
richtet der Kommandant). Die Infanteriebesetzung auf dem Wall
wurde niedergemetzelt. Aber die 70 Mann Artillerie in einem
darunterliegenden (Bereitschafts-) Raum wehrten sich dort so lange,
„bis die Honveds heranstürmten“ (wohl die äußere Reserve anlangte).
Dann aber lag noch in den Tag hinein ein Rest von dem I. Sturm-
bataillon im Glacis eingegraben und mußte — wegen des beider-
seitigen Feuers — erst mit besonderem Manöver herausgeholt werden.
Am 8. Oktober hoben die Russen, dem nahenden Ersatzheer weichend,
die Belagerung auf, ohne ein Werk erobert zu haben. Inwieweit
die Intervalle ausgebaut gewesen, wie über manche andere wesent-
liche Kampfbedingung fehlt es noch an Nachrichten.
Auch über den Verlauf der angekündigten Beschießung von
OBowez ist nichts Sicheres verlautet.e. Das Unternehmen ist an-
scheinend nur so nebenbei, als Diversion zur Ablenkung und Irre-
führung usw. angesetzt und bald wieder aufgegeben.
Auf den westlichen Kriegsschauplätzen haben die Kämpie
immer mehr Form und Wesen des Stellungskrieges angenommen.
Auch die Umgehungsversuche laufen alsbald in endlose Kämpfe um
Örtlichkeiten hinaus, und selbst die Anwendung stärkerer Angriffs-
mittel war bisher nicht imstande, schnellere und große Fortschritte zu
zeitigen. Nicht, daß es unseren Truppen an Angriffslust und Energie
fehlt! Es kann vielmehr erfreulicherweise festgestellt werden, daß
der Drang nach vorwärts bei uns nicht, wie es wohl zuerst (im
September) zu fürchten war, „begraben“ ist, daß vielmehr die deut-
schen Truppen auch den ihnen unsympathischen Stellungskrieg mit
steigendem Vorteil führen. Das zeigt sich im Argonnenwald, wie an
der Aisne, und nicht weniger in dem Inundationsgebiete der Küste.
Es werden nicht bloß Schützengräben und Deckungsgräben hergestellt,
besetzt und ausgebaut, sondern auch Annäherungs- und Vorgräben
„Vvorgetrieben‘‘ und so Gelände gewonnen; überhaupt: der Kampf
„belagerungsmäßig‘“ geführt.
Wenn nun so, trotz aller Bravour der Truppen, die Angriffe
doch immer wieder ins Stocken geraten, so kann man sich der Wahr-
nehmung nicht mehr verschließen, — zumal auch andere Anzeichen
dafür sprechen, — daß die Überlegenheit. die vordem Angriff durch
gehörige Ausnutzung der Artillerie regelmäßig zufiel, geschwunden ist,
also, daß die Artillerie (im ganzen), wie groß auch ihre Leistungen
sonst — auch im Vergleich mit der feindlichen — sind, nicht mehr
ausreichen, um der Infanterie — wie 1870/71 — über gut ver-
teidigte Stellungen hinweg den Weg zu bahnen, daß vielmehr von
den zeitigen Feuerwafien die Verteidigung mehr Vorteile zieht
Zum derzeitigen Festungs- und Stellungskrieg. 497
als der Angriff, und zum trotz der übermächtigen neuen Mörser,
oder auch: abgesehen von ihnen.
Die großen Erfolge der neuen 42 cm-Mörser waren ja auch haupt-
sächlich nur deshalb möglich, weil die angegriffenen Verteidigungs-
stellungen durch gute Ziele bietende Einzelbauten (Forts) gebildet,
schon aus der Ferne, ohne rechte Gelegenheit der Gegenwehr, zerstört
werden konnten. Daß solche Erfolge, von denen noch der letzte, zur
Eroberung von Antwerpen führende, wohl am höchsten zu schätzen
ist, ein unwandelbares Verhältnis, nämlich der bleibenden entscheidenden
Übermacht eines Angriffsmittels darstellen und gewähren würden, das
war doch nicht zu erwarten. Es war darum auch wenig angebracht,
sofort einen „einwandfreien Sieg über die Verteidigung im Festungs-
kriege feststellen“ zu wollen, wo, wie auch General v. Blume sein
Urteil dahin faßte, „der schnelle Erfolg der neuesten Angriffe auf
Festungen wesentlich einer beim Bau der letzteren nicht vorgesehenen
Vervollkommnung der schwersten Geschütze zuzuschreiben ist, die
jedoch im Feldkriege nicht verwendbar sind“. Die Rückschläge ließen
denn auch nicht lange auf sich warten. Auf diese schon hier im
einzelnen einzugehen, dürfte noch nicht angebracht sein; es möchte
mit der Feststellung der Tatsache sein Bewenden haben, daß es
wiederholt mißlungen ist, durch bloße Beschießung einen durch-
schlagenden Erfolg zu erlangen, also, daß selbst die Bezwingung (und
Einnahme) von einzelnen Objekten (Sperrforts) nicht den Besitz der
zugehörigen Geländeteile sicherte. Dazu veranschaulicht der. zeitige
Stellungskrieg zur Genüge, wie unbezwinglich (Geländestellen, richtig
ausgenutzt, eingerichtet und bestückt, allen Angriffen, auch solchen
mit.schwerer Artillerie, gegenüber. werden können. Eben, wenn sie
gut besetzt und zeitgemäß verteidigt werden!
Damit ist denn ein Wandel, eine neue Periode im Festungs-
und Stellungskriege eingetreten, die schon seit Jahrzehnten sich
vorbereitet hat und längst von aufmerksamen Beobachtern vorgesehen
ist. Nicht, daß nunmehr die alten Festungen allen Wert verloren
hätten! Und am wenigsten wohl deshalb, weil — wie man noch vor
kurzem in einem angesehenen Blatte lesen konnte — „eine große
Anzahl kleiner und vereinzelter Festungen leicht zu einer Schwächung
der Feldarmee, die doch immer den Ausschlag gibt, führt, indem sie
ihr einen wesentlichen Teil ihrer Kräfte entzieht“! Solche Ansicht
hätte vielleicht vor 50 Jahren eine Berechtigung, nicht aber heut-
zutage, angesichts der Millionenheere über ganze Länder hinweg, in
allen Abstufungn von Alter und Ausbildung! Aber die Ver-
teidigung nach dem Vorbilde der Kolonneutaktik in einzelne
Punkte zu verlegen und diese nach Art von Trutzburgen ausbauen
498 Zum derzeitigen Festungs- und Stellungskrieg.
zu wollen, das wird fortan wohl als unzeitgemäß aufgegeben
werden müssen!
