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Full text of "Jahrbücher für Kultur und Geschichte der Slaven 5.1929"

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LIBRARY 


UNIVERSITY OF CALIFORNIA 
DAVIS 


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OSTEUROPA-INSTITUT IN BRESLAU 


JAHRBÜCHER 


FOR 


KULTUR UND GESCHICHTE 
DER SLAVEN 


IM AUPTRAGE DES OSTEUROPA-INSTITUTS 
HERAUSGEGEBEN VON 
PAUL DIELS-BRESLAU, FELIX HAASE-BRESLAU, 
ERDMANN HANISCH-BRESLAU, ROBERT HOLTZ- 
MANN-HALLE, JOSEF MATL-GRAZ, HEINRICH 
FELIX SCHMID-GRAZ, KARL STAHLIN-BERLIN, 
KARL VOLKER-WIEN, WILHELM WOSTRY-PRAG 


SCHRIFTLEITUNG: 
ERDMANN HANISCH 


PRIEBATSCH’ BUCHHANDLUNG 


BRESLAU, RING 88, UND OPPELN 


Reprinted with the permission of Osteuropa - Institut 


JOHNSON REPRINT CORPORATION JOHNSON REPRINT COMPANY LTD. 
it Fith Avenue, New York, N.Y. 10003 Berkeley Square House, London, W. 1 


LIBRARY 
UNIVERSITY OF CALIFORNIA 


11710 


First reprinting, 1966, Johnson Reprint Corporation 


Printed in West Germany 
Druck: Anton Hain KG, Meisenheim (Glan) 


INHALTS-VERZEICHNIS 


DES BANDES V N.F. (1929). 


ABHANDLUNGEN Seite 

Ulrich Preuss: Katharina IL von Rußland und ihre auswärlige 
Politik im Urteile der deutschen Zeilgenossen . . . u. 169 

Josef Mati: Die Entwicklungsbedingungen der epischen Volks- 
dichtung bei den Sla ven 57 
Emmy Haertel: N.V. Gogoľ als Malern 145 


Dr. Method Dolenc: Die niedere Volksgerichibarkeit unter den 
Slovenen von Ende des 16. bis Anfang des 19. Jahrhunderts 299 
Emmerich Lukinich: Der Kaisertitel Pelers des Oroßen und 


der Wiener Hotte 369 
Dr. S. Kaleko: Die Agrarverhilinisse in Weißrußland vor der Um- 
wälzung im Jahre 1911 457 
O. Forst-Battaglia: Boleslaw Pras ........... 511 
MISCELLEN 


M. Alekseev: Ein Brief des Fürsten N. G. Repnin an A. V. Schlegel 77 
Camilla Lucerna: Zwei zersiörie dalmatinische Familienarchive 83 
Theodor Wotschke: Polnische Studenten in Frankfurt... . 228 
Leopold Silberstein: Zehn Jahre Außenpolitik der Soveis . . 377 


Manfred Laubert: Beiträge zu Preußens Siellung gegenüber 
dem Warschauer Novemberaufsiand v. . 1830. . . . - 381 

Stefan Smal Stockyj: Der fundamentale Aniel des Ukrai- 
nischen an der Slavisiik .......2.2.2.0... 390 


Seite 


Dr. Kazimierz Tyszkowski und Dr. Stanisław Zajgcz- 


kowski: Arelon . 2 2 220. 245 

Dr. J. Lossky: Neuere ukrainische wissenschaflliche Literalur zum 
N ee ee VG eR 399 
Dr. M. HnatySak: Die Literaturgeschichie in der Ukraine . . . . 48 


BOCHERBESPRECHUNGEN 89—108; 256-265; 411—429; 536-545 
ZEITSCHRIFTENSCHAU . 109-144; 266—289; 450—456; 546—592 
NEKROLOGE ................... 290—297 
NOTIZEN 2. » 2: 22 2 ae. 2 u. BR Sed 595-594 


OSTEUROPA-INSTITUT IN BRESLAU 


JAHRBÜCHER 


FOR 


KULTUR UND GESCHICHTE 
DER SLAVEN 


IM AUFTRAGE DES OSTEUROPA-INSTITUTS 
HERAUSGEGEBEN VON 


PAUL DIELS-BRESLAU, FELIX HAASE-BRESLAU, 
ERDMANN HANISCH-BRESLAU, ROBERT HOLTZ- 
MANN-HALLE, JOSEF MATL-GRAZ, HEINRICH 
FELIX SCHMID-GRAZ, KARL STAHLIN-BERLIN, 
KARL VÖLKER-WIEN, WILHELM WOSTRY-PRAG 


SCHRIFTLEITUNG: 
ERDMANN HANISCH 


* 


N. F. BAND v. HEFT I 
1929 


TA 


PRIEBATSCH’® BUCHHANDLUNG 


BRESLAU, RING 58, UND OPPELN 


| 
ABHANDLUNGEN 


KATHARINA Il. VON RUSSLAND 
UND IHRE AUSWARTIGE POLITIK IM URTEILE 
DER DEUTSCHEN ZEITGENOSSEN 


Von 
Ulrich Preuss (Breslau). 


Einleitung. 


Die bedeutsame Rolle, welche Rußland seit dem ausgehenden 
17. Jahrh. in der westeuropäischen öffentlichen Meinung zu spielen 
beginnt, ist auf mannigfache Momente zurückzuführen. Das wichtigste 
und folgenschwerste war die Regierung Peters des Großen. Er 
gab diesem bis dahin ziemlich selbstgenügsam in sich beruhenden 
Reiche mit überwiegend östlicher, asiatischer Orientierung in schroffer 
Wendung die Richtung auf den politischen und kulturellen Anschluß 
an den Westen, indem er den abschnürenden Gürtel, den Schweden 
umd Polen um Rußland gelegt halten, zerschnitt, den „mosko- 
witischen“ Staat durch seine militärischen Erfolge zu einer euro- 
päischen Großmacht erhob und der Europäisierung Rußlands alle 
Tore öffnete. So war das Carenreich auch für die Westmächte 
ein wesentlicher politischer Faktor geworden. Als Bundesgenosse 
gesucht, nahm es nicht nur an der europäischen Peripherie auf seiten 
Österreichs an dem Türkenkriege von 1736—39 teil, sondern griff 
auch als Mitglied der großen Koalition gegen das Preußen Friedrichs 
des Großen handelnd und entscheidend ein in die zentralen Kämpfe 
der damaligen europäischen Politik. 

Damit war dieses seit dem Mongoleneinfall so gut wie außerhalb 
des europäischen Konnexes stehende Land, das nach einem Worte 
des Historikers Alexander Brückner von den Reisenden des 16. und 
17. Jahrh. eigentlich erst wieder entdeckt werden mußte, greifbar 
nahe in den Gesichtskreis des Westeuropäers gerückt und in der 
Erörterung seiner Eigenschaften und Eigenarten ein anziehender 
Gegenstand für die öffentliche Meinung Europas geworden. Vollends 
de Sensationen, die der russische Kaiserhof unter dem langen Frauen- 


INF 5 1 


regiment, das der „höchst männlichen Regierung“ Peters des Großen‘) 
folgte, mit seiner bunten und prunkenden, halb europäisch-zivili- 
sierten, halb asiatisch-barbarischen Luxusenifaltung, mit seinen 
ewigen Palastrevolutionen und dem phantastischen Wechsel von Auf- 
stieg und Sturz in den Schicksalen der einzelnen Carinnen und ihrer 
Günstlinge in einer schier endlosen Kette bot, mußten immer wieder 
neuen Reiz auf die Gemüter der Westeuropäer von damals ausüben. 

Unter den vier Frauen, die als Nachfolgerinnen Peters I. — mit 
den drei kurzen Unterbrechungen durch Peter Il. (1727—30), Ivan VI. 
(1740—41) und Peter Ill. (1762) — das ganze 18. Jahrh. hindurch 
Rußland beherrscht haben, ist Katharina li. für ihre Zeitgenossen 
sicherlich die interessanteste, gefeiertste, zeitweilig aber auch um- 
strittenste Gestalt gewesen. Es war nicht einmal so sehr die Tat- 
sache, daß hier eine Frau die Geschicke eines Riesenreiches lenkte 
und leitete, die ohne weiteres die Teilnahme ihrer Mitwelt auf sie 
gezogen hatte. Denn eine Frau als ,,Selbstherrscherin aller Reuben“ 
war, wie gesagt, seit Jahrzehnten eine gewohnte Erscheinung und 
hatte im 18. Jahrh., das man so gern das „Jahrhundert der Frau 
par excellence” nennt, auch auf anderen Thronen Europas ihres- 
gleichen. Eher sicherte schon der Umstand, daß die russische Carin 
Katharina Il. eine Ausländerin war, ihr von vornherein in der öffent- 
lichen Meinung des Auslandes eine gewisse Sympathie. Vor allem 
war es jedoch der „märchenhafte?) Glanz ihres Hofes, das Glück, 
das ihren Waffen folgte, Land und Leute, die sie dem russischen 
Reiche in Erfüllung der Pläne Peters des Großen hinzufügte, und eine 
publizistische und politische Reklame, wie sie geschickter nie be- 
trieben worden ist‘), was Katharina in der öffentlichen Meinung 
ihres Zeitalters immer wieder ein dauerndes und nie ermüdendes 
Interesse zu gewinnen vermochte. 

Sicherlich wird man die Wirksamkeit der Reklame Katharınas 
für das Zustandekommen und für die Verbreitung der Begeisterung, 
welche der Carin von den Zeitgenossen gezollt wurde, hoch an- 
schlagen müssen. Aber man darf sie doch nicht in dem Maße über- 
Schätzen wie ihr polnischer Biograph Waliszewski, der das große 
Renommee Katharinas bei ihren Zeitgenossen vorzugsweise in ihrer 
Auslandsreklame begründet sehen möchte. Es ist überdies auch 
falsch, wenn Waliszewski behauptet, daß solche Auslandsreklame in 
der Geschichte Rußlands eine Neuerung („un art nouveau‘‘)‘) Katha- 
rinas gewesen wäre. Schon vor ihr hatte z. B. Peter d. Gr. in der 


1) Th. Schiemann: Russische Köpfe (1919), S. 63. 


3) Die russischen Zeilgenossen sprechen selbst gern von dem manen: 
haften“ Licht, in dem ihnen die Regierung Katharinas erschien. Vgl. die 
Bonn des J. J. de Sanglen (1776—1831), deutsch von L. v. Marnitz (1894), 


ion we Schiemann: Geschichte Rußlands unter Kaiser Nikolaus I. Bd. I 


3) K. A OZENKI, Le Roman d'une impératrice. Cathérine Il. de Russie 
(191047), S. 30 


2 


Person des Barons Huyssen®) einen im Auslande wirkenden publizisti- 
schen Agenten unterhalten, der die abträglichen Nachrichten über 
Rußland, wie sie in Deutschland um die Wende des 17. u. 18. Jahrh. 
namentlich durch die Pamphlete eines in Ungnade entlassenen Hof- 
meisiers des Cesarevié verbreitet wurden, widerlegen sollte. Denn 
schon um der für sein Europäisierungswerk so notwendigen Anwer- 
bungen von Ausländern willen mußte Car Peter auf eine seinem 
Reiche günstige Auslandsmeinung großen Wert legen. Huyssen gab 
ruhmende Beschreibungen von dem Leben und den Taten Peters des 
Großen heraus, verhalf der Rußland freundlichen Schrift „Nachricht 
von dem Zustande Rußlands“ (1703) zum Druck, korrigierte im 
Petrinischen Sinne die deutsche Übersekung des in Paris erschiene- 
nen „Feldzuges Carls XII.“ und stand in dauernden Beziehungen zu 
deutschen Gelehrten und Publizisten, die er aus seinem offiziosen 
Material versorgte’). Man kann die Spuren seiner Inspirationen in 
den Ruglandartikeln des Zedlerschen Universallexikons’), jenes 
riesenhaften enzyklopädischen Hausschakes der Gebildeten des 
damaligen Deutschlands, noch deutlich verfolgen. Daß die offen- 
baren Erfolge des Barons Huyssen, was Umfang und Tiefe der Wir- 
kung anlangt, noch in keinem Verhalinis standen zu der ungeheuren 
Wirkung, die Katharina Il. später mit Hilfe der von ihr beeinflußien 
Auslandspublizistik erzielte, liegt einmal in den Zeitumständen 
begründet. „Die Bedeutung, welche inzwischen Paris als Hauptstadt 
des literarischen Europa erlangt hatie, schuf natürlich Voltaire, dem 
„bon protecteur“ der Kaiserin, cine viel größere und breitere Einfluß- 
sphäre, als sie ewa die führenden Publizisten um die Wende des 
siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts gehabt hatten®)“. Sodann 
— und das übersieht Waliszewski in seiner geistreich sein sollenden, 
aber schiefen Parallele Katharina—Bismarck (Katharina hat nach ihm 
Bismarcks Reptilienfonds vorweggenommen) völlig — stand die 
Carin zu den führenden Geistern unter den zeitgenössischen Pu- 
blizisten, d. h. zu den eigentlichen Trägern ihres Ruhmes, in einem 
menschlich anderen, näheren Verhältnis als Peter der Große, aber 
auch Bismarck. 

Wie alle Fürsten des aufgeklärten Absolutismus hatte Katharina 
emen starken philosophisch-literarischen Ehrgeiz und das lebhafte 
Bedürfnis, mit den geistigen Größen ihrer Zeit in einen möglichst 
unmittelbaren Gedankenaustausch zu treten, sei es durch persön- 


3) Vol. H. v. Olümer: Heinrich Huyssen, ein Essener Stadtkind als Ge- 
iehrter und Diplomat im Dienste Peters des Großen. In Beiträge zur Ge- 
schichte von Stadt und Stift Essen, Heft XXXII (1911), S. 135 f. Dazu Zs. f. 
osteurop. Geschichte II (1912), S. 585 f. 


©) A. F. Büschings Magazin für die neuere Historie und Geographie. 
Bd. X (1776), S. 317 f. Vgl. auch F. Duckmeyer: Korbs Diarium itineris in 
Moscoviam und Quellen, die es ergänzen, Bd. Il (1910), cap. 9 passim. 


) Großes vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und 


_ Künste, Bd. XXVII (1741), S. 906 f. und Bd. XXXII (1742), S. 1907 f. 


®) F. Andreae: Beiträge zur Geschichte Katharinas I]. (1912), S. 100. 


lichen Umgang, sei es durch einen eifrig gepflegten brieflichen Ver- . 


kehr. Reinhold Koser hat in dem schönen Kapitel seiner Geschichte 


Friedrichs des Groben’), das von dem Verhältnis des „alten Königs“ 
zur „neuen Bildung“ handelt, sehr eingehend und überzeugend die 


Schwierigkeiten zur Anschauung gebracht, die sich sowohl für die 
aufgeklärten Fürsten, die bis zu einem gewissen Grade wenigstens 


ihre fürstliche Ausnahmestellung respektiert wissen wollten und 
mußten, als auch für die literarischen Freunde aus dem aufgeklarten 
Bürgertum, die auch im Verkehr mit Fürsten nach „Gedankenfreiheit“ 
strebten, notwendigerweise ergaben. Immerhin ließen sich diese 
Schwierigkeiten überwinden und wurden überwunden, solange die 
rein menschlichen Sympathien, die bei diesen literarischen Freund- 
schaftsbündnissen oft eine nicht zu unterschätzende Rolle spielten, 
stark genug waren, um trob mancher Reibungen die vorhandenen 
Gegensatze immer wieder zu überbrücken. Es läßt sich nun aber bei 
fast allen literarischen Freundschaften der aufgeklärten Fürsten 
beobachten, daß sie mit ihren literarischen wie menschlichen Sym- 
pathien innerhalb der Generation haltmachten, mit der oder unter 
deren Einfluß sie aufgewachsen waren, und sich gegen die Ideen und 
Persönlichkeiten einer noch zu ihren Lebzeiten aufkommenden junge- 
ren Generation ziemlich einseitig abschlossen. Der Sag Kosers: 
„Dem Philosophen von Sanssouci war die Gefolgschaft halb lächer- 
lich, halb unheimlich und jedenfalls verdrießlich, die hinter d’Alembert, 
dem Führer zur Linken, stand, die Schar der nachgeborenen Sohne 
der Aufklärung, die neue Richtung“:), läßt sich mutatis mutandis 
auch auf Katharina Il. anwenden. Vollends aber, als diese jüngere 
Generation der Aufklärung sich immer mehr mit dem demokratisch- 
republikanischen Geist der Rousseauschen Lehren erfüllte, die dem 
Absolutismus seine Existenzberechtigung bestritten, da konnie von 
solchen Geistesfreundschaften zwischen den Fürsten und Literaten 
überhaupt nicht mehr die Rede sein. 

Was diese Geistesfreundschaften für den Ruf der Fürsten in der 
öffentlichen Meinung eines so ruhmsüchtigen Jahrhunderts wie des 
18. bedeuteten, braucht hier ebensowenig hervorgehoben zu werden, 
wie die Bedeutung der Tatsache, Voltaire als Herold seines Ruhmes 
gewonnen zu haben, noch einmal ausdrücklich gewürdigt werden 
muß. Katharina Il. hat es oft genug selbst ausgesprochen, wieviel 
sie dem in der öffentlichen Meinung seiner Zeit einfach tonangeben- 
den Einflusse Voltaires für ihre Berühmtheit bei den Zeitgenossen 
verdankte. Dagegen scheint es angebracht, schon hier auf die Tat- 
sache hinzuweisen, daß die Krise ihres Renommees in der zeit- 
genössischen Beurteilung erst dann beginnt, als mit dem Tode 
Voltaires seine allmächtige Einwirkung auf die europäische Offent- 
lichkeit aufgehört hatte. Erst seit dem Tode Voltaires melden sich 
die demokratisch-republikanisch-humanitär-pazifistischen Widersacher 


e Bd. Il (1913 44-5), S. 438 ff. 
10) Ebd. S. 447. 


der Carin zu Worte; und der Umschwung in den Tonlagen, die den 
zeitgenössischen Beurteilern Katharinas zur Verfügung standen, läßt 
sich wohl kaum sinnfälliger zum Ausdruck bringen, als wenn man die 
Titel von zwei kleinen Schriften einander gegenüberstellt, von denen 
die eine 1776, also am Ende der von Voltaire beherrschten Zeit- 
stimmung, die andere unmittelbar nach dem Tode Katharinas er- 
schien. Die erstere trägt die Aufschrift: „Katharina Il. ein Gemäld 
ohne Schatten“, die der letzteren lautet: „Katharine vor dem Richter- 
stuhle der Menschheit“. Man wird für die Entstehung solcher Schriften 
wie der zuletzt genannten nicht vergessen dürfen, daran zu erinnern, 
dak Katharina am Ende ihrer vierunddreißigjährigen Regierung noch 
die Gotterdammerung des Absolutismus, die französische Revolution, 
miterlebte. Schon die Zeitgenossen haben die Bedeutung dieses 
Ereignisses für die Beurteilung Katharinas durch die öffentliche 
Meinung deutlich erkannt und hervorgehoben. „Die französische 
Revolution, die überhaupt für die Könige so verderblich war,“ sagt 
der Publizist Frederic Masson, ein französischer Schweizer, „wurde 
es besonders für Katharina. Das Feuer, welches plötzlich aus dem 
Innern Frankreichs wie aus einem Krater emporstieg, warf über Ruß- 
land ein bleiches Licht wie die Helle eines Blitzes. Man fand nur 
Ungerechtigkeit, Verbrechen und Blut, wo man vorher Größe, Ruhm 
und Tugend gesehen hatte“). 


Kapitell. 


Peters Il. Sturz und die deutsche öffentliche Meinung. 


Die Debatte über das große Kapitel „Katharina ll.“ wurde in der 
deutschen Publizistik des 18. Jahrh. erst nach der Umwälzung vom 
9. Juli 1762 (n. St.) eröffnet, welche den Caren Peter Ill. stürzte und 
seme Gemahlin als Selbstherrscherin aller Reugen auf den Thron 
hob. Von der Großfürstin und Carica Katharina wußte die deutsche 
Öffentlichkeit nur wenig. Zwar hatte Katharina dem Intrigenspiel 
am Petersburger Hofe keineswegs müßig zugesehen und mehr als 
einmal hinter den Kulissen Einfluß auf die Leitung der auswärtigen 
Politik des russischen Kabinettes zu gewinnen gesucht. Aber von 
dieser inoffiziellen Betätigung drang doch nicht viel über die Kreise 
der Hof- und Diplomatenwelt der nordischen Hauptstadt hinaus. 
Erst der geglückte Staatsstreich von 1762 und vielleicht mehr noch 
die Ermordung des gestürzten Herrschers bewirkten, daß sich die 
deutsche Öffentlichkeit lebhaft mit der Persönlichkeit der neuen 
Herrscherin zu beschäftigen anfing. 

Daß sich auch Katharina selbst von Anfang an der Bedeutung 
dieses Ereignisses für ihre Beurteilung durch die öffentliche Meinung 
des Auslandes nur zu wohl bewußt war, beleuchtet wirkungsvoll die 
Überlieferung einer kleinen Szene, die sich unmittelbar nach dem 


11) Geheime Nachrichten über Rosand unter der Regierung Katha- 
rnas II. und Pauls I. Bd. 1 (1800), S. 117 f. 


5 


Bekanntwerden der am 16. Juli 1762 auf dem abgelegenen Lust- 
schlosse Rop3a erfolgten Ermordung Peters Ill. abspielie. Die eifrige 
Parteigängerin Katharinas und tätige Teilnehmerin an der Palast- 
revolution, Ekaterina Romanovna Fürstin DaSkova, berichtet, daß die 
Carin, als die Nachricht von dem Ableben des Exkaisers eintraf, 
ausrief: „Es ist ein Schlag, der mich zu Boden wirft.“ „Es ist ein 
viel zu schneller Tod für Ihren Ruhm.... Madame:).“ 

Mag dieses Gespräch auch nicht wirklich in der pointierten 
Dialogform stattgefunden haben, in welcher es in den im Geschmacke 
des 18. Jahrh. anekdotenhaft zurechigemachten Memoiren der Daš- 
kova erscheint, die überdies erst sehr viel später (um 1800) auf- 
gezeichnet wurden; die Tatsache, daß die kluge und instinkisichere®) 
Katharina die Gefährlichkeit dieses Schlages für ihr moralisches und 
politisches Renommee — beides war für die so gern mit Moralgrund- 
säen arbeitende zeitgenössische Publizistik kaum zu trennen — von 
vornherein richtig einschäßte, dürfte durch solche quellenkritisch ge- 
botenen Abzüge kaum erschüttert werden. Trob aller Anstrengungen 
aber, an denen es die Carin gewiß nicht fehlen ließ, um durch ihre 
Manifeste und andere Maßnahmen vor der Öffentlichkeit das Odium 
ihrer Thronusurpation und des gewaltsamen Todes ihres Gatten von 
sich abzuwälzen, hat sie vollkommen dieses Ziel doch wohl niemals 
erreicht. Vor allem war sie mit ihren Rechtfertigungsbemühungen 
während der langen Dauer ihrer vierunddreißigjährigen Regierung 
nicht stets in gleichem Maße erfolgreich. Es versteht sich von selbst, 
daß es zu einer absolut einhelligen Beurteilung der Carin auch nur 
in der deutschen öffentlichen Meinung überhaupt nicht kommen 
konnte. Aber es hat doch zweifellos Zeiten gegeben, wo die ein- 
zelnen Zeitstimmen stärker zusammenklangen, als das vordem oder 
später der Fall war. 

Da sich in der Erörterung des Sturzes Peters Ill. und seiner 
Folgen durch die zeitgenössische deutsche Publizistik vielleicht am 
einfachsten und übersichtlichsten dieser Wandel in der deutschen 
Zeitstimmung zeigen läßt, so sei diese Beurteilung gewissermaßen 
als Ouvertüre hier zunächst nur in ihrem Für und Wider die Carin 
voraufgestellt, während es dem späteren Kapitel vorbehalten werden 
soll, die näheren Begründungen für diesen Wandel zu bringen. 

Als am 5. Januar 1762 Peter Ill. als Nachfolger der letzten Tochter 
Peters des Großen, jener Elisabeih, deren ausschlaggebende Rolle 
man in Deutschland während des noch anhalienden Siebenjährigen 
Krieges bereits richtig einzuschäben gelernt hatte, den russischen 
Kaiserthron bestieg, da wurden mit einem Male durch den neuen 
Herrscher die politischen Verhältnisse in Europa von Grund aus ver- 
schoben, und sein Regicrungsantritt war besonders für Deutschland 


1) Memoiren der Forst Da3kov. Zur Geschichte der Kaiserin Katha- 
rina Il. Teil I (1857), S. 129 

2) Es sei an Rankes Wort erinnert: „Die Prinzessin zeigte, so jung sie 
ee. En Talent fur ihre Lage.“ Samil. Werke, Bd. 


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ein Ereignis von außergewöhnlicher Bedeutung. Von jeher ein blinder 
Verehrer Friedrichs des Großen, schloß er alsbald mit diesem den 
Frieden von St. Petersburg und verzichtete mit einer Großmut, wie 
sie der russischen Politik sonst nicht eigen war, auf die von den 
Russen besetzten preußischen Landesteile. Darüber hinaus kam es 
zu dem Abschluß eines Bündnisses zwischen den beiden Monarchen, 
das Friedrich mit einem Schlage aus seiner verzweifelten Lage er- 
löste. 

Bei der Spaltung der öffentlichen Meinung Deutschlands in ein 
österreichisches und ein preußisches Lager mußte Peter Ill. auf der 
einen Seite mit Gefühlen des Verdrusses und der Empörung, auf der 
anderen Seite aber mit denen der Freude und Begeisterung begrüßt 
werden. Während der österreichische Gesandte am Petersburger 
Hofe, Mercy d’Argenteau, mit der Erbitterung der Enttäuschung nach 
Hause berichtete, daß von dieser „tollen Regierung“ nichts Gutes zu 
hoffen wäre, und die Tätigkeit des neuen Herrschers abfälligster 
Kritik unterzog®), wurde der Car für alle „ fritzisch“ Denkenden zum 
„Schußgeiste Preußens“), zum „wahren St. Peter“, der dem großen 
König den Himmel aufschloß®). In der überwallenden Freude jener 
Tage begeisterte man sich an den übereilten Reformen des neuen 
Caren und kümmerte sich wenig darum, ob diese Neuerungen von 
den Russen mit der gleichen Zustimmung aufgenommen wurden wie 
in Preußen. „Wenn der Kaiser von Rußland“ — so schrieb damals 
der preußische Kammerherr Graf Lehndorff in sein Tagebuch — „die 
Regierung seines Landes in der Weise weiter führt, wie er sie be- 
gonnen hat, dann wird er nicht bloß der Vater seiner Untertanen, 
sondern auch die Bewunderung Europas werden““). 

Doch nach dem ersten Freudenrausche begann man in der preu- 
bischen Hauptstadt zu erkennen, wie sehr Car Peter die nationalen 
Gefühle und Vorurteile der Russen gegen sich erregt hatte, als er 
sein Heer nach preußischem Muster umgestaltete, die Geistlichkeit 
durch seine Mißachtung der griechisch-orthodoxen Religionsgebräuche 
sowie durch die Einziehung von Kirchengütern verletzte und durch 
die Bevorzugung seiner Holsteiner Soldaten die russischen Truppen 
aufs tiefste empörte. Man bemerkte, wie sich gegen den Caren eine 
Opposition bildete, und es ging wie eine Ahnung durch die führenden 
Berliner Kreise, daß diese nationale Opposition binnen kurzem den 
preußischen Verbündeten von seinem Throne stoßen würde”). 

Mitte Juli traf denn auch in Berlin die Nachricht von der Ab- 
sekung Peters ein, und zu Ende des Monats wurde sein plößlicher 


3) Alexander Brückner: Katharina die Zweite (1883), S. 80. 
G4 = Reinhold Koser: Geschichte Friedrichs des Großen. Bd. III (1913 (u. 5), 


s) Dreißig Jahre am Hofe Friedrichs des Großen. Aus den Tagebüchern 
des Reichsgrafen Ernst Ahasverus Heinrich Lehndorff, Kammerherrn der 
Königin Elisabeth Christine von Preußen. Nachträge, Bd. I (1910), S. 346. 

e) Ebd., S. 338. 

7) Ebd, S. 350. 


Tod gemeldet. Die Kunde von seiner Entihronung rief in Preußen 
einen beinahe panischen Schrecken hervor, weil man fürchiete, der 
König würde bei einer Teilnahme der neuen russischen Regierung 
auf seiten der großen Koalition wieder in eine gefährliche Lage ge- 
bracht werden’). 

Auf österreichischer Seite hatte der russische Staatsstreich die 
beglückendsten Hoffnungen ausgelöst. War doch in dem ersten 
Manifeste, das die neue Carin erlassen hatte, Friedrich als der Tod- 
feind®) Rußlands genannt und der Friede von Petersburg als den 
Interessen der russischen Politik durchaus zuwiderlaufend bezeichnet 
worden. Wenn auch in der Note an die auswärtigen Mächte der 
aggressive Passus des Manifestes gegen Friedrich den Großen fort- 
gelassen worden war'*), so mochte sich Kaunik doch zunächst nicht 
der Freude über den Sturz des verhaßten Caren erwehren und 
frohlockte über die Petersburger Vorgänge, die voraussichtlich die 
günstigsten Wirkungen nach sich ziehen würden i). Daß aber wirklich 
ernsthafte Erwartungen, Rußland würde von neuem auf öster- 
reichischer Seite am Kriege teilnehmen, von Maria Theresia und 
ihrem Kanzler gehegt worden sind, ist wohl nicht anzunehmen. Denn 
beide waren zu scharfblickend, um nicht alsbald zu bemerken, daß 
Katharina, wie es auch wirklich der Fall war, vor allem ihr Haupt- 
augenmerk darauf richtete, sich auf dem eroberten Carenthrone fest- 
zusefen!2). Wie dem auch sei, man nahm in der breiteren öster- 
reichischen Öffentlichkeit wahrscheinlich erst dann eine kuhlere und 
resigniertere Stellung der russischen Thronumwälzung gegenüber 
ein, als Katharina nicht die geringsten Anstalten traf, in den Krieg 
gegen Preußen einzutreten. 

Kaum aber hatten sich die durch den Staatsstreich und seine 
Auswirkungen in Erregung gesetzten Gemüter infolge des Aus- 
scheidens der Carin aus dem Streit der europäischen Mächte wieder 
etwas beruhigt, da brachte der plötzliche Tod des entthronten Caren 
die öffentliche Meinung Deutschlands von neuem in Bewegung, und 
als die russischen Manifeste über den Regierungsantriti der Kaiserin 
und das Ableben ihres Gemahls bekannt wurden), wurde sofort die 
Frage aufgeworfen, ob die Carin bei dieser Palastrevolution ihre 
Hand im Spiele gehabt habe und inwieweit sie die Urheberin der- 
selben gewesen sei. Ohne weiteres glaubte man ihr die geistige 
Urheberschaft zusprechen zu dürfen und stützte sich dabei auf die 
Momente, welche die Manifeste der Carin selbst zu ihrer Verteidi- 
gung angeführt hatten: die Kriegsmüdigkeit des russischen Volkes, 


2) Ebd., S. 350. 

5) B. v. Bilbasov: Geschichte Katharinas II. Bd. II (1893): Vom Regie- 
rungsantritt Katharinas Il. (1762—1764). Deutsch v. P. v. R. Teil I, S. 126 f. 

10) Koser, a. a. O. Bd. Il, S. 142 f. 

11) A. v. Arneth: Geschichte Maria Theresias, Bd. VI (1875), S. 329 u. 481. 

12) Ebd, S. 334. 

13) B. v. Bilbasov: Katharina Il. im Urteile der Weltliteratur. Autor. Uber- 
sebung aus dem Russischen. Mit einem Vorw. v. Th. Schiemann, Bd. | 
(1897), Nr. 18 u. 19. 


8 


das der Car in einen diesem unverstandlichen Krieg gegen Däne- 
mark hatte verwickeln wollen, seine den Russen nicht minder an- 
stößigen Reformen und seine Verstöße gegen die russische Reli- 
giosität. „Der vornehmste Umstand“ aber „war wohl dieser, daß 
der Kaiser seinen Prinzen für illegitim erklären, sich von seiner Ge- 
mahlin, mit der er niemals in vollkommener Einigkeit gelebet, 
scheiden, selbige mit dem Prinzen in ein Kloster verstoßen, oder gar 
um das Leben bringen lassen wollfe“ ). 

Wenn auch die gleichzeitige deutsche öffentliche Meinung noch 
nicht wie später in der Herrschsucht Katharinas die eigentlich trei- 
bende Kraft sah, die die Carin zu ihrem Schritte bewogen hatte, so 
war sie doch weil davon entfernt, diesen zu billigen. Die Hoffnungen 
Katharinas, die mit ihren Manifesten auf die Unkenninis und Kritik- 
losigkeit der damaligen öffentlichen Meinung spekulierte und er- 
wartete, diese würde prompt auf das Märchen von dem natürlichen 
Tode des Caren hineinfallen — Anstrengungen und Aufregungen der 
Revolutionstage sollten sein altes Hamorrhoidalleiden bis zum tod- 
lichen Ausgange verschlimmert haben — erfüllten sich nicht. Denn 
bald wurden in der zeitgenössischen Publizistik des Auslandes 
Stimmen laut, die erklärten, daß der Tod des russischen Kaisers 
alles andere als ein natürlicher gewesen wäre. Ganz abgesehen 
davon, daß man an den deutschen Höfen überzeugt war zu wissen, 
„welcher Art diese Hämorrhoidalkolik gewesen sei“ un, tauchte als- 
bald in der englischen Presse ein angeblicher Brief Friedrichs des 
Großen auf, in dem Katharina als eine Neuauflage (second tome) 
der Ariadne, die ihren Gemahl, den griechischen Kaiser Zeno lll., bei 
lebendigem Leibe begraben ließ, hingestellt wurde:®). Aber auch in 
der deutschen Öffentlichkeit wurden ähnliche, wenn auch nicht ganz 
so unverblümte Fassungen verbreitet. In einer Flugschrift, die die 
Frage, ob Peter Ill. zu Unrecht vom Throne gestoßen wäre, bejahte, 
wurde die Tat Katharinas ein „verabscheuungswürdiges Merkmal der 
neuern russischen Geschichte“ genannt und gesagt: „Seine (Peters) 
Entthronung war ein Raub, und vielleicht auch sein Tod?’).“ Kaum 
weniger vielsagend ist die Andeutung, die der Theologe G. A. Will 


14) Gespräch im Reiche der Todten zwischen einem österreichischen 
Feldpater und einem russischen Popen von dem Leben und Ende Peters Ill. 
(1765), S. 19 f., das sich ganz und gar auf G. A. Will: Merkwürdige Lebens- 
geschichte Peters Ill., Kaisers und Selbsthalters aller Reußen (1762) stiibt. 
Vgl. Gespräch S. 7, 10, 22 und Will S. 9, 13, 50 u. ö. 

18) Politische Korrespondenz Friedrichs des Großen. Hrsg. v. Reinhold 
Koser, Bd. XXII (1895), S. 95. 

ıe) Ebd, S. 378 u. 388: Friedrich teilt Finckenstein mit, er habe nach 
Kenntnisnahme dieses vermeintlichen Briefes sofort seinem englischen Ge- 
sandten befohlen, „pour qu'il oblige le gazettier de revoquer solennement 
cette calomnie“, und seinem holländischen, „afin qu'il empêche que les 
gazeitiers hollandais ne l'insèrent dans leur feuilles“. Gleichzeitig habe er 
seme beiden Gesandten in Moskau, Gol& und Solms, beauftragt, ein „de- 
menti formel“ abzugeben, wenn dieser Brief in Rußland bekanntwerden sollte. 


17) Ob der Kaiser von Rußland Peter Ill. rechtmäßig des Thrones ent- 
setzt sey? In einer kurzen Betrachtung untersuchet von J. (1762), S. 7. u. 15. 


9 


in seiner „Merkwürdigen Lebensgeschichte Peters Ili.“ (1762), einer 
der vielgelesensten Schriften’*), machte: „Es mag nun sein, daß 
Schmerz und Verdruß in dem Körper des abgesetzten Kaisers zu sehr 
wirkien, oder es mögen andere Ursachen vorhanden gewesen sein, 
nn = doch einmal wahr, daß er nicht lange sein Schicksal über- 
ebte'*).“ 

Unzweideutiger ausgesprochene Vorwürfe gegen die Carin als 
die bisher angeführten haben wir aus der Zeit unmittelbar nach der 
Ermordung Peters Ill. nicht beibringen konnen. Wir miissen es auch 
offen lassen, die Frage vollständig zu beantworten, warum sich die 
öffentliche Meinung Deutschlands in der Besprechung über den Tod 
Peters Ill. so zahm verhielt, obwohl sie durch ihre Andeutungen 
durchblicken ließ, daß sie nicht an einen natürlichen Tod des Caren 
glaubte. Es dürften aber wohl auch im übrigen Deutschland wenig- 
stens bis zu einem gewissen Grade Zensurschwierigkeiten dabei eine 
Rolle gespielt haben, wie wir sie allerdings mit Bestimmtheit nur für 
Preußen nachweisen können. Denn so vorsichtig sich, wie wir sahen, 
diese Schriften über das Ereignis von Rop3a ausdrückten, ihre un- 
bestimmten Andeutungen geniigten, um sie die ganze Sirenge der 
preußischen Zensur fühlen zu lassen. Bei seiner immer noch zweifel- 
haften Lage wollte Friedrich der Große alles vermeiden, was die 
Empfindlichkeit der Carin hätte reizen können, und für die Behutsam- 
keit, mit der man damals preußischerseits vorging, ist ein Schreiben 
des Ministers Finckenstein an den königlichen Kabinetisrat Eichel 
vom 13. November 1762 außerordentlich bezeichnend. Finckenstein 
berichtet darin über die von uns bereits zitierte harmlose Broschüre 
folgendermaßen: „Es ist mir eine gewisse Brochüre zu Gesicht ge- 
kommen, welche den Titul führet: Ob der Kaiser Peter Ill. recht- 
mäßig des Thrones enfsetzt sey. Von solcher soll ein gewisser 
namens Bauer in Nürnberg, welcher von dem Wiener Hofe einen 
Charakter erhalten, Auctor sein, und da in solcher von des Königs 
Majestät und von dem verstorbenen russischen Kaiser mit sehr vielen 
Lobeserhebungen gesprochen, die jest regierende russische Kaiserin 
mit den allerhäßlichsten Farben abgeschildert wird, so vermuthe ich 
fast, daß die schlangenartige Absicht des Auctors dahin gegangen, 
diese Brochüre durch die königlichen Lande nach Rußland zu be- 
fördern und daselbst glauben zu machen, als ob solche in denen 
selben verfertiget oder wenigstens mit Approbation gedruckt 
worden).“ 

Daß auch Katharina selbst Maßnahmen ergriff, um die ihr miß- 
liebigen Nachrichten, die über die Thronumwälzung im Auslande ver- 
breitet wurden, zu unterdrücken, zeigt ihr Vorgehen gegen die in 
Leipzig erschienenen „Mémoires pour servir à l'histoire de Pierre III., 
empereur de Russie“, die Ange de Goudar zum Verfasser haben. 


18) Will, a. a. O., zweyte durchgehends verbesserte und mit einer Vor- 
rede und Anmerkungen vermehrte Auflage. (1762. 


19) Ebd., S. 50. 
20) Polit. Korresp., a. a. O. Bd. XXII, S. 325. 


10 


Zwar wurde in dieser Schrift die Carin günstig beurteilt, mit Lobes- 
erhebungen für sie nicht gespart und nichts weiter gesagt, als was 
die Manifeste bereits verkündet hatten; aber ein ihr beigefigtes 
„Suppl&ment“, in welchem nachgewiesen wurde, daß der Car ohne 
irgendwelche rechiskraftigen Gründe vom Throne gestoßen wäre, er- 
regte so sehr den Zorn der Kaiserin, daß sie sofort nach der Lektüre 
der Schrift an ihren Kanzler, den Grafen M. J. Voroncov, schrieb: „Be- 
fehlen Sie allen unseren Residenten, wo Sie es tunlich finden, fleißig 
den Autor ausfindig zu machen, seine Bestrafung zu verlangen, alle 
Editionen zu konfiscieren und die Ausfuhr dieses Buches nach Ruß- 
land zu verbieten. Es ist noch beleidigender für die Nation als für 
mich personlich™).“ 

Nach Beendigung des Siebenjährigen Krieges, so scheint es, 
durfte man auch in Preußen etwas unzweideutiger den Verdacht aus- 
sprechen, daß Peter ermordet worden war. Und zwar ist es ein 
ehemaliger Regimentsauditeur der preußischen Armee, der spätere 
Buchhändler Christian Friedrich Schwan gewesen, der in den von ihm 
herausgegebenen „Briefen eines teutschen Offiziers an seinen 
Freund“ zum ersten Male, soweit wir sehen, offen aussprach, Peter 
habe „die ganze Bitterkeit eines gewaltsamen und unrühmlichen 
Todes geschmeckt“). 

Aber gleichzeitig nahm Schwan in seinem Buche die Carin auf 
das energischste gegen die tatsächliche und geistige Urheberschaft 
des Mordes in Schub: Nicht Katharina hatte den Befehl zur Ermor- 
des Excaren gegeben oder auch nur einen solchen entfernten Ge- 
danken gehabt, da sie doch nicht „allem Gefühl der Tugend und 
Menschlichkeit“ entsagen konnte*), sondern ihre Umgebung, ihre 
Mitverschworenen waren es, die weiter schauten als sie und fürch- 
teten, die Carin könne sich mit dem entthronien Gatten wieder aus- 
söhnen und ihn als Mitregenten anerkennen. Die Furcht der Ver- 
schwörer aber, Katharina könne die Staatsumwälzung bereuen und 
sie deshalb „mit einem verächtlichen Auge“ ansehen, habe diese zu 
der fiuchwürdigen Tat veranlagt, um zu verhindern, daß nach einer 
etwaigen Aussöhnung Katharinas mit ihrem Gemahl sie selber die 
Opfer dieses Kompromisses würden. So sahen sie sich genötigt, 
sich „der Person eines Prinzen zu enfledigen, von dem sie heute oder 
morgen den Lohn ihrer Verbrechen beständig erwarten mußten“). 
Aus der Veranlagung von Katharınas Wesen, aus der Vornehmhcit 
ihres Charakters, aus der Aufrichtigkeit ihrer Trauer, mit der sie um 
das Schicksal ihres Gatten klagte, aus der Arglosigkeit ihrer Seele 


31) Bilbasov: Weltliteratur, Bd. I, S. 27 f. 
_ 3) (Christian Friedrich Schwan.) Russische Anekdoten oder Briefe 
eines teutschen Offiziers an einen livländischen Edelmann, worinnen die 
vornehmsten Lebensumstände des russischen Kaisers Peter Ill. nebst dem 
unglücklichen Ende enthalten sind. Wandsbeck 1765 von C. F. S. de la 
1 S. Bars 212. Vgl. andere Auflagen bei Bilbasov: Weltliteratur, 
r. 


11 


glaubte Schwan hinreichend beweiskräftige Argumente eninehmen zu 
können, um die Carin von der Mitschuld an der Ermordung Peters Ill. 
freizusprechen. „Ein jeder, dem der Charakter der jebi regierenden 
Kaiserin bekannt ist, wird darin mit mir übereinstimmen, daß diese 
Fürstin zu dergleichen unerhorien Handlungen nicht fähig sey. Wenn 
sie auch nach dem Zepter gestrebet, so hat sie doch niemals ver- 
sucht, durch grausame Wege dahin zu kommen und selbigen mit 
Blut zu färben®).“ Dieser Reinigungseid, den Schwan für die Carin 
bereits zu einer so frühen Zeit wie 1764 leistete, erscheint um so 
merkwürdiger, als sich Katharina bisher dem Auslande gegenüber 
noch nicht ihren berühmten, wohl aber einen berüchtigten Namen 
gemacht hatte. Wir gehen daher wohl nicht fehl, wenn wir annehmen, 
daß das sich anbahnende engere Zusammengehen der russischen und 
preußischen Politik, wie es z. B. bei der Wahl Stanislaus August Po- 
niatowskis zum König von Polen bereits in Erscheinung getreten 
war, diesen „teuischen Offizier“, oder besser gesagt, diesen Preußen 
bewog, für die preußische Bundesgenossin eine Lanze zu brechen. 

Zudem ist es auffällig, wie die allgemeine Beurteilung Schwans 
(nicht seine moralische Begründung im einzelnen) sich mit der Auf- 
fassung Friedrichs des Großen deckt, die dieser dem französischen 
Gesandten am Petersburger Hofe, Segur, als er sich 1784 auf der 
Durchreise nach Petersburg in Berlin aufhielt, kundgab: „Das Pu- 
blikum ist im Irrtum, denn man kann der Kaiserin, wenn man gerecht 
sein will, weder die Ehre noch das Verbrechen dieser Umwälzung 


zuschreiben. Katharina war noch nicht imstande, selbsttätig zu 
handeln. Sie warf sich denen in die Arme, die den Willen hatten, 
sie zu retien... Sie glaubte als unerfahrene junge Frau, es sei 


mit ihrer Befreiung und Krönung alles vorbei. Ein so kleinmütiger 
Feind (wie Peter Ill.) schien ihr nicht gefährlich. Aber die Orlovs 
waren kuhner und klüger. Sie wollten nicht, daß man den Kaiser 
zu einer Waffe gegen sie gebrauchen konnte, und ermordeten ihn. 
Die Kaiserin wußte nichts von diesem Verbrechen und erfuhr es mit 
ungeheuchelter Verzweiflung®).“ 

Wir dürfen wohl annehmen — vorausgesetzt, daß der keineswegs 
immer zuverlässige Segur die Auffassung Friedrichs des Großen 
richtig wiedergibt —, daß diese Worte gesprochen wurden, um den 
Weg zu Katharinas Ohren zu finden, und das zu einer Zeit, wo die 
preußisch-russischen Beziehungen gespannt waren. Wir wollen zwar 
nicht die Vermutung aussprechen, daß Schwan wie später Segur 
durch dieses Urteil des Königs gewissermaßen inspiriert worden sei, 
aber doch wenigstens auf diese Übereinstimmung der Auffassungen 
hindeuten. 

In gewissem Betracht erscheint Schwans Verteidigung als Vor- 
laufer einer neuen Phase in der Beurteilung des Thronumsturzes 
Katharinas Il. Aber seine Verteidigung der Carin wäre in der da- 


28) Ebd., S. 214. 
20) Friedrich des Großen Denkwürdigkeiten, zusammengestellt von 
Franz Eyssenhardt, Bd. II (1910), S. 525. 


12 


maligen deuischen öffentlichen Meinung doch wohl nur ein verein- 
zelter Fall geblieben, wenn nicht die Carin durch ihr Eintreten fur 
die Dissidenten in Polen (1765), ihren scheinbar im Dienste des To- 
leranzgedankens geführten Türkenkrieg von 1768—74 und durch ihre 
„instruktion zur Abfassung eines neuen Gesefbuches” selber das 
Wesentlichste getan hätte, um den Makel ihrer Thronbesteigung weg- 
zuwischen. 

Der Jubel der deutschen Zeitgenossen, der alle diese Taten 
Katharinas begleitete, konnte begreiflicherweise auf die Behandlung 
der Frage nach der Mitschuld der Carin an Peters Ermordung nicht 
ohne Einfluß bleiben. Bei der Verhimmelung Katharinas, die zeit- 
weilig in Deutschland geradezu Modesache geworden war, war man 
nicht nur willens, Katharinens Mittäterschaft gänzlich zu bestreiten, 
sondern ging sogar so weit, daß man die Ermordung Peters Ill. 
geradezu leugnete. In mehreren Schriften, die damals über Rußland 
und Katharina erschienen sind, traten die Verfasser den Ausführun- 
gen von Katharinas Manifesten bei und versicherten, Peter Ill. ware 
eines natürlichen Todes gestorben”). Freilich sind solche den tat- 
sächlichen Sachverhalt verdrehende Behauptungen wohl auch von 
denen, die sie in die Welt setzten, nur in den seltensten Fällen ernstlich 
geglaubt worden, sondern sind entweder als der fromme Betrug 
enthusiastischer Verehrer oder weniger harmlos als gewinnsüchtige 
Manöver beiriebsamer Literaten anzusehen, die sich dadurch Ka- 
tharinas Erkenntlichkeit sichern wollten. Sehr lustig hat Horace 
Walpole, die Rahmenerzählung der Märchen von 1001 Nacht paro- 
dierend, das Treiben dieser Kreise verspottet: „Der Kaiser war nun 
fest eingeschlafen, und sobald die Prinzessin und der erste Ver- 
schnittene es bemerkten, packten sie ihm einige Kopfkissen auf das 
Gesicht und hielten sie da so lange fest, bis er erstickt war. Nachdem 
sie sich überzeugt haften, daß er todt sey, stürzte die Prinzessin mit 
allen Zeichen der Verzweiflung und Bekümmernis in den Divan, wo 
sie sogleich als Kaiserin ausgerufen wurde. Man gab vor, der Kaiser 
wäre an einer Hämorrhoidalkolik gestorben, und die Kaiserin er- 
klärte, daß sie aus Achtung für sein Andenken sich sirenge an die 
Grundsäße halten würde, nach welchen er regierte. Demzufolge 
heiratete sie jede Nacht einen neuen Mann, aber sie erließ es ihnen, 
Geschichten zu erzählen, und wenn sie sich gui betrugen, so gefiel 
es ihr auch huldreichst, die Hinrichtung auszuseken. Sie sandte Ge- 
schenke an alle Gelehrten in Asien, und diese ermangelten zur 


1 (Joh. Friedr. Schmidlin), Geschichte des gegenwärtigen Krieges 
zwischen Rußland, Polen und der ottomanischen Pforte, Teil I (1771), S. 57. 

— (Ranfft): Die merkwiirdige Lebensgeschichte des unglücklichen Peters ill. 
sami vielen Anekdoten des russischen Hofs von einem Freunde der Wahr- 
heit (1773), S. 320 ff. — Lobrede zur Ehre Katharine der Zweyten, der mit 
Lorbeeren bekranzten Kayserin und Gesebgeberin von Rußland an ihrem 
hohen Namenstage, dem 24. Nov. 1774, gehalten von Th. v. Tomansky, 
Kob.-Pr. 1774, S. 27 f. — Vogl. Eloge historique de Catherine Il. par (Lan- 
rıınais) Londres 1776 bei Bilbasov: Weltliteratur, Bd. I, Nr. 302. — M. E. 
Tozen: Einleitung in die europ. Staatenkunde. Bd. II (1785), S. 916 u. a. m. 


15 


Wiedervergeltung nichi, sie für ein Muster von Milde, Weisheit und 
Tugend auszuschreyen, und obgleich die Lobeserhebungen der Ge- 
lehrten gewöhnlich so plump als ekelhaft sind, so wagten sie es doch, ihr 
zu versichern, daß das, was sie schrieben, so dauerhaft wie Erz seyn 
und das Gedächtnis ihrer kayserlichen Regierung bis auf die spätesie 
Nachwelt kommen werden).“ Trockener brachte Gatterers „All- 
gemeine historische Bibliothek“ von 1770 in dem lakonischen Sage: 
„Sein (Peters) Tod wird, wie gewöhnlich, einer Hämorrhoidalkolik 
zugeschrieben,“ ihre Distanz zu den schwindelhaften Produkten der 
Tagesliteratur zum Ausdruck vl. 

Schien der Mehrzahl der deutschen Zeitgenossen die Schuld an 
dem Rop3aer Morde unmittelbar nach seinem Bekanntwerden auf 
Katharina allein zu lasten, so verlor diese Auffassung in dem Maße, 
wie sich die Regierung der Carin entwickelie, wie sie in ihrer aus- 
wärtigen, in den Mantel der Toleranzidee gehüllien Politik Erfolg 
über Erfolg errang, wie sie eine Reform nach der anderen in einem 
so schwer zu reformierenden Lande wie Rußland ins Leben rief, an 
Glaubwürdigkeit. Eine so erhabene, tolerante und humane Fürstin 
erschien eines so abscheulichen Verbrechens wie des Gaffenmordes 
einfach nicht fähig. Überdies mußte die Glaubwürdigkeit der früheren 
Auffassung noch dadurch erschüttert werden, daß sich nun auch neue 
Zeitgenossen zum Worte meldeten, die wie der preußische General- 
leuinant Graf Hordt gewissermaßen als kompetente Beurteiler er- 
klären konnten, auch der persönliche Eindruck, den sie von der Carin 
empfangen hätten, schließe jeden Verdacht der Beteiligung an den 
Rop3aer Vorgängen aus. Graf Hordt hatte als Kriegsgefangener die 
aufregenden Tage der Palasirevolution in Petersburg mitgemacht 
und 1770, als er den Prinzen Heinrich auf der Reise an den carischen 
Hof begleitete, Gelegenheit gefunden, mit Katharina über die dunkle 
Periode ihres Regierungsanfanges zu sprechen. Bei dieser Unter- 
haltung — so berichtet er in seinen 1788 zu Berlin erschienenen 
Memoiren — konnte er beobachten, mit welcher Wahrhaftigkeit und 
Schlichtheit die Carin von dem Ereignisse erzählte und wie empört 
sie war, unter dem Verdachte der Mitschuld zu stehen: „Ses discours, 
ses yeux, son visage, son attitude, tout alors peignoit la vive émotion, 
que cette grande princesse éprouvoit au fond de son cœur. Je 
voyois la candeur, la bonne foi, la vérité, la simplicité dans tout son 
r&ecit®).“ Für den Eindruck, den eine solche Bürgschaft für die Rein- 
heit Katharinas auf die Zeitgenossen machte, ist es bezeichnend, daß 
die Ausführungen des Grafen Hordt in spätere zeitgenössische Dar- 
stellungen des Lebens der Carin iibergingen**). 


ss) Historisch-literarische unterhaltende Schriften. Übersebt von A. W. 
Schlegel (1800), S. 339 f. 


=) Bd. XVI (1770), S. 127. 


se) Graf Hordt: Mémoires d'un gentilhomme suédois (erstm. 1788), Bd. Il 
(1805 2), S. 194 f. 


81) Ohne Angabe der Quelle in r aus dem ablaufenden 
achizehnten Jahrhundert, Bd. I (18000, S 


14 


War es aber den Zeitgenossen, wie wir sahen, im Verlaufe der 
Regierung Katharinas zum Bedürfnis geworden, die Carin von der 
Mitiäterschaft an dem Morde von Rop3a zu entlasten, so wurde 
dieses Bedürfnis doch nicht bloß in der primitiven Weise befriedigt, 
daß man die anstößigen Tatsachen durch Ableugnung oder Ver- 
drehung derselben aus der Welt zu schaffen trachiete. Vielmehr 
suchten die ernsihafteren Naturen unter den deutschen Publizisien 
nach einer Begründung ihrer Rechtfertigung Katharinas, die den 
erhabenen Vorstellungen, die sie sich von der Carin machten, 
adaquater und kongenialer war als die Gründe, die Katharina zu 
ihrer Verteidigung in ihren Manifesten ins Feld geführt hatte. Für 
diese Richtung waren nicht mehr die einzelnen Tatsachen und Begleit- 
umstande der RopSaer Tragödie, die Selbsthilfe Katharinas, die 
Bluttat der Orlovs, die sie um sich dulden mußte, und dergleichen 
das Wesentliche und Entscheidende; für diese Richtung genügte es, 
daß diese an sich gewiß düstere und beklagenswerte Episode einem 
so großen Herrschergenie wie Katharına in das Feld ureigensier 
Betätigung die Bahn brach®®). 

Es verbreitete sich unter diesen deutschen Bewunderern der 
Kaiserin immer mehr die Überzeugung, daß Peter Ill. durchaus nicht 
der bedeutende Herrscher und der wertvolle Mensch gewesen sei, 
als welchen man ihn zunächst — wenigstens in Preußen — allgemein 
gefeiert und betrauert hatte. Je mehr die Glorie der von vollem 
Erfolge gekrönten Carin emporstieg, desto dunklere Schatten fielen 
auf die Gestalt des Gescheiterten. Katharina ist nicht die erste ge- 
wesen, die in ihren Memoiren das belastende Material gehäuft hat, 
durch welches der Excar später vor der Welt zu dem Trottel ge- 
stempelt wurde, der er doch keineswegs war’). Lange bevor die 
streng gehuteten Memoiren der Carin, die nur in Rußland in ein paar 
verheimlichten Abschriften kursierten, durch Alexander Herzens Ver- 
öffentlichung aus dem Jahre 1859 in Europa bekannt wurden”), ja 
noch ehe die Kaiserin an die Niederschrift der ihren Gemahl vor- 
nehmlich belastenden Partien ihrer Denkwürdigkeiten ging, stand für 
ihre deutschen Zeitgenossen das Porträt Peters Ill. bereits in der 
Gestalt fest, die es später in den Memoiren Katharinas annehmen 
sollte. Alle die unschönen Züge ihres Gatten, die die Carin in der 
Charakterschilderung ihres Gemahls unterstrich: seine unritterliche 
Brutalität, seine erotischen und alkoholischen Ausschweifungen, vor 
allem aber seine Willensschwäche und Energielosigkeit waren den 
damaligen deutschen Zeitgenossen bereits wohlbekannte Erscheinun- 


23) Vgl. Mursinna: Katharina Il. in Galerie aller merkwürdigen Menschen. 
ne (1804), S. 38 f. — Kurzgefaßte Lebensgeschichte Katharinas Il. 
å Dr N Salemann: Geschichte Rußlands unter Kaiser Nikolaus I., Bd. | 

9) Vgl. die Einleitung zu den Memoiren der Kaiserin Kath N. Hr 
Se rin Katharina $g. 


15 


gen’) und wurden von ihnen bei ihrer Kontrastierung der beiden 
Persönlichkeiten voll ausgenußkt. Nichts wurde aber Peter in der 
damaligen deutschen öffentlichen Meinung so sehr verübelt als der 
Umstand, daß er sich im Gegensatze zu seiner heroischen Gemahlin 
bei der Thronumwälzung nicht wie ein Mann bewährt, sondern die 
Rolle eines elenden Feiglings gespielt hatte. Ein Vorwurf, den 
— wenn wir Segur vertrauen — auch Friedrich der Große gegen 
seinen einstigen Bewunderer im höchsten Maße erhob. Friedrich hat 
ihn nach den Ségurschen Memoiren in das Bonmot gekleidet: „Er 
(Peter) ließ sich vom Throne stoßen wie ein Kind, das man ins Beit 
schickt?®).“ 

Wie ablehnend und feindselig die damaligen Deutschen dem 
russischen Exkaiser gegenüberstanden, zeigt das Wort eines so 
objektiven und unbestechlichen zeitgenössischen Historikers wie 
Ludwig Timotheus Spittler, das von Peters „völliger Geistesimpotenz“ 
sprach?). Ein enthusiastischer Verehrer der Carin aber wie der 
Königsberger Stadtprasident Theodor Gottlieb von Hippel, der 1760 
als Student in Petersburg gewesen war, wollte von sich behaupten, 
er hätte es schon damals vorausgeahnt, daß Peter niemals zum 
Throne gelangen oder doch nur kurze Zeit Herrscher von Rußland 
sein würde: „Immer bild ich mir ein, daß ich ihre (Katharinas) ganze 
gegenwärtige Größe schon in ihr als Großfürstin erblickt habe, 
wenigstens können es mir alle meine Freunde bezeugen, daß, so jung 
ich gleich war, ich jedennoch allen Menschen versicherte: Peter Ill., 
der sich mir damals als ein üppiger preußischer Fähndrich vorspie- 
gelte, würde entweder gar nicht den Kaiserthron besteigen oder sich 
nicht auf demselben erhalten].“ 

Hatten die deutschen Zeitgenossen Katharina, wie wir sahen, 
von dem Verbrechen an der Ermordung Peters Ill. freigesprochen 
und ihr zum mindesten das moralische Recht, den Thron zu besteigen, 
auf Grund ihres eigenen Herrschergenies und der herrscherlichen wie 
menschlichen Minderwertigkeit ihres Gemahls zuerkannt, so fanden 
sie sich schließlich auch mit dem heiklen Punkte ab — an den sie 
im allgemeinen nicht gern erinnerten —, daß von Rechts wegen 
der Thron ihrem Sohn Paul gehörte, und daß sie nur bis zur Groß- 
jährigkeit desselben als Regentin hätte herrschen dürfen Aber 
auch aus dieser Verlegenheit ließ sich ein Ausweg zugunsten Ka- 
tharinas finden. Denn schließlich war die Carin nicht die erste 
Selbstherrscherin aller Reußen gewesen, die sich den Thron mit Ge- 


ss) Allgemeine deutsche Bibliothek, Bd. LXIX, Teil 1, S. 7. — Von späte- 
ren ns 12 Forster: Kurze Übersicht der Regierung Kaiserin Katha- 
rina 


se) Eyssenhardt: Friedr. d. Gr. Denkwürdigkeiten, a. a. O. Bd. Il, S. 525 f. 


87) Sämtliche Werke hrsg. von Wachter-Spittler, Bd. IV (1828), S. 364. — 
Zeichnungen eines Gemähldes von Rußland (Celle 1798), S. 176. ~ Dav 
eu Geist und Charakter des achizehnten Jahrhunderts, Bd. II (1801), 


= Samftliche Werke Bd. XII (1835), S. 123. 


16 


walt angeeignet hatte. Vielmehr war bei der Nichtexistenz einer 
Thronfolgeordnung in der langen Reihe der Nachfolgerinnen Peters 
des Großen kaum eine anders als durch einen Staatsstreich zur 
Herrschaft gelangt. Warum sollie sich aber der Ausländer über die 

ion des Carenthrones durch Katharina ereifern, wenn das 
russische Volk sich selbst nicht gegen die Herrschaft der Kaiserin 
auflehnte, sondern sie im Gegenteil noch begünstigt und gebilligt 
halte"). 

Andererseits boten, als seit dem Ende der achtziger Jahre ein 
betrachilicher Teil der deutschen Publizistik der russischen Carin nicht 
mehr mit dem gleichen Wohlwollen gegenübersiand wie in den 
beiden voraufgegangenen Jahrzehnten, die illegitimen Thronrechte 
Katharinas und die skandalösen Anfänge ihrer Regierung natürlich 
das erwünschteste und wirksamste Material, um die Kaiserin sowohl 
in staatsrechilicher als in moralischer Beziehung auf das schwerste 
zu belasten. So wurden von ihnen alle Einzelheiten des Sturzes 
und der Ermordung Peters Ill. weidlich dazu benubt, um das deutsche 
Publikum von dem Gemeinen, Gewissens- und Skrupellosen in Ka- 
tharinas Wesen zu überzeugen. 

Was die ältere Generation der deutschen Zeitgenossen einst für 
glaubhaft gehalten hatte, nämlich, daß die Carin bei der Nachricht 
von dem Tode ihres Gemahls Schmerz und aufrichtige Rührung 
empfunden hätte, das wurde von der jüngeren als die Höhe von 
Zynismus und Heuchelei betrachtet. Für sie war es unmöglich, „sich 
des Lachens über den Schmerz und die Betrübnis der unschuldigen 
Katharina zu enthalten“, und „erstaunen muß man über den hohen 
Grad von Unverschämtheit, mit welcher sie der Welt ein Märchen 
erzählen kann, das von dem Kummer über den Tod ihres Gemahls 
handelt — über den Tod des Mannes, an dessen Leichnam jedermann 
die Spuren der Erdrosselung wahrnahm*). Sie war es, die Peter 
„den Becher des Todes“ zu leeren befahl und ihm gleich einem ver- 
achteten Verbrecher begegnete, ohne sich des Gatiengefihles zu 
erinnern. Sie „voller schwarzen Hochverrates“ enisiieg „einer 
furchtbaren Machi“, „schwang die Mordfackel in der blutigen Hand“, 
sekte eine geraubte Krone „auf ihr Haupt voller Liste und Ranke" 
und legte den Purpur „um einen Busen, der, von Lastern verschlämmt, 
jeglichem guten Gefühle den Eingang versperrt hatte*:)“. 

Wenn auch diese Worte ein persönlicher Feind Katharinas 
— Kaspar von Saldern, der infolge Unstimmigkeiten mit der Carin 
aus dem russischen Staatsdienste scheiden mußte — geprägt hat und 
in seiner Biographie über Peter Ill. vielleicht nicht so sehr aus der 
fürstenfeindlichen Stimmung seiner Zeit als mehr aus rein persön- 
lichen Motiven heraus gegen die Carin auftrat, so überbieten diese 


ss) Schwan, a. a. O. S. 203. Zeichnungen eines ee a. a. O. S. 12 
und 181 f. — Mursinna, a. a. O. S. 42. — jenisch, a. a. O. S 


ee) Kaspar v. Saldern: Biographie Peters Ill. (1800), 5. = f. 
a) Ebd., S. 117 l. 


1 ur s 17 


Tiraden seines Pamphlets in nichts die Anwürfe, denen Katharina 
von seiten der radikalen deutschen Publizisten um das Jahrhundert- 
ende sowohl bei ihren Lebzeiten als noch über das Grab hinaus 
ausgesetzt war. Die Angriffe der Verleumder Katharinas haben 
natürlich auch eine Flut von Gegenäußerungen der Verteidiger der 
Carin hervorgerufen. Aber diese verfuhren vielfach so ungeschicki 
wie möglich, indem sie die alte Mär wieder vorbrachien, der Car 
wäre eines natürlichen Todes gestorben“), eine Versicherung, die, 
wie wir sahen, auch zur Zeit des höchsien Ruhmes Katharinas nie 
wirklich geglaubt worden war. 

Außer der Ermordung Peters Ill. haben die Widersacher der 
Carin noch zwei andere ähnliche Geschichten aus den Anfängen 
der Regierung Katharinas aufgewärmt, die, damals noch nicht ge- 
nügend historisch aufgeklärt, Katharina ebenfalls in hohem Maße 
zu diskreditieren imstande waren. Die Geschichte des sogenannten 
Schlüsselburger Aufstandes“), dem der unglückliche, von der Kaiserin 
Anna zu ihrem Nachfolger designierie, von der Carin Elisabeth aber 
entihronte und seit seinen Kindertagen in strenger Kerkerhaft ge- 
haltene Prinz Ivan Antonovié aus dem Braunschweigischen Hause 
zum Opfer fiel, und die Geschichte der sogenannten Prinzessin 
Tarakanov, von den Zeitgenossen nach ihrem Aufenihalisorte als 
Prinzessin von Toskana bezeichnet, die hier während des ersten 
Türkenkrieges auftrat, sich für eine natürliche Tochter der Carin 
Elisabeih ausgab und Anspruch auf die russische Krone geltend 
machie. Katharina, die noch den Aufstand des Kosaken Pugatev 
niederzuschlagen hatte, fürchteie diese Abenteurerin und erteilte 
ihrem Admiral Aleksej Orlov den Befehl, die Pratendentin zu inhaf- 
tieren. Während einer Flottenschau bei Livorno wurde sie auf das 
Admiralsschiff gelockt, gefangengesekt und nach Petersburg ge- 
bracht, wo sie bald darauf im Gefängnis an der Schwindsucht 
verstarb»). 

Während die Revolie in Schlüsselburg — wie ein glaubwürdiger 
Zeitgenosse versichert“) — anfangs in Westeuropa den Verdacht 
aufkommen ließ, als ob die Carin den Aufstand in Szene gesebt 
hätte, um sich eines lästigen Nebenbuhlers zu enfledigen, so schenk- 
ten die Verehrer der Carin den nach diesem Geschehnis erlassenen 
Manifesten ihr volles Vertrauen und betrachteten den Aufstand als 


82) z. B. Erich Biester: Abriß des Lebens und der Regierung Kaiserin 
au ll. von Rußland (1797), S. 41. — Kurzgef. Lebensgesch, a. a. O. 
.37 u. a. m. 


43) Bilbasov, Geschichte, a. a. O. Bd. Il, S. 445 fl. 
4) Alex. Brückner, a. a. O. S. 208 f. 
«) Büschings vagazin für die neuere Historie und Geographie. Bd. VI 


(1771), S. 535. — Vgl. 8 Nachrichten von den fraurigen Schicksalen 
zweener unglücklicher Prinzen Peters Ill. und Ivans Ill. (1764), S. 3 fl. 


18 


— — —y— Bi So 


— | nn — 


einen unglücklichen Zufall“). Die Inhaftierung der „Prinzessin“ aber 
wer so wenig aufsehenerregend vor sich gegangen, daß man hier 
wohl kein Wort der Anklage gegen die Carin erhob]. 


Die radikalen Publizisten gegen das Ende von Katharinas 
Lebenszeit vermochten diese beiden Ereignisse um so mehr für ihre 
Zwecke auszuschlachten, als diese ja beide in derselben Richtung 
wie die Ermordung Peters Ill. wirkten, und der Effekt des einen den 
des anderen noch erheblich zu steigern vermochte. So stellte man 
die russische Carin dar „von einer Horde Banditen umgeben“ e), und 
emer der Wortführer der radikalen Richtung spoffete über den 
Gegensag in Katharinas Regierungsprinzip, der sich darin offenbare, 
daß die Carin öffentlich vor ihrem Popenvolke die Knie beugte, im 
stillen aber eine organisierte Mordbande mit Strick und Beil zur 
Stützung ihres Thrones arbeiten ließ). 


Aber während die Extremen unter den Bewunderern und Wider- 
sachern Katharinas sich noch einander aufs heftigste befehdeten 
und jeder von sich behauptete, das echte Katharinabild zu besiken, 
bahnte sich bereits eine gerechtere, Licht und Schatten auf beide 
Seiten gleichmäßiger verteilende Beurteilung der russischen Thron- 
revolution von 1762 an. Denn damals sammelte schon der sächsische 
Legationssekretär G. W. von Helbig in Petersburg Material zu seiner 
Lebensgeschichte Peters des Dritten, die den entihronten Caren 
ohne Gehässigkeit gegen die russische Kaiserin in der öffentlichen 
Meinung rehabilitierte und noch heute den Anspruch erheben darf, 
als einzige Lebensgeschichte Peters Ill. von Belang zu gelten»). 


“) Catharine Il, Darstellungen aus der Geschichte ihrer Regierung 
(1797), S. 96: „Es ist bekannt, daz man den Hof in Verdacht gehabt hat, als 
wenn er selbst die Verschwörung erregt hätte... Diese Meinung ist aber 
mcht sehr wahrscheinlich, denn wenn Catharina Iwans Tod gewiinscht hiitte, 
so würde sie nicht das dritte Jahr ihrer Regierung abgewartet haben und 
a ome Pine Mittel wählen können, deren Erfolg sicher war und doch 
verborgen r 


#) Außerungen der älteren Aufklärung über diesen von der russischen 
Regierung mit größtem Geheimnis behandelten Vorfall (vgl. Brückner 
a. a. O., S. 215) habe ich nicht finden können. Von späteren vgl. vor allem 
Saldern, a. a. O. S. 194 ff. — Mursinna, a. a. O. S. 70 f., berichtet im Anschluß 
an Castéra: Vie de Cathérine, Paris en Vill, Bd. Il, S. 1, daß die „Prin- 
zessin” bei einer Überschwemmung der Neva im Gefängnis ertrank: „Wir 
glauben indes zu Katharinas Ehre gern, daß sie weiter keine Absicht hatte, 
als sicher vor jeder Unternehmung der Prinzessin zu sein, und daß die 
übrigen Leiden, welche diese unglückliche Person im Gefängnis erduldete. 
nur eine Folge der Behandlung derer gewesen sind, denen die Bewahrung 
derselben anvertraui war.’ 


43) Saldern, a. a. O. S. 112. 


a) Obskurantenalmanach Jg. 1798, S. 304 f. — Katharine vor dem Richter- 
stuhle der Menschheit (1797), S. 7 f. 


se) Biographie Peter des Dritten, 2 Teile (1808). 


Kapitel IL. 
Die orientalische Politik Katharinas I. und die deutsche öffentliche 
Meinung. 
1 


Im Oktober 1768 hatte die Pforte an Rußland den Krieg erklärt. 
Den lebten Anstoß zur Kriegserklärung hatte die Verletzung der 
türkischen Neutralität durch Zaporoger Kazaken gegeben, die bei der 
Niederwerfung der Barer Konföderation durch die Russen polnische 
Konföderiertenbanden über die Grenze gedrängt und das türkische 
Städtchen Balta geplündert und niedergebrannt hatten. Obwohl also 
eine offenbare Neutralitäts- und Grenzverlekung durch die Russen vor- 
lag, bekundeten die deutschen Zeitgenossen Katharinas von vornherein 
eine einseitige Parteinahme für die Carin, indem sie die Türkei allein 
für den Kriegsausbruch verantwortlich machen wollten. Sie erklärten 
übereinstimmend, daß dieser Vorfall nicht bedeutungsvoll genug 
gewesen sei, um der Pforte das Recht zu gewähren, die Kriegsfackel 
daran zu entziinden. Hätte sie friedliche Absichten gehabt, so wäre 
dieser Zwischenfall auf diplomatischem Wege wohl sehr leicht bei- 
gelegt worden’). Es war aber — wie die deutschen Zeitgenossen 
meinten — den Türken lediglich darum zu tun, Rußland zu überfallen, 
um seine für ihr Reich bedrohlich gewordene Machtfülle zu brechen®). 
In den späteren Erörterungen des Zeitalters über die Kriegsschuld- 
frage tritt dann noch als neues Moment die Behauptung hinzu, die 
Türkei habe nicht aus eigener Initiative gehandelt, sondern auf Be- 
treiben Frankreichs und der Barer Konfoderierten den Krieg be- 
gonnen®). Jedenfalls ging die übereinstimmende Überzeugung der 
deutschen Mitwelt Katharinas dahin, daß die Türkei allein der schul- 
dige Teil an dem Ausbruche dieses Krieges sei, während Rußland als 
durchaus friedliebend erschien und seine Carin als eine Herrscherin, 
die mehr Wert darauf legte, ihrem Volke Ruhe und Frieden zu 
sichern, als ein zweifelhaftes Kriegsglück auf die Probe zu stellen. 


1) Geschichte des gegenwärtigen Krieges zwischen Rußland, Polen u. d. 
ottoman. Pforte. Aus dem Hal. übers. v. Joh. Fr. Schmidlin, Teil U (1771), 
S. 2. — Schauplatz des gegenwärtigen Krieges zwischen Rußland u. d. Pforte. 
Bd. 1 (170), S. 1. — Auch die späteren Darstellungen des Türkenkrieges ın 
den zeitgen. Biographien Katharinas, z. B. Erich Biester: Abriß des Lebens 
u. d. Reg. d. Kais. Katharina Il. (1797), S. 135 f., oder: Seume, Samtl. Werke. 
hrsg. v. A. Wagner (1837), S. 450, vertreten die gleiche pay ee — Vgl. 
auch Historisch-genealogischer Kalender auf d. Gemeinjahr 1798, S 


) Schmidlin, a. a. O., Teil Il, S. 2. — Schauplag, a. a. O., Bd. L N 25. — 
Von späteren: Gesch. u. Ursachen der Kriege zwischen den Russen und 
Türken, auch Preußen u. Holländern usw., Bd. I (1787), S. 18. — Joh. Friedr. 
re Weg Königin im Norden (1798), S. 303. — Hist.-geneal. Kal.. 
a. a 90 Í. 


3) Berl. Monatsschrift Bd. X (1787), S. 503. — Biester, a. a. O. S. 132 
und 139. — Frhr. v. Tannenberg: Leben | eee Il. (1797), S. 137. — H. F. 
Andrä: Katharina die Zweite (1797), S. 57 


20 


— a 


Wenn es durch die heutige Forschung sichergestellt ist’), daß 
des russische Kabinett als Kriegsziel in erster Linie die freie Handels- 
schiffahri auf dem Schwarzen Meere anstrebte, ging die zeit- 
genössische öffentliche Meinung in den Erwartungen, die sie durch 
diesen Türkenkrieg verwirklicht zu sehen hoffte, weit über solche 
Plane russischer Realpolitik hinaus und ließ sich durch das siegreiche 
Vordringen der russischen Armee, durch die Fahrt der russischen 
Flotte ins Mittelmeer und durch die russische Unterstüßung der auf- 
ständischen Balkanbevölkerung gern in ihren phantastischen Hoff- 
nungen besiarken, der Krieg gelte der Zerstörung der Pforte und 
der völligen Vertreibung der Türken aus Europa. Allen voran ging 
der greise Patriarch der öffentlichen Meinung Europas, Voltaire, der 
nach der Einnahme von Chocim (21. September 1769) Katharina zu- 
jubelle: „Te Catharinam laudamus, te dominam confitemur“). Wenn 
man natürlich auch bei allen Außerungen Voltaires gegenüber der 
russischen Carin immer ein gut Teil von höfischer Schmeichelei und 
literarischer Effekthascherei in Abzug bringen muß, so grückte der 
Passus, den er in einem anderen Briefe aus dieser Zeit an Katharina 
schrieb: er wünsche nichts so sehr, als in dem befreiten Konstan- 
finopel zu ihren Füßen zu knien*) — wenigstens was die Befreiung 
Konstantinopels betrifft — doch ohne Zweifel einen Herzenswunsch 
aus. Und nicht nur einen persönlichen, sondern einen Herzenswunsch 
aller Gebildeten seiner Zeit. 

Wenn unter den niederen Volksschichten Deutschlands — nament- 
lich seiner südöstlichen Provinzen — in der Erinnerung an die Tür- 
kennot der letzten Jahrhunderte der Haß gegen „den Erbfeind des 
christlichen Namens“) mehr gefühlsmäßig fortdauerte und gleichsam 
dumpf nachhallte wie die Klänge der Türkenglocke, „bei deren Schall 
auf dem Felde weit und breit unsere Vater ihre Mützen abzunehmen 
und ein Vaterunser zu beten gewohnt waren“), so hatte sich diese 
auf dunklen und unbestimmien Gefühlen beruhende Feindseligkeit 


a) Hans Ubersberger: Rußlands Orientpolitik in den letzten zwei jahr- 
hunderten, Bd. I (1913), S. 284. 


s) Voltaire: Œuvres publiés par Beuchot, Bd. LXVI (1833), S. 66. 
©) Ebd., S. 4. 


%) Vgl. F. Behrend: Im Kampf mit dem Erbfeind. In Zeitschr. d. Vereins 
. Volkskunde, Bd. XXV (1915), S. 11f. Behrends Behauptung, daß das 
historische Schlagwort „Erbfeind“ als Bezeichnung für die Türken seit dem 
Ende des achtzehnten Jahrhunderts aus der Literatur verschwinde, muß min- 
destens schränkt werden. Vol. z. B. (Johann Rautenstrauch) Tagebuch 
d. jebigen ges zwischen Rußland, Osterreich u. d. Pforte, Bd. 1 (1788), 
S. 9. — A. Swinton’s Esq. Reisen nach Norwegen, Dänemark und Rußland 
ia den Jahren 1788, 1789, 1790 und 1791. Aus dem Engl. übers. u. mit Anmer- 
kungen versehen von Friedr. Gottl. Canzler zu Gottingen (1793), S. 178. 


©) Christian Fr. Wurm: one. Geschichte der oriental. Frage (1858), 
S. 1. — Vgl. auch über die Türkenglocke Zedlers Universal-Lexicon aller 
Wissenschaften und Künste, Bd. XLV (1745), S. 1700 f., und H. Wendt: Schle- 
sien u. d. Orient (1916), S. 79 und 140f. — J. Gregor: Uber das Läuten der 
Türkenglocke und ähnliche Gebräuche in Oberschlesien. In Oberschlesische 
Heimat, Bd. IX (1913), S. 97 f. 


21 


des Volkes bei den Gebildeien unter dem Einfluß der Aufklärungs- 
und Humanitatsideen des Zeitalters zu einer kaum weniger starken, 
aber inhaltlich viel bestimmteren Abneigung gestaltet. In Gesinnung 
und Haltung, Rede und Schrift wirkte sich bei ihnen diese Feind- 
seligkeit aus in einem andauernden lauten Protest gegen die Türken 
als die schlimmsten Feinde der Zivilisation. Das türkische Staats- 
wesen mit seinen auf dem religiösen Fanatismus des Islam beruhen- 
den Einrichtungen war ihnen eine der gefährlichsten Brutstätten der 
Intoleranz und hatte für sie als solche unter den übrigen Reichen 
Europas höchstens noch an Polen seinesgleichen. In Polen aber 
hatte Katharina soeben — freilich aus den egoistischsten Motiven 
russischer Expansionspolitik — zugunsten der von den katholischen 
Magnaten unterdrückten Dissidenten energisch eingegriffen und da- 
für das Lob keines Geringeren als des großen Friedrich geerntet: 
„Son noble coeur, rempli de bienfaisance aux Polonais préchait la 
tolérance“). Kein Wunder also, daß ihr, als sie sich nun mit ihrem 
Türkenkriege einer noch weit größeren Aufgabe im Dienste des 
Toleranzgedankens und der Menschheit zuzuwenden schien, alle 
Sympathien der Gebildeten ihres Zeitalters förmlich zuflogen. 
Sicherlich hätte in diesem so ganz von dem Toleranzgedanken 
beherrschten Zeitalter auch jeder andere europäische Fürst, der unter 
der Flagge eines Feldzuges gegen den islamitischen Fanatismus 
einen Türkenkrieg begonnen hatte, die Sympathien der damaligen 
gebildeten Welt für sich gehabt. Aber wahrscheinlich hätte ihr kein 
anderer, sowohl was die Herrscherpersönlichkeit als auch die beson- 
dere Eigenart der Herrschermacht angeht, schon im voraus in gleich 
hohem Maße die glückliche Durchführung eines solchen Unternehmens 
verbürgt wie Katharina, die Selbstherrscherin aller Reußen. Denn 
die Zeitgenossen bewunderten nicht nur die Energie, die Katharina 
bei allen Gelegenheiten während ihrer bisherigen Regierung an den 
Tag gelegt hatte, sie wußten auch, daß sie an die glorreichen Tra- 
ditionen Peters des Großen, der als erster russischer Herrscher die 
Türken besiegt, und an die des russischen Feldmarschalls Münnich, 
der den Ruhm der russischen Waffen bis in die Krym getragen hatte, 
anknüpfen konnte. Vor allem aber hatten sie bereits ein Gefühl da- 
für, was es für ihr Unternehmen bedeuten wollte, im alternden 
Europa an der Spitze eines noch unverbrauchten jugendlichen Staates 
zu stehen). Allem Anschein nach ist Herder der erste gewesen, 


°) Œuvres, Bd. XIV (1850), S. 235. 