Nun lassen sich gewiß die Landesbefestigungen nicht im Hand-
umdrehen umwandeln, noch neu schaffen. Das ist aber auch zum
größten Teil nicht nötig, wie dies schon an der bisherigen Verteidigung
von Verdun zu sehen ist! Das nun schon mfonatelang als Eckpfeiler
der französischen Verteidigung zum Angriff herausfordert, ohne daß
ein namhafter Erfolg dagegen bekannt geworden wäre. Allerdings
kommt es — auch hierbei — auf die näheren und besonderen Um-
stände an; und diese sind eben bei Verdun viel günstiger als bei dem
vielfach überschätzten Antwerpen. Diese Umstände liegen nicht nur
in den günstigen Geländeverhältnissen, die den Klein- wie Massenkrieg
gleich begünstigen, die Beherrschung aber durch bzw. nach völliger
Niederkämpfung ihrer Bestückung erschweren, als vielmehr in
den starken, kriegstüchtigen Kräften, die schon an und für sich zu
bezwingen mehr an Kräften und Energie erfordern, als man gewohnt
ist, davon zu Belagerungen aufzuwenden, die aber hier in geschickter
Ausnutzung der als „stärkere Form“ gegebenen Umstände zu besiegen
oder zu vertreiben — ebenso überaus schwer erscheint, wie es — im
günstigen Fall — entscheidend werden muß.
Daß von einer „stärkeren Form“ nur unter der Voraussetzung
gleich kriegstüchtiger Gegner die Rede sein kann, darf aber hierbei
nicht vergessen werden, ebensowenig wie, daß die Ausnutzung der
zu Gebote stehenden Hilfsmittel und Vorteile andere Anforderungen
stellt, als wie sie der Angriff erfordert.
Weshalb und wodurch die Verteidigung neuerdings so verstärkt
erscheint, das weiter auszuführen wird sich wohl noch Gelegenheit
bieten; hier mag die schon angeführte Erfahrung, daß es gemeinhin
der Artillerie des Angreifers nicht oder so wenig gelingt, diejenige des
Verteidigers niederzukämpfen, wie daß der Verteidiger allein, nur unter
Ausnutzung der Maschinengewehre sich der feindlichen Angriffe er-
wehren kann, zunächst genügen.
Daß dies Verhältnis anderseits nur zu leicht und zu oft in
Wirklichkeit gestört wird, sei es durch Überschätzung eines vor-
handenen Hindernisses, durch übertriebene Sparsamkeit oder bittere
Not herbeigeführte Besatzungsmängel, sei es durch mangelhafte Aus-
nutzung der Gelände- und Befestigungsvorteile, wie durch Unachtsanı-
keit, Feigheit oder sonstige Ursachen des Versagens — das bleibt
immer noch Grund genug, der für die an sich erfolgreichere Form
des Angriffs spricht und eindringlichst zur Pflege der Initiative, des
unwiderstehlichen Vorwärtsdranges und frischen Wagemuts mahnt.
Ein Blick auf Verwendung und Tätigkeit der Kavallerie im Jahre 1914. 499
XXXV.
Ein Blick auf Verwendung und Tätigkeit der
Kavallerie im Kriege 1914.
Von
Frhr. von Welck, Oberstleutnant a. D.
JI.
Auf dem östlichen Kriegsschauplatze machten sich, wie wir ge-
sehen haben, vom Beginn der Feindseligkeiten an, zahlreiche kleine
Unternehmungen der russischen Kavallerie geltend, die nach Ost-
preußen vordrangen, aber allerdings an unseren Grenzschutztruppen
zerschellten und keine weitausgreifenden Vorstöße riskierten, so
daB der eigentliche Zweck derselben — Störung der Mobilmachung,
Unterbrechung der rückwärtigen Verbindungen usw. — nicht erreicht
wurde.
Ein wesentlich anderes Bild bietet sich an unserer Westgrenze.
Von einer Unternehmungslust der französischen Kavallerie ist durchaus
nichts zu spüren, während die deutsche Reiterei in ganz hervorragender
und mustergültiger Weise ihrer Aufgabe gerecht geworden zu sein
scheint. Bei den spärlichen Nachrichten, über die man nur verfügen
kann, ist man ja auch hier in der Hauptsache auf Zeitungsberichte
angewiesen, aber es lassen sich aus diesen Berichten über die Einfall-
gefechte Bilder konstruieren, die der Wahrheit ensprechen dürften.
Wir sahen — vergleiche unseren Artikel im Oktoberheft —, daß
Frankreich 7 Kavalleriedivisionen gegen die Ostgrenze bereitgestellt
hatte, deren Regimenter, wie alle Grenztruppen, schon im Frieden
den vollen Kriegsetat hatten, d. i. für die Kavallerieregimenter: 740
Mann, 822 Pferde (einschließlich Offizierspferde) und außerdem
90 Mann zum Dienst ohne Waffe. Infolge der am 31. Juli von
Rußland und Österreich angeordneten allgemeinen Mobilmachung er-
klärte Se. Maj. der Kaiser den Kriegszustand für das gesamte deutsche
Reichsgebiet und richtete gleichzeitig an die französische Republik die
Frage, welche Stellung sie in einem eventuellen deutsch-russischen
Kriege einnehmen werde. Da hierauf keine befriedigende Antwort
einging, so wurde am 1. August der Mobilmachungsbefehl für die
deutsche Wehrmacht erlasssen. Am gleichen Tage wurde der Mobil-
machungsbefehl in Frankreich erlassen. Ä
500 Ein Blick auf Verwendung und Tätigkeit der Kavallerie im Kriege 1914.
Am 2. August fand die erste Grenzüberschreitung durch fran-
zösische Truppen im Elsaß statt, und zwar ohne vorherige Kriegs-
erklärung; sie besetzten mit Infanterieabteilungen die Ortschaften
Markirch, Metzeral, Gottestal und den Schluchtpaß; von einem Vor-
gehen von Kavallerie ist aber nirgends etwas zu bemerken, ob-
gleich in Belfort, Vesoul, Lure, Epinal, also ganz nahe der deutschen
Grenze, schon nach der Friedensdislokation 4 Kavallerieregimenter
standen. Man kann ja sagen, daß das Gelände längs der Elsasser
Grenze von Altkirch bis Straßburg nicht günstig für Kavallerieunter-
nehmungen ist wegen der Kette der Vogesen mit vielen engen Tälern,
Schluchten und dichtem, vielfach undurchdringlichem Wald, aber auch
nördlich dieser Zone, wo kein hindernder Gebirgszug mehr vorliegt, wird
über das Auftreten französischer Kavallerie nichts berichtet. Wie ist es
zu erklären, daß die in Luneville — nur 25 km von der Grenze —
stehende zweite Kavalleriedivision sowie die in Nancy und Toul
stehenden zwei Regimenter vollständig untätig geblieben sind, jeden-
falls die Grenze nicht in der für größere Kavallerieabteilungen ge-
dachten und vorgeschriebenen Weise überschritten haben? Es entzieht
sich unserer Kenntnis, ob diese Abteilungen vielleicht bei Eintritt der
Mobilmachung von hier weggezogen worden sind und anderweit Verwen-
dung gefunden haben, doch erscheint es wenig glaublich, da doch diese
Dislokation gewiß nur gewählt worden war, um von hier aus bei
Kriegsausbruch in Feindesland einbrechen zu können, und da man
ihrem Auftreten auch sonst nirgends begegnet.