19) Rud. Haym: Herder nach seinem Leben und seinen Werken, Bd. I 
(1880), S. 336 f.: „Die Sache ist die, daß sich ihm eben Rußland als ein vor- 
zugsweise geeignetes Objekt für den Versuch nationaler Bildung überhaupt 
darstellt, daß gerade dieses Reich ebenso bildungsfähig wie pant ls sage 
fig ist, und daß hier bereits durch den so hoch von ihm bewunderten Peter 
den Großen, neuerdings durch Katharina, das große nationalpa e 
Experiment in Ängriff genommen war. In größerer Anwendung kehrt da 
der Gesichtspunkt seiner Pädagogik: Verjüngung der menschlichen Seele, 
wieder. Seine Idee von Volkererzichung stimmt zusammen mit seinen An- 
schauungen von dem Altern der Sprachen und der Dichtungskraft, mit seiner 
Forderung, daß auch die Poesie die Wege der Nachahmung verlassen und 


22 


der diesen Alters- und Entwicklungsunierschied zwischen Rußland 
und Europa in seiner zukünftigen Tragweite bewußt begriffen und 
ausgesprochen hat. Er hat damit das historische Schlagwort von den 
„jungen Völkern“ inauguriert, das dann im 19. Jahrh. als wesentliches 
Inventarstiick in die Ideologien der verschiedenen slavischen 
„Risorgimenti“ übergehen sollte. 

Im Zusammenklingen der einzelnen Motive gestaltete sich das 
Bild Katharinas für ihre deutschen Zeitgenossen immer mehr zu dem 
der Heroine eines Kreuzzuges, und es gehörte zu ihren Lieblings- 
vorstellungen, in der russischen Carin ein Werkzeug der göttlichen 
Rache an den Feinden der Christenheit zu erblicken. Bei Schrift- 
stellern von sehr verschiedener Herkunft, Stand, Beruf, Denkweise 
usw. begegnen wir immer wieder solchen analogen Wendungen wie 
„Schußgöttin des Erdkreises“, „nach dem höchsten Willen ausge- 
sandte Rächerin und größte Beschüßerin der christlichen Religion“, 
„von Gott selbst auserwahite Geibel der Bekenner Mohammeds“ 
und dergl.*). Man betete für den Sieg der russischen Waffen"), und 
als Rückschläge in der Kriegsführung für Katharina ausgeschlossen 
schienen, frohlockte man, daß nun „unzählige Menschen“ das „Behüt’ 
uns für der Türken Mord“ nicht mehr mit der altgewohnten Furcht 
zu singen brauchien**). 

Indem die Zeitgenossen aber die russische Carin als die Heroine 
eines Kreuzzuges feierten, kamen sie ganz von selbst dazu, ihren 
Türkenkrieg in den geschichtlidien Zusammenhang des jahrhunderte- 
langen Ringens zwischen Christentum und Islam zu rücken. Bei der 
souveränen Nichtachtung des rationalistischen Jahrhunderts für 
historische Bedingtheiten ist es nicht verwunderlich, daß schon die 
Gesinnung und Haltung Katharinas — wie sie den Zeitgenossen er- 
schien — sowie einzelne greifbare Erfolge geniigten, um ihr Tun 
über alles bisher Geleistete zu erheben. So konnte schon gleich nach 
dem glücklichen Verlaufe des Feldzuges von 1769 der anonyme 
Verfasser einer Türkenkriegsgeschichte mit naiver Vermessenheit 
schreiben: „In den Zeiten der Kreuzzüge vereinigten sich fast alle 
christliche Mächte, um den Mohametanern das gelobte Land, welches 
sie erobert hatten, wieder abzunehmen; allein sie richteten nichts 
aus und mußten endlich, nachdem innerhalb zwey Hundert Jahre über 
fünf Millionen Christen darauf gegangen waren, den siegenden 


sich durch die Achtsamkeit auf ursprüngliche Nationalpoesie verjüngen und 
originalisieren müsse. So erscheint ihm in dem alternden Europa Rußland 
als ein noch jugendkräftiges Land, und die Aufgabe zieht ihn an, wie die 
Kräfte einer jugendlichen, halbwilden Nation gereift, wie dieselbe zu einem 
„Originalvolk“ gemacht werden könne.“ 


_ 14) z. P. G. Willamov in seinen zahlreichen Oden aus der Zeit dieses 
Krieges. Ges. Werke, Bd. I (1793 3). — Vgl. auch Peter Kirchhof: Die Glück- 
selgkeit des russ. Staats unter dem sanften Szepter Ihrer jetzt regierenden 
Kais. Maj. usw. (1771), S. 112. 

13) Briefwechsel der großen Landgräfin Caroline von Hessen. Hrsg. v. 
A. Walther, Bd. I (1877), S. 416. 


18) J. Bellermann: Bemerkungen über Rußland, Bd. I (1788), S. 315 


Mohameianern allenthalben weichen. jekt thut Rußland ganz allein 
mehr“). Bewußt im Sinne des Lobredners stattete dann ein lahr 


später ein anderer Zeiigenosse diese historische Parallele inhaltlich. 


noch weiter aus, indem er ausführte, Katharina sei willens und im- 
stande, das Projekt des Papstes Leo X., der 1516 die christlichen 
Fürsten zur Eroberung Konstantinopels aufgerufen hatte, oder den 
darauf zurückgreifenden „Vorschlag“ des Kardinals Alberoni aus 
dem Beginn des 18. Jahrh. „wie das Türkische Reich unter der christ- 
lichen Poteniaten Boihmäßigkeii zu bringen“ ganz allein auszu- 
führen‘). Man könnte meinen, daß solche einzelnen und an sich 
kaum ernst zu nehmenden Zeugnisse für die Zeitstimmung nicht be- 
zeichnend wären. Aber die Vorstellung, daß hier eine schwache 
Frau ohne Bundesgenossen an die Lösung einer Riesenaufgabe ging, 
an der so viele deutsche Kaiser und berühmie Heerführer gescheitert 
waren, ließ damals überall — wie der zuverlässige Dohm in seinen 
Memoiren überliefert — in der öffentlichen Meinung Katharinas 
Unternehmen noch glänzender und großartiger erscheinen und den 
Wunsch rege werden, die übrigen Großmächte möchten sich mit der 
„edlen Frau“ zur Vernichtung der Türken vereinigen“). Man war 
fesi davon überzeugt, daß Katharina wie in Polen so auch hier mehr 
für das Wohl der Menschheit, mehr für andere, als für die eigene 
Nation kämpfe, und vor der Tatsache, daß die Carin in ihrem 
Turkenkriege rein russische Realpolitik trieb, verschloß der Auf- 
klarungsoplimismus diesen noch jeden Einblickes in die politische 
Praxis enibehrenden Literaten und Journalisten hartnäckig die Augen. 
Übrigens hielt sich die Vorstellung, daß Rußland den Türken gegen- 
über die Sache der Zivilisation verirete, in Westeuropa — auch in 
den liberalen Kreisen — noch lange aufrecht. Erst seit dem Frieden 
von Adrianopel (1829) erloschen die Sympathien, mit denen hier auch 
die späteren Türkenkriege Rußlands noch vielfach begleitet waren. 

Ein Blick mit dem Auge des Zeitgenossen auf ein paar Einzel- 
heiten möge noch zeigen, wie sehr infolge der unzureichenden Unter- 
richtung über die tatsächlichen Vorgänge und Ereignisse sich die 
öffentliche Meinung der Zeit von ihren eigenen Ideen, Vorlieben, 
Wunschen leiten ließ, und wie wenig der wirkliche Verlauf der Dinge 
ihre vorgefaßten Meinungen zu erschiitiern und zu ändern vermochte. 
Es ist ein ziemlich regelmäßig wiederkehrendes Schauspiel in der 
russischen Geschichte, daß die Russen auch dann, wenn sie einen 
Krieg selber provoziert hatten, beim Ausbruche desselben für die 
Kriegsführung nur ganz unzureichend vorbereitet waren. Und ebenso 
oft wiederholt sich die Erscheinung, daß die russischen Truppen von 
der öffentlichen Meinung Westeuropas bei Beginn eines russischen 


34) Schauplak, a. a. O. Bd. l, S. 1f. 
18) Vgl. Peter Kirchhof, a. a. O. S. 112. 
10) Christian W. Dohm: Denkwürdigkeiten meiner Zeit, Bd. II (1815), S. 16. 


17) Raisonnement über die Vor- und Nachtheile Rußlands u. d. Pforte 
aus dem im Lager des Feldmarschalls Grafen Rjumanzow unweit Silistria 
in Bulgarien anno 1774 geschloss. Frieden (1775), S. 13. 


24 


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Krieges in der Regel überschätzt wurden. Die einzige Ausnahme von 
dieser Regel bildet vielleicht nur der Ausbruch des Weltkrieges. Da- 
mals verlief die russische Mobilmachung glänzend, und die russische 
Armee wurde zweifellos bei uns unterschäßt!®). Die russische Mobil- 
machung beim Ausbruche des ersten Turkenkrieges unter Katharina 
war dagegen durchaus von den obengenannten, in der russischen 
Geschichte typischen Erscheinungen begleitet. Einen so genauen 
Einblick in die Verfassung und den Zustand der russischen Truppen 
wie Friedrich der Große, der 1769 seinen Adjutanicn, den Grafen 
Viktor Henckel von Donnersmarck, auf den Kriegsschauplatz entsandt 
hatte, besaßen auch wohl von den übrigen Kabinetten nur wenige“). 
Der Bericht des Grafen an den König?) war vernichtend genug fur 
das russische Heerwesen ausgefallen und hatte Friedrich das spot- 
tende Resumee entlockt: Der Feldzug von 1769 gleiche dem Kriege 
der Einäugigen gegen die Blinden, wobei die ersteren immer den 
Sieg davontrugen*’). 

Ganz anders lautete das Urteil bei der überwiegenden Mehrheit 
der deutschen Zeitgenossen. Sie sprachen zwar davon, daß die 
Carin durch die türkische Kriegserklärung überrascht worden war; 
aber sie wollien darum noch keineswegs zugestehen, daß sich ihre 
Truppen bei Kriegsausbruch in einem schlechten Zustande befunden 
hätten. Vielmehr nannten sie die russische Armee, die sie mit den 
römischen Kohorten verglichen”), eine der besten, wo nicht die beste 
Europas, im Vergleich zu der die türkische wie „ein entseelter Kör- 
per“ erschien. Obwohl Katharina selbst mit ihren Heerführern teil- 
weise sehr unzufrieden war und einzelne von ihnen wie den Fürsten 
Golicyn wegen seiner völligen Untauglichkeit hatte abberufen 
müssen, konnte man in der deutschen Berichterstattung über die 
russische Heerführung lesen, daß es den türkischen Paschas im Ver- 
gleich zu den genialen russischen Feldherren zwar nicht an glän- 
zender Ausstatiung, wohl aber an Klugheit und Erfahrung fehle. 
Und um die erste militärische Autorität der Zeit für ihre Auffassung 
ins Feld zu führen, erschien unter ihren Außerungen auch die schon 
zitierte Floskel Friedrichs des Großen; freilich in völliger Verdrehung 
der Worte des Königs. Es wurde behauptet, daß der Konig von 
einem Kriege der Hellsehenden und der Blinden gesprochen habe*). 


se) A. v. Hedensiröm: Gesch. Rußlands von 1878 bis 1918 (1922), S. 262 f. 
39) Vgl. den weniger klaren Bericht des Barons v. Sacken an d. sachs. 
Reg. bei E. Herrmann: Gesch. d. russ. Staats, Bd. V (1853), S. 702. 


se) Militärischer Nachlaß, hrsg. Karl Zabeler, Bd. II (1846), Abt. IL 
S. 1—102. Hierzu vgl. auch die Ausführungen über das Heerwesen in den 
Mémoires de M. de Falckenskiold (1826), S. 17, eines den Feldzug als russ. 
Offizier milmachenden Dänen. 

] Œuvres Bd. VI (1847), S. 24. 

23) K. Ph. Snell: Beschreibung d. russ. Provinzen a. d. Ostsee (1794), 
S. 5. — Uber den Gegensa zw. russ. u. türk. Kriegsführung äußern sich 
noch typisch Schaupla$, a. a. O. S. 52 f.; J. G. v. Boden: Verm. Schriften Bd. | 
(1771), S. 5f.; Kirchhof, a. a. O. S. 100. 


33) Hist. geneal. Kal, a. a. O. S. 90 l. 


25 


Der Sieg Golicyns bei Chocim (17./18. September 1769), der den 
Russen den Zugang zu den Donaufürstentümern öffnete, die Siege 
Rumiancevs bei Larga (18. Juli 1770) und am Kagul (1. August 1770), 
denen zufolge die türkischen Festungen Akkerman und Braila fielen, 
wurden in den deutschen Zeitschriften, unter denen sich Schubarts 
„Deutsche Chronik“ besonders exaltiert gebardete**), mit unermeß- 
lichem Jubel als die größten Waffentaten des Jahrhunderts gefeiert. 
Aber die begeisterten Sympathien blieben den russischen Heeren 
und ihrer Carin auch dann noch hold, als die Kraft der russischen 
Waffen zu erlahmen begann und der Krieg sich zwischen und neben 
den fruchtlosen Friedenskongressen von Fokschani und Bukarest nur 
noch mühsam dahinschleppte. Da wurden dann in den Organen der 
deutschen öffentlichen Meinung liebevoll alle die Umstände heraus- 
gesucht, zusammengestellt und kommentiert, die geeignet waren, das 
Nachlassen der russischen Kriegsführung zu beschönigen: der Druck 
der österreichischen Politik, der Aufstand Pugalevs, die Moskauer 
Pestepidemie, die polnische Teilung usw.; bis dann die Russen im 
lekten Kriegsjahre im nochmaligen Zusammenraffen aller Kräfte am 
15. Juli 1774 von den Türken den Friedensschluß von Kuischuk- 
Kainardsche erzwangen und nun der gedämpfie Jubel der deutschen 
Zeitschriften wieder von neuem in die hellsten Töne der Begeisterung 
für die Carin ausbrach: „Der Erdkreis schweigt, es stubt der Ocean, 
Und alles weit umher stauni Katharina an“. Mit diesen Worten be- 
grüßte Schubarts „Deutsche Chronik“ den Friedensschluß®®). 

Weit mehr noch als mit den Taten des russischen Landheeres 
beschäftigte sich die Phantasie der Zeitgenossen mit der abenteuer- 
lichen Fahrt der russischen Flotte in den Archipelagus. Ungefähr 
um dieselbe Zeit, als die Schlacht bei Chocim (17./18. September 
1769) geschlagen wurde, war die russische Flotte von Kronstadt auf- 
gebrochen, um durch den Sund und die Meerenge von Gibraltar in 
das griechische Inselmeer zu segeln und die durch russische Agenten 
aufgewiegelien Griechen in Morea von der See aus zu unterstützen. 
Dieses Unternehmen Katharinas, das übrigens auch im Conseil der 
Carin auf schwere Bedenken gestoßen war“), erschien den da- 
maligen Deutschen als so neuartig, so kühn und so vermessen, daß 
zunächst niemand so recht daran glauben wollie”). Als aber allen 
Zweifeln zum Troße sich die Richtigkeit der ersten Nachrichten davon 
bewahrheitete, da war die deutsche öffentliche Meinung anfangs noch 
sehr weit davon entfernt, das Projekt Katharinas mit dem gleichen 
unbedingten Vertrauen zu begrüßen, mit dem es den Vormarsch der 
russischen Armeen bctrachtet hatte. Den deutschen Zeitgenossen 
waren zwar noch die Anstrengungen Peters des Großen, sein Volk 


24) Schlachigesang eines russ. Grenadiers nach d. Schlacht bei Chozim 
1769. In Deutsche Chronik 1774. 


ss) Ges. Schriften Bd. VI (1839), S. 178. 
») E. Herrmann: Gesch. a. a. O. Bd. V, S. 617. 


31) F.C. jebe: Statist. polit. u. galante Anekdoten von Schweden, Lief- 
u. Rugland (1788), S. 90. 


26 


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seetiichtig zu machen, in der Erinnerung; aber sie wußten auch, wie 
arg die russische Flotte unter seinen Nachfolgern vernachlässigt 
worden war. 

Von dem russischen Soldaten hatte man, was Tapferkeit, Aus- 
dauer und Genügsamkeit anlangt, die allergünstigste Vorstellung; der 
Russe als Seemann aber hatte bei ihnen begreiflicherweise durchaus 
nicht die gleiche Geltung»). Dazu kam die lebhafte Vorstellung der 
Schwierigkeiten und Schrecken, mit denen damals noch jede Seefahrt 
verknüpft war; bot doch schon die noch verhältnismäßig ruhige Ostsee 
fur einen erprobien Seefahrer wie Joachim Nettelbeck die größten 
Gefahren. Wie hätten da nicht die Tücken von Meer und Wind, die 
die junge Flotte mit ihrem im Seewesen noch unerfahrenen Führer 
Aleksej Orlov, mit ihren noch unerprobten Offizieren und Mann- 
schaften und den schlecht gebauten Schiffen auf einer Strecke von 
1500 Meilen erwarteten, als unüberwindlich betrachtet werden sollen. 
Dazu kamen endlich historische Erinnerungen an das Scheitern auch 
von glänzend ausgerüsteten Flottenunternehmungen wie der spa- 
nischen Armada und verstärkten noch diese an sich schon pessi- 
mistische Stimmung. Denn es war doch wohl kaum — wie dic „Ber- 
linische Monatsschrifi“ behauptete — nur „die große Menge Halb- 
kluger. die immer weiter als die kleine Zahl der Manner von Einsicht 
und Erfahrung zu sehen sich einbilden“ v), die mit Berechtigung auf 
die Leistungsfähigkeit einer neuen Seemacht kein großes Vertrauen 
setzten und der russischen Flottenexpedition einen vollen Mißerfolg 
prophezeiten. Als aber dann schon die glückliche Fahrt der 
russischen Flotte, deren erstes Geschwader nach kurzer Rast an der 
englischen Küste im Dezember 1769 in den Hafen von Port Mahon 
einlief, diesen Pessimismus Lügen strafte, trat in der deutschen 
öffentlichen Meinung ein völliger Stimmungsumschwung ein. Das 
Improvisierte des russischen Flottenunternehmens, das den Zweiflern 
anfangs das harte Urteil, als handle es sich dabei um eine ,,Spie- 
lerei“, entlockt hatte, erschien nun als eine bewunderungswürdige 
Höchstleistung russischer Organisationskunst; die Epedition war, wie 
die „Berlinische Monatsschrift“ bemerkte, schon von Anfang an in 
den Kriegsplan mit einbegriffen, und der Carin allein war es zu ver- 
danken, daß sie allen Bedenken ihres Staatsrates gegenüber an 
ihrem von vornherein gefaßten Plane festgehalten hatte). Unter 
dem „weltberühmten großen Manne“, dem Admiral Aleksej Orlov, 
ward die russische Flotte der Schrecken der Tiirken**), und wieder 
reichten die großen historischen Maßstäbe kaum aus, um die neuen 
Heldentaten Katharinas und ihrer Untertanen daran zu messen. Die 
Skala der Empfindungen, mit denen man nun die russische Flotten- 
expedition verfolgte, gibi eindringlich der Erfurter Universitätspro- 


28) Berl. Monatsschrift Bd. X (1787), S. 498. 

») Ebd., S.479. — Vgl. Schmidlin a. a. O. Teil V, S. J. 

se) Berl. Monatsschr. Bd. X, S. 503; auf ihr beruhend Biester, a. a. O. S. 139. 

aa a. a. O. Teil V, S. 53. — VgL Geschichte u. Ursachen, 
a. a. O. S.. 31. 


27 


fessor Bellermann, einer der griindlichsten damaligen Reiseschrift- 
steller, in seinen „Bemerkungen über Rußland“ wieder: „Europa 
staunie schon, wie es russische Kriegsflaggen im Archipel und auf 
dem schwarzen Meere wehen sahe. Dieses Staunen wuchs, wenn 
man die Geschichte der russischen Marine durchlief, dab Peter der 
erste beim Antritt seiner Regierung nichi ein einziges Schiff auf der 
Ostsee besaß, daß seine Nation weder Beruf, Sinn, noch große Ver- 
anlassung, eine Secmacht zu werden, haben konnte, daß er selbst 
in Sardam als Schiffszimmerjunge, Geselle und Meister arbeitete, um 
dereinst seinem Vaterlande eine Flotte schaffen zu können. Dieses 
Staunen Europas stieg endlich auf den höchsten Gipfel, da man die 
Thaten der jungen Flotte von 1770 bis 1773 horte?**).“ 

Am 4. Juli 1770 war Orlov vor dem Hafen von Tschesme auf die 
türkische Flotte gestoßen, die nach unenischiedenem Kampfe sich in 
die Bucht zurückzog. Da gelang es den Russen in der Nacht vom 
5. zum 6. Juli, durch Brander die türkischen Kriegsschiffe völlig zu 
vernichten, und nun wollte der Jubel der Zeitgenossen über diese 
Heldentat, die den Türken die größte Niederlage zur See beigebracht 
hatte, die sie seit Lepanto getroffen, nicht mehr verstummen. Kein 
Geringerer als Goethe hat in einer meisterhafien Zusammenfassung, 
die in ihrer ruhigen, selbstsicheren Objektivität wohltuend absticht 
von der Uberhitztheif der damaligen Zcitstimmen, die einzelnen Stim- 
mungsmomente dieses Freudenrausches festgehalten und charak- 
terisiert. Allerdings schrieb er folgende Sake nicht unter dem un- 
mittelbaren Eindruck der Ereignisse, sondern sie entstammen der 
rückschauenden Betrachtung von „Dichtung und Wahrheit“: „Katha- 
rina, eine große Frau, die sich selbst des Thrones würdig gehalten, 
gab tüchtigen hochbegünstigten Männern einen großen Spielraum, 
der Herrscherin Macht immer weiter auszubreiten: und da dics über 
die Türken geschah, denen wir die Verachtung, mit welcher sie auf 
uns herniederblickten, reichlich zu vergelien gewohnt sind, so schien 
es, als wenn keine Menschen aufgeopfert würden, indem diese Un- 
christen zu Tausenden fielen. Die brennende Flotte in dem Hafen 
von Tschesme verursachie ein allgemeines Freudenfest über die ge- 
bildete Welt, und jedermann nahm Teil an dem siegerischen Über- 
muth, als man um ein wahrhaftes Bild jener großen Begebenheit übrig 
zu behalten, zum Behuf eines künstlerischen Studiums, auf der Reede 
von Livorno sogar ein Kriegsschiff in die Luft sprengte“*). Dem 
deutschen Maler Philipp Hackert war dieses Schauspiel gewährt 
worden, um wahrheitsgeireu die Schlacht bei Tschesme in einem 
Gemäldezyklus für die Carin herstellen zu können, und Goethe hat 
in seiner Hackert-Biographie die Entstehungsgeschichte dieser Bilder 
mit allen Einzelheiten genau geschildert. Nach dem Siege bei 
Tschesme waren der russischen Flotte keine größeren Erfolge mehr 

ss) Bellermann, a. a. O. S. 255. 


ss) Weimarer Ausgabe Abt. I Bd. XXVI (1889), = 67, undi Bd. XLVI (1903), 
S. 138. — Einen Hymnus auf den Sieg bringt Chr. ai FE lodius mit seinem 
Gedicht „Die Schlacht bei Chios“ in Neue verm. Schr n (1780), S. 1 f. 


28 


beschieden, und der eigentliche Zweck, eine Erhebung großen Stiles 
unter den peloponnesischen Griechen einzuleiten, wurde nicht er- 
reicht. Aber auch hier wieder waren die Zeitgenossen geneigt, die 
Schuld an dem Ausbleiben des Erfolges viel weniger den Russen 
als unglücklichen Zufällen zuzuschieben. Nicht die russische Flotte 
hatte es an Leistungsfähigkeit fehlen lassen, denn in ihr wohnte 
„Kühnheit und Mut“, wohl aber versagte die Unterstützung der von 
den russischen Admiralen bewaffneten Balkanchristen, weil sich diese 
weniger tapfer erwiesen, als man erwartet hatte, und sich disziplin- 
und treulos zeigten*). 

Der Friedensschluß von Kutschuk-Kainardsche erfüllte bei weitem 
nicht die Erwartungen, die sich in der Phantasie der deutschen Zeit- 
genossen an den Ausgang dieses Krieges geknüpft hatten. Die Er- 
oberung von Konstantinopel und die Vernichtung des türkischen 
Reiches, die sie in ihren überschwenglichen Äußerungen als die 
eigentlichen Kriegsziele der russischen Carin bezeichnet hatten, 
wurden nicht erreicht. Man könnte daher annehmen, daß die Be- 
urteilung dieses Kriegsausganges in der deutschen öffentlichen Mei- 
nung eine kühle, resignierte gewesen wäre oder wohl gar, daß die 
Enttäuschung, die dieser Friedensschluß nach so hochgespannien 
Hoffnungen für die deutschen Zeitgenossen doch zweifellos be- 
deutete, sie veranlaßt hätte, mit ihrer Unlust über die Ergebnisse des 
Krieges nicht zurückzuhalten. Aber dem war nicht so. Die Be- 
urteilung der Kriegsresultate fiel kaum weniger enthusiastisch aus 
als die der russischen Kriegstaten. Und schließlich entspricht es ja 
wohl dem Wesen der öffentlichen Meinung überhaupt, wenn sie für 
eine Person oder Sache voreingenommen ist, sich zufrieden zu 
geben, wo sie nur Fortschritte sieht. 

Diese Fortschritte waren nun in der Tat sehr beträchtlich, wie 
denn auch dem Frieden von Kutschuk-Kainardsche von den späteren 
Publizisten mit Recht immer eine besondere Bedeutung für die Ge- 
schichte der orientalischen Frage beigemessen worden ist). Ruß- 
land gewann durch diesen Frieden das Land zwischen Dnepr und 
Bug, ferner die beiden Festungen Kerisch und Jenikale, die die 
Straße von Kertsch beherrschen, den Zugang zum Schwarzen Meer 
und endlich für seinen Handel das Recht der freien Schiffahrt 
zwischen dem Schwarzen und Agaischen Meer und des ungehin- 
derten Einlaufens in alle Häfen der Pforte. Es erreichte damit, wie 
Johann Gottfried Seume — als eine vereinzelte Stimme — hervor- 
hob, die Erfüllung eines von ihm längst angestrebten Zieles®). Aber 
es waren Fortschritte mehr im Sinne der russischen Macht- und Wirt- 
schaftspolitik als in dem jenes noch stark religiös aufgefaßten Be- 
freiungswerkes, das aus dem zivilisierten Europa die Schmach des 
zivilisationsfeindlichen Tiirkenreiches austilgen wollte. Die deutsche 


34) Berl. Monatsschr. Bd. X. S. 505 f.; Biester, a. a. O. S. 139. 

ss) Wurm, a. a. O. S. 91 f. — Carl Ritter von Sax: Gesch. d. Machiver- 
falls d. Turkei (1906), S. 108. 

ss) Seume Werke, a. a. O. S. 451. 


29 


öffentliche Meinung hatte noch so gut wie gar kein Oefühl dafür, 
daß man diese beiden Dinge auseinanderhalten müsse, und begnügte 
sich im allgemeinen mii einem naiven Anstaunen des Erreichten, ohne 
daran weitere Reflexionen über den gefährlichen Machizuwachs zu 
knüpfen, den Rußland in diesem Kriege erreicht hatte. Wie wenig 
selbst politische Praktiker von damals für das bedrohliche Anwachsen 
der russischen Macht empfindlich waren, zeigt ja auch die Orieni- 
politik Josephs Il. in den achtziger Jahren?”). Schließlich vermochten 
sich auch diejenigen, denen die Resultate von Kutschuk-Kainardsche 
zu sehr hinter ihren Erwartungen zurückblieben, mit dem Ausgange 
des Krieges auszusöhnen, indem sie in dem Friedensschlusse von 
1774 nur eine Etappe des weiteren Vordringens der Russen auf 
Konstantinopel sahen; und Katharina tat das ihrige dazu, um solche 
optimistischen Hoffnungen nicht erlahmen zu lassen. 

In dem nun folgenden Jahrzehnt tauchten in der deutschen öffent- 
lichen Meinung immer häufiger Gerüchte auf, die von einem bevor- 


$7) F. H. Geffken: Katharina Il., die Pforte u. Europa in Deutsche Rund- 
schau Bd. XV (1878), S. 92 u. 96: „Der Kaiser garantiert (1781)... die Ver- 
träge Rußlands mit der Pforte, verspricht auf das Bündigste „de faire obser- 
ver par la dite porte Ottomane strictement et religieusement tout ce qui es 
contenu dans les actes cy-dessus mentionnés“ und im Falle der Nicht- 
beobachtung seine guien Dienste bei ihr anzuwenden. Sollten aber solche 
nicht die gewünschte Wirkung haben und sie sich hartnäckig weigern, ihre 
Verpflichtungen zu erfüllen oder gar offen den Frieden verletzen und zu 
einer Invasion Rußlands schreiten: so verpflichtet sich der Kaiser, drei Mo- 
nate nach ergangener Aufforderung, ihr den Krieg zu erklären und in ihr 
Gebiet eine direkte Diversion zu machen mit Kräften, die den von der 
Kaiserin aufgewendeten gleich seien. Für den Fall einer Operation der 
russischen Flotte im Schwarzen Meer will Osterreich sich über ein seiner- 
seits zu leistendes Äquivalent verständigen. Der Kriegsplan soll gemein- 
sam fesigelegt werden, und der Kaiser verspricht, wenn während des vor- 
ausgesetzfen Krieges die Kaiserin von irgendeiner andern Macht angegriffen 
werden sollte, dies nicht nur als casus foederis zu betrachten, sondern voll- 
ständig für I. M. einzutreten und mit allen Kräften zu Hilfe zu kommen, so- 
weit es geschehen könne, ohne die Sicherheit seiner Staaten zu gefährden; 
auch nicht Frieden oder Waffenstillstand zu schließen, ohne Il. K. M. darin 
einzubegreifen. Diese Verbindlichkeiten bittet der Kaiser so zu betrachten, 
als ob sie unter dem „geheiligten Gesetze“ des feierlichsten Vertrages ab- 
geschlossen seien. Also ein Lowenvertrag für Rußland im eigentlichsten 
Sinne...“ Man findet „bei Joseph und Kaunitz die enischiedenste Uber- 
zeugung, daß das griechische Project ein luftiges Hirngespinst sei, anderer- 
seits eine rücksichtslose Ländergier, die einfach über fremdes Gebiet ver- 
fügt. Was die Absichten des Kaisers betrifft, so waren sie allerdings prak- 
fischer, als die hochfliegenden Pläne seiner Verbündeten, Harris (der eng- 
lische Gesandie in St. Petersburg) meinte ganz richtig (27. Aug. 1782), er 
wolle Bosnien, Serbien und den Teil der Türkei, der früher zu Ungarn ge- 
hört habe, werde auch wohl wünschen, Etwas von den Besitzungen der Pforte 
am adriatischen Meere zu erwerben und nicht zu gewissenhaft sein, um auf 
die Venetianer überzugreifen, wenn ihre Besitzungen ihm in den Weg 
kämen. Das waren unstreitig seine Absichten, aber sie erfüllten sich nicht; 
wenn Harris ebenso wie Friedrich Il. sahen, daß das Einverständnis Rub- 
lands und Österreichs ein Ende haben werde, wenn sie an die Ausführun 
ihrer Pläne gingen, so wurde es doch durch die Folge klar, daß Joseph un 
Kauni einen ganz falschen Schachzug getan, während Katharina zwar nicht 
ihre hochfliegenden Pläne durchsetzte, aber doch allein den Gewinn des 
Bündnisses einheimste.” 


50 


stehenden neuen Kriege zwischen Rußland und der Türkei redeten. 
Die Art und Weise, mit der Rußland den Friedensvertrag auslegie, 
halle zu einer solchen Verwicklung und Verwirrung in den diploma- 
tischen Beziehungen der beiden Länder geführt, daß schon 1782 das 
„Politische Journal“ erklärte, dieser „gordische Knoten“ müsse „ent- 
weder entwickelt oder mit dem Schwerte zerschnitten werden“. Daß 
das letztere das Wahrscheinlichere sein werde, darüber ließ es seine 
Leser nicht im Zweifel“). Die Annäherung, die sich 1781 zwischen 
dem deutschen Kaiser Joseph und der russischen Carin vollzogen 
hatte, vervielfachte und verstärkte natürlich die Gerüchte und gab 
ihnen, entsprechend den Ideen und Wünschen der Gebildeten, konkre- 
teren Inhalt. In hohem Maße bezeichnend dafür ist, was der Vater 
Gleim im Januar 1784 seinem Freunde Heinse aus Halberstadt berichten 
konnte: „Im Frühjahr, heißt es hier, bricht Joseph los, mit allen seinen 
Donnern. Er auf Rom, und Catharina bricht auf Stambul los, die 
griechischen und lateinischen Kayserthymer werden hergestellf, 
Athen und Sparta werden wieder seyn**)!“ 

Aus solchen Gerüchten sprach aber auch der Widerhall der zahl- 
reichen eindringlichen Manifestationen, durch welche Katharina für 
ihr sogen. griechisches Projekt, d. h. für ein von ihr zu begründendes 
griechisches Kaisertum, das sich aus den Trümmern der Türkenherr- 
schaft erheben sollte, in Europa Stimmung zu machen suchte. Katha- 
rinas Reklame war wie sieis so auch in diesem Falle außerordentlich 
geschickt und redete nicht nur eine sehr weit vernehmbare, sondern 
auch zu Herzen dringende Sprache. Denn, wenn sie ihren zweiten 
Enkel, der dereinst den Thron dieses griechischen Kaiserreiches be- 
steigen sollte, Konstantin taufen ließ, wenn sie aus Griechenland 
Ammen verschrieb, die ihn säugen, und griechische Knaben, die 
seine Spielgefährten werden und, in einem eigens für sie errichteten 
Kadettienkorps erzogen, den Stamm eines zukünftigen Offizierkorps 
der griechischen Armee bilden sollten, so kam sie damit den Lieb- 
habereien ihrer klassizistischen Zeit auf das glücklichste entgegen. 
Waren aber diese Anspielungen in erster Linie für die gelehrt oder 
literarisch Gebildeten berechnet, so fand sie für die einfacheren 
Gemüter eine noch drastischere Methode, ihre Absichten auszu- 
drücken, wenn sie Schaumünzen schlagen ließ, auf denen die Carin 
als „Schützerin der Gläubigen“ und Konstantinopel als brennende 
Stadt dargestellt waren, oder wenn das Staditor des von Potemkin 
erbauten Cherson die Inschrift erhielt: „Von hier aus geht der Weg 
nach Byzanz". Wie erfolgreich Katharina mit ihrer Reklame war, 
geht auch daraus hervor, daß noch mitten im Frieden in deutschen 
Zeitschriften russische Kriegslieder erschienen, in denen für den kom- 
menden Türkenkrieg schon im voraus Propaganda gemacht wurde: 


ss) Polit. Journal, Jg. 1782, S. 173 l. 


se) Gleims Briefw. mit Heinse, hrsg. v. K. Schüddekopf (1894): Brief vom 
18. Januar 1784. 


51 


„Wohlauf, ins Feld! Horcht, überall 
Tönt Pauken- und Trompeten-Schall! 
Es gilt dem Muselmann! 

Seht, unsere Kaiserin gebeut. 

Es rüste sich zum wackern Streit 
jezt jeder brave Mann*).“ 


Trotz aller dieser Gerüchte, die auf den baldigen Ausbruch neuer 
Feindseligkeiten zwischen Russen und Türken hinwiesen, und trob 
aller Provokationen, die sich die russische Politik und Diplomatic 
der Pforte gegenüber erlaubien, blieb Osteuropa der Friede mehr 
als ein Jahrzehnt erhalten, und selbst die Erbitterung, welche bei der 
Pforte infolge der Erwerbung der Krym durch Rußland hervor- 
gerufen wurde, hat es noch nicht zum Beginn eines neuen Krieges 
kommen lassen. 

Im Frieden von Kutschuk-Kainardsche hatten es die Russen nach 
langem Widerstreben der Türken durchgesekt, daß die Tataren der 
Krym und des Kuban als eine von beiden Kaiserreichen freie und 
von jeder auswärtigen Macht unabhängige Nation anerkannt würden, 
die von ihren eigenen Fürsten (Chanen) regiert werden sollten. Beide 
Mächte waren übereingekommen, sich in keiner Weise weder in die 
Wahl des Chans noch in die inneren politischen Verhältnisse der 
Tataren einzumischen. Katharina hatte indes die Unabhängigkeits- 
erklärung der Krymtataren in der Absicht angestrebt, um durch An- 
zettelung von Intrigen unter ihnen Unruhen hervorzurufen, die dann 
für den Einmarsch der russischen Truppen zur Befriedung des Landes 
den Vorwand liefern und in eine Einverleibung des Tatarenstaates 
in das russische Reich ausmünden sollten. Nach der gleichen 
Methode, mit der man in Polen zur Zeit der Dissidentenunruhen 
glücklichen Erfolg gehabt hatte, wurde nun auch den Tataren gegen- 
über verfahren und am 1. August 1783 die Besikergreifung der Krym 
proklamiert. Die Pforte hatte sich trok aller Proteste schließlich in 
das Unvermeidliche fügen müssen. 

Die Einverleibung der Krym hat auf die damalige öffentliche Mei- 
nung in Deutschland keinen sehr großen Eindruck gemacht. Sie hat 
vor allem so gut wie gar keine Erregung über den neuen eklatanten 
Rechisbruch Rußlands hervorgerufen. Ganz abgesehen davon, daß 
die öffentliche Meinung damals durch den Abschluß des amerika- 
nischen Freiheitskrieges in Anspruch genommen war, hatte dieses 
Zeitalier begreiflicherweise für die Tataren keine sonderlichen Sym- 
pathien. Denn einmal waren „die Händel der Russen in dieser 
Periode in Deutschland zu wenig bekannt“), sodann handelte es 
sich um ein Volk, das auf einer Kulturstufe stand, auf die der auf- 
geklärte Zeitgenosse nur mit Verachtung glaubte herabblicken zu 
können. Der damals im Departement der auswärtigen Angelegen- 
heiten Preußens tätige Kriegsrat Christian Wilhelm Dohm, der als 


«) Polit. Journal, Jg. 1783 im Titelblatt des 9. Stücks. 
41) Seume Werke, a. a. O. S. 452. 


52 


einer unter wenigen diesen Einbruch Rußlands in die Krym als einen 
unerhörten Gewaltakt mißbilligte, fand in seinen Memoiren für die 
interesselosigkeit, mit der die deutsche öffentliche Meinung diese 
Rechtsverlekung Rußlands hinnahm, folgende treffende Erklärung: 
„Ein der Zeit oder dem Orte nach fern von uns sich ereignender Un- 
fall pflegt schwächer zu rühren; auch sind unsere Begriffe von Recht 
oder Unrecht unter den Völkern meist nur auf den Kreis der Volker 
beschränkt, die mit uns auf gleicher Stufe der Bildung sitehen).“ 
Wofern man aber in der gleichzeitigen öffentlichen Meinung Deutsch- 
lands der Krymbesekung überhaupt eine lebhaftere Aufmerksamkeit 
zuwendete, so erfolgte die Beurteilung in diesem Sinne: Das Recht 
zu dem Schritte war auf russischer Seite; Rußland hatte einen 
historisch begründeten Anspruch auf die Halbinsel; es mußte seine 
früheren Bedrücker, die einst auch Deutschland bedroht hatten und 
Rußland schließlich immer noch durch Überfälle beunruhigten, unter 
seine Gewalt bringen. Das „Politische Journal“ wollte zwar seine 
Leser lehren, Machthunger hatte die Carin veranlaßt, die Krym zu 
okkupieren. Aber aus dem eigenen Leserkreise wurde gegen eine 
solche Auffassung in einem Eingesandt energisch protestiert: „Nicht 
Eroberungssucht, sondern traurige Notwendigkeit war es, sich eines 
Landes zu vergewissern, welches von einer Rotte Rauber bewohnt 
wurde, die wider alle Völkerrechte Räubereyen und Mordthaten in 
der Nachbarn Land für Pflicht hielten“). Noch energischer trat das 
„Historische Portefeuille“ für Katharina ein: Alle Plagen, die die 
Krymiataren von jeher dem russischen Reiche gebracht hatten, 
konnten nur durch eine vollständige Besigergreifung ihres Landes 
beseitigt werden. Wenn die Chane auch 1774 von der Türkei un- 
abhängig geworden waren und seitdem mehr dem russischen Einfluß 
unterstanden, so gab das der Carin immer noch keine Gewähr dafür, 
dak ihr Land vor ihnen sicher war. Denn stets hatte die Krym im 
Solde der Pforte gestanden und, bei einem Kriege mit ihr verbündet, 
die Russen zu Sonderaktionen herausgefordert oder mitten im 
Frieden Überfälle auf die Ukraine vollzogen. Eine Krym aber in 
russischem Besitz war ein glänzender Handelsplag, ein hervorragen- 
der Flottenstugpunkt und eine ausgezeichnete Operationsbasis. Frei- 
lich solchen Vorteilen gegenüber wußte das „Historische Portefeuille“ 
auch Nachteile aufzuzählen. Dieser neue Gebietszuwachs an sich 
bedeutete wenig, da im eigentlichen Rußland noch viele fruchtbare 
Gebiete zu besiedeln seien und bei der geringen Bevölkerungsdichte 
Rußlands dem Menschenmangel in der Krym für lange Zeit hinaus 
noch nicht abgeholfen werden könne. Des ferneren dürfe man 
ernstlich der Pest wegen besorgt sein, die ständig in der Krym 
wüte und von hier aus, wie z. B. im letzten Türkenkriege, leicht nach 
Rußland eingeschleppt werden könne. Aber alles in allem genom- 


Dohm, a. a. O. Bd. Il, S.63. 


«s) Polit. Journal, Jg. 1788, S. 1025. Es ist nicht ausgeschlossen, aas 
3 auf Katharinas Veranlassung hin geschrieben ist. Vgl. 


3 NF 5 35 


men, die Vorteile überwogen: „Eine merkwürdige Begebenheit mehr 
in der Geschichte der jetzigen glücklichen Regierung“ J.“ 


2. 


„Das entscheidende Jahr 1787, das Jahr, in welchem die Kaiserin 
von Rußland ihren zweiten Türkenkrieg begann, versetzte ganz 
Europa in eine erschütternde Bewegung. Joseph Il. sah sich durch 
seine Bundesgenossenschaft mit Katharina Il. alsbald zur Teilnahme 
gezwungen. Gustav Ill. von Schweden ließ sich, von brennendem 
Ehrgeiz gestachelt, voreilig und schlecht vorbereitet und ohne eines 
ausreichenden Beistandes von seiten der ihm befreundeten Mächte 
sich versichert zu haben, zu einem allzu gewagien Angriff auf das 
kolossale Reich seiner Nachbarin verleiten. Die zerrüttete Republik 
Polen erhob sich zu den letzten krampfhaften Versuchen, ihre natio- 
nale Unabhängigkeit wiederherzustellen, und Preußen, fest ent- 
schlossen, jeder weiteren Machtvergrößerung Österreichs entgegen- 
zutreten, vereinigte sich mit England und Holland zu einem Defensiv- 
bündnis, welches zunächst die Aufrechterhaltung des europäischen 
Gleichgewichtes bezweckte. All diese politischen Verwicklungen 
bereiteten sich vor schon während der berühmten Reise, welche die 
Kaiserin am 2. Januar 1787 nach der Krym unternahm. Diese Reise 
mit ihrer geflissentlichen, pomphaften Zurschaustellung des russischen 
Machigepränges war ein die Augen aller Welt auf sich ziehendes 
Ereignis. Während derselben fanden zwischen der Kaiserin und dem 
Kaiser, zwischen ihr und dem König von Polen Verabredungen statt, 
deren geheimnisvolles Dunkel nicht ohne Grund vornehmlich bei der 
Pforte die Besorgnis vor den drohenden Madhigeliisten Rußlands 
steigerten. Mit majestätischer Selbstverherrlichung machte Katharina 
diese Reise zu einem Triumphzug ununterbrochener Huldigungen, die 
sie vom niedrigsten Untertanen, die sie von einem Konig ihrer 
Schöpfung sich darbringen ließ, und denen mit ritterlicher Courtoisie 
auch ihr kaiserlicher Gast sich anschlof*).“ 

Diese taurische Reise der Carin hat lange nachher in einem der 
Reiseteilnehmer einen liebenswürdigen Schilderer gefunden. In 
seinen 1825 erschienenen Memoiren hat der damalige französische 
Gesandte am Petersburger Hofe, Graf Philipp Louis von Ségur, „mit 
wohlbehäbiger Ausführlichkeit in dem Stil der Restaurationsepoche, 
um die gute Gesellschaft zugleich zu unterhalten und zu unterrich- 
ten“), erzählt, wie die Reise, die teils zu Schiff auf dem Dnepr, teils 
im Wagen zu Lande gemacht wurde und durch ein gut Stück Süd- 
rußlands bis zu dem Krymhafen Sebastopol führte, einer ununter- 
brochenen Kette von Festen glich, die aber trob ihrer Überfülle bei 
den ewig wechselnden neuen Eindrücken, bei der frischen Lebens- 


“) Histor. Portefeuille, Jg. 1786, S. 11f. — Vol. J. M. Hofmann: Katha- 
rina ll, die einzige Kaiserin der Erde, Selbstherrecherin aller Reugen usw, 
Bd. I (1787), S.8 f. 

s) E. Herrmann, Gesch, a. a. O. Bd. VI, S. 147 f. 

de L. Ranke, Sämtl. Werke, Bd. XXXI (1875), S. 294. 


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lust der Carin, welche in der Ertragung von Schwierigkeiten, die bei 
dieser Reise in noch so wenig von der Zivilisation erschlossenen 
Gebieten natürlich auch in Kauf genommen werden mußten, allen 
voranging, und bei der geistreichen Unterhaltung, welche die Hof- 
gesellschaft Katharinas wie die kaum eines anderen damaligen Hofes 
glänzend beherrschte, niemals Ermüdungsgefühle aufkommen ließen. 
Das war eine Beurteilung, gesehen aus der Atmosphäre und der 
Perspektive des Petersburger Hofes, und wie sehr Ségur den Ab- 
sichten, die Katharina mit dieser Reise verfolgte, in seiner Schilde- 
rung entsprach, haben die erst später erschlossenen Briefe Katha- 
rinas, die sie zur Zeit der Reise selbst über dieses Ereignis schrieb, 
gezeigt"). Aber daneben gab es noch eine andere Auffassung, und 
diese wurde namentlich von den der Kaiserin feindlichen Zeitungen 
des Auslandes wie den „Nouvelles extraordinaires de divers 
endroits“, gewöhnlich kurzweg „Gazette de Leyde“ genannt, ver- 
treten und verbreitet. Um den der russischen Carin abtraglichen 
Gerüchten enigegenzutreten, die in solchen Organen des Auslandes 
ausgesireut wurden“), veröffentlichte Melchior Friedrich Grimm, das 
Pariser literarische „Faktotum“ Katharinas, in seiner „Correspon- 
dance littéraire“**) die Reiseberichte eines anderen Teilnehmers, des 
Fürsten Karl Joseph von Ligne, eines der geistvollsten Plauderer 
seiner Zeit. Glänzend geschrieben, der Neigung der Zeit für das 
Exotische mit der farbigen Schilderung des bunten Völkergemisches 
des russischen Reiches entgegenkommend und mit vielen kleinen 
mit Geschick angebrachten Anspielungen und Pointen versehen, wie 
sie Katharina liebte und die ihr schmeichelten, entsprechen die 
Reiseberichte de Lignes, was Auffassung und Darstellungskunst an- 
langt, im großen und ganzen den Schilderungen von Ségurs Memoiren. 


) Vgl. ihre Korrespondenz mit Melchior Friedr. Grimm in Sbornik 
imperatorskago istori¢eskago ob3tesiva Bd. XXIII (1878) und die von K. L. 
Blum: Ein russ. Staatsmann. Des Grafen J. J. Sievers Denkwürdigkeiten zur 
Geschichte Rußlands, Bd. II (11857), S. 478 f. verwerteten Briefe der Carin an 
den Oberjägermeister von Pohlmann. 


% Wie empfindlich Katharina gegen die Anwürfe der ausländischen 
Zeitungen war, das zeigt ihr Brief an Grimm vom 30. Juni 1787. Sie wundert 
sich über die falschen Nachrichten im Auslande, obwohl doch Grimm schon 
längst ihre (der Carin) authentischen Berichte erhalten haben müsse. Sie 
bittet Grimm, nicht zu glauben, was die Zeitungen über ihre Verschwendung 
schreiben. Sie teilt ihm mit, wie beispielsweise berichtet worden sei, daß 
in Kiev täglich 5000 Rubel für die Tafel ausgegeben würden und daß man 
ein Ei mit eineinhalb Rubel bezahlt hatte: „tout ccla est pur et plat men- 
songe.“ Sbornik, a. a. O. Bd. XXIII, S. 414. — Oder ein anderes Beispiel: 
In der Göttinger Allgemeinen polit. Staatenzeitung vom 23. Dez. 1789 war 
ein Artikel mit falschen Details aus der Lebensgeschichte des Generals 
Suvorov — sicherlich ohne böswillige Absicht — erschienen. Katharina war 
über diese „Absurditäten“ derart aufgebracht, daß sie es nicht erst mit leb- 
haften Beschwerden bei Joh. Georg Zimmermann bewenden lieg, sondern 
den Herausgeber Friedr. Gotti. Canzler auch zu einem Widerruf zwang 
(Allg. pol. Staatenztg. 20. Febr. 1790). Vgl. F. Frensdorff: Kath. Il. v. Rub- 

ad u. ein Gottingscher Zeitungsschreiber. In: Nachrichten v. d. Kgl. Ges. d. 
Wissenschaften zu Göttingen. Phil.-hist. Klasse Jg. 1905, S. 305 ff. 


ee) Hrsg. v. M. Tourneux, Bd. XV (1881), S. 150 ff. 


Darüber hinaus zeigen sich polemisch-apologetische Tendenzen, 
wenn Ligne z. B. äußert, daß in Frankreich mehr Barbarei herrsche 
als in Rußland, oder wenn er gar nicht unrichtig prophezeit, daß die 
öden Steppengegenden, durch die man reiste, binnen kurzem die 
fruchtbarsten Landstrecken von ganz Rußland sein würden“). Trob- 
dem gelang es de Ligne nicht, die öffentliche Meinung des Aus- 
landes wesentlich zu beeinflussen oder gar umzustimmen. Auch die 
öffentliche Meinung Deutschlands, die bisher ziemlich geschlossen in 
kritikloser Begeisterung die Handlungen der Carin begrüßt und ge- 
feiert hatte, machte in dieser Beziehung keine Ausnahme. Zwar ver- 
hielt sich die deutsche Berichterstattung der Reise gegenüber zunächst 
im wesentlichen referierend und enthielt sich kritischer Kommentare. 
Aber seit 1790 setzt auch in der deutschen Publizistik mit zunehmen- 
der Schärfe eine kritische und im allgemeinen abfällige Beurteilung 
dieser Reise, die man als eine Demonstration empfand, ein. 

Was Katharina zu dieser Reise veranlaßt hatte, dürfte einmal 
der Wunsch gewesen sein, die neuen südrussischen Gebiete, die 
unter die Verwaltung ihres Günstlings und ehemaligen Liebhabers 
Potemkin gestellt waren, zu besichtigen. Es entsprach ja der Praxis 
des aufgeklärten Absolutisten, sich durch Bereisung seiner Länder 
von dem Zustande derselben zu unterrichten, und wenn Katharina zu 
diesem Zwecke auch viel weniger gereist ist als etwa Friedrich der 
Große oder Joseph Il., so hatte sie doch nicht nur in den ersten Jahren 
ihrer Regierung eine ganze Reihe ihrer Provinzen in Augenschein 
genommen, sondern auch von den ihr in der ersten Teilung Polens 
zugefallenen Gebieten sich eine eigene Anschauung zu machen gesucht. 

Aber daneben sollte diese Reise auch ihrer Rußlandreklame 
dienen und die Gerüchte von der Armut und der Unkultur dieses 
Landes, wie sie namentlich in der der französischen Regierung nahe- 
stehenden Publizistik am häufigsten auftauchten, Lügen strafen. Des- 
halb wurden nicht nur die Gesandten Österreichs, Frankreichs und 
Englands eingeladen, die Carin auf dieser Reise zu begleiten, sondern 
auch der in den Kreisen der Höfe wie der Literaten gleich bewunderte 
und gleich wohlgelittene Fürst de Ligne zur Teilnahme bewogen. 
Deshalb wurde aber auch jener ungeheure Pomp und Luxus entfaltet, 
der zu den Einnahmen und Finanzquellen des damaligen Rußlands 
in keinem Verhältnis stand und in erster Linie die Kritik der Zeit- 
genossen hervorrief. 

Endlich und vor allem aber beabsichtigte Katharina, mit dieser 
Reise eine außenpolitische Demonstration durchzuführen. Der deutsche 
Arzt Weikard, von dem noch zu reden sein wird, berichtet in seiner 
1799 zu Koblenz erschienenen Schrift „Taurische Reise der Kaiserin 
Katharina II.“ 1 — soviel wir sehen als einziger Zeitgenosse — 
folgendermaßen: „Die Kaiserin mochte wohl vermutet haben, die 
Türken würden geschwinder zur Kriegserklärung erhitzt werden, und 


se) Correspondance littérairc, Bd. XV, S. 105. 
x = Vgl. Bilbasov: Katharina Il. im Urteile der Weltliteratur, Bd. II (1897) 
r. ; 


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alsdann wäre es eine ihrer größten Begebenheiten gewesen, nach 
Überraschung der Festung Oczakoff oder gar nach Einnahme von 
Constantinopel siegreich nach Moskau zurückzukehren.“ Daß es sich 
in diesem Sage um keine subjektive Mutmaßung Weikards handelt, 
zeigt ein wenigstens auszugsweise bekannigewordener Geheim-Ukez 
der Carin vom 16. Oktober 1786. 

Wie schon oben angedeutet, war die kulturpolitische Demon- 
stration, die mit dieser Reise ins Werk gesetzt werden sollte, ein 
Schlag ins Wasser. und rief auch in der bis dahin so gutwilligen 
öffentlichen Meinung Deutschlands nicht das übliche bewundernde 
Staunen, sondern nur Unlust und Kritik hervor. Die Spekulation der 
Carin war insofern von vornherein falsch angelegt, als sie, die Ver- 
schiedenartigkeit der ost- und westeuropaischen Verhältnisse nicht 
genügend einschäßend, ihre westeuropäischen Zeitgenossen durch die 
Entfaltung eines Luxus zu berücken suchte, der ihnen an sich in seiner 
ganzen mehr asiatisch-orientalischen Natur zu fremdartig war, als 
daß er mindestens den Vertretern des aufgeklärten Bürgertums nicht 
hatte anstößig sein sollen. Dazu stand er in einem schreienden 
Gegensage zu der hausvaterlich-merkantilistischen Sparsamkeits- 
politik, die sich seit den Beispielen Friedrich Wilhelms I. und Friedrichs 
des Großen an den deutschen Fiirstenhofen immer mehr durchgesebt 
hatte’), und um derentwillen die Anhänger des aufgeklärten Ab- 
solutismus ihre Herrscher lobpriesen. 

Unter den deutschen Publizisten ist — soweit uns bekannt — 
Georg Forster der erste gewesen, der in seinen „Erinnerungen aus 


ss) Vgl. Russkij archiv Jg. 1865, S. 740 f.: Streng geheim. Auszug aus dem 
allerhöchsten Befehl an Seine Durchlaucht den Fürsten Grigorij Aleksan- 
drovič Potemkin vom 16. Okt. 1786. Wir sehen uns schon vor der Not- 
wendigkeit, unsere Ehre und die Sicherheit unserer Grenzen zu verteidigen: 
besonders wenn die Pforte nicht beachten sollte, was wir sie. letzllich wissen 
keen, und wenn sie nicht selbst Mittel auffinden sollte, um die Beleidigung 
zurückzunehmen, die uns durch ihr letes Memorial zugefügt worden ist. 

Wir werden dann freilich genötigt sein, wirksame Maßregeln gegen sie 
zu ergreifen, da wir in unserem Gewissen überzeugt sind, daß jeder Un- 
parteusche unser guies Recht anerkennt. Mit besonderem Vergnügen 
empfangen wir den von Ihnen entworfenen Plan, und wir beabsichtigen, ihn 
folgendermaßen auszuführen. 

Weiter. Da wir Ihnen den Oberbefehl über die Armee anvertraut haben, 
geben wir Ihnen hiermit Vollmacht und Erlaubnis, die Nachforschungen, die 
er on der Sache und zum Ruhme unserer Waffen dienen können, aus- 
2 en. 

Weiter. Unser Gesandter Bulgakov hat bereits von uns den Befehl, die 

Duplikate seiner Berichte an Sie zu senden und Ihre Anordnungen, was un- 
seren Dienst anbelangt, auszuführen. Indem wir ihm dieses von neuem be- 
stätigten, ließen wir ihn wissen, daß er von uns sobald wie möglich die Be- 
nachrichtigung über seinen Forigang aus Konstantinopel erhalten werde und 
der Pforte die Gründe dafür aufweisen und eine sichere Abreise fordern 
müsse. 
. 5) Eine Erscheinung wie Karl Eugen von Württemberg bildet doch gegen- 
über Herrschern wid Karl Friedrich von Baden, Karl August von Sachsen- 
Weimar, Leopold Friedrich Franz von Anhalt, Friedrich Christian von Schles- 
wig-Holstein, Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig, Pauline zur Lippe 
u. a. eine Ausnahme. 


87 


dem Jahre 1790“ die kritische Sonde an die große Reise Katharinas 
legte und zu einem Verdammungsurteil gelangte. Mit einem an den 
Humanitätsgefühlen der Zeit genährten Pathos führt er aus, daß 
ganze Distrikte des Reiches entvölkert wurden, um den Gegenden, 
die Katharina durchreiste, „das täuschende Ansehen des geschäf- 
tigen Lebens, der überall hervorkommenden Saaten, des angehenden 
Wohlstandes zu geben“. Zu vielen Tausenden — so bemerkt er 
weiter — wurden Bauern zusammengetrieben, die in dem dünnbevöl- 
kerten Lande oft aus weiter Ferne herangeholt werden mußten, um 
„eine Heersiraße von vielen hundert Meilen theatralisch auszu- 
schmücken“, und „die unglücklichen Opfer . . blieben nach dem 
großen dramatischen Augenblicke ihrem Schicksal überlassen“. Es 
kümmerte Potemkin wenig, daß die aus ihrer Heimat Gerissenen „in 
elenden Hütten zusammengepreßt“ eine Beute des Hungers und der 
davon unzertrennlichen Krankheiten wurden. „Andere Tausende, ihr 
Leben kümmerlich zu fristen, sprengten die Felsen in den Dnepr- 
fallen, um diesen skythischen Strom für künftige Kaiseryachten 
schiffbar zu machen.“ Es war ein Unternehmen, ruft Forster aus, 
wie es nur einem so „finsteren Staate“ wie Rußland, es waren Vor- 
kehrungen, die nur dem Despotismus möglich sind“]. 

Es ist für unser Thema nicht von ausschlaggebender Bedeutung, 
ob Forster mit seinen Anklagen auf authentischen Nachrichten fußt. 
Russische Historiker wie Bilbasov®) haben ja des öfteren, wenn auch 
bisher nicht gerade erfolgreich, die Geschichte von den „Potemkin- 
schen Dörfern“ als Legende hinzustellen versucht. Forster weilte 
zur Zeit der taurischen Reise in Wilna, wo er an der dortigen Hoch- 
schule wirkte; er war also dem Schauplaf dieses Ereignisses näher 
als die meisten deutschen Zeitgenossen. Überdies stimmen seine 
Angaben auch beinahe in allen Einzelheiten überein mit der oben 
erwähnten wenige Jahre später erschienenen Darstellung Weikards. 
Wir glauben indes nicht, daß es sich dabei um eine Abhängigkeit 
Weikards von Forster handelt — denn Weikard zeigt sich auch sonst 
über diese russischen Verhältnisse sehr gut unterrichtet®) — sondern 
daß beide unabhängig voneinander hier Nachrichten wiedergeben, 
die damals im russischen Publikum umliefen. Aber auch von den 
Teilnehmern an der Reise selbst hat sich der gekrönte österreichische 
Bundesgenosse der Carin — obwohl zwischen Über- und Unter- 
schätzung des Geleisteten hin- und herschwankend*?) — damals in 
absprechender Weise über die Potemkinsche Tätigkeit geäußert. 
Josephs Il. Urteile entbehren zwar ganz des menschenfreundlichen 


s4) Samtl. Schr. mit Briefwechsel und Charakteristik von G. Gervinus, 
hrsg. von Forsters Tochter, Bd. VI (1843), S. 213f. Dieser Passus ist auch 
a bei J. R. Forster: Kurze Lebensgeschichte Kath. II. (1797), 


ss) Bilbasov Weltliteratur, Bd. II, S. 66. 
se) Ebd., S. 65f. ` 


) Vgl. K. T. Heigel: Deutsche Geschichte vom Tode Friedr. d. Gr. bis 
zur Auflösung des alten Reiches, Bd. I (1899), S. 165 f. 


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Sentiments, das den Saken Forsters und Weikards das eigentliche 
Gepräge gibt, auch gilt seine Beobachtung in erster Linie der Bünd- 
nisfahigkeit Rußlands und hat daher vornehmlich die militärische 
Seite der Potemkinschen Verwaltung im Auge. Aber Joseph ver- 
schloß seine Eindrücke in den Briefen an seinen intimus Lascy®). 
Die Schilderungen dagegen, die Forster von der taurischen Reise 
gegeben hatte, drangen hinaus in die weiteste deutsche Offenflich- 
keit, gingen über in die politische Publizistik und machten in der 
Gestaltung des Katharinabildes im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrh. 
Epoche). Für das Odium, das seit der taurischen Reise in der Auf- 
fassung der deutschen Zeitgenossen an Katharina haftete, ist es doch 
gewiß charakteristisch, daß die beiden wohlwollendsten Biographen 
der Carin, der bekannte Berliner Aufklärer und Mitherausgeber der 
„Derlinischen Monatsschrift“ Erich Biester und der „kaiserlich rus- 
sische Leutnant“ Johann Gottfried Seume von einer Schilderung der 
Reise Abstand genommen haben. 

Damals kam bereits das Schlagwort „Potemkinsche Dörfer“ auf, 
das für eine raffinierte Vorspiegelung falscher Tatsachen auch heute 
noch im Gebrauch ist. Ladendorfs „Historisches Schlagwörterbuch‘®) 
belegt es erst aus dem Jahre 1822. Aber es erscheint bereits viel 
früher in der Form „Potemkinsches Ferney“ in Daniel Falks „Taschen- 
buch des Scherzes und der Satire“ von 1800*:), und etwas später in 
Georg Reinbecks Reisebeschreibung von 1805. als ,,Potemkins 
Städte“). Im Gegensatz zu den pathetischen Ausfällen Forsters und 
Weikards hat sich Falk des leichteren, aber kaum weniger wirksamen 
Rüstzeuges der Satire bedient, um mit der gleichen Tendenz des 
gegen den „die Menschheit herabwürdigenden“ russischen Despotis- 
mus protestierenden Menschenfreundes die gleichen Anklagen zu 
erheben gegen den Betrug am Auslande und den gewissenlosen 
Leichtsinn der carischen Regierung. Er läßt seinen Skaramuz auf 
seiner Weltreise auch in Rußland Umschau halten und spottend 
resüumieren: „Mit einem Worte, aller dieser Luxus, all diese über- 
tüunchte Kultur gemahnen mich an die Kolonien zu son, wo man 
die Strohhütten auf ein paar Tage versteckt und nachher wieder an 
ihren Plak Stell.“ 

Dieselbe Form der Rundreise hatte einst Voltaire in seiner „Prin- 
cesse de Babylon“ gewählt, um Katharina in graziöser Schmeichelei 


Š aN v. Arneth: Joseph Il. und Katharina II. Ihr Briefwechsel (1869), 

se) Auch in den Darstellungen zur Geschichte Katharinas Il. (1797), S. 196 f. 
finden sich Auszüge aus Georg Forster. In demselben Sinne urteilen die 
Zeichnungen eines Gemähldes von Rußland. (Celle 1798), S. 192. 

es) (1906), S. 247 f. 

eı) Satirische Werke, Bd. IX (1826), S. 366. 


62) Flüchtige Bemerkungen auf einer Reise von St. Pbg. über Moskau, 
Grodno, Warschau, Breslau nach Deutschland im Jahre 1805. In Briefen von 
G. Reinbeck (1806), S. 37. 


ee) Fak Werke, a. a. O., Bd. IV (1826), S. 305. 
59 


die größten Huldigungen darzubringen. Dort macht der Zaubervogel 
Phönix, der die schöne Formosante in die Hauptstadt der im Augen- 
blick auf einer Inspektionsreise im Innern des Reiches abwesenden 
Kaiserin der Kimmerier begleitet, die Bemerkung: „Il n'y a pas trois 
cent ans que je vis ici la nature sauvage dans toute son horreur; 
j'y trouve aujourd’hui les arts, la splendeur, la gloire et la politesse.“ 
Worauf ihn ein Hofherr der Kaiserin belehrt: „Un seul homme a 
commencé le grand ouvrage, une femme l’a perfectionné,“ und dieser 
monumentalen Erklärung eine ins einzelne gehende Aufzählung alles 
Lob- und Glorwürdigen der Regierung Katharinas folgen läßi*). Man 
sieht, der Gedanke liegt mindestens nahe, daß Falk hier Voltaire 
bewußt nachgeahmt hat. Ja, es mag diesen grimmigen Widersacher 
der Carin gereizt haben, für seine Invektiven sich derselben 
literarischen Form zu bedienen, die einst der höchsten Verherrlichung 
Katharinas gedient hatte. 

Natürlich mußte sich für die Zeitgenossen, wenn sie die taurische 
Reise Katharinas besprachen, auch die Frage stellen, ob denn die 
kluge Carin tatsächlich durch Potemkin hinters Licht geführt worden 
war. Wenigstens denjenigen unter ihnen, die sich nicht wie die 
aristokratischen Teilnehmer an dieser Luxusfahrt rein ästhetisch mit 
den Reiseeindriicken abfanden, sondern die in diesem Ereignisse 
einen Gegenstand ihrer kritisch moralisierenden Betrachtungen sahen. 
Denn je nachdem man diese Frage beantwortete, erschien Katharina 
als Opfer oder aber als Mitwisserin des Betruges. Im letzten Falle 
war sie denn auch mitverantwortlich für das namenlose Leid, das 
infolge der Reise über unzählige ihrer Untertanen hereingebrochen 
war, und mitschuldig an dem frevelhaften Leichtsinn, mit dem Potem- 
kins Willkür so viele russische Menschenleben und Existenzen eines 
Theatercoups halber aufs Spiel gesetzt hatte. Wie man aber auch 
die Frage beantwortete, absolut gunstig konnte die Antwort für die 
Carin eigentlich in keinem Falle sich gestalten, sie konnte nur mehr 
oder weniger schuldig oder mehr oder weniger entschuldbar er- 
scheinen. 

Es hat sich nun allerdings doch ein deutscher Zeitgenosse ge- 
funden, welcher mit einer kühnen dialektischen Wendung, der man 
Originalität gewiß nicht absprechen wird, es fertig bringt, Katharina 
auch aus dieser heiklen Angelegenheit ohne Makel hervorgehen zu 
lassen. Für den damals anonymen Verfasser der Biographie der 
Carin, im „Historisch-genealogischen Kalender von 1798“) hat die 


«) Romans de Voltaire (1844), S. 341 f. 


es) Verfasser dieser Biographie ist der Theaterschriftsteller H. A. O. 


Reichard (1751—1828), einer der führenden deutschen Antirevolutionäre zu 
Ende des achizehnten Jahrhunderts. Für seine Beziehungen zum General 
Suvorov vgl. „Revolutionsalmanach“ Jg. 1795, S. 333: Die Polen und Russen 
in Warschau. — Revolutionsalmanach jg. 1796: Titelbild Suvorovs. — Reichards 
Selbstbiographie überarbeitet u. hrsg. v. Hermann Uhde (1877), S. 298 ff. — 
Für die Verfasserschaft der Katharinabiographie vgl. Meusel: Das gelehrte 
Teutschland, Bd. XIV (1810), S. 168, Bd. XV (1811), S. 115 u. Chr. Gottl. Kayser: 
Vollständiges Bücherlexikon (1750—1832), Bd. Ill (1835), S. 297. 


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ganze Sache überhaupt nichts Problematisches. Er faßt Potemkins 
Handeln symbolisch und ruft, den Knoten keck zerhauend, aus: 
„Wenn Potemkins schöpferisches Genie seine Souverainin auf diese 
angenehme Art zu täuschen wagte, so erblickt doch der Statistiker 
hierin Wahrheit, sobald er den großen Gewinn im ganzen berechnet, 
der Rußland unter ihrer Regierung an Volksmenge, an Wachsthum 
von Handel, Gewerbe und Industrie zu Theil geworden isi*).“ Wie 
wenig diese Zeitstimme aber Zeitstimmung war, geht schon aus der 
Mühe hervor, die sich die anderen Apologeten der Carin gaben, um 
Katharina vor dem Vorwurf der Sorglosigkeit und Leichifertigkeit 
im Regieren in Schuß zu nehmen. 

Sein tieferer Einblick in die russischen Zustände, aber auch sein 
persönliches Ressentiment bestimmten wie stets so auch hier das 
Urteil Weikards, das als artvertretend für die gegnerischen Stimmen 
angeführt sei. Es ist an sich kaum unrichtig, wird aber Katharina 
insofern doch nicht völlig gerecht, als es die Schwierigkeiten nicht 
genügend berücksichtigt, die sich den kulturfordernden, europäisie- 
renden Bestrebungen der Carin überall enigegenstemmien: „Man 
wußte wohl, daß ihr Ohr nie geneigt war, Klagen zu hören. Wenn, 
wie vielmal geschah, ein Senateur oder anderer vornehmer Beamter 
irgendwo in eine Provinz geschickt ward, um die Verwaltung und 
den Zustand des Volkes zu untersuchen: So weiß man schon, wie 
man sich zu benehmen hat. Man stelit Bälle und Feste an, bringt 
Geschenke; und der hohe Commissär reiset nach Hause, hinterbringt 
der Kaiserin, daß alles im besten Zustande wäre: Hiermit war sie 
zufrieden und verabscheuete jede andere Relation®’).“ Demgegen- 
über hoben die Verteidiger Katharinas hervor, daß bei der raf- 
finierten Art, mit der man ihren Blick zu „beschränken“ wußte, sie 
schließlich nur das hätte sehen können, was man sie sehen lassen 
wollte. Solche Argumente finden sich z. B. bei Seume und dem ehe- 
maligen Lehrer am Petersburger Pageninstitute Georg Reinbeck®®), 
zwei Männern, die wie Weikard Rußland aus eigener Anschauung 
kannten, denen sich aber bei ihrem Wohlwollen für Katharina die 
schwierige Lage der Carin viel stärker aufdrängte als dem ob seines 
Mißerfolges am Carenhofe verbitterten und daher um jeden Preis 
krittelnden Arzte. Das stärkste Argument aber, mit dem diese 
Apologeten operierten, war der Hinweis auf das Geschlecht Katha- 


ee) Hist. geneal. Kal, a. a. O. S. 106 f. 

7) Taurische Reise, a. a. O. S. 174. 

J Reinbeck, a. a. O. S. 37 und Seume: Zwei Briefe über die neuesten 
Veränderungen in Rußland seit der Thronbesteigung Pauls I. (1799) in Werke, 
a. a. O. S. 412: „Katharina war nur ein Weib, die bei allen großen Eigen- 
schaften ihres Charakters doch in vielen Fällen immer nur sehen konnte, wie 
man sie sehen lassen wollte. Auf ihrer Reise nach Cherson hatte man plob- 
lich am Wege ungewöhnliche Wohlhabenheit geschaffen; es war auf Potem- 
kins Wort eine neue Schöpfung entstanden, und selbst sonst öde Gegenden 
wimmelten von glücklich scheinenden Menschen. Hätte sie nur fünfzig 
Werste links oder rechts abwärts von der Heerstraße gemacht, mit welcher 
Empfindung würde sie die wahre Gestalt des Landes gesehen haben, die 
man ihr verbergen wollte.” 


41 


rinas: „Ist es denn aber auch dem großen Weibe zuzumuten, daß es 
durchaus den Charakter ihres Geschlechfes verleugnen soll?... Die 
Tiefe zu erforschen ist nicht des Weibes Talent. Was die Oberfläche 
ihm darbietet aufzufassen, zu benugen, zu verschönen, das ver- 
mag ese.“ 

Aber Reinbeck begniigte sich nicht wie sein Gesinnungsgenosse 
Seume mit diesem pathetischen Appell an seine frauenfreundliche 
Zeit, sondern bekundete auch schon eine gewisse Einsicht in die 
Tragik, welche seit der Europäisierung durch Peter den Großen sich 
noch an jeden Kulturbringer in Rußland geheftet hat. Es ist die 
Tragik jener abgeleiteten Kulturen überhaupt, die einer fremden 
forigeschrittenen und für sie vorbildlichen Kultur gegenüber wähnen, 
daß durch Herübernahme einzelner der modernsten und am meisten 
in die Augen springenden Errungenschaften derselben ein lang- 
wieriger kultureller Entwicklungsprozeß übersprungen und so die 
Differenz zwischen ihrer eigenen noch unentwickelten und der ent- 
wickelteren vorbildlichen Kultur in Kürze ausgeglichen werden könne. 
Tatsächlich aber wird durch die übereilte Herübernahme dieser 
fremden Kulturelemente ein durchgängig höheres Kulturniveau nicht 
erzielt, sondern diese bleiben innerhalb der noch unentwickelten kul- 
turellen Verhältnisse fremdkörperhaft stationär und treten zu ihnen 
in einen lebhaften Gegensatz, der auf die Dauer Unlustgefühle er- 
weckt. Dazu kommen für Rußland als erschwerende Momente die 
Energie- und Willensschwäche des Volkscharakters. 

Diese Kontraste wurden von den damaligen Rußlandreisenden 
bemerkt, und es ist viel von ihnen in ihren Reisebeschreibungen die 
Rede’). Aber doch nur wenige haben sie zu begründen gesucht wie 
Bellermann, der an seine Beobachtungen folgende psychologische 
Bemerkung knüpft: „Dieses macht einen eigentümlichen Zug im 
Charakter des vornehmen Russen aus. Er sirebt nach großen 
Dingen. Hort er von etwas Vorzüglichem, so muß er es haben. Hat 
er es, so bekommt er es leicht überdrüssig. Macht ihm jemand einen 
Plan, sogleich ergreift er ihn mit beiden Händen. Früh geht er mit 
Aufbietung aller Kräfte an die Ausführung des neuen Projektes, und 
denselben Abend muß es fertig sein. Da das die langsam, aber mit 
gleicher Kraft wirkende Natur nicht zuläßt, so werden für alle Sachen 
Treibhäuser und Mistbeete angelegt. — Was ist der Erfolg? Eine 
schnell hinwelkende Blume oder geschmacklose Südfrucht, die im 
Norden durch künstliche Hitze erzeugt ist. So wollen veränderliche 
Kinder alles, was sie sehen, um es den Augenblick nachher mit 
Füßen treten zu können. Der Grund dieses ganz eigenen Charakter- 
zuges scheint mir in der Geschichte der Bildung dieser Leute zu 
liegen; wird diese übereilt, so bleiben es auch deren Neigungen und 
Wüunsche?!).“ 


69) Reinbeck, a. a. O. S. 38. 
70) F. Andreae: Beiträge zur Geschichte Katharinas Il. (1912), S. 1 f. 
71) Bellermann, a. a. O. S. 239 f. 


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Diese Bemerkungen hatte ganz offensichtlich Reinbeck vor 
Augen, als er seine Apologie der Carin durch Zusammenfassung 
aller mildernden Umstände zu der Würdigung Katharinas ausgestal- 
tete, die, was die psychologische Begründung des Urteils anlangt, 
innerhalb der übrigen deutschen Mitweit ihresgleichen sucht: „Katha- 
rına verleugnete den Geist der Weisheit, der den Samen tief legt, 
welcher einst zu einem schattigen fruchtreichen Baume emporsprießen 
soll, der den Urenkel erquicken wird. Sie warf ihn hin, kaum mit 
Erde bedeckt, und freute sich nun des fremden Aufsproßens; denn 
sie selbst wollte Schatten und Frucht genießen; sie setzte den Geist 
der Nation ins Treibhaus: Uppig schoß er in die Blätter und Blüthen 
und manche der Blüthen wurde zur Frucht; aber die Frucht war saftlos 
und wässerig und an die Hilfe des Treibhauses gewöhnt, möchte das 
Verpflanzen nun schwerlich gelingen Und kann Katharina dafür, 
da sie eine scheinbar so schnelle Entwicklung bemerkte und um sie 
her gerade die Blüthen dufteten, daß sie sich vom Scheine blenden 
ließ und dem Geiste der Nation, welche sie beherrschte, mehr innere 
Kraft und innere Reife zutraute, als die Folge vielleicht aufwies?... 
Und bei der Geschmeidigkeit des russischen Geistes, bei dem un- 
vergleichlichen Talente, sich jede Form anzueignen, bei der Empfäng- 
lichkeit für jede äußere Politur; war es einer jungen edlen weiblichen 
Seele zu verargen, wenn sie von dem großen Gedanken, Bildnerin 
einer Nation zu sein, und ihr einen ehrenvollen Plak in der Reihe 
der gebildeten Nationen zu verschaffen, entflammt, den Schein des 
Erfolges für Wirklichkeit nahm und sich der schon röthenden Frucht 
freute ?72).“ 

Wie sich anläßlich der taurischen Reise der Carin die bis dahin 
einheitlich zugunsten Katharinas auftretende Meinung ihrer deutschen 
Zeitgenossen spalteie und von nun an Widersacher und Verteidiger 
um den Einfluß auf die öffentliche Meinung ringen, so fand auch die 
Einzelfrage nach ihrer Mitwisserschaft und Mitschuld an Potemkins 
Betrug keine einmütige Antwort. Sie ist auch bis auf den heutigen 
Tag noch nicht gegeben worden. Denn auch ein so guter Kenner der 
russischen Geschichte wie Theodor Schiemann laßt in seiner Charak- 
teristik der Carin die Frage offen. Da es aber interessant ist, an 
seinen Ausführungen den Grad zu bestimmen, in dem die Auf- 
fassungen ihrer Zeit unserer Auffassung von Katharina nahe kommen, 
seien zum Schlusse dieses Abschnittes Schiemanns diesbezügliche 
Sake im Wortlaute wiedergegeben: „Fast könnte man glauben, daß 
auch Katharina selbst nur die glänzende Außenseite Rußlands sah, 
denn unvergleichlich war die Kunst, mit der sie das Unangenehme 
von sich fernzuhalten verstand, und alles in ihrer Umgebung war 
bemüht, ihr dabei behilflich zu sein. Die Potemkinschen Kulissen, 
die der Kaiserin auf ihrer Reise in die Krim ein Bild der Glückselig- 
keit mitten in einem verwusteten und darbenden Lande vorspiegelten, 
waren nicht Ausnahme, sondern Regel und zeigten nur an einem be- 
sonders drastischen anekdotischen Beispiel das Verhältnis von 


7) Reinbeck, a. a. O. S. 38 f. 
43 


Schein und Wirklichkeit an diesem halb orientalischen, halb euro- 
paischen Hofe’:).“ 


X 


Der Umschwung, der sich seit dem jahre 1787 in weiten Kreisen 
ihrer deutschen Zeitgenossen zaungunsten der bis dahin so ver- 
götterten Carin vollzog, ware nicht zu verstehen, wenn man sich 
nicht vergegenwärtigen würde, daß die politische Konstellation 
Europas beim Ausbruche des ersten russischen Turkenkrieges eine 
völlig andere war als wie zur Zeit, da Katharina ihren zweiten Tür- 
kenkrieg mit der pomphaften Ouvertüre der taurischen Reise begann. 
Der Bedeutung des Jahres 1787 als eines besonderen Schicksals- 
jahres in der politischen Geschichte des ausgehenden 18. Jahrh. ist 
bereits mit den Worten Ernst Herrmanns gedacht worden. Es führte 
im Verlaufe der Ereignisse dazu, daß die beiden größten Machte 
Norddeutschlands, Preußen und das mit England durch Personal- 
union verbundene Hannover, hart an die Schwelle eines Krieges 
gegen das mit Österreich verbundete Rußland gebracht wurden, und 
daß Preußen durch den Abschluß von Bündnissen (Januar und März 
1790) mit den bisher von der deutschen öffentlichen Meinung so ver- 
unglimpften Gegnern der Carin, mit den Türken und Polen in enge 
Beziehung trat. Preußen hatte mit diesen Schritten einen Front- 
wechsel vollzogen. Denn noch 1777 war das preußisch-russische 
Bündnis, unter dessen Agide sich die preußische Politik bis in die acht- 
ziger Jahre vorzugsweise abgespielt hatte, auf sieben Jahre verlängert 
worden”). Dies alles aber mußte natürlich auf die öffentliche Mei- 
nung zunächst in Norddeutschland einen Rückschlag ausüben. Aber 
auch im übrigen Deutschland konnten die veränderten politischen 
Verhältnisse naturgemäß nicht ohne Einwirkung auf die Beurteilung 
der Carin durch ihre Zeitgenossen bleiben. Man darf hier wohl 
nicht mit Unrecht — wenn sich die Zeitgenossen auch darüber eigent- 
lich nicht geäußert haben — vor allem des Umstandes gedenken, wie 
sehr Joseph Il. schon seit seiner Mitregentschaft, dann aber vor allem 
seit seiner Alleinherrschaft in Österreich (1780) die öffentliche Mei- 
nung durch seine „imperialistischen Tendenzen“ (Heigel) in bestän- 
diger Aufregung erhalten hatte und wie wenig er deswegen trob 
seiner volksbeglückenden Gesinnung und Haltung gerade in der 
öffentlichen Meinung der schwächeren süd- und mitteldeutschen 
Staaten beliebt war. Die Schadenfreude, mit der hier das Scheitern 
seiner auf die Erwerbung Bayerns abzielenden Tauschpolitik begrußt 
wurde, als Friedrich der Große den Josephinischen Annexionsgeliisten 
durch die Begründung des Fürstenbundes (1785) Einhalt gebot, oder 
die kühle Stimmung, die die Wurdigungen des Kaisers bei seinem 
Tode (1790) gerade in diesen Kreisen beherrschte, zeigen das aufs 


73) Gesch. Rußlands unter Kaiser Nikolaus J., Bd. I. (1904), S. 6. 


74) F. Martens: Recueil des traités ef conventions conclus par Ja Russie 
avec les pays étrangéres, Bd. VI Nr. 227. 


44 


“Ey, — 


— 


deutlichste™). Es war aber gerade die österreichisch-russische 
Entente, aus der Josephs Hoffnung auf die Verwirklichung seiner 
Projekte immer wieder neue Anregung und Nahrung zog, und es 
war Katharinas Gesandter Rumjancev, der am Zweibrückener Hofe 
im Interesse des Kaisers gewirkt hatte. Wenn auch diese Unter- 
stützung eine mehr moralische als eigentlich tatkraftige war, so mußte 
doch das russische Eintreten für den ewig ruhelosen Störenfried die 
öffentliche Meinung gegen die Carin einnehmen, um so mehr als die 
Garantie der deutschen Reichsverfassung, die der Teschener Friede 
(1779) dem Carenreiche eingeräumt hatte — wie wir noch sehen 
werden — je länger je mehr von den Deutschen als „ein Einbruch 
Rußlands in die Gehege des deutschen öffentlichen Rechtes“ (Koser) 
bedrückend empfunden wurde. 

Indessen durch den Umschwung der politischen Konstellation 
allein wird dieser Wandel in der deutschen öffentlichen Meinung zu 
ungunsten Katharinas noch nicht völlig erklärt. Erst dadurch, daß 
diesem politischen Umschwunge gewissermaßen ein Konstellations- 
umschwung in den Ideen parallel ging und infolgedessen die Wirkung 
der einen die der anderen verstärkte, wird es voll verständlich, daß 
fortan das Bild Katharinas für einen bedeutenden Teil ihrer Zeit- 
genossen ein in vieler Beziehung neues und nicht weniger als 
schmeichelhaftes Gesicht erhält. Auf das Emporkommen einer neuen 
Generation, die mit ihren Anschauungen und Ideen das geistige 
Leben der letzten Jahrzehnte des Jahrhunderts immer stärker durch- 
dringt, ist bereits ebenfalls hingewiesen worden. War die ältere 
Generation des Aufklarungszeitalters groß geworden unter dem alles 
beherrschenden Einflusse Voltaires, so wuchs die jüngere im Schatten 
der Ideenwelt Rousseaus auf, der als geistiger Führer Voltaire ab- 
löste, aber die eigentliche Weite des Umfanges seiner Wirkung nicht 
wie Voltaire noch bei Lebzeiten erlebte. Denn beide sind 1778 ge- 
storben, und erst nach Voltaires Tode ward die Bahn für den 
Rousseaueinfluß völlig frei. Der Einfluß Rousseaus wird — um nur 
die Eigenschaften zu nennen, die uns im Zusammenhange dieser Be- 
trachtung besonders angehen — gekennzeichnet durch ein stärkeres 
Hervortreten demokratischer, philanthropischer, pazifistischer Stro- 
mungen. Nicht als ob die ältere Generation der Aufklärung aus- 
gesprochen militaristisch gewesen wäre. Aber sie war in dieser 
Beziehung den von ihr bewunderten Vertretern des aufgeklärten 
Absolutismus gegenüber eher zu Zugeständnissen bereit als die 
radikal-demokratische Gefolgschaft Rousseaus, die sich auch von 
keinem aufgeklärten Herrscher mehr Achtung gebieten ließ. Die 
Konflikte, in welche der Pazifismus der älteren Generation der Auf- 
klarung dabei bisweilen geriet, hat Friedrich der Große, zwar die 
Motive zu Unrecht verrufend, aber die Sache selbst treffend, drastisch 
gekennzeichnet, wenn er scherzte, die Carin habe von Diderot nur 
für schweres Geld einen Dispens zur Führung ihres ersten Türken- 


78) Vgl. K. T. Heigel: Deutsche Geschichte vom ne Friedr. d. Gr. bis 
zur Auflösung des alien Reiches, Bd. I (18%), S.55 u. 


45 


krieges erhalten”). Vor allem ist die menschenfreundliche Gesinnung 
und Haltung der älteren Generation im allgemeinen noch frei von 
dem Überschwang der Gefühle, die sich als eine der stärksten Aus- 
wirkungen von Rousseaus Erscheinung und Schriften in der großen 
Empfindsamkeitswelle über Europa ausgoß. Rousseaus Romane 
haben auf das damalige Deutschland wohl doch noch größeren Einfluß 
gehabt als seine rein politischen Traktate, die sicher langsamer, zum 
Teil erst mit und infolge der französischen Revolution, die deutsche 
öffentliche Meinung radikalisierten. 

Es ist bekannt, wie sehr sich die aufgeklärten Herrscher durch 
das Auftreten Rousseaus beunruhigt fühlten. Der älteste von ihnen, 
Friedrich der Große, ermaß zwar noch nicht die Weite und Stärke der 
Rousseauschen Wirkung. Er behandelte ihn daher mit gutmiitigem 
Spott als eine Art von verrückten Sonderling und gewährte sogar 
dem aus der Schweiz Vertriebenen in dem damals preußischen Neuf- 
chatel ein Asyl. Aber er war doch der Meinung, daß man ihn am 
Schreiben verhindern müsse, weil er „heikle Gegenstände“ behandle 
und andere zur Torheit und Tollheit anstecke’”). Bei Katharina, die 
die „Fleischwerdung seiner politischen Theorie‘ in der französischen 
Revolution noch miterlebte, nimmt die Abwehr bereits viel schärfere 
Formen an. „Diese Fürstin“ — so sagt ihr französischer Biograph 
Castéra — „hatte ebenso viel Hochachtung für Montesquieu als Haß 
gegen Rousseau, dessen politische Grundsake sie fiirchiete. Daher 
ließ sie niemals eine Gelegenheit vorübergehen, um Rousseaus 
Schriften an ihren schwachen Seiten anzugreifen. Sie schien die 
Revolution zu ahnen, zu der diese Schriften so sehr beigetragen 
haben“ e). 

Nun darf man sich die Wirkungen des Rousseaueinflusses aller- 
dings nicht so weitgehend denken, daß jetzt mit einem Male die ge- 
samte öffentliche Meinung des damaligen Deutschlands von den 
radikalen Theorien des „citoyen de Genêve“ ergriffen worden wäre. 
Diese setzten sich vielmehr erst nach und nach und im wesentlichen 
nur bei der jüngeren Generation durch, während die ältere sich ihrer 
Einwirkungen hartnackig verschloß. Infolgedessen kommi es nicht 
etwa zu einer einmütigen Kritik oder Verurteilung Katharinas und 
ihrer Taten. Aber die Einheitsfront der Bewunderer, die bisher 
mit aufklärerischem Optimismus alle Schritte der Carin nicht nur 
wohlwollend, sondern mit mehr oder weniger einmütigem Jubel auf- 
genommen hatten, ist zerstört, und die Lobredner der Carin sind in 
die Defensive gedrängt. Die Panegyriker werden zu Apologeten. 
Dementsprechend verliert das Katharinabild der deutschen Zeit- 
genossen die Geschlossenheit eines mehr oder weniger schema- 
tischen Idealtypes, als welches es bis dahin erschienen war. Nicht 
eigentlich zu seinem Schaden, denn es kommen dadurch manche neue 
Züge hinein, die allerdings teilweise karikaturenhaft verzerrt sind. 


78) Koser, a. a. O. Bd. Ill, S. 450. 
77) Ebd., S. 449. 
78) Historie de Cathérine Il., Paris en VIII, S. 140. 


46 


ja, fast könnte man meinen — gegenüber der bisherigen Verhim- 
melung der Carin —, daß man erst von nun an, wo die Meinungen 
der Widersacher und Gegner Katharinas hart aufeinandersioßen, wo 
erst alle Momente des Für und Wider hervorgesucht und voll aus- 
genutzt werden, überhaupt von einer Beurteilung der Kaiserin durch 
ihre deutschen Zeitgenossen reden dürfte. Der zeitliche Ausgangs- 
punkt für den entbrennenden Streit über Katharina in der deutschen 
öffentlichen Meinung war die taurische Reise, die uns darum auch 
zunächst dazu gedient hat, den Stimmungsumschlag der deutschen 
Zeitgenossen darzulegen. Es ist allerdings nicht ganz sicher, ob 
dieses Ereignis schon von Anfang an auch in Deutschland wie z. B. 
in Frankreich sofort eine abfällige Kritik ausloste, oder ob erst die 
abgünstige Beurteilung des zweiten Türkenkrieges auch auf die Be- 
urteilung dieser demonstrativen Reise in ungünstigem Sinne zurück- 
wirkte. Denn die von uns angeführten Zitate stammen alle erst aus 
den neunziger Jahren, während die gleichzeitigen deutschen Zeit- 
stimmen sich der Reise gegenüber — wie gesagt — im wesentlichen 
referierend verhielten. 

Mit voller Deutlichkeit meldete sich aber die zeitgenössische 
Kritik sofort beim Ausbruche des zweiten Turkenkrieges zum Wort. 
Allerdings ist es bemerkenswert, daß das Interesse nicht mehr das 
gleiche ist wie für den ersten Türkenkrieg. Nicht nur in Nord- 
deutschland, wo die gegen die beiden Kaiserhöfe gerichtete preu- 
ische Politik Friedrich Wilhelms Il. dämpfend wirkte”), sondern auch 
ganz allgemein in Deutschland wurde die neue orientalische Krisis 
mit Kühle beurteilt. Mehrere der diesmal wieder zahlreich aus dem 
Boden schießenden Türkenkriegsgeschichten®) mußten schon 1788 
ihr Erscheinen einstellen. Die französische Revolution warf ihre 
Schatten voraus und lenkte mit ihren Vorläufern, der Zuspitzung der 
Verhältnisse in Frankreich oder mit dem belgischen Aufruhr, das 
Interesse zu einem sehr erheblichen Teile nach Westen ab. In der 
der Carin freundlichen Literatur vernehmen wir bei Ausbruch des 
zweiten Türkenkrieges zunächst wieder ganz dieselben Töne, die der 
erste der deutschen öffentlichen Meinung entlockt hatte: „Eine bar- 
barische Regierung, welche durch Jahrhunderte die Geißel Europas 
war, unterdrücken“, — so schrieb man — „heißt die Rechte der 
Menschheit rächen“. Die Türken blieben nach wie vor der „Erb- 
feind“. Daher lobte man den Eifer der großen Carin. Ihre Sache 
hatte „ein so ehrwürdiges Geprage, daß jeder Unbefangene ihre 
Partei nehmen muß“). Katharina wurde erneut aufgerufen, Kon- 
siantinopel zu nehmen, und im Geiste sah man bereits Konstantin 
Pavlovič, den Enkel der Carin, als „Asiens Kaiser“ in Byzanz 
ihronen®). Gleim riet dem Sultan, der Carin lieber freiwillig die 


re) Heigel, a. a. O. Bd. IJ, S. 175. 

s) Bilbasov, Weltliteratur, a. a. O. Bd. Il, Nr. 508, 509, 510, 512, 513. 
sı) (Johann Rautenstrauch) Ausf. Tagebuch, a. a. O. Bd. I, S. 17 u. 46. 
e2) J. M. Hofmann, a. a. O. S.36f. 


47 


Dardanellen auszuliefern, als halsstarrig unnötiges Blutvergießen zu 
veranlassen. Abdul Hamid erschien gleich seinen Vorgängern als 
blutrünstiger Tiger, als ein Mensch, dessen Auge nur an Mordtaten 
Wohlgefallen findet“. 

Auch Wekhrlin kannte kein Erbarmen mit den Feinden der 
Zivilisation und trat daher energisch für die Sache der beiden Ver- 
bündeten ein. Er läßt in den „Hyperboräischen Briefen“ zwei Ra- 
gusaner (Preußen) für die Türken beten: „Mag man immer“, sagt der 
eine, „in der Hofkapelle zu Warschau für die Russen, in Regensburg 
für die Österreicher beten, dem ragusanischen Interesse entspricht 
nur die Niederlage Josephs und der Sieg des Türken“. Doch der 
zweite ist anderer Meinung: „So, Freund, müssen wir als Ragusaner 
denken, als Weltbürger aber und als Menschen sind wir verpflichtet, 
den deutschen Waffen Glück zu wünschen. Es ist Zeit, daß der 
Barbarisme ein Ende nimmt. Der Menschlichkeit, der Kultur, den 
Sitten, die in so schöner Blüte stehen, ist daran gelegen, die Turkei 
in die Hände gesitteter Volker zu bringen, ein Interesse, das größer 
ist als Gleichgewicht und Verträge!“ 

Als neues Motiv der Zeitstimmung gesellt sich zu den Außerun- 
gen dieser Art noch ein sozusagen philhellenistisches, das in den 
deutschen Zeitdokumenten während des ersten Türkenkrieges fehlte, 
dem aber nun ebenso die Erinnerung an Orlovs Archipel-Expedition 
wie Katharinas griechisches Projekt stärker zum Worte verhalfen. Es 
ist kein Zufall, daß sich auch hier wieder Gleim zum Sprachrohr 
solcher Gefühle machte, kommt doch seinem Halberstadier Kreise in 
der Geschichte der frühphilhellenistischen Bewegung in Deutschland 
eine besondere Bedeutung zu®). Freilich erweist sich der gute Vater 
Gleim in seinem affektierten „Hellenismus“ wie in so vielen Geistes- 
produkten seiner späteren Zeit bereits als reichlich senil: 


„Die große Kaiserinn will das Zerstörte bau’n: 
Ein neuer Phidias, ein neuer Glykon soll — 

Die Pallas, den Saturn, die Venus, den Apoll 
Und den, der mit den Augenbraun 

Erschüttert den Olymp, aus Marmor wieder hau’n! 
Die große Kaiserinn will Sparta, will Athen 
Gebaut im dritten Jahr nach ihren Siegen sehn!“ 


Während die ältere Aufklärung aus traditioneller Verehrung für 
den aufgeklärten Absolutismus auch jest noch treu zur Carin halt, 
treten die demokratisch-philanthropischen Junger Rousseaus als An- 
klager in die Schranken. Wie ihr Meister selber feindeten auch sie 


ss) Gleim in dem Gedicht „An 18 Abdul Hamid“ (1787) in sämtl. 
Werke, hrsg. v. V. Körte, Bd. VI (1811), S. 260. 


ss) Hyperboräische Briefe Jg. 1788, Bd. IV, S. 138. Vgl. dazu Heigel, 
a. a. O. Bd. I, S. 17 


ss) Vgl. R. F. Arnold: Der deutsche Philhellenismus. In Euphorion Erg. 
Heft II (1896), S. 90. 


88) Werke, a. a. O. Bd. VI, S. 260. 


48 


die Carin an und begannen sie ihres Willkürregimentes wegen zu 
hassen. Aber auch die Stimmung dieser jüngeren Richtung ist nicht 
einheitlich. Je nachdem sie mehr die Staatsraison im Auge hat und 
über das Wohl des Individuums stellt, ist ihre Kritik der Carin 
milder, Neben diese gemäßigt Urteilenden aber treten schon wesent- 
lich radikalere hervor und zeigen sich dem Verlauf der Revolution 
in Frankreich entsprechend in zunehmender Radikalisierung be- 
griffen. Als reine Ideologen des Philanthropismus verkennen sie das 
geschichtlich Gewordene und Bedingte. Sie betrachten nur das 
menschliche Elend, ohne sich auf Erörterungen über den Vorteil und 
Nachteil des Staatsganzen einzulassen, und deshalb wird von ihnen 
der zweite Türkenkrieg verurteilt als eine mutwillige Aufopferung 
und Belastung der Untertanen. Katharina sinkt von dem Piedestal 
der Kreuzzugsheroine herab; sie wird zur riicksichtslosen, menschen- 
feindlichen Eroberin. Damit ergab sich von selbst, daß man nicht 
nur mit dem russischen Volke, sondern auch mit den Türken, obwohl 
diese den Krieg erklärt hatten, mitfiihlte. Die Parteinahme für die 
Türken, die in Frankreich in der Regel nur Sache der Politik gewesen 
war, wird in Deutschland nun eine Herzensangelegenheit der bürger- 
lichen, oft philiströs-bürgerlichen Moral. Das deutsche Publikum 
nimmt für die Türken, dann auch für die Polen Partei — wie Seume 
es ausdrückt — „aus einer allgemeinen sehr edien Sympathie mit 
den Schwachen und Unglücklichen“ r). 


Zu dieser Partei zählt die kleine, 1788 zu Wien erschienene 
Schrift „Ein Wort im Vertrauen über den Türkenkrieg“, eine der 
frühesten Anklagen gegen die Carin. „Katharina und Josef, die man 
beide unter die Zahl der guten Regenten zählt" — so setzt der un- 
bekannte Verfasser gleich auf den ersten Seiten heftig polemisierend 
ein —, „können und werden in einer kurzen Zeit das Gute, was sie 
ihren Ländern getan, aus Leidenschaft mit zehnfachem Bösen ver- 
gällen! Eine traurige Weissagung, die dem vielleicht nicht so ein- 
leuchtend sein mag, der nicht selbst die Lanze gegen die Barbaren 
führen, nicht selbst die drückenden Abgaben entrichten muß.“ Auf 
die Frage, warum eigentlich dieser Türkenkrieg geführt wird, wird 
geantwortet: „Damit jene unbeschränkte Monarchen ihre Phantasie 
ausführen.“ Der Vorteil, den der Feldzug möglicherweise einbringt, ist 
der, „daß wir um eine Strecke Landes mehr an unser Haus bringen“. 
Der Nachteil aber ist ein entsetzlicher: „Vielleicht eine Million Men- 
schen, hundert Millionen Geldes, die Länder werden ausgesogen, die 
besten Männer . . müssen in der Bluthe ihrer Jahre verbleichen.“ 
Mit den Türken sympathisierend, von denen er findet, daß sie doch 
eigentlich „friedliche Nachbarn“ sind, sieht der Verfasser in Rußland 
und seiner Carin die Anstifterin des Krieges: „Man sage mir nicht, 
daß Rußland von den Muselmännern zuerst beleidigt ward, der ganze 
Krieg bloß Verteidigung wäre: Seht nur ein bißchen weiter zurück, 
das Gewebe ist fein gesponnen; aber Ihr seht es endlich doch.“ 


en Seume Werke, a. a. O. S.453. 


aur 5 49 


Katharina, von „eifler Ruhmsucht“ getrieben, skrupellos in der Wahl 
ihrer Mittel, läßt in schrankenloser Willkür Menschen „wie guimütige 
Lämmer“ schlachten. Der Verfasser meint, daß die Carin nur aus 
der Ferne gewinne, in der Nähe aber verliere, und in Anspielung 
auf das Katharinabild der älteren Aufklärer sagt er: „So ein be- 
schriebenes Bild kam auch von der Kaiserin der Reußen zu uns 
herüber. Mutter! rufen die Heuchler ihr zu. Doch keine Stiefmutier 
gegen ihre eigenen Kinder? — Voltaires Schülerin! Und Krieg auf 
Krieg! Verwicklung der Mächte mit Mächten! O Manner, hütet Euch 
vor herrschsuchtigen Frauen.“ Die Gehässigkeit dieser Broschüre 
gegen Katharina wird noch über diese Vorwürfe hinaus besonders 
deutlich an der Stelle über die Hinrichtung des Rebellen Pugacev, 
wo der Verfasser in vollkommen phantastischer Erfindung der Carin 
persönliche Neigungen zu sadistischer Grausamkeit andichtet: „Als 
sich einst dem russischen Reich ein falscher Kaiser zeigte, ließ ihm 
die Kaiserin von Metall Kron und Zepter machen, die Krone heiß 
glühend auf das kahle Haupt sehen und das Zepter heiß glühend in 
die schwache Hand geben®®).“ Solche Züge von sadistischer Grau- 
samkeit im Katharinabilde dieses Zeitgenossen entsprechen nicht der 
Wirklichkeit. Vielmehr ist Katharina von solchen Neigungen vollig 
frei; aber die Verdächtigungen dieser Broschüre bilden auch in den 
Schriften der Widersacher ein Unikum, und die milde Bestrafung 
Pugatevs wird von ihren deutschen Zeitgenossen mehrfach hervor- 
gehoben®*). 


Die verschiedenen Richtungen hatten natürlich nach Art ihrer 
Einstellung zur Carin auch ihre besondere Beurteilung der Kriegs- 
ereignisse. Wie 1768 war Rußland jest wieder ganz ungenügend 
vorbereitet in den Krieg gegangen. Aber diesmal beurteilte man die 
russischen Kriegsrustungen weit weniger günstig, und die ungünsti- 
gen Beurteilungen kamen nicht nur aus dem gegnerischen Lager, 
sondern auch aus dem der österreichischen Verbündeten. Als die 
Russen den Feldzug mit wenig Glück eröffneten, klagte Joseph 
seinem Bruder Leopold, daß er von Rußland nur Worte höre, aber 
keine Taten sehe, daß es trob seiner Großsprecherei so gut wie 
nichts getan habe und, wie er fürchte, auch im Winter und Frühjahr 
nichts tun werde). Im gleichen Sinne rügte auch die für den Wiener 
Hof wirkende „Unparteiische Geschichte des gegenwärtigen Krieges“ 
das Verhalten der russischen Truppen und gab schonungslos die zum 
Teil unglaublichen Zustände, in denen sich die Ausrüstung der rus- 
sischen Soldaten befand, der Offentlichkeit preis"). Aber die Oster- 
reicher hatten wenig Ursache, auf den russischen Verbündeten herab- 


es) S.4f., 13 f., 29 f. 


ss) Vgl. Deutsche Chronik Jg. 1774, S. 567. — Zeichnungen, a. a. O. S. 185. 


— David Jenisch: Geist und Charakter des achtzehnten Jahrhunderts, Bd. III 
(1801), S. 210. 


°°o) Joseph Il. und Leopold von Toskana. Ihr Briefwechsel von 1781 —1790. 
Hrsg. v. A. v. Arneth, Bd. II (1872), S. 146. 


1) Bd. II (1789), S. 69. 


50 


zusehen. Denn auch ihre Heere richteten nichts aus und mußten vor 
den Türken zurückweichen. So hatten die kaiserlichen Organe bald 
genug zu fun, die eigene Sache vor den eigenen Landsleuten zu 
rechtfertigen und alle Angriffe auf die kaiserliche Kriegsführung als 
„böswillige Angriffe der Antilascyaner“ zuriickzuweisen™). Da sie 
jedoch nichts positiv Tröstliches zu melden hatten, begnügten sie sich 
damit, auf die Zweifler und Kleinmütigen zu schelten: „Die Russen 
und Österreicher, sprechen einige politische Kannegießer und ihre 
Nachbeter, werden gegen die Türken nichts ausrichten. Und warum? 
Weil wir es wünschen und weil wir wirklich noch sehr kleine Erobe- 
rungen gemacht haben®®).“ 


Man hatte Grund zu pessimistischen Betrachtungen. Denn schon 
im September 1787 wurde fast die ganze russische Flotte, auf die 
Katharina und Potemkin so große Hoffnungen gesebt hatten, vor 
Varna durch einen Sturm vernichtet. Potemkin verlor den Mut und 
wollte die Krym räumen. Dazu kam aus dem ungarischen Insurrek- 
fionsgebiet im Rücken der unglücklich operierenden kaiserlichen 
Armee eine Unglücksbotschaft nach der anderen. In diesen kritischen 
Tagen fand die Sache der Verbündeten in dem leicht entztindbaren 
Schubart einen warmherzigen Anwalt. Schubart wollte die Sache 
des Kaisers als Sache aller Deutschen aufgefaßt wissen und rief die 
Deutschen mit drohnendem Pathos, allerdings völlig erfolglos, zur 
Unterstiigung Josephs und Katharinas auf: „Der ist kein Deutscher, 
dem nicht das Herz über die mißliche Lage seines Kaisers blutet!“ 
„Welch ein Schauspiell Eine Nation ohne Taktik, ohne Akademien, 
ohne Aufklärung packt einen christlichen Kaiser und eine genialische 
Kaiserin bei der Kehle und würgt sie zum Ersticken!“ „Jeder Deutsche 
müsse erröten, wenn er höre, was sein Kaiser im Kampf mit den 
Ungläubigen zu fragen und zu leiden habe! Freilich gabe es im 
Reiche genug feile Politiker, denen Religion und deutsche Freiheit 
gleichgültig geworden seien, die also mit Vergnügen den Türken 
wieder vor Wien erblicken würden, ohne zu bedenken, daß dieser 
blutige Komet Zerstörung und Barbarei an seinem Schweife trage. 
Unfaßbar müsse es jedem Patrioten erscheinen, daß Preußen, das 
edie Preußen, Gewehr bei Fuß die Not des Kaisers mit ansche, 
immer nur mit fremden Mächten liebäugele und seine deutschen 
Pflichten migachte").“ Wir glauben dieser Herzensergießung Schu- 
barts gegenüber nicht, daß sie eigentlich kennzeichnend ist für die 
Stimmung der damaligen öffentlichen Meinung Deutschlands. Auch 
Heigel, der den diesbezüglichen Passus aus der „Vaterländischen 
Chronik“ ausführlich wiedergibt, lehnt es ab, daraus Schlüsse für die 


en) Heigel, a. a. O. Bd. I, S. 174. 


) Unpartheiische Nachricht von dem Ursprung, von den Eroberungen, 
dem Reich, der Regierung u. d. Kriegsverfassung der Türken sowie auch 
von den Ansprüchen der Kaiserin Katharina Il. (1788), S. 52. 


*) Vaterländische Chronik 0 1788, S. 630 war mir nicht zugänglich. 
Daher zitiert nach Heigel, a. a. O. Bd. I, S. 174. 


e 51 


tatsächliche deutsche Volksstimmung dieser Tage zu ziehen). Auch 
das Jahr 1788 schien vorüberzugehen, ohne wesentliche Erfolge zu 
bringen. Da fiel endlich kurz vor Jahresschluß nach langer Belage- 
rung die Festung Očakov. In den Kreisen der europäischen Kabinette 
maß man diesem militärischen Erfolge mit Recht eine große Bedeu- 
tung bei und suchte bei Freund und Feind auch den politischen Ertrag 
dieses Erfolges richtig einzuschäßen®®). 

Bei der Mehrzahl der deutschen Zeitstimmen über dieses Ereignis 
ist im Gegensak dazu von sachlichen Gesichtspunkten wenig die 
Rede. Man fragte nicht nach der strategischen Bedeutung des 
Platzes, sondern nur nach den Opfern. Die „Literatur- und Völker- 
kunde“, das Blatt des keineswegs radikalen Archenholz, brandmarkte 
den Ehrgeiz der Carin, die so ungeheures Elend verschuldet hatte”), 
und das „Hannöversche Magazin“ ließ die Tatsachen für sich selber 
sprechen, indem es den Bericht eines Teilnehmers an der Erstürmung 
Otakovs abdruckie: „Des Mordens war kein Ende, aber dabei ward 
gar nicht geschrien; man horte dann und wann hochstens ein dumpfes 
Gemurmel oder das ängstliche Geschrei einer Frau. 100 Bajonett- 
stiche gab man von unserer Seite immer gegen einen einzigen 
FlintenschuB*).“ 

Auch die späteren, Katharina durchaus wohlgesinnten Biographen 
und Historiker überfällt, wenn sie in ihren Erzählungen auf den 
Kampf um Očakov zu sprechen kommen, ein unverhohlenes Grauen, 
das von der starken Erregung zeugt, in die das Massaker dieses so 
ausgesprochen philanthropische Geschlecht versebt hatte: „Nichts, 
nichts von den glorreichen Triumphen der Russen über die Türken“ 
— ruft David Jenisch in den dem Kulturcharakter seines Jahrhunderts 
gewidmeten Betrachtungen aus —, „das Herz blutet dem Menschen- 
freunde®).“ Nach ihm verstießen Katharinas Kriege gegen die Ge- 
setze des europäischen Völkerrechts, sie kehrten die ganze asiatische 
Grausamkeit hervor. Biester erklärte, daß die Greuel, welche die 
erbitterten Sieger in der ihnen preisgegebenen Stadt begingen, den 
Tag von Očakov zu einem „der schauderhaftesten des Jahrhunderts 
machten“ 100. Ein Aufsatz in der „Minerva“ von 1798 beklagte die 
„rücksichtsiose Menschenschlachterei“ vor allem im Hinblicke auf die 
Tatsache, daß Rußland auf dem ganzen Erdboden an Menschen ohne 
Vergleich das allerarmste seit). Wenn sich solcher Betrachtungs- 
weise gegenüber hier und da eine Stimme meldete, die auf die 
Größe des Erfolges hinzuweisen suchte, oder wie der deutsche Arzt 
von Drümpelmann darlegte, daß durch diesen Sieg die russische 


»s) Heigel, a. a. O. Bd. I, S. 174. 

ee) Vgl. Alexander Brückner: Katharina Il. (1883), S.364f. — A. v. Arneth: 
Joseph Il. u. Katharina II., a. a. O. S. 325. 

97) Jg. 1789, Bd. Il. S. 588. 

ee) Jg. 1789, S. 559. 

%) Jenisch, a. a. O. Bd. = S.559. 

199) Biester, a. a. O. S. 277 

101) Jg. 1798, Bd. Ill, S. 11. 


52 


Grenze gedeckt und der Handel auf dem Schwarzen Meer gesichert 
würden:, so drangen solche Stimmen nicht durch in einer Zeit, in 
der man wie Forster in Potemkin nichts anderes als einen modernen 
Attila sah‘), der „3000 Tataren, Männer, Weiber und Kinder, ein- 
fangen und kaltblütig ermorden ließ“ *, in der Suvorov als der 
wiedererstandene Tamerlan galt, und Katharina in des Pamphletisten 
Albrecht „Neuesten Reisen ins Tierreich“) als Hyäne figurierte. 
Das Jahr 1789 war den Verbündeten günstig und fand daher die 
Bewunderer der Carin und des Kaisers wieder obenauf. Schubart 
genoß mit Behagen die Siege der „vom Glück gekosten Russen“ bei 
Fokschani und am Rymnik, die Eroberungen von Akkerman und 
Bender und plünderte den Bilderschatz des Alten Testamentes und 
der Apokalypse, um solche Triumphe würdig zu feiern: „Der Schreck 
geht vor ihrem Namen her wie ein Riese des Himmels, was sie 
wollen, geschieht. Von Tobolsk bis nach Cherson fliegen die ehernen 
Reiter herbei, fühllos gegen die Pfeile der Sonne wie gegen den 
schneidenden Hauch des Nordsturms. Unerschöpflich rinnen die 
Quellen der großen Carin:®).“ Mit der Eroberung Ismails im De- 
zember 1790 aber erhoben sich von neuem die Anklagen gegen die 
ungeheuren Menschenaufopferungen. Wie sehr die russischen 
Waffen glänzten — denn Ismail hatte für uneinnehmbar gegolien!") —, 
so wurde, wie Seume sagte, ihr Ruhm doch verdunkelt durch die 
Unmenschlichkeiten, die hier begangen waren. Waren aber auch der 
Unordnungen und Orausamkeiten bei Očakov und Ismail „bei weitem 
nicht so viele, als das auswärtige Publikum glaubt und sich noch 
täglich erzählt)“ der Makel, der deswegen an der Carin haftete, 
hieß sich nicht mehr wegwischen. Selbst Schubart sprach diesmal 
von der „russischen Löwin“, deren Mähne immer mit frischem Blut 
besprikt ist), und der als Verfasser von Sensationsromanen übel 
berüchtigte Friedrich Albrecht war auch bald wieder zur Stelle. Er 
widmete Suvorov unter dem Titel „der Totentanz bei Ismail, Ge- 
schichte einer Bluthochzeit nebst dem Leben des Brautigams” eine 
„sinnlose und alberne Biographie“ (Bilbasov), die allerdings erst 
1803 mit dem fingierten Druckort St. Petersburg erschien, aber 


108) Beschreibung meiner Reisen und merkwürdigen Begebenheiten 
meines Lebens (1813), S. 65. 


388) Schriften, a. a. O. Bd. VI, S. 213 f. 
100) Fak Werke, a. a. O. Bd. Ill, S. 208. 


108) (1796) S. 48f. — Vgl. auch Andreas Rebmanns Zs. „Die Geibel“, 
Jo. 1797, St. 7, S. 109 f. 


208) Vateri. Chronik J. 1789 in Ges. Schriften, a. a. O. Bd. VII, S. 214. — 
Vgl. Ausführl. Gesch. d. Krieges zw. „ Osterr. u. d. Türkei u. d. daraus 
entstandenen nordischen Krieges, Bd. (1791), S. 6af. — Frhr. v. Tannen- 
berg, a. a. O. S. 212. — Hist. geneal. Kal., a. a. O. S. 92 f. 


ser) Biester, a. a. O. S. 283 f. Zeichnungen, a. a. O. S. 186. 
3) Seume Werke, a. a. O. S. 454. 
300) Ges. Schriften, a. a. O. Bd. VII, S. 307. 


wesentlich früher geschrieben ist***). Forster erschienen die Türken 
menschlicher als die Russen. Er war erschüttert über die Menschen- 
verachtung der russischen Feldherren: „jede Festung hat ihren Preis, 
die Frage ist nur, ob man ihn geben will, ob man ihn geben kann**).“ 

Die politische Lage hatte sich in den lebten Kriegsjahren sehr 
zuungunsten der beiden verbündeten Mächte verändert. Österreich 
war durch die Konvention von Reichenbach genötigt worden, mit der 
Pforte Frieden zu schließen, während Rußland trok der Drohungen 
Preußens und Englands sich nicht zum Abschluß eines Friedens auf 
dem Grunde des Status quo zwingen ließ. Erst nach der vernichten- 
den Niederlage der Türken bei Matschin (9. Juli 1791) kam es zu 
einem Waffenstillstande, dem am 9. Januar 1792 der Friedensschluß 
von Jassy folgte. Wie auch von den modernen Historikern!) der 
tapfere und zähe Widerstand, mit dem sich Katharina der preußisch- 
englischen Vermittlungsaktion gegenüber behauptete, restlos an- 
erkannt wird, so gaben sich auch schon damals die Bewunderer der 
Carin einer ungehemmten Begeisterung über die Standhaftigkeit 
Katharinas hin, vor der es die beiden Mächte „bei eitlen Drohungen“ 
bewenden lassen mußten). Die große Frau veränderte ihr System 
nicht, und die Pforte war genötigt, einen abermals ungünstigen 
Frieden abzuschließen“). 

Unmittelbar unter dem Eindrucke des Friedensschlusses wurde 
damals in einer der Türkenkriegsgeschichten, die durch ihre sorg- 
fältige Arbeit aus der Reihe der übrigen herausfällt, das Fazit der 
bisherigen Orienipolitik Katharinas mit folgenden Worten gezogen: 
„Dies ist der sechste Friede, den Rußland in diesem Jahrhundert mit 
der Pforte abgeschlossen hat. In den drei ersten schrieb die Pforte 
Rußland, in den drei letzten unter Anna und Katharina Rußland der 
Pforte Geseke vor. Keiner davon hat so reelle Vorteile verschafft, 
außer denen, die unter der jetzigen Kaiserin geschlossen worden sind. 
So glänzend als das Jahrhundert in mehr als einer Rücksicht für 
Rußland anfıng, so glänzend schließt sich dasselbe mit einem Kon- 
traste der Größe und Umschaffung, von dem in einem solchen Zeit- 
raume nur Preußen eine Ähnlichkeit aufweist. Vorzüglich ist der 
gegenwärtige Friedensschluß ein ewiges Denkmal des Ruhmes für 
Rußland und dessen große Beherrscherin**).“ Um die gleiche Zeit 


110) Bilbasov Weltliteratur, a. a. O. Bd. Il, S. 120. — Die Schrift, die mir 
selbst nicht erreichbar war, erschien auch unter dem Titel: „Kakodämon der 
Schreckliche, Pansalvins und Mirandas Donnerkeil, Revisor des Codex der 
Menschenrechte“ (1800). 


411) Schriften, a. a. O. Bd. VI, S. 213 f. 
118) Obersberger, a. a. O. Bd. I. S. 377. 
13 . Brückner, Katharina, a. a. O. S. 401. — Übersperger, a. a. O. 


114) Biester, a. a. O. S. 282. 
118) Seume Werke, a. a. O. S.454. — Vgl. Polit. Journal jg. 1796, S. 1243. 


> ay Gesch. d. östereichisch-russischen u. türkischen Krieges (1792), 


bekannte Schubart: „Es demiithigt den Männerstolz sehr, wenn er 
jezt sehen muß, daß — ein Weib die größte Rolle in der Welt 
spieltt1").“ 

Man sicht aus diesen zahlreichen Anführungen von Stimmen der 
damaligen deutschen öffentlichen Meinung, die wir leicht noch ver- 
mehren könnten, daß die Zeitgenossen durchaus ein Oefühl dafür 
hatten, was die beiden Friedensschlüsse von Kutschuk-Kainardsche 
und Jassy für die Stellung Rußlands im Orient bedeuteten. Gleich- 
wohl fiel es niemand unter den Bewunderern Katharinas ein, auf die 
Verschiebung der Kräfteverhältnisse auf der Balkanhalbinsel, das 
Zurücktreten des österreichischen und das Vordringen des russischen 
Einflusses und die dadurch eintretende Störung des europäischen 
Gleichgewichts auch nur andeutend hinzuweisen. Nur das schon 
angeführte Wort Wekhrlins bildet in dieser Beziehung eine Aus- 
nahme. Aber Wekhrlin weist, wie wir sahen, diesen politischen Ge- 
sichtspunkt der Angelegenheit weit von sich. Er erscheint ihm unter- 
geordnet und unwürdig im Vergleich zu dem höheren interesse, das 
die Zivilisation an dem Übergang der türkischen Länder in den Besitz 
gleichviel welcher europäischen Kulturmacht hat. 

Man könnte nun vielleicht geneigt sein anzunehmen, daß wenig- 
stens die Gegner der Carin diesen politischen Gesichtspunkt stärker 
betont hätten. Aber auch bei ihnen findet sich davon keine Spur. 
Ihre Polemik wendet sich nicht aus politischen Gründen, um die sich 
damals anscheinend lediglich die zünftigen Politiker, die Rate und 
Diplomaten der einzelnen Kabinette kiimmerten, sondern aus morali- 
schen gegen „die Eroberungssucht“, „die Ländergier“, „die Un- 
ersättlichkeit“ der „ehrgeizigen“, „ruhmsüchtigen“, „eitlen“ Selbst- 
herrscherin aller Reußen, und je nach Anlage und Temperament des 
einzelnen Polemikers kleidet sich das Urteil in pathetische Entrüstung 
oder spottende Ironie. Nur um für letztere hier noch ein Beispiel 
zu geben, möge eine Stelle aus der „Minerva“ von 1798 zitiert sein, 
in der der Verfasser sich darüber lustig macht, wie Katharina in 
ihrer Maßlosigkeit troķ aller Anstrengungen schließlich doch nur 
einem Phantom nachgejagt habe: „Katharina Il. hat alle Lander er- 
obert, auf welche die russische Regierung Anspruch machen zu 
können glaubte, es fehlte nur ein Stück von Lappland und — — das 
morgenländische Kayserthum***).“ Im übrigen verlohnt es nicht, auf 
die Ausfälle der Gegner Katharinas, die nach dem Friedensschlusse 
von Jassy laut wurden, noch weiter einzugehen. Sie sind sowohl 
ihrem Gedankenkreise als ihrer Tonlage nach genau die gleichen 
wie die, welche wir bei der Erstiirmung von Očakov kennen lernten. 
Zur Kennzeichnung der phantastischen Vorstellungen, in welchen sich 
diese pazifistischen Menschenfreunde vielfach bewegten, sei schließ- 
lich noch auf die Schäßungen der Menschenverluste in den Türken- 
kriegen aus der „Minerva“ von 1798 verwiesen: „Nach einer richtigen 
öffentlich. bekannt gewordenen Berechnung“ gibt diese Zeitschrift an, 


117) Vateri. Chronik Jg. 1791, S. 268. 
118) Bd. III. S. 10. 


daß die russische Regierung in den beiden Türkenkriegen 600 000 
Mann aufgeopfert hätte, und daß die von den Russen Getoteten „be- 
sonders unter den Polen, Türken und Tataren“ sich auf Millionen 
belaufen). Angesichts Solcher Vorstellungen ist es nicht weiter 
verwunderlich, daß diese Art von Zeitgenossen nicht nur die Russen 
der Grausamkeit bezichtigte, sondern auch Katharina deswegen an- 
klagte und in der aufgeklärten Carin den „Würgeengel“ erblickte, 
der gekommen war, das menschliche Glück zu vernichten***). 


Fortsetzung folgt.) 


110) Ebd., S. 11. 


ıs0) Ein Wort im Vertrauen, a. a. O. S. 2. — Gleichzeitig und neben den 
Operationen auf dem türkischen Kriegsschauplab mußte Katharina von 
1788—90 gegen Schweden Krieg führen. Wenn schon die öffentliche Meinung 
Deutschlands für die orientalische Krisis von 1787 ein viel laueres interesse 
hate als fiir die von 1768, so steht sie dem Kampfe im Norden, der sich als 
5 der Orientpolitik der Carin e e beinahe gleich- 
gülig gegenüber, obwohl die beiden Gegner das Ausland durch Propa- 
andaschriften zu beeinflussen trachteien. Nur eine einzige zeitgenössische 
eschichte des Schwedenkri 85 ist bisher bekanntgeworden G. Horst: 
Geschichte des lebten schwed.-russ. Krieges, 1792). Auch die 33 
der Kaiserin behandeln mit Ausnahme von Seume (Werke, a. a. O. S. 453 f.) 
den russ.- schwed. Krieg sehr stiefmültlerlich, so dak man aus den wenigen 
Urteilen der Zeitgenossen kein hinreichend sicheres Bild erhält, um diesem 
Ereignis in seiner Rückwirkung auf die öffentliche deutsche Meinung beson- 
dere Ausführungen zu widmen. So viel ist gewiß, daß auch hier Parteien 
sprechen. Die Anhänger Katharinas sind auch hier wieder in den Reihen 
der älteren Aufklärer zu suchen, während die Freunde Gustavs der jüngeren 
Generation angehören. Für letztere vgl. „Katharine vor dem Ri erstuhle 
der Menschheit” (1797), S. 29f. Der anonyme Verfasser — einer der unent- 
wegtesten unter den ‘Katharinagegnern — gibt aus Anlaß des Friedens- 
schlusses von Werela auf dem Status quo ante seiner Genugtuung Aus- 
druck, die Carin nun endlich einmal belehrt worden sei, „daß ein für 
seine ana hängigkeit kampfendes Volk im Streite mit Barbaren me unter- 
egen könne. 


96 


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DIE ENTWICKLUNGSBEDINGUNGEN DER EPISCHEN 
VOLKSDICHTUNG BEI DEN SLAVEN)) 


Von 
Josef Matl, Graz. 


Als zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit der neuen von Westen 
kommenden Geistesströmung der Romantik auch bei den Slaven 
das Interesse für die Volkssprache, für die Denkmäler und Auße- 
rungen der Volkskultur in Vergangenheit und Gegenwart wach 
wurde und eine planmäßige Sammlung dieser Denkmäler einsebie, 
erkannten die Sammler bald mit Staunen und Bewunderung, daß im 
Volke bisher unbekannte Geistes- und Kulturschätze begraben 


1) Ich veröffentliche hier einen Vorirag, den ich im März 1928 an der 
Grazer Universität gehalten habe. Ich Gebe den Inhalt im wesentlichen 
unverändert wieder, um den ursprünglichen Plan und Rahmen sowie die 
ursprüngliche Form nicht durch kritische Erörterungen von Einzelfragen zu 
sprengen. Daher verzichte ich auch auf eingehende Liferaturangaben zu 
jedem einzelnen Punkt, zumal das Neue in dieser Studie wesentlich in dem 

Betrachtungss tandpunkt an sich und der synthetischen Anwendung dieser 
Betrachtungsweise für das Oesamigebiel der slavischen Volksepik liegt 
und nicht im Einzelmaterial als solchen. Unter den für unser Thema wich- 
figen Werken, die entweder die Ergebnisse der bisherigen 33 mit 
Angabe der Spezialliteratur und der Textausgaben enthalten oder als 

ungen für unser Thema wichtiges Einzelmaterial vorbringen, sind 
zu nennen: Eine allgemeine Zusammenfassung vorwiegend stoff- und 
formalgeschichtlich J. Máchal, Slovanské litera Dil I: Národní epika 
slovanská, S. 67—128. Novočeská Bibliotéka SVOVL V Praze 1922. — 
Fur das russische (groß- und kleinrussische) bzw. ukrainische Gebiet: E. V. 
Aniékov, A. K. Borozdin, D. K. Ovsjaniko-Kulikovskij, 
istorija russkoj literatury. T. I: Narodnaja slovesnost. Moskva 1908. — 
V. A. Keltujala, En istorii russkoj liferatury. aay I: istorija drevnej 
russkoj literatury. Kn. I, S. Peterburg 1913, Kn. I, S Peterburg 1911. — 
P. Ziteckij, Mysli 0 narodnych m russkich dumach. Kiev 1893. (Ent- 
halt sehr interessante Angaben über die Sänger) — M. GruSevs’ KY 
, Istorija ukrains’koji literatury. Tom I, Il, Kyjiv-L’viv 1923. n 
deutscher Sprache eine übersichtliche Zusammenfassung bei A. Luther, 
Geschichte der russischen Literatur. Leipzig 1924, S. 9 f. — Das neue Werk 
des Saratover Professors Skaftymov über die russischen Bylinen, von 
dem mir Juni 1928 Prof. Fürst Trubeckoj in Wien erzählte, war mir bisher 
nicht zugänglich. Ebenso sind mir die Ergebnisse der Forschungen D. So- 
kolovs über den gegenwärligen Stand der russischen Volksepik und 
Volksdichtung überhaupt, die in den ethnographischen Organen der russi- 
schen staatlichen Akademie für Wissenschaft und Kunst erschienen sind, 
nur aus Referaten (Obzor 1929, br. u ferner Slavia VII. S. 40513: 
5 1921 g. v Archangel’skoj gub.) bekannt. Vol. ferner 
3 v, Volksdichtung in der Sowjetunion. In: Das neue Rußland. 
.5 Gel 9/10, S. 28—30. 


57 


waren, die es verdienen, näher untersucht und gewürdigt zu werden. 
Bei den Russen und Ukrainern, bei den Serben und Kroaten, sowie 
auch bei den Bulgaren fand man unter diesen lebenden Zeugnissen 
der Volkskultur eine Menge epischer Lieder, die in bezug auf künst- 
lerische Qualität und epische Unmittelbarkeit jeden Vergleich mit 
den bisher bekannten Erzeugnissen der epischen Volksdichtung der 
alten europäischen Kulturvölker aushielten. Vor allem waren es die 
serbischen Volkslieder, die bei dem damaligen interesse für Volks- 
dichtung im allgemeinen auch wiederholt ins Deutsche übersebt 
wurden und buchstäblich einen literarischen Siegeszug durch Europa 
antraten. Unter den Deutschen, die sich mit der serbischen Volks- 
dichtung beschäftigten und ihre voliste Anerkennung und Bewunde- 
rung zollten, waren bekanntlich Männer wie Jakob Grimm und 


Aus den Referaten ersehe ich „ dab die Beobachtungen D. Sokolovs 
meine Anschauungen über die Entwicklungsbedingungen der epischen Volks- 
dichtung bestätigen. 

Für das Gebiet der serbokroatischen Voksepik sind die Ergebnisse der 
älteren Forschung und die Einzelliteratur von P. Popović, Pregled 
srpske književnosti. Beograd 1909 (in den neueren Auflagen fehlt leider 
das Liferaturverzeichnis) zusammengefaßt. on unsere Betrachtung wich- 
tiges Material enthalten von den ä Di Studien: V. Jagić, Die süd- 
slavische Volksepik vor Jahrhunderten. A. f. sl. Ph. IV, S. 192—242; der Selb e. 
ge za slovinsku narodnu poeziju. Rad Ju Jugoslavenske Ak Akademije XXXVII, 
S. 33—137. Vgl. dazu die „ und kritischen Bemerkungen von 
S. Bublé, Rad XL, S. 130— 46: Sv. Vulović, Prilog poznavanju sa- 
send stanja usmene N poeziie. Godišnjica Nikole Cupiéa VII, 

S. 3355—65. Unter den neueren Arbeiten die Studien der beiden besten 
. Kenner der serbokroatischen Volksepik, M. Murk o und 

Ge se mann: M. Murk o, Bericht über eine Bereisung von Nordwest- 
bosnien und der angrenzenden Gebiete von Kroatien und Dalmatien behufs 
Erforschung der Volksepik der bosnischen Mohammedaner. Sißungsberichte 
der Akademie der Wissenschaften in Wien, Philos.-hist. Kl., 173. 

Wien 1913; derselbe, Bericht über eine Reise zum Studium der Volks- 
epik in Bosnien und Herzegowina im Jahre 1913. Ibidem 176. Bd., 2. Abh., 

Wien 1915; derselbe, Bericht über phonographische Aufnahmen epischer 
Volkslieder im mittleren Bosnien und in der Herzegowina im Sommer 1913. 
Ibid. 179. Bd., 1. Abh., XXXVII. Mitteilung der Phonogramm-Archivskommis- 
sion. Wien 1915. Zusammenfassend derselbe, Neues über südslavische 
Volksepik. Neue Jahrbücher für das klassische Altertum XXII, S. 273—%. — 
Vgl. ferner M. Murko, Ein montenegrinischer Guslar. Prager Presse 1./1 
1928, schließlich die lebte Zusammenfassung M. Murko, L'état actuel de 
la poésie populaire épique yougoslave. Le Monde Slave. N. S. T. Il (1928) 
S. 321—51. G. Gesemann, Studien zur südslavischen Volksepik. Ver- 
öffentlichungen der Slavistischen Arbeitsgemeinschaft an der Deutschen Uni- 
versität in Prag. I. Reihe, Heft 3, Reichenberg 1926; derselbe, Erlangenski 
rukopis starih srpsko-hrvatskih narodnih pesama. Zbornik za istoriju i 
književnost srpskog naroda. | od. knj. XII Srpska Kralj. ae Sr. Kar- 
lovci 1925. Vgl. dazu die Rezension M. Murkos, Euphorion XXIX, S. 297 ff. — 
Die an sich werlvollen Studien von St. Banovié, über die ich demnächst 
an anderer Stelle berichten werde, sind für unsere Betrachtung nur von 
sekundärer Bedeutung: Masta prema istini u našim narodnim pjesmama. 
Zbornik za narodni Zivot i običaje Južnih Slavena. Knj. XXVI, sv. 2, 195—256; 

ferner Stalni epiteti junaka u našim narodnim pjesmama. Ibid. 8. 288—38. 

Ein halbes Jahr nach meinem Vortrag erschien (Sept. 1928) ein der 
serbokroatischen Volksepik gewidmetes Sonderheft des Književni Sever IV 
(Subotica, SHS): NaSa narodna epika, das mehrere wertvolle Studien ent- 


58 


Zr — — 'ſ—ꝗ—— — —— 


Goethe’). Bei den Slaven selbst wurde die Sammlung des Lieder- 
materials durch das ganze 19. Jahrhundert fortgesetzt, und in der 
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts — bei den Russen schon in den 
dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts — setzte auch die syste- 
matische Erforschung ein und nahm bei den Südslaven und Russen 
einen Groffeil des literaturwissenschaftlichen Interesses in Anspruch. 
Während die älteren Forscher unter dem Einfluß der sogenannten 
mythologischen Richtung Grimms aus dieser Volksdichtung heraus 
ein System der ursprünglich slavischen Mythologie aufzubauen ver- 
suchten und in jeder nicht einfach deutbaren Gestalt oder Motiv 
Spuren eines alten Mythos sahen, machte sich die Gruppe mehr 
philologisch interessierter Forscher daran, den epischen Stil, die 
epische Technik, die Poetik der Volkspoesie zu erkennen, die 
formalen Seiten dieser Dichtungsart zu untersuchen, anderseits 
durch textkritische Vergleichung der Varianten das Urlied heraus- 
zufinden und so den Gestaltungs- und Entwicklungsprozeß klarzu- 
legen. Erst der historisch vergleichenden Schule, die sich vor- 
wiegend bei den Russen durch die grundlegenden Forschungen 
Veselovskijs und Milers durchsetzte, war es vorbehalten, dadurch, daß 
sie von der isolierten Betrachtungsweise zu einer vergleichenden 
überging und die westeuropäischen und orientalischen Volkslitera- 
turen sowie die kulturgeschichtlich gegebenen Fakten der Entwicklung 
des eigenen Volkes zur Erklärung heranzog, viel neues Licht in die 
einzelnen Fragen der Entstehung und Gestaltung der Volksdichtung 


zu bringen’). 


halt, die in verschiedener Hinsicht meine im Vortrage vertretenen An- 
schauungen bestätigen und ergänzen. Auf den Inhalt der einzelnen Studien 
in diesem Heft werde ich noch in dieser Zeitschrift in einem Literaturbericht 
uber neuere 5 zur jugoslavischen Volks dichtung zurückkommen. 
Uber die jugoslavischen Hajduken- und Uskokenlieder und die Bedeutung 
der Hajduken- und Uskokenbanden in der Entwicklung der jugoslavischen 
Voksepik werde ich in einer eigenen Studie noch Naheres ausfuhren. 

Für das bulgarische Gebiet ammen asena und Literatur: B. An- 
gelov, Bigarska literatura. Cast’ Il, S. 97 ff., Sofija 1924; ferner (mit 
einer Anthologie) B. Angelov — M. Arnaudov, istorija na bigarskata 
literatura v priměri į bibliografija. Tom I: Bigarska narodna poezija. Sofija 
(Erscheinungsjahr nicht angegeben). 

3) Vgl. das Einzelmaterial bei M. Cur čin, Das serbische Volkslied in 
der deutschen Literatur. Dissert. Wier phil. Fak., Lpz. 1905. Erganzend 
dazu J. Mati, Dva njemačka časopisa iz Sezdesetih godina 19. vijeka. 
Njihov značaj za kulturnu i političku historiju južnih Slavena. Nastavni 
Vjesnik (Zagreb) XXXVI, sv. 5—6; ferner meine Angaben über die deutsche 
übersebungsliteratur aus dem Serbokroatischen in meinem Beitrag über 
deutsche Literatur in Kroatien und Slavonien. In: Nagi-Zeidier-Castie, 
„Deutschösterreichische Literaturgeschichte“, IH, IV. 

s) Die gegenwärtigen und künftigen Aufgaben der Erforschung der 
epischen Volksdichtung prazisierte vor kurzem G. Gesemann, Nova 

istraživanja narodnih epskih pesama (Književni Sever IV, S. 285—89) und 
fabi dabe. das Ziel der weiteren Forschungsarbeit in folgenden Sab: „Treba 
shvatiti epsko pevanje prvo kao umetnost i drugo kao izraz i samosti- 
lizaciju izvesnog słepena sveljudske kulture, t. j. jugoslovenski ep treba 
izvesti iz 5 izolacije i staviti ga tamo gde mu je mesto u svetskoj 
kulturi. o. c 


59 


Zu den Fragen, die bei der Forschung der epischen Volksdich- 
tung auftauchten und bis heute noch keine befriedigende einheitliche 
Lösung gefunden haben, gehört auch die Frage der Entwicklung der 
epischen Volksdichtung. Wir müssen gleich feststellen, daß wir nur 
bei den Russen und Ukrainern verhälinismäßig klar die einzelnen 
Entwicklungssiufen sehen, da hier durch eine seit Jahrzehnten 
blühende kultur- und sozialgeschichtliche Erforschung der inneren 
Entwicklung des Volkes (es seien nur die Namen Solovjev, Kljuéev- 
sky, HruSevsky, Mjakotin genannt) das nötige Vergleichsmaterial 
vorhanden ist, während bei den Südslaven erst durch die siedlungs- 
geschichtlichen Forschungen der serbischen Geographen Cvijić und 
seiner Schule, sowie durch die historisch volkskundlichen Studien 
von T. R. Diordjevié die Anfänge dazu gemacht wurden und daher 
noch viele Seiten der inneren Entwicklung des Volkes in der für 
unsere Betrachtung wichtigen Türkenzeit im Dunkeln liegen’). 

Wir wollen heute den Versuch machen, unter Heranziehung der 
Ergebnisse der russischen und ukrainischen Forschung sowie der 
äußerst wichtigen Untersuchungen über den gegenwärtigen Stand 
der Volksepik der Südslaven von M. Murko, von einem einheitlichen, 
zum Teil neuen Gesichtspunkte aus die Entwicklung der epischen 
Volksdichtung bei den Slaven in ihren wesentlichen Zügen zu be- 
trachten, wobei wir unser Augenmerk vor allem auf die Faktoren 
richten, die diese Entwicklung bedingen. 

Als Grundmaterial kommen für uns alle epischen Volkslieder in 
Betracht, in denen sich in irgendeiner Form, wenn auch poetisch 
ungestaliet, umgedeutet und typisiert, geschichtlich nachweisbare 
Ereignisse, Vorgänge und Verhalinisse spiegeln, also die russischen 
Bylinen und die sogenannten historischen Lieder — eine genaue 
Grenze läßt sich zwischen ihnen ja nicht ziehen —, die ukrainischen 
dumy, die bulgarischen und die serbokroatischen Heldenlieder 
(junačke pjesme). Die Tschechen und Polen verfügen über keine 
nennenswerte epische Volksdichtung, bleiben daher außer Betracht. 


4) V. Kljucéevskij, Kurs russkoj istorii. Cast’ I—IIl, Moskva 1908*; die vor- 
zügliche und willkommene deutsche Uberse der volistandigen Ausgabe 
durch F. Braun und R. v. Walter: W. Kliufschewskij, Geschichte Ruß- 
lands, I—IV, Berlin 1925—26, Deutsche Verlagsanstalt. — M. Hru3evskij, 
Oterk istorii ukrainskago naroda. S. Peterburg 1906“ derselbe, 
Iljustrovana istorija Ukraini. Kyjiv-L’viv 1912. — V.A.Mjakotin, Oterki 
an istorii Ukrainy v XVII—XVIII v. Tom I, vyp. 1, 1924, vyp. 2, 3, 

. Praga. 


8) J. Cvijić, Balkansko poluostrvo i južnoslovenske zemlje. Osnove 
antropogeografije. Zagreb 1922. . 
Die sozial- und siediungsgeschichtlichen Arbeiten der Cvijić-Schule 
sind zum Haupticile enthalten in den Naselja i poreklo stanovniStva des 
Srpski Etnografski Zbornik der Srpska Kral. Akademija. 

Von T. R. Djordjević vgl. vor allem: Naš narodni Zivot. Srpska 
A! Zadruga 174, Beograd 1923, ferner Iz Srbije kneza Miloša. 
gra ; 

In den letzten Jahren arbeitet der Belgrader Dozent D. J. Popović 
systematisch und mit Erfolg an der Erforschung der sozialgeschichtlichen 
Entwicklung der Serben und Kroaten. 


60 


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Unter welchen Bedingungen entwickelte sich 
die epische Volksdichtung, welche Faktoren 
beeinflußten ihre Entwicklung, ihre Blüte und 
ihren Niedergang? 

Wir haben bei der Entwicklung jeder Kunstgattung, so auch bei 
der epischen Volksdichtung, eine innere und äußere Entwicklung zu 
unterscheiden. Die einer jeden epischen Volksdichtung immanenten 
inneren Entwicklungstendenzen in bezug auf Gehalt und Formgebung 
sind: Die Umwandlung historischer Erinnerungen zu sagenhaften Er- 
innerungen, die Auflösung des geschichtlichen Geschehens ins Per- 
sönliche und die Erklärung desselben aus persönlichen Eigenschaften 
und Motiven (Beispiel: Die Erklärung des ungünstigen Ausganges 
der Schlacht am Amselfeld aus der persönlichen Entscheidung des 
Zaren Lazar für das nebesko carstvo, für das himmlische Reich), 
die Tendenz zur Komplettierung und Einfügung neuer Verbindungs- 
motive, die Zyklenbildung, indem aus der Menge historischer und 
Heldennamen der Großteil vergessen wird und die Handlungen einer 
oder einigen Figuren übertragen werden, die dann typische oder 
Zentralfiguren einer ganzen Epoche werden (Kraljevié Marko in 
der gesamten jugoslavischen Volksdichtung, der Kiever Zyklus der 
Bylinen, die Kosakenlieder mit den Zentralfiguren Ermark und Razin); 
ferner die Typisierung und Schematisierung in den Motiven und in 
der Formgebung. Diese innere Entwicklung, die wir im einzelnen 
vor allem in der russischen und serbischen Volksepik verfolgen 
können, unterscheidet sich nicht im wesentlichen von ähnlichen Vor- 
gängen in der Entwicklung der germanischen und griechischen 
Volksepik und ist auch, wenigstens hinsichtlich der Ergebnisse der 
Erforschung bis 1908, für die grundsäßliche Beurteilung des Wesens 
und Werdens des Volksepos von John Maier in seiner Rektorats- 
rede 1909 über dieses Thema herangezogen und verwertet worden. 

Wir wollen heute nicht diese innere Entwicklung in den Vorder- 
grund’ der Betrachtung stellen, sondern die Wirksamkeit der äußeren 
Entwicklungsbedingungen, und zwar die Bedeutung folgender drei 
Faktoren: Erzähler bzw. Sänger, Publikum bzw. Zu- 
hörer und episches Milieu. 

Zunächst die Frage: Wie und wann entstand die epische Volks- 
dichtung bei den einzelnen slavischen Völkern? Die geschichtlichen 
Ereignisse, die derartig die Lebensverhältnisse umgestalteten und 
erschütterten, daß sie zum großen gemeinsamen, zum Erlebnis wei- 
tester Volksschichten wurden und die jeder dichterischen Produk- 
tion notwendigen Emotionen einerseits, die für die Entstehung und 
Verbreitung epischer Volkslieder notwendige Erlebnisgemeinschaft 
anderseits schufen, waren für die Bulgaren, Serben und Kroaten die 
Turkeninvasion und alle mit der Besikergreifung des Balkans durch 
die Türken im Zusammenhang stehenden Vorgänge vom 14.— 19. Jahr- 
hundert, Vorgänge, die für einen Grogteil der stidslavischen Stämme 
Vernichtung ihrer im Aufblühen befindlichen Nationalstaaten, Ver- 
nichtung der bisherigen Kulturgrundlagen und der weiteren kul- 


61 


turellen Entwicklungsmöglichkeiten für ein halbes Jahrtausend be- 
deuien, in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht ein Zurückwerfen 
in primitive Organisationsformen, für einzelne Gebiete jahrhunderte- 
lange zähe, erbitterte Kämpfe auf Leben und Tod um die Erhaltung 
der primitivsten Existenzgrundlagen und um die Wahrung der pri- 
mitivsten Menschenrechte. Die Entstehungsherde der epischen 
Volksdichtung sind denn auch tatsächlich die Gebiete der ersten 
entscheidenden Zusammenstöße mit den Türken, das heutige Ma- 
zedonien, Westbosnien und Montenegro, und die bisher bekannten 
ältesten Zyklen, der Zyklus über die Kosovoschlacht (1389) und der 
Liederzyklus über Kraljevié Marko, haben die blutigen Geschehnisse 
des 14. und 15. Jahrhunderts als Hintergrund. 

Bei den Russen finden wir im 10. und 11. Jahrhundert die Ent- 
stehungsherde der ältesten epischen Volksdichtung in Kiev und Nov- 
gorod. Hier waren die Ausgangsereignisse für das große epische 
Erlebnis zunächst die gefahrvollen Handelsfahrten am Dněpr nach 
Byzanz und für die weiteren Schichten die Kämpfe mit den ver- 
schiedenen räuberischen Steppenvölkern (Hazaren, Polovcen), also 
der Schuß der wirtschaftlichen Lebensader des Kiever Staates, des 
Verkehrsweges Novgorod—Kiev—Schwarzes Meer. Dann die wei- 
teren Ereignisse: Die immer häufigeren Einfälle der Tataren, die 
schließlich zur Eroberung Kievs und zur Abwanderung der Bevölke- 
rung nach Norden und Westen, zur Entstehung eines neuen politi- 
schen Zentrums an der Wolga führten, aus dem sich der spätere 
Moskauer Staat entwickelte. Diese Geschehnisse finden ihren Nieder- 
schlag in der ältesten Geschichie der Bylinen des Kiever Zyklus. 
Bei den Ukrainern waren es ebenfalls jahrhundertelange Einfälle 
und Angriffe der Tataren sowie die Kämpfe mit den Türken, die die 
heroische Epoche einleiteten, die dann im 15. und 16. Jahrhundert, 
in der eigentlichen Kosakenepoche, staatlich, sozial und volksepisch 
ihren Höhepunkt fand. 

Soviel über die allgemeinen Ereignisse, die zur Entstehung der 
epischen Volksdichtung führten. 

Betrachten wir nun im einzelnen die Faktoren, die ihre weitere 
Entwicklung bedingten. Wir wissen heute, daß die alte romantische 
Auffassung, daß des Volk das Lied schafft, nicht den Tatsachen 
entspricht, daß vielmehr Einzelpersonen als Schöpfer der Lieder 
aufireten®). Meine eigenen Beobachtungen in der Schübengraben- 
zeit im Weltkriege, in der viele alte Lieder wieder auflebten und neue 
entstanden, haben diese Taisache bestätigt. Vir wissen ferner, daß 
die Entstehung eines Liedes Improvisationscharakter hat, daß es in 
den Anfangs- und Bluteperioden der epischen Volksdichtung ex 
tempore entsteht als poetischer Widerhall auf Erlebnisse und Ge- 
schehnisse, daß die epischen Lieder durch Sänger (vgl. die russische 
Bezeichnung pésnotvorci) geschaffen und im wesentlichen auch weiter- 


e) Vgl. die Formulierung der heutigen Auffassung M. Murko, Prager 
Presse 1./I. 1928; Nik. Ba nas e vie, 1 problemu tvoraca naših narodnih 
pesama. Književni Sever TV, S. 289—94 


62 


verbreitet werden. Die Existenz von Sängern ist uns bei den Russen 
schon im 11. Jahrhundert, bei den Serben im 15. Jahrhundert, also 
kurz nach dem Beginn der heroischen Epoche, bezeugt, und wir 
haben vor allem bei den Russen und Ukrainern auch aus den 
späteren Jahrhunderten eine Reihe von Zeugnissen über die Existenz 
eigener Sänger. Bei den Süslaven sind die direkten Nachrichten 
aus der Türkenzeit spärlicher, und wir haben hier zahlreichere An- 
gaben erst aus dem 19. Jahrhundert. 

Nun entsteht die Frage: Welche Rolle spielen die 
Sanger bzw. Erzähler (skr. guslari, slepci, bulg. pévci, pri- 
kazvadi, r. pésnotvorci, skaziteli, skomorochy, ukrain. kobzari, starci) 
in der Entwicklung der epischen Volksdichtung? 
Wir haben nichiprofessionelle und professionelle Sanger zu unter- 
scheiden. Beide Kategorien können je nach der Differenzierung des 
sozialen Milieus auch nebeneinander bestehen. In einem gesell- 
schaftlich entwickelten feudalen Milieu überwiegen die professio- 
nellen; im demokratischen Milieu, in den auf mehr oder minder freie 
Gefolgschaft aufgebauten Kampfesverbänden überwiegen, wenigstens 
in der eigentlichen Blütezeit, die nichtprofessionellen. Letztere sind 
in der Anfangsentwicklung festzustellen (z. B. in den Anfängen der 
Kiever Epoche und später bei den Kosaken- und Haidukenbanden 
und noch in jüngster Zeit in den letzten Herden volksepischer Tradition, 
in der Herzegovina und in Montenegro), erstere in der späteren 
Entwicklung, wenn sich in der Gesellschaft stärkere Bedürfnisse nach 
Sängern herausgebildet haben’). So in der Blütezeit des Kiever 
Staates, so in Novgorod, so in dem Moskauer Rußland des 15. und 
16. Jahrhunderts und bei den Ukrainern in diesen und in den folgen- 
den Jahrhunderten, so bei den Südslaven in neuerer Zeit. 

Bei den professionellen Sängern haben wir zu unterscheiden, ob 
sie zur Gefolgschaft, zum Hofstaat eines Herrschers, eines Bojaren, 
eines velikaš, gehören, also in einem mehr oder minder feudalen 
Milieu tätig sind, dementsprechend über eine bestimmte Bildung und 
gesellschaftliche Kultur verfügen, oder ob sie ganz im Volke leben, 
aus dem sie stammen, in ihrem geistigen Horizont sich nicht über 
das allgemeine Bildungsniveau erheben, von Markt zu Markt, von 
Dorf zu Dorf wandern und bei den gesellschaftlichen Zusammen- 
kunften singen: so die Sänger bei den Ukrainern am rechten Ufer 
des Dnépr, vor allem die Sänger aber bei den Südslaven unter der 
Türkenherrschaft und in neuerer Zeit. Alle diese Momente haben 
auf die Gestaltung, Umgestaltung, Auffassung und Formgebung der 
Lieder Einfluß. Von größter Bedeutung ist folgendes: Das Moment 
nämlich, ob der Sänger Teilnehmer der besungenen oder ähnlicher 


7) Der dalmatinische Literarhistoriker A. Petravié nimmt allerdings 
für das serbokroatische Gebiet an, daß schon in der Anfangsentwicklung 
an den Höfen der velikaši, des Hochadels, die djakoni, also gebildete, ge- 
schulte Kleriker, die das Amt von Sekretären innehatten, also die Schreib- 
geschäfte bei den des Lesens und Schreibens vielfach unkundigen Feudalen 
durchführten, als die ersten Schöpfer und Sänger bzw. Erzähler epischer 
Volkslieder anzusehen sind. Književni Sever IV, S. 295 ff. 


65 


Kämpfe war oder nicht, ob er also einen unmittelbaren seelischen 
Kontakt mit den besungenen Vorgängen hat oder nicht. Ist der Sanger 
Teilnehmer am Kampfe, sind die besungenen Geschehnisse oder ähnliche 
ihm selbst zum Erlebnis geworden, sind die Ideale, die in den Liedern 
verherrlicht werden, seine Ideale, ist er Glied der Kampfesgemein- 
schaft, und ist die heroische Lebensauffassung auch seine Lebens- 
auffassung, so sind einerseits seine Lieder viel frischer, lebendiger, 
unmittelbarer, anderseits ist die Souveränität des Umgestaltens, vor 
allem bei Vorgängen, die nicht sehr ferne liegen, beschränkter. Also 
die Lieder sind historisch wahrer, sie sind auch dichterisch wahrer. 
Aus dieser Voraussekung entstanden die schönsten und am unmittel- 
barsten wirkenden epischen Lieder der Slaven: So die Lieder, die in 
der Kiever Epoche in der družina (Gefolgschaft) des Fürsten ent- 
standen, der Zyklus der eigentlichen Bogatyrenlieder (Mittelpunkt 
Fürst Vladimir, die Haupthelden Jlja Muromjec, Dobrynja Nikitič, 
Aleša Popovič), so der schönste Teil der ukrainischen dumy, deren 
Inhalt und Form beweist, daß im Sänger das Bewußtsein des Schick- 
sals und der Aufgabe des Volkes, so wie auch die Ideale der Ko- 
saken lebendig waren; so die Gruppe der sogenannten historischen 
Kosakenlieder aus der Zeit der Wirren im 17. Jahrhundert, die die 
Kämpfe gegen den neuen moskowitischen Despotismus, die Er- 
oberung Sibiriens als Hintergrund haben, Lieder, in denen die Er- 
innerung an die waghalsigen Taten der Don- und Dnéprkosaken in 
den poetischen Zentralgestalten der Hetmane Ermark und Razin 
unmittelbarsten Ausdruck fanden. So auf jugoslavischem Boden die 
serbischen und bulgarischen Lieder, die geschaffen, erhalten und auch 
im Volk verbreitet wurden durch die Haidukenbanden und durch die 
Uskoken lin den westlichen, küstenländischen Gebicten*), Banden, 
die entstanden waren als eine Art nationaler Abwehrorganisationen 
gegen die Übergriffe und Gewaltiaten der türkischen bzw. vene- 
tianischen Machthaber und, begünstigt durch die heimische Bevöl- 
kerung, durch Jahrhunderte einen Franktireur-Krieg auf Leben und 
Tod führten. Wie stark die Kampfeslust, also der innere Kontakt zu 
dem in den Liedern besungenen Geschehen lebte, beweist uns unter 
anderen ein Fall, daß einer der bekanntesten Guslaren sofort, als er 
hörte, daß in Serbien ein Aufstand ausgebrochen sei, nach Serbien 
eilte und sich den Aufständischen anschloß. Daß bei diesem Ver- 
halinis des Sängers zum Geschehen das Lied auch eine tiefe sozial- 
ethische und nationalethische Bedeutung erlangte, beweisen uns die 
geschichtlichen Tatsachen’). 


8) Uber die Uskoken vgl. Ch. Segvié, junačka djela senjskih Uskoka. 
Zagreb, Kugli, Jahr?, ferner die neueste Zusammenfassung: O. Novak, 
Naše more, S. 173—205. Biblioteka jadranske Straze sv. 2, Split 1927—28. 


) Die außerordentlich groge sozial- und national-ethische Bedeutung 
des epischen Volksliedes formulierte vor kurzem der Montenegriner Novica 
Saulić, der das volksepische Schaffen an sich und in seinen Auswirkungen 
aus unmittelbarer Nahe genau kennt, mit den Worten: „Uz njih (uz gusle) 
zu pjevali opominjali narodu prošlost, junaštvo, čovještvo, muke i patnje, 
koje su podnosili pretci vijekovima. Budila se težnja za osvetom i za 


64 


In w ee cee ert A Al AAA A oo 


e.» ~ yù nn „Wa. M 


Das der eine Fall. Hat dagegen der Sänger keinen unmittel- 
baren seelischen Kontakt zum Geschehen, erschüttert ihn das be- 
sungene Geschehen seelisch nicht — wie es bei dem vorher be- 
sprochenen Typus der Sänger tatsächlich der Fall ist —, hat er dem- 
gemäß keine Ehrfurcht vor dem Besungenen, ist sein Hauptzweck, 
das Publikum zu unterhalten, so ist seine Stellung zur epischen 
Tradition eine andere, dem freien Schalten der Phantasie viel mehr 
Spielraum gegeben. Solche Sänger, fast immer Berufssänger, hören 
viele Lieder, viele Stoffe, verbinden Motive, übertragen solche, ver- 
binden älteres Geschehen mit neuem, typisieren die Gestalten und 
gewinnen stärkste Bedeutung für die Entwicklung der epischen Er- 
zählungstechnik. Ist das Lied in den Händen dieser Sänger, so ist 
das Stadium der Überwucherung der historischen Grundlagen des 
Liedes mit Motiven gegeben. Diesen Fall können wir am besten auf 
russischem Boden bei den skomorochy, im geringeren Umfange auch 
auf ukrainischem Boden bei den starci beobachten. Die skomorochy 
entsprechen im wesentlichen den westeuropäischen Spielleuten und 
stehen in den Anfängen auch in direktem Zusammenhang mit ihnen. 
Wir haben urkundliche Beweise, daß die Spielleute schon im 11. und 
12. Jahrhundert nach dem slavischen Südosten gekommen waren!“). 
In die Hände dieser berufsmäßigen Sänger, der russischen skomo- 
rochy, war die epische Überlieferung im Ausgang der Kiever Epoche 
im 13. und 14. Jahrhundert übergegangen. Sie waren Sänger, Schau- 
spieler, Jongleure, Musikanten und Tänzer in einer Person und 
spielten vor allem in der Moskauer Epoche im 15., 16. und 17. Jahr- 
hundert eine große Rolle. Sie spielten nicht nur an den Höfen der 
Zaren, sondern auch in den reichen Bürgerhäusern der großen Han- 
delsstadte, wie in Novgorod. Bei ihnen stand im Vordergrund die 
zanimatel’nost’, das Interessante, die Unterhaltung. Sie sangen, was 
gefiel, wodurch der Anreiz zur willkürlichen Umgestaltung, zum 
Hineintragen von Unerhörtem und Neuem, aber Interessantem, im 
größten Umfange gegeben war. Damit entstanden die Bylinenfabeln, 
die Bylinenmärchen, die in der russischen epischen Volksdichtung so 
charakteristisch sind. Als die skomorochy im Laufe des 17. und 18. 
Jahrhunderts durch die wiederholten Ukazy (Erlasse) des Stoglavy 
Sobor (Hunderterrat) immer mehr verfolgt wurden — nach der offi- 
ziellen kirchlich byzantinischen asketischen Auffassung war ihr Tun 
gotieslasterlich —, verschwanden sie immer mehr aus den städtischen 
Zentren, ein Teil ging zu den Donkosaken, bei denen sie ihre Tätig- 
keit fortsetzen konnten, ein Teil verkam als Landstreicher, ein Teil 
ging im Volke auf, und ihre Nachkommen waren als durch ihre 


slobodom; gusle su narodu davale nadu na bolju budućnost, a pjesma 
slobode i junaštva, udruživala je sve one 310 pate u slogu. . .. One (gusle) 
su održale u narodu vjeru, slobodu i hrabrost. Dokoljenje su se zapajala 
junackom slavom.“ Knyjiz. Sev. IV, S. 316— 17. 

_ 10) Bezeichnungen joculatore (€ech., poln.), vaganti, žáci (djaci) (Cech.), 
Spilmani (südslav). In einer kirchenslavischen Nomokanonübersetzung findet 
ar oo der Ausdruck Spilman. Vgl. V. Jagić, Rad jsl 


SNF 5 65 


Sangeskunst angesehene und zur Intelligenz gerechnete Sänger von 
Volksliedern in den großrussischen Gebieten, in denen sich im 
19. Jahrhundert die russischen Bylinen noch am besten erhalten 
hatten, in den abgelegenen verkehrsarmen, waldreichen Gouver- 
nemenis Archangelsk, Olonec noch anzutreffen. — Ein etwas anderes 
Moment brachten die Entwicklung der westukrainischen dumy die 
Sänger, genannt starci, nišča bratija, fahrende Pilger, die unter dem 
Schutze der Kirche standen und in den neben den Kirchen gebauten 
Spitali und Schulen ihr Unterkommen fanden. In diesen Spitälern 
und Schulen entstand ein halb volkstümliches, halb literarisches 
Milieu, welches die Interessen der Geistlichkeit, der Kosaken und 
der gesamten Bevölkerung vereinte. Aus diesem Milieu gingen auch 
Schöpfer und Sänger von dumy, die erwähnten starci (Greise) 
hervor. Diese starci haben ursprünglich Psalmen im Volke gesungen, 
welcher Umstand auch auf die Konstruktion der dumy einwirkte. 
Aus dieser engen Verbindung zwischen Kirche und nationalem 
Volksgesang im 15. und 16. Jahrhundert ist auch die tiefe religiöse 
Grundeinstellung in den dumy dieser Zeit verständlich, ferner der 
Einfluß des Kirchengesanges in der Melodie. 