Die ersten Nachrichten, die man über einen Zusammenstoß mit
französischer Kavallerie erhielt, datierten vom 19. August, und zwar
aus Belgien, wo es bei Perwez zu einem Gefecht mit unseren Reitern
kam. Ehe wir es aber näher besprechen, werfen wir zunächst einen
Blick auf den Vormarsch der deutschen Kavallerie. Leider fehlen
auch hier alle näheren und zusammenhängenden Berichte und nament-
lich sind wir über die Zusammensetzung der großen Armeekörper und
über die Zuteilung und Formation der Kavallerie ohne nähere Kennt-
nis. Wir wissen nur, daß die deutschen Truppen am 2. August
Luxemburg besetzt haben und von dort aus mit sechs Friedens-
brigaden mit Kavallerie und Artillerie des X. Armeekorps am
4. August die belgische Grenze überschritten. Bereits am 7. August
fand der siegreiche Einzug in die Festung Lüttich statt. Die Ein-
nahme war das Werk unserer Vortruppen, denen auch Kavallerie
zugeteilt war, die hier Gelegenheit fand, den ersten schneidigen Hand-
streich auszuführen. Eine schwache Patrouille drang am frühen
Morgen in die Stadt ein, besetzte die Kommandantur und wollte sich
des Kommandanten bemächtigen, der sich aber durch die Flucht der
Ein Blick auf Verwendung und Tätigkeit der Kavallerie im Kriege 1914. 501
Gefangennahme entzog. Wenn auch der Zweck des Handstreichs,
sich auf diese Weise in den Besitz der Festung zu setzen, nicht er-
reicht wurde, so ist es doch ein glänzendes Beispiel der in unserer
Kavallerie heimischen Kühnheit und Unternehmungslust, ohne die
keine großen Taten möglich sind. Der kühne Husarenstreich gewinnt
dadurch an Interesse und Bedeutung, daß der Patrouillenführer der
Prinz Friedrich Karl war, der Enkelsohn des gleichnamigen großen
Heerführers aus dem Kriege 1870/71. Noch am gleichen Tage wurde
die Festung von unseren Truppen im Sturme genommen.
Der erste größere Zusammenstoß mit französischer Kavallerie
fand, wie schon oben bemerkt, am 19. August bei Perwez in Belgien,
nördlich von Namur, statt. Hier begegnet man zum erstenmal einer
geschlossenen französischen Division, und zwar der 5.. die im Frieden
in Reims in Garnison stand. Sie wird gebildet aus der 3. Dragoner-,
7. Dragoner- und 5. leichten Brigade. einer reitenden Abteilung und
einer Radfahrerabteilung. Die Division wurde von unserer Kavallerie
unter schweren Verlusten zurückgewiesen und verlor 2 Geschütze und
2 Maschinengewehre. Auf beiden Seiten war hier die Kavallerie den
nachfolgenden Truppen weit vorausgeeilt; während dies aber bei den
Franzosen in dieser Periode des Krieges als Ausnahme zu be-
zeichnen ist, wird es bei uns als Regel festgehalten. So kam es,
daß am 20. August bereits deutsche Reiter in Brüssel einritten;
nach einer belgischen Mitteilung ein Ulanen- und ein Husarenregiment.
Der Bürgermeister war ihnen entgegengegangen und erhielt das Ver-
sprechen, daß der Stadt kein Leid widerfahren werde, wenn sich die
Bevölkerung ruhig verhielte und keine Feindseligkeiten beging. Am
folgenden Tage zogen die anderen Truppen in die belgische Haupt-
stadt ein.
Am 23. August sind unsere Truppen im Vormarsch gegen
Maubeuge; hier tritt am 24. August zum ersten Male eine englische
Kavalleriebrigade auf, die geschlagen wird. Nach englischen Be-
richten war es die zweite Brigade, und das Gefecht fand bei Thalin,
halbwegs zwischen Mons und Valenciennes, statt. 6'/, Stunden hatte
die englische Kavallerie auf das Zeichen zur Attacke gegen die
deutschen Schützen gewartet: das Terrain war ideal für eine Attacke;
10° kam endlich der Befehl zum Angriff; die 9. Ulanen gingen
ins Gefecht „singend und schreiend“; nur wenige Sättel wurden durch
das deutsche Artilleriefeuer geleert. Plötzlich. auf eine Entfernung
von nur 150 m, eröffneten 20 Maschinengewehre ihr Feuer. Das
Ergebnis war vernichtend; das Gros der Brigade schwenkte nach
rechts ab; auf die 9. Ulanen prasselte die volle Gewalt des Sturmes;
diejenigen, die noch auf den Feind weiter ritten, stießen nach wenigen
502 Ein Blick auf Verwendung und Tätigkeit der Kavallerie im Kriege 1914.
Metern auf ein Gewirr von Stacheldraht; sie stürzten und wurden ge-
fangen genommen. „Drei der besten englischen Kavallerieregimenter
haben die Attacke geritten; von den 9. Ulanen versammelten sich am
Abend nicht mehr als 40 im Dorfe Rusmes, andere kamen am nächsten
Tage, und endlich ergab ein Appell des ganzen Regiments, daß nur
220 Mann übriggeblieben waren. Die beiden anderen Regimenter
der Brigade hatten ebenfalls schwer gelitten, aber nicht so stark wie
die 9. Ulanen.“ So lautet der englische Bericht.
In der Darstellung der bisherigen Operationen des englischen
Expeditionsheeres, die vom Feldmarschall French herrührt und in
englischen Blättern veröffentlicht wurde, heißt es: „Am 25. August“
— also nach Maubeuge — „wurden wir auf dem Marsche den ganzen Tag
über vom Feinde bedrängt, der seine Angriffe auf die erschöpften englischen
Soldaten auch in der Nacht fortsetzte. Während der Kämpfe am 23.
und 24. ersuchte ich den General Sordet, der drei französische Kavallerie-
divisionen befeligte, um Unterstützung. Sordet leistete zwar wertvolle
Hilfe, war aber am 26., dem kritischsten Tage, infolge der Erschöpfung
seiner Pferde, nicht mehr imstande, uns zu unterstützen.“ Die geringe
Leistungsfähigkeit der französischen Kavallerie hat sich in diesen Tagen
besonders gezeigt, während anderseits die vorzüglich durchgeführte
Verschleierung seitens der deutschen Kavallerie es erzielte, daß
Feldmarschall French bis zum letzten Augenblick die Stärke der ihm
gegenüberstehenden deutschen Truppen nicht kannte und durch ihr
Auftreten vollständig überrascht wurde. Auch der Berichterstatter
der „Times“ schreibt aus diesen Tagen, daß die Deutschen, dank der
außerordentlichen „Flinkheit“ der Kavallerie ihre Erfolge auszunutzen
und schließlich die Engländer in eine wilde Flucht zu treiben ver-
mochten.