Auch die soziale Stellung und Wertung des Sängers spielt eine 
Rolle in der Entwicklung der Volksdichtung: Wir wissen, daß in der 
jugoslavischen Volksepik in der ersten Zeit Mitglieder angesehener 
Klassen und Geschlechter als Sänger auftreten. Im allgemeinen 
können wir feststellen, daß in den Anfängen und in der Blütezeit der 
Sänger sich großer Achtung erfreut: so in der Kiever Epoche, in Nov- 
gorod, im Kosakenstaat, so unter den Hajduken und Uskoken, so bis 
in die neueste Zeit noch in den südslavischen Gebieten, in denen die 


11) Wie ich durch den RomanistenF.Schürr gelegentlich erfuhr, spielten 
die Spitäler auch in der Entwicklung der französischen Volksepik eine ähn- 
liche Rolle. Die Bedeutung der herumziehenden Bettelmonche, die nach 
einer Mitteilung des Historikers Prof. N. Radojčić (Ljubljana) gewisser- 
maßen als Gegenleistung für die Gabe auch epische Lieder sangen, müßte 
noch näher untersucht werden. Auch die Rolle der bosnischen Franzis- 
kaner, die in den Jahrhunderten der Turkenherrschaft nicht nur geistliche 
Hirten, sondern durch ihre Verbundenheit mit dem Volke — zum Unter- 
schiede von den Jesuiten — und durch ihre volksnahe Haltung auch national- 
politische Anwälte der Interessen des Volkes waren (vgl. die literarisch- 
künstlerische Gestaltung dieser Tatsachen und Verhältnisse in den Werken: 
S. Matavulj, Bakonja fra Brne; D. Simunovic, Kukavica; lvo- 
Andrić, U zindanu) darf nicht übersehen werden. Uber die Kultur- 
bedeutung der bosnischen Franziskaner vgl. J). Jelenić, Kultura i bosanski 
franjevci. I, Il. Sarajevo 1915. 

Auf die Annahme des dalmatinischen Literarhistorikers A. Petravié, 
(Split), daß geschulte Kleriker, die die klassische und vielfach auch die zeit- 
genossische westeuropäische Literatur kannten, also die djakoni in den 
ältesten Epochen der jugoslavischen Volksdichtung auch als Verfasser 
epischer Volkslieder fungierten, wurde schon hingewiesen. — Durch all 
diese Tatsachen wird einerseits die tiefreligiöse Grundauffassung der Ge- 
schehnisse und des Lebensschicksals, die in so vielen Liedern zu beobachten 
ist („sve je sveto i Cestito bilo — i milome Bogu pristupaëno“] verständlich, 
anderseits das Hereinströmen von literarischen Stoffen aus der kirchlichen 
Legendenliteratur wie aus der klassischen und westeuropäischen Literatur. 


66 


8 — Pen —— — — — . — a =. um 


epische Volksdichtung noch wirklich lebt und nicht nur vegetiert**), 
daß seine Stellung in der weiteren Entwicklung sinkt, bis schließlich 
in den Zeiten des Niederganges, wenn es im Volke einmal heißt (., iz 
mode izašlo“) Blinde und Bettler als Sänger auftreten. Wenn Frauen 
als Sängerinnen epischer Lieder auftauchen, wie es in Syrmien, Ser- 
bien im letzten halben Jahrhundert zu beobachten war, so ist das ein 
sicheres Zeichen des Niederganges der epischen Volksdichtung. — 
Zusammenfassend können wir über die Bedeutung des Faktors 
Sänger in der Entwicklung der epischen Volksdichtung sagen: Die 
Sänger bringen das gemeinsame Erlebnis in dichterische Form, sie 
sind Schöpfer der Lieder, Träger und Verbreiter der epischen Tra- 
dition. Ihr Werk ist die immer stärkere Poetisierung des Stoffes und 
der Gestalten der Helden, die Zyklenbildung, die Ausbildung der 
epischen Technik. Sie sind es, die fremde Motive und Elemente 
hineintragen und verarbeiten, eventuell auch literarische Motive. So 
kamen durch Novgoroder Sanger Sagenmotive der deutschen Volks- 
dichtung (Ortnitsage) infolge der starken Beziehungen Novgorods 
mit den deutschen Hansastadten in die russische Volksdichtung, so 
kamen durch dalmatinische Sänger auch literarische Motive und Stoffe 
in die volksepische Tradition. 

Soviel über den Faktor Sänger. Nun wissen wir, daß der Sänger 
epischer Lieder seine Lieder nicht zu seinem Vergnügen singt, son- 
dern für ein Publikum, für Zuhörer. Für die Beurteilung des Faktors 
Publikum hat uns folgende Erwägung als Ausgangspunkt zu dienen: 
Willi Flemming bemerkte in seiner interessanten Schrift über Epik 
und Dramatik:®), in der er den Versuch einer Wesensdeutung dieser 
beiden literarischen Grundformen unternimmt, ganz richtig, daß zur 
epischen Ursituation zwei gehören: der Erzähler und der Zuhörer, 
und führt als eine derartige Ursituation die an, wie die Mutter oder 
die Großmutter den Kindern Märchen erzählt: „Es war einmal usw.“. 
Nun lehrt die alltägliche Erfahrung an Kindern, denen man aus dem 
Gedächtnis, also mit eventuellen kleinen Veränderungen, Märchen 
oder Geschichten mehrmals erzählt, daß die Kinder, also die Zu- 
hörer, in gewissem Grade einen gestaltenden Einfluß ausüben, eine 
Art Korrektiv darstellen, zumal der Stoff ja für diese Zuhörer den 
inneren Wahrheitswert besitzt. Ebenso besitzt, wie John Maier schon 
feststellte, für das naive Bewußtsein des Volkes — das, nämlich die 
mythische, noch nicht rationalistisch-kritische Geisteshaltung**), ist ja 


12) Die junge Frau des Hauses, in dem epische Lieder vorgetragen 
bzw. gesungen werden, küßt dem Sänger, bevor er die Gusle, das Begleit- 
instrument, in die Hand nimmt, die Hand und bedient stehend den Sänger 
während der ganzen Zeit des Vortrages bzw. während der Unterbrechungen. 
Vgl. N. Saulić, KnjiZ. Sever IV, S. 3 


13) W. Flemming, Pm und N Wissen und Wirken. 27. Bd. 
G. Braun, Karlsruhe 1925 


14) Vgl. allgemein über den Charakter der Sprache, Literatur und 
Kunst in dieser Entwicklungsepoche der Völker: Mantis (Pseudonym), Die 
Geseke der Weltgeschichte. 4. Teil: Der literarische und sprachliche Lebens- 
lauf der Völker. Altona 1927. 


67 


auch eine Voraussekung des Bestandes der epischen Volksdichtung — 
der sagenhafte Bericht des epischen Liedes stets die innere histo- 
rische Wahrheit. Ein unmittelbares Beispiel: Als gelegentlich des 
Vortrages einer Byline im Olonecer Bezirk im Norden Rußlands ein 
gebildeter, skeptizistisch eingestellter Zuhörer Zweifel darüber 
äußerie, daß die alten Bogatyre solche Taten vollbringen konnten, 
sagten ihm die dortigen Leute: „Ja, in früherer Zeit waren eben die 
Leute anders.“ 

Die Existenz eines epischen Volksliedes, seine Verbreitung und 
Erhaltung ist wesentlich durch das Interesse der Zuhörer bedingt. 
Fesselt ein Lied durch Fremdheit des Anschauungskreises und der 
Grundauffassung das Interesse der Zuhörer nicht, so erhält es sich 
nicht oder es muß vom Sänger derartig umgeformt werden, daß es 
dem Interessenkreise des Publikums entspricht‘). Dafür haben wir 
Beweise aus dem gesamten slavischen Gebiet. Ein Beispiel: Während 
die russischen Bylinen von den Bogatyren, in denen die Kämpfe mit 
den Tataren, also ein für das ganze russische Volk bedeutungsvolles 
Erlebnis, Allgemeingut der gesamten russischen Volksepik wurden, 
gingen die Lieder des Novgoroder Zyklus, in denen die wesentlichen 
Lebenserscheinungen der Novgoroder Republik poetische Gestaltung 
gefunden hatten: so einerseits der Reichtum und der Lebensaufwand 
der freien Handelsstadt, anderseits der Unternehmergeist und die 
Zügellosigkeit der Kriegsleute, der Fuhrer der kühnen Handels- und 
Eroberungsfahrten in die fernen Länder — nicht über den Novgoroder 
Kulturrayon hinaus. 

Der Grad des Interesses des Publikums ist am stärksten, wenn 
die Zuhörer entweder selbst an den besungenen oder ähnlichen Ge- 
schehnissen beteiligt waren, wenn sie ständig vor die Ausführung 
ähnlicher Taten gestellt werden konnten, kurz wenn das im Liede 
verkörperte Kampfesethos auch ihren Lebensinhalt darstellt. Diesen 
Fall haben wir in den Anfangsstadien und in der stärksten Blütezeit 
der Volksepik: In den DruZinen des Kiever Rußlands, in den Kosaken- 
abteilungen, in den DruZinen der bosnischen, herzegovinischen Agas 
und Begs, in den bulgarischen und serbischen Haidukenbanden, bei 
den dalmatinischen Uskoken, in den freien Dörfern der Militärgrenze, 
in den patriarchalischen, sozialen und Kampfesverbänden in Monte- 
negro und Sudserbien. — In der weiteren Entwicklung kann das 
Interesse eines nicht unmittelbar kriegerischen Publikums auch auf 
eine gewisse nationalhistorische, nationalpatriotische Tradition 
zurückgehen. So bei den Kosaken, so bei den Serben. Bei den 
Serben hielten die Kirche und die Klöster die Erinnerung an die alten 


18) Die große, entscheidende Bedeutung des Publikums für die innere 
und äußere Gestaltung des epischen Liedes betont ganz im Sinne meiner Auf- 
fassung auch N. Saulić: „Učesnici kako u ideji postanka pjesme, pravcu, 
osjećanju, njenom izlaganju, jeste sredina u kojoj pala misao za sastav 
piesme. Krug taj moze biti širi ili uži, ali skoro po pravilu zajednički.“ — 
„Narodna pjesma i samim postankom svojim vodila je računa o sivarnom 
i istinskom osjećaju i da bude izraz vremena, duha, opšłeg uverenja i 
shvatanja cjeline.“ Knjiž. Sever IV. S. 311, 312. 


68 


serbischen Herrscher der Glanzepoche im Volke wach. In den Klöstern 
befanden sich die Bilder dieser Herrscher, in den ständigen kirch- 
lichen Gebeten wurde der alten serbischen Herrscher stets gedacht.“). 
Ebenso gedachten die Franziskaner in Bosnien öffentlich in der Kirche 
der im Kampfe für die Heimat um die christliche Sache gefallenen 
heimischen Helden. 

Sehen wir also, daß das Interesse der Zuhörer eine wesentliche 
Voraussekung für die Entwicklung und Erhaltung der epischen Volks- 
dichtung ist, so drängt sich die weitere Frage auf, ob und inwieweit 
die Zuhörer auf die Gestaltung der epischen Lieder Einfluß ausüben. 
Wir haben direkte Beweise aus dem südslavischen Gebiet“) dafür, 
daß das Publikum auch einen gestaltenden Faktor darstellt; daß es 
z. B., wenn ihm etwas nicht richtig erscheint, den Sänger unterbricht: 
„Tako nije bilo“ (So war es nicht). Wir wissen ferner, daß die Sänger 
inhaltliche Anderungen vornehmen je nach der Zusammensetzung 
ihres Publikums (ob Orthodoxe, Katholiken oder Moslims), um nicht 
die Gefühle des Publikums zu verlegen. Wir wissen, daß ein und 
derselbe Sänger, wenn er nicht schon zum gewöhnlichen Rezitator 
herabgesunken ist, der nur trocken, gedächinismäßig ein Lied vor- 
trägt, sondern wenn er noch volksepischer Sänger, also Gestalter ist, 
ein und dasselbe Lied innerhalb 24 Stunden nicht ganz gleich wieder- 
holt, daß er sogar Anderungen, Kürzungen und Erweiterungen vor- 
nimmt, je nachdem das Publikum Zeit zum Zuhören hat’). Das ein- 
zige Feste ist ihm in der Blüteentwicklung nur das Mosaik formel- 
hafter Wendungen und Beschreibungen“). — Wir erfahren aus den 
westukrainischen Gebieten, daß die Kobzaren durch das Publikum 
gegen ihren eigenen Willen mehr oder minder gezwungen wurden, 
andere Stoffe zu bringen, in einer Zeit, als die Tatareneinfälle und 


16) Vgl. Vas. Marković, Klitori, njihove du2nosti i prava. Prilozi 
za književnost, jezik, istoriju i folklor Knj. V (1926), S. 100—24, bes. 1235—24. 


17) Mitgeteilt von M. Murko in den eingangs erwähnten „Berichten“. 


18) N. Saulić behauptet sogar, daß die Entstehung der Kurzform, des 
deseterac, sowie die kürzere Fassung von Liedern, durch das soziale Milieu, 
in dem das Lied vorgetragen wird, durch die Zuhörer bedingt sei. „Razlog 
kraćem obliku jesu sama sredina, njihova cilj s obzirom na vrijeme i stanje 
usw. Knjiž. Sever IV. S. 314. Damit wäre ein Gro§teil der seinerzeitigen 
Annahmen A. Soerensens, A. f. sl. Ph. XV, S. 1 fl., S. 204 fl., hinfällig. 


19) Wie weit in einem sozialen Milieu, in dem die epische Volksdichtung 
noch frisch lebt, die Kenntnis dieser formelhaften Wendungen und Be- 
schreibungen, kurz der epische. Stil, in das sprachliche Bewußtsein des 
betreffenden Volkskreises eindringt und damit geradezu sprachliches Ge- 
meingut wird, zeigt die Mitteilung von Nov. Saulić, daß er in der Her- 

vina und im Sandžak vor kurzem noch wiederholt Leute angetroffen 

die imstande waren, irgendein Geschehnis ex tempore im Stil und in 
ythmik der epischen Volkslieder wiederzugeben. Vgl. Knjiž. Sever IV, 
S. 319. Wie ich auf meiner letzten Studienreise an der süddalmatinischen 
Küste durch einheimische Oewährsmänner erfahren konnte, wurden und 
werden in der Nordwesiherzegovina auch Geschehnisse der neuesten Zeit, 
der Umsturz 1918, die politischen Parteikämpfe, Gemeinderatswahlen, ja 
sogar der letzte politische Systemwechsel im Jänner 1929 u. a., in Liedern 
im Stil der epischen Volkslieder besungen. 


69 


die Kämpfe gegen die Türken keine unmittelbare Aktualität mehr 
besaßen, dafür aber die sozialen Kämpfe im Vordergrund des Er- 
lebnisses standen, die Kämpfe gegen die vordringenden polnischen 
Grundherren, gegen die 3ljachta (vrazja panS¢ina wird sie gelegent- 
lich in einem Liede genannt), die systematisch darangingen, die 
bisher freien Kosaken zu Leibeigenen und Hörigen zu machen, ferner 
die sozialen Kämpfe gegen die Juden, die Gewerbe, Handel und 
Zölle in ihre Hände bekommen hatten und daher als sozial drückendes 
Element empfunden wurden. Damit wurden die Heroen der dumy 
der alten Zeit stufenweise in den Hintergrund gedrängt. 

Wir wissen, daß die skomorochy am Hofe lvans des Schrecklichen 
die Besingung der Kämpfe um die Ausgestaltung des Reiches, vor 
allem um die Eroberung Sibiriens, die Kämpfe gegen die Kosaken 
im offiziellen staatspolitischen Sinne gestalten mußten, daß der frei- 
heitliche Geist, der in den alten Bogatyrenliedern der Kiever Epoche 
herrschte, der absolutistischen Auffassung des samoderZavie nicht 
willkommen war und revolutionär klang; daß aber diese gleichen 
Sänger, als sie nach der Vertreibung mit ihrem Repertoire zu den 
Kosaken flüchteten, sich der entgegengesebten, selbstbewuBten frei- 
heitlichen Auffassung, der Zensur der neuen Zuhörer, unterwerfen 
bzw. anpassen mußten. So mußten die Sänger, wenn sie in den 
folgenden Jahrhunderten auf den russischen Gutshöfen sangen, ihre 
Auffassung der sozialen und politischen Auffassung dieser Zuhörer 
anpassen. Wir finden ferner auf jugoslavischem Boden in der Auf- 
fassung des angeblichen Verrates, des izdajstvo Vuka Brankoviéa 
(Bog ubio Vuka Brankoviéa! — On izdade tasta na Kosovu, — 
l odvede dvanaest hiljada, — Braćo moja, ljutog oklopnika. — 
Proklet bio i ko ga rodio — Prokleto mu pleme i koleno! — 
Kosovski boj), daß die Opportunitatspolitik gegenüber den Türken, 
die übrigens nicht vereinzelt war, in den Liedern nicht sanktioniert 
wurde. Ein Beweis dafür, daß die Lieder in den serbischen Feudal- 
kreisen entstanden, die auf dem intransigenten Kampfesstandpunkt 
standen). 

Als die Serben durch das immer stärkere Vordringen der Türken 
sich aus ihren früheren Siedlungen in Südserbien nach Norden und 
Westen verschoben, nach Kroatien, Slavonien, Dalmatien und Sud- 
ungarn, hatten sie die epische Überlieferung über die Kämpfe der 
ersten Jahrhunderte der Türkeneinfälle mitgebracht. In den neuen 
Kämpfen von dem neuen Siedlungsgebiet aus, in denen sie zusammen 
mit den Kroaten jahrhundertelang in Angriff und Abwehr bluteten, 
traten neue historische Personen und Ortlichkeiten in den Mittelpunkt 
des Interesses, und wir sehen jetzt, wie die Gospoda Ugričići (die 
ungarischen Herren: Sibinjanin Janko, Svilojevié u. a.) in den Liedern 
in den Vordergrund traten. Ahnliches können wir bei den Uskoken 
in Dalmatien beobachten. 

Daß die Zusammensekung und die soziale Stellung des Publikums 


10) Vgl. M. Savkovié, Narodne pesme kao dokument za socijalni 
Zivot u een veku. Knjiz. Sever IV, S. 302. 


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auf die soziale Auffasung der Helden einwirkt, dafür haben wir eine 
Reihe von Belegen. Nur ein Beispiel: Ilja Muromjec, die am stärksten 
verbreitete Heldengestalt in der russischen Volksdichtung, wird in 
der Kiever Epoche als Bogatyr, als Herr von hoher Abkunft dar- 
gestellt, in der Zeit der Wirren im 17. Jahrhundert ist er bereits der 
alte Kosak (,staryj kazak“), damit Prototyp einer ganz anderen 
Klasse, des freien Kampfes im Kreise der tovary3i, der Kameraden, 
für Freiheit und Unabhängigkeit. Später, als im 18. Jahrhundert die 
Kosaken vernichtet und in den Städten eine neue Kultur sich zu ent- 
wickeln begann, in der kein Platz und kein Verständnis mehr für die 
alten Heldenlieder war, und die epischen Lieder in den abgelegenen 
nördlichen Bauern- und Fischerdörfern die letzte Heimat gefunden 
hatten, wird dieser gleiche Ilja Muromjec zum krestjanski syn, zum 
Sohn einfacher Bauersleute, in dem der Glaube an die ewigen Kräfte 
des Volkes Verkörperung fand’). Vir sehen an diesem Beispiel, 
wie stark die Assimilationskraft des Publikums gestaltenden Einfluß 
nimmt. Auch in der südslavischen Volksepik sehen wir einen ähn- 
lichen Weg der Demokratisierung der Helden. In den Kampfesver- 
bänden der Kosaken und Haiduken, die wesentlich auf Kameradschaft 
aufgebaut waren, ist der Held des Liedes der Kamerad, der Mann 
aus dem Volke, der nur durch seine Tapferkeit und Stärke hervorragt. 

Zusammenfassend können wir feststellen, daß die Existenz, die 
Verbreitung und die Erhaltung der Lieder von dem Interesse der 
Zuhörer abhängig ist, daß die Zuhörer einen gestaltenden Einfluß 
auf die Stoffauswahl und auf die Grundauffassung ausüben. 

Es wäre noch die Frage zu beantworten: WelcheFaktoren 
erhalten und gestalten das Interesse des Pu- 
blikums? 

Das Interesse des Publikums ist bedingt und wird wachgehalten 
durch das Vorhandensein und den Charakter des epischen Milieus. 
Unter epischem Milieu verstehen wir das Bestehen derartiger Lebens- 
verhältnisse, die den in den Liedern geschilderten Vorgängen, Hel- 
dentaten, Kämpfen und Leiden ihrem Gehalte nach Aktualitats- 
charakter verleihen, daß sich also derartige oder ähnliche Gescheh- 
nisse jederzeit erneuern können, daß der einzelne Zuhörer jederzeit 
in Situationen kommen kann, Ähnliches zu vollbringen oder Ahn- 
liches zu erleiden: Also, um nur zwei Fälle zu bringen, die typisch 
sind für Tausende durch Jahrhunderte wirklich geschehene Fälle, daß 
ein Serbe oder Bulgare, der, um die eigene Ehre, die seiner Familie, 
seines Weibes und seiner Töchter, kurz um die eigenen primitivsten 
Menschenrechte vor den frechen Zugriffen der türkischen Herren und 
ihrer Söldlinge zu schüßen, einen oder mehrere der Frechlinge über 
den Haufen schießt und dann gezwungen ist, um nicht gefoltert und 


21) Es tritt hier die gleiche Auffassung zutage, wie sie in dem Gedicht 
Dehmels „Anno domini 1812“ poetisch gestaltet wurde: 
„Aber unser Mütterchen, das heilige land, 
Hat viel tausend, tausend stille, warme Herzen: 
Ewig, ewig blüht das Volk!“ 


71 


gepfählt zu werden, in die Berge und Wälder als Haiduk oder als 
Uskok über die Grenze zu flüchten und ein Franktireurdasein zu 
führen®). Oder ein typisches Beispiel aus den ukrainischen Ver- 
halinissen der Tataren- und Türkenzeit: Durch Jahrhunderte wußten 
und fühlten die Zuhörer der dumy, daß jederzeit auch ihre Hütte von 
den hereinstürmenden Tataren niedergebrannt, die Männer als 
‚Galeerensklaven verkauft und geblendet, die Frauen und Mädchen 
den Soldaten preisgegeben und schließlich auf den kleinasiatischen 
Sklavenmärkten landen können. 

Es laßt sich für den Gesamibereich der epischen Volksdichtung 
der Slaven feststellen, daß die Blütezeit derselben tatsächlich mit 
dem Vorhandensein, mit der Dauer des epischen Milieus zusammen- 
fallt. Das epische Milieu dauerte im allgemeinen im südslavischen 
Teil vom 14. bis zum 19. Jahrhundert (für die nördliche und westliche 
Zone nur bis zum 18. Jahrhundert, für das eigentliche Serbien bis 
in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, für Bosnien und Bul- 
garien bis in die 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts, für einige Ge- 
biete Mazedoniens, für den Herd der heutigen Komitatschibanden, 
und für Montenegro bis ins 20. Jahrhundert), für den ostslavischen 
Teil vom 11. bis zum 17. bzw. 18. Jahrhundert. Die letzten Ereignisse, 
die auch eine Reihe von neuen russischen historischen Liedern her- 
vorriefen, waren die Maßnahmen gegen die Kosaken, gegen die 
Schüßen (strelci) und gegen die religiösen Sekten. 

Für die Gestaltung und Entwicklung der epischen Volksdichtung 
selbst sind der spezielle Charakter und die Veränderungen des 
epischen Milieus von Wichtigkeit, ferner die Art, in welcher das 
epische Milieu im Bewußtsein des Volkes aufscheint und zum Er- 
lebnis wird. In dieser Hinsicht können wir folgendes feststellen. 
In bezug auf die Aktualität der Kampfe und der geschilderten Vor- 
gänge sehen wir, daß zwar im allgemeinen blutige, kriegerische 
Kämpfe und Heldentaten im Vordergrunde stehen. Doch finden wir 
unter den russischen Bylinen auch eine ganze Gruppe, die vor- 
wiegend im Novgoroder Milieu entstand und weniger kriegerisch- 
heroischen als vielmehr novellistischen Charakter hat, in denen die 
Schilderung großen Reichtums und Aufwandes, die Schilderung von 
Streitigkeiten zwischen städtischen Familien, Liebesaffaren, Braut- 
raub, Frauenraub mit den dazugehörigen Kämpfen im Vordergrund 
stehen, also Ausdruck eines Milieus, das nicht mehr im engeren 
Sinne als heroisch bezeichnet werden kann. Da jedoch auch in 
diesen städtischen Kreisen vor allem im 13., 14. und 15. Jahrhundert, 
in der Blütezeit des Novgoroder Staditstaates, der alte Wikingergeist 
lebendig war, war auch hier das Milieu zur Entwicklung einer 
epischen Volksdichtung gegeben. 

Bei der Beirachtung des besonderen Charakters des epischen 
Milieus und seiner Bedeutung für die epische Volksdichtung schen 


33) Vgl. als Beispiel die Erzählung des Hajduken Starina Novak, wie er 
Hajduk geworden ist, in dem serbokroatischen Lied: Starina Novak i knez 
Bogosav. (Bei Vuk VII, S. 345 eine Variante: Sa Sta Novak ode u hajduke.) 


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wir ferner, daß nur eine bestimmte Art von aktuellen Kämpfen und 
Heldentaten, eine bestimmte Art der Kampfesmöglichkeit als aus- 
losendes Moment für die Entstehung, Erhaltung und Weiterbildung 
der Volksepik wirksam wird. Die soziale Ordnung muß eine der- 
arhge sein, daß für den einzelnen Betätigungsmöglichkeiten für in- 
dividuelles Heldentum und für individuelle Befriedigung der Taten- 
lust vorhanden ist. So in der Kiever Epoche im Rahmen der Gefolg- 
schaft des Fürsten, so bei den Kosaken und Haiduken, so im freien 
Montenegro. Tatsächlich können wir feststellen, daß die Kosaken- 
und Haidukenabfeilungen in ihrem Blütezustand als die stärksten 
Pflegestätten epischer Volksdichtung fungierten®). Dagegen bildet 
die Teilnahme am Kampfe in der auf strenge Unterordnung auf- 
gebauten regulären Armee kein episches Milieu, das derartige Emo- 
tionen auslösen würde, die das Interesse und die Produktion epischer 
Lieder fördern würden. Als die Reformen Peters des Großen zur 
Aufstellung einer regulären Armee führten und damit die alten 
Kosakenabteilungen und Schüßenabteilungen größtenteils durch Ge- 
walt in das neue System eingegliedert wurden, verfielen die alten 
historischen und epischen Lieder in diesem Milieu quantitativ und 
qualitativ rapid. Die Ereignisse und Kriegszüge des 19. Jahrhunderts 
erweckten kein Echo mehr. Das Volk nahm an ihnen passiv teil. 
Ähnliche Beobachtungen können wir in der ukrainischen und süd- 
slavischen Volksdichtung machen. 

Diese Beobachtungen zeigen uns, daß ein bestimmter Grad per- 
sönlicher Bewegungsfreiheit, sozialer und wirtschaftlicher Freiheit 
als Vorbedingung für das in den epischen Liedern durchwegs zu- 
tage fretende Selbsibewußtsein notwendig ist, daß wirtschaftliche 
und soziale Hörigkeitsverhältnisse wie die Leibeigenschaft der 
Weiterentwicklung der Volksdichtung nicht günstig sind. Das beweist 
uns die Tatsache, daß sich die Heldenlieder am längsten und besten 
in den Gebieten erhalten haben, in denen diese individuelle Be- 
wegungsfreiheit gegeben war, so z. B. in den herzegovinischen 
Bergen und in den freien Steppen der Donkosaken. Das beweist 
uns ferner die Tatsache, die wir bei den Großrussen und Ukrainern 
beobachten können, daß das ukreplenie, die Einführung der Leib- 
eigenschaft im Moskauer Staat, zerstorend auf die Verbreitung und 
Weiterentwicklung der epischen Volksdichtung einwirkt. Als in der 
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die letzten Reste der freien 
Ukraine und des Hetmanats vernichtet waren, die Leibeigenschaft 
nach dem Muster der übrigen russischen Gebiete eingeführt und 
damit auch die soziale Freiheit vernichtet war, folgte ein Rückgang 
und Niedergang der epischen Volksdichtung, während die Kämpfe 
des 17. Jahrhunderts bei den freien Kosaken noch ganze Zyklen von 
Liedern hervorgebracht hatten. Wir haben leider keine historische 
Geographie der Verbreitung der einzelnen Lieder, aber die Auf- 
zeichnungen auf dem russischen Gebiet im 19. Jahrhundert zeigten, 


ss) Näheres darüber werde ich in der angekündigten Studie vorbringen. 


75 


daß sich Bylinen nur dort erhalten hatten, wo eine relative soziale 
Freiheit bestand]. 

Wir sehen ferner, daß auch die Aktualität speziell sozialer 
Kämpfe und Bedrückungen beim Vorhandensein einer starken Tra- 
dition ehemaliger Freiheit Ausdruck in der epischen Volksdichtung 
finden kann. Im 17. Jahrhundert sette in der Chmelnicky-Epoche 
bei den westlichen Ukrainern ein sozialer Umbildungsprozeß, damit 
ein sozialer Kleinkrieg der Kosakenbevölkerung gegen die neuen 
polnischen Grundherren und die Juden ein, ein Kleinkrieg, der be- 
kanntlich mit der politischen und sozialen Unterwerfung der Bevöl- 
kerung endete. Diese sozialen Reibereien führten zur Entstehung 
einer ganzen Reihe neuer, in der Schilderung der Verhältnisse un- 
gemein lebenswahrer und erschütternder Dumen. Das Interesse des 
Publikums an den heroischen Taten der alten Helden geht zurück, 
damit auch das heroische Element. Im Sänger und im Publikum 
kommt eine skeptische Grundeinstellung gegenüber den heroischen 
Heldentaten zum Vorschein. Mit dem Fortschreiten des Druckes der 
Leibeigenschaft, die für die einst freien Kosaken hundertfache Ver- 
letzung ihrer primitivsten Menschenrechte durch die neue Herren- 
schicht bedeutete: die Männer wurden geprügelt, die Frauen und 
Mädchen waren den Gelüsten der neuen Herren ausgeliefert — be- 
stand im Volk kein anderes Interesse mehr, als das an der Linderung 
der sozialen Not. 

Ein weiteres Moment bildet die Ethik des Kampfes: Wir können 
beobachten, je höher die ethische Sanktionierung des Kampfes durch 
religiöse, soziale oder nationale Motive ist, desto stärker die ge- 
staltende Kraft. Also das Bewußtsein, gegen die Heiden, gegen die 
Feinde des christlichen Glaubens zu kämpfen, gegen Tataren und 
Türken: Das Bewußtsein, Verteidiger, Anwalt der Freiheit des Volkes, 
sowie sein Rächer zu sein. 


4) Sehr interessante Aufschlüsse über die Bedeutung des epischen 
Milieus bringen auch die Ergebnisse der Forschungen über den gegen- 
wärtigen Stand der russischen Volksdichtung in den nordrussischen Ge- 
bieten, die die Brüder Sokolov in den letzten Jahren anstellten. J. So- 
kolov war in der Lage, im Gouvernement Olonec noch zirka 300 Bylinen 
von den alten Bogatyren, durchwegs gesungen bzw. rezitiert von alten 
Sängern (meist über 60 Jahre alt), aufzuzeichnen. Dabei war festzustellen, 
daß die Bylinen mehr realistischen, novellistischen Charakters, in denen 
Liebesaffären und Probleme des familiären und sozialen Lebens im Vorder- 
grund stehen, bevorzugt werden, während die Lieder mit phantastischem 
Inhalt, die Kämpfe der Helden mit Drachen usw. immer weniger Interesse 
finden. Auch in den Märchen ist ein Vordringen der realistischen, satirischen 
und humoristischen Elemente zu beobachten. Also auch hier eine fort- 
schreitende Verdrängung der mythischen Dan houng der Frühentwick- 
lung durch die beginnende Rationalisierung und Intellektualisierung der 
Sozialpsyche, damit ein Vordringen, ein stärkeres Bewußtwerden der Tat- 
sachen des realen Lebens. 

_ ‚Für den Niedergang der epischen Volksdichtung auch in diesen Ge- 
bieten ist die Tatsache charakteristisch, daß die jungen Leute von den 
Bylinen keine Ahnung haben und auch wenig Interesse, so daß Sokolov 
zum Schlusse kommt, daß auch hier die Bylinenproduktion in 10—15 Jahren 
ihr Ende finden wird. 


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Im allgemeinen können wir feststellen, daß in der Blütezeit der 
epischen Volksdichtung eine heroische tragisch-schicksalsmäßige 
Auffassung des Geschehens und des Lebens zu beobachten ist. 
Gerade die südslavische Volksepik, in der bei der langen Dauer und 
der relativen Gleichartigkeit des epischen Milieus in dieser Hinsicht 
bessere Beobachtungen zu machen sind, da hier der Umgestaltungs- 
prozeß nicht so weit fortgeschritten ist wie in der russischen Bylinen- 
dichtung, enthält einzigartige Lieder tragisch heroischer Lebens- 
auffassung®). 

Die Grundauffassung in den Liedern wird auch beeinflußt durch 
das Moment, ob die Bevölkerung mehr aktiv oder passiv die Ereig- 
nisse hinnimmt bzw. hinzunehmen gezwungen ist: Ein Vergleich 
zwischen den südslavischen Heldenliedern, in denen eine trobige 
aktivistische Haltung vorwiegt (Beispiele: Starina Novak, Stari 
Vujadin) mit den ukrainischen Dumy der Tatarenzeit, in denen eine 
elegische, fast lyrische Grundnote vorwiegt, zeigt uns die ver- 
schiedene Reaktion. 

Was die Nachwirkungen der Veränderung des epischen Milieus 
auf die Volksdichtung betrifft, können wir im allgemeinen feststellen, 
daß mit der Pazifizierung des Milieus ein Zurückgehen der heroischen, 
man könnte sagen der blutigen Elemente, und ein Zurückgehen der 
tragischen Grundauffassung zu beobachten ist. An Stelle der Be- 
schreibung der Kämpfe tritt immer mehr die Beschreibung von Fest- 
gelagen, Hochzeiten, Streitigkeiten zwischen einzelnen Dörfern. Es 
beginnt eine Überwucherung mit Novellenmotiven (Beispiele: Die 
Bylinen des Novgoroder Zyklus), oder mit idyllischen Motiven (Bei- 
spiele: Dumy des 17. und 18. Jahrhunderts). Die Helden werden auch 
der humoristischen Seite nach gesehen (Kraljevié Marko in einzelnen 
Liedern der neueren Zeit), oder es beginnt eine ironisch-skepti- 
zistische Einstellung Platz zu greifen, wie in den Dumy des 18. Jahr- 
hunderts; ein Zeichen des beginnenden Niederganges. 

Die Auflösung des epischen Milieus, damit auch der Rückgang 
des Interesses an den epischen Liedern und der Verfall der epischen 
Volksdichtung ist, wie uns die Beobachtungen auf russischem Boden 
im 18. Jahrhundert, vor allem aber die Beobachtungen auf serbischem 
Boden im 19. Jahrhundert), sowie die Erfahrungen nach der Ok- 
kupation von Bosnien und Herzegovina beweisen, gegeben durch das 
Eindringen der neuzeitlichen modernen Administration und Wirt- 
schaftsordnung und Rechtspflege, durch die allgemeine Entwaffnung, 
durch die Bindung des einzelnen an einen festumgrenzien bürger- 
lichen Wirkungskreis, durch das Eindringen der modernen Bildung, 
der Kenntnis des Lesens und Schreibens. Die kriegerische alte Ethik 
des Heldentums wird verdrängt durch eine neue Ethik der regulären 
Arbeit: (S. Kranjéevié: Na rad, na rad, u radu je spas). Das in den 


se) Es sei hier nur auf ein Beispiel verwiesen, auf das einzigartige Lied 
Smrt majke Jugovića. 

”) Vgl. Sv. Vulović, Prilog poznavanju ey stanja usmene 
srpske poezije. Godiänjica ‘Nikole Cupica VII, S. 335 ff. 


75 


Liedern Besungene wird zum Anachronismus. Die alten Heldenlieder 
werden verdrängt durch leichtfertige Soldatenlieder (sremske pesme, 
ferner die Soldatenlieder im nachpefrinischen Rußland). Nach den 
Beobachtungen auf südslavischem Boden müssen wir allerdings fest- 
stellen, daß bei sehr langer Dauer des epischen Milieus und der 
mündlichen Liedertradition das Interesse auch bei veränderten Zeit- 
verhältnissen nicht entschwindet, vor allem in den Gebieten, die von 
den Kulturzentren weiter entfernt sind. Man beginnt jetzt auch die 
alten Lieder aus gedruckten Liedersammlungen zu lesen und vor- 
zulesen, also die mündliche Tradition macht der literarischen Plab. 

Bei dieser Bedeutung des epischen Milieus für die Entwicklung 
und Erhaltung der Volksepik verstehen wir nun auch, warum bei den 
Polen und Tschechen keine bemerkenswerte epische Volksdichtung 
anzutreffen ist. Hier fehlte das epische Milieu im eigentlichen Sinne, 
die allgemeine geschichtliche, die staatlich-wirtschaftlich-soziale Ent- 
wicklung verläuft im wesentlichen in den gleichen Bahnen wie in 
Westeuropa”). Es dürfte also die Behauptung Jagi¢’s**), daß der 
Charakter der Tschechen und Polen der Bildung einer epischen 
Volksdichtung nicht günstig sei, nicht das Wesentliche getroffen haben. 

Zum Abschluß ein Wort über die kulturgeschichtliche Bedeutung 
dieser epischen Volksdichtung der Slaven: Diese epischen Lieder, 
einzigartige künstlerische Zeugnisse von Völkerschicksalen, poetischer 
Widerhall von tausendfachem trokigen, heroischen Mannesmut und 
tausendfachem, ebenso heroischen Mutterleid, sind zu werten als 
Kulturdenkmäler einer Epoche, in der die slavischen Völker, die am 
meisten dem Ansturm der halbbarbarischen turkotatarischen Reiter- 
volker ausgeseit waren und in der Abwehr dieser Expansions- 
bestrebungen Asiens und des Orients eine geschichtliche Sendung 
im Interesse der gesamten europäischen Kuliurmenschheit erfüllten“), 
ehrenvoll das ihrige beigetragen haben, daß sich in Mittel- und 
Westeuropa eine höhere Kultur entwickeln konnte. Damit traten die 
Slaven nicht nur als Empfangende, sondern auch als Gebende in den 
Kreis der europäischen Kulturvolker ein. 


37) Vgl. O. Halecki, L’histoire de Europe Orientale. Sa division 
en époques, son milieu géographique et ses problémes fondamentaux; 
ferner M. Handelsman, Féodalité et féodalisation dans l'Europe Occi- 
dentale. In: La Pologne au Ve Congrès International des Sciences Histori- 
gues, Bruxelles 1923. Varsovie 1924. 

28) Rad Jsl. Ak. 37, S. 59, 71. 

se) So faßt auch J. Bidlo den Sinn der slavischen Geschichte in 
seinem neuen großzügigen Versuch einer Synthese. Vgl. Déiny Slovausive. 
S. 22, Prag 1927. Slované. Kulturní obraz slovanského svéa. Dil J. 


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MISCELLEN 


EIN BRIEF DES FÜRSTEN N. G. REPNIN 
AN A. W. SCHLEGEL 


Von 
M. Alekseev (Irkutsk, Universität). 


Der unten angeführte Brief, jetzt in der Handschriftenabteilung der 
Bibliothek der Staatsuniversitat in Irkutsk befindlich, war einst Bestandteil 
einer hervorragenden Autographensammlung, die I. I. Kuris gehörte. Auf 
seinem Gute Kurisovo-Pokrovskoe, ca. 60 Kilometer von Odessa entfernt, 
vereinigte Kuris eine Reihe von Sammlungen — sein reiches Familienarchiv, 
dessen Anfänge noch vom Ende des 18. Jahrh. herrühren, eine kostbare 
Bibliothek, ein ganzes Altertumsmuseum und eine Bildergalerie. Leidenschaft- 
licher Altertümerliebhaber und Kollektionär, benubte Kuris, besonders auf 
seinen häufigen Auslandreisen, jede Möglichkeit, seine Handschriftensamm- 
ung zu vergrößern und zu vervollständigen, woraufhin seine Sammlung 
schließlich über 3000 Briefe und Dokumente, die auf hervorragende Persön- 
lichkeiten von historischer und literarischer Bedeutung des 18. und 19. Jahrh. 
Bezug halten, umfaßte. Unter anderen Handschriften befanden sich hier 
z. B. Briefe von Mickiewicz, Pu3kin, H. Heine; zahlreiche Dokumente ge- 
hörten der Epoche Napoleons und ihren führenden Männern. l. Kuris selbst 
war kein Forscher, stellte aber gerne seine kostbaren Schätze jedem Ge- 
lehrien und Liebhaber für Forschungs- und Publikationszwecke zur Ver- 
fügung. Briefe Peters d. Gr. die Kuris zufällig in Paris erworben hatte, 
schenkte er der Russischen Öffentlichen Staatsbibliothek in Petersburg. 

umente aus der Kuris schen Sammlung veröffentlichten seinerzeit D. F. 
Kobeko, P. Majkov, der Herausgeber des „Russkij Archiv“ P. I. Bartenev, 
Herausgeber der „Russkaja Starina“ M. I. Semevskij u. a, vor kurzem auch 
der Autor dieser Zeilen?). 

Diese Publikationen erschopften aber keineswegs die großen Reich- 
fümer dieser Sammlung. Eine teilweise Ursache dafür lag in der Entfernung 
der Sammlung von großen Forschungszentren; aus demselben Grunde war 
sie auch verhältnismäßig wenig, selbst in fachmännischen Kreisen bekannt. 
Ihr plößlicher Ausverkauf, von unwissender und gieriger Hand ausgeführt, 
verursachte nun das spurlose Verschwinden einer Anzahl von kostbaren 
Schäßen dieser Sammlung und ihre endgültige Zerstreuung in vielen Hän- 
den?). Ein Teil der Sammlung geriet übrigens nach der Revolution in die 
Bibliotheken von Odessa (Öffentl. Staatsbibl.) und Leningrad („Pu3kin-Haus‘), 
in der lebten Zeit auch in die bedeutende Bibliothek der Irkutskischen Uni- 


1) M. Alekseev, Voltaire et Schouvaloff, Fragmente inédits d’une corre- 
spondence franco-russe au XVIII s., Odessa 1928 

Die Nachrichten über diese berühmte Sammlung, welche uns S. Mic- 
lov („Vremennik ob3cestva Druzej russkoj knigi“, Paris 1925, I, S. 47) auf- 
führt, sind nicht ganz richtig. I. Kuris war kein Facharzt; seine Sammlung 
befand sich nicht im Bessarabischen Gouvernement, sondern im Gouverne- 
ment Cherson. Die näheren Auskünfte über die Sammlung kann man finden 


77 


versität. Es ist interessant zu bemerken, daß ständige Beziehungen des 
Besikers zu dem bekannten Archivisten Etienne Charavay „ce savant 
modeste“, nach den Worten seines Biographen, „entre les mains duquel 
sont passés tant de documents importants“*) den schnellen Wuchs der Kuris- 
schen Sammlung begünstigien. Kuris erwarb bei diesem angesehenen An- 
tiquar im Laufe von mehreren Jahren Handschriften, unter denen ihn in be- 
sonderer Weise alles auf Rußland und Rußlands historische Persönlichkeiten 
Bezügliche interessierte). Eines dieser derartig erworbenen Dokumente — 
einen Brief des Fürsten Repnin an August Schlegel (erworben, laut einer 
Notiz des gewesenen Inhabers, in einer Pariser Auktion bei Charavay am 
24. März 1888), bekannt zu machen, ist der Zweck dieser Notiz. 

Der Autor des Priefes, Fürst Nicolaj Grigor’evi¢é Repnin (1788—1845) 
wurde von seinen Zeitgenossen®) als „ein Mann außerordentlichen Geistes 
und Herzens“ charakterisiert. Der Spruch der Geschichte stimmt nicht in 
vollem ale mit diesem Urteil überein. Wir wissen aber, wenn er auch nicht 
zu den bedeutenden Staatsmännern der Zeit gerechnet werden kann, so war 
er doch vor allem seinem Dienst und seiner Pflicht ergeben. Gebildet, groß- 
herzig, aber häufig recht sorglos, verstand er die Menschen an sich zu 
fesseln und sich allgemein beliebt zu machen. In Erinnerungen und Er- 
zählungen seiner nächsten Zeitgenossen steht er vor unseren Augen als ein 
letzter Auswuchs des prachtliebenden 18. Jahrh. mit seiner großzügigen 
Lebensart und den märchenhaften Episoden seines Lebensschicksals, das so 
glücklich begonnen und so traurig endete. Die Geschichtschreibung hat 
Repnin zu Unrecht vernachlässigt. Wir besitzen keine uns genügende 
Biographie dieses Mannes®). Die russische historische Literatur wirft auch 


in der Notiz A. I. Markenvic: „l. I. Kuris (1848—1898)" in: „Zapiski J. Odessk. 
obšč. ist. i drevn.“, Bd. XXII, SS. 79-81; vgl. ebd. Bd. Vill, S. 278—288, 
G. P. Danilevskij: „Archiv pomeščikov Kuris” in „Zurn. Min. nar. prosv.“, 
1856, Bd. XCII, VII, 30—32. Uber Puškins Handschriften aus dieser Samm- 
lung schrieb ich gelegentlich anderwarts: S. „Puškin. Stat’i Materialy.” izd. 
Odessk. Doma Učenych. (Jahrg. 1) Odessa 1925, S. 57. Die Spuren der 
Autographen H. Heines sind jetzt verloren. Uber die anderen Abteilungen 
dieser Sammlung gibt eine annähernde Vorstellung das Buch: „Snimki o 
predmetov i kartin iz sobranija J. I. Kurisa“ (Odessa 1886), eine praduvolle 
Ausgabe in einer geringen Zahl nur für Teilnehmer des Odessaer Archeolo- 
gischen Kongresses und für einige Bekannte gedruckt (im Buchhandel nicht 
erschienen). Über die Bildergalerie, die sich gegenwärtig, wie es scheint, 
in Dresden befindet, s. die Notiz von E. Glollerbach] in der Zeitschrift: 
„Sredi kollekcionerov“ 1921, N. 11—12, S. 72—74. 


3) M. Tourneux „E. Charavay. Sa vie et ses fraveaux“: „La Revolution 
Française“, 1900, T. 38, pp. 193—233. Charavay selbst in seinem Aufsabe 
„Autographes” („La grande Encyclopédie“, IV, p. 761) nennt „collection 
Jean de Kuris“ als eine der wichtigsten russischen Sammlungen, die sich im 
Privatbesib befinden. 


4) „Russkaja Starina“ 1885, B. XLVI, S. 411. 


) „Iz zapisnoj knigi A. O. Imberga“. Russkij Archiv 1870, SS. 385—384; 
394—400. Auf dem Grunde dieser Angaben Imbergs, der unter Repnin in 
Sachsen diente, fußt auch die Lebensbeschreibung des lebteren im Werke 
Banty3.-Kamenskij’s „Slovar’ dostopvamjatnych ludej russkoj zemli“, T. III 
(S. Pb. 1847), S. 23—67. 


e) Es wurde neuerdings bekannt, daß seine Urenkelin, Fürstin M. A. 
Meščerskij, mił dessen Lebensbeschreibung beschäftigt sei (S. „Archiv deka- 
brista Volkonskogo“, S. Pb. 8, Bd. 1, S. XXXVI; vgl. ebd. SS. 395—396), 
aber 1 Arbeit ist bis ebt nicht erschienen. über Repnin s. den Artikel 
von A. A. Golombievskij im „Sborn. biografij kavalergardov" (S. Pb. 1906, 
Bd. Ill, S. 54-57). Fürstin F. G. Volkonskaja: „Rod knjazej Volkonskich“ 
(S. Pb. 1900, S. 103—104); P. Majkov im „Russkij biograf. Slovar™ (S. Pb. 
1913, Bd. „Reitern-Rolcberg“, S. 118—126). 


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kein ausreichendes Licht besonders auf den hervorragendsten Moment seines 
un — seine Tätigkeit auf dem Posten des sächsischen General-Gouver- 
neurs?). 

Repnin ließ in Dresden einen guten Ruf zurück. Viele Jahre später 
schrieb Graf A. P. Zavadovskij aus Dresden: „Hier lobt man allgemein den 
Fürsten Repnin. Ich möchte ihn ebenso in Kleinrußland ehren, wie ich ihn 
in Sachsen ehre“ (Kievskaja Starina, 1884, N. I, S. 217—218). Vgl. noch 
interessante Urteile über Repnin von M. A. Maksimovič („Russkoe Oboz- 
renie“, 1898, N. I, S. 131). P. D. Seleckij in seinen Memoiren erwähnt u. a. 
das Interesse Repnins für Literatur: „Es gab kein mehr oder weniger inter- 
essantes Buch, das der Fürst nicht gelesen hatte; seine Unterhaltung war 
interessant und lehrreich“ (Kievskaja Starina, 1884, N. 8, S. 618—619). Ein 
Porträt Repnins, mit der Dresdener Brücke im Hintergrunde, von unbekann- 
tem Meister gemalt, gleichwie ein Glaskelch mit farbigen Ansichten von 
Dresden, die ihm die Stadt überreichte, befinden sich jest im Ukrainischen 
Historischen Museum in Kiev. 

Erwähnen wir die allbekannten Fakta seines Lebenslaufes. 

N. G. Repnin erhob sich schnell auf der administrativen Dienstleiter. 
Teilnehmer der holländischen Expedition von 1799 und der zahlreichen 
Kriege im Anfange des 19. Jahrh., kommandierte er die 4. Schwadron der 
Chevaliers de Garde, die durch die Attacke bei Austerlibs rühmlich bekannt 
wurde. Leo Tolstoj widmete dieser Attacke eine wundervolle Episode in 
„Krieg und Frieden“. Am 8. März 1813 zum General-Adjutanten ernannt, 
wurde Repnin bald darauf, am 8. Oktober desselben Jahres, von den drei 
verbundeten Mächten auf den Posten des General-Gouverneurs des König- 
reichs Sachsen und zum Befehlshaber der russischen Truppen erhoben, die 
damals Sachsen besetzt hatten. Sein faktischer Eintritt in diesen Dienst 
vollzog sich aber etwas später, am 30. Oktober, nachdem die französischen 
Truppen unter dem Kommando des Generals Saint-Cyr und der sächsische 
König, Napoleons Anhänger, Dresden verlassen halten. In Dresden er- 
wartete Repnin ein großes Tätigkeitsfeld. Krieg und Epidemien verwüsteten 
das Land, die Armee war zerstreut, Administration und Finanzen zerrüttet, 
die Stadikasse leer. Repnins Aufgabe war es nun, nicht nur alle diese 
Wunden zu heilen und die Ordnung wiederherzustellen, sondern auch die 
Armee zu organisieren, um die Truppen der Bundesgenossen, die gegen 
Napoleon weiterfochten, zu unfersfützen. In den Händen Repnins konzen- 
tnerte sich ein großer Staatsapparat. Alle Verwaltungsgebiete verlangten 
jeden Augenblick seine größte Aufmerksamkeit. Nichtsdestoweniger fand 
er doch Zeit nicht nur für seine öfteren Dienstreisen aus Dresden (Anfang 
November 1813 war er z. B. in Leipzig), sondern auch für einen recht um- 
fangreichen Briefwechsel, der nicht lediglich Dienstcharakter trug. Der hier 
unten angeführte Brief Repnins an August Schlegel diene zur Bestätigung. 

Wir wissen, daß die Jahre 1813—1814 die Zeit angestrengter politischer 


7) Uber die Verwaltung Repnins in Sachsen wirft ein gewisses Licht das 
»General-Gouvernements-Blatt für Sachsen“ (I—Ill Bde.) — eine Art von 
Zeitung, die in Dresden seine Kanzlei ausgab, und die kleine Schrift: „Uber- 
sicht der Verwaltung des General-Gouvernements der Hohen Verbündeten 
Mächte in Sachsen“ (Dresden, 1815), das Repnin gewidmete Büchlein des 
Arztes Meinhold: „Dresden und seine Schicksale im Jahr 1813“ (Dresden, 
1814). Soweit es uns bekannt ist, sind die Archivmaterialien, im f. König- 
lichen Hauptstaatsarchiv befindlich, (Privat-Korrespondenz des Fürsten 
Repnin — locat.: H. St. A. 2578) noch bei weitem nicht erforscht. S. auch 
Gretscelu.Fr. Bulau: Geschichte des Sachs. Volkes u. Staates, Bd. Ill, 
Lpz. 1853, S. 636 fig.; Th. Flathe, Gesch. des Kurstaates und Königreichs 
Sachsen, Gotha 1873, Bd. III, S. 232—358. In der russischen Literatur sind 
die obengenannten Erinnerungen A. O. Imbergs am wertvollsten. Die 
Tochter Repnins, Varvara, bestätigt ihre vollständige Wahrheit in ihren Er- 
innerungen aus dem Kindesalter („Iz avtobiograficeskich zapisok knjaZny 
V. N. Repninoj“ im Russkij Archiv, 1897, Il, S. 480—482). 


79 


Tätigkeit für Aug. Schlegel war. Schlegel „hielt jetzt seine Zeit für ge- 
kommen, um in der Politik, die ihm bisher ziemlich ferne gelegen hatte, eine 
Rolle zu spielen,“ spricht J. Minor, sich der Worte Dorothea Schlegels er- 
innernd, die gesagt hatte, daß er ordentlich par contrecoup zum politischen 
Schriftsteller geworden war®). Aus dem schönen Werke Otto Brandts uber 
Schlegel und seine politischen Anschauungen und Schriften®) wissen wir von 
den Umständen, unter denen damals eine, von ihm nervös geschaffene, 
Reihe von „Proclamationen, 5 Verfügungen, Aufrufen und 
Berichten im Hauptquartier der Vereinigten Armee von Norddeutschland 
und im Interesse des Kronprinzen von Schweden“ entstanden war:°). Hier 
ist es notwendig, eines dieser Werke zu erwähnen, da es eine unmittelbare 
Beziehung zum Inhalt des unten angeführten Briefes hat. „Seine publi- 
zistische Tätigkeit,“ spricht O. Brandt (a. a. O. S. 166—167), „hatte ihm die 
Ernennung zum schwedischen Regierungsrat gebracht, und so weilte er 
denn seit Mai 1813 im Hauptquartier der Nordarmee, zunächst in Stralsund, 
und erlebte dann den ganzen Feldzug in Deutschland an der Seite seines 
Protektors.“ Die Herbstmonate des Jahres 1813 waren die Zeit sehr ernst- 
hafter Kollisionen zwischen Napoleon und Bernadottei!); in den Befehlen 
für die Truppen und in Proklamationen gab sich ein jeder von ihnen die 
höchste Mühe, den andern zu erniedrigen. In diesem politischen Sireite 
durfte Schlegel nicht gleichgültig verbleiben und benutzte alle Gelegenheit 
zu boshaften und scharfen Invektiven gegen den ihm verhaßten Napoleon. 
Ein zufälliger Umstand gab Schlegel die günstige Veranlassung für eine 
besonders böse und freche Broschüre. 

Wie aus der durch einen Zufall von russischen Kosaken aufgefangenen 
Korrespondenz zwischen dem Minister Maret in Dresden und Baron Bacher 
in Leipzig hervorgeht, wurden zwei gegen Bernadotte gerichtete Artikel in 
der „Leipziger Zeitung“ vom 30. Sept. u. 5. Okt. 1813 auf Napoleons Befehl, 
der wahrscheinlich ihr Autor war, veröffentlicht. In dem zweiten dieser 
Artikel („Vom Elbufer“), kurz vor der Leipziger Schlacht im Druck erschienen, 
beschuldigte Napoleon den schwedischen ronfolger „krasser Undankbar- 
keit gegen Frankreich“, ihn den „Sohn und Bruder von Tollhäuslern“ nennend, 

„der an sich selbst die Spuren der Krankheit empfinde“. Derselbe Artikel 
enthielt ebenso Angriffe gegen Bernadottes Paladin — Schlegel. Also war 
es, wie O. Brandt sagt, „die persönliche Erwiderung Napoleons auf Schle- 
gels schriftstellerische Angriffe, indem er ihn in der Reihe der ihm so ver- 
haßten, weil so gefährlichen Pamphletisten vor der Offentlichkeit mit 
Namen nennt“. 

Ganz natürlich ist es, zu vermuten, dag dieser Artikel auf Schlegel 
einen besonders starken Eindruck machte und ihm die Galle schwellen 
machie. Er war höchst glücklich, auf ihn antworten zu können, in dem- 
selben Leipzig, wo der Artikel eben erst im Druck erschienen war, das aber 
jezt schon den vereinigten Truppen gehörte. In solch einem Gemits- 
zustande wurden in kurzer Frist: „Remarques sur un article de la Gazette 
de Leipsick du 5 Octobre 1813 relatif au Prince Royal de Suède“ ge- 
schrieben, diese „Parallele“ zwischen dem Franzosenkaiser und dem 


8) J. Minor: A. W. v. Schlegel in den jahren 1804—1845. („Zeitschrift fur 
Österreich. Gymnasien“ 1887, Bd. 38, S. 606-607.) I. M. Raich: Dorothea 
2 Schlegel. Briefwechsel ım Auftrage der Familie Veit, Bd. Il, Mainz 1882, 


a Otto Brandt: A. W. Schlegel. Der Romantiker und die Politik. 
Stuttg., Berl. 1919. 
10) Minor: Op. cif. S. 607. 

u) Wiehr: Napoleon und Bernadotte im Herbstfeldzug 1813, (1893), zit. 
bei O. Brandt (S. 111, Anm. ]: auch Leonce Pingaud: Bernadotte, Napoléon 
et les Bourbons, Paris 1901, S. 226; Klaeber: Marschall Bernadotte (1910), 
S. 371 ff. Der von O. Brandt zit. Artikel: Steig: Eine Romantikerfehde 
gegen Napoleon, Sonntagsbeilage 21, 22 zur „Vossischen Zeitung“ 1906, 
N. 244, 256, war mir nicht zuganglich. 


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schwedischen Thronfolger, in welcher „aus jeder Zeile, aus jedem Wort“ 
der Haß gegen den „Buonaparte“ spricht. 

Otto Brandt, der diese Angelegenheit ausführlich erörtert hat und mit 
genügender Fülle den Inhalt der Broschüre Aug. Schlegels wiedererzählte 
(a. a. O. S. 184—188), erklärt nicht, warum sie zum ersten Male anonym 
erschienen ist. Für Schlegel war es so natürlich, in diesem publizistischen 
Turnier mit offenem Visier aufzutreten, wie ja auch Otto Brandt sagt: 
„Schlegel tat alles, um auch diese Streitschrift zur Kenntnis des Publikums 
zu bringen“ (S. 187). Von woher stammt aber dann diese so unerwartete 
und jedenfalls für ihn selbst kaum erwünschte schriftstellerische Bescheiden- 
heit? Das erklärt, wie es uns scheint, der folgende, in bezug auf diese 
Broschüre geschriebene Brief N. G. Repnins an Aug. Schlegel. Um die 
Bewilligung zur Veröffentlichung der Broschüre zu erlangen, hatte sich 
Schlegel an die Kanzlei des sächsischen General-Gouverneurs gewandt — 
genauer: an die der Kanzlei zugehörige spezielle Zensurkommission. Nach- 
dem Repnin von dieser Broschüre, welche ihm von der Kommission über- 
reicht worden war, Kenntnis zn hatte, hielt er es nicht für möglich, 
ihre Veröffentlichung zu bewilligen. Aber Schlegels Autorität war doch so 
groß, dag Repnin es notwendig fand, ihm einen privaten Brief zu schreiben, 
in welchem er die Gründe darlegte, aus denen die Veröffentlichung dieser 
Broschüre ihm unzeitig erschien. Dieser Brief hat folgenden Wortlaut: 


A Monsieur IA. V.] Schlegel 
Monsieur 


On a présenté à la censure établie près du gouvernement Général 
de la Saxe un écrit portant le tire Remarques etc. — la censure 
n'a pas osé prendre sur elle de donner le permis, elle a pris mon ordre 
la dessus et jai décidé qu'il serait sursis à l'impression. 

e chef d'une grande administration ne doit pas dire la raison, 
qui le. décide; je ferai cependant une exception & votre égard, Monsieur, 
vous le mérifez par vos relations présentes ef par le renom litteraire 
et politique que vous vous éfes acquis précédemment. 

N est inutile d'établir des parallèles pour relever la loyauté par 
l'astuce, la magnanimité par la vengeance, la fermeté de caractère par 
Ventétement, le respect aux constitutions par le despotisme, enfin d'en 
etablir un entre le Prince Royal et Napoléon; l'un acquiert des Alliés, 
autre les perd, l'un est adoré, l'autre hai. Personne n'a besoin d'être 
co dans les sentiments qui sont voués généralement au Prince 

oyal, par une réfutation des diatribes, qui ont été écrites contre lui, 

e voile * jadis entourait Napoléon, n'a plus besoin d'être soulevé, 
i est tombé. 

Des circonstances malheureuses ont forcé tous les Souverains de 
l'Europe à reconnaitre Buonaparte pour Empereur de France, ce serait 
agir contre les intentions de l'Empereur mon Auguste Maitre et de ses 
Alliés que de permettre des personalités violentes contre quelqu'un qui 
occupe un trône: s'il employe une arme vicieuse contre nous, nous ne 
devons pas limiter. . 

Voici, Monsieur, ma profession de foi, elle me justifiera & vos yeux 
et vous convaincra je l’éspére qu'il m'a été pénible d’empécher l'im- 
pression d'un écrit fait par un homme estimable, servant la même cause 
gue moi et approchant un Prince adoré par les Russes. 


Je suis avec une parfaite considération 
Monsieur, 
Votre très dévoué serviteur Prince Repnin 
Gouverneur Générale de la Saxe. 


Leipzig le 11 Novembre 
1813. 


NFS 81 


Höchst wahrscheinlich ist es nun, daß dieses höfliche Verbot der Bro- 
schüre Schlegel gezwungen hat, sie anonym herauszugeben und vielleicht 
auch mit falscher Bezeichnung der Stadt, und sicherlich nicht im Oktober, 
wie es auf ihrem Titelblatte steht, sondern einige Zeit später. 

Die Bedeutung dieses Briefes liegt darin, daß Repnin, nach seinen 
eigenen Worten, seine „profession de foi” hier darlegt. Es ist selbstver- 
ständlich nicht sein volles politisches Programm, und einige, beiläufig fallen- 
gelassene Gedanken malen uns noch kein vollständiges Bild seiner poli- 
tischen Anschauungen. Kennzeichnend ist aber, daß in dem Schreiben Rep- 
nins, den besiegten Feind nicht so zu bekämpfen, eine leicht fühlbare 
Achtung, wenn nicht geradezu ein Mitgefühl für Napoleon zu spüren ist. 
Als Repnin den Gedanken aussprach, es sei nicht notwendig, Bonaparte ım 
Formieren großer Armeen zu folgen, vergaß er, daß der Kaiser eben ım 
Formieren neuer Truppen stand, die berufen waren, den Kampf weiter 
fortzusetzen, um Sachsen zu sichern. Indem er um „Gnade dem Gefallenen“ 
ruft, versucht Repnin geschicki, zu beweisen, daß die gewagien Ausfälle 
gegen den französischen Kaiser, der allerdings durch „traurige Umstände“ 
auf den Thron kam, der eigentlichen Idee des Kaisertums als beleidigend 
erscheinen könnten. 

Wie nahe diese Worte den Vorschriften auch standen, welche als Richt- 

schnur z. B. dem preußischen Zensor Geheimrat Renfner dienten, der den 
Abdruck der Broschüre Schlegels im „Preußischen Korrespondent“ aus dem 
Grunde untersagt hat, daß „gegen unsere Feinde, und namentlich gegen den 
Kaiser Napoleon, Schimpf, Schmähung und persönliche Beleidigung“1*) ver- 
boten sei, — die Position aber, die Repnin hier einnimmt, scheint uns den- 
noch bemerkenswert und eigenartig. Ein deutscher Schriftsteller aus der 
Epoche der Befreiungskriege, der sich mit Leidenschaft der politischen 
Tätigkeit widmete, und ein russischer Kriegsherr, der den Moskauer Feldzug 
Napoleons überlebte und durch die Macht des Zufalls, auf kurze Zeit, Haupt 
eines deutschen Königtums wurde, konnten selbstverstandlich nicht zu einer 
Ubereinstimmung kommen. Dieser Brief wird aber deswegen nicht minder 
interessant, im Gegenteil beweist er noch einmal, wie hoch die Autorität 
August Schlegels als eines Schriftstellers und Politikers stand, wieviel Takt 
Repnin zeigte, indem er sein Verbot in eine derartig liebenswürdige Form 
einhüllte und seinen Brief an den Autor der Schrift mit solchen Kom- 
plimenten versah. 
. Wir wissen nicht, wie und ob sich Schlegel auf den Brief Repnins 
äußerte, aber wesentlich war es, dak seine „Remarques“ doch im selben 
Jahre 1813 verlegt worden waren, und daß im nächsten Jahre 1814 cine 
„zweite, vermehrte Auflage“ mit Schlegels vollem Namen auf dem Titel- 
blatte erschien. 


12) „Remarques sur un article de la Gazette de Leipsick du 5 Octobre 
1813 relatif au Prince Royal de Suède“. Leipsick au mois d’octobre 1813. 
Uber die anderen Auflagen derselben Broschüre s. „Katalog der von A. W. 
Schlegel nachgelassenen Bücher mit Verzeichnis der von A. W. Schlegel 
en gedruckten Schriften“, Bonn, 1845, S. XVIII; O. Brandt, a. a. O., 

À , Anm. 


13) O. Brandt, S. 187. 


82 


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ZWEI ZERSTÖRTE 
DALMATINISCHE FAMILIENARCHIVE 


Von 
Camilla Lucerna, Zagreb. 


Da und dort hört und liest man in Dalmatien von Familienarchiven, die 
Erdbeben, Branden oder dem Unverstand spari Nachkömmlinge zum Opfer 
felen. Trob der verhältnismäßig großen Zahl Intellektueller, die, sei's aus 
Veranlagung, sei’s dank der unermüdlich anfeuernden Wirksamkeit des be- 
rühmten Salonitaner Archäologen Don Frane Bulić Sinn und Augen für 
historische Zeugnisse haben, geht auch heute noch manchmal wertvolles 
Gut dieser Art verloren. Über zwei zerstörte Familienarchive, aus denen 
Fragmente gerettet wurden, sei hier einiges mitgeteilt. 


L Das Familienarchiv des Dichters Petar Hekiorović (1487—1572) 
in Starigrad auf der Insel Hvar (Pharos). 


Hieraus und hierüber berichtet Petar Kuničić!) in seiner kroatisch 
geschriebenen Monographie: Petar Hektorović, Dubrovnik 1924, 
allerlei interessante Dinge, verschweigt aber taktvoll, dab und wie er zum 
Retter vieler und kulturgeschichtlich aufschlußreicher Archivolien wurde. 
Durch seine Frau darauf hingewiesen, daß auf dem Einschlagpapier eines 
Fleischers klassische Verse standen, kaufte er diesem Bestände ab, die 
offenbar aus Professor Nisiteos kostbarer und berühmter Sammlung her- 
ruhrten. Dieser bekannte und vielbesuchte Gelehrte, der von einer 
Schwester Don Matijs, des lekten Hektorović (t 1774), abstammte, hatte den 
großen Saal der festungsartigen Palastvilla „Tvrdalj“ in Starigrad, des 
Dichters Hektorović Lieblingsschöpfung und Wohnsitz, zu einer der schönsten 
Bibliotheken Dalmatiens, ja zu einem kleinen Museum ausgestaltet. Petar 
Nisiteo (1775—1866) war auch der Gründer des Familienarchivs. Seine 
eigenen, 20 Manuskriptbände umfassenden Werke befanden sich noch 1908 
an Ort und Stelle im Besitz seiner Erben. Die Bibliothek wurde schon 1885 
bei einem Umbau zerstört. Ob damals auch der in den Saal eingebaute 
Taubenschlag des Dichters Hektorović, von dem noch Ida von Düringsfeld 
in ihrem dalmatinischen Reisebericht so ergoblich spricht, zerstört worden 
ist, erwähnt Kuničić nicht. Uber den Dichter und seine Familie bringt er 
interessante Daten. Die Hektorovice waren mit den meisten Patrizier- 
geschiechtern der Insel verwandt. Die Linie der Vorfahren geht über die 
Familien Golubini€ (um 1300) und Piretic bis auf die Jivice (Jivie, auch 
Dyvic, Dyinié) zurück, die schon 1160 in Ansehen standen. Des Dichters 
Großvater, dessen Testament aus dem Jahre 1467 erhalten ist, war einer 
der reichsten Adeligen der Insel. Uber Aufstände, Seuchen, Türkeneinfälle, 
kirchliche Stiftungen, Käufe und Schenkungen, Prozeßakten, Bauten, Ver- 
träge... berichten die Blatter dieser Familiengeschichte. Sie geben Einblick 
in politische und ökonomische Verhältnisse, Auskunft über Graber- und 
Kirchenschmuck, mildtätige Einrichtungen, Chorakſerzüge und Lebensläufe 
der Erblasser, deren Kunstsinn, deren Liebe zu klassischen Studien und zur 
Muttersprache, sie unterrichten über uneheliche Kinder, eingemauerie Eremi- 


1) P. Kuničić lebte viele Jahre als Schulleiter in Starigrad. Gegenwärtig 
wohnt er in Split. 


85 


tinnen, Unglücksfälle, Verbrechen... So wurden beispielsweise große 
Waldbestände der Insel durch Brandlegungen von Hirten zerstört, die ihr 
Weideland vergrößern wollten. Fromme hinterlassen Geld zum Loskauf 
von Sklaven. Ein origineller Testator (Don Jakov Dujmičić) ordnet an, daß 
kein Weib bei seinem Begräbnisse wehklagen (naricati) dürfe. Derselbe 
hinterläßt verschiedene Felder der Dienerin Jelena aus Klis, welche von 
Türken geraubt, von ihm losgekauft und getauft worden war. — Ein Volks- 
zählungsausweis für das Jahr 1673 gibt die Verteilung der Bewohner auf 
einzelne Orte an. Vom Blute der Hektorovice waren in Starigard zwischen 
1613 und 1713 neunundvierzig Kinder zur Welt gekommen. Aber viele 
hatten nicht geheiratet, viele waren jung gestorben. Die großen Besitztümer 
zersplitterten sich. Auffallend häufig werden in Tesiamenten „natürliche“ 
Söhne und Töchter bedacht. Adeligen war es nicht erlaubt, Mädchen des 
Bürgerstandes (pucanke) zu heiraten, doch durften sie uneheliche Kinder 
legalisieren, gewisse Rechte blieben diesen jedoch vorenihalten. Nach 
Kuničić gut fundierter Ansicht wird auch Petar Hektorović’ einzige Tochter 
eine figlia naturale gewesen sein, und seine Enkelin und Erbin Julia war mit 
dem legalisierten Sohne des Dichters Hannibal Lučić vermählt. 

Unter den Nachkommen der männlichen Nachstverwandten des Dichters 
treten einige originelle Gestalten kräftig hervor. Matij Hektorović, mit 
siebzig Jahren Witwer geworden, tritt in den geistlichen Stand und läßt am 
Feiertag seiner ersten Messe allen Armen im schönen Park seines Ahnherrn 
ein Festmahl bereiten. Er und sein Sohn Marcanton, der vierundneunzig 
Jahre alt wird (t 1766) sind äußerst streitlustige Herren, führen grobe Pro- 
zesse. Marcantons Temperament zeigt der Titel einer Anklageschrift: 
Versipelle allegatione calumniosa delle ingrati, astuti e bugiardi fratelli 
Papizza. Eine andere, gegen die Comunità di Lesina (Hvar) gerichtet, hat 
er: Papagallide e Stornelaide della Coletta getauft. 

Kuničić führt aus seinen Dokumenten hundertvierzehn Benennungen von 
vererbten Grundstücken, Dolinen und Hügeln an, die den slavischen Cha- 
rakter der Inselbevolkerung für alte Zeiten bezeugen. Desgleichen hat er 
etwa zweihundert slavische Personennamen aus Hvar und Starigrad ge- 
sammelt, die dort jet nicht mehr vorkommen. Kuničić’ Liebe für den 
Dichter gelang es auch, dessen Grab aufzufinden! Seine Monographie 
Saar eine wichtige Ergänzung zu den über Petar Hektorovié erschienenen 

ien. 


II. Das Archiv der Familie Cerinié — Cerineo — Lucio — Grisogono 
auf der Insel Brač (Brazza). 


In meinem Forschungsbericht über die letzlen Arbeiten des großen 
Rechtshistorikers Vladimir Mažuranić hatte ich die Frage aufggworfen, wer 
der Kaufherr Dinis Cerniche gewesen sein könne, der den großen 
portugiesischen Seehelden D’Allboquerque um 1510 nach Indien begleitet 
hatte. In dessen Denkwürdigkeiten kommt dieser Name vor. Hie§ er etwa 
Dinko Cernié? War er ein Dalmatiner? — Aus Supetar auf der Insel Brac 
wurde mir Antwort. Dinko war ein Braganer! Dr. M. Vrsalović ließ mich 
wissen, daß in der vielgliedrigen Familie Cerinié (Cerinich, Cerinio vel Ceri- 
neo), die im 17. Jahrhundert geradezu ungeheure Besitztümer in vielen Län- 
dern ihr eigen nannte, heute: noch eine Tradition existiert, die an Ost- 
indien anknipft. Ihm gelang es, einiges aus dem Familienarchiv zu 
retten. Aus seinem Material ist eine Veröffentlichung hochinteressanter Art 
über dieses dalmatinische Welser- oder Fugger-Geschiecht zu erwarten, 
um das man sich, wie es scheint, noch nicht gekümmert hat. „Micer Vinete 
Cerniche, genannt Dinis Cerniche“, gehört in die Geschichte des dalmati- 
nischen Handels. 3 

Die „Archivalia Brattiensia“, die Dr. B. M. Vrsalović seit 20 Jahren ge- 
sammelt hat, umfassen allein weit über 5000 Stücke, darunter mehrere 
„Statute“, merkwürdige Pergamente, Handschriften in der sogenannten 
„bosnischen Cyrillica“, dazu eine Fülle von Angaben, von Nachrichten ver- 
schiedener Art, die Geschichte seiner Heimatinsel betreffend. 


84 


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Das Archiv der einst so mächtigen und weitverbreiteten Familie Cerinié, 
„mit deren Reichtum an Orundbesitz in aller Herren Ländern im 17. jahr- 
hundert sich einzig der irgendeines Kaiserhauses des 19. Jahrhunderts ver- 
gann ließe“, konnte nur zum geringsten Teile gerettet werden. Vor dem 

elikriege noch war es beinahe intakt. „Bis auf Pergamente, die damals 
schon zu Dynamit als Tötungsmittel für Fische verwendet wurden.“ Nach 
dem Kriege wurde das meiste als Einschlagpapier für Lebensmittel in einem 
Geschäfte verbraucht. Im Jahre 1925 gelang es Dr. M. Vrsalović, noch „die 
Reste der Reste“ in seinen Besib zu bekommen, Nachrichten aus dem 
15. Jahrhundert, darunter Eigentumsverzeichnisse etc. Noch heute bestehen 
die Festungsbauten in Splitska und Skrip auf Brad, Türme mit Wappen, 
riften, Altertiimern, Gemälden, alles heute noch Eigentum der Familie, 
deren Aufschwung höchstwahrscheinlich mit jenem kühnen Indienfahrer Dinko 
Cernié zusammenhängt, den die Portugiesen „Dinis Cerniche” nannten. 


II 
LITERATURBERICHTE 


ABHANDLUNGEN DES NIZYNER VOLKSBILDUNGS- 
INSTITUTES UND DER WISSENSCHAFTLICHEN 
FORSCHUNGS-LEHRKANZEL FÜR KULTUR- UND 

SPRACHGESCHICHTE AM INSTITUTE 


Hauptredakteur: Mykola Petrovskyj. Bd. VIII (1928). NiZyn 1928, S. 192, 8. 


Von 
D. Doroschenko. 


Das „Volksbildungsinstitut“ in NiZyn ist an Stelle des ehemali- 
gen „Historisch-philologischen Institutes“, welches, 
neben dem gleichen Institute in Petersburg, die Gymnasiallehrer der 
lateinischen und griechischen Sprachen für ganz Rußland ausbildete, 
entstanden. Es wurde bereits im Jahre 1820 auf Kosten eines ukrai- 
nischen Mäzenaten, des Fürsten Bezborodko, als „Gymnasium 
höherer Wissenschaften‘ gegründet und war im Jahre 1832 in 
ein ,Lyzeumphysikalisch-mathematischer Wissen- 
schaften“ umgebildet; im Jahre 1840 wurde es zum „Lyzeum 
der Rechtswissenschaften“, und endlich im Jahre 1875, 
als die Klassik auch Rußland beherrscht hatte, entstand aus dieser 
Schule das „Historisch-philologischelnstitut“. Dabei 
hat es jeden Zusammenhang mit seinem Lande und mit dem es um- 
flutenden Leben eingebüßt und existierte fast ein halbes Jahrhundert 
als eine gänzlich in sich selbst eingeschlossene Anstalt, als gewisser- 
maßen exterritorialer Bodenfleck in einer ruhigen ukrainischen Pro- 
vinzstadt. Die früheren Zeiten, wo vom NiZyner Lyzeum die Kinder 
des örtlichen ukrainischen Adels (unter anderen auch der geniale 
Gogol) ihre Erziehung bezogen, waren vorbei; es wurde zur Sammel- 
stelle der ausnahmslos in einem geschlossenen Internate in klaus- 
nerischer Weise lebenden Studenten aus allen Teilen Rußlands. 

Das Sovjetregime brachte mit sich, bekanntlich, eine völlige Re- 
organisation des Schulwesens. Das Nizyner Historisch-philologische 
Institut wurde zusammen mit allen auf dem Territorium der Ukraine 
liegenden Universitäten (Kiev, Charkiv, Odessa, Poltava, Kamjaneé 


86 


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und Ekaterynoslav) in ein „Volksbildungsinstitui“, das 
heißt in ein pädagogisches Institut zur Vorbereitung der Mittelschul- 
lehrer aller Lehrfächer, umgebildet. Selbstverständlich wurde das 
„klassische“ System restlos vernichtet; diese „Volksbildungsinstitute“ 
verloren überhaupt die wissenschaftliche Eigenart der alten Univer- 
sitaten, sie hörten auf, wissenschaftliche Anstalten zu sein. In NiZyn 
wurde aber dafür am Institute eine „Wissenschaffliche For- 
schungs-Lehrkanzelfür Kulturgeschichte errichtet, 
welche rein wissenschaftlichen Zwecken dient und die Arbeitsmög- 
lichkeit für einen Teil alter Professoren des früheren historisch- 
philologischen Institutes bietet. Die Lehrkanzel zerfällt in 3 Sek- 
tionen, und zwar: 1. Sektion für ukrainische und russische Geschichte, 
deren Leiter Prof. M. BereZkov (Erforscher der Handelsbeziehungen 
zwischen Hansa und der alten Ru$) ist; 2. Sektion für ukrainische 
und russische Sprache und Literatur, deren Leitung in den Händen 
des bekannten Historikers des alten ukrainischen Dramas und gleich- 
zeitig des Leiters der gesamten Lehrkanzel, Prof. V. Rézanovs, liegt; 
und J. Sektion für antike Kultur mit dem Prof. I. Turcevyé an der 
Spitze. 

Die Lehrkanzel gibt ihre „Zapysky“ (Abhandlungen) heraus, 
welche gleichzeitig das Organ des ganzen Institutes sind. Diese 
„Abhandlungen“ setzen gewissermaßen die Arbeit der früheren 
„Sammelschriften“ (Sbornik) des Historisch-philologischen In- 
stitutes fort, es ist aber dabei als Grundunterschied die Verwendung 
der ukrainischen Sprache in der letzteren Veröffentlichung hervor- 
zuheben. 

Es liegt vor uns der neue, bereits VIll. Band der „Abhandlungen“. 
Die alten „Sammelschriften“ standen dem ukrainischen Leben (mit 
Ausnahme von einigen dort erschienenen Arbeiten der Professoren 
BereZkov, Rézanov und Maksymovy¢é) sehr ferne; die neuen „Ab- 
handlungen“ sind, im Gegenteil, fast restlos den Themen aus ukrai- 
nischer Geschichte, Literatur, Ethnographie etc. gewidmet. Noch in 
vorigen Bänden der „Abhandlungen“ fanden wir die an die Tra- 
ditionen der klassischen Studien in NiZyn anknüpfenden Arbeiten, 
und zwar K. Stepas „Skizzen aus der Geschichte der antiken und 
christlichen Dämonologie“ im VI. Bande (1926) und A. Pokrovskyis 
„Proletarii“ im VII. Bande (1927); den Inhalt des lebten, VIIl. Bandes 
machen dagegen fast ausnahmslos die ukrainistischen Arbeiten aus. 

Prof. J. KolubovSkyj, der bekannte Herausgeber der rus- 
sischen Übersetzung des „GrundrissesderGeschichteder 
Philosophie“ von Überweg-Heinze, in welche er eine selbst- 
verfaßte, sehr wertvolle Übersicht der Philosophie in Rußland ein- 
verleibt hatte, ist in dem vorliegenden Bande der NiZyner „Abhand- 
lungen“ mit einem Aufsabe unter dem Titel „Zur Frage über die 
Philosophie in der Ukraine“, in welchem er seine Aufmerksamkeit 
dem auch in unseren „Jahrbüchern“, Band IV., Heft 1, besprochenen 
Buche von Prof. CyZevskyi „Philosophie in der Ukraine“ schenkt, 
vertreten. Prof. Kolubovskyj beurteilt die Arbeit CyZevSkyjs sehr 


87 


günstig und bereichert deren Ausführungen mit einer ganzen Reihe 
wertvoller Ergänzungen und bibliographischer Angaben. 

Prof. M. PetrovSkyj enthüllt in seinem Aufsatze „Zur Ge- 
schichte der Ruine“ ayf Grund der Quellenanalyse den legendären 
Charakter einiger in den Kosakenchroniken von Samovydeé und 
Velyéko geschilderten Momente aus dem XVII. Jahrhunderte, die bis 
jest in ukrainischer Historiographie für Tatsachen gehalten waren. 
A. JerSov, der schon früher eine ganze Reihe interessanter, der 
sehr wenig erforschten ukrainischen Historiographie des XVII. bis 
XVIII. Jahrh., gewidmeten Studien geliefert hat, gibt jeBt in der 
Arbeit „Die literarischen Quellen der historischen Arbeiten von 
St. LukomSkyj“ wertvolle Beiträge zur Erforschung der um das Jahr 
1770 entstandenen Arbeiten. 

Eine ganze Reihe von Artikeln ist der ukrainischen Literatur- 
geschichte gewidmet, und zwar: Iv. Pavlo vs k vi gibt eine Uber- 
sicht des Lebens und Schaffens eines begabten, tragisch im Bürger- 
kriege verstorbenen, jungen Dichters V. Cumak; O. Puly ne & liefert 
in seiner Arbeit „N. CernySevskij und die ukrainische Frage“ eine 
Charakteristik der Einstellung des berühmten russischen Soziologen 
und Publizisten der ukrainischen Nationalbewegung gegenüber; Prof. 
E. Rychlik beschäftigt sich mit den „Ukrainischen Motiven in der 
Dichtung J. Slowackis“; P. Odaréenko gibt neue Materialien zur 
Dichtung der LeSa Ukrajinka, der bedeutendsten ukrainischen Dich- 
terin am Anfang des XX. Jahrh., indem er ein neuentdecktes Album 
mit ihren Jugend-Gedichten behandelt. Prof. V. R&zanov ist mit 
den „Skizzen über die proletarische Dichtkunst“, die gleichzeitig den 
einzigen in diesem Bande in russischer Sprache veröffentlichten Bei- 
trag bilden, vertreten. 

Wir finden im vorliegenden Bande ferner noch die Aufsätze Prof. 
M. Dadenkovs über die Erziehungsphilosophie von Ernst Krieck, 
O. Kamenevs über Tabakbau und Mineraldüngung in der likraine, 
und der Frau M. TereSéenko über die Ergebnisse der landwirtschaft- 
lichen Sommerarbeiten der Schüler der Arbeitsschulen. Mit der Er- 
wähnung der offiziellen Berichte des Institutes und der Lehrkanzel 
ist der Inhalt des VIII. Bandes der „Abhandlungen“ erschöpft. Schon 
diese kurze Übersicht legt klar, daß im alten Kulturzentrum Nižyn 
die wissenschaftliche Arbeit nicht ausstarb, sondern nur teilweise 
neue, den veränderten Lebensbedingungen mehr entsprechende 
Formen annahm; diese Arbeit weist sehr interessante Ergebnisse 
auf, welche zweifelsohne dem Faktum zu verdanken sind, daß die 
wissenschaftliche Arbeit in NiZyn jetzt in organische Verbindung mit 
der Umgebung, mit den Geistesinteressen des Volkes, auf dessen 
Boden sie geführt wird, getreten ist. 


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BÜCHERBESPRECHUNGEN 


Swięty Franciszek z AssyZu. Zbiór odczytow. — Kraków 1928. Na- 
kladem Krakowskiej spolki wydawniczej 1928. XV u. 248 S. 


Von den 9 Vorträgen über den hl. Franz v. Assisi kommen hier für 
uns nur folgende in Betracht: Fr. Bielak behandelt S. 79—98 die fran- 
ziskanischen Motive in der polnischen Literatur; P. Skarga hat in seinen 
„Heiligenleben“ auch das Leben des hl. Franz beschrieben, aber es war 
keine originale Arbeit (vgl. auch X. Br. Gładysz, Swiety Franciszek z Assyżu 
w hagiografji polskiej, Przegl. teol. 1926, f. IV). Poetisch verwertet wurde 
der Poverello bei W. Kochowski, B. Chmielowski, Kulczycki, Syrokomla 
(Kantaty św. Franziszka), Odyniec, Siemieński, Swietochowski (in der No- 
velle „Pustelnik“), Dygasińki, Leszcyński (eine zweibändige Monographie 
des hl. Franziskus 1875). Unter dem Einfluß von P. Sabatiers Buch über den 
hi. Franz schrieb der Romanist Porembowicz i. J. 1899, das Franziskusleben 
Joergensens wurde von Stateczny bearbeitet (1912); Szczepanek gab 1912 
sein Büchlein: $. Franciszek, Pisma heraus. Besonders zu erwähnen sind 
hier noch die Hymnie $w. Fr. (1901) von Kasprowicz, die zwei Novellen von 
Witkiewicz o Jedrku Cajce und ZoSce Galicce. Unter den neuesten Dich- 
tern, die sich mit dem hl. Franz befassen, sind zu nennen: Morstin, Swięty, 
Kraków 1922, We kraju Latynów, ebd. 1924, Zegadlowicz: Przydz królestwo 
Twoje 1924, Kossak-Szczucha, Wielcy i mali, Z milosici (1926) Hulka-La- 
skowski, Cieszyn 1927. — Th. Szydlowski behandelt die Architektur der 
Franziskanerkirchen in Polen zur Piastenzeit (153—171) mit 9 Abbildungen. 
Wertvoll fur die Geschichte der Frommigkeit wie auch fiir die Ordensge- 
schichte ist der Aufsatz von Dabrowski: Die franziskanische Bewegung und 
die polnische Wiedergeburt im 13. u. 14. Jahrh. 173/89. 

Breslau. F. Haase. 


Monarchia Sancti Petri. Die kirchliche Hierarchie des Heiligen Petrus 
als freie und universelle Theokratie im Lichte der Weisheit. Aus 
den Hauptwerken von Wladimir Solowjew systematisch gesam- 
melt, übersetzt und erklärt durch L. Kobilinski-Ellis. — Matthias 
Grünewald Verlag 1929, XVIII u. 632 S. 


Solov’ev ist zweifellos einer der bedeutendsten russischen Religionsphilo- 
sophen. Es ist nicht recht erklärlich, warum dieser große Geist von seinenLands- 
leuten so unterschabt und abfällig beurteilt worden ist. Hat ihn doch Tolstoi 
einen „Kopfmenschen“, einen „Oberpriestersohn“ genannt, der ausschließlich 
davon lebt, dag man ihm Bücher gibt, die er durchliest und sich ein Argument 
daraus nimmt. Es muß aber doch anerkannt werden, daß S. sich ein eigenes 
System gebaut hat, das zwar aus den Weltanschauungen anderer Philo- 
sophen viel entlehnt hat, aber doch völlig selbständig durchgeführt ist. In- 
wieweit seine katholisierende Tendenz den Grund zur Ablehnung in seiner 


89 


Heimat gegeben hat, läßt sich natürlich schwer erweisen, dürfte aber bei 
vielen russischen Theologen, die gegen ihn geschrieben haben, von Bedeu- 
tung gewesen sein. Ersi die umfangreiche Monographie von E. Trubeckoi, 
Die Weltanschauung VI. S. Solov’evs, 2 Bde., Moskau 1913, hat in land 
den Philosophen näher gewürdigt, sein bedeutendster Schüler Berdja’ev 
Gebt in Paris) ware wohl der berufenste Interpret der Philosophie seines 
Lehrers. In Deutschland wurde Solov’ev durch die Herausgabe seiner aus- 
gewählten Werke von H. Köhler bekannt, in Frankreich gab M. d. Herbigny 
1911 eine ausführliche Monographie. Leo Kobilinski-Ellis, der schon die 
Gedichte Solov’evs übersetzt hat, gibt nun in dem vorliegenden Werke eine 
übersekung Sere mgen Werke, welche die kirchlichen und kirchenpolitischen 
Anschauungen von S. zum Ausdruck bringen. Als Fundament müssen philo- 
sophische Erörterungen herangezogen werden, die S. im 16. Kapitel seines 
Buches „Die Kritik der abstrakten Prinzipien“ (10—27) gegeben hat. Hier 
wird die Alleinheit als das Prinzip des Wahrhaft-Seienden gelehrt. Die 
zweite Voraussetzung bildet die Gottmenschheit, in welcher grundlegende 
Thesen über die mit Christus mystisch vereinigte Menschheit zur Sprache 
kommen (29—70). Es ist besonders dankenswert, daß der Überscher die 
Begriffe Logos, Sophia und Weltseele, über die viel irrige Anschauungen 
herrschen, näher behandelt. Aus den obengenannten Voraussetzungen baut 
nun S. seine Lehre über das Gottesreich auf. Seine Abhandlung: „Der 
große Streit und die christliche Politik“ (93—221) ist für den Kirchenhistoriker 
von großem Wert. Sie wird aber auch in der Beurteilung des Slavophilen- 
tums, der Kirchenfrennung und der Stellung Rußlands zu Byzanz und zum 
Westen wegen der umfassenden historischen Kenntnisse und der objektiven 
Beurteilung maßgebend bleiben. Erst jetzt beginnt der theologische Teil: 
Die freie Theokratie oder die universelle Kirche Christi (291/463) und die 
kirchliche Monarchie des hl. Petrus (464/538). 

Der Herausgeber hat sich aber nicht bloß mit der Ubersetzung begnügt. 
In seinen Anmerkungen und Erläuterungen (539—632) zeigt er ein so um- 
fassendes Wissen und Verständnis für Solov’ev, daß man den Wunsch aus- 
sprechen muß, Kobilinski-Ellis möge uns die so notwendige Religionsphilo- 
sophie Solov’evs schreiben. Er versteht es, die oft als „mystische Ver- 
stiegenheit“ Solov’evs gekennzeichnete Theologie klar zu machen. Mit Recht 
weist K. darauf hin, daß S. in seiner Terminologie die abstrakt-theologischen, 
transzendental-idealistischen und streng wissenschaftlichen Termini synthe- 
tisch zu vereinigen sucht, daß er dabei auf die alte Terminologie der alt- 
indischen, alt-ägyptischen, hellenischen, mosaischen Weisheitslehre in seiner 
Sophiologie zurückgeht; die Unvollkommenheit in der Terminologie besteht 
in der Vieldeutigkeit einiger Haupttermini (613). Es muß der Einzel- 
forschung vorbehalten bleiben, nachzuweisen, inwieweit Solov’ev im ein- 
zelnen von der alten Terminologie abhängig ist. Sehr erwünscht ist der 
freilich etwas zu kurz geratene Artikel über die Stellung Steiners zu 
Solov’ev; mit der Anthroposophie hat S. tatsächlich nichts gemeinsam. 

Erwünscht ware es gewesen, wenn K. angegeben hatte, nach welchen 
russ. Ausgaben er übersetzt hat. Der Leser erfährt z. B. nicht, daß die Ge- 
schichte der Theokratie in verschiedenen Ausgaben und z. T. mit einigen 
Veränderungen vorliegt in den Artikeln der Pravoslavnoe Obozrenie, der 
Istorija i budu3£nost’ teokratii, 1. Bd., Zagreb 1882, und in den Gesammelten 
Werken. Die Übersekung ist, soweit ich durch Stichproben mich überzeugt 
habe, gut und in leicht verständlicher Sprache wiedergegeben (die Zeitschrift 
„Vera i Razum“ dürfte einfacher mit „Glaube und Wissen” zu über- 
seben sein). 

Ein besonderes Lob verdient noch der Grünewaldverlag in Mainz. Er 
ist einer der wenigen Verlage in Deutschland, die wissenschaflliche russische 
Bucher zur Herausgabe bringen. Dazu gehört Opfermut, denn die wissen- 
schaftliche Welt in Deutschland ist gerade die, welche der slavistischen Welt 
sehr zurückhaltend gegenübersteht, und mancher deutsche Slavist weiß, 
daß namhafte Verleger mit Hinweis auf diese Zurückhaltung von dem Ver- 
lage von Werken slavistischer Richtung abstehen. F. Haase. 


90 


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Jubilejna Kniga na Grad Sofija (1878— 1928). Izd. Komitetüt 
za istorija na Sofija pri Bülgarskija Archeologiceski Institut. — 
Sofija 1928. 432 S. 4°. 


Die SOjahrfeier der Befreiung von der türkischen Herrschaft hat dem 
Ausschuß für geschichtliche Erforschung der Stadt Sofija am Bulgarischen 
Archäologischen Institut Gelegenheit gegeben, ein Werk zu veröffentlichen, 
welches innerhalb weitester Grenzen Geschichte und Charakter der jebigen 

en Hauptstadt in einer Reihe einzelner Aufsätze aus berufener 

Feder behandelt und eine Städtemonographie von großem Format darstellt. 
Es haben an dem 5500 Abschnitt die Professoren 
I3irkov, Kacarov, Mu3mov, Ivanov, Filov und Balamezov, an dem Abschnitt 
für Kultur- und Bildungsfragen die Herren Dorosiev, Stanimirov, Rajcev, 
Argirov, Balabanov, Christov, Prołič und Prof. Filov mitgearbeitet, um nur 
an den beiden ersten Abschnitten zu zeigen, wie individuell die einzelnen 
Untergebiete eines jeden Hauptgebietes behandelt worden sind. Ahnlich 
verhält es sich mit den Abteilungen für Wirtschaft und Finanzen und für 
Sozial- und Verwaltungswesen. Im Vorwort wird der Freude Ausdruck 
gegeben über die Fortschritte, welche die bulgarische Hauptstadt in der 
verhältnismäßig so kurzen Zeit von 50 Jahren selbständig nationalen Lebens 
aufweisen kann, und ein großer Teil der Aufsätze erfaßt in der Hauptsache 
eben die Darstellung der großen Vorwärtsbewegung auf den einzelnen Ge- 
bieten innerhalb der letzten 50 Jahre. Anders verhält es sich mit dem ge- 
schichtlich-geographischen Abschnitt, welcher ein hochinteressantes Denk- 
mal der Stadtgeschichte im Laufe von beinahe zweitausend Jahren ist und, 
ganz für sich genommen, dieser Jubilaumsschrift eine besondere Bedeutung 
= en in on ersten Aufsatz „Grad Sofija“ von A. I3irkov, welcher 
© Vordedn ische Lage der Stadt und ihrer Umgebung behandelt, wird auf 

die e dingungen der künftigen Bedeutung von Sofija eingehend hin- 
gewiesen: ihre Lage im Kreuzungspunkt von der Natur vor gezeichneter 
Wege, die das westliche Europa mit Vorderasien verbinden und die von den 
ältesten Zeiten an ihre Richtung kaum geändert haben. I3irkov kehrt am 
Schlusse seines Aufsakes „Sofija po vreme na osvoboZdenieto” zu diesen 
Betrachtungen zurück bei Gelegenheit der Meinungsverschiedenheiten, 
welche über die Wahl der Hauptstadt des befreiten Bulgarien bestanden, 
und dank den Bemühungen Drinovs aus geschichtlichen Erwägungen schließ- 
lich durch die russische Regierung und die bulgarische Volksvertretung in 
Trnovo zugunsten von Sofija entschieden wurden. Den besten Beweis für 
die Bestimmung der Stadt Sofija als Mittelpunkt des bulgarischen Landes 
liefert die eigenartige Geschichte ihres Namenswechsels, den l3irkov in 
allen seinen Phasen verfolgt vom antiken Serdika bis zu der volksethymolo- 
gischen Umgestaltung in Sr&dec mit allen ihren durch das nach a hinüber- 
laufende & bedingten lautlichen Wandlungen im Munde der Griechen 
oder der Kreuzfahrer: in Toadırla, Stralice, Stralaiz usw. In der landes- 
kundlichen Darstellung I3irkovs berührt der Abschnitt über Flora und Fauna 
des Sofioter Bezirks durch den idyllischen Charakter dieser Schilderungen 
besonders sympathisch, hier ist in kürzester Form wirklich ein Stück Kultur- 
geschichte im Sinne Hehns gegeben. Die Münzgeschichte der Stadt Serdika 
in dem kurzen Aufsab von Mu3mov ist eine wertvolle Ergänzung zu Kaca- 
rovs „Sofija v drevnosf‘ia”. Die diesen beiden Aufsätzen beigefügten Ab- 
bildungen antiker Statuen und Münzen, ebenso wie die zu Filovs Aufsab 
„Stari pameinici v Sofija“, sind eine dankenswerte Bereicherung dieses 
Werkes. Sofija im Mittelalter und unter türkischer Herrschaft stellt I. Ivanov 
dar mit Anführung eingehender bevölkerungsstatistischer Daten, die durch 
ir ko vs „Naselenie na Sofija“ noch weiter ausgebaut werden. Sehr ein- 
gehend ist, entsprechend der Bedeutung, die das Schulwesen von jeher im 
neuen Bulgarien gehabt, von Dorosiev dieses Gebiet dargestellt worden, 
die wissenschaftlichen Institute und Muscen bespricht Filov, in einzelnen 
Aufsäßen wird das Theaterwesen, Musikpflege und Kunstleben in Sofija 
behandelt, letzteres von Proti& unter Beigabe von Abbildungen moderner 


9 


Landschaftsbilder, Porträts und Skulpturen. Wiederholt wird darauf hin- 
ewiesen, welche Förderungen das junge Kunstleben Bulgariens durch Ze 
erdinand und seine Bereitwilligkeit zu Bilderkäufen erhalten hat. Die 
künstlerischen Bekenntnisse der bulgarischen Maler spiegeln alle Phasen 
der europäischen Kunst wider, es sind alle Richtungen verireten, vom Aka- 
demismus der Münchener Schule bis zum Expressionismus, ein eigener Stil 
hat sich noch nicht herausgebildet. In ähnlicher Lage wie Malerei und auch 
Skulptur befindet sich die Baukunst. Proti¢ gibt in Kürze ein anschauliches 
Bild von deren Wandlungen, für die bis vor kurzem immer das europäische 
Vorbild, gleich, ob zur Zeit der kopierten alten Stile oder der bewuften 
bkehr von ihnen im Vertikalismus und Konstruktivismus, maßgeblich ge- 
wesen ist. Nach dem Welikriege sebte aber bei Architekten und Bauherren 
das Sireben nach eigenen Ausdrucksformen unter Anpassung an die alte 
bulgarische Baukunst ein, man will diese nicht sklavisch kopieren, sondern 
sucht die traditionellen Formen dem neuen Material und zeitgemäßen Er- 
fordernissen anzupassen. Auf diesem Gebiet hat gerade Sofija die Füh- 

rung übernommen. 

Der wirtschaftliche Teil wird durch einen Aufsatz des Dozenten Il. ja- 
nulov über den Stand der Landwirtschaft im Sofioter Kreise eröffnet, welcher 
deutlich zu erkennen gibt, daz man weit davon entfernt war, in dieser 
Jubiläumsschrift den Stand der Dinge tendenziös rosig darzustellen. Ja- 
nulov stellt auf Schritt und Tritt Mängel fest und urteilt schonungslos über 
die Systemlosigkeit, mit welcher fast alle Meliorationsversuche seitens des 
Sofioter Bezirksrates unternommen worden sind, besonders scharf äußert 
er sich über den Raubbau im Forstwesen. uns Aufsab über das Hand- 
werk in Sofija beginnt mit einem interessanten Rückblick auf Handwerk und 
Zunftwesen des alten Bulgariens und über die Maßnahmen zu ihrer Hebung 
im befreiten Bulgarien; der Schneiderzunft ist ein längerer Abschnitt 
gewidmet, weil sie die älteste und bestorganisierte aller bulgarischen Ziinfte 
ist. Eine Statistik des gesamten Handwerks und Aufzählung aller Hand- 
werkerverbände in Sofija beschließen den Aufsak. Die Bedeutung Sofijas 
als Industrie- und Handelszentrum, der Stand der Aktiengesellschaften, des 
Bank- und Genossenschaftswesens u. a. m. wird in besonderen Aufsätzen 
dargestellt, ebenso werden in der Abteilung für Verwaltung und soziale 
Fürsorge alle einschlägigen Punkte ausführlich behandelt. Besonders ist 
es der Aufsab von Janulov über die Sozialpolitik der Stadt, der in sehr 
lebensvoller Weise die verschiedensten Gebiete des öffentlichen Lebens 
beleuchtet und die Schwierigkeiten dem Leser naheführt, mit welchen z. B. 
in der Wohnungsfrage die _Verwaltungsorgane zu kämpfen haben, um das 
Niveau der Lebenshaltung in den unteren Klassen zu heben. Es gibt wohl 
kein Gebiet, in welchem sich die traurigen Zustände der Nachkriegszeit 
deutlicher aussprächen als hier. Emmy Haertel. 


Korespondencija Racki-Strogmayer. Knjiga I: Od 6. oki. 1860 do 
28. dec. 1875. O stogodiSnjici rodjenja Franje Račkoga izdala 
Jugoslavenska Akademija Znanosti i Umjetnosti. Uredio Ferdo 
Šišić. Zagreb 1928, 414 S. 


Im Herbst 1928 sollte die 100. Wiederkehr des Geburtstages Ae 
Nackis, des bedeutenden kroatischen Historikers, Politikers und Kultur- 
pioniers, unter Beteiligung der gesamten jugoslavischen arts 
Öffentlichkeit in Agram festlich gefeiert werden. Durch die gerade akut ge- 
wordene politisch-nationale Spannung zwischen Kroaten und Serben wurde 
jedoch die Durchführung einer gemeinsamen Feier unmöglich. Die Jugo- 
slavische Akademie ehrte das Andenken ihres Hauptorganisators, Mit- 
begründers und ersten Präsidenten durch die schon lange dringend er- 
wünschte kritische Ausgabe der Korrespondenz Racki-Stroßmayer und legte 
die fe dieser Aufgabe in die Hände des berufensten Kenners, 
des Historikers Šišić. Mit dieser Korrespondenz, deren eine Teil in diesem 
Band vorliegt — ein zweiter Band folgt demnächst —, wird ein einzig 


92 


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wichtiges Quellenmaterial für die Erkenntnis der politischen, nationalen und 
kulturellen Geschichte der Kroaten und der übrigen Jugoslaven im 19. Jahrh. 
der weiteren wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die 
reichhaltigen personellen und sachlichen Erläuterungen Si3ie’, der übrigens 
in diesen Tagen (März 1929) den 60. Geburtstag feiert — die angekündigte 
Festschrift erscheint im Herbst —, erleichtern wesentlich die Beniitzung. 
ebenso der Personenindex am Schluß des Bandes. 
Oraz. J. Mati. 


Oleksander Kolessa: Pivdenno-volynśke Horodyšče i horo- 
dyśki rukopysni pamjatnyky XU—XVI v. (Südwolhynisches 
Horodyšče und die Horodyščer handschriftlichen Denkmäler 
aus XII.—XVI. Jahrh) — Kap. I-III im Naukovyj Zbirnyk 
UkrajinSkoho Universytetu v Prazi (Wissenschaftliche Sammel- 
schrift der Ukr. Univ. in Prag), Bd. l, Prag 1923, S. 23—65. 
Kap. IV im Juvylejnyj Naukovyj Zbirnyk Ukr. Universytetu v 
Prazi, prysvjialenyi P. Prezydentovy Ces.-Slov. Respubliky 
Prof. Drovy T. G. Masarykovy dl’a vSanuvaniia 75. rokovyn joho 
narodzeniia. (Wissenschaftl. Jubilaumssammelschrift, gewidmet 
dem Prasidenten der Cechoslov. Republik Prof. Dr. T. G. Masaryk 
zu seinem 75. Geburtstag.) Prag 1925, S. 406—432. 


Der bekannte ukrainische Philologe und Literaturhistoriker Professor 
O. Kolessa behandelt in seiner ziemlich großen Studie die im alten süd- 
wolhynischen Kloster in Horody3te entstandenen oder zu demselben in 
irgendeiner anderen näheren Beziehung stehenden literarischen Denkmäler. 
Da unter den Horody3ter Handschriften sich auch die schon seit längerer 
Zeit bekannten und für die Geschichte der ukrainischen Sprache sehr wich- 
tigen Denkmäler, wie z. B. die Chrystynopoler Episteln oder das sog. 
Bucacer Evangelium befinden, gewinnt diese Studie, deren Inhalt die kriti- 
schen Bemerkungen und Ergänzungen zu den früher herausgegebenen und 
die paläographische Beschreibung sowie philologische Analyse der bis 
dahin unbekannten Denkmäler ausmachen, eine besondere Bedeutung. 

Bis jetzt sind die vier ersten Abschnitte der Arbeit im Druck hieni 
im ersten Abschnitt finden wir die allgemeinen, einführenden Be- 
merkungen über das Horodyščer Kloster und über 
seine Handschriften. Verf. würdigt zuerst, auf Grund der in der 
bekannten Wolhynischen Chronik enihallenen Angaben, die Bedeutung 
Wolhyniens als eines alten ukrainischen Kulturzentrums und hebt besonders 
die diesbezüglichen Verdienste des wolhynischen Fürsten Volodymyr 
Vasyl’kovy& hervor. Es folgt eine Bestimmung der geographischen Lage 
des ehemaligen Horody3te und eine kurze, auf Grund des vom Verf. in 
der Kirche in Horody3te entdeckten und bisher ‘in der Wissenschaft un- 
bekannten Seelenmessenregisiers konstruierte Geschichte des jetzt schon 
nicht mehr bestehenden HorodyScer Klosters. Weiter stellt der Verfasser 
auf Grund untrüglicher Merkmale die HorodySéer Herkunft einiger wichtigen 
Handschriftendenkmäler fest. Etwas länger verweilt er bei der umfang- 
reichen, aber keinesfalls lückenlosen Motivierung der HorodyScer Herkunft 
zweier nur hypothetisch dieser Handschriftengruppe angehörender Denk- 
mäler, und zwar der Lavrover Fragmente eines Evangeliums aus 12.—13. Ih. 
und der Chliv&aner Fragmente eines Psalteriums aus derselben Zeit. 

Der zweite Abschnitt ist der Behandlung des wichtigsten und ältesten 
HorodySéer Denkmals, und zwar den HorodySéer Episteln aus 
12. Jahrh., die bis ict in der Wissenschaft unter dem Namen ,,Chrystyno- 
poler Episteln“ bekannt waren, gewidmet. Es wird die interessante Ge- 
schichte dieses zwar in Chrystynopil entdeckten, aber in HorodySée ent- 
standenen Kodex verfolgt und seine von KaluZniackyj angefertigte Aus- 


95 


gabe kritisch gewürdigi. Dann geht der Autor zur Bestimmung des Alters 
dieser Handschrift über, wobei er die auf Grund der falschen paläo- 
graphischen Observation des Kalukniackyi entstandene Ansicht, daß dieses 
Denkmal aus Galizien stammt, einer gründlichen Kritik unterzieht und ab- 
lehnt. Ebenfalls die kritische Betrachtung der gesamten späteren dies- 
bezüglichen Literatur sowie die erste genauere Analyse der Sprache des 
Denkmals liefern schlagende Beweise dafür, daß die Horody3ter Episteln 
En 1 Denkmal sudwolhynischer und keinesfalls galizischer Her- 
unft sin 

Es folgt im dritten Abschnitt eine genaue paläographische Beschreibung 
und sprachliche Analyse der vom Autor entdeckten und bis dahin unver- 
offentlichien HorodySéer Pergamentblätter eines Evan- 
geliums aus 12.—13. Jahrh. Die ausführliche wissenschaftliche Be- 
handlung dieser aus einem im 12.—13. Jahrh. vermutlich in HorodySée ge- 
schriebenen Kodex stammenden Fragmente führt den Verf. zur Uber- 
zeugung, daß diese zwar nicht viele, aber deutliche altukr. dialektologische 
Merkmale aufweisen und der Gruppe der eklektischen Übersetzungen an- 

gehören, wobei aber einige Versuche Se selbständigen Konzeption der 
Ubersebung zum Vorschein kommen. Text der Fragmente wurde in 
der Studie sorgfältig wiedergegeben; es 9 auch eine, leider nur teilweise, 
Photoreproduktion beigefügt. 

Der vierte und umfangreichste Abschnitt behandelt das schon seit der 
Bemerkung von A. PetruSevyé aus dem Jahre 1888 und hauptsächlich seit 
der im Jahre 1911 erschienenen paläographischen Studie von l. Svjencickyj 
bekannte, aber noch sehr wenig bearbeitete und nicht herausgegebene 
sog. Bucacer Evangelium aus 12.—13. Jahrh. In erster Linie beweist der 
Verfasser auf Grund der im Kodex befindlichen Bemerkung seines Schrei- 
bers MuSatyé die HorodySéer Herkunft des Denkmals und schlägt vor, den 
falschen Namen, den das Denkmal seinem Fundorte verdankt, endlich auf- 
zugeben und den einzig richtigen Namen ,HorodySéer Evan- 
gelium” zu gebrauchen. Weiter gibt der Autor, trojdem er die Not- 
wendigkeit einer vollständigen Ausgabe des ganzen Textes einsieht, doch 
nur eine ziemlich genaue paläographische Beschreibung des Denkmals, eine 
Analyse seiner Sprache und Würdigung seiner großen dialektologischen 
Bedeutung. Wir haben also zwar noch keine vollständige Ausgabe des 
Textes, im ganzen kann man sich aber schon jetzl auf Grund der Studie von 
Prof. Kolessa und der dort wiedergegebenen Fragmente des Textes ein 
ziemlich genaues Gesamtbild des Denkmals entwerfen. 

Einen besonderen Wert hat die genaue Besprechung der Phonologie 
der Sprache der Horody3£er Blätter sowie des Evangeliums. Der Verfasser 
behandeli alle diesbezüglichen Eigentümlichkeiten der beiden Denkmäler 
urd hebt die dialektologische Bedeutung vieler Merkmale, in erster Linie 
des sog. neuen Jaf’ (B), als untrüglicher Zeichen ihrer ukr. Herkunft hervor. 
In dieser Beziehung ist ‘die Arbeit eine wertvolle Ergänzung einer früheren, 
für die Geschichte der ukr. Sprache sehr wichtigen Studie von demselben 
Autor, und zwar seiner „Dialectologischen Merkmale” (Archiv f. slav. Phil. 
XVII), und gewinnt die allgemeinere Bedeutung einer sich nicht bloß auf 
die Beschreibung der neuen bzw. der nicht gut genug bekannten Denkmäler 
beschränkenden, sondern auch das Material objektiv beurteilenden und aus 
ihm die Schlüsse ziehenden wissenschafflichen Studie. 

Berlin. M. Hnaty3ak. 


Prof. Dr. Oleksander Kolessa: Pohl’ad na istoriju ukra- 
jinSko-ceSkych vzajemyn vid X. do XX. v. (Überblick der Ge- 
schichte der ukrainisch-tschechischen Beziehungen vom X. bis 
zum XX. Jahrh.) Prag 1924. 8°, S. 16. 

Die vorliegende kleine synthetische Arbeit gibt eine Nlüchtige, aber 


trobdem sehr instruktive, auf einem zwar meistenteils bekannten, aber hier 
sorgfaltig in ein Ganzes zusammengetragenen Material beruhende Dar- 


94 


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stellung der politischen und kulturellen Beziehungen zwischen dem tschechi- 
schen und ukrainischen Volke im Laufe der 10 letzten Jahrhunderte. Der 
überblick wird mit der Darlegung der ersten historisch belegten Beziehun- 
gen des Kiever Staates zu den Tschechen eingeleitet. Weiter verfolgt der 
Verfasser die ununterbrochene Kette der Wechselwirkungen in allen 
historischen Etappen und hebt besonders die kulturellen und literarischen 
Beziehungen der Zeit der nationalen Wiedergeburt der Slaven hervor. 
Berlin. M. Hnaty3ak. 


Prof. Dr. Oleksander Kolessa: Pohľad na istoriju ukra- 
jinSkoji movy. (Überblick der Geschichte der ukrainischen 
Sprache.) — Prag 1924. 8°, S. 43. 


In der Form einer akademischen Festrede gibt hier der Autor einen 
kurzgefaßien, trokdem aber vollständigen Überblick der geschichtlichen 
Entwicklung der ukrainischen Sprache, wobei er auch die Ergebnisse der 
neuesten Forschungen auf diesem Gebiete berücksichtigt. Nach einer 
knappen Darlegung der wichtigsten historisch-philologischen Vorkenntnisse, 
die hauptsächlich die Siedlungsfrage der altukrainischen Stämme behandelt 
und sich mit den diesbezüglichen Theorien von Pogodin und Sobolevskij 
und mit deren Widerlegung durch die moderne Wissenschaft befaßt, geht 
der Verfasser zur eigentlichen Geschichte der Sprache über, verweilt län- 
gere Zeit bei der Aufzählung der wichtigsten altukrainischen Schrifidenk- 
mäler und bei der Behandlung ihrer phonologischen und morphologischen 
Eigentümlichkeiten und korrigiert auf Grund der kritischen Betrachtung des 
Materials und mit Hilfe der Schmidtschen Wellentheorie die veralteten, 
unrichtigen Ansichten über das Verhältnis der ostslavischen Sprachen zu- 
einander. Dann wird das allmähliche Eindringen der weiteren Elemente 
der Volkssprache in die alte Schriftsprache bis zum Ende des 18. Jahrh. 
verfolgt. Diesem Abschnitt ist ein lehrreicher Exkurs über die Geschichte 
der altukrainischen Schriftsprache in südwestlichen Gebieten des ukrai- 
nischen Territoriums beigefügt. Viel Aufmerksamkeit schenkt der Verfasser 
auch den gegenseitigen Wechselwirkungen zwischen dem Ukrainischen 
einerseits und den Sprachen der slavischen und nichtslavischen Nachbar- 
völker anderseits. Den Übergang zur Behandlung der modernen, im 
Gegensatze zur alten Schriftsprache auf der ganz volkstümlichen Basis be- 
ruhenden Literatursprache, bildet die geschichtliche übersicht der Entwick- 
lung einzelner ukrainischer Mundartengruppen und Darlegung ihrer wich- 
tigsten Eigentümlichkeiten. Der Arbeit wurde ein wertvolles Verzeichnis 
der wichligsten wissenschaftlichen Literatur des Gegenstandes beigefügt. 

Berlin. M. Hnnaty3ak. 


„Rok 1863 na MihszczyZnie.“ — Verlag des Instituts für weißrussische 
Kultur. S. 216. Minsk 1927. 


Die Verfasser dieser Publikation betrachten sie selbst als Versuch: sie 
stellen sich die doppelte Aufgabe — festzustellen, was die Archivmaterialien 
der Privatkanzlei Seiner Majestät für die Erforschung der Ereignisse von 
1863 in Weißrußland bieten können, und ferner der akademischen Jugend 
„ein anschauliches Hilfsmittel für das Studium der Quellen zur Geschichie 
der bedeutsamen Ereignisse von 1863 im Gouvernement Minsk“ zu bieten. 
Aus didaktischen Gründen sind die bisher z. T. unbekannten Archivmateria- 
lien mit einem Anhang versehen, der „die Beleuchtung der Ereignisse” bieten 
soll zwecks größerer Anschaulichkeit. Aus der gewaltigen Masse der Archiv- 
materialien über die Ereignisse des Jahres 1863 in Weißrußland wählten die 
Verfasser zur Publikation zunächst die über die Ereignisse im Gouvernement 

. Hier wurde das erste Zeichen für den Aufstand durch das bekannte 
Protokoll des Adelskongresses im November 1862 in Minsk gegeben. Hier 
wurde der Aufstand auch tödlich getroffen und die Prinzipien ausgearbeitet, 


95 


die eine Wiederhol des Aufstandes unmöglich machen sollten. Diese 
Prinzipien werden sehr präzis in den Briefen des General-Gouverneurs 
Murav’ev an den Chef der Gendarmen Fürst Dolgorukov formuliert. Die 
Sammlung ist bei weitem nicht vollständig, sondern, wie es bei einer für 
den akademischen Unterricht bestimmten Publikation wohl auch nicht anders 
zu erwarten war, enthält sie nur die für die Politik der zaristischen Regie- 
rung besonders charakteristischen Dokumente. Sie enthält in der Anlage 
die Denkschrift des al ober ou Joseph SémaSko an den Caren Alexander Il. 
(vom 26. Februar 1859) r die gegenwärtige Lage Polens“; zwei Geheim- 
briefe von Murav’ev an den Chef der Gendarmen Furst Dolgorukov. Ferner 
enthält die Sammlung die untertänige Adresse der polnischen Gutsbesiger 
des Gouvernements Minsk an den Zaren mit der Bitte um Verzeihung und 
Vergebung. Die Denkschrift von S&ma3ko ist bereits wiederholt veröffent- 
licht worden. Hier ist aber zum ersien Male die Wiedergabe nach einem 
offiziellen Original mit den Randbemerkungen des Kaisers erfolgt. Von 
den Geheimbriefen Murav’evs ist der zweite 1913 in der Zeitschrift „Golos 
Minuvsago“ veröffentlicht worden, der erste Brief war bisher nur in Aus- 
zügen bekannt. Die Briefe von Murav’ev geben eine „Philosophie“ seiner 
Politik im Nordwestgebiet. Aus seinen Briefen erhellt sein Kampf mit der 
Zentralregierung, die anscheinend für eine mildere Behandlung der polni- 
schen Gutsbesifer war. Die bauernfreundliche Politik Murav’evs erregte 
deutliche Beunruhigung bei den russischen Klassengenossen der polnischen 
Gutsherren. Man muß dabei berücksichtigen, daß sich die bauernfreundliche 
Politik Murav’evs kurz nach Aufhebung der Leibeigenschaft in Rußland ent- 
faltete, die auf dem Hintergrund dumpfer Bauernunruhen erfolgte. Murav’ev 
bemüht sich, den Nachweis zu führen, daß „der Staat sich im Nordwest- 
gebiet nur auf die Bauernschaft“ stützen könne. Aus den Dokumenten der 
Sammlung ist zu ersehen, daß die Initiative zu der untertanigen Adresse 
von dem Adelsmarschall ausging, die Unterschriften wurden von der Polizei 
laut Befehl des Gouverneurs gesammelt. Es wurden 6200 Unterschriften 
adliger Polen gesammelt — ein Beweis dafür, daß die aktive Teilnahme 
der polnischen Adligen am Aufstand im Gouvernement Minsk kaum sehr 
bedeutend gewesen ist. Das Vorwort zu der Sammlung stammt aus der 
Feder eines aktiven Publizisten, nicht eines objektiven Historikers. 
Wilna. Vladimir Samojlo. 


Sozyjalisiyöny ruch na Belarusi u prokijamacyjach 1905 g. (Die 
sozialistische Bewegung in Weißrußland in der Flugblattliteratur 
des Jahres 1905.) Instytut Belarusk. kultury. Minsk 1927. 256 S. 


Die Sammlung enthält 114 Flugblatter verschiedener sozialistischer 
Gruppen, die 1%5 auf dem Territorium Weißrußlands en Von all 
diesen Aufrufen sind nur 10 in weißrussischer Sprache, 3 in jiddischer 
Sprache, die übrigen Aufrufe sind in großrussischer Sprache abgefaßt. Die 
Redaktion gibt selbst zu, daß die Sammlung große Lücken aufweist: es 
fehlen gänzlich Aufrufe in litauischer Sprache, die Zahl der weißrussischen 
Flugblatter ist überraschend gering. Dagegen sind im vorliegenden Buch 
andere Materialien vorhanden, die keine Flugblatter sind, aber wichtige 
Anhaltspunkte für die Geschichte der sozialistischen Parteien in Weißruß- 
land bieten. Die meisten Aufrufe sind nach authentischen Flugblättern jener 
Zeit reproduziert worden, z. T. nach Materialien der Polizeiarchive. Die 
Gliederung der Flugblatter erfolgte nach der Parteirichtung und regionalen 
Gesichtspunkten. Vor jedem Flugblatt ist eine Vorbemerkung vorhanden 
mit Angaben über die näheren Umstände seines Erscheinens. jede Abtei- 
lung der Sammlung enthält eine kritische Würdigung des vorhandenen Ma- 
terials. Die Sammlung enthält ferner ein Namens- und Ortsregister. Die 
Verfasser der Sammlung sind das wirkliche Mitglied des Instituts fur wei- 
russische Kultur M. Mijaléska, I. Witkouski und S. Zilunoviè. Die Sammlung 
stellt den ersten Versuch der zusammenfassenden Publikation sozialistischer 
Agitationsliteratur aus dem Jahre 1905 in Weißrußland dar. Die schwung- 


96 


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hafte Vorrede des Dichters Zilunoviè nötigt den Historiker bei der Benußung 
dieses Materials zu besonderer Vorsicht, da das Bild, das der Verfasser 
von dem Entwicklungsgang der Revolution von 1905 in Weißrußland ent- 
wirft, eine Mischung von Wahrheit und Dichtung darstellt, eine Schilderung, 
die dem Dichter Zilunovié mehr Ehre macht als dem Historiker Zilunovi&. 
Hinter so manche seiner Behauptungen dürfte man ein Fragezeichen stellen. 
Mit Recht stellt der Verfasser fest, daß zu Beginn des Jahres 1905 in Ost- 
weißrußland die Russische Sozialdemokratie und die Jüdische Sozialdemo- 
kratie (Bund) starken Anhang in den Massen hatten, während in Westweiß- 
rußland die Polnische sozialistische Partei und die sozialdemokratische 
Partei Litauens und Weißrußlands dominierten. Beachtenswert sind die 
Ausführungen über das gemeinsame Vorgehen weißrussischer und jüdischer 
Arbeiter unter dem Einfluß der Sozialdemokratie. Dagegen dürften die Aus- 
führungen über die sozialdemokratischen Einflüsse in der weißrussischen 
Bauernschaft i. J. 1905 retrospektiv konstruiert sein, da Verf. an anderer Stelle 
selbst zugibt, daß in der Bauernschaft mit Erfolg hauptsächlich die Partei 
der Sozial-Revolutionäre und die weißrussische sozialistische Hromada 
arbeiteten. Fälschlich behauptet der Verf. daß die weißrussische sozia- 
listische Hromada 1902 gegründet wurde. Einer der Mitbegründer dieser 
Partei, A. Luckevité, hat vor kurzem in einer Broschüre, die dem jubiläum 
des 25jahrigen Bestehens dieser Partei gewidmet war, das Gründungsjahr 
als 1905 festgestellt. Der als Mitbegründer der sozialistischen Partei Weiß- 
rußlands genannte M. Falkowski dürfte wohl Falski sein. 

Die Sammlung bietet einen wichtigen Beitrag für die Erforschung der 
Geschichte der revolutionären Bewegung in Weißrußland. 

Wilna. Vladimir Samojlo. 


S. NekraSevié: Sovremennoe sosiojanie izucenja belorusskago 
jazyka. (Der gegenwärtige Stand des Studiums der weißrussi- 
schen Sprache.) — Arbeiten d. Akad. Konferenz zur Reform der 
weißrussischen Orthographie und des Alphabets. — Minsk. Ver- 
lag des Instituts für weißrussische Kultur. 1928. 


S. NekraSevié — der Vorsitzende der Abteilung für Sprache und Lite- 
ratur des Instituts für weißrussische Kultur in Minsk — gibt eine eingehende 
übersicht der Bibliographie aller philologischen Abhandlungen über 
Probleme der weißrussischen Sprache, die in den letzten 5—6 Jahren er- 
schienen sind. Seine Darstellung umfaßt die entsprechende Literatur sowohl 
in weißrussischer Sprache, wie auch die fremdsprachliche Literatur. 
»Die gewaltige Tatsache der Wiedergeburt der weißrussischen Staat- 
lichkeit hat die unerschütterlichen Grundlagen für die normale Entwicklung 
der weißrussischen Sprache gelegt. Die weißrussische Sprache hat sich aus 
einer Gesamtheit lokaler Dialekte zu einer wissenschaftlich erforschten 
literarischen Sprache entwickelt, die berechtigt ist, auf der Grundlage der 
Gleichberechtigung ihren Platz unter den anderen slavischen Sprachen ein- 
zunehmen.“ Man kann nicht umhin, in dieser Äußerung von NekraSevié ge- 
wisse Übertreibungen festzustellen. In 5—10 Jahren hat noch kein Volk der 
Welt eine „wissenschaftlich erforschie literarische Sprache“ geschaffen. 
Auch das weißrussische Volk nicht. Die Schaffung der literarischen weiß- 
russischen Sprache beginnt in Wirklichkeit nicht etwa mit der Schaffung der 
Eigenstaatlichkeit, sondern vollzieht sich mühsam und langsam unter dem 
Einfluß der russischen, polnischen und ukrainischen Literatur. Jeder Ver- 
such, diese Entwicklung zu beschleunigen, müßte natürlich dazu führen, daß 
die fremdsprachlichen Elemente statt die in Entstehung begriffene weiß- 
russische literarische Sprache lediglich zu beeinflussen, sich wie reißende 
Ströme in ihr Bassin ergießen würden. Dieser Gefahr hat nun allerdings 
die weißrussische Eigenstaatlichkeit vorgebeugt, dem Zufluß fremdsprach- 
licher Bestandteile organische nationale Filter enigegensekend, die das 


7x 5 97 


neue sprachliche Material im schöpferischen Herd des weißrussischen ,,Ge- 
müls“ verarbeiten. 

Das bisherige Studium der weißrussischen Sprache beschränkte sich 
laut den Ausführungen des Verfassers auf die Volkssprache und die alte 
Sprache der mittelalterlichen weißrussischen Literatur. Die Sprache. der 
modernen weißrussischen Literatur wurde von den Forschern bisher nicht 
berücksichtigt. Die Eigenstaatlichkeit Weißrußlands machte die Schaffung 
einer literarischen weißrussischen Sprache zur unbedingten Notwendigkeit. 
Das Ideal wäre nach Ansicht des Verfassers die Einheit von Volkssprache 
und literarischer Sprachc. Dem steht jedoch zunächst das niedrige kulturelle 
Niveau der weißrussischen Volksmasse entgegen. Hinzu kommt die Wir- 
kung der politischen Teilung Weißrußlands. Diese wirkt sich in ortho- 
graphischen und lexikalischen Verschiedenheiten aus. Es wäre indessen 
granua; eine orthographische und lexikalische Einheit einfach zu dekre- 

eren, wozu im Lande des allmächligen Dekreis leider eine große Ver- 
suchung besteht. Die „Konferenz der gegenseitigen Konzessionen”, auf die 
der Verfasser hofft, muß unter den obwaltenden Umständen, die eine Füh- 
lungnahme der Sprachforscher Polnisch-Weißrußlands und Sowjetweißruß- 
lands so gut wie unmöglich machen, als wenig wahrscheinlich bezeichnet 
werden. Dies beweist am besten die Tatsache, daß dir Vertreter der Wil- 
naer weißrussischen Wissenschafilichen Gesellschaft vernindert wurden, an 
der ersten derartigen Konferenz in Minsk teilzunehmen. 

Der zweite Teil der Arbeit des Verfassers enthält eine Übersicht der 
Arbeiten der Abteilung für Sprache und Literatur am Institut für weiß- 
russische Kultur in Minsk. Diese Abteilung hat 5 Unterabteilungen: eine 
terminologische, eine lexikalische, eine orthographische, eine folkloristisch- 
dialekiologische und eine literarische. 

Besondere Schwierigkeiten machte die Schaffung einer wissenschaft- 
lichen Terminologie, da fast sämtliche Vorarbeiten fehlten. Die terminolo- 
gische Unterabteilung schuf 9 Wörterbücher wissenschaftlicher Terminologie 
für das höhere Schulwesen. Diese Wörterbücher enthalten 11641 Aus- 
drücke. Es liegen bereits 9 weitere druckfertige Wörterbücher mit 25 000 
Ausdrücken vor. Es besteht die noch weit schwierigere Aufgabe, die Ter- 
minologie für die Hochschulen zu schaffen. Der Verfasser gibt selbst zu, 
daß manche neue Ausdrücke gekünstelt sind und hofft, daß die Praxis da 
Korrekturen vornehmen werde. Eine nicht minder wichtige Arbeit ist die 
Schaffung des Worterbuches der lebenden Volkssprache. Es liegen die 
Manuskripte von einem russisch-weißrussischen und einem weißrussisch- 
russischen Wörterbuch vor. Beide sind von NekraSevié und Bajkow verfaßt 
und enthalten 60 000 resp. 30 000 Wörter. Als Unterlage für diese Arbeiten 
dienen die bereits vorhandenen Wörterbücher von Nosovič, Dobrovol’ski, 
Spilevski und Medvédski, sowie eine spezielle Enquete auf dem Gesamt- 
gebiet Weißrußlands. An folkloristisch-dialektologischem Material liegen 
960 Druckbogen vor. Es handelt sich dabei um gänzlich neues, bisher un- 
bekanntes Material. 

Hinzu kommen die Sammlungen, die in den wissenschaftlichen Anstalten 
Leningrads und Warschaus untergebracht sind und zum Teil nur im Manu- 
skript vorliegen. Die literarische Unterabfeilung beschäftigt sich vorwie- 
gend mit der modernen Literatur. Verfasser schließt seine Ausführungen 
mit dem Hinweis, daß das Institut für weißrussische Kultur sich keinerlei 
allgemein-philologische Aufgaben stellt, sondern lediglich der Erforschung 
und der Bearbeitung der weißrussischen Sprache dient. 

Wilna. Vladimir Samojlo. 


Josef Pekaf, „ZiZka a jeho doba“. l. Teil: „Die Epoche unter be- 
sonderer Berücksichtigung Tabors“, SS. XVI u. 283. Il. Teil: „Jan 
2ikka“, SS. XIII u. 281. Prag, Verlag: Vesmír, 1927 — 1928. 


Gleich in der Einleitung seines Werkes vermerkt der Autor, daß sich 
seine Arbeit in der Auffassung der böhmischen konfessionellen Revolution, 


98 


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vor allem in der Auffassung des Taboritentums teilweise von dem von 
Palacký entworfenen Bild unterscheidet. Die Ausführungen Palackys 
ieren 50 Jahre zurück, hingegen stammen ihre Konzeptionen aus der 
Zeit der wissenschaftlichen Anfänge Palackys (also vor 100 Jahren), so daß 
es nur natürlich erscheint, wenn sie im Zeichen seiner geistigen Geburts- 
stätte stehen. Es handelt sich hier also um eine Zeit, in welcher der 
Romantismus, Nationalismus und Liberalismus sich zusammenschlossen, um 
das Bild der fernen Vergangenheit, die gewissermaßen auch als Muster 
und Programm für die Zukunft dienen sollte, zu idealisieren und den eigenen 
Vorstellungen und Zielen näher zu bringen. Je mehr sich aber die breite 
Öffentlichkeit diese Auffassung zu eigen machte, um so mehr war die 
Wissenschaft, die sich schon im Werke W.Tomeks mit ihr zu identifizieren 
weigerte, von Zweifeln über ihren Wert erfüllt, obwohl eine kritische Re- 
vision derselben auf ausreichend breiter Basis in Wirklichkeit nicht erfolgte. 
Dagegen haben die Studien und Editionen der letzten 50 Jahre, darunter 
namentlich die Arbeiten J. Golls und Sedläks in beträchtlichem Maße 
zu einem tieferen Verständnis für den Entwicklungszusammenhang dicser 
böhmischen Bewegung beigetragen. Um aber die Lösung dieser so wich- 
tigen Frage in ihrer ganzen Größe zu erkennen, besprichi Autor die ein- 
zelnen Seiten dieser Frage in eingehendster Weise, indem cr zunächst ein 
umfangreiches Material von Zeugenaussagen, und zwar in authentischem 
Zusammenhang vorlegt, wobei er bei der Einvernahme dieser Zeugen den 
Vertretern aller Parteien und Richtungen das Wort erteilt. Dabei wird dem 
Charakter der Quellen und der Individualität ihrer Autoren streng Rechnun 
geiragen und überhaupt — wie er selbst zugibt — mehr darauf Bedach 
genommen, die Leute und Ereignisse zu verstehen, als sie zu beurteilen. 
Im ersten Teil berührt der Autor die dem Tode Hussens nach- 
folgende Zeitepoche und die ideelle Fortsebung des Werkes Hussens, das 
im Wirkungskreis namentlich Jakoubeks, Nikolaus von Dresden und Peter Chel- 
čickýs gewissermaßen einen geistigen Übergang zum Taboritentum darstellt. 
Die große Bedeutung in der Entwicklung der böhmischen Revolution 
nach dem Tode Hussens erblickt Autor vor allem in der Tätigkeit zweier 
Männer, Jakoubeks aus Stfibro, eines Universitätskollegen Hussens und 
Nikolaus’ von Dresden, eines deutschen puritanischen Gelehrten, 
der wegen seiner Ketzerlehre aus Dresden vertrieben wurde. Autor nennt 
Jakoubek einen radikalen Verfechter des Gesetzes Gottes, der die Rückkehr 
zur ursprünglichen Kirche predigt. Bereits im Jahre 1410 halt er an der 
Universität einen Vortrag, worin er der Kirche des Antichrist, der falschen 
Kirche die wahre Kirche, die Gemeinschaft der Heiligen entgegenstellt und 
den Christen die Verieidigung der evangelischen Freiheit bis zum Tode auf- 
erlegt und im Jahre 1412 in einer Rede den Papst als größten Antichrist 
bezeichnet. Besonders starken Einfluß nahm auf die Taboriten die Lehre 
Nikolaus’ von Dresden, der sich aber auch auf Jakoubek ausdehnte, den er 
gut kannte. Nikolaus, der ein guier und versierter Kenner der Schrift, 
namentlich aber der Kirchengesebe und damit der Kirchengeschichte war, 
interessierte sich am meisten fur die Frage, wie die ursprüngliche Kirche zur 
Zeit der Apostel in der Lehre, Verfassung und im Ritus aussah und wann 
und wie die Irrlehren zunahmen, die ausgemerzt werden sollten. Und darin 
war er der Lehrmeister Jakoubeks, der aus seinem Material schöpfte. 
Nikolaus zeigte z. B., wie einfach die Zeremonien der hl. Messe waren. 
Der Autor verweist darauf, wie Jakoubek unter Benükung seiner Daten dar- 
legte, wie im Noffall die Messe vereinfacht werden könnte und weiter, 
daß die Taboriten sich mit Berufung auf die Messe Jakoubeks für ihren 
Ritus in Wirklichkeit nach Nikolaus richten. Dieser nahm entschieden gegen 
die Bilder und ihre Verehrung Stellung und diese seine Anschauung wurde 
von den Taboriten übernommen. Nikolaus bekannie sich zur Waldenser 
Lehre, daß es kein Fegefeuer gibt. Die Taboriten machten sich diese Lehre 
Nikolaus’ zu eigen, wenn auch Jakoubek (im November 1415) das Fegefeuer 
gegen Nikolaus verteidigt. Der Autor bemerkt, daß es sehr schwer falle, 
die Frage zu lösen, wer der Urheber des Kelches war, sei es nun 


99 


B oder Nikolaus von Dresden und seine ganze sog. 

esdener Schule am Graben. Soviel ist jedoch nur bekannt, 2 diese 
von Jakoubek und Nikolaus eifrig gepredigte Lehre vom Kelch sich rasch 
verbreitete und damif auch der Kampf um den Kelch, womit erst die 
bohmische Hussitengemeinde das sichtbare Zeichen ihres Unterschiedes von 
der offiziellen Kirche erhielt, welche Bewegung bereits im Frühjahr 1415 im 
vollen Gange ist. 

Bei der Schilderung der tragischen Stellung Jakoubeks, wo die Re- 
volutionsgewalt, die mit einem Angriffe Zelivskys und Zizkas auf das Neu- 
stadter Rathaus im Jahre 1419 begann, die Ankündigung des offenen Kampfes 
sowohl an ihn, wie auch an seine Orundsage, ja geradezu einen A 
gegen die Geseke Gottes bedeutete, wie er es auffaßte und wie es zahl- 
reiche gemäßigte Tschechen-Hussiten auffaßten. Weiter schildert Autor, 
wie sich diese Situation durch die Veranstallung eines Kreuzzuges gegen 
die böhmischen Keber vollkommen ändert. 

Damals (im Mai 1420) kam es zu verschiedenen Übereinkommen mit den 
Taboriten, an denen auch die Prager Meister und Taboritenpriester Anteil 
hatten, und in denen das Schwertrecht den Gemeinden allem nach zu schlie- 
Ben ausdrücklich zuerkannt wurde. Im Zusammenhang damit wurde [seitens 
der Prager Gemeinde) verzeichnet, daß, im Falle es im Verlaufe des 
Kampfes zu Irrungen oder Ärgernis erregenden Taten kommen, oder Per- 
sonen oder die eine oder die andere Kirche zu Schaden kommen sollte, 
dies mit der unerläßlichen Notwendigkeit und Oründen der Verteidigung zu 
motivieren ist. („Unsere Absicht ist es, alle Sünden zu filgen.“) Doch nicht 
lange dauerte dieser Zusammenschluß der gemäßigten hussitischen Elemente 
und wahrhaften Verkünder der Lehre Christi mit den Taboriten, die es in 
der Praxis häufig für erlaubt hielten, „unter dem Zwange der Verhältnisse“ 
auch den Besitz des Feindes zu überfallen und zum eigenen Gebrauch zu 
okkupieren. Es dauerte nicht lange, so trat Jakoubek selbst entschieden 
gegen die Taboriten und ihr Schwertrecht auf. Am energischsten trat jedoch 
Peter Chelticky gegen die Taboriten auf, ein aufrichtiger Feind falschen 
Christentums, dessen Auswüchse und Schandtaten er voll Anschaulichkeit 
und mit rücksichtslosem, ja geradezu grimmigem Sarkasmus zu schil 
versteht. Anfangs steht Chelcicky den Taboriten ziemlich nahe, die Ab- 
schwenkung Chel£ickys von ihnen datiert jedoch sozusagen von dem Augen- 
blicke an, da das Taboritentum nach dem Verrat der Parole „Keine Ge- 
watt“! ins Leben trat. 

Das Verhältnis Chelèickys zu den Taboriten und zu Žižka selbst erklärt 
hier Autor aus der Lehre Cheltickys. Das Leben der Christen soll 
— nach der Lehre Cheltickys — der penge Kampf, der Kampf gegen den 
Teufel, der Kampf gegen seine Nachstellungen sein, mit denen er auf jeden 
Schritt das sittliche Gleichgewicht des Christen und seines Seelenheiles be- 
droht. überhaupt ist Chelcicky unermüdlich in der Schilderung all jener 
Listigkeiten, mit denen der Teufel den Schwächling zur Sünde verführt; 
deshalb empfiehlt er dem Christen nach dem Beispiel der Heiligen Schrift, 
zum Schutze gegen den Teufel den Panzer der Gerechtigkeit, nicht der 
menschlichen, sondern der göttlichen, umzutun, da die menschliche Gerech- 
tigkeit allein dem Teufel nicht widerstehen könnte. Der Teufel ist sicherlich 
so klug, in ihr rasch eine jede Schwäche zu entdecken, herauszufinden, wo 
der Fehler, oder eine schwache Stelle, oder eine Offnung im Panzer sich 
befindet, „da ZiZka, dieser kluge Kämpfer, auf diesen Panzer nicht schie- 
Ben soll, sondern der Satan, der erprobtere Kämpe, da er weiter sicht, als 
der einäugige Žižka.“ Es hat den Anschein, als ob Zizka hier mit dem 
Teufel verglichen würde, und dies deshalb, weil Cheldicky sagen will: Der 
Satan ist noch klüger und gefährlicher als Žižka, als der durch seine mili- 
tärische Tüchtigkeit bekannte ZiZka. Dieser Vergleich Zikkas mit dem Satan 
überrascht Chel¢icky nicht. Die Gewalt bedeutet für Chelticky ein Werk 
des Satans und des Trägers und Repräsentanten der Gewalt, sie stehen 
also in den Diensten und sind Werkzeuge des Teufels. Ja ganz Tabor be- 
deutet für ihn eine Versuchung des Teufels. 


100 


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Weiter berührt der Autor noch einige andere in diesem Buch enthaltene 
geringere Faktoren, die nach dem Tode Hussens in seiner Richtung weiter 
wirkten und den Taboriten und Žižka den Weg bahnten. 

Der zweite Band, der sich ausschließlich mit dem Problem der histori- 
schen Erscheinung Zizkas befaßt, enthält durchweg kritische Dokumentie- 
rung, die sich aus den endgültigen Urteilen und Resultaten ergibt. 

Einen Oroßleil desselben füllt das mit ,2izka in der Darstellung der 
Gedenkbiicher” betitelte Kapitel Ill aus und enthält im wesentlichen die Aus- 
sagen der Zeugen eines ganzen Jahrhunderts, angefangen von Zizkas Zeil- 
genossen bis zu den Enkelin und Urenkeln aus den Anfängen des 16. Jahr- 
hunderts. Besondere Aufmerksamkeit ist in der kurzen Übersicht auch dem 
Charakter der Tradition Zizkas im nächstfolgenden Jahrhundert gewidmet, 
das durch die Schlacht am Weißen Berg seinen Abschluß findet. Die Zeugen 
werden dem Leser der Reihe nach mit der erforderlichen Belehrung über 
den Charakter, Wert und die Bedeutung ihrer Aussagen vorgeführt, so dab 
sich daraus gleichzeitig auch eine kritische Übersicht über die gesamte böh- 
mische analistische und historische Arbeit des XV. Jahrhunderts ergibt. Im 
folgenden, mit „Žižka über sich selbst“ betitellen Kapitel versucht Autor 
durch eine Analyse der Blätter und öffentlichen Kundgebungen Zizkas zu 
der Erkenntnis zu gelangen, wie Zikka über seine Sendung selbst dachte. 
Beide Unterschiede ergänzen einander gegenseitig und bilden den wesent- 
lichen Teil des Prozesses Zizkas. 

Auf Grund eines Vergleiches der Daten über das Leben des Zeit- 
genossen Zizkas, Johann von Mysletin, gelangt Autor zu der Annahme, daß 
Jan 2iäka von Trocnov im jahre 1378 ungefähr 28—30 Jahre alt gewesen sein 
muß. Dabei glaubt er, daß Žižka seiner Abstammung nach cher ein im 
Krumlauer Gebiet aufgewachsener Edelmann war, als ein am Königshofe auf- 
gewachsener Adeliger, wie hiervon bei Aeneas Silvius dic Rede ist. Da- 
bei setzt Autor voraus, daß er seine dienstliche Karriere vielleicht bei den ihm 
zunächst stehenden Herren, d. i. bei denen von Rosenberg, begann. Augen- 
scheinlich stand ZiZka überhaupt nicht in den Diensten des Königs, und 
wenn schon, dann vielleicht in den Jagddiensten des Königs Wenzel. Autor 
verweist darauf, daß Žižka schon in den Jahren 1406—1408 bei den Straßen- 
räubern in militärischen, in Söldnerdiensten sieht. Beim Berühren der Da- 
ten über Zizka stellt Autor die Frage, ob der in der Bande Matéjs wieder- 
holt genannte Zikka überhaupt mit Jan ZiZka’von Trocnov identisch ist! Da 
bis zur Ausgabe des Henkerbuches durch den Archivar Mares gegen 1878 
über dieses Kapitel des Lebens Zizkas die Daten des Iglauer Buches nur 
wenig überzeugend waren, wurden diese von Franz Palacky mit 
Schweigen übergangen. Der Autor beweist uns in überzeugender Weise, 
daß 2i2ka durch eine Zeit hindurch Räuberbanden angehörte und er zeigt 
uns überhaupt, daß zwischen der Hisiorie der erklärten Wegelagerer aus 
der Zeit König Wenzels und dem bewaffneten Aufstand der Taboriten nach 
dessen Tode ein gewisser Zusammenhang besteht, oder mit anderen Wor- 
ten, daß die frühere Historie verschiedentlich zum Verstehen der zweiten 
Historie beiträgt. Autor führt uns vor Augen, daß überhaupt ein gewisser 
Teil der böhmischen Gesellschaft, u. z. sowohl der Hochadel, wie auch die 
kleineren Adeligen, die ihr Auskommen in militärischen Diensten und den 
damit verbundenen Raubzügen suchten, schon lange zur Zeit des Königs 
Wenzel in dem Gedanken an die Notwendigkeit der Gewalt und der Freude 
daran lebte, indem sie den Kampf, ob nun aus rilterlichem Übermut, oder in 
der Lust nach Beute, oder aus Langeweile, oder aus Gründen der Erhaltung 

en. Wenn man dann im nationalen Leben mit der großen Parole kam, 
durch die das Zücken des Schwertes legitimiert oder gar geheiligt wurde, 
so darf ès nicht wundernehmen, da§ sich gleich Hunderte Kämpfer bereit 
erklärten, von denen die einen mit heiliger Begeisterung als Ritter des Ge- 
dankens in den Kampf zogen, die anderen aber mit nicht geringerem Eifer 
nach Beute und Raub Ausschau hielten. Die Angst vor der Strafgewalt des 
Königs und der Autorität des Herrenvolkes vor dem Landgericht bildete, 


101 


solange ein König da war, einen gewissen Schranken gegen ein Überhand- 
nehmen der Kampflust und dem eigenen Willen der Edelleute oder der 
Nation, von dem Augenblick jedoch, wo diese große mittelalterliche Auto- 
ritat fiel, wie wir dies in Böhmen schon zu Beginn der Hussitenkriege sehen, 
konnte man nicht mehr verhindern, daß das Land zum Schauplatz zahlreicher 
Kämpfe wurde, wo namentlich im Namen der höchsten sifilichen Autorität, 
im Namen Gottes zum Kampfe aufgerufen wurde. Der von den bewaff- 
neten Banden gegen die Feinde des Wortes Gottes angesagte Kampf 
ähnelte aber in der Methode in einer Hinsicht zur allgemeinen Verwunde- 
rung den aus persönlichem Haß der Adeligen durch Räuberbanden geführ- 
ten Kleinkriegen. Der Autor veranschaulicht dies durch die Aufzeichnung 
aus dem Rosenberger Henkerbuch, dessen 2. Teil die Aussagen der Ge- 
achteten aus der Zeit der Hussitenkriege enthält, u. z. v. J. 1420—1429. Auf 
Grund der Aufzeichnungen dieses Buches verweist Autor auf die Ähnlichkeit 
der Situation in den Jahren 1420—1429, u. z. zur Zeit der Hussitenkriege und 
der Tätigkeit ZiZkas mit der in den Jahren 1399—1409, zur Zeit der durch 
die Räuberbanden geführten Kleinkriege. Dabei erklärt uns jedoch der 
Autor, daß das Bild, das in den Aufzeichnungen des Henkerbuches über 
Tabor und die Taboriten und damit über ZiZka entworfen wird, allerdings 
einseitig ist: Wir sehen darin Tabor mit den Augen des Untersuchungs- 
richters, der jeden, der sich in Tabor aufhiell, oder an den Zügen der Ta- 
boriten teilnahm, für einen Verbrecher oder Rebellen hielt. Tabor und 
Zizka bedeuten für ihn sicherlich unzweifelhaft Feinde, die gegen die Rechte 
und gegen den Landesfrieden verstoßen. Wichtig dabei ist, daß all dies 
Anklagematerial noch aus der Zeit Zizkas stammt, daß es durch seine Leben- 
digkeit und Unmittelbarkeit wirkt und im wesentlichen keinen Zweifel über 
seine zeitliche Verläßlichkeit aufkommen laßt. Dabei finden wir in dem- 
selben keine Klage, keine haßerfüllten Worte, die die Urteile über Zızka 
verfluchen, man sieht, daß im Lande ein wirklicher Krieg tobt und Zizka bl 
die Rolle eines Führers der Gegenpartei spielt. Seine Taten, Absichten un 
Methoden werden festgehalten und registriert, und dies allem Anschein 
nach mit großer Aufmerksamkeit, jedoch in völliger Ruhe. Angriffe gibt es 
hier eigentlich keine. Was die Taboriten und ihre Methoden in anderen 
zeitgenössischen Quellen über Žižka, aber auch in späteren Quellen betrifft, 
verweist Autor an oberwähnter Stelle dieser Schrift (im 3. Abschnitt) auf 
die große Zahl solcher von allen Seiten stammenden Klagen. Das Henker- 
buch überliefert uns bloß eine bestimmte Anzahl konkreter Daten, die für 
die Kritik dieser Klagen einen wertvollen Behelf darstellen. 

Am Schluß des 2. Bandes gibt Autor dem Gedanken Ausdruck, daß das 
Bild des Kelches nicht im Vordergrund des Gedankens ZiZkas stand, son- 
dern die Bestrafung der Sünder mit dem Schwert und die Störung ihres 
Vorhabens. Der Kelch bildete den vollen Ausdruck des Programms der 
hussitischen Tschechen mit der Universität an der Spike. Schließlich kon- 
zentrierte sich der Kampf der Tschechen um den Kelch, die sich gegen den 
Katholizismus erhoben hatten, und klang auch in denselben aus. Am Wappen 
Zizkas jedoch, oder am Banner der Taboriten bildete der Kelch nicht das 
Symbol fur die Ideen Zizkas. 

Die Arbeit Pekaés gibt eine neue Übersicht über die Ereignisse nach 
dem Tode Hussens zur Zeit Zizkas. Sie basiert auf der Tiefe und meister- 
haften Kritik der Quellen. Und sie zeigt uns die ganze Frage Zizkas an 
zahlreichen Stellen in völlig neuer Beleuchtung. Besonders interessant ist 
die Vorstellung über die Art und die Methoden der Kriegführung Zikkas 
(als Vorbild für die Art der Kampfführung der Straßenräuber), die Cha- 
rakteristik Zizkas auf Grundlage der Henkerbücher und andere. Das Buch 
Pekais, das die alte traditionelle Vorstellung über die Tätigkeit Zizkas 
in der böhmischen Geschichte aufgibt und sich damit auf rein objektive Vor- 
aussefungen und Angaben stubt, stellt ein äußerst wichtiges Blatt in der 
Geschichtsschreibung und Wissenschaft dar. 


Preßburg. Eugen Perfeckij. 


102 


Dr. E. Rippl: Der alllschechische Kapitelpsalter. Einleitung, Text 
mit kritischen Anmerkungen, Worterbuch. — Prag, Taussig & 
Taussig, 1928 (= Veroff. der Slawistischen Arbeitsgemeinschaft 
an der Deutschen Universitat in Prag, Il. Reihe, Heft 1). 


Die Psalterhs., die hier zum Abdruck gelangt, war bisher von der For- 
schung wenig beachtet worden. Wie andere Slavisten wohl auch, habe ich 
in meinen Vorlesungen gelegentlich auf das Mißverhältnis hingewiesen, daß 
alle anderen vorhussitischen Psalterien, auch die dürftigsten Fragmente, 
langst veröffentlicht seien, nicht aber der Kapitelpsalter, obwohl diese Hs. 
sich (nach Smetänkas Angabe) an wohl zugänglicher Stelle, im Böhmischen 
Museum, befand. Das Rätsel löst sich jetzt zum Teil: die Hs. hat bei man- 
chen Gelehrten, auch bei J. Gebauer, als verschollen gegolten, weil ihr Uber- 
gang aus der Kapitelbibliothek an das Böhmische Museum anscheinend 
nicht allen bekannt geworden war. Smetankas Notiz ist dann für Rippl 
Anlaß gewesen, sich mit dem Kapitelpsalter zu beschäftigen und der Wissen- 
schaft endlich eine Ausgabe zu schenken. Er gibt auf S. 2 ff. der Einleitung 
zunächst eine Beschreibung der Hs., dann ihrer Orthographie, endlich der 
Sprache und Ubersebungstechnik. Merkwürdigerweise wird auch in dieser 
Ausgabe (man kann das auch sonst gelegentlich beobachten) die Meinung 
der Paläographen uber das Alter der Schrift gar nicht angerufen, die Alters- 
bestimmung erfolgt vielmehr auf Grund der Orthographie (die mit der 
Königgräber Sammelhs. verglichen wird) und auf Grund der Sprache; das 
Ergebnis („ungefähr um 1370“) erweckt keine Bedenken. Sonst seien vor 
allem die syntaktischen Beobachtungen IS. 12 fi.) als etwas Willkommenes 
und leider noch gar nicht Selbstverstandliches hervorgehoben. 

In der Reihe der vorhussit. Psaltertexte stellt die Hs., wie im allg. schon 
bekannt war, eine Rezension für sich dar, neben den drei andern, die wir 
mit rein zufälligen Namen (nach dem gegenwärtigen Aufenthaltsort der 
Haupthss.) die Wittenberger, die Klementiner und die Passauer nennen. 
Das überaus verwirrte Verhältnis dieser 4 Fassungen, insbesondere die 
Stellung des Kapitelpsalters zu den anderen Fassungen befriedigend zu 
deuten, gelingt auch Rippl nicht (S. 18 fl.). Der Rest der Einleitung ist daher 
vorwiegend der vergleichenden Beschreibung des Wortschatzes gewidmet, 
die Darstellung der Ubersebungstechnik ergänzt sich also hier noch der 
lexikalischen Seite, doch stets mit dem Blick auf die anderen Rezensionen. 
Von den Ausdrücken, die zuletzt als besonders charakteristische Eigenheiten 
des Kapitelpsallers sich erweisen, mögen einige der persönlichen Vorliebe 
des Ubersetzers oder des Abschreibers, also einer rein stilistisch bedingten 
Wahl, ihr Vorkommen verdanken; bei der Wahl von ve3 für totus lim 
Gegensatz zu celý der anderen Rezensionen) liegt aber doch wohl etwas 
vor, was dem persönlichen Gufbefinden sich entzieht, vielleicht eine mund- 
artliche Eigenheit. 

Es folgt auf S. 35—129 der Psaltertext, abgedruckt mit einem Grad von 
Genauigkeit, der für eine Hs. des ausgehenden 14. Jahrhunderts völlig aus- 
reicht (leise Bedenken in betreff der Grundsäße erweckt allerdings eine Be- 
merkung in den „Nachträgen“, doch wird die Zuverlässigkeit der geleisteten 
Arbeit von einem, der sie nachprüfen konnte, durchaus anerkannt (C MF. 15, 
S. 58). Hinzu tritt moderne Interpunktion, auf die man schließlich auch 
verzichten könnte. Das umfangreiche Wörterbuch endlich strebt eine be- 
grenzte Vollständigkeit an, eine Vollständigkeit der Worte und der Belege, 
die für die Beurteilung des Sprachgebrauchs in Frage kommen. Die Anlage 
des Wörterbuchs entspricht den Forderungen, die man stellen darf, und die 
ich einem weniger gelungenen Versuch gegenüber vor Jahren einmal for- 
muliert habe (Deutsche Literaturzeitung 1918, S. 974 f.). Der Fortschritt der 
Editionstechnik wird an diesem Worterbuch besonders deutlich, wenn man 
es mit den unvollständigen Wortverzeichnissen früherer Psalterausgaben 
(Gebauer, Patera u. a.) vergleich. 


Breslau, März 1929. P. Diels. 


105 


X. Dr. Tadeusz Glemma: Stany pruskie i biskup chelmifiski, 


Piotr Kostka, wobec drugiego bezkrólewia (1574—1576). Die 
preußischen Stände und der Kulmer Bischof Peter Kostka wäh- 
rend des zweiten Interregnums.) — Polska Akademja Umiejet- 
ności. Wydział Historyczno-Filozoficzny. Rozprawy. S. H. 
Bd. XLII (67), Nr. J. Kraków 1928. S. 74. 


Die Zeit der ersien Königswahlen in Polen fand Preußen königlichen 
Anteils in Opposition gegen die Krone Polens, da es mit dem Unifikations- 
dekrete v. J. 1569 nicht zufrieden gewesen war. Dieser Separatismus übt, 
gestubt auf die Tendenzen der Danziger Partei und des deutschen Adels, 
einen starken Einfluß auf die Stellung der Stände während der beiden 
Interregnen. Die preußischen Stimmen fielen während der ersten Elektion 
auf die Kandidatur des Erzherzogs Ernst, dann wurde Heinrich von Valois 
anerkannt, und auch nach seiner Flucht aus Polen blieb Preußen dem er- 
wählten König treu. Als aber Heinrich nicht zurückkehren konnte, traten die 
Stände zur habsburgischen Partei zurück. Weitere Ereignisse aber zwangen 
sie zur Anerkennung des Königs Stephan Bathory; nur Danzig suchte im 
offenen Kampfe seine Pläne durchzuführen. 

Der Autor hat viel Material durchsucht und, die betreffende Literatur gut 
beherrschend, neue Quellen in verschiedenen Archiven gefunden. In erster 
Linie kommi hier das Danziger Staatsarchiv in Betracht, dann das bischöf- 
liche Archiv in Frauenburg und das Stadtarchiv in Thorn. Oroße Sammlun- 
gen der ermländischen Bischöfe sind in der Czartoryski’schen Bibliothek in 
Krakau vorhanden, nämlich des damaligen Koadjutors Martin Kromer. Es 
wäre noch wünschenswert, im Wiener Staatsarchiv die Stellung und Pläne 
des kaiserlichen Hofes Preußen gegenüber zu erforschen. 

Auf Grund dieses Materials bemüht sich Pater Dr. Glemma, die inneren 
Kämpfe zu beschreiben, welche durch die religiösen und nationalen Gegen- 
söße entfacht wurden. Die Privilegien der Provinz bildeien die einzige 
gemeinsame Sache, die gegen die Unifikahonsbestrebung der anderen Teile 
Polens heftig verteidigt wurde. Doch kann man im Adel, und zwar dem des 
Kulmer Landes, polnische Einflüsse bemerken, die sowohl auf sozialen wie 
nationalen Grund sich stüßen. Bei diesen Ereignissen sehen wir in erster 
Linie den Bischof von Kulm, Peter Kosika, nicht nur als offiziellen, sondern 
auch als effektiven Führer der Stände, dessen vorsichtige Politik zur Aus- 
gleichung der Gegensäße und zur Erhaltung der Union mit Polen gegen die 
separatistischen Tendenzen der großen preußischen Städte führte. 

Lemberg. K. Tyszkowski. 


Waschinski, Emil: Das kirchliche Bildungswesen in Ermiand, 
Westpreußen und Posen. 2 Bde. 558 u. 324 S. — Breslau 1928, 
Verl. Ferdinand Hirt. (Schriften der Baltischen Kommission zu 
Kiel. Bd. XIII, 1 u. 2.) 


In der jetztzeil, die wie selten zuvor nach neuen Bildungszielen und 
Schulmethoden sucht, muß jeder geschichtliche Beitrag zu diesen Problemen 
freudig begrüßt werden. Denn das geschichtlich Gewordene ist nun einmal 
die sicherste Grundlage für Umgestaltungen; nur ein Land wie Rußland, das 
noch kein allgemein fest fundiertes Schulwesen hatte, konnte sich das Ex- 
perimentieren mit noch nicht genügend erprobten Methoden leisten; und 
ob diese dort sich bewähren werden, bleibt abzuwarten. Es muß nun aller- 
dings von vornherein betont werden, dag das Werk Waschinskis für die 
erwähnten Probleme nicht viel Neues bringt. Das liegt in der Natur der 
Sache. Der allgemeine Kulturzustand in den behandelten Ländern war eben 
noch so tief, daß wir von dem Bildungswesen jener Zeit nichts lernen können. 
Dies muß erwähnt werden, um nicht irrige Erwartungen in Aussicht zu 
stellen. Trotzdem handelt es sich nicht etwa nur um ein Werk von rein histo- 


104 


AI 


rischem Interesse; im Gegenteil, es bietet bei der nüchternen, rein objektiven 
Darstellung Materialien von großem Gegenwartswert. Mit Ausnahme von 
Ermland N 2 1 u und Posen jetzt zur Republik Polen. Es 
lassen sich aus chulwesen in diesen Ländern zweifellos Schlüsse 
ziehen, weshalb in Ermland allmählich das deutsche Element die Oberhand 
gewann, während in Westpreußen und Polen trob aller Germanisierungs- 
versuche das Polentum festwurzelte. Auch für die Stellung dieser damals 
ganz katholischen Länder zum Protestantismus bielet das Werk reiches 
Material. Es ist schade, daß der Verf. den geplanten dritten und vierten 
Band, welche das evangelische Schulwesen behandeln sollten, nicht ver- 
öffentlichen kann, da das hierfür gesammelte Material ihm nicht ausreichend 
erscheint. Wir würden dann in der Lage sein, einen Vergleich zwischen dem 
katholischen und protestantischen Bildungswesen zu ziehen und ebenso den 
Unterschied zwischen deutschem und polnischem Unterricht noch besser zu 
beurteilen. 