Während in diesen Tagen — etwa vom 20. bis 24. August —
der Vormarsch der deutschen Heressäulen nach Frankreich in drei
Hauptarmeen stattfand: Kronprinz von Bayern in der Linie Lunéville
—Blamont—Cirey, der deutsche Kronprinz vorwärts Longwy und der
Herzog A. v. Württemberg noch weiter westlich, wo er eine über die
Senois vorgedrungene Armee vollständig schlug und sie verfolgte, fällt
unsere Kavallerie — eine selbständige Division — weit über den
rechten Flügel dieser Armeen hinausgreifend über Roubaix und
Toureoing bei Lille in französisches Gebiet ein. Diese Nachricht
wurde am 24. August, abends 11 Uhr, in Paris als offizielle Bekannt-
machung veröffentlicht. Wie der Feind zu dieser Zeit die Stellung der
deutschen Armee gegenüber der englisch-französischen beurteilt, ersieht
man am bestan aus einer Kartenskizze, die in der Times vom 26. August
abgedruckt war und die das Militär-Wochenblatt Nr. 118 vom 5. Sep-
ee oo.
Ein Blick auf Verwendung und Tätigkeit der Kavallerie im Jahre 1914. 503
tember ihren Lesern vorlegte. Diese Skizze: zeigt die Stellung der
deutschen Kavallerie auf dem rechten Flügel unserer Armee westlich
von Courtrai, mit ihrer Spitze an der französischen Grenze, nördlich
von Ypern und bis nach Ostende ausgreifend. Wir glauben nicht, daß die
Einzeichnung für die damalige Zeit ganz zutreffend ist, man ersieht
aber jedenfalls daraus, daß die englische Kriegsleitung uns eine der-
artige Umfassung des gegnerischen linken Flügels zutraute.
Nach der Niederlage bei Maubeuge zogen sich die Verbündeten
auf St. Quentin zurück, wo sie am 31. August eine vollständige Nieder-
lage erlitten. Es kämpften hier neben der englischen Armee drei
französische Territorialdivisionen. Für uns ist von besonderem Inter-
esse, daß ein Kriegsberichterstatter aus dem Großen Hauptquartier
hierzu meldet, daß dieser Sieg bei St. Quentin hauptsächlich dadurch
erfochten worden sei, daß wir unsere Kavalleriemassen vor die in
der Richtung auf St. Quentin fliehenden englischen Heeresteile schoben
und sie auf diese Weise so lange aufhielten, bis unsere verfolgenden
Armeekorps sie nochmals entscheidend angreifen und schlagen konnten.
Es wäre dies eine Verwendung der Kavallerie, die in hohem Grade
beachtenswert und nachahmenswert erscheint. Die Engländer wurden
dadurch von ihren rückwärtigen Verbindungen abgeschnitten, und
ihre vollständige Einkreisung gelang nur deshalb nicht, weil sie
zu schnell flohen. Die englische Kavallerie verließ das Schlacht-
feld in regelloser Flucht und erlitt viele Verluste. Die englische
Heerführung empfand die Unzulänglichkeit der Leistungen der eigenen
wie der französischen Kavallerie sehr wohl, aber die Fähigkeit zu
größeren Leistungen fehlte. In Erwartung einer großen Entscheidungs-
schlacht im Nordwesten Frankreichs schrieb Mitte September der Kriegs-
berichterstatter der Times, daß die Verbündeten, um Erfolge zu er-
ringen, den rechten Flügel der Deutschen überrumpeln und ihren
Rücken mit Kavallerie überfluten müßten. Dazu gehört aber
eine tüchtige, gut ausgebildete Truppe und vor allem tüchtige,
schneidige Führer ').
Das Vorgehen und die Tätigkeit unserer Kavallerie auf dem
rechten Flügel machte sich ohne Unterbrechung geltend. Das Große
1) Der Verfasser dieser „Rückblicke“ hatte einige Wochen vor Kriegs-
ausbruch Gelegenheit, einen sehr intelligenten französischen Capitaine zu
sprechen, der mehrere Jahre Adjutant von General Liautey in Algier
gewesen war und sich jetzt zum Generalstabe vorbereitete. Er sagte
hinsichtlich der französischen Kavallerie: „Unser Pferdematerial ist aus-
gezeichnet, aber wir haben keine Leute, die diese guten Pferde reiten
können. In. zwei Jahren kann man nicht aus einem Franzosen einen
Kavalleristen machen.“
504 Ein Blick auf Verwendung und Tätigkeit der Kavallerie im Kriege 1914.
Hauptquartier meldet am 3. September, daß gegen Reims der An-
griff eingeleitet ist, daß unser Westheer die Oise überschritten hat
und daß die Kavallerie des Generalobersten von Kluck
bereits bis Paris streift. Eine Abteilung soll — nach Pariser
Blättern — schon Mitte September in Fontainebleau und Compiegne
gewesen und bis an die Bannmeile von Paris vorgedrungen sein. Man
hätte sie für Engländer gehalten und ihnen bereitwillig jede Auskunft
erteilt. Der Feind ist durch den Vormarsch der Armeen Kluck und
Bülow, der durch die Kavallerie unter General v. d. Marbitz vor-
züglich verschleiert wurde, vollständig überrascht worden. An
diesen Bericht anknüpfend, lasen wir in einem angesehenen Blatt:
„Man ersieht mit besonderer Genugtuung, welch ruhmvoller Anteil
an den überwältigenden Erfolgen der deutschen Waffen unserer
Kavallerie gebührt, der unter der ausgezeichneten Führung des
Generals v. Marbitz die vollkommene Verschleierung der
deutschen Heeresbewegungen gelang.“
Das auffallendste bei diesem kühnen Vorgehen ist, daß unsere
Kavallerie anscheinend nirgends auf französische Kavallerie gestoßen
ist. Die französische Heerführung muß doch, sollte man denken,
ihre linke Flanke auch durch Reiterei gedeckt haben? Eine Kavalierie,
die nicht versteht, dem Gegner an der Klinge zu bleiben, verstößt
gegen eine ihrer ersten Obliegenheiten. Auch der Führer der kleinsten
Abteilung muß diese erste Pflicht der Kavallerie kennen und befolgen.
Auch in dieser Hinsicht scheint aber die französische Kavallerie ver-
sagt zu haben. Nach einem Tagesbefehl, den General Joffre über
das Vorgehen der Kavallerie erließ, sollte man allerdings glauben, daß
sie zu kühn gewesen sei, denn er befiehlt, daß sie stets durch In-
fanterie geschützt sein solle, „wie dies bei den Deutschen geschieht,
die Infanterie auf Automobilen der Kavallerie vorausschicken* (?).
Wie von einer anderen unparteiischen Seite das Verhalten unserer
Reiter beurteilt wird, kann man aus einem aus Cambrai datierten
Bericht ersehen, der in der italienischen Zeitung „Corriere della Sera“
erschien. Da heißt es u.a. von einer Fahrt, die der Verfasser mit
der Eisenbahn durch das Tal der Sambre am 21. August machte,
daß bei einer kleinen Station, als der Zug langsam fuhr, eine Ulanen-
patrouille gehalten habe, die die Eisenbahnlinie beobachtete. „Ihre
Haltung zeigte Sicherheit und unbekümmerte Ruhe. Nichts war in
ihnen, was auf Angriff oder Hinterlist deutete. Sie benahmen sich
` in Feindesland, als wären sie in einem großen Manöver in Pommern.