Der wissenschaftliche Wert des Werkes muß ausdrücklich hervorgehoben 
werden. Für die allgemeine Geschichte der behandelten Länder wie auch 
für die Kirchengeschichte, Geschichte der Pädagogik und des Bildungs- 
wesens überhaupt erhalten wir ein vollständiges Material, das in systema- 
fischer, anschaulicher Darstellung verarbeitet ist. Die in den Anlagen ge- 
druckien archivalischen Mitteilungen geben dem Peruse Gelegenheit, einen 
unmittelbaren Einblick in die Quellen zu tun. Der folgende Überblick über 
den Inhalt wird von der Reichhaltigkeit des Werkes Zeugnis geben. 

W. behandelt im ersten Bande die von der Kirche eingerichteten Lehr- 
anstalten: Pfarrschulen, höhere Schulen, Priesterseminare. In der Einleitung 
gibt er einen Überblick über die politische und kirchliche Gliederung West- 
preußens, Ermlands und Posens, über die religiöse und sittliche Stellung 
des Klerus, die nationalen und religiösen Verhältnisse der Bevölkerung. 
Durch die geistige Verbindung Deutschlands und Polens kamen der Huma- 
nismus und die Reformation nach Polen; in Großpolen und Kujavien war der 
Adel, in Poin. Preußen waren die Städte die Haupttrager der neuen Lehre. 
Nur Ermland blieb überwiegend katholisch. Durch die Gegenreformation, 
die durch den Zwist unter den evangelischen Bekenntnissen erleichtert 
wurde, hatten die evangelischen Gemeinden seit dem 17. u. 18. Jahrhundert 
viel zu leiden. Die Posener Diözesansynode v. J. 1720 bestimmte ausdrück- 
lich: Häretiker haben nicht das Recht der freien Religionsubung. Diese 
Vorbemerkungen sind für das Verständnis des Bildungswesens von Be- 
deutung, und es ist schade, daß der Verf. die politischen und wirtschaft- 
lichen Verhältnisse nicht eingehend erörtert hat. Wir sehen ja heute klarer 
als früher, daß letztere geradezu die Grundlage für die geistige Kultur 
bilden, und daß Bildungs- und Schulwesen die größten Hemmungen erfahren, 
wenn die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse unklar sind. Es soll 
aber nicht verschwiegen werden, daß W. in dem speziellen Teile die sozialen 
Verhältnisse eingehender behandelt hat. 

Als Haupiquellen für die Darstellung des Bildungs- und Unterrichts- 
wesens kommen wegen der engen Verbindung, die damals zwischen Kirche 
und Schule bestand, die Synodalstatuten in Betracht, ferner die Visitations- 
protokolle und die Rundschreiben der Bischöfe. W. gibt deshalb zunächst 
in chronologischer Reihenfolge die Verordnungen für die Gnesener Kirchen- 
provinz und die Erzdiözese Gnesen, die Verordnungen für die Diözese 
Posen, besonders der Synoden v. J. 1642, 1689 u. 1720, die Verordnungen 
der Diözese Leslau (Synode v. J. 1568, Subkau v. J. 1617, ferner Synoden 

v. J. 1628, 1634, 1641), der Diözese Kulm-Pomesanien (Synoden 1583, 1605, 
1641, 1745), der Diözese Ermland (Synode 1565 unter Kardinal Hosius, 1575, 
1610). Die Provinzial- und Diozesansynoden drangen besonders auf die 
Durchführung der Vorschriften des Konzils von Trient. Die Pfarrer wurden 
zu Hütern und Pflegern der Pfarrschulen bestellt, nur in Ermland wurde den 
Gemeinden ein Mitbestimmungsrecht gegeben. Neben der Forderung nach 
Erteilung des Religionsunterrichies tritt das Verlangen nach Unterweisung 
im Lesen, Schreiben, Gesang in den Hintergrund. Auch hier hat Ermland 


105 


genauere Bestimmungen über Unterricht. W. hätte hier klarer die Schluß- 
folgerungen herausstellen müssen: Die Vernachlässigung der profanen 
Fächer hatte den Mangel an logischem Denken zur Folge, und wir sehen, 
wie rein mechanisch den Kindern die religiösen Dinge beigebracht werden. 
Der Haupffehler dieser ganzen Erziehung war eben der, daß die Hebung 
des gesamten geistigen Niveaus vernachlässigt wurde. 

Die Zahl der Pfarrschulen laßt sich nicht mehr mit Sicherheit fest- 
stellen. W. sucht durch Analogieschluß aus der uns bekannten Zahl der 
Pfarreien die der Schulen festzustellen. Die Zahl der protestantischen 
Schulen war in jenen Gebieten, wo beide Konfessionen und Nationen zu 
annähernd gleichen Teilen gemischt nebeneinander saßen, bedeutend höher 
als die Zahl der katholischen Schulen. Nur in Ermland gab es in jedem 
Pfarrdorfe eine Schule, in allen übrigen Dörfern waren im 16. Jahrhundert 
nur in ganz wenigen Städten und nur zeitweise Pfarrschulen vorhanden. 
Der Erzpriester Libor sagte noch am Ende des 18. Jahrhunderts über die 
Schulen Polens, „daß in diesem verwahrlosten Lande auch nicht die min- 
desten Schulanstalten getroffen seien“ (94). 

Die Vorgesebten der Schullehrer waren die geistlichen Oberen: Bischof, 
Archidiakon, Dekane oder Erzpriester, Pfarrer. Letztere zogen die Schul- 
meister gegen ihren Willen zu Dienstleistungen heran, zu denen sie nicht 
verpflichtet waren. Dem ermländischen Klerus wird bei einer General- 
visitation 1572/74 vorgeworfen, daß manche Geistliche die Schulmeister mit 
Botengängen zum Nachbarpfarrer beschweren, in einem Bericht v. J. 1584 
heißt es, daß Zank und Streit zwischen Pfarrer und Schulmeister in ganz 
Pommerellen etwas Gewohnliches seien. — W. behandelt dann im 4. Kapitel 
den Schulmeister: Zahl und Amtsbezeichnung (der Leiter einer Schule mit 
mehreren Schulmeistern hieß Rektor, der 2. Lehrer Kantor; die lateinischen 
Bezeichnungen für Lehrer sind schr zahlreich). Die Anstellungsverhalinisse 
gehen am klarsten aus dem Berichte Libors 1798 hervor: „Da die mehrsten 
Organisten aus Mangel eines Fonds von den Pfarrern müssen unterhalten 
werden, so werden sie auch wie die Großknechte gedungen und wieder ab- 
geschafft. Sie unterscheiden sich durch nichts anders von den Knechten, 
als daß sie etwas singen und auf der Orgel klimpern können.“ Die Vor- 
bildung war eine ganz verschiedene: Neben Handwerkern finden wir Stu- 
denten und Magister der freien Künste, neben Bauern Geistliche und Dok- 
toren der Philosophie. Besonders günstig steht auch in dieser Hinsicht 
Ermland da, das schon im 16. Jahrhundert in allen Städten zahlreiche wissen- 
schaftlich gebildete Lehrer aufwies. Das Einkommen bestand zumeist aus 
Naturallieferungen, Schulgeld, Akzidenzien; die städtischen Schulmeister er- 
hielten noch ein Gehalt aus der Stadikasse; die unzureichende Besoldung 
vieler Lehrer ist erwiesen, doch muß berücksichtigt werden, daß auch das 
Einkommen vieler Pfarrer, Bürgermeister, Notare nicht viel besser war. 

W. behandelt weiter das Schulhaus, die Verpflichtung zum Bau und 
Unterhalt, Lage und Gestaltung, Herkunft, Geschlecht (meist nur Knaben; 
wenn auch Mädchen die Schule besuchten, mußten sie getrennt unterrichtet 
werden; indes wurde diese Verordnung nicht streng durchgeführt), Zahl (der 
Prozentsatz der eine Pfarrschule besuchenden Kinder war stets verschwin- 
dend klein und betrug höchstens 6—8 Prozent; die protestantischen Schulen 
wurden viel besser besucht). In den Stundenplänen ist besonders auffallend, 
daß der Unterricht schon um 6 Uhr früh begann und vormittags und nach- 
mittags je 3 Stunden aufwies. Die Unterrichtssprache war in der Regel die 
polnische, doch gab es auch eine Anzahl katholischer Schulen mit deutscher 
Unterrichtssprache; in dem zum größten Teile deutschen Ermlande war auch 
die Unterrichtssprache deutsch, ebenso im westlichen Netzegebiel. Lehr- 
gegenstand war fast ausschließlich Religion, an den sich eng der Gesang- 
unferricht anschloß. Weitere Lehrgegenstände waren der Lese- und 
(seltener) der Schreibunterricht und_das Rechnen, in den Städten auch das 
Latein. W. gibt eine interessante Zusammenstellung der Lehr- und Lern- 
mittel 176/87, des Lehrstoffes und der Lehrmethode, der Erziehung. 

In ähnlicher Weise behandelt W. die höheren Schulen: die Lubranskische 


106 


Akademie zu Posen, die Akademie zu Kulm, die Domschule zu Onesen, 
ferner die Priesterseminare: das Hauptseminar zu Kalisch-Gnesen, die deut- 
schen Nebenseminare zu Camin und Konig, das Seminar der Diözesen Posen, 
Leslau, das deutsche Nebenseminar zu Altschottland bei Danzig, das Semi- 
nar der Diözese Kulm-Pomesanien, Ermland, das „Päpstliche Seminar" zu 
Braunsberg. Archivalische Mitteilungen (278/468) und die Geschichte des 
Evangelischen Danziger Landschulwesens vom Zeitalter der Reformation bis 
zum Beginn der Preußischen Herrschaft 1793 (469/530) und Ungedruckte 
Aktenstücke und Archivalische Mitteilungen zu dieser Geschichte (531/558) 
beschließen den ersten Band. 

Im zweiten Bande werden die Klosterschulen geschildert, die fast sämt- 
lich in den Händen der Jesuiten waren: Braunsberg, Posen, Alischottland 
{bei Danzig), Thorn, Bromberg, Deutsch-Krone, Marienburg, Konitz, Graudenz, 
Rossel, Meseritz, Fraustadt. Besonders interessant ist die innere Geschichte 
dieser Jesuitenschulen, die für die Geschichte der Pädagogik und für das 
kulturelle Leben jener Zeiten sehr wertvoll ist. Selbstverstandlich hat der 
Jesuitenorden seine allgemeinen Grundsätze über Erziehung und Unterricht 
auch in seinen Schulen in Ermland, Westpreußen und Posen in Anwendung 
gebracht. Die Schulbräuche der polnischen Provinz wurden i. J. 1648 vom 
Ordensgeneral Carrafa approbiert. Eine erfolgreiche Umgestaltung des 
Schulwesens unternahm Stanislaus Konarski, der den Ehrentitel „Poloniae 
magister“ erhielt. An Stelle des formalen Studiums der lateinischen Sprache, 
die in den Jesuitenschulen zu nugloser Spielerei ausartete, setzte er die Er- 
ziehung des antiken Geistes und berücksichtigte stärker die realistischen 
Fächer. Der Verf. hat ein anschauliches Bild von dem Wesen und Wirken 
der Jesuitenschulen gegeben: Lehrer und Schüler, Unterricht und Erziehung 
werden eingehend (118/253) erörtert. Diejenigen, die heute so pessimistisch 
über die zuchtlose Jugend klagen und die gute alte Zeit loben, seien be- 
sonders auf das Kapitel über das Schülerleben hingewiesen: In Altschott- 
land (bei Danzig) waren 1765/66 unter 12 Logikern 3 Trinker, unter 9 Physi- 
kern 4 Säufer und Herumtreiber: 1766/67 werden unter 37 Schülern der 
Rhetoriker 8 als Trinker und Bummler bezeichnet. In Posen gab es 1593 eine 
regelrechte Schülerverbindung mit einem Präsiden und einem Schriftführer, 
die, um nicht entdeckt zu werden, in verschiedenen Häusern Trinkgelage 
und Tanzvergnugungen mit Weibspersonen veranstaltete (S. 147). Auch 
Schülerverbindungen mit ausgesprochen politischem Charakter gab es, die 
sich gegen die russischen Bestrebungen in Polen richteten und ein Eingreifen 
der Russen zur Folge hatten. 

W. behandelt zum Schluß noch kurz die Schulen der Zisterzienser, Fran- 
ziskaner und der Regular-Chorherren zu Tremessen, die Vorbildung der 
Ordenszöglinge und die Klosterschulen für die weibliche Jugend. 

Die vom Verf. benutzten Quellen und Literaturangaben zeigen den Um- 
fang des ungeheuren Materials. Das Buch von G. Lühr, Die Matrikel des 
päpstlichen Seminars zu Braunsberg 1578—1798, Königsberg 1925 und Brauns- 
berg 1926, ist dem Verf. zur Zeit der Drucklegung wohl noch nicht bekannt 
gewesen. 

Der Baltischen Kommission in Kiel und dem Verlag Ferdinand Hirt in 
Breslau muß der Dank dafür ausgesprochen werden, daß sie die Veröffent- 
lichung des umfangreichen Werkes ermöglicht haben. ere 

elix Haase 


Stanislaw Tync und Jözef Gołąbek: Beskid zachodni i 
Podhale. (Górale Polscy). — Ksiaznica „Atlas“, Lwow-War- 
szawa 1928. 

St. Barabasz: Sztuka ludowa na Podhalu Teil I u. Il: Spisz 
u. Orawa. — Ebenda. 


Tync und Golabek eröffnen mit diesem, der westlichen Beskidenland- 
schaft und bee sich südlich anschließenden Gebiete der Tatra gewidmeten 


107 


Bändchen eine vom sehr rührigen Verlage „Atlas“ ins Leben gerufene Serie, 
welche die einzelnen Landschaften Polens in knapper, aber erschopfender 
Darstellung behandeln will. Diese Hefte sind für den Unterricht in erster 
Linie bestimmt. Das zeigt auch die Anlage der jedem Lesestück 5 
benen Anmerkungen. Es verdient aber die Reichhaltigkeit des hier Ge- 
botenen auch über den Kreis der Schule hinaus weite Verbreitung. Eine gute 
Kartenskizze orientiert uns über die behandelie Landschaft, die nun von 
4 Gesichtspunkten aus betrachtet wird: Land und Leute; Legenden, 
überlieferungen, Lieder; Schilderungen aus der ge- 
schichtlichen Vergangenheit der Landschaft; aus dem 
Leben der Goralen. In diesen einzelnen Abschnitten wird nun nicht 
etwa eine zusammenfassende Abhandlung des Themas gegeben, sondern aus 
Dichtungen und sachlichen Artikeln wird ein Gesamtbild hervorgerufen, so 
z. B. wird der erste Abschnitt „Ziemia i lud“ mit Wincenty Pol’s Gedicht 
»W góry, w göry!” eröffnet, es folgt von Kaz. Sosnowski eine kurze geo- 
graphische Darstellung der Wesibeskiden, weiterhin z. B. folkloristische 
Abschnitte (mit Illustr., auch das Dialektische wird behandeli, wozu dann 
in den späteren Abschnitten dialektische oder dialektisch gefärbte Erzah- 
lungen treten. Der Verlag cröfinet jedenfalls mit diesem Heft eine recht 
lehrreiche und interessante Reihe von landschaftlichen Monographien. _ 

Vom wissenschaftlichen Standpunkte natürlich ungleich beachilicher ist 
die Publikation des Direktors des eihnographischen Museums in Zakopane, 
St. Barabasz: Sztuka ludowa na Podhalu. Es wird hier die 
Volkskunst, die jetzt in Polen ja so große Beachtung findet, auf 44 Tafeln 
in schönen klaren Zeichnungen dargestelli: das Haus, innen und außen, in 
allen seinen Teilen, die Geräte und Möbel, alles, was hier dem schmücken- 
den Schönheitssinn des Volkes Anreiz bot. Es kommen aber hier nur die 
beiden Bezirke Spisz (mit 12 Tafeln) und Orawa (mit 32 Tafeln) zur Dar- 
stellung. Auf den überaus reichen und mannigfaltigen Stoff der 216 Ab- 
bildungen (84 aus Spisz, 132 aus Orawa) weist eine kurze Abhandlung 
einleitend hin. 

Breslau. Erdmann Hanisch. 


108 


m 0 —⸗ i522 TE 2 K S oe oe FE REES BR FA SS DM DIN NSF m AH KO u aT 


ZEITSCHRIFTENSCHAU 


ALLGEMEINES 


LI Mikkola: Samo und sein Reich. Archiv für slav. Philo- 
logie 42 (1928), 1/2, S. 77—97. 


Diese Studie soll vornehmlich der Behandlung der immer noch offenen 
Frage dienen, ob die Slaven, zu weichen Samo kam, nördlich oder südlich 
der Donau wohnten; daneben wird noch die eine oder andere Frage ge- 
streift. Zunächst wird die Frage nach der Abkunft des Samo, wie das 

older getan, dahin beantwortet, daß nach der Analogie anderer 
Namen die Zugehörigkeit zum keltischen Volkstum angenommen werden 
muß. Identisch mit Samo ist der Name Sammo, der inschrifiich bekannt 
ist aus Ehrenhausen bei Straßburg u.a. O. als Vollname dazu kommen Samorix 
und Samotalus in Betracht. Die von Kos angenommene slavische Abstam- 
mung des Samo lehnt M. ab. Fredegars Angabe, daz Samo dem Pagus 
Senonagus entstamme, hat zu der Vermutung 1 daß man das Land 
um die französische Stadt Sens als seine Hei betrachten müsse. M. halt 
diese Annahme für richtig. Die Annahme, man könne den von Frede 
genannten, Pagus bei Soignies suchen, lehnt M. aus sprachlichen Gründe 
ab. Der Pa senonicus liegt an der Yonne im alten Burgund. Von hier 
aus also e sich Samos Aufbruch vollziehen müssen. führt die ge- 
schichtlichen Zeitumstände an, unter welchen er vor sich gehen 5 nam- 
bch die gespannte Lage zwischen Chlothar und seinem Sohn D rt, 
welch letzlerer von seinem Vater Austrasien zugewiesen erhalten halte mit 
Ausnahme eines Gebietsteiles an den Ardennen und Vogesen. Als Samo 
623 aufbrach, waren die Streitigkeiten der beiden um dieses Gebiet noch 
nicht geschlichtet, Samo hatte also seine Handelsreise durch feindliches 
Gebiet ausführen müssen, wenn er in nördlicher Richtung aufgebrochen 
wäre, der südliche Weg von Sens durch die Schweiz war kürzer, und dort 
herrschte Frieden. M. ist daher der Meinung, daß Samo, den römischen 
Straßen folgend, von Autun aus über Besancon, Basel, Bregenz und schließ- 

urg zu den 335 sei. Diese selbst „coinomento Vinidi“, 
sind unzweifelhaft die süd Donau wohnenden Slaven gewesen und 
nicht die in Böhmen wohnenden, da diese niemals bloß Winidi, sondern 
Beu-Winidi, Behaimi usw. genanni werden. Ehe M. darstellt, vie Samo von 
seinem ursprünglich sü der Donau gelegenen Wirkungskreis aus bis 
nach Nordböhmen vordrang, gibt er einen Überblick über die Schicksale 
der Avaren vor ihrer Ansiedlung in Pannonien. Sprachlich ordnet er sie 
in die R-Gruppe der Turkotataren ein. Den avarischen Fundsfücken nach 
gehörten sie zur westsibirisch-sarmatischen Kultur, während die Hunnen 
chinesischen Kultureinfluß verraten. Die bei Gre von Tours erwähnten 
zweimaligen Einfälle der Avaren in fränkisches Gebiet sieht M. als geschicht- 
lich vollkommen zutreffend an. Zeuß hatte in „Die Deutschen und die 
Nachbarstämme“ geglaubt, es habe sich nur um Angriff e gegen die östliche 
Peripherie des fränkischen Reiches gehandelt. Die Frage, welchen Weg 
die Avaren auf diesen beiden Feldziigen eingeschlagen haben, beantwortet 


109 


M. aus dem Grunde, daß sie stets ihrer Reiferei wegen enge Bergpässe 
fürchteten und mieden, zugunsten des nördlichen Weges jenseits der Kar- 
pathen durch Galizien und Schlesien. Nach ihrer Ansiedlung in Pannonien 
konnten sie die Herrschaft über die Slaven jenseits der Karpathen nicht 
mehr aufrechterhalten, dieser Umstand erhellt die Ursache für die Nach- 
richt der altrussischen Chronik, daß die Avaren jäh verschwunden seien. 
Die in der russischen Chronik als besonders unter den Avaren leidend er- 
wähnten Dulében werden ihnen sowohl als Landbauer wie als Fußsoldaten 
nötig gewesen sein, und vermutlich war dieser slavische Stamm, als die 
Ubersiedlung der Avaren in das Gebiet südlich der Karpathen vollzogen 
wurde, von ihnen mit abgeführt worden, es gab wieder Dudlében (wesi- 
slavische Form!) in ihrer unmittelbaren Nähe in Sudbohmen und in Steier- 
mark. M. hält das Jahr 568 jedenfalls als für sehr wichtig für die Besiedlung 
Böhmens durch Slaven. M. erörtert in diesem Zusammenhang die Frage 
nach der Urheimat der Slaven. Er hält dafür, daß slovéne nie ein Gesamt- 
name für alle Slaven gewesen ıst, sondern daß es ursprünglich ein be- 
stimmter Slavenstamm war, der sich später verzweigte, daher ihr Auftauchen 
am llmensee, im Gebiet der Karpathen und südlich der Donau. Ihre histo- 
risch belegte Heimat lag nördlich der unteren Donau. Von dort stammen 
auch die Slovenen der Ostalpen. Die jetzigen Slovenen sind aber ein Pro- 
dukt des Zusammenwachsens der slovéne, dudlèbi, hürvati und vielleicht 
noch anderer Stämme. Die Frage, wann und von wo die Slovaken in ihre jetzige 
Heimat gelangt sind, bleibt offen. M. untersucht die für slavisch gehaltenen 
Ortsnamen der Balkanhalbinsel, die aus der Zeit vor dem 6. Jahrhundert 
stammen, und weist nach, daß diese nicht slavisch sind. — Hatte M. oben 
die Meinung ausgesprochen, daß die Dudi&bi den Avaren als Landbauer 
und Fußsoldaten dienlich waren, so unterscheidet er nun zwischen Hrvaten 
und Dudlében als zwischen dem kriegerischen und einem landbauenden 
Stamme. Die ersteren sollen den Avaren gute Fugsoldaten gewesen sein, 
vielleicht sind sie von ihnen auf einem vorgeschobenen Posten gegen das 
fränkische Reich an der Saale zurückgelassen worden. Sie siben auch in 
Böhmen an der Peripherie, und nach 658 haben die Avaren auch Chorvaten 
vom Norden nach Süden berufen zur Verstärkung des avarischen Einfalls 
in Dalmatien. Daß die Serben, wie Porphyrogenitos erwähni, den Chor- 
vaten nach dem Süden nachziehen wollten, hält M. nicht für einen Zufall. 
Sie hatten schon früher in Gemeinschaft mit den Chorvaten gewohnt. Er 
sieht im ukrainischen priserbitijsa für „sich jemandem anschließen” und in 
paserb = Stiefsohn den Beweis dafür, daß s'rb etwa „Angehöriger, Ver- 
bundeter“ bedeutet haben mag. M. stellt dann die Expansionsbestrebungen 
und -Möglichkeiten des Frankenreiches nach dem Osten dar. Samos Reich 
hatte diese Pläne durchkreuzt. Im Krieg Samos gegen das Frankenreich 
wird Wogastisburc sein wichtigster Stujpunkt. Zur Namenserklärung dieses 
Ortes sagt M. folgendes: Im 7. Jahrhundert hatte das Slavische noch kein 
u, sein Vorgänger war ein oa oder uo, wie sich aus slavischen Lehnwörtern 
im Litauischen und Lettischen und aus dem griechischen "Pos für Rus’ 
ergibt. So läßt sich Wogast mit čeh. UhoSt aus 'ugosf zusammenstellen. 
Purberg wurde noch im 15. Jahrhundert OhoSt genannt. Der zur Erklärung 
fur Wogastisburc auch herangezogene Ort Wugasterode in Oberfranken 
ist der geographischen Lage nach nicht annehmbar für die Geschichte 
Samos. Die bei Fredegar überlieferte germanische Namensform ist der 
Genetivendung —is und des burc wegen beachtenswert. Es ist nicht an- 
zunehmen, daß Fredegar selbst diese germanische Form gebildet habe. 
Die Germanen, welche diesen Namen gebildet haben, müssen Kenner des 
Slavischen gewesen sein, denn das slavische Wort ist aus einem Personen- 
namen Ugost’ mit dem Possessivsuffix —io— gebildet, und dieser possessiven 
Bedeutung entspricht die germanische Genetivform. Alte germanische Orts- 
namen mit —burc sind nicht haufig und sind immer zu einem Personen- 
namen gebildet. Daraus scheint M. schließen zu können, daß die Gegend 
von Wogastisburc von Germanen, vielleicht Sachsen, bewohnt gewesen 
sein muß, kurz vorher aber war das Land von Slaven bewohnt. Sollten 
nicht die Serben vor ihrem Abzug nach dem Süden gerade an der Eger 


110 


gesessen haben? Das Auftreten Samos südlich der Donau und die Lage 
des Wahiplakes in Nordböhmen sekt voraus, daß er über ein zusammen- 
hängendes Gebiet auf beiden Ufern der Donau geherrscht hat. 

Emmy Haertel. 


A. Brückner: Alte Romane bei Slaven. Archiv für slav. Philo- 
logie. 42 (1928), 1/2. S. 109— 122. 


Br. weist auf die Vernachlässigung des Romans bei den Slaven bıs 
tief in das vorige Jahrhundert hin; nur was im Abendlande sich zu großer 
Beliebtheit durchgesebt, kam in Übersekungen zu den Slaven, dafür aber 
auch fast alle derartigen Erscheinungen, wodurch der Zusammenhang mit 
den literarischen Zeitereignissen erhellt. Es sollen hier zwei Übersebungs- 
romane, der eine polnisch, der andere russisch, des näheren besprochen 
werden, die erst unlängst veröffentlicht wurden und der abendländlichen 
Bibliographie noch völlig unbekannt sind. Der beliebteste aller fran- 
zösischen Prosaromane des 15. und 16. Jahrhunderts war die „Histoire du 
irès vaillant chevalier Paris et de la belle Vienne, fille de Dauphin"; 
während Übersebungen von ihm längst im Englischen, Italienischen und 
sogar Armenischen vorhanden waren, fehlle eine polnische Ubersetzung, da 
keine deutsche vorhanden war. Br. zählt die französischen und italienischen 
Ausgaben des Werkes auf. Im Petersburger Sbornik (sic!) 90, 6 hatte 
Vinogradov zwei Fassungen davon in Versen ım Jahre 1913 herausgegeben, 
nach der Hs des Fürsten Viazemkij mit interlinearer Anführung von den 
Texten aus Hss der Sammlung Certkov und Undolskij. Nach der Meinung 
S. V. Sobolevskijs, welcher zu der Veröffentlichung eine Einleitung ge- 
schrieben, ist das Poem aus dem Polnischen übersetzt, wofür ihm eine 
Reihe von scheinbaren Polonismen beweisliefernd waren. Br. widerlegt im 
einzelnen diese Anschauung und weist seinerseits nach, daß es eine Uber- 
setzung aus dem italienischen ist, dafür sprechen rein italienische Worte und 
Wortformen. Die Vorlage ist zu sehen in „Innamoramento di due fidelissime 
amanti Paris e Vienna, composto in ottava rima da Angelo Albani Or- 
vietano . . ., ungeachtet kleiner chronologischer Bedenken, welche gegen 
diese Annahme sprechen könnten. Die italienische Übersekung war un- 
genau gewesen und hat somit Unstimmigkeiten der russischen Ubersebung 
verschuldet. Immerhin ist diese Übersebungs-Überarbeitung (es handelt sich 
im Russischen um erhebliche Texikürzungen) die bedeutendste und inter- 
essanteste Leistung der schönen russischen Literatur vor Kantemir und 
Tredjakovskij. -Br. führt umfangliche Texistellen an, die teils gänzlich neu, 
teils verkürzt sind. — Die polnische Novelle ist bereits Archiv 40 einmal 
erwähnt worden. Das Original ist die spanische Novelle von Juan de 
Flores „Orisel y Mirabela" vom Ende des 15. Jahrhunderts, welche un- 
gewöhnlich schnelle Verbreitung fand, es gibt allein 18 aus dem Italienischen 
übersetzte französische Ausgaben. Die polnische Übersetzung „Historya 
barzo piękna i żałosna o Ekwanusie królu Skockim teraz nowo polskim 
jezykiem wydana, Krakau Scharffenberg 1578, ist herausgegeben von 
J. Krzyżanowski im Pamięłnik liter. 221, 1924, S. 247—285, sie folgt der 
italienischen Ubersetzung der venetianischen Ausgabe von 1548 „Historia di 
Aurelio et Isabella, nella quale si disputa, chi più dia occasione di peccare, 
Thuomo alla donna o la donna a l'huomo ...“ stellenweise wörtlich, faßt 
aber im übrigen zusammen und läßt mitunter halbe Seiten fort. Die Er- 
zählung an sich ist dürftig zu nennen, behandelt erotische Fragen weit- 
schweifig und hat sichtlich in Polen keinen Anklang gefunden, denn sie ist 
spurlos verklungen, und ähnliche spanische Novellen wurden nicht weiter 
ins Polnische übersetzt. Der Uberseber Bart. Paprocki, der durch heraldische 
Arbeiten bekannt Gewordene, hat die Aufgabe stilistisch gut gelöst. Br. 
widmet der Muse des mysogynen und doch für erotische Fragen stark 
interessierten Paprocki eine eingehendere Besprechung und beschäftigt sich 
dabei vornehmlich mit seinem „böhmischen Vermächtnis“, der von ihm ge- 
fertigten Übersekung derartiger Stoffe von Rej und Kochanowski ins 


111 


Cechische. Br. beschäftigt sich noch mit der Frage nach der Urheberschaft 
der Ubertragung von Rejs Dialog „Rozmlouvani dvou panen“... ins 
Cechische. Emmy Haertel. 


IUGOSLAVIEN 


Die Quellen der Chronik von Vramec (1578). (N.Radojéié, O izvo- 
rima Vraméeve Kronike). — Rad Jugoslavenske Akademije 
Znanosti i Umjetnosti, knj. 235, S. 26—49, Zagreb 1928. 


Der derzeit an der Laibacher Universität wirkende serbische Historiker 
Radojčić, der sich durch seine bisherigen zahlreichen Untersuchungen der 
wichtigsten südslavischen historiographischen Werke als der beste kritische 
Kenner der südslavischen Geschichtsschreibung erwiesen hat — ich ver- 
weise hier auf seine Untersuchung über Ruvarac 1909, Krumbacher 1910, 
Al. Stojackovié 1911, Rajić 1920, 1921, 1925, 1926, über die Idee der nationalen 
Einheit in der serbischen und kroatischen Historiographie, über die Anfänge 
der historischen Kritik bei den Serben 1922, über Konstantin Jireček 1923, 
über das Verhältnis von Geographie und serbischer Oeschichtsschreibung 
1924, über Rankes neuer Konzeption der serbischen Geschichte 1925, über 
die kroatische Geschichte während der nationalen Dynastie in der modernen 
serbischen Geschichtsschreibung 1925, über die Chroniken des Grafen 
Djordje Branković 1926, über die Frage, wie die byzantinischen Historiker 
des 11. und 12. Jahrhunderts Serben und Kroaten benannten 1926, über die 
moderne serbische Historiographie 1929 — legt in dieser Untersuchung erst- 
malig die Quellen des ersten kroatischen Geschichtswerkes zur allgemeinen 
und nationalen Geschichte in kroatischer Sprache dar. Das Leben und die 
Tätigkeit Vramec’ hat Vjek. Klaić gelegentlich der Neuausgabe der 
Chronik in den Monumenta spect. hist. Slav. merid., Vol. XXXI, Agram 1908, 
in einer eingehenden kritischen Untersuchung beschrieben und damit einem 
Großteil der bis dahin verbreiteten legendären Anekdoten über das Leben 
dieses interessanten Schrifistellers den Boden entzogen. Weniger bekannt 
dagegen ist Vramec’ historiographische Arbeit, obwohl die interessante 
Chronik die Aufmerksamkeit der Theologen, der Historiker und auch der 
gebildeten kroatischen Kreise auf sich lenkte. Die Aufmerksamkeit der 
Theologen e für das Werk fatal, da es dieser Aufmerksamkeit zuzu- 
schreiben ist, dab die Chronik so gründlich vernichtet wurde, daß von ihr 
nur ein ganzes und ein unvollständiges ey he erhalten blieben. Etwas 
weitsichtiger waren die Historiker. Der erste kroatische Historiker, der die 
Chronik ausführlicher beschreibt, G. Rattkay, hat allerdings nur böse Worte 
für sie, einerseits wegen der Mängel in der Chronologie, anderseits wegen 
der antikatholischen Tendenz in der Chronik. P. Ritter-Vitezovi€ dagegen 
war von ihr begeistert, einerseits wegen ihrer Sprache, anderseits gerade 
wegen ihrer liberalen Tendenz. Die Chronik geriet allerdings dann in Ver- 
gessenheit und wurde erst von Ivan Svear, dem begeisterten kroatischen 
Geschichtsschreiber der illyrischen Wiedergeburtsbewegung, in der ersten 
Hälfte des 19. Jahrhunderts aus der Vergessenheit gezogen. Die römisch- 
katholischen Theologen sahen in dieser Chronik eine gefährliche Schrift, 
die zwar nicht offen protestantisch war, aber sicherlich nicht römisch-katho- 
lischen Geist atmete, und deshalb vernichteten sie sie. Die Historiker von 
Beruf sahen in der Chronik ein Werk von geringem historischen Original- 
wert. Daher mußte die Chronik am meisten den Freunden des nationalen 
und populären Buches gefallen. Daher die Begeisterung eines Vitezović 
und vear. Radojčić untersucht die Chronik als erste kroatische 
meine und nationale Geschichte in kroatischer Sprache (eine Untersuchung 
der sprachlichen Seite der Chronik gab seinerzeit Fancev im Afsl Ph XXXD, 
ihre Quellen, die Art ihrer Konzeptioa und Komposition und die Ten- 
denziosität, wobei er der Frage der Quellen als der Fundamentalfrage sein 
Hauptaugenmerk zuwendet. 


112 


oO- an r „ — ET ei 


Klaié konnte in seiner Studie keine einzige Quelle mit Sicherheit an- 
geben. Die Frage der Quellen ist deshalb schwer zu entscheiden, weil es 
eine Reihe allgemeiner, einander ähnlicher Geschichtsdarstellungen der all- 
gemeinen Geschichte mit Nachrichten aus der slavischen Vergangenheit 
gibt, die Vramec verwendet haben konnte. Nach einem allgemeinen Exkurs 
über den Charakter der Geschichtsschreibung im Mittelalter, zur Zeit der 
Humanisten in Italien, zur Zeit der Reformation und Gegenreformation in 
Deutschland, zeigt Radojčić, daß auch alle jugoslavischen Gegenden außer 
Dalmatien vor dem 18. Jahrhundert zu den Gebieten mit rückständiger 
Historiographie zu rechnen sind, denen die mehr oder minder nationalistische 
italienische humanistische Historiographie zu hoch, unverdaulich und auch 
vielfach beleidigend war. Die geographische und politische Lage, die 
Türkengefahr und die Türkenherrschaft warfen die Jugoslaven um Jahr- 
hunderte zurück, und daher blieben natürlicherweise auch ihre geistigen 
Emanationen um Jahrhunderte gegenüber den damaligen kultiviertesten 
Völkern zurück. Deshalb bekamen auch die Kroaten die erste Weltchronik, 
die auch Nachrichten aus der slavischen und nationalen Geschichte enthielt, 
in der Volkssprache erst dann, als die Welichroniken im Westen bereits 
aus der Mode gekommen waren und an ihre Stelle die rein nationale und 
staatliche Geschichte getreten war. Vramec konnte den Abstand zwischen 
dem geistigen Leben des damaligen Italien und den Resten des Konig- 
reiches Kroatien sehr gut ermessen, als er sich an die Abfassung seiner 
Chronik machte, die er den Bedürfnissen der Mehrheit seiner kroatischen 
Zeitgenossen anpaßte. Er wollte den Lesern von Nuken sein, und das 
konnte er nur dadurch erreichen, daß er sich zu ihnen herabließ. In der 
Volkssprache schrieb Vramec in erster Linie deshalb, weil er seinc Chronik 
denen bestimmte, die, ohne eine andere Sprache zu können, etwas von der 
Vergangenheit der ganzen Welt und ihres eigenen Volkes zu hören und 
lesen wünschten; sicherlich auch deshalb, weil die damaligen protestan- 
tischen Schriftsteller Bücher in der Volkssprache ins Volk bringen wollien. 
Sicher ist, daß die Chronik nicht nur wegen ihrer Sprache in die kroatische 
und slovenische protestantische Literatur fallt, sondern auch durch viele 
Stellen, die gegen die römisch-katholische Kirche gerichtet sind. 

Jeder Verfasser einer Weltchronik mußte sich vor allem für ein chrono- 
logisches System entscheiden, ferner für cine Periodisierung der Welt- 
geschichte. In der Periodisierung herrschte unter den Chronisten eine viel 
größere Einheitlichkeit als in der Chronologie. Radojčić meint, daß sich 
Vramec hinsichtlich des chronologischen Systems für seine Chronik nicht 
viel den Kopf zerbrach, sondern einfach das übernahm, das er zufällig in 
der Schule gelernt hatte, nämlich das hebräische, ferner daß die Chronik 
langsam entstand, auf Grund von Aufzeichnungen aus der Studienzeit und 
der späteren Lektüre, und daß Vramec nur auf eine günstige Gelegenheit 
wartete, diese Aufzeichnungen mit Daten aus der heimischen Geschichte zu 
ergänzen und dann die Chronik herauszugeben. Daher die Uneinheitlichkeit 
und die Widersprüche und die vielen Wiederholungen in der Chronik, die 
nur aus der Lektüre und aus dem Exzerpieren von Chroniken mit verschie- 
denen chronologischen Systemen zu erklären sind und die sonst in einem 
so kleinen Büchlein unmöglich wären. Die Periodisierung ist die übliche 
auf 6 Epochen, die Vramec aus verschiedenen Büchern nehmen konnte. Die 
Feststellung der Quellen, also der verwendeten Welichroniken, stößt nicht 
nur deshalb auf große Schwierigkeiten, weil viele untereinander ähnliche 
Weltchroniken in Betracht kommen, sondern vor allem deshalb, weil die 
Chronik kurz ist und sehr wenig charakteristische Einzelheiten enthält, die 
die Nachforschungen erleichtern würden, und weil er seine Quellen nicht 
on ramer gibt nur einmal seine Quelle an, und zwar als er die 

Arte cum von B. Platina (Bartolomeo Sacchi) zitiert. Vramec selbst 

gibi also wenig Anhaltspunkte. Jedoch läßt sich auf Grund charakteristischer 
ten in der Chronik selbst folgendes feststellen: Vramec führt in gewissen 
Abständen bedeutende Leute, die in einer bestimmten Zeit lebten, mit einer 
bestimmten einleitenden Phrase an. Diese Art der Information finden wir 


SNF 5 115 


in dem groß en historischen Werk des bedeutenden italienischen Historikers 
Jacobo Philippo Foresti (Supplementum chronicorum), den der bekannte 
deutsche Chroniker Hartmann Schedel in seiner umfangreichen Weltchronik 
(1493) übersetzte. Foresti und Schedel benützte Vramec sicher, zeitweise 
den einen, zeitweise den anderen. Der Vergleich der Chronik von Vramec 
mit Foresti und Schedel wird allerdings dadurch erschwert, dab Vramec 
nicht das gleiche chronologische System hat wie Foresti und dak der chrono- 
logische Überblick bei Schedel außerordentlich unübersichtlich ist. Die 
Dauer der ersten Epoche übernahm Vramec aus Schedel, ebenso die 
Länge der zweiten Epoche, während er die Angabe über die Länge der 
dritten Epoche entweder aus Foresti oder aus Schedel übernahm. Beim 
Abschnitt über die dritte Epoche ist die Zahl vollständig gleicher Nach- 
richten bei Vramec, Foresti und Schedel außerordentlich groß. Das nicht- 
begründete Anhäufen von Notizen spürt man bei Vramec vor allem an jenen 
Stellen, wo die Bilder bzw. bildhafte Wendungen bei Foresti und Schedel 
der einzige Grund waren, daß die betreffenden Notizen in die Chronik 
hineingenommen wurden. Hier läßt sich von Nachricht zu Nachricht die 
Abhängigkeit Vramec’ von Foresti, der sowohl ihm als auch Schedel die 
gemeinsame Quelle war, verfolgen. Bei der Länge der fünften Zeitepoche 
deckt sich Vramec nicht mit seinen Hauptquellen. Am Beginn dieser E 

machte Vramec schwere Irrtümer, da er nicht auf die Unterschiede zwischen 
den angewendeten chronologischen Systemen achiete. Im übrigen hielt er 
sich auch hier im Text an Foresti. Von diesem übernahm er auch am 
Beginn des sechsten Zeitabschnities die Erörterung über die verschiedene 
Jahreszahlung. Von hier an wird Platina einer der Hauptquellen Vramec’, 
daneben zieht er noch Foresti und Schedel heran. Platina, der seine Vitae 
pontificum schon vor der Reformation geschrieben hatte, hatte sich nicht 
gescheut, von einzelnen Päpsten auch Dinge vorzubringen, die ein offizieller 
Historiograph niemals hätte vorbringen können, weil diese Nachrichten als 
Waffe im Kampfe gegen das Papstium als Institution verwendet worden 
wären. Tatsache ist, daß diese Nachrichten Platinas als Waflen gegen das 
Papsttum verwendet wurden. Die Protestanten lasen gerne Platina und 
kompromitlierten ihn dadurch derartig, daß er auf den Index kam. Trotzdem 
blieb Platina im großen Ansehen, und Vramec, der, wo immer es möglich 
war, von den Papsten Schlechtes vorbrachte, konnte sich auf die Autorität 
Platinas berufen und sich dadurch decken. Vom Jahre 373 an verwendete 
Vramec zum erstenmal seine bedeutendste Quelle fiir die heimische Ge- 
schichte, den magyarischen Geschichtsschreiber Abraham Bakschay (Baksai) 
(Bakschays Chronologia Ducum et Regum Hungariae Cracoviae 1567 gab 
Bonfini in seinem Werke Rerum Hungaricarum heraus). Die Nachricht vom 
heiligen Hieronymus nahm Vramec aus Foresti. Auch Vramec bezeichnet 
ihn als Slaven und als Erfinder der glagolitischen Schrift. In der weiteren 
Darstellung finden sich bei Vramec verschiedene interessante textliche 
Änderungen gegenuber Platina. Vramec wollte in der klaren Tendenz, die 
Papste zu diskreditieren, den Eindruck erwecken, dak die Papste Söhne 
hatten. Das größte Ärgernis erregte er bei seinen glaubigen romisch-katho- 
lischen Lesern durch eine Nachricht aus dem Jahre 858 (Papst Ivan VII. sei 
ein Weib gewesen und habe mitten auf der Piazza ein Kind geboren). 
Wegen dieser Nachricht wurde auch diese Seite im Agramer Exemplar mit 
Tinte überschüttet, und wegen ihr vor allem behaupteten die Historiker Ivan 
Kukuljević und P. Radics, daß Vramec in der Darstellung kirchlicher Ge- 
schehnisse zu frei gewesen wäre. Vramec nahm diese Erzählung deshalb 
hinein, weil sie eine der wichtigsten protestantischen Requisiten in dem 
Kampfe gegen das Papsttum darstellte. Die Nachricht von der Taufe 
der Bulgaren (867) ist entweder Platina oder Schedel entnommen. Mit dem 
zehnten Jahrhundert häufen sich in der Chronik immer mehr die Nachrichten, 
die der Chronologia Bakschays entnommen sind. Im ganzen läßt sich fest- 
stellen, daß ein Drittel der Chronik aus Bakschay übersetzt ist, ein Fünftel 
ungefähr von Platina übernommen ist, während der Rest auf die übrigen 
Quellen, vor allem auf Foresti und Schedel fällt. Vramec verwendet auch 


114 


‚RL K U Aa RI ZI AB RE NA OS se 


sn wm TnaG MdL. 


vom 10. sigh ungen an noch Foresti und Schedel, zieht auch Platina heran, 
im übrigen übersetzt er immer mehr Bakschay. Daneben finden sich auch 
Nachrichten, die allem Anscheine nach aus Funck entnommen sind. Bonfini 
zog er nur ausnahmsweise heran, und zwar hauptsächlich für slavische und 
kroatische Geschichte. Im allgemeinen herrscht bei Vramec eine starke 
Tendenz, die Slaven und slavischen Stellen soviel als möglich in seine 
Chronik hineinzuziehen. Für die erste Zeit der Ausbreitun der türkischen 
Herrschaft finden wir bei Vramec eine Reihe von Nachrichten, die weder 
bei Platina noch bei Bakschay oder Foresti oder Schedel zu finden sind. 
Radojčić nimmt an, daß sich Vramec der bekannten Nachrichten von den 
Türken von Flavius Blondi, Paul Jovius und von Sebastian Münster bedient 
hat. Sicher läßt sich hier nichts feststellen, da die Nachrichten in der 
Chronik von Vramec kurz und trocken sind, die Darstellung der obge- 
nannten Vorbilder dagegen ausführlich, wortreich und ausgeschmückt. Für 
die Darstellung der türkischen zenbe zog Vramec auch Bonfini heran. 
Die größte selbständige wissenschaftliche RS a machte Vramec bei 
der Beschreibung der Schlacht bei Mohäcs er weiteren Darstellung 
übersetzt er wieder Bakschay und die Fortsetzer Platinas bis zur Zeit, wo 

er sich an das von den Zeitgenossen Gehörte halten und Selbsterlebtes 
iedergchen konnte. 

Zusammenfassung: Die Chronik von Vramec ist in ihrem allgemeinen 
Teile ein Abbild der Chronik Forestis und der großen Geschichte Hartmann 
Schedels. Eine Tendenz ist allen drei Arbeiten gemeinsam. Foresti ver- 
herrlichte durch seine Arbeit Italien, Schede! kopierte ihn und rühmite die 
Deutschen, und Vramec verherrlichte, soweit es der kleine Umfang seines 
Werkes zuließ, die Slaven. Diese eine Tendenz ist kopiert, dagegen ist 
die andere Tendenz Vramec’, die gegen die Papste gerichtet war, originell. 
Diese Tendenz führte Vramec durch seine ganze Chronik so konsequent 
als er konnte durch, hütete sich aber, damit offenes Ärgernis zu erregen. 
Er formie mit etwas nationalistischer und regionaler Tendenz den Text 
Forestis und Schedels um und änderte mit oflenkundiger antipäpstlicher 
Tendenz den Sinn des Platinaschen Textes um. Dagegen überschte er ohne 
Tendenz seine dritte Quelle Bakschay, der mit analytischer Gewissen- 
haftigkeit die wichtigen Begebenheiten nicht nur aus der ungarischen, 
sondern auch aus der kroatischen Geschichte verzeichnet hatte. Zweifellos 
zog Vramec neben der Kürze der Bakschayschen Chronologie auch dessen 
gute freundliche Gesinnung gegenüber den Kroaten an. Lange nach Vramec 
tat das gleiche Jovan Rajić in seiner kroatischen Geschichte, so daß Bak- 
schay die außergewöhnliche Ehre zuteil wurde, daß er in der ersien 
kroatischen Chronik und auch in der ersten in der Volkssprache geschrie- 
benen kroatischen Geschichte iiberse§t wurde. Die kroatische Geschichts- 
schreibung entwickelte sich nicht auf Vramec’ Spuren weiter, weder hin- 
sichtlich der Sprache noch hinsichtlich der temperamentvollen Art in der 
historischen Darstellung. Vramec’ Chronik stand lange vollständig ver- 
einzelt da. Die größeren kroatischen Historiker schrieben auch lange Zcit 
nach Vramec nicht in der Volkssprache, schrieben ihre Werke nicht für 
das einfache Volk, sondern für die gebildeten Kroaten, lateinisch, gelehrt 
und schwer, gewöhnlich mit eingeflochtenen staatsrechtlichen Tendenzen. 
Auf die Chronik Vramec’ kamen erst spätere Generationen in den Zeiten 
starker nationaler Begeisterung, zur Zeit des kroatischen Geschichts- 
schreibers Ritter-Vitezovi€ und zur Zeit des Illyrismus zurück. Doch war 
auch da noch das Interesse für Vramec mehr politischer als nationaler 
Natur. Heute ist es klar, daß die Chronik Vramec’ eine anerkennenswerte 
Erscheinung für die Kroaten im 16. Jahrhundert darstellt, daß sie ferner 
einen interessanten Versuch der Verbindung der allgemeinen Geschichte 
mit der nationalen Geschichte, wie sie damals üblich waren und dazu 
dienten, durch Geschichisdarstellungen in der Volkssprache die Kultur im 
Volke zu heben und den nationalen Stolz zu wecken, bildet. Vramec er- 
öffnet den Reigen derjenigen kroatischen Historiker, die es als ihre wich- 
figste Aufgabe ansahen, die slavische und kroatische Vergangenheit mit 


115 


der Vergangenheit der alten uhd zahlreichen Völker und mit großen Per- 
sönlichkeiten und mif bedeutenden Weltereignissen zu verbinden. In dieser 
Hinsicht hatte Vramec Nachfolger, dagegen in seiner freiheitlichen, scharfen 
groben Art des Ausdruckes in der historischen Darstellung stand er lange 
vereinzelt unter den kroatischen Historikern. J. Mati. 


Die Ideen des Bischofs Stroßmayer. (F. 8 iS i &: Ideje biskupa Štros- 
majera.) — Ratnik 1928, Beograd. 1—24. 


Josip Juraj Stroßmayer gehört zu den großen Persönlichkeiten der jugo- 
slavischen Geschichte. Talent, Bildung und die Position, die er im Leben 
einnahm, gaben ihm in verhältnismäßig jungen Jahren Gelegenheit, eine 
Tätigkeit zu entfalten, welche von providentieller Bedeutung für das 
kroatische Volk und für das gesamte Jugoslaventum wurde. Er, der über 
ein halbes Jahrhundert das Amt eines Bischofs innehatte, war eine ganze 
Reihe von Jahren hindurch geistiges Zentrum der Kroaten. Er ermöglichte 
ihnen die Gründung der Jugoslavischen Akademie und der Agramer Uni- 
versität, der ersten im slavischen Süden, er schuf die erste und bis heute 
einzige Bildergalerie im slavischen Süden. Dies alles tat der große 
nationale Mazen in der Absicht, daß sich um diese Sammelstellen der 
Kultur alle Söhne des weiten 3 Gebietes, die Bulgaren mit- 
inbegriffen, sammeln, und in dem Wunsche, daß ihnen auf diese Weise 
Oelegenheit geboten werde, sich untereinander kennenzulernen und zu ver- 
mischen, daß sie sich an dem Feuer der Wissenschaft veredeln und für ihre 
Hauptaufgabe vorbereiten: für ihre nationale Befreiung und Einigung, das 
ist für die Bildung eines großen und würdigen modernen nationalen Staates 
vom Adriatischen bis zum Schwarzen Meere und von Saloniki bis Marburg. 
Die Ideen Strogmayers müssen vom politischen und kulturellen Gesichts- 
punkt aus betrachtet werden. Sein Leben ist den gesamten Jugoslaven 
derartig gut bekannt wie das keiner anderen führenden Persönlichkeit der 
neueren jugoslavischen Geschichte. Es sei hier nur auf die großen Mono- 
graphien von Paié-Cepleié, Zagreb 1904, und von Smičiklas, 
Zagreb 1906 (lebtere in den Ausgaben der Jugoslavischen Akademie), ver- 
wiesen. — Unter den Deutschen, die in Slavonien zu Beginn des 18. Jahrhs. 
einwanderten, waren auch die Vorfahren Sts. In der Familie erhielt sich 
die Tradition, daß der Wachtmeister Paul Stroßmayer aus Linz an der 
Donau zu Anfang des 18. Jahrhunderts nach Esseck gekommen war, als man 
die dortige Festung nach dem System Vauban umbaute. Zweifellos war die 
deutsche Sprache Muttersprache der Vorfahren Strogmayers; anderseits 
trugen Frauen kroatischer Herkunft den kroatischen nationalen Geist und 
die serbokroatische Sprache in die Familie. J. J. Stroßmayer (geboren 
4. 2. 1815 in Esseck) zeichnete sich bereits in der Schule als ganz außer- 
gewöhnlich exzellenter Schüler aus und zeigte auch später als Mann einen 
außerordentlichen Verstand und umfangreiches Wissen. Er wurde bereits 
1849 zum Bischof von Djakovo in Slavonien ernannt und hatte diese Stelle 
bis zu seinem Tode 1905 inne. Seine Ideen: Stroßmayer blieb den Ideen 
der Umgebung, in der er aufgewachsen war, treu. Es waren das die Ideen, 
die ım katholischen Klerus von Slavonien, Bosnien und Dalmatien seit der 
Wirksamkeit Kašić’ im 17. Jahrhundert um sich gegriffen hatten und darauf 
gerichtet waren, für Kroaten und Serben eine Literatursprache auf Grund- 
lage des 3tokavischen Dialektes unter dem Namen der illyrischen Sprache 
zu schaffen. Diese Ideen sog Str. von seinen Lehrern am Essecker Gym- 
nasium, das in Händen der Franziskaner lag, ein, und als Gaj mit seiner 
Aktion begann, gehörte der slavonische katholische Klerus, besonders der 
jüngere, zu seinen begeistertsten und agilsten Anhängern. Die von Gaj 
getragene illyrische Bewegung übte auch auf Str. entscheidenden Einfluß 
aus, vor allem deshalb, weil erst Gajs Auftreten in die bisherige literarische 
und sprachliche illyrische Bewegung auch das politische Moment der natio- 
nalen Einheit hineingetragen hatte. Ferner das starke Bestreben, dak nach 
der Vernichtung der magyarischen Hegemonie in einer foderativen Habs- 


116 


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7 


burger Monarchie die Gleichberechtigung aller in ihr lebenden Völker her- 
gestellt werde. Dieses Programm, der sogenannte Ausiroslavismus, war 
zwischen 1830 und 1850 das politische Ideal nicht nur der kroatischen Illyriet, 
sondern auch der Tsdiechen, Slovaken, Slovenen und der Serben der 
Vojvodina, vor allem des Banus Jelačić und des Patriarchen Rajačić. Ferner 
trug der kroatische Illyrismus in das serbokroatische Volk die Idee der 
konfessionellen Toleranz, genauer die Idee der Liebe zwischen den kon- 
fessionell geschiedenen Brüdern eines Volkes. Das kulturelle Programm 
des kroatischen Illyrismus: Bereits 1836 beschloß der kroatische Sabor, von 
König Ferdinand V. die Bewilligung zur Gründung einer Gelehrten Gesell- 

fi, einer Nationalbibliothek und eines Nationalmuseums, also einer 
Akademie, einzuholen. Die Realisierung dieses nationalen Wunsches ver- 
hinderten die Magyaren. 1845 beschloß der gleiche kroatische Sabor, an 
den König mit der Bitte heranzutreten, daß die Agramer „Juridische Aka- 
demie“ zu einer vollständigen Universität erhoben werde, ferner daß das 
Agramer Bistum zu einem Erzbistum erhoben und die Episkopate von Senj 
(Zengg), KriZevac (Kreuz) und Djakovo ihm untergeordnet werden. Der 
Wunsch entsprang dem Bestreben, sich von der kirchenpolitischen Hierarchie 
der Magyaren frei zu machen. Diese verschiedenen nationalen Wünsche 
begannen der Wirklichkeit entgegenzureifen, als Stroßmayer durch die Be- 
mühungen der Illyrier, vor allem des Banus Jelačić, Bischof von Djakovo 
wurde. Denn Stroßmayer blieb den Idealen und Ideen seiner Jugend und 
seiner Klerikerzeit freu und war als Bischof jener ideale nationale Mensch, 
welcher nach den gegebenen Möglichkeiten die Ideen und Bestrebungen der 
illyrischen Bewegung verwirklichte. Er war erfüllt von der Überzeugung, 
daß er die reichen Einkünfte seiner Stellung für nationale Zwecke und nicht 
für persönliches und familiäres Wohlergehen zu verwenden habe. Charak- 
teristisch für Stroßmayer ist noch die Hartnäckigkeit und Unwandelbarkeit, 
mit der er an seinen Prinzipien, Ideen und Überzeugungen festhielt, sowie 
der tiefe Glaube an die Erfüllung seiner Ideen und nationalen Ideale. 

Die Grundideen der Nationalpolitik Stroßmayers lassen sich folgender- 
maben formulieren: Er vertrat erstens die nationale Einheit im jugoslavischen 
Sinne, also als letztes Ziel der gemeinsamen Bestrebungen den gemein- 
samen Staat aller Serben, Kroaten, Slovenen und Bulgaren. Deshalb 
wendele er sich gegen jede partielle Hegemonie, sowohl gegen die 
serbische als auch gegen die kroatische, wie auch gegen die Bestrebungen, 
die dem jugoslavischen Programm einen rein kroatischen Charakter ver- 
leihen wollten — wie es Kvaternik und Starčević taten — oder einen rein 
serbischen Charakter — wie dies Svetozar Miletić und Genossen ver- 
traten —, und forderie, daß man in gleicher Weise das Kroatentum wie 
auch das Serbentum achten müsse, aber beides zu einem größeren Ganzen, 
zu einem Jugoslaventum, verbinden müsse. Er trat damit für eine Synthese 
aller jugoslavischen Völker unter Anerkennung der vollen Gleichberechti- 
gung nicht nur der Kroaten und Serben, sondern auch der Slovenen und 
Bulgaren ein. Als realpolitisches Ziel für die Zeit, solange ein Großteil der 
Jugosiaven noch in den Grenzen der Habsburger Monarchie ‚lebt, verlangt 
Stroßmayer den nationalen und unabhängigen Staat der Kroaten, Serben 
und Slovenen in einem föderativen Österreich. Für die aktuelle nationale 
Politik schwebte Stroßmayer und Jelaci¢é als Hauptziel die Vernichtung der 
magyarischen Hegemonie als des schwersten Hindernisses für eine Födera- 
lisierung Österreichs vor Augen. Daher ist es auch vom Standpunkt der 
historischen Wahrheit und Gerechtigkeit aus unrichtig zu behaupten, daß Jelačić 
und Stroßmayer 1848 im Dienste des reaktionären Wiener Hofes gestanden 
seien und nur für ihre familiären und egoistischen Interessen gearbeitet hätten. 
Als das zehnjährige Experiment des Absolutismus vorüber war und 1860 
wieder ein neues politisches Leben begann, trat Stroßmayer zum ersten 
Male selbständig auf die Oberfläche des politischen Lebens und vertrat im 
gleichen Jahre im Verstärkten Reichsrat in Wien die Idee eines föderativen 
Österreichs, verlangte das dreieinige Königreich, nämlich die Vereinigung 
von Kroatien, Slavonien und Dalmatien, mit nationaler Dienstsprache. Dieses 


117 


Prinzip vertrat Stroßmayer dauernd, auch dann, als durch den österreich- 
ungarischen Ausgleich 1867 und durch den kroatisch-ungarischen staats- 
rechtlichen Ausgleich 1866 bzw. 1873 jede Hoffnung auf Verwirklichung 
seines Programmes geschwunden war. Aus diesen Griinden war auch 
Stroßmayer in den Augen der Magyaren „der gefahrlichste Gegner“, wie 
ihn gelegentlich der ungarische Historiker Wertheimer bezeichnet. — Stroh- 
mayer arbeitete ferner programmatisch darauf hin, dak es zwischen den 
beiden Hauptkirchen, der katholischen und orthodoxen, auf der Basis der 
slavischen Kirchensprache zur größten Toleranz, gegenseitigen Liebe und 
Achtung, zu ciner möglichst starken Annäherung komme. Diese Ideen von 
der Vereinigung bzw. Annäherung der beiden Kirchen haben nicht nur 
politische, sondern auch kulturelle Bedeutung. Siroßmayer, der in einem 
Gebiet lebte, in dem es Anhänger beider Kirchen gab, war früh zur Einsicht 
gelangt, daß in der konfessionellen Spaltung und in der tiefen Kluft 
zwischen der westlichen und östlichen Kirche das größte nationale Übel der 
Siidslaven liege. Denn kein anderes katholisches oder orthodoxes Volk 
auf der Welt mußte so auf eigenem Körper die traurigen Folgen der 
Kirchenspaltung spüren wie gerade die Kroaten und Serben. Stroßmayer 
war sich bereits bewußt, daß die Einheit der Kirchen auch eine Einheit des 
Geistes, besonders bei den breiten Volksmassen, beinhalte, die Einheit des 
Geistes aber eine Grundbedingung der Sicherung der politischen Einheit sei. 
In der praktischen Tätigkeit an der Annäherung der beiden Kirchen arbeitete 
Stroßmayer aus der Erkenntnis der Tatsache, daß jede orthodoxe Kirche 
national, die katholische Kirche aber international ist, daran, der Einigung 
im Wege der Nationalisierung der katholischen Kirche bei den Kroaten 
(eventuell auch bei den Slovenen) näher zu kommen, und zwar durch Ein- 
führung der slavischen Kirchensprache, so wie sie von alters her in einzelnen 
kroatischen Bistumern im Küstenland in Gebrauch war. Bei diesem Be- 
streben stick Stroßmayer auf viel größere Hindernisse, als er erwartet 
hatte, und zwar nicht so sehr in Rom, als vielmehr in Wien und Budapest, 
aus begreiflichen Gründen, da ja den Wiener und Pester politischen Kreisen 
eine engere Annäherung der Kroaten und Serben nicht erwünscht war. 
Das schwerste Hindernis lag allerdings im Primat des Papstes, von dem 
Stroßmayer als uberzeugter Katholik nicht abzugehen gedachte, zumal ihm 
die Idee einer Union vorschwebte. Gegen ein Primat des Papstes erhob 
sich auch ein erbitterter Widerstand der orthodoxen Kreise. So mußte sich 
Stroßmayer in diesem delikaten Problem darauf beschränken, die gegen- 
seitige Liebe und Achtung zwischen den Anhängern der beiden Kirchen zu 
predigen. Anscheinend war die bekannte oppositionelle Stellungnahme 
Stroßmayers beim vatikanischen Konzil 1869/70 gegen die Unfehlbarkeit des 
Papstes in kirchlichen Lehren auch durch den Gedanken begründet, daß 
dies neue Dogma die katholische Kirche noch mehr von der orthodoxen 
entfernen werde, also die geistige Einigung der Kroaten und Serben noch 
mehr erschweren werde. 

Stroßmayer vertrat ferner die Idee der slavischen Solidarität im Sinne 
J. Kollärs, den Stroßmayer aus Pest kannte, aus dem Bewußtsein heraus, 
daß es den slavischen Völkern nur durch die slavische Solidarität möglich 
sein werde, sich im internationalen Kampfe um die Existenz zu erhalten. 
Daher sein Interesse für alle Slaven und seine Beziehungen mit allen be- 
deutenden Persönlichkeiten des gesamten Slaventums, daher auch seine 
Liebe für das Sokolwesen, für die ersten slavischen Pioniere und Kämpfer 
für die nationale Einigung. Daher sein bekanntes Telegramm nach Kiew 
anläßlich der Jahrtausendfeier der Taufe der Russen. Im Geiste dicser 
slavischen Solidarität kämpfte Stroßmayer auch für die Autonomie der 
Serben und Bulgaren innerhalb der Grenzen des türkischen Reiches; er 
unterstützte auch materiell die jugoslavischen Christen in Bosnien, Her- 
zegovina und Aliserbien, indem er ihnen große Geldsummen für die An- 
schaffung von Waffen zur Verfügung stellte. Besondere Aufmerksamkeiten 
wendete er den bosnischen Franziskanern zu und kümmerte sich um ihren 
Nachwuchs und um ihren geistigen Fortschritt. Die. Frage der materiellen 


118 


Unterstützung der serbischen Aufständischen in der Türkei war, wie wir 
heute wissen, der Inhalt der geheimen Besprechungen zwischen Stroßmayer 
und dem serbischen Fürsten Mihailo Obrenović. Da die Katholiken in 
Belgrad und in Serbien ihm gruen unterstellt waren, hatte Sitroßmayer 
die Möglichkeit, dienstlich nach Serbien zu reisen und dort mit dem Hof 
und der Regierung in Berührung zu treten. Auch mit den Slovenen hatte 
Strozmaver enge Beziehungen, war mit Bart. Vidmer, dem späteren Lai- 
bacher Bischof, und mit Doktor J. Bleiweiß und auch mit dem Bischof Martin 
Slomšek gut bekannt. Er verlangt 1860 im Wiener Reichsrat, daß den 
Slovenen die slovenische Unterrichtssprache in ihren Schulen gegeben 
werde. Er unterstützte reichlich alle slovenischen kulturellen und nationalen 
Institutionen. 
Siroßmayers kulturelle Ideen: Stroßmayer war sich bewußt, daß eine 
nicht aufgeklärte und nicht kultivierte Volksmasse von verschiedensten Vor- 
urteilen beherrscht ist und alle Dinge nur vom Standpunkt der lokalen und 
regionalen Interessen aus beurteilt, daß also eine derartige Masse nicht 
fähig ist, irgendwelche größere und nationale Probleme zu erfassen und 
zu verstehen. Daher müssen diese Volksmassen, um für eine politische 
Einigung reif zu werden, kulturell gehoben werden, die Kultur ist eine 
Grundbedingung für eine erfolgreiche nationale Politik. Das Volk muß 
zuerst wissen, was Volk, Heimat, Freiheit und nationale Einigung bedeuten, 
und erst dann kann man auf die Realisierung dieser erhabenen mensch- 
lichen Ideale schreiten, weil sich erst nach einer derartigen Aufklärungs- 
und Erziehungsarbeit das Volk als eine Einheit fühlt und die öffentlichen 
Angelegenheiten von einem weiteren Gesichtspunkt und von allgemeinen 
nationalen Interessen aus zu beurteilen in der Lage ist. Daher seine Devise: 
„Durch Aufklärung (Kultur) zur Freiheit“. Im Geiste dieser Ideen machte 
sich Stro mayer an die Organisierung der kulturellen Einheit und Einigung 
der Südslaven als der notwendigen Vorstufe für die politische Einheit und 
die Zukunft und legte die finanziellen Grundlagen zur Schaffung der ob- 
genannten Kulturinstitutionen, der Akademie 1860, der Universität 1874. 
Der Jugoslavischen Akademie stellte er bei der Gründung ausdrücklich die 
Aufgabe, sie solle in erster Linie die Geschichte, Literatur und Sprache der 
Sudslaven untersuchen und eine einheitliche Liferatursprache schaffen. Bei 
der Gründung der Universität sagte er: „Wir sind durch den jahrhunderte- 
langen Kampf, den wir gegen die Barbarei und für die christliche Kultur 
führen mußten, sehr geschwächt worden. Die Glieder unseres Körpers sind 
noch heute zerrissen. Unsere Universität hat gerade diese heilige Aufgabe, 
das Volk zu einen und in innere Verbindung zu bringen, damit sich das, 
was Ungerechtigkeit und ein ungünstiges Schicksal von unserem „Körper 
weggerissen haben, wieder unserer allgemeinen Mutter anschließe.“ Nach 
Siroßmayer sollten die Akademie und Universitat ein Zentrum der kul- 
turellen Tätigkeit aller Südslaven werden. Er erwartete von der Akademie, 
daß sie eine jugoslavische wissenschaftliche Ideologie ausbaue und eine 
allgemeine südslavische Literatursprache schafle, von der Universitat, daß 
sie eine Generation fähiger nationaler Arbeiter heranziehe, damit man dann 
leicht und mit Erfolg der Realisierung weiterer Konsequenzen der nationalen 
Einigung nahetreten könne. J. Matl. 


A. Vaillant: Marko Kralevié et la Vila. Revue des études slaves. 
T. 8 (1928), 1—2, S. 81—85. 


Der Gesang vom Ritt des Marko Kralevié und seines Kreuzbruders 
Miloš Obilić, wie er in Vuk Karadžić’ „Srpske narodne pesme“ 2, Nr. 38, 
wiedergegeben ist, zeigt in einer Fülle von Einzelheiten, daß ein ursprüng- 
licher Text hier stark abgeändert vorliegt. V. zieht zum Vergleich Varianten 
heran aus den von der Matica Hrvatska herausgegebenen „Hrvatske narodne 
pjesme” 1, Nr. 8—11, und aus der von Petranović herausgegebenen Samm- 

„Srpske narodne pjesme iz Bosne i Hercegovine“ 2, Nr. 23, welche es 
ermoglichen, den urspriinglichen Sinn des Hergangs und die ihrem mytho- 


119 


logischen Charakter entsprechenden Eigenschaften der Vila wiederzufinden. 
V. kommt bei diesen Untersuchungen zu einem anderen Urteil als Maretić 
in „Naša narodna epika“. Emmy Haertel. 


Gerhard Gesemann: Volkslieder von der Insel Curzola. 
Aufgez. von Dr. med. Kuzma Tomašić. Archiv fur Slav. Philo- 
logie. 42 (1928), 1/2, S. 8—31. 


Die dalmatinischen Inseln, insbesondere Lissa, Lesina und Curzola, 
haben in ihrer Volksepik einen von den anderen Regionen Südslaviens ab- 
weichenden Charakter und stellen ein Stadium in der geschichtlichen Ent- 
wicklung der Epik dar, welches G. als „Thesaurierung in den letzten Atem- 
zügen“ bezeichnet; die epische Tradition entbehrt hier der Lebenswärme, 
welche ihr z. B. im montenegrinisch-albanischen Grenzgebiet noch eigen 
ist, hat sich aber andererseits freigehalten von derartigen Zeichen des Ver- 
falls der heroisch-patriarchalischen Grundstimmung dieser Dichtungsart, wie 
sie ältere und neuere Sammlungen aus den pannonischen Gebieten erkennen 
lassen. Diese insulare Epik hat einige Ähnlichkeit mit dem Zustand der 
russischen Volksepik zur Zeit ihrer eee Fixierung im 19. Jahr- 
hundert. Die Gesänge werden aber nicht mehr zur Guslenbegleifung in 
einem ihrem Inhalt adäquaten Hörerkreis vorgetragen, nur alte, mit guiem 
Gedächtnis begabte Frauen sagen sie in singendem Tonfall den Kindern vor. 
Sie zeigen oft einen romantisch-sentimentalen Einschlag, den G. zum Teil 
auf Einflüsse der südslavisch-italienischen Kultur zurückführt. Dr. Tomašić 
hatte im Herbst 1913 im Dorfe Smokovica eine alte Frau ihrem Enkel ein 
Lied von Strahinj-ban singen hören und zeichnete einige Lieder dieser 
Sängerin auf. Er kann sich aus seiner eigenen Kindheit erinnern, nur noch 
alte Frauen solche Lieder ohne Begleitung singen gehört zu haben, auch 
damals sangen sie Männer nicht mehr. Das in den hier wiedergegebenen 
Liedern mitenthaltene Lied „Markova sestra vojvoda“ stammt nicht aus den 
Aufzeichnungen des Dr. Tomašić, sondern von dem Theologen D. Tomašić. 
Lied 1 „Kraljevi€ Marko i vila vodarkinja“ unterscheidet sich von den sonst 
bekannt gewordenen Varianten durch den Ausgang der Handlung, der in 
Ubereinstimmung mit altertümlichen Prosaüberlieferungen den Helden, der 
das Tabu des Wassers verletzt hat, der verdienten Strafe überliefert. Nr. 4 
„Ljuba Ive Senjanina“ zeigt, im Vergleich zu dem gleichen Text, welchen 
Leskien auf Curzola aufgezeichnet und Archiv V veröffentlicht hatte, wie 
schnell dort der Volksgesang abgestorben ist, es liegen nur wenige jahr- 
zehnte zwischen der Leskienschen Aufzeichnung und der von Tomašić, die 
letztere zeigt aber nichis mehr von den Rachegefühlen der Mare beim 
Wiedersehen ihres ungerechien Gatien. Eingehend verweilt G. bei Nr. 6 
„Siroinie Ban“. Er nennt die vorhandenen Varianten und hebt die grob- 
artige ethische Auffassung durch den Sänger Milija (bei Vuk) hervor, welcher 
den Helden Sirahinha, im Gegensab zu der echt balkanischen Gesinnung seines 
Schwiegervaters, der von dem Türken geraubten und ihm abspenstig gemach- 
ten Frau verzeihen laßt. Die von Grd'ié-Bjelokosié in der Bosanska Vila 
225, 21 gegebene Variante des Liedes gibt G. Anlaß zu Erorterungen dar- 
über, ob man darin etwa eine, z. T. mißverstandene Wiederholung des Vuk- 
schen Textes zu sehen hat oder nicht. Das Lied, welches Dr. Tomašić 
aufgezeichnet, zeigt große Lücken in der Handlung, verglihen mit dem 
Text bei Vuk. Die übrigen fünf Lieder und einige Liedanfänge geben nur 
zu kurzen Bemerkungen Anlaß. Emmy Haertel. 


Wolfango Giusti: Miroslav Krleža. — Rivista di letterature 
slave. Anno 3, 2. (1928). S. 163— 175. 


Krleža verdankt, ebenso wie Jaroslav Hašek, zum großen Teil seinen 
Ruhm der Kritik des Auslandes, auf die, beiden charakteristischen Züge, geht 
G. am Schlusse seines Aufsakes ein. Nach der Meinung Giustis war es in 


120 


Italien zuerst die Zeitschrift „Delle“ in Fiume, welche auf Krleža hinwies, 
jedenfalls war er bereits in Deutschland und in der Cechoslovakei bekannt 
und geschäßt, als in Jugoslavien uber ihn die Urteile noch ganz im unklaren 
waren. KrieZa gehört, seinem Geburtsjahr (1893) nach, der alteren Gene- 
ration an, die Kriegsjahre kennzeichnen in ihm eine Grenzlinie des Denkens 
und Schaffens. In der ihnen voraufgegangenen Zeit durch Nietzsche einer- 
seits und Vojnovié andererseits beeinflußt, gewähren seine Dichtungen den 
Eindruck einer noch nicht gefestigten Ideenwelt, einen Ideenreichtum, in dem 
der Wille zur Macht eine führende Rolle zu haben scheint, während die ge- 
samie Umwelt, bis zu den geringfugigsten Dingen herab, den Dichter an- 
zieht. In den scharfen Kontrasten von Licht und Schatten in den Schopfun- 
gen jener Jahre findet G. etwas den italienischen Scicentisten Ähnliches. In 
den in Zagreb i. J. 1919 erschienenen „Pjesme“, vor allem in denen des 
3. Bandes, zeigt sich bereits die durch den Weltkrieg hervorgerufene Um- 
orientierung. Der Niebschesche Ubermensch weicht einem kollektiveren 
Begriff von Leben und Kunst. Indessen herrschen auch hier gewollte scharfe 
Kontraste vor und ein Sireben, gegen die Strömung zu schwimmen. G. 
analysiert daraufhin die Gedichte „Plameni viefer“, ,,Predvecerje u pro- 
vincijalnoj varo3ici“ u. a. Noch in den Dichtungen aus dem J. 1918 herrscht 
eine lyrische Phantastik vor, welche durch die Zeitereignisse ausgelöst wird, 
im 3. Band dagegen gewinnt die politische Einstellung an Boden, so ist 
„Venerdì santo 1919" dem Gedächtnis von Karl Liebknecht, „Pjesmo naših 
dana“ ganz politischen Tagesfragen gewidmet. Am bekanntesten ist Krieza 
durch die „Hraviska Rapsodija“ vom J. 1917 geworden, in der G. formelle 
Anklänge an Marinetti, Ideenanklänge an Majakovskij finden will. 

Krleža wird zum eingefleischten Gegner der lyrischen Sentimentalitäl, 
der humanitären Fortschrittsidee und des individuellen Asthetentums. Selbst 
Vojnović, ebenso wie viele allgemein anerkannte und geschätzte kroatische 
Schriftsteller, entgeht nicht seiner geringschabigen Kritik. Krleža sieht in 
ihm nur einen Nachahmer Annunzios. 

Unter seinen Erzählungen nimmt „Tri Domobrana“ einen besonderen 
Platz ein. In Kroatien, ähnlich wie in der Cechei, bestand zu Beginn des 
Weltkrieges der Dualismus zwischen Staats- und Rassenzugehötigkeifl wäh- 
rend aber die Mehrzahl der Cechen sich von Anfang an auf die Seite der 
Entente gestellt hatte, sympathisierte in Kroatien die Mehrzahl mit Oster- 
reich. KrieZa nahm nun den Kampf auf gegen den österreichischen Servilis- 
mus wie gegen das Schwanken zwischen Österreich und Jugoslavien. Man 
hat die „Tri Domobrana“ häufig mit Hašeks „Švejk“ verglichen. Troß der 
unleugbaren Ähnlichkeit des Stoffes, den beide dem Weltkrieg entnehmen, 
besteht aber doch eine beträchtliche Verschiedenheit unter ihnen. Der 
Geist, der aus Hašeks „Svejk“ spricht, ist von äbender Ironie, in Krlezas 
Erzählung ist dagegen oflene Kampflust zu spüren. Hier fehlen gänzlich, 
oder sind nur selten anzutreffen, friedliche, komische Szenen, die gesamte 
Handlung ist kürzer, konzentrierter und qualvoller. Selbst das humoristische 
Element darin wirkt tragisch und erinnert an gewisse Blätter Goyas. 

In den Dramen KrieZas sieht G. den Hauptwert in deren Aktualität und 
„kinematographischen“ Technik. G. halt es für kaum möglich, schon jebt 
zu einem abschließenden Urteil über Krieza zu gelangen, denn noch hat 
dieser sicher nicht sein letztes Wort gesprochen; das große Interesse, welches 
das Ausland an ihm nimmt, erscheint ihm jedoch unter jedem Gesichtspunkt 
gerechtfertigt. Emmy Haertel. 


Arturo Cronia: Offone Zupantié. — Rivista di letterature 
slave. Anno 2, Fasc. 4. 1927. S.579—594. 


V. Der Betrachtung von Zupanéié’s „Samogovori“ (Lubiana 1908) ist 
als Motto ein Schopenhauerscher Ausspruch vorangestellt. je reicher der 
Mensch in sich selbst ist, um so weniger können ihm andere niiblich sein. 
Die Wahrheit dieses Wortes ist von Zupanéié tief empfunden worden. Das 
Unlösbare sozialer Fragen erzeugt ein Gefühl des Ekels und der Unlust 


121 


vor sozialen Kontakten. Daher wird die Einsamkeit vorgezogen. Aber 
seine Einsamkeit „ist nicht ein krankhaftes Zeichen des Pessimismus. 
Sie ist eine Bejahung von Nießschianischem Charakter.“ Daher die Doppel- 
natur der Monologe. Ein Blick sucht die Lufträume der Unendlichkeit, der 
andere verfolgt die Mäander des wirklichen Lebens. Und immer bleibf das 
Herz des Dichters Schwerpunkt des Ganzen. Hieraus erklären sich auch 
gewisse Unklarheiten, die ihrerseits die unfreundliche Aufnahme der Mono- 
loge bei gewissen Kritikern verursacht haben mögen. Das Streben nach 
Wahrheit und Gerechtigkeit wird immer wieder durch den Zweifel auf- 
gehalten. Ein erschütternder Beweis dieser Zwiespältigkeit liegt vor in der 
Dichtung „Vizija“, die Cronia dem Inhalt nach wiedergibt. Zupanlic ge- 
langt schließlich zu seinem Gottesbegriff, ebenso wie Kant, nicht vermittelst 
der göttlichen Offenbarung, sondern durch die klare und strenge Gewißheit 
des eigenen Gewissens. Er kommt zu seinem GottesbewuBtsein auf intellek- 
tuellem Wege. — In den Samogovori klingt mächtig auch der vaterländische 
Gedanke an. Sein Blick umspannt die georgische Welt des slovenischen 
Volkes und das heiße Leben der Städte. Schließlich klingt auch der für 
Slovenen und Slovaken so bedeutungsvolle Lockruf der Fahrten über das 
Weltmeer mit hinein. Emmy Haertel. 


RUSSLAND 


M.N. Tichomirov: Sela i derevni Dmitrovskogo kraja v XV—XVI 
veke: Trudy obSéestva izucenija moskovskoj gubernii, vyp. | 
(1928), S. 5—34. 


Einer Einleitung, die historisch- geographisch über die Veränderungen 
der Grenzen des Territoriums Dmitrov unterrichtet, die Naturreichtümer und 
auf Grund der Ortsnamen die Kolonisation des Gebiets bespricht, ferner 
die Verteilung der Erb- und Lehngüter des Adels und des klösterlichen 
Orundbesitzes untersucht, folgen als besondere Abschnitte ein historisch- 
geographisches Verzeichnis der Siedlungen im Gebiet von Dmitrov im 15. 
und 16. Jahrhundert mit einer Karte und Quellenangaben. F. Epstein. 


E. A. Zvjagincev: Moskovskij kupec kompanej3äik Michajla 
Gusjatnikov i ego rod (Der Moskauer Handelskompagniekaufmann 
M. Gusjatnikov und sein Geschlecht): Trudy obS¢estva izuéenija 
moskovskoj gubernii, vyp. I (1928), S. 61—74. 


Vorfahren der im 18. Jahrhundert in Moskau als wirtschaftliche Unter- 
nehmer zu großem Wohlstand gelangten Familie Gusjatnikov begegnen 
gegen Ende des 17. Jahrhunderts im Dienst der Zobelkasse (Sobolinaja 
kazna) beim Prikaz für Sibirien, die die Einkünfte der Krone an Zobelfellen 
und anderen Kostbarkeiten verwaltete. 5 

Petr Gusjatnikov gehörte mit seinen vier Söhnen Michail. Aleksei, 
Prochor und Petr zu einem Konsortium von siebzehn Teilhabern, an das 
1730 auf zehn Jahre der Vertrieb von alkoholischen Getränken in Moskau 
verpachtet wurde. Michail Gusjatnikov war dann von den vierziger bis in 
die siebziger Jahre der reichste Kaufmann Moskaus. Außer seiner Teil- 
haberschaft in der Handelskompagnie, die das Monopol für den Spirituosen- 
verkauf besaß, waren Industriebetriebe (Hüte- und Leinwandfabrikation), 
ein auf zahlreiche Ladengeschäfte verteilter Großhandel in verschiedenen 
Artikeln und Hausbesit die Quellen seines Reichtums. Unter den folgenden 
Generationen ging die wirtschaftliche Machtstellung, die Michajl der Familie 
errungen hatte, unaufhaltsam zurück. Michajls Nachkommen gehörten ihrem 
Stand und ıhren Interessen nach nicht mehr ausschließlich der Kaufmann- 
schaft an, sondern begegnen in wissenschaftlichen und Künstlerkreisen; 
andere kamen als Gutsbesiger in nähere Beziehung zum grundbesigenden 
Adel. F. Epstein. 


122 


G. A. Novickij: Pervye Moskovskie manufaktury XVII veka po 
obrabotke koži (Die ersten Moskauer Manufakturen für Leder- 
bearbeitung im 17. Jahrhundert): Trudy obScestva izulenija mos- 
kovskoj gubernii, vyp. I (1928), S. 47—60. 


In einem wertvollen Beitrag zur Geschichte der Wirtschaftspolitik im 
Ausgang der Moskauer Periode ergänzt Novickij das Bild der Hofwirtschaft 
des Zaren Alekséj Michajlovič, das A. |. Zaozerskij auf Grund der Akten 
der Geheimen Kanzlei des Caren (Tajnyi prikaz) gezeichnet hat (,,Car 
Alekséj Michajlovič v svoem chozjajstv&“, 1917). In der Untersuchung über 
die Kronbetriebe zur Saffıan- und Lederfabrikation in den sechziger und 
siebziger anren des 17. Jahrhunderts sind die Zusammensetzung und die 
Lohnverhältnisse der Arbeiterschaft eingehend dargestellt. Die Werkmeister, 
häufig Ausländer, wurden als Hüter des Fabrikationsgeheimnisses hoch be- 
soldet. Die Verständigung zwischen Meister und Lehrlingen war oft recht 
schwierig; so mußte z. B. für einen in Astrachan als Meister für die Her- 
stellung von Saffan angeworbenen Armenier ein besonderer Dolmetscher 
gehalten werden. F. Epstein. 


A. L Voronkov: Kašira v XVII veke: Trudy obščestva izucenija 
moskovskoj gubernii, vyp. I (1928), S. 35—46. 


An Stelle des alten Kašira auf dem linken Okaufer (nahe der Ein- 
mündung der Kaširka), das in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts stark 
unter den Einfällen der Tataren zu leiden hatte, entstand zwischen 1613 und 
1624 eine neue hölzerne Festung Kašira auf dem rechten Ufer der Oka. 

Die Befestigung der Stadt und die Armierung mit Geschützen wurde 
nach einer Periode der Vernachlässigung, in der größerer Wert auf die 
Instandhaltung der vorderen Verieidigungslinie im Süden mit Putivl, Bel- 
gorod, Ryrsk gelegt worden war, in den siebziger Jahren erneuert. Zwischen 
1679 und 1687 ist in Kašira als Festungsbaumeister ein Deutscher, der „In- 
genieur und Oberst“ Gabriel von Turner, bezeugt; in russischen Schrift- 
stucken kommt er als Gavril Ferturner oder Hanka Fanturner vor. 

Sehr bald nach der Verlegung der Stadt vom linken auf das rechte 
Okaufer begann sich in Ka3ira Handel und Gewerbe in bescheidenem Um- 
fang zu entwickeln. Eine Tabelle zeigt die berufliche Gliederung der Be- 
völkerung von Kašira in den Jahren 1617 bis 1627, 1646 und 1678: 1646 zählte 
die Stadt rund 600 männliche Einwohner, die überwiegend zur militärischen 
Besakung gehörten. 

in der Korrespondenz zwischen der Zentralregierung in Moskau und 
den Voevoden der Stadt werden häufig Entsendungen von dienstplichtigen 
Leuten, die in Kašira stationiert waren, nach südlicher gelegenen befestigten 
Punkten (Tambov, Putivi, Belgorod, Ryl'’sk, Sevsk usw.) erwähnt. Im Jahre 
1660 wurde der Voevode M. N. Pisarev angewiesen, von Ka3ira Handwerks- 
meister mit den nötigen Vorraten zum Bau von Booten an den Don zu 
schicken, wo eine Donflotte ausgerüstet werden sollte. Die Unlust der Ab- 
kommandierten, dem Befehl Folge zu leisten, war so groß, dab seine Aus- 
führung durch die Drohung, im Weigerungsfalle würden Dienst- und Erb- 
güter unwiderruflich eingezogen werden, erzwungen werden W , 

. Epstein. 


M. S. Pomerancev: Certy dvorcovogo chozjajstva v Dmiłrove v 
XVI -XVIIl vv. Züge aus der Hofwirtschaft in Dmitrov im 17. und 
18. Jahrhundert): Moskovskij Kraeved, vyp. 5 (1928), S. 3—8. 
Dmitrov war im Ausgang des 17. und in den ersten Jahren des 18. jahr- 

hunderts durch die sog. konjuSennaja sloboda, deren Abgaben an den 


carischen Marstall gingen, durch Wiesengelände, das dem Herrscher gehörte, 
vor allem aber durch seine Fischteiche in die Wirtschaft des Moskauer Hofes 


125 


-æ 


verflochten. Aus der Zeit Peters d. Gr. werden einige wirtschafiliche Mag 
nahmen der Regierung erwähnt: Die Heranziehung von Dmitrover Han 
werkern zum Bau von Petersburg und Kronstadt; Anweisungen, Erzeugnisse 
der Dmitrover Gemüse- und Obstkuliuren nach Petersburg zu ver- 
pflanzen, usw. F. Epstein. 


K. V. Sivkov: Podmoskovnaja voicina serediny XVIII v.: Trudy 
ob3testva izučenija moskovskoj gubernii, vyp. 1 (1928), S. 75—96. 


Das Kirchdorf Pavlovskoe mit Zubehör, über das der Aufsab handelt, 
gehörte der Gräfin Anna Bestuževa, der Gattin des Vizekanzlers A. P. 
BestuZev, aus ihrer ersten Ehe mit Graf P. I. JaguZinskij. Die Darstellung 
gründet sich auf ein Liegenschafts- und Inventarverzeichnis vom Jahre 1743 
und auf Akten über Bauernunruhen, die 1750 bis 1754 auf der Pavlovskaja 
voicina stattfanden. F. Epstein. 


V. I. Piéeta: Francuzskie diplomaty o torgovie Rossii s Franciej 
v pervye gody carsivovanija Ekaleriny II (Französische Diplo- 
maten über den Handel Rußlands mit Frankreich in den ersten 
jahren der Regierung Katharinas ll): Trudy Belorusskogo Gosu- 
darstvennogo Universiteta Nr. 20 (Minsk 1928), S. 172—197. 


_  Piteta erläutert nach den in Band 140 (1912) und 141 11913) des Sbornik 
imperat. russk. istoric. ob3testva veröffentlichten Korrespondenzen zur Ge- 
schichte der diplomatischen Beziehungen zwischen Rußland und Frankreich 
die französischen, völlig vom Gegensatz Frankreichs zu England beherrschten 
Erwägungen für und wider den Abschluß eines Handelsvertrags mit Ruß- 
land. Wiederholter Diplomatenwechsel und das Vorherrschen politischer 
Fragen bereiteten einer handelspolitischen Erörterung Hindernisse. Der 
Eindruck der Argumentationen des Botschafters Marquis de Beausset, der 
seiner Regierung den Abschluß eines Handelsverirags nahelegte, weil er 
im direkten Handel Rußlands mit Frankreich ein wirksames Mittel zur wirt- 
schaftlichen und politischen Schwächung Englands erblickte, wurden paraly- 
siert durch die Berichte des Vertreters der nichtoffiziellen Diplomatie des 
Königs Ludwigs XV, des Konsuls Rossignol. Während de Beausset mit 
Beklemmung das Zustandekommen des englisch-russischen Handelsvertrags 
von 1766 beobachtete, leugnete Rossignol die Abhängigkeit der Handels- 
beziehungen zwischen zwei Ländern von der jeweiligen politischen Kon- 
unkfur und fand sich mit der Beherrschung des russischen Markts durch 
England ab. Dagegen gehörte der französische Bankier und Vizekonsul 
in Petersburg, Raimbert, zu den Befürwortern eines Vertrags. 

__ Piéeta gelangt zu dem Schlusse, daß das Kontinentalsystem Napoleons I. 
sich in seinen Ursprüngen bis in die Epoche des Ancien Régime zurückver- 
folgen lasse, wo es in der offiziellen Korrespondenz der französischen Ge- 
sandien in Rußland mit ihrer Regierung zum Ausdruck gelange, wobei den 
Diplomaten interessierte und kompetente Vertreter des französischen Bür- 
gertums, die mit dem Petersburger Platz in Geschäftsbeziehungen standen, 
sekundierten. F. Epstein. 


B. B. Kafengauz (Kafenhaus): Kupeceskie memuary (Memoiren 
von Kaufleuten): Trudy obScestva izulenija moskovskoj gubernii, 
vyp. I (1928), S. 105—128. 


Kafenhaus gelingt mit Hilfe der lim Gegensatz zur Hinterlassenschaft 
an Memoiren des russischen Adels) bisher vernachlässigten, bis auf den 
Anfang des 19. Jahrhunderts zuruckgehenden, Aufzeichnungen von Ange- 
hörigen des Kaufmannsstandes eine fesselnde Schilderung des Milieus der 
Moskauer Kaufmannschaft und der Moskauer Fabrikantenkreise in der Mitie 
des 19. Jahrhunderts. Besonders die Aufzeichnungen von N. Najdenov, der 


124 


1905 als Vorsitzender des Moskauer Borsenkomitees starb, erhellen die Be- 
deutung der Reformen der sechziger Jahre für den Kaufmannsstand, der in 
seiner sozialen Stellung gehoben wurde und in der Diskussion über einen 
Handelsvertrag mit dem deutschen Zollverein der Regierung eindringlich 
seine Wünsche vortrug. Der Aufsatz vermittelt Einblicke in die Psychologie 
des russischen Unternehmertums; er erzählt vom Aufstieg einer Anzahl her- 
vorragender Vertreter eines wesentlichen Teils des russischen Bürgertums 
und zeigt, wie man in den Kreisen der Moskauer Großkaufleute im Wandel 
der Zeiten verschieden über den eigenen Stand, den Staat und die Wirt- 
schaft dachte. F. Epstein. 


A. Koyré: La jeunesse d’lvan Kiréevskij. Le Monde slave. 5. Jg. 
(1928), Nr. 2, S. 212—238. 


Der Aufsatz, der sich mit einer größeren Arbeit des Autors: „Les ori- 
gines ef la formation de la doctrine slavophile“ vielfach berührt, gibt eine 
Vorstellung von der geistig angeregten Atmosphäre, in der Kiréevskij (geb. 
1806) aufwuchs. An Hand der Briefe, die er 1830 von Berlin und München 
an seine Angehörigen schrieb, überzeugend auszuführen, wie Kiréevskij sich 
während seines Studiums mit Hegel, Schleiermacher und Schelling aus- 
einandersebte, ist Koyré nicht gelungen. F. Epstein. 


M. A. Bakunin (Neue Materialien). Krasnyj Archiv, Bd. 17, S. 138 
bis 155. 


Mit orientierenden Begleitworten bringt Vjaé. Polonskij den Text des 
zweiten Aufrufs Bakunins an die Slaven von 1848 und.ein Elaborat der 
I. Abteilung aus dem Jahre 1865 unter dem Titel „Michail Bakunin, wie er 
sich selbst schildert“. . 

Das erste Stück entdeckte Polonskij 1925 im Dresdener Staatsarchiv 
unter den Akten Bakunins. Es fehlt in der Ausgabe der Werke Bakunins 
und ist auch dem Bakuninbiographen Nettlau entgangen. Das zweite Stuck 
von unbekannter Hand hatte den Zweck, den in Schweden 1863 mehr als 
unbequemen Bakunin zu diskreditieren. Es wurde mit Allerhöchster Ge- 
nehmigung eiligst auf Grund der „Beichte“ Bakunins, seines Briefes an 
Alexander ll., seiner Briefe aus Sibirien an Fürst Dolgorukov usw., die alle 
im 1. Bande der „Materialy dlja biografii Bakunina“ (Gos. Izd. 1925) ver- 
Offentlcht worden sind, zusammengestellt. Aus unbekannten Gründen kam 
es 1865 nicht zur Publikation der Schmähschrift, 1870 ist vorübergehend 
wieder an die Publikation gedacht und in dieser Absicht die Schrift up to 
date gebracht worden. Der hier publizierte Text folgt der Variante von 1870. 

Harald Cosack. 


Aus dem unveroffentlichten Roman von N. G. CernySevskij: „Die 
Gleichnisse von A. A. Syrnev.“ — Novyj Mir, Nr.7, 1928, S. 182 
bis 194. 


Der bekannte Historiker P. Scegolev veröffentlicht hier unter dem 
Titel ,,Pritéi A. A. Syrneva“ Fragmente eines Romans aus dem Nachlaß von 
CernySevskij. Dieser Roman, „Erzählungen in einer Erzählung“ („Rass- 
kazy w zasskaze“) betitelt, sollte nach dem Muster von „Tausend und eine 
Nacht“ aufgebaut werden. Die literarische Produktivität CernySevskij’s ist 
erstaunlich: während der 22 Monate seiner Haft in der Peter-Paulsfestung 
(1862—64) schrieb er uber elf Druckbogen im Monat voll; dabei erstreckte 
sich seine Tätigkeit auf sämtliche literarische Gebiete: er ubersefte, ver- 
faßte wissenschaftliche Arbeiten, schrieb Erzählungen und Romane. Der 
Einfluß seines Hauptwerkes ,,Cto delat’ („Was tun?) auf die Jugend der 
60er Jahre ist bekannt. Es war sein erstes belletristisches Werk und zu- 
gleich das einzige, das noch zu seinen Lebzeiten Verbreitung fand. Seine 


125 


übrigen Werke aus der Haftzeit wurden in der berüchtigten Ill. Abteilung 
versiegelt aufbewahrt; erst die Revolution ermöglichte den Forschern das 
Studium dieser Werke. 

_ Die hier zum Druck gebrachfen Fragmente stellen ein „Gleichnis“ oder 
eine kleine Geschichte dar, die in 4 ineinander übergehende, aber kaum mit- 
einander organisch verbundene Teile zerfällt. Der Held der Gleichnisse ist 
ein junger Schriftsteller Syrnev, ein „neuer Mensch mit einem neuen Moral- 
kodex“, dessen Charakter einige autobiographische eige aufweist. 

ugenie Salkind. 


Das Attentat Karakozovs vom 4. April 1866. Krasnyj Archiv, Bd. 17, 
S. 91—137. 


Das, was hier Aleksej Silov und M.Klevenskij veröffentlichen, ist nicht 
durch das 1928 im Verlage des Centrarchiv im 1. Bande erschienene Werk 
„Pokušenie Karakozova. Stenograficeskij otlet po delu D. Karakozova, 
l. Chudjakova, N. I3utina i dr.“, das von M. Klevenskij und K. Kotel’nikov 
herausgegeben wird, überholt. Jenes Werk gibt nur die Gerichtsverhand- 
3 während dieses Material, das z. T. in der Gerichtsverhandlung nur 
leichthin, z.T. gar nicht erwähnt wurde, den Akten der Muravevschen Unter- 
suchungskommission stammt und das schon damals in Vorbereitung befind- 
liche obige Werk ergänzt. Der eine Teil der Veröffentlichung bezieht sich 
auf das Zustandekommen des Aftentats und die Haltung der einzelnen 
Verhafteten während der Untersuchung, der andere Teil gibt Einblick in 
die Ideologie der einander bekämpfenden Richtungen mit dem Ziele der 
politischen und der wirtschaftlichen Revolution. In Petersburg mit Chud- 
jakov als Repräsentanten ist der Herd der politischen, in Moskau mit 
I3utin als Zentralfigur ist der Sitz der wirtschaftlichen Revolution, kurz, es 
sind die Anfänge der Ideologien zu erkennen, die in den siebziger Jahren 
die Zemlevol’cy und Narodovol’cy vertreten. Harald Cosack. 


P.S.Seremetev: Kreposinaja sukonnaja fabrika v sele Ostaf eve 
1768—1861: Trudy obščestva izulenija moskovskoj gubernii, vyp. I 
(1928), S. 97 — 104. 


Die Tuchfabrik in Ostaf’evo wurde in den fünfziger Jahren des 18. Jahr- 
hunderts von dem 1775 verstorbenen, aus bauerlichem Stand aufgestiegenen, 
unternehmenden Kollegienassessor Koz’ma Matveevit Matveev ge- 
gründet; Matveev besaß bereits im Gouvernement Kursk eine große Tuch- 
fabrik, mit der er eine Zucht holländischer Schafe verband. 1792 gelangte 
Ostaf’evo in den Besitz des Fürsten A. l. Vjazemskij und verblieb über 
hundert Jahre im Besi der Familie. Zahlreiche Geschäftspapiere, sogar 
mündliche Mitteilungen noch lebender Arbeiter aus den letzten Zeiten des 
erst nach Aufhebung der Leibeigenschaft eingestellten Fabrikbetriebes ge- 
statten, die Entwicklung des Unternehmens, dessen technische Ausstattung 
von den Besitzern stets auf bemerkenswerter Höhe gehalten wurde, seit den 
zwanziger Jahren ziemlich genau zu verfolgen. F. Epstein. 


Der Bezobrazovsche Kreis im Sommer 1904. Krasnyj Archiv, Bd. 17, 
S. 70-80. 


B. Romanov publiziert unter dem russischen Titel ,Bezobra- 
zovskij Kruzok letom 1904 g.“ 17 Auszüge aus perlustrierten 
Briefen Abaza’s und Bezobrazov’s und 1 Auszug aus einem ebenfalls per- 
lustrierten Briefe Wittes, die alle vom Polizeidepartement für den Minister 
des Innern angefertigt wurden. 

Die Dokumente sind wichtig, weil über die Tätigkeit der Bezobrazov- 
leute nach Beginn des Russisch-japanischen Krieges bislang nichts bekannt 
war. Der Feind, den es zu vernichten galt, ist trob seiner Kaltstellung 


126 


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Witte. B. Romanov meint in seinem Begleitwort, d das Endziel die 
physische Vernichtung az gewesen sei, während Witte nach Lopuchin 
(Otryvki iz vospominanij. Gos. izd. 1923) an die Vernichtung Nikolaus Il. 
und seinen Ersa durch Michail gedacht haben soll. Ermordet jedoch wurde 
Plehwe, der einzige Minister im Bezobrazovkreise, und ihr Ende fand die 
Bezobrazovaffare mii der Amtsentfernung Alekseev’s als Oberkommandie- 
renden am 12. Oktober 1904. Harald Cosack. 


Zur Geschichte der Agrarreform Stolypins. Krasnyj Archiv, Bd. 17, 
S. 81—90. 


Nachdem das Osoboe soveščonie o nuždach N E EE eines 
5 I unter Wittes Vorsitz eingesetzt worden N 7 und sich für 
Einführung des Individualbesibes verg eblich ausgesprochen hatie, be- 
deie es der Erschütterungen der ersten Revolution, um die “Stolypin’ sche 
Agrarreform herbeizuführen. Um den Ubergang des Grofgrundbesi§es zum 
Grundgedanken der Witteschen Pläne zu illustrieren, gibt hier A. Gajs ter 
unter dem Titel „K istorii agrarnoj reformy Stolypina” Aus- 
zuge aus drei Jahresberichien russischer Gouverneure vom Jahre 1904 an 
den Caren, deren einer von Stolypin selbst als Gouverneur von Saratov, 
die beiden anderen von den Gouverneuren von Kazań und Chersoń her- 
rühren. Harald Cosack. 


Aus dem Merkbuch des Archivars. Krasnyj Archiv, Bd. 17, S. 174 
bis 232. 


An der Spike der Miszellen „iz zapisnoj knizki archivista“ des 
Bandes 17 steht eine Arbeit von B. Syroeckovskij, die „Nikolaus l. 
und seinen Stabschef (Diebitsch) inden Tagen der Hin- 
richtung der Dekabristien“ zum Gegenstande hat. Das Material, 
das die allerpersönlichste Teilnahme des Caren an dem Spruche des Ge- 
richts und der Ausfuhrungsbestimmungen der Hinrichtung nachweist, stammt 
aus dem „Osobyj Otdel“ des Zentralarchivs der Oktoberrevolution, Fonds 21, 
früher Abt. I B des Staatsarchivs, Nr. 648 unter dem Titel „Bumagi 
načaľnika štaba e. v. barona Dibiča“. Als Detail sei bemerkt, dak der 
eigenhändige Brief mit den genauen Angaben Nikolaus I. über alle zu 
beobachtenden Einzelheiten der Hinrichtung an den Fürsten P. V. Gole- 
niscev-Kufuzov sowie seine Kopie, die Leo Tolstoj in Besitz gehabt hat, 
nirgends mehr zu finden sind. (S. 174—181.) — „Zur Geschichte der 
zu Demonstrationszwecken abgehaltenen Totenmesse 
fur die im Dorfe Bezdna im Gouv. Kazań getöteten 
Bauernim)Jahre 1861“ steuert F.Kudrjavcev Materialien bei, die 
sich unter den Papieren des Bischofs Meletij (M. K. Jakimov) bei der Ober- 
nahme des Archivs des Selenginsker Dreieinigkeitsklosters, unweit Verch- 
neudinsk, durch die Archivverwaltung der Burjatenrepublik fanden. Der 
Bischof Meletij hatte, damals noch Priester, die Totenmesse gelesen, wofür 
er nach Sibirien verschickt wurde, während der Geistliche Jachontov für 
das gleiche Vergehen nach dem Solovecker Kloster verbannt wurde. Das 
Material dient zur Aufhellung der Frage der Beteiligung der Studenten der 
Kazaner Geistlichen Akademie, die die offizielle Untersuchung möglichst 
vertuschen wollte, und zur Vervollständigung der Biographie Séapovs, der 
die zentrale Figur jener Demonstration gegen das Regime unter Alexander Il. 
gewesen ist. (S. 181—185) — N. Sergievskıj veröffentlicht einen 
Brief des Franc Jacevié", der um die Wende von 1885 zu 1886 
geschrieben sein muß. Er enthält die Bereiterklärung P. L. Lavrovs zur 
Mitarbeit an der „Narodnaja Volja“ und die erschütiernde Mitteilung, daß 
Lavrov auf seine alten Tage „fast hungert“. Die Mitarbeit Tichomirovs 
stellt Jacevit ebenfalls in Aussicht (S. 185—186.) — E. Tarle publiziert 


127 


und kommentiert zwei „Berichte S. S. TatiSéevs aus Berlin on 
V. K. Plehwe im Jahre 1904“. Tati8¢ev, der bekannte Historiker und 
Agent des Ministeriums des Innern, war nach Berlin entsandt, um die Ruß- 
land feindliche Stimmung zu bekämpfen. Im Bericht Nr. 1 gibt er eine 
Übersicht über die Lage in Deutschland und nennt unter den Leuten, mit 
denen er verhandelt, den Vizepräsidenten des Herrenhauses Manteuffel, 
den Chef des Bankhauses Mendelssohn -Bartholdy, den Finanzmann Robert 
Borchardt; als Organ benutzt er die „Preußische Korrespondenz“, um seine 
eigene Einstellung zu Deutschland als freundlich zu bezeichnen und sich 
über verschiedene Fragen, darunter den bevorstehenden Handelsvertrag, zu 
außern. Der Bericht Nr. 2 beschäftigt sich mit der fragwürdigen Person des 
aus Stettin gebürtigen René, der es verstanden hatte, uruguayischer Konsul 
für Budapest mit Berlin als inoffiziellem Aufenthaltsort und 1904 Handels- 
agent der Berliner Vertretung Uruguays zu werden. Dieser Mann hatte 
durch seine Dienste im Spiel an der Börse und in anderen geschäftlichen 
Affären Beziehungen zu damals einflußreichen Leuten; Tatiščev nennt 
namentlich den Herzog Gunther, Bruder der letzten Kaiserin, Prinz Hohen- 
lohe, General Werder, Manteuffel-Krossen. Trotzdem René Rußland zur 
Zeit 28000 Mark pro anno kostet und selbständig nicht zu verwenden ist 
(die ihm aufgetragenen prorussischen Broschüren ist er nicht imstande zu 
schreiben, sondern läßt sie durch seinen Intimus Falkenhein schreiben), so 
sei er, schreibt TatiScev, vorläufig in Ermangelung eines besseren Mannes 
unentbehrlich. Schelking, an den TatiSlev gedacht halte, sei absolut un- 
brauchbar, wovon ihn die Mitteilungen des Botschafters Osten-Sacken über- 
zeugt hätten. (S. 186—192.) — Der anonyme Beitrag „Briefe Medni- 
kovs an Spiridovic“ beleuchtet die Geheimpolizei zwischen den 
jahren 1900 und 1904, in denen sich in Rußland die erste Revolution deutlich 
ankündigte. Mednikov, Evstratii Pavlovic, und Spiridovic, Aleksandr 
Ivanovic, hatten beide höhere Posten inne; Spiridovid ist derselbe, der 
später zum Dienst beim Palaiskommandanten kommandiert wurde un 

während des Weltkrieges die Geheimpolizei im Hauptquartier leitete. Ein 
Personalregister als Anhang enthält wertvolle orientierende Daten (S. 192 
bis 219.) — A. Drezen publiziert 4 Briefe Nikolaus Il. aus der „Korre- 
spondenz Nikolaj Romanovs mit V. A. Romanov“, die sich 
mit 16 anderen Briefen des Caren, die ausschließlich familiären Charakters 
sind, im Archivalienfonds des ehemaligen Großfürsten Vladimir Aleksan- 
droviè befinden. Diese 4 Briefe fallen in die Zeit von 1896—1905. Unter 
ihnen behandelt nur Brief Nr. 2 vom 19. Dezember 1900 die auswärtigen 
Beziehungen, und zwar die zu Deutschland. Nikolaus beauftragt Vladimir 
mit der Vertretung zum 200jährigen jubiläum des Schwarzen Adlerordens, 
das er am liebsten ignorieren wollte. Zugleich beauftragt er Vladimir, auf 
den „hitzigen Wilhelm“ beruhigend einzuwirken und keinen Zweifel daran 
zu lassen, daß Rußland sich aus China definitiv zurückgezogen habe. In 
diesem Brief kassiert übrigens Nikolaus das Kapitel über die Ermordung 
Pauls I. in der „istorija Kavalergardov“, die Panäulidzev geschrieben hat, 
weil es einen Schatten auf das Regiment wirft (S. 219—222) — „Er- 
schießenoderhängen“ ist der Beitrag V.N. Nečaev’s betitelt und 
zeigt die Sorge um die Stimmung im Heere angesichts der vielen Hin- 
richtungen 1905 und 1906 durch Erschießen, deren man Herr werden will 
durch die Hinrichtung durch den Strang, den die Zivilverwaltung zu voll- 
ziehen hatte (S. 222—225). — Den lebten Beitrag „Die Expedition des 
Generals Ivanov gegen Petrograd liefert I. R. Gelis. Diese 
Expedition war der lebte Versuch des Caris mus, die Situation zu seinen 
Gunsten zu wenden und endete bekanntlich mit der Verhaftung Ivanovs in 
Kiev am 13. März 1917. Am 9. April 1917 richtete Ivanov ein langes 
Schreiben an den Kriegsminister Guckov, in dem er die gesamten Vorgänge 
von seiner Ernennung zum Kommandierenden des Petersburger Militär- 
bezirks bis zur Verhaftung darstellt und sich rechtfertigen will, wobei er 
von der Person Nikolaus Il. deutlich abrückt. Dieser Brief ist hier repro- 
duziert (S. 225—232). Harald Cosack. 


128 


M.Ch.Sventickaja: Aviobiografiteskie besedy O. N. Potanina: 
„Severnaja Azija“, H. 17—18 = 1927, H. 5—6, S. 123—132. 


Potanins Erinnerungen an seine Kadettenzcit in Omsk und Dienst- 
leistung in Sibirien als Offizier illustrieren die gesellschaftlichen Zustände 
in Sibirien um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Das Militär übte eine schran- 

enlose Willkürherrschaft; Potanin erinnert an die „„ ges Ge- 

neralgouverneurs Hasford, dessen Mißwirtschaft die Zeitung „iskra“ in den 
sechziger Jahren an den Pranger stellte, indem sie aus Zensurrücksichten 
nach seinem Wappenbild einem 11 „Ochsenkopf“ ankreidete, was 
Hasford sich zuschulden kommen 

Den Umschwung in seinen bolinschen Anschauungen von einem 
„kosakischen Patriotismus“ — einem Patriotismus, der ihn in Nikolaus l. 
einen zweiten Peter d. Or., den Verteidiger des Fortschritts und der euro- 
päischen Ideen von politischer Freiheit hatte sehen lassen (S. 128) —, zu 
liberaler Gesinnung führt Potanin auf sein Bekanntwerden mit dem Anhänger 
Petra3evskijs Durov zurück. F. Epstein. 


M. Sventickaja: Vospominanie o G. N. Potanine: „Severnaja 
Azija“, H. 17—18 = 1927, H. 5—6, S. 144 — 122. 


Grigorij Nikolaevič Potanin (1835—1920), einer der frühen Verfechter 
der Sonderart Sibiriens (,Sibirskoe oblasinilestvo”), aus der im sibirischen 
Bürgerkrieg die Gegner des Bolschevismus, „das sibirische Kleinbürgertum 
und das sibirische Kapital“, ein politisches Programm machten, hat sich auch 
als Geograph und Eihnograph einen Namen gemacht. F. Epstein. 


Dmitriev: Oktjabr’skaja revoljuciia v Sibiri: „Severnaja Azija“, 
H. 17—18 = 1927, H. 5—6, S. 5—21. 


Sibirien hat seit der Februarrevolution 1917 etwa folgende Stadien, die 
von Dmitriev näher charakterisiert werden, durchlaufen: Die Zeit des 
Kampfes zwischen den sibirischen Räten und den (bürgerlichen) provinzi 
Tendenzen (sibirskoe oblastnitestvo); Sibirien als Basis für die russische 
Gegenrevolution; die Intervention der Alliierten; die Wiederherstellung der 
Macht der Räte in Sibirien; die Intervention der Entente im Fernen Osten; 
ee Zeit der Konsolidierung der Sovetherrschaft. in Sibirien und dem Fernen 

pstein. 


Jules Legras: L’agonie de la Sibérie 1918—1920. Le Monde 
slave. 5. Ig. (1928), H. 2, S. 161—195. 


Sibirisches Tagebuch vom 18. November 1918 bis zum 30. Januar 1919 
aus dem Lager der Weißen. Die Aufzeichnungen sind aufschlußreich für 
den Staatssireich des Admirals Koléak in Omsk am 18. November 1918, 
den Konflikt zwischen Koléak und dem Obersten Semenov und die Zustände 
in Irkutsk im Dezember 1918 und Januar 1919. F. Epstein. 


EA.Adamov: Le probléme bessarabien et les relations russo- 
roumaines. Le Monde slave. 5. Ig. (1928), Nr. 1, S. 65—106. 


Adamov, dessen Arbeit zuerst russisch in Heft 6 und 7 des jg. 1927 der 
vom Volkskommissariat für die Auswärtigen Angelegenheiten herausgegebe- 
nen Zeitschrift „MeZdunarodnaja Zizn“ erschien, gibt eine diplomatische Ge- 
schichte der befarabischen Frage, die namentlich für das 19. Jahrhundert 
durch Verwertung der russischen Quellen in vielen Einzelheiten über alle 
früheren Darstellungen hinausfiihrt. F. Epstein. 


ONF 5 129 


V. L. Popov: Na rubeZe pervogo desjaiiletija: „Severnaja Azija“, 
H. 17-18 = 1927, H. 5—6, S. 22—36. 

Hei 91% Landbevölkerung ist Popovs Rückblick auf die Wirtschaft 
Sibiriens im Jahrzehnt 1917—1927, — auf die Periode der Zerrüttung der 
sibirischen Wirtschaft 1917—1922 (unter Berücksichtigung der Einwirkungen 
des Krieges bis 1916) und die Periode des Wiederaufbaus 1922 bis 1926 —, 
eine auf der Statistik aufgebaute Geschichte der sibirischen Landwirtschaft 
(Ackerbau, Viehzuchi, Fischfang) im angegebenen Zeitraum. F.Epstein. 


„Sibirskij archiv“: Severnaja Azija, H. 17—18 = 1927, H. 5—6, S. 133 
bis 155. 


Unter der Uberschrift „Sibirisches Archiv“ beginnt die Zeitschrift „Nord- 
asien“ mit dem Abdruck von Dokumenten zur Geschichte der Oktober- 
revolution in Sibirien. Als erste Materialien gelangen (S. 150-155) die Be- 
schlüsse des „Außerordentlichen gemeinsamen Kongresses“ aller politischen 
Parteien Sibiriens (Crezvylajnyj ob3Cestvennyj s’ezd) in Tomsk (6.—15. De- 
zember 1917) und die vom Zweiten Rätekongreß der Arbeiter-, Soldaten-, 
Bauern- und Kosakendeputierten ganz Sibiriens in Irkutsk im Februar 1918 
angenommenen Resolutionen und Thesen zum Abdruck (S. er . 

Epstein. 


L Zalkind (Salkind): Nlar) Klom) Knosir.) Diel v semnadcalom 
godu [Das Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten 
im Jahre 1917): MeZdunarodnaja Zizn 1927, H. 10, S. 12—20. 


_ _ Salkind plaudert über Episoden aus der Besitzergreifung des russischen 
Ministeriums des Außern und seiner Archive durch die Bolschevisten, den 
Verkehr mit ausländischen Diplomaten (u. a. mit der von Graf Mirbach ge- 
führten deutsch-österreichischen Mission für die Angelegenheiten der 
Kriegsgefangenen) und mit Journalisten. Sodann teil er ein Schuld- 
anerkenninis des Königs Ferdinand von Bulgarien (dat. Sofija 2. Sept. 1912) 
mit, worin die Rückzahlungsannuiiäten für drei von der russischen Regie- 
rung gelichene Millionen Goldfrancs fesigesetzt werden. Die Abmachung 
trägt merkwürdigerweise den Charakter eines Personalkredits, indem nicht 
bulgarisches Staatscigentum, sondern private Liegenschaften des Königs fur 
den russischen Anspruch haften sollen. — Ob der russische Wortlaut 
authentisch ist oder das Original vielleicht französisch abgefaßt war, wird 
nicht gesagt. F. Epstein. 


M. Vichniak: Deux historiens russes de la révolution russe. 
Le Monde slave. 5. Jg.-(1928), Nr. 1, S. 27—64. 


_ Vichniak bespricht die Darstellungen der Februar-Revolution, die P. N. 
Miljukov (Istorija vioroj russkoj revoljucii) und Nik. Suchanov (Zapiski o 
revoljucii) gegeben haben. Er zeigt an vielen Beispielen, wie Miljukov bei 
den Februar-Ereignissen eine zu bedeutende Rolle spielte, als daß er ein 
unparteiischer Historiker sein könnte (S. 54). Miljukovs Studie sei die Ge- 
schichte und Philosophie des Anteils, den die Partei der Kadetten an der 
russischen Revolution genommen habe (S. 46). Suchanovs Werk sei zu 
literarisch, um Geschichte, zu wortreich und eintönig, um Journalistik oder 
Literatur zu sein; indessen herrsche der Journalismus vor. Geschichte und 
Literatur dienten ebensosehr als Grundlage wie als VERTIEFUNG = ree 

. Epstein. 


V. l. Veretennikov: Eijudi po voprosam istoriceskago konstrui- 


rovanija. 1. Neskol’ko slov o klassifikacii mefodov istoriteskogo 
postroenija: Naukovi Zapiski, praci naukovo-doslidéoi katedri 


150 


istorii Evropejs’koi kulturi. l. Metodologija nauk (= Scientific Ma- 
gazine. Works of the explorating chair of the history of European 
culture. I. The Methodology of sciences (Charkiv 1927), S. 147 
bis 164. 


Veretennikov erlautert den Denkproze§ und die psychologischen Postu- 
late, durch die historische Urteile gewonnen werden, an Sergéevics Urteil 
über die altrussische Volksversammlung (Véée) und Kljucevskijs Beurteilung 
der Umbildung des Udélfiirstenstandes zum Bojarentum im 13. und 14. Jahr- 
hundert, an den politischen Aspirationen des Moskauer Bojarentums im 16. und 
17. Jahrhundert und der Bedeutung der Heeresdislokation unter Peter d. Or. 
für die Verwaltung. F. Epstein. 


30 jahre des Kiinstiertheaters. — „Novyj Mir“, Nr. 10, 1928, S. 192 ff. 


Gelegentlich des 30jahrigen Jubiläums des Moskauer Künstlertheaters 
gibt N.Volkov in seinem Artikel (,30 let chudoZestyennogo teatra“) einen 
kurzen Überblick über die Geschichte der Entstehung des Theaters und 
seiner Entwicklung. Die 90er Jahre des vergangenen Jahrh. kiindeten das 
Ende einer Periode und die Anfänge einer neuen Zeit auf allen Gebieten 
der Kunst und des gesellschaftlichen Lebens an. In der Literatur erwachen 
die symbolistischen Strömungen, die bildende Kunst bringt den „Mir 
iskusstva“ („Welt der Kunst” — eine Vereinigung der modernen Künstler), 
in der Musik ertönen die ersten Werke von Skrjabin, und auch in der Ge- 
schichte des russischen Theaters bedeuten diese Jahre einen Wendepunkt. 

Moskauer Theater befand sich um diese Zeit in einer kümmerlichen 
Lage; die 5 dramatischen Bühnen brachten nur nen ange Stücke heute 
vergessener Autoren. Die besten Vertreter der Schauspielerwelt waren sich 
der Unzulänglichkeit des Repertoires, der Unfähigkeit der Regie und des 
allgemeinen Verfalls der Theaterkunst durchaus bewußt: auf dem ersten 
allrussischen Kongreß der Bühnenkünstler (eröffnet am 9. März 1897) ertönte 
die Stimme des großen Schauspielers Lenskij, der auf die besorgnis- 
heh saad Lage des russischen Theaters hinwies. Und doch erwachte zu 
gleicher Zeit ein neuer Geist im westeuropaischen Theater: im kleinen Her- 
zogtum Sachsen-Meiningen, im Pariser Theater Antoine wurden erfolg- 
reiche Versuche unternommen, die Theaterkunst durch den damals noch 
revolutionierend wirkenden Naturalismus zu beleben. Auch ein neues russ. 
Theater sollte geboren werden. Es ging jedoch nicht aus den kais. Bühnen 
hervor, sondern aus der Vereinigung von 2 Gruppen der Theaterjugend, die 
unter der Leitung von V. J. Nemirovi¢-Danéenko und K. S. Stanislavskij 
arbeiteten. Sie haben das Moskauer Künstlertheater (ursprünglich: das 
künstlerische allgemein zugängliche Theater) gegründet. Das dreißigjährige 
Leben dieses Künsflertheaters (1898—1928) fiel in eine schwere, von gesell- 
schaftlichen Krisen, Kriegen und Revolutionen erschütterte Zeit, doch das 
Theater hat es immer verstanden, mit dem bewegten russ. Leben in Fühlung 
zu bleiben: zum 10jährigen Jubiläum der Sovetregierung nahm cs den 
„Panzerzug‘“, ein Revolutionsdrama von V.Ivanov, in sein Repertoire auf. 
Die Revolution von 1905 wurde durch die Aufführung von Gorkijs „Kinder 
der Sonne“ gekennzeichnet. Groß ist das Verdienst des Theaters auf dem 
Gebiet der Repertoirebildung: es ist allgemein bekannt, daß das Künstler- 
theater den Dramatiker Cechov gerettet, Gorkij und Leonid Andreev stets 
das größte Verständnis entgegengebracht hat; auch die westeuropäische 
Literatur fand hier immer Beachtung: Hauptmann, Ibsen, Hamsun und 
Maeterlinck wurden neben Čechov, Gorkij, Andreev und den russischen 
Klassikern aufgeführt. Ein Streben nach der Gestaltung des „wirklichen 
Lebens“, eine angestrengie Arbeit, vom ernsten künstlerischen Geist durch- 
drungen, hat dem Theater und seinen Mitgliedern ein besonderes Gepräge 
verliehen. Für manche künstlerische Experimente wurden Theaterstudien 
ins Leben gerufen, wo der künstlerische Nachwuchs unter der Leitung junger 
Regisseure sich um .die Lösung neuer Probleme bemühte. Die Geschichte 


151 


des zeitgenössischen russ. Theaters beginnt mit der Geschichte des Mos- 
kauer Kunstlertheaters: durch seine „Kinder“ und „Enkel“ wird es fort- 
gesetzt — darum bedeutet auch sein 30jähriges Jubiläum keinen Schluß, 
sondern eine neue Entwicklungsetappe. Eugenie Salkind. 


Die Literatur als Werkzeug der Organisierung und des Aufbaues. — 
„Novyj Mir“, Nr. 7, 1928, S. 195 ff. 


Valerjan Poljanskij bespricht in diesem Aufsaß („Literatura — 
orudie organizacii i stroitel’ stva“) die Aufgaben der zeitgenössischen Sovet- 
literatur. Manche Kritiker vertreten noch immer die Ansicht, daß die Auf- 
gabe der Literatur sich nur auf das Widerspiegeln des Lebens beschränke. 
Dies ist nicht nur grundsäßlich falsch, sondern auch schädlich. Was sich zu 
Belinskijs Zeiten als notwendig und zweckmäßig erwiesen hat, kann zu 
unserer Zeit keinen Anspruch auf Geltung erheben. Im Sovetstaate hat die 
Literatur in erster Linie „mit maximaler Aktualität die Organisierung des 
Lebens zu fördern“. Laut den Prinzipien der marxistischen Soziologie ge- 
hört die Literatur samt allen anderen schönen Künsten zum ideologischen 
Gebiet. Ihr liegt also auch die organisierende Funktion ob. Die Frage der 
„sozialen Bestellung“ wurde in der Publizistik oft genug erörtert; nach der 
Meinung des Verf. ist die Literatur außerhalb der sozialen Bestellung über- 
haupt nicht denkbar. Ihr Auftraggeber ist die herrschende Klasse; der 
Dichter, der aus dieser Klasse hervorgegangen ist, muß sein Schaffen der 
Kontrolle seines Klassenbewußtseins unterstellen. Das Thema des eigent- 
lichen Schaffens bildet der konkrete sozialistische Aufbau des Staates, nicht 
das „Theoretisieren über Kommunismus und Revolution“. Nach dieser 
charakteristischen Einleitung geht Verf. zur Übersicht der positiven Ergeb- 
nisse der heutigen Literatur über und stellt fest, daß die Schriftsteller ihren 
Stoff zumeist in den Themen des ee und der Rekon- 
struierung der Volkswirtschaft finden. Jedoch die Epoche der Industriali- 
sierung und kulturellen Revolution wurde bisher kaum beachtet. Hier kommt 
Verf. mit 1 Ratschlägen, z. B.: ein Mangel an Butter macht sich 
in der lebten Zeit bemerkbar; auf den ersten Blick ist dies nur eine unbe- 
deutende Erscheinung, doch steht sie im engen Zusammenhang mit den 
sozial-ökonomischen Reformen der Oktoberrevolution, — welch reicher Stoff 
für den Dichter, den Belletristen wie den Psychologen! Während des Pro- 
zesses der künstlerischen Gestaltung darf der Schriftsteller nicht vergessen, 
daß sein Leserkreis sich aus den Arbeitermassen zusammenscht. Die Lite- 
ratur muß sireng realistisch, die formellen Elemente müssen mit dem Inhalt 
eng verbunden sein. Der Sovetliteratur stehen wichtige Aufgaben bevor: 
wie der Politiker, der Denker und der Gelehrte, trägt auch der Künstler die 
Verantwortung vor dem Proletariat. Eugenie Salkind. 


Das Sovet-Kino auf neuen Wegen. — „Novyj Mir“, Nr. 5, 1928, S. 243 ff. 


K. Malcev widmet seinen Artikel („Sovetskoe kino na novych putjach“) 
der aktuellen Lage des russ. Kinos und seinen Zukunftsaussichten. Das 
lebte Jahr weist, laut statistischen Angaben, über 300 Millionen Kinobesucher 
auf. enn man die spezifischen Eigenschaften des Films — seine künst- 
lerischen Mittel, die verhältnismäßige Billigkeit und Transportfahigkeit — in 
Betracht zieht, so wird es erst klar, mit welch mächtigem kulturellen Faktor 
man es hier zu tun hat. In den lebten 4 Jahren hat das Sovetkino einen 
großen Aufschwung genommen; i. J. 1926/27 machte die Sovetproduktion 
bereits 49% der Gesamtzahl der aufgeführten Filme aus. Auch in tech- 
nischer Hinsicht können große Erfolge verzeichnet werden. Allein der 
ideelle Gehalt der Kinoproduktion laßt noch viel zu wünschen übrig. Die 
Vertreter der mächtigsten Kinoorganisation „Sovkino“ behaupten zwar, der 
Film bilde eine zuverlässige Waffe in den Händen der Partei und des pro- 
letarischen Staates, anders urteilen aber die Kritiker: „Das Sovkino richtet 
sich nach dem Geschmack des Spießbürgers, weil seine finanziellen Inter- 
essen dies erfordern“: „Diese Zuschauer werden am stärksten durch aus- 


182 


landische Filme und prachisiroßende Bilder, die das Leben der Aristokratie 
und der re darstellen, gefesselt.” „Mehr Romane,” sagt der Vor- 
sitzende des Sovkino, „der Inhalt darf nicht überladen, die Frauen müssen 
unbedingt schön sein.“ Das Urteil der Kritik wird durch Stimmen aus den 
Arbeitermassen unterstützt. Eine Rundfrage in den Arbeiterkreisen ergab 
Resultate, die für das Sovkino ungünstig lauten. Die Spitzenleistungen der 
Sovetproduktion, wie der „Potemkin“, „Die Mutter” u. a. m. gelangen erst 
mit großer Verspätung in die Arbeiterklubs, gewohnlich werden diese mit 
Filmen minderwertiger Qualität versehen. „Immer nur über die Liebe, lauter 
Quatsch,“ beklagen sich die Arbeiter, „solche Bilder brauchen wir nicht.“ 
Noch schlimmer ist es um das Dorf bestellt. Auch hier läßt sich das Sov- 
kino von Gründen rein kommerziellen Charakters leiten. So werden ge- 
wöhnlich nur abgenubte Streifen ins Dorf geschickt, die dauernd zerreißen 
und die berechtigte Entrüstung der Zuschauer hervorrufen. Ferner pro- 
testiert die Kritik auch gegen die Uberflutung der Leinwand durch auslän- 
dische Filme, die „eine feindliche Klassenideologie propagieren“. Der 
Sovetfilm ist noch nicht imstande, auf die ausländische Produktion voll- 
ständig zu verzichten, doch könnte man sich auf die Einfuhr von Au ged 
wissenschaftlichen Filmen beschränken. Das Filmwesen sebi sich aus 
2 Elementen zusammen: 1. aus dem künstlerisch-ideologischen und 2. dem 
materiellen Element. Als eines der wirksamsten Mittel der kommunistischen 
Aufklärung trägt das Kino die revolutionären Ideen ins Volk; als ein In- 
dustriezweig von großer Entwicklungsfähigkeit muß es eine neue Bezugs- 
quelle bilden. Eine Reorganisierung der Kinematographie auf kapitalisti- 
scher Grundlage tate not, doch würde dies einen enormen Kostenaufwand 
verlangen. Um jedoch die Herstellung von ideologisch bedeutenden und 
künstlerisch wertvollen Filmen zu sichern, müßte man die breiten Bevölke- 
rungsschichten in die Arbeit einbeziehen, ihnen die Prüfung der Manuskripte 
und der fertigen Filme überlassen; nur auf diese Weise ließe sich ein Kon- 
takt mit dem Proletariat herstellen. Eugenie Sakind. 


Georges Maklakof: Vers Paccord de Péglise orthodoxe avec 
les Soviets. Le Monde slave, 5. Ig. (1928), Nr. 1, S. 1—26. 


Der Friedensschluß der russischen Kirche mit der Sovetregicrung, den 
die Kundgebung des Stellvertreters des Patriarchen, des Metropoliten 
Sergej von NiZnij-Novgorod, vom 29. Juli 1927 den orthodoxen Gläubigen 
bekannigab, hat die orthodoxe Kirche in der russischen Emigration in eine 
außerordentlich schwierige Lage gebracht. Interessant ist Maklakovs Nach- 
weis, dak die Emigranten keinen Grund hätten, sich über einen Mangel an 
Toleranz von seiten der kirchlichen Zentralgewall zu ii T- = 126.) 

pstein. 


Die Thesen der Aufgaben der marxistischen Kritik. — „Novyj Mir“, 
Nr. 6, 1928, S. 188— 196. 


Der Vokskommissar für Aufklärung A. V. Lunacarskij veroffent- 
licht unter dem Titel „Tezisy o zadacach marksistskoj kritiki“ seine Beirach- 
tungen über das Wesen und die Aufgaben der marxistischen Kritik. Der 
Kampf zwischen der alten und neuen Welt dauert fort. Die Einflüsse West- 
europas, der bourgeoisen Vergangenheit, der alten und neuen Bourgeoisie 
machen sich noch immer in der Literatur geltend. Das spießbürgerliche 
Element beherrscht noch bis zu einem gewissen Grade das Leben der pro- 
letarischen Massen, selbst der Kommunisten. Bei diesen Bedingungen ge- 
winnt die prolet. Lit. an sozialer Bedeutung. Eine vielleicht noch wichtigere 
Rolle im neuen Staat spielt die marxistische Kritik, der es obliegt, den 
5 one richti ge Auffassung der literarischen Werke zu übermitteln. Die 

unterscheidet sich von allen anderen in erster Linie 
durch ren soziologischen Charakter; der Kritiker geht von dem Inhalte 
des betreffenden Werkes aus und versucht seinen Zusammenhang mit den 
sozialen Gruppen, für die es.bestimmt ist, festzustellen. Allein der Marxis- 


155 


mus hat nicht nur die Bedeutung einer soziologischen Doktrin: der Kritiker 
muß es auch verstehen, auf das Milieu in einem bestimmten Sinne zu wir- 
ken; er ist ein Kämpfer, er arbeitet an dem Aufbau des Staates mit. Von 
welchem Standpunkt aus wird er nun ein neues Werk betrachten? Seine 
Ethik wird sich mit der des Proletariats decken: „alles, was die Entwicklung 
und den Sieg der proletarischen Revolution fördert, ist gut; böse ist, was 
diese Entwicklung hemmt.“ So muß der Kritiker zunächst den Inhalt des 
Werkes untersuchen, um seine soziale Tendenz aaneen zu können. Was 
nun die Bewertung der Form anbetrifft, so muß sich der marxistische Kri- 
tiker vor allen Dingen über die Bedeutung des formellen Elements in der 
schönen Literatur klar werden. Folgendes ist dabei von Wichtigkeit: die 
publizistische Tendenz darf keine überwiegende Rolle spielen. Die Form 
muß eine gewisse Originalität aufweisen und das Werk allgemein zugäng- 
lich sein. Jedoch birgt auch die elementare Popularisierung der Werke, die 
dem noch niedrigen geistigen Niveau der Arbeiter- und Bauernmassen an- 
gepakt werden, eine große Gefahr: die Gefahr der Nivellierung der Litera- 
tur. Darum darf auch die Bedeutung solcher Werke, die nur den höher 
stehenden Schichten des Proletariats zugänglich sind, nicht ‚unterschäbt 
werden. Die Aufgaben des marxist. Kritikers tragen auch einen didak- 
tischen Charakter: er muß dem Schriftsteller wie dem Leser ein Lehrer sein. 
Den jungen Schriftsteller weist er auf seine Fehler formellen und inhalt- 
lichen Charakters hin, dem Leser wird er ein erfahrener Führer und Weg- 
weiser auf dem Gebiete der zeitgenössischen sowie der alten klassischen 
Literatur sein. Dies ist bes. wichtig in unserer Zeit, die durch die unge- 
heure Erweiterung der Leserkreise charakterisiert wird. Den marxist. Kri- 
tikern wird oft vorgeworfen, daß ihre Tätigkeit zuweilen einen rein politi- 
schen Charakter trage, da die Feststellung einer „bewußten konterrevolu- 
tionären Tendenz“ in den Werken eines Schriftstellers für diesen recht un- 
angenehme praktische Folgen haben könne. Diesen Vorwurf läßt L. nur 
für solche Kritiker gelten, die sich von persönlichen Rachegefühlen und Ge- 
wissenlosigkeit leiten lassen. Sonst darf das Resultat der sozialen Analyse 
nicht verschwiegen werden, denn dadurch wird ja das eigentliche Wesen 
der marxist. Kri ik verletzt. Zum Schluß wird noch die Frage der Zulässig- 
keit einer scharfen Polemik aufgeworfen. Lunacarskij erblickt in der Po- 
lemik ein wirksames Mittel, die Leser für das erörterte Problem zu inter- 
essieren; natürlich darf diese Polemik keinen gehässigen Charakter tragen. 
Ein echter Kritiker verhält sich überhaupt a priori wohlwollend zu allen 
neuen Werken: etwas Wertvolles zu finden, um es dem Leser zeigen zu 
können, muß ihn mit größter Genugtuung erfüllen. Eugenie Salkind. 


Jacques Ancel: Les bases géographigues de la question des 

détroits. Le Monde slave. 5. Jg. (1928), Nr. 2, S. 239—253. 

Ancel versucht eine geographische Erklärung des wirtschaftlichen und 
politischen Niedergangs von Konstantinopel. Er weist nach, wie die in 
Konstantinopel kreuzenden Straßen, der See- und Landweg, gegen früher 
an Bedeutung verloren haben und die Stadt dadurch wirtschaftlich herab- 
sank, während das Aufhoren der türkischen Herrschaft auf der Balkanhalb- 
insel und die Verlegung des Schwerpunkts der neuen Türkei nach Klein- 
asien Konstantinopels politischen Niedergang verursachte. F. Epstein. 


WEISSRUSSLAND 


Mikola IljaSevié: Pachodzen'ne staradaunga vesiki i antro- 
polegiönyja adznaki belarusau. — Studenskaja Dumka, Wilna, 
1928, Heft 1, S. 9-15. 


Vorliegende Abhandlung bildet den Auszug aus dem noch nicht er- 
schienenen Werk des Verf. ...Weifr.gland, als anthropologische Einheit”. 


154 


XK r K EEE. TG Een a A K. 


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„ FJ: 


de- r oe. a a CF e A ~ i ae a ~ mn 


Auf dem Territorium des gegenwärtigen Weißrußlands erschienen Menschen 
nach der Eiszeit zunächst aus dem Süden — aus dem Gebiet der gegen- 
wärtigen Ukraine. Die archäologischen Untersuchungen haben erwiesen, daß 
Weißrußland bereits in der paläolithischen Periode besiedelt war. Und 
zwar waren menschliche Siedlungen im nordöstlichen Teil Weißrußlands 
vorhanden (Gouvernements Smolensk und Witebsk). Allerdings wurden nur 
wenige Spuren von Siedlungen aus der paläolithischen Periode ermittelt. 
Weit zahlreicher sind die Spuren menschlicher Siedlungen, die der neo- 
lithischen Periode angehören. Diese finden sich besonders reichlich in 
Nordwestweißrußland — an den Ufern der Düna, am Narev und auch am 
Bug. Die Schädel, die man in den Gräbern gefunden hat, sind meist dolicho- 
kephal, was den Gelehrten (Karski) Anlaß gibt, diese Urbevölkerung Weiß- 
rußlands für den slavischen Urtyp zu halten. Die Langköpfigkeit hat sich 
auch fast ausschließlich bei den Weißrussen erhalten, daher kann man wohl 
annehmen, daß die Weißrussen die reinste Prägung slavischer Rasse bilden. 
Die Ausgrabungen ergeben einen relativ hohen Stand der Kultur der Ur- 
slaven, die das Gebiet in der neolithischen Zeit besiedelten (die Waffen und 
keramischen Erzeugnise, die bei Ausgrabungen im Grodnogouvernement 
gefunden haben, legen davon Zeugnis ab). Die weißrussischen Grabstatten 
weisen sowohl in bezug auf den Ritus der Beisetzung. wie auch in bezug 
auf die gefundenen Gegenstände wesentliche Unterschiede im Vergleich mit 
den Grabstätten anderer slavischer Völker auf. Als Nachbarn der Weiß- 
russen sieht die Palaonthographie die Litauer im Westen und die finnischen 
Stämme im Osten an. Linguistische und anthropologische Motive bestätigen 
diese Vermutung. 

Die anthropologischen Untersuchungen Weißrußlands erhalten ihre be- 
sondere Bedeutung im Zusammenhang mit Niederles Theorie über die Ur- 
heimat der Slaven, die bedeutende Teile des eihnographischen Weißruß- 
lands mitumfaßt (Grodno-, Minsk- und Mogilewgebiet). 

ag Kenntnis von den weißrussischen Stammen haben wir erst 
aus dem 9. Jahrhundert n. Chr. ©. 

Die physikalisch-geographischen Bedingungen Weißrußlands (Wälder 
und Sümpfe) verhinderten die Rassenmischung, die in dem Restieil der 
ostrussischen Ebene infolge der Heeresziige der Nomadenvölker stattfand. 

Während die Großrussen von tatarischen, türkischen und finnischen 
Stämmen bedrängt wurden, die Westslaven dem germanischen Druck aus- 
gesetzt waren, wurden die Weißrussen in ihren Sümpfen und Wäldern von 
ähnlichen Invasionen verschont. Limafiski führt auch den Namen „Weiß- 
rugland“ auf diesen Umstand zurück, d. h. das „weiße Rußland“, das von 
Fremdherrschaft freie Rußland. 

Die Anthropologie, die Archäologie und die Eihnographie sind sich dar- 
über einig, daß die Weißrussen einen besonders reinrassigen slavischen 
Stamm bilden. Verf. untersucht die anthropologischen Kennzeichen der 
Weißrussen: der Weißrusse ist im Durchschnitt 1667 mm hoch, etwas höher 
also als der Großrusse und Pole, und etwas kleiner als der Ukrainer. Unter 
den Weißrussen bilden die Dolichokephalen 13% (unter den Oroßrussen 9% 
und unter den Polen 11%), die Mesokephalen 23% (bei den Großrussen und 
Polen 18%). Der Augenfarbe und der Haarfarbe nach bilden die Weiß- 
russen gleichfalls den reinsten hellen slavischen Typ. 57% der Weißrussen 
gehören dem hellen Typ an und nur 11% dem dunklen. Verf. bringt noch 
weitere anthropologische Kennzeichen der Weißrussen, die nicht immer als 
unumstritten gelten können. Es sei nur noch die außerordentliche Frucht- 
barkeit der Weißrussen erwähnt, die vor dem Krieg dem Bevölkerungs- 
zuwachs nach mit 1,8% den 3. Piat in Europa innehatten. Verf. wirft noch 
verschiedene Probleme des Studiums des weißrussischen Volkes auf anthro- 
F Grundlage auf, eine Aufgabe, die der neuen aka- 
demisch geschulten weißrussischen Intellektuellengeneration erwachst. Diese 
vom Verf. befiirwortete exakte Methode bietet immerhin einen gewissen 
sa pen die Uberschwenglichkeit nationaler Begeisterung, die sich bei 

eißrussen, wie bei allen Völkern, die soeben ihre staatliche 


156 


Selbständigkeit erlangt haben oder noch danach streben, gehend macht 
und so die Objektivität der wissenschaftlichen R igt. 
dimir Samojlo. 


Dvaréanin: Uber das Geburtsjahr von Fr. Skaryna. — Rodnyja 
Goni 1927, kn. 1. 


Verl. beschäftigt sich mit der Feststellung des Geburtsjahres des ersten 
weißrussischen Humanisten Fr. Skaryna. Im Zusammenhang mit der Feier 
des 400jährigen Besichens weißrussischer Druckwerke ist das Interesse zu 
Skaryna sehr gestiegen. Dv. ist der Ansicht, daß trob der umfangreichen 
Monographie uber Skaryna, die Prof. Viadimirov 1888 veröffentlicht hat, uber 
Skaryna relativ wenig bekannt ist. An neuerer Literatur über Skaryna 
wären zu nennen die Abhandlungen von Prof. Stakacichin (in „Polymja” 
1925, kn. 5) und Charevié (in „Polymja” 1925, kn. 7). Auf Grund dieser Ar- 
beiten, sowie eigener Forschungen halt Dv. den 6. März 1486 für den Ge- 
burtstag Skaryna’s, und zwar begründet er seine Hypothese einerseits durch 
Urkunden der Universität Krakau betreffend die Promotion Skaryna’s zum 
Bakkalaureus (1506), andererseits durch eine Analyse seines Wappens, ver- 
bunden mit einer sehr geistreichen astrologisch-astronomischen Theorie. 

Vladimir Samojio. 


D. Masalski: Uber litauische und weißrussische Studierende des 
Braunsberger Seminars 1578-1798. — Rodnyja Goni 1927, kn. 4. 


Die kulturellen Beziehungen zwischen dem Großfürstentum Litauen und 
Deutschland im 16. bis 18. Jahrhundert, die Prof. Georg L ü hir kürzlich be- 
handelt hat, geben Anlaß zu einer Polemik zwischen Latovicus und Masalski 
über die nationale Zugehörigkeit der Studierenden des Braunsberger Se- 
minars, die in den Matrikeln als „Lithuanus”, „Ruthenus“, „Polonus“, „ex 
Lithuania“, „ex Samogitia“ u. a. m. verzeichnet sind. Im Laufe von 220 Jahren 
absolvierten über 1400 Studierende aus dem Oroßfürstenium Litauen das 
Braunsberger Seminar. Während Latovicus alle Studierenden aus „Lithuania“ 
als Litauer und nur die Basilianer unter ihnen als Weißrussen ansicht, ver- 
tritt Masalski den Standpunkt, daß es sich bei den meisten von ihnen um 
Litauer nur im staatsrechtlichen Sinne handelte, während sie ihrer Nationali- 
tät nach vorwiegend Weißrussen waren. 

Seiner Ansicht nach sind nur die „ex Samogitia“ stammenden Stu- 
dierenden Nationallitauer gewesen. Bei den anderen dagegen schließt er 
aus den entweder echt weißrussischen (mit den Endungen „ič“) oder vor- 
wiegend weißrussischen Namen (mit den weniger charakteristischen Endun- 
gen „ski“ und „tzki“) auf Weißrussen. Ferner führt er für seine Vermutung 
die Tatsache an, daß die Namen mehrerer Siudierenden die Laute „ch“ und 
„h“ enthalten, die der litauischen Phonetik unbekannt sind. 

Es ist wohl anzunehmen, daß die Wahrheit, wie es ja meist bei solchen 
Streiten der Fall ist, in der Mitte liegt, obwohl bei den meisten Studierenden 
die Vermutung eher für Weißrussen spricht. Vladimir Samojlo. 


Zenjuk: Die Kirchenunion in Weißrußland. — Belaruskaja Kultura, 
kn. 1. 1927, S. 42—45. 


Verf. behandelt die Geschichte der Kirchenunion in Weißrußland und 
schildert die Bemühungen um ihre Erneuerung in der Gegenwart. Während 
die römisch-katholische Kirche erst im 12.—13. Jahrhundert sich in Weiß- 
rußland festsebt, hatte die griechisch-katholische Kirche in den weiß- 
russischen Volksmassen bereits seit dem 10. Jahrhundert Fuß gefaßt. Beide 
Kirchen werden nun im Leyfe der Geschichte zu Sprungbreitern des staat- 
lich-kirchlichen Imperialismus Polens und Moskaus. Der eigentliche Kirchen- 
kampf sebt erst mit der Vereinigung des Großfürstentums Litauen mit 
Polen ein. 1596 spricht sich die hohe griechisch-katholische Geistlichkeit 


156 


„ im Konzil von Brest-Litowsk für die Kirchenunion aus. Verf. 
ist der Ansicht, daß dies aus patriotischen Beweggründen erfolgte, um eine 
konfessionelle Einheit der Weißrussen zu verwirklichen und in der unierten 
weißrussischen Nationalkirche eine Barriere gegen die Geliste des pol- 

hen Katholizismus und der russischen Orthodoxie zu schaffen. Wie 
wenig zuireffend diese Auffassung des Verf. ist, geht daraus hervor, daß 
die unierte Kirche im späteren Verlauf der Geschichte siets Bundesgenasse 
des polnischen Kathalizismus gegen die Orthodoxie und gegen die Re- 
formationsbewegung gewesen ist, so oat von einer Barriere gegen den 
polnischen Katholizismus wohl kaum die Rede sein kann. Zuzugeben ist, 
daß die unierte Kirche eine Barriere gegen die Moskauer Orthodoxie ge- 
wesen ist. Das hat der russische Zarismus ganz richtig erkannt, und wie 
Verf. zutreffend schildert, mit der Vernichtung der Union die konfessionelle 
Trennungslinie zwischen Weißrussen und Russen beseitigt. Der Kampf 
gegen die unierte Kirche gehörte zum Russifizierungsprogramm des Zaris- 
mus. Verf. behauptet, daß die Rückkehr der Unierten in die griechisch- 
katholische Kirche aus Gründen der Unterwürfigkeit erfolgt ist — eine Be- 
hauptung, über deren Richtigkeit sich streiten läßt. Es haben da vermutlich 
auch andere Gründe mitgewirkt. Wie wenig wurzelfest die unierte Kirche 
in Weißrußland war, zeigt die Tatsache, daß nach dem Staatsedikt vom 
28. April 1905 Tausende Weißrussen zur katholischen Kirche übertreten. 

Verf. schildert die Verdienste der unierten Kirche unter Hervorhebung 
ihrer kulturellen Tätigkeit seit der Gründung des Basilianerordens. Er 
verweist ferner auf das Beispiel Galiziens, wo die unierte Kirche das 
ukrainische Nationalbewußitsein erhalten und gefördert hat. 

Z. ist der Ansicht, daß bei günstigen Bedingungen (d. h, wenn Weib- 
rußland nicht von Rußland verschlungen worden wäre) die unierte Kirche 
in Weißrußland eine ähnliche Rolle gespielt hatte. 

Verf. plädiert für Erneuerung der Kirchenunion auch aus dem Grunde, 
weil die unierte Kirche im Interesse Polens liege und geeignet sei, die durch 
das Medium der gricchisch-katholischen Kirche eindringenden Moskauer 
Einflüsse abzuschwächen. 

Zu den Ausführungen von Z. ware wohl zu sagen, daß die Idee der 
unierien Kirche als weißrussischer Nationalkirche bereits um 1905 von der 
weißrussischen Renaissancebewegung aufgenommen wurde. Ich habe in 
diesem Sinne um 1905 mit einem ,Apostel” der galizischen Unierten, Vater 
Lomnigki, verhandelt, doch die spätere Entwicklung ging andere Wege. 

‚Der Vergleich des Verf. mit Galizien hinkt schon deshalb, weil in 
Galizien die unierte Kirche sich 150 Jahre lang frei sowohl vom russischen, 
wie auch vom polnischen staatlich-kirchlichen Imperialismus entwickelt hat, 
und zwar unter österreichischer Herrschaft, die allen Nationalitäten und 
Konfessionen die Freiheit ihrer kulturellen Entwicklung gewährt hat. Das 
„österreichische“ Argument des Verf. erinnert an die während des Welt- 
krieges von gewissen weißrussischen Kreisen veriretene Auffassung, daß 
für die nationale Renaissance des weißrussischen Volkes, wie für die des 
galizischen Ukrainertums das „deutsche Staaissanatorium” die günstigste 
Form gewesen wäre. Eine Auffassung, die charakteristisch für das Miß- 
trauen ist, das die weißrussischen Intellektuellen sowohl zu den Russen, 
wie auch zu den Palen hegen. Vladimir Samojlo. 


Jazep Zygolouski: Die Lage der weißrussischen Bewegung in 
den lezten zehn Jahren. — Gramadzjanin 1928, Heft 13, S. 4—7. 


In den Vordergrund seiner Beirachtung rückt Verf. die Stellungnahme 
der russ. demokratischen Parteien zu den weißrussischen Unabhängigkeits- 
bestrebungen. 1917 war die Idee der weißrussischen Unabhängigkeit reich- 
lich unpopular. Ende 1917 fand eine allweißrussische Tagung statt, die sich 
lediglich für eine Föderation mit Rußland, nicht aber für eine staatliche 
Trennung aussprach. 


157 


Bewegung um 1917 noch im Stadium der Organisation. Nur die Belaru- 
skaja sacyjalisti¢naja Hromada hatte bereits eine wohlgeformte Ideologie. 
aber selbst diese Gruppe stellte sich noch nicht ganz klar vor, ob Weiß- 
rußland gänzlich unabhängig sein oder eine Föderation mit irgendeinem 
anderen Staate eingehen sollte. Noch im Mai 1917 sprach sich diese 
Gruppe gegen national-weißrussische Heeresformationen aus. Verf. macht 
der weißrussischen sozialistischen Hromada deswegen Vorwürfe, weil ihre 
damalige Haltung in dieser Frage das jetzige Schicksal Weißrußlands be- 
dingt habe. Nicht mindere Schuld trifft nach Auffassung des Verfassers die 
Führer der russischen demokratischen Parteien, die die Reorganisation der 
damaligen russischen Armee auf national-territorialer Grundlage aus groß- 
russischen Motiven zu hintertreiben wußten. Trob dieser Stellungnahme 
der Kommissare der provisorischen Regierung vollzog sich die territorial- 
nationale Umgruppierung der Armee von selbst. Als charakteristisch für 
die Stellungnahme der damaligen Führer der demokratischen russischen 
Parteien bringt der Verfasser folgenden Ausspruch des bekannten russischen 
Sozialdemokraten Wojtinski, der damals Kommissar der 12. Armee war: 
„Es gibt überhaupt keine Weißrussen. Das ist eine Erfindung eines Häuf- 
leins Intellektueller und polnischer Gutsbesitzer. Wir können nicht eine 
Organisation zulassen, die die russische Armee zersetzen wird.“ Die 
russischen Demokraten benutzten die Teilnahme von Skirmunt und der 
Fürstin Radziwill an der weißrussischen nationalen Bewegung, um diese als 
polnische Mache darzustellen. 

Nicht minder feindlich als die Stellungnahme der russischen Sozial- 
demokraten zu der national-weigrussischen Bewegung war die Stellung- 
nahme der russischen Sozial-Revolutionäre. Der Bürgermeister von Minsk, 
Kaščenko, der der Partei der Sozial-Revolutionäre angehörte, habe den 
weißrussischen Frontdelegierten, die um einen Versammlungsraum baten, 
erwidert: „Ihr könnt euch auf der Straße selbst bestimmen ...“ 

_ Die Tagung der weißrussischen Frontdelegierten, die die Schaffung 
einer weißrussischen Armee erstrebte, kam zu spät. Inzwischen erfolgte 
der Oktoberumsturz. 

Wie wenig Verständnis die russischen Parteien für die nationalen Be- 
strebungen der Weißrussen hatten, beweist die Tatsache, daß, als auf der 
allrussischen Staatsberatung in Moskau die Weißrussen die Autonomie 
Weißrußlands forderten, man sie als „deutsche Spione“ bezeichnete. 

_ Selbst in der Emigration haben die russischen demokratischen Parteien 
kein Verständnis für die national-weißrussischen Bestrebungen. So hat der 
russische Sozialdemokrat Abramovič die Zulassung bos et Dele- 
gierter zu dem Hamburger Sozialistenkongreß hintertrieben mit der Be- 
gründung, daß die russischen Sozialdemokraten (Menschewisten) ganz Rub- 
land, also auch Weißrußland, vertreten. 

Es muß hinzugefügt werden, daß die Ausführungen des Verfassers cum 
grano salis aufzunehmen sind. Wie wenig objektiv seine Darstellung ist, 
ist daraus zu ersehen, daß z. B. in der Frage der Tagung der weißrussischen 
Frontdelegierten in Minsk im Oktober 1917 auf mein Ersuchen für diese 
Tagung die besten Säle des Gouverneurhauses zur Verfügung gestellt 
wurden — gewiß eine unbedeutende Tatsache, die jedoch beweist, daß die 
damaligen russischen Behörden die weißrussischen nationalen Bestrebungen 
keineswegs so schroff bekampften, wie es der Verfasser darstellt. 

Vladimir Samojlo. 


Nach der Darstellung des Verfassers war die . 


Kasimir Svajak: Das weißrussische Volkslied. — Belaruskaja 

Krynica, 1927, Heft 21— 22. 

Der Artikel stammt aus dem literarischen Nachlaß des früh verst. weiß- 
russ. kath. Dichters und Priesters Ste po vi & (1890-196), der unter dem 
Pseudonym Kasimir Svajak schrieb. Verf. weist darauf hin, daß der 
an sich reiche Liederscha des weißruss. Volkes wenig religiöse Lieder auf- 


158 


weist. Dies sei darauf zurückzuführen, dak der Weißrusse in fremden 
Sprachen (Polnisch oder Kirchenslavisch) betet, das Volksschaffen sich aber 
nur in der Muttersprache entfalten kann. Aus der Zeit der Union blieben 
noch einige weißruss. Kirchengesänge, doch seien sie farblose Ubersetzungen 
aus dem Poin. ohne eigene Note. Dagegen weist der Liederschak des 
weißruss. Volkes „halb-religiöse“ Lieder auf. Darunter versteht Verf. na- 
mentlich die Beerdigungslieder, die sog. »plači« oder auch »zaplacki«, in 
denen der Schmerz der Witwen und Waisen zum Ausdruck kommt. In alten 
Zeiten wurden diese »zaplacki« von einem Chor bei Begehung der rituellen 
Seite der Beisetzung gesungen. Das Christentum hat diesen heidnischen 
Ritus durch die Totenmesse ersetzt. Von dem uralten Ritus blieb nur ein 
Volksbrauch, der z. T. christliche Elemente aufgenommen hat. Verf. er- 
wähnt auch die Gesänge der sog. „valačobnikau“, die zu Ostern durch die 
Dörfer ziehen und die Auferstehung Christi verherrlichen. Indessen sind 
diese Volkslieder gegenwärtig nur noch wenig verbreitet, und man muß 
den Eihnographen Dank zollen, daß sie durch rechtzeitige Sammlung dieser 
Gesänge sie vor der Vergessenheit bewahrt haben. Lebensfähiger sind da- 
gegen die Volkslieder, die sich auf Familienfeste beziehen oder auch solche, 
die mit verschiedenen Landarbeiten zusammenhängen. 

Die Hochzeitslieder sind reichlich derb und anzüglich, was wohl dem 
Umstand zuzuschreiben ist, daß sie unter der Wirkung reichlichen Alkohol- 
genusses zustande gekommen sind. Besonders beliebt sind unter den Volks- 
hedern die sog. ,castuski“, die aber mit den großrussischen 
eCastuSki“ keineswegs identisch sind. Bei den großrussischen 
„CastuSki” handelt es sich in der Regel um Proletenlieder, jedenfalls Poesie 
des Asphalts. Die weißrussischen „Castuäki“ dagegen sind humoristische 
„Dewirtungslieder“: „Lastavac“ bedeutet nämlich „bewirten“. „Castuski“ 
singt die Heiratsvermittlerin oder auch ein Madchenchor. Hinzu kommen 
Volkslieder mehr oder minder phantastischen Inhalts über Wasser- und 
Waldgeister. Aus diesem rasch Volksschatz haben weißrussische Dichter 
Arsen eve. Bogdanovič) viele Motive und Gestalten geschöpft. 

In musikalischer Hinsicht wird das weißrussische Volkslied durch die 
Schönheit und Wehmut der Klage gekennzeichnet, in der sich die histori- 
schen Geschicke der Weißrussen spiegeln. Verf. weist darauf hin, daß auch 
fremdstämmige Dichter und Komponisten beim weißrussischen Volkslied 
Anleihen machten, und zwar ohne Quellenangabe. Namentlich trifft dies 
für Mickievicz und Moniuszko zu. Abschließend bemerkt Verf., daß das 
weißruss. Volkslied in den Werken der jungen Dichtergeneration Weißruß- 
lands seine Auferstehung feiert. Das Studium der weißrussischen Volks- 
musik sei noch in dem Anfangsstadium. 

Zu den Ausführungen des Verf. wäre zu sagen, daß er eine eigenartige 
Symbiose von Katholizismus und weißrussischem Nationalbewußtsein bietet. 
Er liebt das alte weißrussische Volkslied mit den Spuren heidnischer Ver- 
gangenheit und bemängelt gleichzeitig das Fehlen weißrussischer Kirchen- 
gesange! Wenn wir einen Vergleich mit Polen ziehen, so finden wir, daß 
dort das katholische Christentum das alte heidnische Volkslied fast gänzlich 
erdrosselt hat. Dafür ist allerdings die polnische „Volkspoesie“ an reli- 
9 Kantaten reich genug. Es bleibt zu bezweifeln, ob Verf. für sein 

olk das Gleiche gewünscht hatte! Vladimir Samojlo. 


S.: Die Märchen der PaljaSuki. — Belaruski Dzen’, 1928, 16—21. 
Aliaxander SerZputouski: „Die Märchen und Legenden der 
Weißrussen im Kreis Sluizk.“ — Verlag des Instituts für weiß- 
russische Kultur in Minsk. 1926. 
Die Bewohner des Sumpfgebiets Polesje sind wohl der unbeweglichste 


Volksstamm Europas. Fernab von den großen Verkehrswegen, verloren in 
dem ewigen Einerlei der Sümpfe, schuf der geschichtslose Stamm der 


159 


Palja3uki eine üppige Volksdichtung. Diese Volksdichtung enthält bemer- 
kenswerterweise nicht nur eine Moral des alltäglichen Lebens, sondern auch 
Elemente einer Lebensphilosophie, die selbst von einer hohen Sozial-Ethik 
Zeugnis ablegt. 

Die Märchen der Weißrussen (insbesondere der PaljaSuki, d. h. der 
Bewohner des Polesjegebiets) zeugen von einer hohen dichterischen Be- 
gabung des Volkes. E. R. Romanov sammelte drei große Bande weif- 
russischer Volksmärchen. Ferner liegen 2 Bande weigrussischer Volks- 
märchen von M. Federovski vor. Hinzu kommen unzählige kleinere Samm- 
Nach den Berechnungen von S. W. Savéenko sind in ganz Weiß- 
rußland etwa 1500 Varianten von Volksmärchen aufgeschrieben worden. 
Von allen diesen Sammlungen ist die von SerZputouski besonders wertvoll 
dank den wissenschaftlichen Methoden der Aufzeichnung und dem Reichtum 
des Materials. 

Die Märchen der Palja3uki sind Anfang des 20. Jahrhunderts in den 
Kreisen Sluck und Mosyr aufgezeichnet worden, wobei sich das Alter ein- 
zelner Märchen kaum ermitteln laßt. Das Märchen wächst wie die Perle in 
der Muschelschale. Das Körnchen völkischer oder fremdstämmiger Intuition 
auf Grund moralischer Erfahrung oder aus dichterischer oder auch religiöser 
Inspiration wird von anderen Schichtungen der Phantasie umgeben. In den 
Volksmarchen kann man gewissermaßen die Historiographie des weiß- 
russischen bäuerlichen Gedankens verfolgen. Manche dieser Märchen 
stammen aus der heidnischen Vorzeit. Wie SerZputouski hervorhebt, werden 
die Märchen in der Regel von älteren Leuten geschaffen und weitergegeben, 
von Leuten, die den Höhepunkt ihrer geistigen Reife erreicht haben. Daher 
sind diese Volksmärchen von Perlen synthetischer Volksweisheit gesattigt. 
Sie enthalten in künstlerischer Form den Niederschlag der Lebensphilosophie 
und Weltanschauung des Volkes. Sie enthalten eine Unzahl von Sprüchen, 
Sprichwörtern, volkstümlichen Redensarten, die in präziser mnemotechnischer 
Form die Lebenserfahrung des Volkes zusammenfassen. 