Als der Zug vorüber war, setzten sie sich in leichten Galopp und
verschwanden.“ Dann schreibt er weiter: „Dieser endlose Schwarm
von Reitern, den das deutsche Heer vor sich her wirft, geht über
er nn ec Ben
Ein Blick auf Verwendung und Tätigkeit der Kavallerie im Jahre 1914. 505
alle Straßen, über jeden Weg... Die Patrouille geht vor, bis sie
auf den Feind stößt und beschossen wird, ohne sich zu verbergen.
Ihre Aufgabe ist es, dem Tode entgegenzugehen. Auf 10 Ulanen, die
fallen, entkommen immer 2 oder 3 und erstatten ihre Meldung.
Wenn eine Patrouille verschwindet, so taucht in ihrer Spur eine andere,
stärkere auf. Das Feuer, mit dem sie empfangen wird, zeigt ihr die
Stärke des Gegners, weil auf den ersten feindlichen Reiter alle Soldaten
aus ihren Stellungen schießen. In jedem Dorf, vor jeder Baumreihe,
bei jeder Geländebewegung muß sich der Ulan sagen: vielleicht ist
hier der Feind. Er weiß, daß er keine Verteidigung hat und daß
man unweigerlich auf ihn schießen wird. Er muß sich immer unter
einer unsichtbaren und sicheren Gefahr fühlen; dennoch geht er dahin,
ruhig und mit deutscher Disziplin.“ Man kann nicht schöner und
nicht treffender sagen, was jeder einzelne unserer braven Reiter leistet.
Anders klingt es, was derselbe Berichterstatter von einer französischen
Kavallerieabteilung erzählt, die er in Luttre, einem kleinen belgischen
Dorfe, nahe bei Charleroi, traf. „Eine französische Schwadron war
im Dorfe abgesessen; zwei Offiziere spielten im Wirtshaus Billard und
waren auch noch dort, als ich nach längerer Zeit nach eingenommenem
Frühstück dahin zurückkam. Nur 6 oder 7 km von Luttre entfernt,
standen aber die deutschen Ulanen, die auch denselben Vormittag
noch in das Dorf einrückten.*“
Von diesem nordwestlichen Kriegsschauplatze ließen sich zahl-
reiche kühne Taten und glänzende Erfolge kleiner Kavallerieabteilungen
melden, obgleich natürlich viele derselben nicht in die Öffentlichkeit
gedrungen sind. Besonders zu erwähnen ist die Besetzung der großen
Festung Reims. Auch hier, wie in Lüttich, war es eine Kavallerie-
patrouille, die, den anderen Truppen weit voraus, am Morgen. des
5. September in die angeblich von den französischen Truppen ver-
lassene Stadt einzog. Es war sehr wichtig, festzustellen, ob die Stadt
und namentlich das Fort Vitry wirklich von den Franzosen verlassen
sei. Da erbot sich Rittmeister von Humbracht, eines sächsischen
Husarenregiments, dies durch eine ÖOffizierspatrouille festzustellen.
Mit 3 Offizieren, 1 Fähnrichh, 2 Unteroffizieren und 6 Husaren
erreichte er gegen 9° abends die Stadtgrenze und ritt durch die
mit Neugierigen gefüllten Straßen nach dem Rathause. wo sich der
Bürgermeister mit den Ratsherren befand. Rittmeister v. Humbracht
erklärte dem Bürgermeister, daß sich die Stadt in deutschem Besitz
befinde und er selbst als Geisel für das Wohlverhalten der Einwohner-
schaft haften müsse. Leutnant Martini wurde mit der Meldung von
diesem gelungenen Handstreich an das Divisions- und Generalkommando
zurückgeschickt, während der Rittmeister mit einem Leutnant und
506 Ein Blick auf Verwendung und Tätigkeit der Kavallerie im Kriege 1914.
einem Unteroffizier die Nacht in Gesellschaft des Bürgermeisters im
Sitzungssaale des Rathauses verbrachte und die übrigen Leute mit
ihren Pferden einquartiert wurden. Da die Patrouille allein zu schwach
war, um die Stadt zu halten, so kehrte sie am nächsten Morgen zu
ihrer Truppe zurück, um am Nachmittag an der Spitze der ein-
rückenden Brigade Suckow wieder in die Stadt einzureiten.
Es sei ferner des Patrouillenrittes des Oberleutnant Graf v. Wedel
von Bouillon auf Sedan gedacht. Man mußte wissen, ob Sedan noch
von französischen Truppen besetzt sei. Der Offizier ritt, nur von
zwei Ulanen begleitet, in die Stadt hinein; am Eingang traf er noch
eine 10 Mann starke Patrouille seines Regiments. der er befahl, sich
ihm anzuschließen. Mit diesen 12 Mann ritt er „unter fortgesetztem
Hurrarufen in scharfer Gangart kreuz und quer durch die engen
Straßen der Stadt, überall Furcht und Schrecken erregend“. Die Ein-
wohner flüchteten mit dem Rufe: „Les lanciers, les ulans!“ An einer
Straßenecke stieß Graf Wedel plötzlich auf eine Abteilung von etwa
30 französischen Infanteristen, die sofort heftiges Schnellfeuer auf die
Ulanen abgaben. Ein Wachtmeister fiel, die übrigen entkamen, von
starkem Feuer verfolgt. Die Patrouille konnte dem kommandierenden
General melden, daß Sedan bis auf einzelne Versprengte vom Feinde
frei sei.
Das schnelle und schneidige Vorgehen unserer Kavallerie imponiert
auch den Engländern, obgleich General French in einem seiner Be-
richte sagt, daß die englische Kavallerie „mit dem Feinde mache,
was sie wolle“, und daß „die deutschen Patrouillen vor den eng-
lischen Reitern einfach fliehen“ (!. Dem gegenüber schreibt der
Kriegsberichterstatter der Daily News, daß der Aufmarsch der deutschen
Armee sich mit blitzartiger Geschwindigkeit vollziehe und daß überall
weit vor der Front die deutschen Reiter erschienen. „Heute in
St. Quentin, 24 Stunden später schon in Pontoise, dicht vor Paris
und ebenso wird schon von Troyes im Departement Aube das Er-
scheinen von deutschen Kavalleriepatrouillen gemeldet.“ „Man weiß
nicht,“ schreibt er Anfang September aus Paris, „ob ein großes
deutsches Heer hierher nach Paris kommt, aber Kavalleriepatrouillen
werden bald hier sein. Die Furcht vor ihnen ist groß. Wenn sechs
deutsche Reiter sich zeigen, so genügt dies, um eine große Stadt
davonlaufen zu machen.“
Wenden wir uns von dem nordwestlichen Kriegsschauplatz nach
dem südlichen, längs der Elsaß-Lothringschen Grenze, so begegnen
wir hier, hauptsächlich des gebirgigen und bewaldeten, dicht mit Be-
festigungen bedeckten Geländes wegen, keinen größeren kavalleristischen
Unternehmungen. Patrouillen und kleinere Abteilungen sind auf beiden
> pemn nn
Ein Blick auf Verwendnug und Tätigkeit der Kavallerie im Jahre 1914. 507
Seiten immer vor der Front und versuchen, Erkundungen in Feindes-
land zu tragen, stoßen aber stets auf Hindernisse, die größere Erfolge
unmöglich machen. Nur zweimal scheinen stärkere französische
Kavallerieabteilungen aufgetreten zu sein. Am 19. August, dem
ersten Tage der Schlacht bei Saarburg, erschienen früh zwei ge-
schlossene feindliche Kavalleriedivisionen, die nach den uns vor-
liegenden Berichten vollkommen ungedeckt vorgingen. Einige Schüsse
unserer schweren Artillerie brachten sie zum Auseinanderstieben. Eine
Verfolgung durch diesseitige Kavallerie scheint nicht stattgefunden
zu haben. Von einem weiteren Auftreten größerer Kavallerieabteilungen
während der Saarburger Kämpfe wird nichts berichtet, nur von
kleineren Patrouillen ist mehrfach die Rede.
| Das andere Mal, und zwar ganz gleichzeitig, zeigte sich feind-
liche Kavallerie in größerem Verband im Elsaß. Die Franzosen,
nachdem sie am 12. August bei Mülhausen geschlagen und über die
Grenze zurückgeworfen worden waren, machten acht Tage später
einen erneuten Vorstoß in den Sundgau. Hierbei kam es am
18. August zu einem Reiterangriff afrikanischer Jäger auf diesseitige
Infanterie. Das 4. Regiment Chasseurs d’Afrique (4 Schwadronen
zu 200 Mann) war zusammen mit dem 4. Spahis- und dem 4. Zuaven-
regiment von Tunis nach Cette übergesetzt und von dort sofort nach
Lyon weiter befördert worden, wo zwei Ruhetage waren. Ob von
hier aus alle drei Regimenter weiter gingen oder nur die 4. Afrikani-
schen Jäger, ist unbekannt. Jedenfalls gelangten diese mittelst
Bahn nach Audincourt — an der Bahn Montebliard-Delle — wo sie
ausgeladen wurden und bei Delle vorüber gegen Altkirch vorstießen.
Dort standen schon seit mehreren Tagen deutsche Landwehrtruppen
mit überlegenen feindlichen Kräften — 2 Armeekorps — im Gefecht.
Am 19. August fanden Gefechte bei Wittersdorf und Walheim (nörd-
lich Altkirch) statt; wenn es dann in einem Berichte heißt, daß an
diesem Tage Chasseurs d’Afrique und Dragoner „in schier endloser
Reihe“ auf den beiden Talstraßen von Hirzbach herangezogen seien.
so dürfte dies stark übertrieben sein. Jedenfalls ist am nächsten
Tage von Kavallerie nur das eine Regiment Chasseurs d’Afrique zur
Aktion gekommen. Unsere schwachen Landwehrabteilungen erhielten
am 20. den Befehl, gegen Tagsdorf vorzugehen, etwa 5 km östlich
von Altkirch. Sie stießen dort auf starke feindliche Kräfte und es
kam trotz der großen Übermacht des Feindes zu einem stehenden
Gefecht. Da zeigte sich plötzlich der Mitte der deutschen Gefechts-
linie gegenüber feindliche Kavallerie, 700 bis 800 Mann Chasseurs
d’Afrique, die zur Attacke ansetzten. Der Befehl: „ruhig schießen,
sicher zielen“ wurde gegeben und die Maschinengewehre gerichtet.
308 Ein Blick auf Verwendung und Tätigkeit der Kavallerie im Kriege 1914.
Kaum waren diese Anordnungen getroffen, als der Angriff der fran-
zösischen Kavallerie, in ziemlich lockerer Ordnung, aber mit großer
Schneid und unter „furchtbarem Geheul“ geritten, erfolgte. Erst als
sie auf 500 m an unsere Infanterie heran waren, eröffneten die
Maschinengewehre das Feuer, und das Kleingewehrfeuer setzte erst
auf 350 bis 400 m ein. Der Feuerkampf dauerte nur einige Minuten;
kein Schnellfeuer. sondern langsam und sicher abgegebene Schüsse.
Der Angriff wurde glänzend abgewiesen. 27 der Afrikanischen Jäger
sollen unverwundet in Gefangenschaft geraten sein; alle übrigen bhe-
deckten tot oder verwundet das Gefechtsfeld !).
In dieser Gegend des Sundgaues fanden beinahe täglich kleinere
Zusammenstöße statt mit wechselndem Erfolg, doch ist immer nur
von Infanterie und Artillerie die Rede; Kavallerie kam, außer kleinen
Patrouillen, nicht in Frage. Erst vom 29. August wird von einer
Schweizer Zeitung berichtet, daß deutsche Reiterabteilungen — Stärke
nicht angegeben — mit reitender Artillerie zu einer gewaltsamen Er-
kundung der französischen Stellungen gegen Delle vorgingen. Sie
wurden vom Feuer der Festung Belfort, besonders des Forts Bosmont
begrüßt. Dem uns vorliegenden Berichte nach kam unsere Kavallerie
längs der ganzen östlichen Befestigungslinie ins Gefecht und zwang `
die vorgeschobenen Feldfortifikationen der Festung zum feuern. Als
die Franzosen Verstärkungen ins Gefecht brachten, zogen sich die
deutschen Abteilungen, die nur als Vorhut bezeichnet werden,
zurück.
Je mehr sich im Laufe des Monats September die Kämpfe in
Frankreich und Belgien zu Festungs- und Positionskämpfen ent-
wickelten, desto weniger bot sich Gelegenheit zu größeren Kavallerie-
unternehmungen. Sobald sich aber eine Möglichkeit zeigte, waren
unsere Reiter stets bei der Hand und in vorderster Linie, in der
Flanke und oft im Rücken des Feindes, zu kühnen Unternehmungen
bereit. Weit ausgreifende Erkundungen und Aufklärung wurde un-
ausgesetzt betrieben, wo es Gelände und taktische Verhältnisse irgend
gestatteten und jede Gelegenheit zur Offensive, auch kleinster Ab-
teilungen, mit größter Schneidigkeit gesucht und benutzt. Ganz
charakteristisch für die Verwendung unserer Kavallerie in dieser Periode
des Krieges ist der Umstand, daß nicht nur die offenen Städte,
sondern auch die meisten Festungen, die wir in Belgien und Frank-
reich eingenommen haben, zuerst von Kavallerieabteilungen betreten
1) Wir folgten hier in der Hauptsache einem Bericht der Frankfurter
Zeitung.
Ein Blick auf Verwendung und Tätigkeit der Kavallerie im Jahre 1914. 509
wurden. Wir erinnern an Lüttich, Reims, C'harleroi, Sedan. Compiegne,
Brüssel u. a.
An unserer Ostgrenze kam es in der zweiten Augusthälfte wieder-
holt zu Zusammenstößen größerer Kavallerieabteilungen. Der Feind
war in Ostpreußen eingedrungen und befand sich auf dem Vormarsch
gegen Gumbinnen und südlich davon.. Er wurde von unserem
I. Armeekorps siegreich zurückgewiesen und eine zu ihm gehörige
Kavalleriedivision warf zwei russische Kavalleriedivisionen und
brachte 500 Gefangene ein. Auch von der galizisch-russischen Grenze
wurde aus dieser Zeit von einer hervorragenden Waffentat der unga-
rischen Honvedkavallerie berichtet, die überlegene feindliche Kavallerie
die von Infanterie unterstützt wurde, in die Flucht schlug.
In dem gleichen Abschnitt kam es am 14. September zu einem
erneuten Zusammenstoß unserer Kavallerie mit russischen Abteilungen
über den uns näherer Bericht vorliegt: Die 8. Kavalleriedivision — 23.,
40., 38. Brigade — ging gegen Wirballen—Mariampol längs der Straße
vor, auf der russische Trains und Kolonnen mit starker Bedeckung
zurückgingen. Innerhalb der 40. Brigade war das sächsische Karabinier-
regiment an der Tete, während 3 Eskadrons des Ulanenregiments
Nr. 21 rechts gestaffelt folgten (die 2. Eskadron war Artillerie-
bedeckung).
Im Vorgehen bekam das Karabinierregiment Meldung. daß eine
Eskadron der 38. Brigade bei dem Gehöfte Pawilowice im Feuer-
gefecht gegen erheblich starke feindliche Schützen läge. Das Regiment
saß daraufhin zum Fußgefecht ab. Der Kommandeur des Ulanen-
regiments Nr. 21, der zum Karabinierregiment vorgeritten war, ge-
wann hier den Eindruck, daß der Gegner noch immer überlegen sei
und entschloß sich daraufhin, 2 Eskadrons seines Regiments in un-
mittelbaren Anschluß an das Karabinierregiment einzusetzen (1 Es-
kadron war als Reserve der Brigade zurückgenommen worden). Das
sich nun entspinnende Feuergefecht währte von 10° vorm. bis
2° nachm. und wurde zeitweise recht schwierig durch eintretenden
Munitionsmangel und dadurch, daß der Gegner Artillerie zur Wirkung
brachte. Infolgedessen wurde nach und nach noch die Maschinen-
gewehrabteilung 8, sowie ein paar Eskadrons der 38. Brigade und
zuletzt noch 2 Eskadrons des Ulanenregiments Nr. 17 ins Gefecht
gezogen. Die diesseitige Artillerie hatte zunächst keine Wirkung, da
sie die Schützengräben nicht fassen konnte; später gelang dies, und
gegen 3° kamen die Russen auf der ganzen Linie aus den
Schützengräben heraus und ergaben sich. Die Zahl der Gefangenen
Jahrbücher für die deutsche Armee und Marine. Nr. 519. 36
610 Ein Blick auf Verwendung und Tätigkeit der Kavallerio im Kriege 1914.
betrug gegen 400; außerdem wurde viel Kriegsmaterial und angeblich
auch 4 Geschütze erbeutet.
Fassen wir am Schlusse dieses Rückblickes die Ergebnisse der
ersten zwölf Wochen des uns aufgezwungenen Krieges noch einmal
zusammen, so sehen wir, daß die deutschen Armeen ausnahmslos in
den Ländern unserer Feinde stehen und in Frankreich, Belgien und
Rußland kämpfen, während der deutsche Boden frei vom Feinde ist.
Der Vormarsch und Einmarsch unserer Heersäulen hat sich, gedeckt
und verschleiert durch unsere Kavallerie vollzogen, die nicht allein
in Erkundung und Fernaufklärung, sondern auch in der Nieder-
zwingung jedes taktischen Widerstandes den Anforderungen, die man
an die Kavallerie stellen kann und stellen muß, in hervorragender
Weise gerecht wurde Zu großen Kavalleriekämpfen in offener Feld-
schlacht kam es in diesen ersten zwölf Wochen auf unserem west.-
lichen Kriegsschauplatze noch nicht, weil es im Westen überhaupt
nicht zu großen Schlachten kam, in denen sich die Kavallerie hätte
betätigen können.
Im Osten fand in den letzten Augusttagen die große Schlacht
bei Gilgenburg— Ortelsburg, an der russischerseits 5 Armeekorps und
3 Kavalleriedivisionen beteiligt waren, statt, ohne daß über das
Eingreifen der Kavallerie Näheres bekannt geworden wäre.
Die nächsten Monate werden wohl Veranlassung bieten, der Tätig-
keit der Kavallerie als Schlachtenreiterei und namentlich in der
Verfolgung des geschlagenen Feindes unsere Aufmerksamkeit zu
schenken und in einem weiteren „Rückblick“ zu besprechen.
Literatur. i 511
Literatur.
e
i. Bücher.
Gefechtsaufgaben für Zug, Kompagnie, Bataillon. Eine Sammlung
von Beispielen für das Gefecht und Gefechtsschießen der kleinsten
Einheiten im Gelände nebst Lösungen. Von Friedrich Im-
manuel, Oberstleutnant beim Stabe des Danziger Infanterie-
regiments Nr. 128. Mit Meßtischblatt Verny. Berlin 1914. E.
S. Mittler & Sohn.
In der Einleitung des Buches wird weit mehr versprochen, als
der Inhalt hält. Um gleich eins vorwegzunehmen. Verfasser sagt,
das Buch würde auch zeigen, wie Aufgaben zu besprechen sind. Da-
von ist aber nirgends auch nur mit einem Wort die Rede. Die
Lösungen des zweiten Teiles haben mit „Besprechung“ nichts zu tun,
hierunter versteht man allgemein etwas ganz anderes. Ohne die
Durchführung einer Aufgabe von Anfang bis zu Ende können wir uns
nicht vorstellen, wie an der Hand von Aufgaben die Art und Weise
einer Besprechung gezeigt werden soll. Das würde schon bei einer
Aufgabe ein Buch für sich bilden, bei 130 ist es eine Unmög-
lichkeit.
Die Aufgaben wie ihre Lösungen sind angreifbar und nicht derart,
daß durch sie jüngeren Offizieren ein richtiges Bild vom Kriege ge-
geben wird. So z. B. wenn auf den Flügeln zweier „groben“ mit-
einander kämpfenden Truppenverbände zwei Infanteriezüge ein Sonder-
gefecht führen; oder wenn eine Kompagnie in der Nacht für eine auf
beiden Seiten an andere Truppen angelehnte Brigade eine Vormarsch-
richtung festlegen soll, die diese Brigade zu einer nicht ganz un-
erheblichen Schwenkung veranlassen muß. Übrigens hält sich Ver-
fasser bei seinen Lösungen oft nicht an die in der Aufgabe gegebene
Lage.
Die Beigabe eines Meßtischblattes anstatt einer Karte 1: 100000
ist weder üblich noch praktisch.
Was nun die „Musteraufgaben“ für gefechtsmäßige Schießen be-
trifft, welche Verfasser für jeden der drei hier berührten Verbände
gibt, so sind sie alles andere eher als Muster. Wenn Verfasser den
offiziellen Standpunkt vertritt, daß bei solchen Aufgaben keine Taktik
getrieben werden soll, so darf das nicht so weit führen, daB jede
Taktik außer acht bleibt, denn Taktik und Schießen sind heutzutage
untrennbar verbunden, Wenn z.B, ein in einer Waldecke stehender
Zug Maschinengewehre angreifen soll, so wird er nicht auf 100 m auf
36*
512 Literatur.
offenes Feld treten, wenn er im Walde auf 300 m überraschend her-
ankommen kann.
Derartige Patronenmengen, wie sie hier vorgesehen sind, ist wohl
nur die Infanterieschießschule in der glücklichen Lage zu verwenden.
Daß bei einigen Aufgaben bestimmte Marschleistungen verlangt werden,
ehe sie in das Gefechtsschießen tritt, ist durchaus sachgemäß.
Verfasser hat durch seine Arbeit den besten Beweis für die
„markante Tatsache“ geliefert, „daß es viel leichter ist, taktische Auf-
gaben im Gelände, beim Kriegsspiel und bei sonstigen Lagen für große
oder für kleine oder gar kleinste Verbände zu stellen“. —f.
Was uns der Krieg bringen mufs. Von einem Deutschen. Verlag
Oskar Bong, Leipzig. 0,60 M.
* Der Verfasser des lesenswerten Buches richtet eindringliche Mahn-
worte an das deutsche Volk und seine Diplomaten, alle schwächlichen
Gefühlsregungen auszuschalten und allein eine klare zweckmäßige
Realpolitik zu treiben.
Die Schrift ist in die drei Abschnitte: Was uns der Krieg an
politischer Einsicht bringen muß, was er uns Rußland und was er uns
England gegenüber bringen muß, eingeteilt. Sie enthält eine Anzahl
positiver Vorschläge, die geeignet erscheinen, die Beantwortung dieser
schwierigen Frage zu erleichtern. Sp.
Dr. K. Graff, Grundriß der geographischen Ortsbestimmung aus astro-
nomischen Beobachtungen. Mit 64 Figuren VII + 210. Berlin u.
Leipzig 1914. Göschensche Verlagsbuchhandlung. Geb. 8,80 M.
Das vorliegende Werk gibt in 6 Abschnitten ein klares über-
sichtliches Bild über die Methoden der Ortsbestimmung, außerdem
enthalten 2 Anhänge eine trefflich ausgewählte Sammlung von Bei-
spielen und die notwendigen Tafeln.
Das Buch ist so aufgebaut, daß die mathematischen Hilfsmittel
möglichst beschränkt sind, um dem praktischen Gebrauch nicht Ein-
buße zu tun. Doch nirgends leidet darunter die Schärfe der Be-
trachtung, so daß das Ziel des Verfassers, mit dem Buche nicht nur
dem Praktiker, dem Geographen, Forschungsreisenden und Offizier,
einen treuen, verläßlichen Gehilfen zu geben, sondern auch dem, der
sich theoretisch weiter in die Probleme der Ortsbestimmung vertiefen
will, einen guten Grundstein seiner Studien zu liefern, meiner Meinung
nach voll erreicht ist. Einen nicht zu unterschätzenden Vorteil bieten
die äußerst sorgfältig und übersichtlich ausgeführten Abbildungen, die
durch ihre reiche und doch nie störende Beschriftung das in manchen
Büchern notwendige und häufige Hin- und fHerwandern des Auges
zwischen Abbildung und Erklärung sehr herabmindern. Besonders an-
genehm sind die klaren bildlichen Darstellungen der Instrumente, die
Literatur. 513
alles Wesentliche deutlich zur Darstellung bringen, ohne durch die
häufig in photographisch hergestellten Figuren enthaltenen Unwesent-
lichkeiten verwirrend zu wirken. Dr. Petzold.
Il. Verzeichnis der zur Besprechung eingegangenen Bücher.
(Die eingegangenen Bücher erfahren eine Besprechung nach Malsgabe ihrer Bedeutung und des ver-
fügbaren Raumes. Eine Verpflichtung, jedes eingehende Buch zu besprechen, übernimmt die
Leitung der „Jahrbücher“ nicht, doch werden die Titel sämtlicher Bücher nebst Angabe des Preises
— sofern dieser mitgeteilt wurde — hier vermerkt. Eine Rücksendung von Büchern findet nicht statt.
1. Seidels kleines Armeeschema, Dislokation und Einteilung des
k. u. k. Heeres, der k. u. k. Kriegsmarine, der k. k. Landwehr und
der königl. ungar. Landwehr. Abgeschlossen 5. August 1914. Wien
1914. L. W. Seidel & Sohn. 1K.
2. Wurster, Ein Gruß an unsere Verwundeten. Stuttgart 1914.
Verlag der Evangelischen Gesellschaft. 0,20 M. Von 10 Stck. ab 0,15 M.
3. W.-T.-B. Kriegsdepeschen 1914. Zweiter Monat (September).
Berlin 1914. Boll & Pickardt. 0,40 M.
4. Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches,
Berlin 1914. Kaiser-Wilhelm-Dank. Verein der Soldatenfreunde. E. V.
0,30 M.
ö. Was uns der Krieg bringen mufs. Leipzig. Verlag Oskar
Born. Geh. 0,60 M.
6. Roess, Am heil'gen Abend. Ein Weihnachtsspiel aus großer
Zeit (1870,71) 2. Auflage. Wiesbaden. Rud. Bechtold & Co. 0,75 M.
7. Tiessen, Die Geographie des östlichen Kriegsschauplatzes,
Berlin 1914. Concordia, Deutsche Verlagsanstalt, G. m. b. H.
0,50 M.
8. Die Truppenführung. Kurze Zusammenstellung der Grund-
sätze für Truppenführung unter Bezug auf die Dienstvorschriften, mit
Befehlsbeispielen und Kriegslagen in Skizzen. Berlin 1914. R. Eisen-
schmidt. Geh. 4,50 M; geb. 6 M.
9. Deutsches Liederbuch. Berlin 1914. Verlag der Deutschbund-
Gemeinde Berlin. 0,30 M. 5—8 St. je 0,25 M; 9—20 St. je 0,20 M;
21—49 St. je 0,18 M; 50-99 St. je 0,16 M; von 100 St. an je 0,15 M.
Weitere Preisermäßigung bis unter die Selbstkosten, für Heer, Marine
und militärische Jugendabteilungen.
10. Rohrbach, Zum Weltvolk hindurch. Stuttgart 1914. J. Engel-
horns Nachf. 1,50 M.
11. Kettler, Flemmings Spezialkarte für den Kriegsschauplatz in
Polen. 1:600000. Berlin und Glogau. Carl Flemming Verlag, A.-G.
1 M.
Jahrbücher für die deutsche Armee und Marine. Nr. 519. 31
514 Literatur.
12. Kettler, ‚England und die französisch-belgischen Kanalküsten.
1:1500000. Mit` Plan von London und Spezialplan des Kanals mit
Angabe der Seetiefen. Berlin und Glogau. Carl Flemming Verlag,
A.-G. 1 M.
18. Wernigt, Taschenbuch für die Feldartillerie. 27. Jahrgang,
1914/15. Kriegsausgabe. Berlin 1915. E. S. Mittler & Sohn. 2,45 M.;
geb. 3 M.
14. Münter, Die Pflicht gesund zu sein. Wege und Ziele gesund-
heitlicher Lebensführung. Oldenburg i. Gr. 1914. Verlag von Gerhard
Stalling. 0,80 M.
Druck von A. W. Hayn's Erben (Curt Gerber), Potsdam.
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Drw: w. Tahrbichev für div deutscher Armew w. Marine:
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