Charakteristisch für diese Volksmärchen ist die Mischung christlicher 
und heidnischer Elemente: im Laufe ihrer Entwicklung wird der ganze Olymp 
der heidnischen Götter durch den christlichen Alleingott erobert und ver- 
drängt. An Stelle des früheren mechanischen Gleichgewichts von Gut und 
Böse tritt ein kritischer Volksoptimismus, der moralisch und religiös im 
Christentum fußt. Der Kampf dieser beiden Weltanschauungen findet im 
weißrussischen Volksmärchen einen starken Widerhall. 

Charakteristisch ist eine Reihe Märchen, die die Herkunft verschiedener 
Tiere erklären (Storch, Bar, Schwein u. a. m.) — als Menschen, die für eine 
bestimmte Sünde bestraft seien. Es liegt hier offenbar eine spätere Um- 
arbeitung der Grundelemente vor. Das Märchen „Vom weisen Salomo“ ist 
der Ausdruck eines kosmologischen Optimismus des Volkes: selbst die 
widerwartigsten Insekten und Tiere finden in dem Weltall eine der Gesamt- 
heit nüßliche Stellung. Das Märchen klingt in der Weisheit ous. daß es ohne 
das Bose auch das Gute nicht geben würde — ein Gedanke über die utili- 
taristische Mission des Bösen in der Welt, der eines Leibniz würdig wäre. 
Das weißrussische Volksmärchen spiegelt nicht nur das Volksleben wider, 
sondern versucht es auch auf Grund moralisch-religiöser Prinzipien zu 
reformieren. In dieser Art Märchen werden die Volksübel, insbesondere die 
Trunksucht, verdammt und ihre schädlichen Folgen gezeigt. 

Das Volksmärchen hebt die wahren religiösen Werte hervor, die Treu- 
herzigkeit im Gebet und in den guten Werken und stellt sie der Uberheb- 
lichkeit der offiziellen Geistlichkeit mit ihrer reglementierten Kirchengelehri- 
heit entgegen: der „im Geiste arme Einsiedler“ geht über das Wasser wie 
ein Heiliger und rettet den stolzen übermütigen Pfaffen, der ihm auf das 
Wasser folgt und dabei beinahe ertrinkt. : 

Nicht minder bemerkenswert ist die Sozial-Ethik des weißrussischen 
Volksmärchens. Sie enthält eine scharfe Verurteilung des krassen Egoismus 
des Individuums, eine kollektivistische Moral und chiliastische Hoffnungen. 

Wilna. Vladimir Samojlo. 


140 


Jasep S’vetasar: Ales’ Oarun und sein literarisches Schaffen. 
— Belaruskaje Slova 1927, Heft 27—29. 


Unter dem Pseudon Ales’ Garun’ schrieb der weißrussische Dichter 
PruSinski. (1887 1920.) stammte aus einer Arbeiterfamilie und war in 
Minsk geboren. Früh widmete er sich der revolutionären Tätigkeit. Er 
wurde 1906 nach Sibirien verbannt. Sein Aufenthalt in Sibirien (1908—1914) 
bedeutet für ihn Sammlung und innere Einkehr. Statt revolutionärer No- 
vellen schreibt er nun philosophisch-mystische Gedichte. Erst 1918 erschien 

in Minsk sein Versband „Matöyn Dar“. Viele wertvolle Gedichte von G. 
sind noch in Zeitungen und Zeitschriften zerstreut. Neben Bogdanovič ge- 
hört Garun’ zu den Protagonisten des Impressionismus in der weißrussischen 
Dichtung. Sehr eigenartig ist, daß trob seiner proletarischen Abstammung 
und revolutionären Vergangenheit G. ın seiner Dichtung den weißrussischen 
Romantikern des 19. Jahrhunderts näher steht als der proletarischen Dich- 
tung der Gegenwart. Er ist Träger der Ideenwelt des adligen Liberalismus, 
ein Dichter der „szlachta“. Gänzlich fehlen seiner Dichtung Motive des 
proletarischen Klassenhasses. Im Gegenteil, patriotische Erlebnisse (?) und 
philosophische Reflexionen bilden den Hauptinhalt seiner Poesie. Verf. 
führt dies auf den Einfluß der konservativ-adligen polnischen Dichtung 
zurück. Allerdings verschweigt Verf. auch nicht, daß diese polnischen Ein- 
Nüsse dazu beitrugen, daß Garun’s Dichtung von Polonismen überfüllt ist. 

Vladimir Samojlo. 


AntonNavina: Anton Ljavicki. — Rodnyja Goni 1927, kn. 1. 


Unter dem Pseudonym Anton Navina schreibt über Fragen weiß- 
russischer Literatur und Kultur einer der besten Kenner der weißrussischen 
Literatur und zugleich ein bedeutender Führer weißrussischer nationaler 
Renaissance — Anton Luckevié. Die vorliegende 5 ist die 
Wiedergabe eines Vortrags, den Anton Luckevié anläßlich des fünften 
Jahrestages seit dem Tode des bedeutendsten weißrussischen Novellisten 
Anton Ljavicki gehalten hat. 

Ljavicki (t 1921) stammte aus jenem weißrussischen Kleinadel, der 
unter dem Einfluß zweier mächtiger Bewegungen stand — einerseits die 
national-romantischen Freiheitsbestrebungen der 2 andererseits der 
soziale Befreiungskampf des russischen Bauernlums. Als Weißrussen fühl- 
ten sie sich zu dem bluts verwandten Bauerntum hingezogen. Aber ihr 

es alter ego zog sie wieder ins Lager der polnischen Klassengenossen. 
So schwankte diese Schicht jahrzehntelang zwischen den beiden Bewegun- 
gen, ohne sich endgültig zu binden. L., der ihr entstammte, der alle ihre 
inneren Konflikte selbst durchmachte, konnte auch am besten diese Gesell- 
schaftsschicht künstlerisch darstellen. Allmählich siegte beim weißrussischen 
Kleinadel die nationale Solidarität über die Klassensolidarität. Wie Schuppen 
felen von ihnen die Floskeln polnischer Kultur ab. Navina (Luckevic) zeigt 
in seiner Abhandlung, wie allmählich Ljavicki sich von den polnischen Ein- 
fliissen emanzipierte. Dieser Kampf mit seinem adligen alter ego fiel ihm 
nicht leicht. Erst in seinen letzten Werken schildert er Typen der weiß- 
russischen Volksmasse, ohne daß zwischen den Zeilen eine Spur seiner 
früheren adligen Weltanschauung zu finden ist. Die Originalität der Idee, die 
Aufrichtigkeit des Empfindens, die leicht faßliche Form der Darstellung und 
eine üppige Volkssprache sind ce Eigenschaften der Werke von Liavicki, 
die ihm den ersten Plak unter den modernen Prosaschriftstellern Weißruß- 
lands verschafften. Verf. ist der Ansicht, dag Ljavicki zwar als Dichter zu 
seinem Volk den Weg gefunden habe, als Mensch aber dauernd unter seiner 
Zwittersteliung litt. Restlos glücklich hätte er sich wohl nur im Kreise eines 
C Adels gefühlt, wenn es einen solchen gegeben 

€... er Dichter Ljavicki, der höher stand als der Mensch vicki, 
dagegen fühlte überall im weißrussischen Leben Betrug und Fälschung, 
überall, mit Ausnahme der Bauernwelt und der Natur. In der künstlerisch- 


141 


wahrheitsgeireuen Darstellung dieser beiden — der Wahrheit der Natur und 
der Wahrheit des Volkes — siegte die künsilerische an Ljavickis über 
den Menschen Liavicki. dimir Samojlo. 


Zum ersten Jahrestag seit dem Tode von Svajak. — Belaruskaja 
Krynica, 1927, Nr. 19. 


Der anonyme Artikel stammt vermutlich aus der Feder des Priesters 
Adam Stankevič — des nahen Freundes und Gesinnungsgenossen des ver- 
storbenen weißrussischen katholischen Dichters Priester Stepovié, der unter 
dem Pseudonym Svajak schrieb. Verf. unternimmt den Versuch, die Ein- 
heit der Weltanschauung des verstorbenen Dichters nachzuweisen, nament- 
lich bemüht er sich um den Nachweis, daß sein Bekenntnis zur weiß- 
russisch-nationalen Idee zu seinem katholischen Bekenntnis in keinem 
Gegensab stand. _ 

Diese Frage ist von der Kritik seinerzeit lebhaft erörtert worden, 
wobei insbesondere die Kritiker Navina und Sulima sich bemühten, diesen 
Gegensab in der Dichtung Svajaks aufzudecken. 

Verf. versucht die Ausführungen dieser Kritiker dadurch abzuschwächen, 
daß er die gelegentlichen Widersprüche in der Dichtung Svajaks darauf 
zurückführt, daß dieser „in seinen Überzeugungen schwankte“. 

Jedoch habe im späteren Verlauf seines Lebens seine Aufrichtigkeit, 
eifriges Nachdenken, die Kenntnis der weißrussischen Volksseele ihn in 
seinen Überzeugungen bestärkt. Das Christentum ist für Svajak die ein- 
zige Quelle seines Schaffens, der Inhalt seines Lebens und des Lebens 
seines Volkes. „Mit dem Volk — zu Gott! Es gibt keinen anderen Weg!“ 
war laut Verf. seine Maxime. Von der Hohe seiner christlichen Welt- 
anschauung betrachtete Svajak die Wege der Entwicklung seines Volkes, 
wandte sich gegen den Nationalismus und predigte das friedliche Neben- 
einanderleben freier Völker. Seine christliche Weltanschauung veranlaßte 
ihn gleichfalls, sich gegen die soziale Ungerechtigkeit zu wenden. Sein 
Ideal war das unabhängige demokratische Weißrußland — gegen die 
Gegner dieses Ideals schleuderte er die Pfeile seiner grimmigen Satire. 

Verf. ist der Ansicht, daß erst die Veröffentlichung der nachgelassenen 
Werke von Svajak den vollen Nachweis der Einheit seiner Weltanschauung 
erbringen wird. Es muß hinzugefügt werden, oap die Bedeutung von Svajak 
mehr auf politischem als literarischem Gebiet liegt. „Seiner Lyrik fehlt“, 
nach dem treffenden Wort von Sulima, „Musik“. Sie ist auch durch Motive 
und Erwägungen gekennzeichnet, die weniger durch Religiosität als durch 
die Soutane bedingt sind. Aber zwischen dem Priester Svajak und dem 
Dichter Svajak kommt es mitunter zu scharfen Zusammenstößen, so dak 
in der Lyrik des Priesters mitunter auch Motive des Kampfes gegen Gott 
durchklingen. Vladimir Samojlo. 


T.: Kirche, Rache und Gefängnis. — Chryscianskaja Dumka, 1928, 
Heft 16. 


Verf. behandelt die unter dem gleichlautenden Titel erschienene Novelle 
von St. Grynkevié. Sie ist auf dem mittelalterlichen Triptychonschema auf- 
gebaut. Der Tiefe der Idee und der künstlerischen Vollendung der Form 
nach ist diese Novelle eins der bedeutendsten Werke, die in den lebten 
Jahren in weißrussischer Sprache erschienen sind. Ihr liegt ein tatsächlicher 
Vorgang im Kreis Sokol’ski des Grodnogouvernements zugrunde. Der 
ethnographische Charakter ist getreu gewahrt worden. Von der römisch- 
katholischen Geistlichkeit aufgehetzte Andachtige stürmten in Novy Dvor 
(Sokol’ski Kreis) die griechisch-katholische Kirche, um sie zu demolieren. 
Wie Verf. mitteilt, hatte die wahrheitsgetreue Schilderung dieser Begeben- 
heit in der Novelle zur Folge, daß manches Detail dieses kulturgeschichilich 
und massenpsychologisch interessanten Vorganges von der politischen 
Zensur ausgemerzt wurde. 


142 


Diese Novelle isi kuliurgeschichtlich äußerst bedeutsam, da sie ein 
geireues Bild der Verhältnisse in Polnisch-Weißrußland gibi, wo der 
kriegerische römische Katholizismus in Anlehnung an die Idee der vom 
Carismus seiner Zeit erwiirgten Kirchenunion Revanche gegenüber der 
griechisch-katholischen Kirche sucht und selbst vor solchen Mitteln, wie der 
Sturm auf die griechisch-katholische Kirche nicht zurückschreckt. Verf. 
verurteilt, obwohl selbst römisch-katholisch, solche Kampfmethoden, da sie 
das Gefühl der andersgläubigen Weißrussen verlesen und gerade der Idee 
der Kirchenunion schädlich sind. 

Neben der kulturgeschichtlichen Bedeutung der Schilderung der Glau- 
benskämpfe verdient die Novelle auch Beachtung dank ihrer üppigen Volks- 


sprache. 

Der Dichter nkevié hat der weißrussischen Liferatursprache manchen 
Ausdruck, manche Redewendung der Volkssprache zugeführt. Verf. emp- 
fehlt die Novelle der Beachtung der Ubersefer. Vladimir Samojlo. 


Anton Navina: „Unter dem blauen Himmel“, ein Versband von 
N. Arseneva. — Na3a Prauda, 1927, Nr. 35. 


Anton Navina (Luce vic) räumt Natalja Arseneva den ersten Platz 
unter den Dichtern Polnisch-Weißrußlands ein. Sie gehört weder dem 
Lager der Romantiker an, die passiv die Erlösung des weißrussischen Volkes 
von einem Wunder erhoffen, noch dem Lager der Kämpfer, die predigen, 

& man das Schicksal mit Blut und Eisen meistern soll. Ihre Lebens- 
philosophie ist anders geartet — für sie ist das Leben an sich ein Glück. 

Verf. behandelt die Einflüsse anderer Dichter auf das Schaffen der 
Arseneva. Für ihre Lehrmeister hält er vor allem die beiden Koriphäen 
weißrussischer lyrischer Dichtung — Kupala und Bogdanovič, zum Teil auch 
die Dichterin Konstancija Bujlo. Kupala verdankt Arseneva die Farben- 
buntheit ihrer Dichtung, die Uppigkeit des Rhythmus. Ihre Lieblingsfarben 
sind Blau, Gold und Purpur. Ihm verdankt sie gleichfalls die Wucht ihrer 
ry LE n Arseneva wuchs auf unter dem Einfluß der Technik 
von Kupala. 

Bogdanovič lehrte Arseneva jede Naturschilderung mit einer Reflexion 
zu verbinden, mit Stimmungen, Betrachtungen. Aber der Lehrmeister Bog- 
danovič war ein kranker, leidender Mann (schwindsuchtig), Arseneva’s Dich- 
tung aber ist — trob des nachdenklichen Tons — getragen vom Gefühl der 
Lebensfreude. Den blassen, anämischen Farben Bogdanovic’s seht sie die 
üppige Farbenpracht ihrer Palette entgegen. Bogdanovič berührt mehr 
breitere, allmenschliche Probleme, Arseneva ist individualistisch eingestellt. 
Beiden gemeinsam ist die Vorliebe für Themata der Volksdichtung, die 
Nachdichtung von Motiven der OPOE 

Die feminine Art ihres Weltempfindens bringt Arseneva in Berührung 
mit Konstancija Bujlo, doch die erotischen Motive der Dichtung der Lebteren 
sind Arseneva fremd. Verf. führt gerade auf diese feminine Art des Emp- 
findens der Arseneva die Tatsache zurück, daß diese Tochter der sonnigen 
Krim Verständnis und Liebe für das arme und gedemütigte weißrussische 
Volk aufbrachte und ihm ihre schöpferischen Kräfte widmete. Verf. er- 
wartet von Arseneva, deren Schaffen dem Geist des weißrussischen Volkes 
ın kongenialer Art entspricht, weitere bedeutende Werke. 

Diese Charakteristik der Dichtung der Arseneva, die aus der Feder des 
berufensten weißrussischen Kritikers stammt, ist sowohl der Knappheit und 
Präzision der Darstellung, wie auch der Form nach eine Meisterleistung, 
wie es ja bei den Abhandlungen von Navina (Luckevič) gewöhnlich der 
Fall ist. Es bleibt lediglich zu bedauern, daß N. bei seiner Betrachtung 
der Einflüsse anderer Dichter auf das Schaffen der Arseneva sich lediglich 
auf weißrussische Dichter beschränkt hat und nicht viel weiter und breiter 
gegriffen hat. Namentlich ware es verdiensivoll, den Einfluß von Goethe 
auf die Lyrik der Arseneva einer Betrachtung zu unterziehen. 

Wilna. Vladinfir Samojlo. 


145 


Fr. GrySkevié: Die weißrussische Literatur in russischer Uber- 
tragung. — Belaruskaja Krynica 1927, Heft 39. 


Verf. behandelt die in Minsk in russischer Sprache erschienene An- 
thologie 1 i ssischer irischer Dichtung und weißrussischer Prosawerke. 
Diese Anthologie ist unter dem Titel „Prostory“ im weißrussischen Staats- 
verlag erschienen. Während in litauischer, lettischer, tschechischer, ukrai- 
nischer, polnischer, deutscher und sogar in italienischer Sprache Überr 
sesongen von Werken weißrussischer Dichter und Schriftsteller nee 

war bisher in russischer Sprache die Auswahl an weißrussisch 
Werken recht arm. Abgesehen von einem Versband von Kupala, der in der 
Übertragung von Brjusov in russischer Sprache erschienen ist, gab es 
in russischer Sprache an Übertragungen aus der weißrussischen Sprache 
lediglich kleinere, in Zeitschriften zerstreute Novellen. Mithin füllt die 
Sammlung „Prostory“ eine vorhandene Lücke aus. Sowohl der Auswahl 
der Werke, wie der Vollendung der Übertragung nach kann die Anthologie 
als gelungenes Experiment bezeichnet werden. Sie enthält Gedichte von 
Kupala, Michasja, Carota, Alexandrovič und Dudar. Die Gedichte wurden 
13 Russische von Brjusov, Korinfski, Cvetkov und M. Goldberg über- 
agen. 

Die Prosaabteilung enthält Ubertragungen von Werken von Taras Oušča 
(das Prosapseudonym des unter dem Pseudonym jakub Kolas bekannten 
Dichters K. Mickevié), Biadulja u. a. m. 

Verf. bezeichnet die Übertragung von Briusov als die vollkommenste, 
die dem Original selbst in den feinsten Details ausgezeichnet folgt. 

Soweit ich den Auszügen nach beurteilen kann, sind die Übertragungen 
von Brjusov wirklich ausgezeichnet. Er hat bereits während des Welikriegs 
mit weißrussischen Kreisen Fühlung genommen, sich lebhaft für ihre Be- 
strebungen und die weißrussische Dichtung interessiert. Übertragungen 
von Brjusov bedürfen keiner Empfehlung. Vladimir Samojlo. 


Berichtigung za N. F. IV, Heft 4 S. 574 


Die Abhandlung: „J. A. Comenius“ usw. stammt von Herrn Prof. 
Dr. Jan Kvačala (Pregburg). In der Überschrift war der Vorname des 
Herrn Verf. versehentlich weggeblieben. E. H. 


144 


OSTEUROPA-INSTITUT IN BRESLAU 


JAHRBÜCHER 


FÜR 


KULTUR UND GESCHICHTE 
DER SLAVEN 


IM AUFTRAGE DES OSTEUROPA-INSTITUTS 
HERAUSGEGEBEN VON 


PAUL DIELS-BRESLAU, FELIX HAASE-BRESLAU, 
ERDMANN HANISCH-BRESLAU, ROBERT HOLTZ- 
MANN-HALLE, JOSEF MATL-GRAZ, HEINRICH 
FELIX SCHMID-GRAZ, KARL STÄHLIN-BERLIN, 
KARL VÖLKER-WIEN, WILHELM WOSTRY-PRAG 


SCHRIFTLEITUNG: 
ERDMANN HANISCH 


* 


N. F. BAND v. HEFT u 
1929 


— ̃ ... «⅛ꝗ:a ... .. ,½⁰⏑0,ũ,ũĩ—i,ð,: ——ßß—ß8ß—— 


PRIEBATSCH’S BUCHHANDLUNG 


BRESLAU, RING 58, UND OPPELN 


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| 
ABHANDLUNGEN 


N.V. GOGOL’ ALS MALER 


Von 
Emmy Haertel. 


Wer als maltechnisch Erfahrener Gogols Werke aufmerksam 
durchliest, dem wird sich häufig die Wahrnehmung aufdrängen, daß 
es in ihnen Stellen gibt, welche deutlich erkennen lassen, daß Gogol 
im Augenblick ihrer Niederschrift Farben- oder Licht- und Schatten- 
phanomene im Geiste vor sich gesehen haben muß, wie sie das Auge 
des Malers fesseln, wenn er sich darüber klar zu werden sucht, wie 
sie mit den Mitteln seiner Kunst festzuhalten seien. Sei es, daß ein 
Blick ins Weite ihm Lufflöne von ganz besonderem Reiz zeigt, daß 
ein Gegenstand plößlich in ungeahnten Farben aufleuchtet oder daß 
Sonnenlichter über dunklen Grund glitzernd hinziehen. Und verfolgt 
man diese Außerungen einer ausgesprochen künstlerischen Seh- 
technik, so kann man sehen, daß das eine oder andere Beleuchtungs- 
problem sich durch ganze Perioden seines dichterischen Schaffens 
hinzieht und daß sich in die Wortkunst Gogols häufig seine Malkunst 
verflochten hat. Gogol als Asthet und Kunstkenner hat ja von jeher 
die Gogolforschung beschäftigt, der Maler in ihm ist dagegen nur 
auffallend wenig beachtet worden, obgleich doch seine großen natür- 
lichen Anlagen zur Malerei an und für sich in dem gleichen Maße 
hätten Interesse erregen sollen, wie das sonst bei starker Doppel- 
begabung literarischer Größen der Fall ist. Ja, wenn man die Gogol- 
literatur der letzten Jahrzehnte verfolgt, wird man die Beobachtung 
machen können, daß in ihr das Interesse für diese Seite seines 
Wesens abgenommen hat. Wer wird, wenn er z. B. Merezkovskijs 
„Gogol'. Zizn’ i tvoréestvo" liest, auch nur im entferntesten ahnen, 
daß die hier gezeichnete Persönlichkeit in die große Schar der 
Malerdichter oder Dichtermaler gehört, welche — angefangen von 
Michelangelo über Goethe, E. T. A. Hoffmann und Gottfried Keller 
hinaus bis zu Strindberg und Wyspiański hin — durch die Doppel- 
natur ihres geistigen Wesens auch ein doppeltes Interesse bean- 
spruchen können! Und dabei bietet gerade Gogol in dieser Hinsicht 
ein besonders interessantes Beobachtungsobjekt, da, wie bereits 


145 


gesagt, ın den literarischen Schaffensprozeß bei ihm malerische In- 
spirationen sehr häufig eingedrungen sind, und, wie im Folgenden 
nachgewiesen werden soll, gerade bei Neubearbeitungen älterer 
Texte eine nicht unbeträchtliche Rolle gespielt haben. 

Man muß zu den älteren biographischen Werken über Gogol 
greifen, wenn man Unterlagen gewinnen will dafür, ob die Beweise 
maltechnisch geschulten Sehens bei ihm auch wirklich gestützt werden 
können durch Daten aus seinem Leben. Und hier zeigt gleich das 
älteste unter ihnen, die von Pant. Al. Kuliš veröffentlichten Zapiski, 
ein recht interessantes Bild von dem malenden Gogol. Kuliš war 
nicht lange nach Gogols Tode herausgefahren nach Vasil’evka, hatte 
dort noch die Mutter Gogols gesprochen, Malereien von seiner Hand 
gesehen und die ganze zu dem künstlerischen Empfinden Gogols 
untrennbar gehörende Atmosphäre einer ukrainischen Landschaft in 
sich aufgenommen. Er hatte auch im Lyzeum von NeZin mit Gogols 
Zeichenlehrer Pavlov eingehend gesprochen und bemerkt. dazu: 
„Gogol hatte sich die Grundbegriffe der schönen Künste bereits in 
der Schule angeeignet... und von jener Zeit ab fingen die Gegen- 
stände an, sich vor seinen Augen so bestimmt abzuzeichnen, wie sie 
nur Menschen sehen, welche mit der Malerei vertraut sind“. Kuliš 
wird hier, nächst der visuellen Fähigkeit Gogols zu scharfster Er- 
fassung charakteristischer Merkmale des zu Schildernden, seine 
besonders malerisch anmutenden Landschaftsszenerien gemeint 
haben. Es sei gleich hier darauf hingewiesen, daß es sich bei den 
Beobachtungen, welche dieser Studie zugrunde liegen, im all- 
gemeinen nicht um solche nach landläufigen Begriffen „malerischen“ 
Schilderungen handelt, sondern vielmehr um Textstellen, welche — 
oft nicht einmal sprachlich sehr geglückt — meistens nur durch ein 
paar Worte verraten, daß derjenige, welcher sie niederschrieb, fähig 
war, mit den Augen des geschulten Zeichners und Malers Farben- 
oder Lichtphanomene zu verfolgen. Unter der Fülle des Materials, 
welches Senrok in seiner vierbändigen Biographie zusammengetragen, 
drängen sich die Notizen über die Malinteressen Gogols nicht so 
in den Vordergrund wie bei Kuli3 (leider konnte Bd. 3 mit der Schil- 
derung der römischen Jahre nicht eingesehen werden, da er in keiner 
unserer Bibliotheken vorhanden ist). Es wird aber häufig Bezug 
genommen auf das Hineinspielen der malerischen Interessen Gogols 
in sein literarisches Schaffen. Eine wertvolle Ergänzung findet dieses 
biographische Material durch Memoiren der Freunde und Zeit- 
genossen Gogols; die wertvoliste Auskunft stellen aber auto- 
biographische Zeugnisse dar, welche man den Briefen Gogols ent- 
nehmen kann. An erster Stelle sind hier zu nennen Äußerungen 
Gogols, während der Schülerjahre an die Eltern, spaterhin an seine 
Freunde gerichtet, welche von seinen eigenen Malstudien berichten, 
daneben findet sein tätiges Verhältnis zur Malerei Ausdruck in Rat- 
schlagen an Freunde, deren Malstudien betreffend, und schließlich 
noch in einer Reihe von Bemerkungen, die seine Interessen für die 
Malerei schlechthin bekunden. Einzelheiten daraus sind da und dort 


146 


in der Gogolliteratur zum Abdruck gelangt, wo von Gogol als Asthet 
die Rede ist, am ausführlichsten bei Nazarevskij'), der für die Er- 
kenninis der theoretischen Grundlagen der ästhetischen Anschauungen 
Gogols bahnbrechend gewirkt hat. Es wäre eine lohnende Aufgabe, 
das gesamte Material, das sich aus diesen Quellen über Gogol als 
Maler, als Kunstkenner und Freund zeitgenössischer Maler gewinnen 
laßt, im Rahmen einer größeren Veröffentlichung zusammenzustellen, 
denn erst in seiner Fülle kann es überzeugend wirken dafür, daß 
ein Verstehen Gogols in manchem Punkt kaum möglich sein wird, 
wenn man die Bedeutung übersieht oder zu gering einschäbt, die 
Gogols Malinteressen für sein ganzes Leben gehabt haben. Hier, 
innerhalb eines räumlich beschränkten Rahmens, soll in möglichster 
Kürze zitiert werden, was als Beweismaterial für seine — nicht ein- 
mal allgemein bekannten — eigenen Anlagen zur Malerei und deren 
technische Ausbildung dienen kann, und im Anschluß daran einige 
der den Gogolschriften entnommenen Textstellen, welche ihn vor- 
nehmlich als Landschafter erweisen. 

Es folgen, soweit sie hierher gehören, Briefe in chronologischer 
Reihenfolge nach der Senrokschen Ausgabe, auf die sich Band- und 
Seitenzahlen beziehen. Briefe aus dem Gymnasium in NeZin. An 
die Eltern, d. 22. 1. 1824. (l, 18) „.... Entschuldigen Sie, daß ich 
Ihnen die Bilder nicht schicke. Sie haben anscheinend mißverstanden, 
was ich Ihnen sagte: denn diese Bilder, welche ich Ihnen schicken 
will, waren mit Pastellstiften gezeichnet und können nicht einen Tag 
liegen bleiben ohne sich zu verwischen. Gogol bittet dann um 
Ubersendung der entsprechenden Rahmen. — An die Eltern (vor 
Weihnachten) 1824. (I, 23.) „.. lch habe mich lange abgemüht und 
schließlich 3 Bilder gezeichnet und auch noch ein viertes an- 
gefangen... Wenn Sie sie sehen würden, dann würden Sie gewiß 
nicht glauben, daß ich das gezeichnet habe. Nur schade, daß sie 
verderben werden, wenn sie ohne Rahmen bleiben, sie sind auf den 
Grund gezeichnet und können nicht lange liegen bleiben...“ — An 
die Eltern. März 1825. (l, 25.) „.. lch möchte Euch einige Bilder 
schicken, die mit trocknen Farben auf Karton gezeichnet sind... ich 
fürchte, daß sie unterwegs verderben könnten, denn es sind sehr 
zarte Zeichnungen.‘ — An die Mutter. September 1825. (l, 35.) 
„ . lch habe mit dem Zeichenlehrer gesprochen wegen meines Vor- 
habens, nämlich wegen der Olmalerei. Er will die Besorgung einiger 
Sachen übernehmen: Pinsel und einen Teil der Farben...“ — Von 
der ersten Auslandsreise. An die Mutter. Lübeck 1829. (l, 131/32.) 
„. Hier haben Sie den Blick auf die Straße aus meinem Fenster, 
den ich schnell zu Papier gebracht habe...“ (Grigorij Danilevskij 
berichtet von dieser Zeichnung anläßlich seiner Erinnerungen an 
Vasil’evka.) — Aus Petersburg. An die Mutter 1830. (I, 159.) „.. Um 
9 Uhr morgens begebe ich mich jeden Tag nach dem Amt und bleibe 
dort bis 3 Uhr, um halb 4 Uhr esse ich zu Mittag, nach dem Mittag- 


1) Ich verweise hier auf ae demnächst in der Zs. „Euphorion“ er- 
scheinenden Aufs. „Gogol u. d. Kunst der deutschen Romantik“. 


147 


essen um 5 Uhr gehe ich in die Klasse der Akademie der Künste, wo 
ich mich mit Malen beschäftige, das ich unter keinen Umständen auf- 
geben kann, um so mehr als hier alle Mittel vorhanden sind, um sich 
darin zu vervollständigen ... Durch die Bekannischaft mit den 
Künstlern und sogar mit vielen berühmten, habe ich die Möglichkeil, 
Vorteile und Mittel zu finden, die für andere unzugänglich sind. 
— Briefe aus Rom. Im Februar 1839 an Gogols Jugendfreund Dani- 
levskij. (I, 563.) „ . . (Gogol schildert den verdoppelten Genuß bei 
der Betrachtung Roms durch die Anwesenheit des gleichfalls malerisch 
hochtalentierten Zukovskij.) „Das war eine Art Himmelsbote für mich! 
. . . Bis jetzt habe ich mehr den Pinsel in der Hand gehabt als die 
Feder. Zukovskij und ich haben im Fluge die schönsten Blicke Roms 
gezeichnet.. — An denselben (l, 565/66.) „ . . bitte, schicke mir 
mit einem der Russen, die sich nach Italien begeben, einige Farben 
der Fabrik Rapio .. .“ Es folgt dann die genaue Bezeichnung der 
Farben nebst Nennung des Geschäftes, wo sie zu haben sind, der 
Preise und der gecignetsten Art der Verpackung. — Im Februar 1839 
an Zukovskij. (I, 568 ff) „... Meine Tasche mit den Farben ist 
bereit, von heute ab ziehe ich den ganzen Tag zum Malen aus... 
Gestern habe ich zu zeichnen versucht. Die Farben legen sich von 
selbst hin, so daß Du Dich später wundern wirst, wie es gelungen ist, 
Kolorit und Farbenübergänge zusammenzubringen. Wenn Sie nur 
eine Woche länger hier geblieben wären, dann würden Sie nicht mehr 
zum Bleistift gegriffen haben. Das Kolorit ist ungewöhnlich warm 
geworden, jede Ruine, Säule, jeder Strauch, jeder zerrissene Straßen- 
junge scheinen einen anzurufen und Farbe zu heischen ... Im Ko- 
losseum haben Predigten angefangen. Volksmassen und Mönche mit 
weißen Bärten, und alle vom Kopf bis zu den Füßen in Weiß ge- 
kleidet wie antike Opferpriester. Die Drapierung ist ungewöhnlich 
glücklich für unsereinen Halbmaler — ein Pinselstrich — und der 
Mönch ist fertig. Gestern hatte mir die Sonne den einen beleuchtet, 
während alle übrigen in Schatten gehüllt waren. Das war ein Effekt 
zum Entzücken und so leicht zu malen.. Werde ich es noch er- 
leben, daß wir beide zusammen sitzen werden, beide mit den Pinseln 
in der Hand?“ 

Als Ergänzung zu diesen Briefstellen über die eigenen Arbeiten 
muß hier noch der einzigen Stelle in den Werken Gogols gedacht 
werden, wo er davon spricht. Sie steht in dem Aufsatz „Einige Worte 
über Puškin“. „Mir kam ein Vorfall aus meiner Kindheit in Erinne- 
rung. Ich habe immer eine kleine Leidenschaft für die Malerei in 
mir gefühlt. Mich hatte eine von mir gemalte Landschaft sehr inter- 
essiert, in welcher sich ein dürrer Baum im Vordergrund ausbreitet. 
Dieses Bild und Tuschzeichnungen Gogols hat Kuliš bei seinem Be- 
such in Vasil’evka gesehen, und an derselben Stelle, wo er davon 
spricht (I, 22), erinnert er sich auch der Arbeiten Gogols, welche im 
Lyzeum in NeZin aufbewahrt waren, einiger guter Landschaften, 
Bilder historischen Inhalts und Porträts. Bei Kuli3 ist auch folgender 
Vorfall aus einem gemeinsamen Aufenthalt Gogols mit der Smirnova 


148 


in Straßburg vom Jalıre 1837 erwähnt. Gogol hatte die Ornamente 
der gotischen Säulen im Münster schnell mit Bleistift skizziert, und 
auf die Bemerkung der Smirnova „Wie schön Sie zeichnen!‘ geant- 
wortet: „Und das wissen Sie nicht?“ Er brachte ihr später eine 
Federzeichnung davon mit. Schließlich bezeugen auch noch zwei 
seiner Freunde die Maltalente Gogols. S. F. Aksakov erzählt in 
seiner „istorija moego znakomstva s Gogolem“ von der gemeinsamen 
Reise nach Petersburg, von Gogols begeisterten Gesprächen über 
das Leben in Italien und über die Malerei, „die er: sehr liebte und für 
die er entschieden Talent gehabt hat“. Und P. Annenkov erzählt, in 
dem Gogol-Erinnerungen gewidmeten Aufsag der „Literaturnyja 
vospominanija“, von gemeinsamen Spaziergängen mit Gogol zwischen 
Albano und Castelgandolfo, bei denen es vorkam, daß Gogol „sich 
als Maler begeisterte (er hat, wie bekannt, selbst gut gezeichnet)“. 

Die hier erwähnten Erinnerungen Annenkovs sind nach jeder 
Richtung hin ein äußerst wertvoller Kommentar für Gogols Verhältnis 
zur Malerei, weil sie nicht nur einzelne Momente daraus berücksich- 
tigen, sondern den gesamten psychischen Komplex zu erfassen 
suchen, aus dem sich seine Eigenart erklärt. Annenkov sagt: „All- 
gemein muß beachtet werden, daß seine Natur viele Eigenschaften der 
südlichen Völker, welche er so sehr schätzte, besaß. Er legte auber- 
ordentlich viel Wert auf äußeren Glanz, Reichtum und Mannigfaltig- 
keit der Farben in Gegenständen . . auf das Effektvolle in Bildern 
und Natur“ und weiterhin: „Im Leben war er sehr keusch und ent- 
haltsam ..., aber in seiner Vorstellungswelti ist er ganz den 
leidenschaftlichen südlichen Völkern ähnlich mit ihren nach außen 
glänzenden Phantasiegebilden.“ Es drängt sich hier die Parallele 
zu dem Landschaftsmaler Kuindži auf, über dessen, unserem moder- 
nen Farbensinn so wenig adäquates, Kolorit Nevedomskij (Repin i 
Kuindži. S. Ptbg. 1913) psychologisch sehr feine Bemerkungen macht. 
Kuindži (der Abstammung nach Halbtatare) war im russischen Süden 
geboren, was seine ausgesprochen südliche Natur ja vollkommen 
verständlich macht. Nevedomskij hält in einer solchen das Sehen 
elementar-kosmischer Farben für angeboren, da sich im Süden selten 
feinere Farbenstimmungen dem Auge bieten. Wie immer man sich 
den südlichen Einschlag im Farbenempfinden Gogols erklären mag, 
daß er ursächlich mitgewirkt haben wird bei der Komposition der 
ukrainischen Erzählungen und ihrer bunten Landschaften, wird nicht 
bestritten werden können. Auch Kuindži hat, wie Nevedomskij sagt 
65, ff.], in der grauen Natur Petersburgs von seinen Steppen ge- 
träumt und diese Träume auf die Leinwand übertragen. „Süden und 
Sonne erobern schließlich ihre Rechte endgültig in der Seele des 
Malers. Die Aufgaben der Beleuchtung, die Macht des Lichtes: das 
ist es, was ihn hauptsächlich interessiert‘ (46). In den nachfolgend 
zitierten Texten wird man beobachten können, wie stark bei Gogol 
ähnliche Tendenzen entwickelt waren. Es war gewiß kein Zufall, 
daß Annenkov zu einem so in die Tiefe gehenden Urteil über Gogols 
künstlerische Anlagen gekommen ist, denn er hatte ja Gelegenheit, 


149 


längere Zeit den römischen Aufenthalt Gogols als dessen Zimmer- 
nachbar zu teilen und seine Reaktionsfähigkeit auf die Natur des 
Südens zu beobachten. Gogols Freude an ungebrochenen Farben, 
sein Nichibeachten feinerer Übergangstöne in der Natur veranlaßt 
Pereverzev, die Gogolschen Landschaften, einschließlich der früher 
so enthusiastisch gefeierten ukrainischen, einer sehr abfälligen Kritik 
zu unterziehen, namentlich im Vergleich zu den Landschaftsbildern 
Turgenevs und Tolstojs. Abgesehen davon, daß es vielleicht doch 
nicht richtig ist, den zeitlichen Abstand zu Turgenev und Tolstoj in 
Gogols Landschaftsschilderungen ganz zu übersehen, wird die Schluß- 
folgerung, Gogol habe die Natur seiner Heimat gar nicht zu beob- 
achten Gelegenheit gehabt, und seine ukrainischen Landschaften 
seien ebenso aus Büchern und dem Folklore zusammengelesen und 
konstruiert wie seine Kosakentypen, kaum zutreffend sein. Vermöge 
seiner hochentwickelten visuellen Begabung und angeborenen Mal- 
talenten, die er von klein auf gepflegt, muß Gogol alles, was sich ihm 
auf den vielen Wagenfahrten zwischen Elternhaus und Schule und 
im geselligen Verkehr zwischen Gutshof und Gutshof (man denke 
hierbei bloß an das Gut TroStinskijs!) an Landschaft bot, mit größter 
Eindrucksfähigkeit in sich aufgenommen haben. Außerdem hatte ihn 
ja die Reise nach Petersburg auch mit neuen Bildern und Eindrücken 
versorgt. Man wird also ohne weiteres annehmen können, daß Gogol 
noch vor der Niederschrift seiner „Večera“ reichlich genug Gelegen- 
heit zur Beobachtung der heimischen Landschaft gehabt hat, und 
gerade in ihrer Schilderung spricht sich sein Farbengefühl sehr 
deutlich aus. 

Gogols exaltierte Sehnsucht nach Wärme und Farbe südlicherer 
Himmelsstriche in dem, seinem Farbengefühl nach, ihm doppelt grau 
und farblos erscheinenden Petersburg ist nicht nur aus dem physi- 
schen Unbehagen einer besonders zart organisierten Körperlichkeit 
zu erklären, sondern gehört mit hinein in seine ganze Reaktions- 
fähigkeit auf visuelle Reize, löst das Rätsel seiner ltaliensehnsucht 
und -liebe und ist für sein dichterisches Schaffen in der Petersburger 
Periode von Bedeutung geworden. Eine Zusammenstellung alles 
dessen, was in seinen Briefen von seiner Sehnsucht nach den Früh- 
lingen und Sommern der Ukraine, nach ihren Farben und ihrer 
üppigeren Natur spricht, würde es überzeugend vor Augen führen, 
wie seine höchst reizbaren Gefühls- und Sehnerven zusammengezuckt 
sein müssen unter dem Hauch von Kälte und Lichtlosigkeit. Hier nur 
einige Proben daraus. Nach Briefen an die Mutter aus Petersburg, 
in denen das leidenschaftliche Verlangen nach der Natur der Heimat 
zum Ausdruck gekommen, ist es ein Brief an Dmitriev (l, 219), wo 
Gogol von seiner ersten Fahrt nach Moskau berichtet: „. . . Bei der 
Fahrt hat mich nur der Himmel gefesselt, der nach Maßgabe der An- 
näherung an den Süden immer dunkelblauer und dunkelblauer wurde. 
Mir ist der graue, fast grüne nordische Himmel langweilig geworden, 
ebenso wie die einförmig düsteren Kiefern und Tannen, die auf der 
Fahrt von Petersburg nach Moskau immer hinter mir herjagten.“ Und 


150 


hierzu stelle man vergleichsweise den Anfang’) der „Peterburgskie 
Zapiski“: „Wahrhaftig, wohin die russische Hauptstadt nicht geworfen 
worden ist, bis ans Ende der Welt! Ein sonderbares Volk, das 
russische: die Hauptstadt war in Kiev — doch da war es zu warm, 
zu wenig Kälte; da zog die russische Hauptstadt nach Moskau — 
nein, auch da war zu wenig Kälte; nun, da bescher uns der Himmel 
Petersburg! ... Was für Blicke, was für eine Natur! Die Luft von 
Nebel durchzogen; auf der blassen, graugrünlichen Erde verkohite 
Stumpfe, Kiefern, Tannenwald, moosige Hügel.. „Petersburg 
liebt nicht bunte Farben“, heißt es weiterhin. Hier wird ohne weiteres 
klar, daß in Gogols Widerwillen gegen Petersburg sein nach leb- 
haften Farben verlangendes Auge eine wichtige Rolle spielt. Der 
Niederschlag solcher unfrohen Farben-Empfindungen läßt sich be- 
sonders gut im „Neskij Prospekt“ verfolgen. Das erste Auftreten 
Piskarevs: „. . . ein Künstler im Lande des Schnees, ein Künstler 
im Lande der Finnen, wo alles naß, glatt, eben, blaß, grau, neblig 
ist!“ Die Studien dieser Petersburger Künstler und ihre Ateliers: 
» . . die Wände mit Farben beschmiert, mit einem geöffneten 
Fenster, durch welches die blasse Neva und blasse Fischer in roten 
Blusen zu sehen sind. Bei ihnen trägt fast alles ein graues, trübes 
Kolorit — der unverlöschliche Stempel des Nordens. Nicht nur 
die Petersburger Fischer sind blaß, sondern auch die jungen Damen. 
Die Leutnants vom Schlage des Pirogov verkehren in den Häusern 
der Staatsräte, und deren Familientisch wird folgendermaßen geschil- 
dert: „Einige blasse Töchter, ebenso vollkommen farblos wie Peters- 
burg, von denen einige überreif sind, der Teetisch, das Fortepiano, 
häusliche Tänze — das alles pflegt unzertrennlich zu sein von glän- 
zenden Epauletten, welche beim Lampenlicht zwischen der wohl- 
erzogenen Blondine und dem schwarzen Frack des lieben Bruders 
oder eines Hausfreundes glitzern.“ Und diese Leuinants „besitzen 
die besondere Gabe, diese farblosen Schönen zum Lachen und 
zum Anhören (ihrer Witze! zu bringen“. Aber Petersburg wird 
plötzlich an einem schönen, milden Frühlingsabend für Gogols 
Malerauge interessant. Er schildert ihn und seine Einwirkung 
auf die Farben des Stadtbildes kurz vor dem Ende der ,,Peter- 
burgskie Zapiski“: „Die Neva war früh aufgetaut. .. . Die Haupt- 
stadt veränderte sich plötzlich. Die Spike des Glockenturms 
auf der Peter-Paulsfestung, die Festung selbst und die Vasilij- 
Insel und die Vyborger Seite und der Englische Quai — alles 
erhielt ein malerisches Aussehen ... Als ich ans Admiralitäts- 
boulevard gelangt war . . als sich vor mir die Neva auftat, und als 


) Die Textstellen werden nur nach Kapiteln, soweit eine solche Ein- 
teilung vorhanden, oder nach der Zusammengehörigkeit zur ganzen Er- 
zählung zitiert, nicht aber nach den Seitenzahlen irgendeiner bestimmten 
Ausgabe. Benützt wurden zu dieser Studie die 4. Ausg. der Erben (M. 1880), 
die Tichonravov-Ausg. und die mit dieser textlich übereinstimmende von 
Ljackij. Die der Ausg. der Erben entnommenen Textstellen haben beim 
Vergleich mit einer der beiden anderen Ausgaben nur geringfügige text- 
hehe Abweichungen aufgewiesen. 


151 


die rosige Farbe des Himmels sich von der Vyborger Seite her mit 
blauem Nebel umwölkte, da überzogen sich die Gebäude der Peters- 
burger Seite mit einer fast lilaen Farbe, die ihre unansehnliche 
Außenseite verbarg; als die Kirchen, bei denen der Nebel mit seinem 
einfarbigen Bezug alle Wölbungen verhüllte, auf einen rosigen Stoff 
gemalt oder geklebt erschienen, und als in diesem lila-blauen Nebel 
nur allein die Spie des Glockenturms von Peter-Paul aufblifte und 
sich in dem endlosen Spiegel der Neva widerspiegelie, — da schien 
es mir, als wäre ich gar nicht in Petersburg, mir schien, ich wäre in 
irgendeine andere Stadt verzogen, wo ich schon einmal war, wo ich 
alles kenne, und wo das ist, was in Petersburg fehlt.. Und gleich 
darauf wieder ein leidenschaftlicher Schrei nach dem Frühling, ähn- 
lich denen, die in den Briefen an Maksimovié in Kiev wiederholt er- 
tönen, in Briefen an Danilevskij u. a. O. „Ich liebe den Frühling leiden- 
schaftlich. Sogar hier in diesem öden Norden ist er mein. Mir 
kommt es vor, als liebe niemand in der Welt ihn so wie ich 
Das Grausen vor Petersburg und seiner Natur spricht auch aus einem 
Brief an die, Gogol von den Petersburger Jahren her befreundete, 
Frau Balabina aus den ersten Zeiten seines römischen Aufenthaltes, 
wo er seine Briefe aus Rombegeisterung von Gründung der Stadt an 
datierte, hier mit dem Jahr 2588. (I, 491.) „ . . Sie gleichen jetzt einem 
Gemälde, in welchem ein großer Künstler alle Mühe aufgewandt hat, 
um eine schöne Gestalt zu schaffen, die er in den Vordergrund ge- 
stellt. Darauf ist ihm die Lust vergangen, sich mit dem Übrigen zu 
beschäftigen, den Hintergrund hat er hingeschmiert, wie es gerade 
kam . . , und so ist es gekommen, daß sich hinter Ihnen Petersburg 
befindet und die finnische Natur.“ Und in dem Brief vom 7. 11. 1838 
(I, 544) an sie heißt es: „... bei dem Gedanken an Petersburg läuft 
ein Kälteschauer über meine Haut, und meine Haut wird durch und 
durch von fürchterlicher Feuchtigkeit und einer nebligen Atmosphäre 
durchdrungen. 

Und gegen die grau in grau gemalten Bilder des frostigen 
blassen Nordens halte man, was Gogol von seiner Heimat zu be- 
richten wußte! „Wie berauschend, wie üppig ist ein Sommertag in 
Kleinrußland! ... Der blaue unermeßliche Ozean beugt sich, einer 
wollüstigen Kuppel gleich, über die Erde ... Träge und gedanken- 
los stehen himmelhohe Eichen da, als schlenderten sie ziellos dahin, 
und blendende Sonnenlichter entzünden bliggleich ganze malerische 
Laubmassen, während sie über andere nachidunkle Schatten breiten, 
über die nur bei heftigem Winde Spriger von Gold ziehen. Smaragde, 
Topase, Rubine ätherischer Insekten schütten sich über die bunten 
Gärten aus, welche von stattlichen Sonnenblumen beschattet 
werden ... Der Himmel, diese reine Spiegelflache, — der Fluß 
innerhalb der grünen, stolz aufgerichteten Rahmen — wie voll von 
Wollust und Wonne ist doch der kleinrussische Sommer!“ Und neben 
diesem farbenglühenden Sommertag, auch in der Sorotinskaja jar- 
marka, der Sonnenuntergang (Kap. 5). „Die müde Sonne schied von 
der Erde, nachdem sie ruhig ihren Mittag und Morgen abgesegelt 


152 


hatte, und der verlöschende Tag hatte sich zauberisch und grell 
gerotet. Blendend leuchteten die Spitzen der weißen Zelte und 
leinenen Buden auf, die von einem kaum bemerkbaren feurig-rosigen 
Licht getönt waren. Die Fenster in den haufenweise übereinander- 
getürmten Rahmen brannten; die grünen Flaschen und Becher auf 
den Tischen der Schenkstuben hatten sich in feuerfarbene verwan- 
delt, die Berge von Melonen, Arbusen und Kürbissen erschienen wie 
aus Gold und dunklem Kupfer gegossen.“ Kotljarevskij hat von den 
ukrainischen Landschaften Gogols gesagt, sie seien keine Schil- 
derungen von Gesehenem, sondern Ekstase über das Gesehene und 
daher subjektiv bis aufs äußerste. Man wird dieses Urteil bestätigen 
müssen, wenn man sich der Einstellung Gogols der Natur und ihren 
Farbenstimmungen gegenüber erst einmal recht bewußt geworden 
ist. Sie sind zum größten Teil, wenn nicht alle, höchst wahrscheinlich 
der Reflex eines begeisterten Natursehens, das sich freilich von dem 
Sehen anderer Menschen erheblich unterschied. Wenn man ihres 
ekstatischen Tones wegen die ukrainischen Landschaften Gogols als 
nur irgendwie nachempfunden beurteilen will, so muß man folge- 
richtig auch die ekstatischen brieflichen Schilderungen der italieni- 
schen Natur als nachempfunden ansehen. In beiden äußert sich: hier 
Sehnsucht, da Freude an Licht, Wärme und Farbenreichtum. Die 
Entbehrungen, welche die Natur Petersburgs ihm in dieser Hinsicht 
auferlegte, mögen freilich viel dazu beigetragen haben, daß die 
kleinrussische Heimat in um so rosigerem Lichte in der Erinnerung 
aufiebte. Ein interessanter Beweis dafür, mit welchem farbenempfäng- 
lichen Auge Gogol als Knabe die Bilder seiner Heimat in sich auf- 
genommen haben muß, ist in der Geschichte von den beiden lvanen 
enthalten. Wie Ivan Ivanovié durch den Hof des Ivan Nikiforovié 
schreitet, betrachtet er die dort zum Lüften in der Sonne aufge- 
hängten Kleider und sonstigen Sachen. „Das alles, kunterbunt 
durcheinander, gewährte Ivan lvanoviè ein sehr fesselndes Schau- 
spiel, während die Sonnenstrahlen, die bald einen dunkelblauen, bald 
einen grünen Ärmel erwischten, einen roten Umschlag oder den Teil 
eines roten Brokats, oder auch auf der Degenspike spielten, dies alles 
zu etwas Ungewöhnlichem machten, ähnlich jenem Puppentheater 
(vertep), welches herumziehende Landstreicher auf den Kosaken- 
höfen herumfahren. Dieser Vergleich erscheint gezwungen, so- 
lange man nicht Gogols Farbenbeobachtungen als einen wichtigen 
Faktor im Apparat seines dichterischen Schaffens erkannt hat, ist 
man aber eingedrungen in die Technik seines Sehens, so erscheint 
diese Metapher ganz erklärlich. Eigenartig und beachtenswert ist 
es aber, dab Gogol hier seine eigene visuelle Beobachtungsgabe 
überträgt auf Ivan Ivanovié, zu dem sie eigentlich gar nicht paßt, 
und dem man nicht zutrauen sollte, daß er imstande gewesen sei, die 
aufgehangten und im Sonnenlicht lebhaft gefärbten Sachen als ein 
fesselndes Schauspiel anzusehen. Ahnliches wiederholt sich mehr- 
mals in den Toten Seelen, wo Citikov auch mit den Augen Gogols 
zu sehen scheint. Es soll gleich hier ein typisches Beispiel dafür an- 


155 


geführt werden. Cicikov begegnet auf dem Ball im Hause des Gou- 
verneurs (T. 2, Kap. 8) derselben zarten Blondine, welche er zu Beginn 
seiner Fahrten einmal von seinem Reisewagen aus gesehen hatte. 
„ . ihm schien es, wie er sich später selbst klar wurde, als wenn der 
ganze Ball mit all seinem Geschwätz und Lärm um einige Minuten ent- 
fernt wäre; Geigen und Horner schrillten irgendwo hinter den Bergen, 
und alles umzog sich mit einem Nebel, der dem achilos hingemalten 
Grund auf einem Gemälde glich. Und aus diesem nebeligen, irgendwie 
hingeworfenen Grunde traten deutlich und vollendet nur die feinen Züge 
der anziehenden Blondine hervor: ihr rundlich-ovales Gesichichen, 
ihre zarte, zarte Gestalt, wie sie nur bei kaum entlassenen Schüle- 
rinnen einer Unterrichtsanstalt anzutreffen ist, ihr weißes, fast ein- 
faches Kleidchen, leicht und geschickt um die jugendlich schlanken 
Glieder gelegt, welche sich in einer gewissen Reinheit der Linien 
zeigten.. sie allein schimmerte weiß und trat durchsichtig und hell 
aus der trüben und undurchsichtigen Menge hervor.. Gogol, der 
gründliche Portratstudien getrieben haben muß — das geht aus der 
Behandlung der Materie in „Portret“ und aus zahlreichen anderen 
Stellen seiner Werke hervor —, läßt hier Ci¢ikov die hübsche Blon- 
dine ebenso als auf einem unklar gemalten Grunde sich abhebend 
sehen, so wie er selbst in dem Brief an Frau Balabina (s. S. 152) aus 
Rom die Gestalt dieser Dame als Bildnis vor dem trüben Hintergrund 
der finnischen Natur zu sehen glaubte. Die Behandlung des Grundes 
ın einem Bilde scheint ihn besonders interessiert zu haben. Auch 
Stellen aus „Portret“ und aus „Nevskij Prospekt“ beweisen das. 
Hier ist aber noch die Vision der absolut weißen Gestalt zu beachten, 
die auf eine besondere Vorliebe Gogols für das Weiße — merk- 
wurdigerweise im Kontrast zu seinem sonstigen Verlangen nach 
gluhenden Farben — hinweist. Im folgenden soll darauf noch ein- 
mal zurückgegriffen werden. 

Haben die bisherigen Ausführungen dem Zweck gedient, den 
Zusammenhang zwischen Gogols Anlagen zum malerischen Sehen 
und seinem dichterischen Schaffen nur in ganz allgemeinen Zügen 
darzulegen, so soll im folgenden versucht werden, sein Verhältnis 
zu einzelnen Problemen der Malerei näher zu erörtern. Im Jahre 1834 
war aus Gogols Feder der kleine Aufsatz „Doslednij den’ Pompei“, 
Kartina Brjullova, erschienen, welcher bis in die neueste Zeit hinein 
in kunstinteressierten Kreisen Gegenstand abfälliger Urteile über 
Gogols mangelhaftes Kunstverständnis gewesen, im allgemeinen aber 
ziemlich unbeachtet geblieben ist. Dieser Aufsak verdient nun 
gerade an dieser Stelle besondere Aufmerksamkeit, denn er ist das 
beste Auskunftsmittel darüber, welche Probleme der Malerei Gogol 
während der Petersburger Jahre besonders interessiert haben. Da 
das Gemälde Brjullovs, welches z. Z. seines Bekanntwerdens einen 
geradezu unerhörten Erfolg in Italien, wo es entstanden war, und in 
Rußland gehabt hat, nun zu den am wenigsten außerhalb Rußlands 
bekannten Werken der russischen Kunst zählt, wird es unausbleiblich 
nötig sein, darüber einiges zu sagen. Es ist das Werk eines unge- 


154 


wöhnlich talentierten, aber auf Knalleffekte ausgehenden, ziemlich 
seichten Künstlers. Die Wahl des Gegenstandes traf für ihre Zeit 
ins Schwarze, sie war für Italien, wo man immer wieder die kühlen 
Kompositionen klassizistischer Kunst zu sehen bekam, ein aufs 
höchste aktuelles Thema und begeisterte restlos. Frankreich hatte 
sich gegen dieses Bild ziemlich kühl verhalten, in Petersburg aber 
raste ihm der Beifall entgegen. So ist es an sich recht begreiflich, 
daß eine impulsive, zur Exaltation neigende Persönlichkeit wie Gogol 
von der allgemeinen Begeisterung leicht mit fortgerissen werden 
konnte, um so mehr, als die grellen Effekte dieses Bildes, welches 
die Schrecken des Untergangs von Pompeji unter schwarzem Ge- 
witterhimmel bei zuckenden Blitzen darstellte, Gogols natürlichem 
Verlangen nach dem Effektvollen enigegenkam. Die Gestalten sind 
tadellos gezeichnet und modelliert, bewegen sich aber in theatra- 
lischen Gesten. Daß Gogol diesen Mangel nicht herausgefühlt und 
Brjullovs Bild eine Leistung von Weltformat (vsemirnoe sozdanie) 
genannt hat, wird ihm selbst in den neuesten Kunsigeschichten immer 
wieder als Todsünde angerechnet. Es mag hier unerörtert bleiben, 
wie weit dieser Vorwurf gerecht ist. Gogol war zu der irrigen 
Schlußfolgerung, daß Brijullovs Gemälde die erste Meisterleistung 
des 19. Jahrhunderts sei, auf einem an sich ganz richtigen Gedanken- 
wege gelangt. Das 19. Jahrhundert, so führte er aus, hat bisher 
nichts Zusammenfassendes auf diesem Gebiet hervorgebracht, son- 
dern eine Zersplitterung der Kunst in Atome und Einzelstudien, und 
er hebt die aus dieser Atomisierung hervorgegangenen Fortschritte 
gegenüber der älteren Malkunst hervor: Kolorit und Licht. „.. Die 
Malerei hat sich in Untergattungen zersplittert: Gravüren, Lithographie 
und viele kleine Kunstzweige (javienija) wurden mit wahrer Leiden- 
schaft bis ins kleinste ausgearbeitet. Das im 19. Jahrhundert an- 
gewandie Kolorit zeigt einen großen Fortschritt in der Kenntnis der 
Natur. Blickt auf diese unaufhörlich erscheinenden Skizzen, per- 
spektivischen Studien und Landschaften, welche entschieden im 
19. Jahrhundert den Menschen mit der umgebenden Natur in eins 
zusammenfließen ließen — wie in ihnen die in Dunkelheit gehiillte 
Perspektive der Gebäude zusammenfließt und die vom Licht ge- 
troffene hervortritt! wie das beleuchtete Wasser hindurchscheint, wie 
es im Dämmer der Zweige atmet! wie glühend und hell der schöne 
Himmel zurücktritt und die Gegenstände direkt vor den Augen des 
Beschauers stehen läßt! welche kecke, welche kühne Anbringung 
von Schatten da, wo man sie früher gar nicht vermutet hat. 
„Nehmt diese unaufhörlich erscheinenden Gravüren, diese Keime 
eines glänzenden Talentes, in denen die Natur so atmet und weht, 
daß sie erscheinen, als blühte in ihnen das Kolorit: in ihnen strahlt 
die Abendrote am Himmel, so dab man meinen könnte, man sähe 
den purpurnen Widerschein des Abends; die Bäume, die vom 
Sonnenglanz übergossen sind, scheinen wie von feinem Staub be- 
deckt, in ihnen glänzt das helle wollüstige Weiß mitten im tiefen 
Dämmer der Schatten . . . Dieser ganze Effekt, welcher in der Natur 


155 


ausgegossen ist, welcher aus dem Kampf des Lichtes mit dem Schatten 
hervorgeht, dieser ganze Effekt ist Ziel und Streben aller unserer 
Künstler geworden. Man kann sagen, daß das 19. Jahrhundert das 
Zeitalter der Effekte ist.. Und schließlich zu Brjullov übergehend, 
rühmt er die Zusammenfassung der Ergebnisse aller dieser Einzel- 
studien zu einem großen Ganzen in Kolorit und Beleuchtung. 

Dieser kleine Aufsatz ist, ohne Rücksicht auf seinen kritischen 
Wert oder Unwert, sehr beachtenswert. Er zeigt einmal das rege 
Interesse, welches Gogol während der Jahre seines Akademie- 
besuches den Neuerscheinungen auf künstlerischem Gebiet entgegen- 
gebracht hat, und unterrichtet darüber, was ihn in diesen modernen 
Arbeiten am meisten gefesselt: malerische Behandlung von Straßen- 
bildern in der Verteilung von Hell und Dunkel, der Kampf des Lichtes 
mit dem Schatten überhaupt, Glanzlichter auf Wasserflächen, kräftig 
von der Sonne beleuchtete Laubmassen, die in „hellem wollüstigen 
Weiß mitten im tiefen Dammer der Schatten“ stehen. Gerade diese 
Beobachtungen sind es aber, die er mit Vorliebe in seine Natur- 
schilderungen verflicht, wie die folgenden Zitate erweisen sollen. 
Dabei sind die Glanzlichter auf dem Wasser ein so häufig wieder- 
kehrendes Motiv, daß davon abgesehen werden mußte, hier dafür 
Proben zu bringen, man begegnet ihnen fast in jeder Gogolschen 
Landschaftsschilderung. Die malerische Behandlung beleuchieter 
Laubmassen war bereits in der S. 152 zitierten Stelle aus der 
„Sorotinskaja Jarmarka“ zu sehen, wo von den blendenden Sonnen- 
lichtern die Rede ist, welche blitzgleich ganze malerische Laubmassen 
entzünden, während sie über andere nachtdunkle Schatten ausbreiten, 
über die, nur bei heftigem Winde, Spritzer von Gold hinziehen. Aber 
bereits im Hans Küchelgarten interessieren Gogol solche Beobach- 
tungen, er schildert (VII), wie das Abendrot mit lebhaften goldenen 
Sprigern die Bäume berührt (VD, wie der Schatten der alten Kasta- 
nien am Hause des Pächters Bauk von der Sonne „durcheilt“ wird, 
wenn die Wipfel lebhaft vom Winde bewegt werden. Von besonderer 
Bedeutung sind Gogols Licht- und Schattenbeobachtungen im Straßen- 
bild und in der weiten Landschaft, aus denen im folgenden selbst 
ganz kurze Bemerkungen mit aufgenommen worden sind, da sie als 
Glieder einer ganzen Beobachtungsreihe angesehen werden können. 
Unter ihnen, wie auch sonst in den für Gogols malerisches Schen 
charakteristischen Texten, nehmen die Fragmente angefangener Er- 
zählungen, deren Entstehung in die Jahre 1831—33 fällt, eine wich- 
tige Stellung ein. Sie sind bei Tichonravov (Bd. 1) und in der Aus- 
gabe der Erben (Bd. 4) unter dem Gesamitite! „Povesť iz knigi pod 
nazvaniem Lunnyj svet v razbitom oko3ke ¢erdaka na Vasil’evskom 
Ostrove, v 16 linii“ aufgenommen. In ihrer Einteilung herrscht in 
beiden Ausgaben Unstimmigkeit, deswegen wird für die folgenden 
Zitate die letztere Ausgabe zugrunde gelegt. Abschnitt 1 besteht 
nur aus den Worten „Mitternacht war lange vorüber. Nur eine 
Lampe beleuchtete launenhaft die Straße und warf ein etwas un- 
heimliches Licht auf die steinernen Häuser, während sie die hölzer- 


156 


nen im Dunkel ließ; grau wie sie waren, verwandelten sie sich ganz 
und gar in schwarze...“ Dasselbe füllt den Anfang von Ab- 
schnitt 2. „Die Laterne in einer der entfernten Linien des Vasilij 
Ostrov war im Verscheiden. Nur die weißen steinernen Häuser 
zeichneten sich einigermaßen ab. Die hölzernen waren schwarz und 
flossen mit der dichten Masse der Finsternis, die über ihnen lastete, 
in eins zusammen." Es folgt nun die Beschreibung eines einsamen 
Fußgängers, der den „denkbar längsten Schatten vor sich her wirft, 
dessen Kopf sich in der Finsternis verliert“. Es sei hier beiläufig 
hingewiesen auf dieses Schattenspiel, das Gogol ebenso wie andere 
Schattenphänomene sehr lebhaft interessiert haben muß. Man er- 
innere sich der Stelle zu Anfang des „Nevskij Prospekt‘, wo lange 
Schatten an den Wänden und auf dem Pflaster entlang huschen, „die 
mit ihrem Kopf beinahe die Polizeibrücke erreichen,“ und ebenso des 
nächtlichen Fluges des Schmidts Vakula in der „Noč pered roZdest- 
vom“, wo er sieht, wie die ungeheuren Schatten der Fußgänger an 
den Wänden entlang huschen und mit ihren Köpfen „die Schorn- 
steine und Dächer erreichen“. Auch im „Portret“ klingt dieses Mo- 
tiv an. Hier in den Fragmenten aber ist es das Motiv der Lichiver- 
teilung auf den Häusern und gleichzeitig das dabei charakteristische 
Nebeneinander der hellen steinernen und der dunklen hölzernen 
Häuser, welches im Vordergrunde steht. Gogol muß dafür schon in 
der Schiilerzeit ein aufmerksames Auge gehabt haben. In den 
„Klassnyja socinenija“, welche Tichonravov in Bd. 1 seiner Gogol- 
ausgabe bringt (S. 51/52), wird beschrieben, wie „die Straße sich in 
einer Wildnis verliert und eine einsame Laterne ihr ersterbendes 
Licht über die blaßgelben Wände der totenstillen Stadt ergießt“. 
Im „Nevskij Prospekt‘ kehrt dieses Bild wieder, „wenn die Nacht in 
dichten Massen sich über ihn ausbreitet und die weißen und stroh- 
gelben Hauser hervorireten läßt.“ Wie in den Toten Seelen Ciéikov 
sich aufmacht, um die Gouvernementsstadt zu besehen (1, 1), da be- 
frachtet er sie mit den Augen Gogols, „sie gab anderen Gouverne- 
mentsstadten nichts nach: lebhaft stach die gelbe Farbe der steiner- 
nen Häuser in die Augen, und bescheiden dunkelte daneben das 
Grau der hölzernen“. Interessant wird in diesem Zusammenhang eine 
Notiz von Gogols Hand, die nach Kuli3 (1, 253, Anm.) im Hause 
Zukovskijs nach Gogols Tode in einem ihm gehörigen Koffer ge- 
funden worden ist und sich sicherlich auf die Erzählung „Anunciata“, 
die später in „Rim“ umgewandelt wurde, bezieht, „doch ihre Stirn, 
ihre Schultern... das gleicht dem Sonnenglanz auf den weißen Wän- 
den steinerner Häuser.“ Hier kann man herausfühlen, wie Gogols 
Auge sich an dem Licht der südlichen Städte geweidet haben muß, 
begeistert muß es aber auch dem kräftigen Licht- und Schatten- 
wechsel in hellen Mondnächten zugesehen haben. Hierfür sind Stellen 
aus der Geschichte vom Streit der beiden Ivane und aus den Toten 
Seelen charakteristisch. In der Nacht, in welcher lvan lvanovié sich 
entschließt, sich an Ivan Nikiforovié zu rächen, scheint der Mond. 
„ . . . O, wenn ich Maler ware, ich würde den ganzen Zauber der 


157 


Nacht wunderbar darstellen! Ich würde wiedergeben, wie ganz 
Mirgorod schläft... wie die weißen Wände der Häuser, welche das 
Mondlicht trifft, weißer werden, die sie beschattenden Baume dunk- 
ler, wie der Schlagschatten der Bäume sich schwärzer ausbreitet... 
Ich würde darstellen, wie auf dem weißen Wege der schwarze 
Schatten einer Fledermaus flattert, welche sich auf die weißen 
Schornsteine der Häuser niedersetzt... Und ähnlich in den Toten 
Seelen (T. I, Kap. 11). Es ist die bekannte Dithyrambe auf die Reise 
durch die „Rus“. „Du erwachtest — fünf Stationen sind hinter Dir 
geblieben; Mondschein; eine unbekannte Stadt; Kirchen mit alter- 
tiimlichen hölzernen Kuppeln ..; dunkle aus Balken gezimmerte und 
weiße steinerne Häuser; Mondlicht da und dort: gerade als wären 
weiße leinene Tücher an den Wänden aufgehängt auf dem Pflaster 
und den Straßen; wie Pfosten durchschneiden sie Schatten schwarz 
wie Kohlen; wie glänzendes Metall glitzern schräg vom Licht ge- 
streifte Dächer; und nirgends eine Seele: alles schläft... Mutter- 
en vielleicht flimmert nur irgendwo im Fensterchen ein 
Licht.“ 

Pereverzev tadelt die cinformige Sprache der Gogolschen 
Mondnächte, ihr Licht sei immer nur silbern, die Szenerie der Mond- 
nacht in „Vij“, in der die Hexe den Choma Brut durch die Felder 
jagt, sei vollkommen unnatürlich, eine solche Mondnacht gabe es gar 
nicht usw. Hineingestellt in den Rahmen dieser Beobachtungen, wird 
diese Schilderung des Mondlichtes und der Mondschatten hoffentlich 
ein Beweis für das Selbsterlebte und Selbsigeschene der Gogol- 
schen Mondlandschaften werden, ebenso wie die anderer Erzählun- 
gen auch. Für die Lichtekstase Gogols zeugen am besten die unter 
den Skizzen bei Tichonravov aufgenommenen Bruchstücke, „wie 
dieses Drama geschaffen werden soll“, und der „Anruf an die Nacht“ 
q, 474/75). Was dort in lyrischem Aufjauchzen über Sonnen- und 
Mondlicht gesagt, klingt auch in den Texten wider, in denen Gogol 
als Maler zu uns spricht, ungeachtet mancher Wunderlichkeit oder 
wohl auch Ungeschicklichkeit der Sprache. Gogol drückt sich häufig 
da ungeschickt aus, wo er in erster Linie als Maler empfindet, es soll 
darauf noch hingewiesen werden. In „Vij“ zieht sich, wie die Hexe 
auf Bruis Rücken aus dem chuior herausreitet, der Wald „schwarz 
wie Kohlen zur-Seite hin, die umgekehrte Mondsichel leuchiete am 
Himmel, das zarte mitternächtliche Leuchten legte sich wie ein durch- 
sichtiges Laken über die Erde hin... die Schatten der Bäume und 
Sträucher fielen wie Kometen keilformig über die abschüssige 
Fläche“. In „Glava iz istoriteskago romana” spielt der Mondschatten 
eine besondere Rolle. Gleich zu Anfang wird das Dunkelwerden 
beschrieben. „Die Sonne verabschiedete sich langsam von der Erde. 
Malerische Wolken, die an den Rändern von feurigen Lichtern um- 
säumt waren, .. flogen durch die Luft. Die Dämmerung bewegte 
düster ihren grau-blauen Schatten herauf... Der Mond war mittler- 
weile scharf und klar am Himmel zu sehen. Das silberne Licht, 
welches der Schatten der Bäume wirr kreuzte, fiel einem Sieb gleich 


158. 


auf die Erde, weithin die Gegend erleuchtend...“ Später kommi 
der Held der Erzählung an einer verhexten Kiefer vorbei. „Das 
silberne Licht fiel auf ihre düsteren Zweige, und die Schatten, welche 
sie warfen, brachen sich, gerade als wären sie ihre Verlängerung, 
an den gegenüberliegenden Bäumen und legten sich gleich einer 
endlosen Leiter auf die Erde.“ Unter den Schilderungen des Mond- 
lichtes nehmen begreiflicherweise die der „Majskaja Noč“ eine ganz 
besondere Stellung ein. Auch sie begegnen jetzt abfälliger Kritik, 
gerade sie aber sind es, die in besonders eindringlicher Sprache 
Gogols sonstige Licht- und Schattenstudien widerspiegeln, es soll 
daher hier der Versuch gemacht werden, sie in malerischem Sinne zu 
interpretieren. Durch die ganze Erzählung geht der Wechsel der 
Lichtphasen. Während Teil 1 das langsame Hinübergehen von der 
Dämmerung zur Dunkelheit darstellt, strahlt Teil 2 im Glanze der 
Mondnacht. Gleich zu Anfang umfängt der „nachdenkliche Abend 
träumerisch den dunkelblauen Himmel, alles in Verschwommenheit 
und Ferne verwandelnd". Galja sieht empor, „wo in unübersehbarer 
Weite der laue ukrainische Himmel dunkelblau sich ausspannte, unten 
verhängt durch die krausen Zweige der vor ihnen stehenden Kirsch- 
baume“. Dann folgt die Beschreibung des verzauberten Hauses. 
„Der Wald, der es mit seinem Schatten umfing, breitete öde Finster- 
nis darüber aus“. Mittlerweile geht der Mond auf. „Noch war eine 
Hälfte unter der Erde, und doch hatte sich bereits die ganze Welt 
wie mit feierlichem Lichte erfüllt. Der Teich sprühte von Funken. 
Der Schatten der Bäume fing an, sich klar auf dem dunklen Grün 
abzuzeichnen...“ Nun hebt Teil 2 an mit den berühmten Worten 
„Kennst du die Maiennacht in der Ukraine? .. „Die ganze Welt 
ist in Silberlicht getaucht... Unbeweglich, feierlich sind die Wälder 
geworden, ganz von Finsternis erfüllt, und riesige Schatten gehen 
von ihnen aus... Noch weißer, noch mehr leuchten im Mondlicht die 
dichtgedrängten Hütten, noch blendender heben sich aus der Finster- 
nis ihre niedrigen Mauern ab.“ Nun kommt die Stelle, wo Levko 
einschläft, die übrige Handlung ist bisher nicht einbezogen worden, 
weil sie nicht unmittelbar in den Ablauf der Lichtiphänomene ein- 
greift. jetzt aber beginnt oben auf der beleuchteten Höhe der Reigen- 
tanz der Ertrunkenen, unten dagegen „dunkelte feierlich und düster 
der Ahornwald, der gegen den Mond stand“. Wie Gogol es nun ver- 
steht, in Worten zu malen, wie in der mondhellen Nacht die weiße 
Vision des Mädchenreigens vor sich geht, wie sie, „leicht wie Schat- 
ten, in Hemden, weiß wie eine Wiese von Maiglöckchen“ sich be- 
wegen, „ihre Körper wie aus durchsichtigen Wolken gemeißelt er- 
scheinen und fast durchsichtig im silbernen Mondlicht leuchten” — 
das ist ein Meisterstück der Koloristik. 

Neben dem Wechsel von Licht und Schatten, den die Himmels- 
lichter bewirken, spielt bei Gogol der durch künstliche Beleuchtung 
hervorgebrachte Effekt eine große Rolle. Man braucht hierbei nur 
an den „Nevskij Prospekt“ zu denken, auf dem „die Lampen allem 
ein gewisses, verlockendes, wunderbares Licht geben“, und der zu 


11 NF 85 159 


jeder Zeit lügt, am meisten aber dann, „wenn die Nacht in dichten 
Massen sich über ihn ausbreitet und die weißen und blaßgelben 
Häuser hervortreten läßt, wenn die ganze Stadt sich in Getöse und 
Glanz verwandelt... und wenn der Dämon selbst die Lampen an- 
zundet, um alles in einem unwirklichen Licht zu zeigen“, wie es am 
Schluß heißt. Und es ist eine Beobachtung von psychologischer Be- 
deutung, die sich hierbei machen läßt: Gogol scheint eine gewisse 
Abneigung, ein leises Grauen vor den Effekten künstlichen Lichtes 
gehabt zu haben, das „unwirkliche Licht“ vom Nevskij Prospekt 
scheint ihm auch andererorts erschienen zu sein. So zeigt sich ihm 
eine künstlich erleuchtete Landschaft in den „Toten Seelen“ in un- 
heimlichem Licht (T. 1, Kap. 6). Beim Besuch Plju3kins vergleicht 
Ci&ikov dessen dürftiges Leben mit der Lebenskunst eines gesellig 
lebenden Nachbarn. „.. Theateraufführungen, Bälle; die ganze 
Nacht hindurch glänzt der durch Illuminationslämpchen erleuchtete, 
von Musik widerhallende Garten. Das halbe Gouvernement wandelt 
aufgepubt und fröhlich unter den Bäumen auf und ab, und keinem 
kommt diese Beleuchtung wüst und drohend vor, wenn aus dem 
Baumdickicht, einem Theatereffekt gleich, ein durch das unnatürliche 
Licht beleuchieter Zweig hervortritt, der seines hellen Grüns beraubt 
ist, und wenn in der Höhe um so dunkler, sirenger und zwanzigmal 
drohender der nächtliche Himmel hindurchscheint und hoch oben die 
finsteren Baumwipfel, welche tiefer in die unerwecklich schlummernde 
Dunkelheit hineinstreben, ihr Blattwerk erzittern lassen, unwillig über 
den Flitterglanz, der von unten her ihre Wurzeln beleuchtet.‘ Auch 
der unruhige Wechsel des Lichts auf Gesichtern wird von Gogol auf- 
merksam verfolgt und scheint ein gewisses Unlusigefiihl hervor- 
gerufen zu haben. In dem Fragment „Dlennik“ wird der Held der 
Erzählung von einem kriegerischen Befehlshaber in ein unterirdisches 
Verließ geführt, beim Schein eines Lichtes natürlich. „.. die un- 
beständige Flamme des Dochts, die von einem dunklen Kreis um- 
geben war, warf auf sein Gesicht ein blasses, gespenstisches Licht, 
während der Schatten seines endlosen Schnurrbarts sich in die Hohe 
erhob und mit zwei langen Strichen alle bedeckte.“ Ganz ähnlich 
wird in „Glava iz istori€eskago romana“ die Wirkung des Lichts von 
der Glut einer Tabakspfeife auf dem Gesicht ihres Besitzers Ursache, 
daß dessen Gesicht „dem Gesicht irgendeines Vampyrs ähnlich 
wurde“. Die Wirkung eines durch eigenartige Beleuchtung irritierend 
wirkenden Bartes wird auch in den „Toten Seelen“ (T. 1, Kap. 6) 
geschildert. Auf der Weiterfahrt von PljuSkin „... herrschte volle 
Dämmerung ... Schatten und Licht hatten sich ganz durcheinander- 
gemischt, und es schien, als ob sich auch die Gegenstände durch- 
einandergemischt hätten. Der bunte Schlagbaum hatte eine gewisse 
unbestimmbare Farbe angenommen, der Schnurrbart des wachhaben- 
den Soldaten schien ihm auf der Stirn zu stehen und weit höher als 
die Augen, und eine Nase schien er überhaupt nicht zu haben...“ 
Gogol mag auf seinen Fahrten dergleichen oft beobachtet haben, 
hier scheint diese Bemerkung auch wieder Cicikov aufgegangen zu Sein. 


160 


Aus den Vospominanija Annenkovs kann man ersehen, daß Gogol 
Wert darauf legte, eigenartige Beleuchfungseffekte in seine Erzäh- 
lungen aufzunehmen. Auf einem Abendspaziergange in Albano 
wurde einmal von einem der Russen in Gogols Begleitung bemerkt, 
daß in Rußland abends um 6 Uhr in allen Provinzialstädten der 
Samovar gerüstet wird. Da sähe man immer auf der Vortreppe 
irgendeinen Jungen oder ein Mädchen kauern, die die Glut anblasen 
und von ihr rot angestrahlt werden. Da blieb Gogol plötzlich stehen 
und rief aus: „Mein Gott, wie konnte ich das fortlassen! Wie konnte 
ich das fortlassen!“ Die Freude an dem Malerischen solcher Ein- 
drücke, selbst wo es sich um Grausiges handelt, laßt sich gut beob- 
achten in der grandiosen Schilderung des Lohens auf den Schlacht- 
feldern der Zaporoger im „Taras Bulba“. Der Brand in einem 
Klostergarfen gibt Gogol Gelegenheit, das Farbenspiel auf den von 
Flammen angestrahlien Früchten zu beobachten. Reife Pflaumen 
leuchten in einem phosphorisch-feurig-violetten Licht auf, gelbe 
Birnen scheinen in rotes Gold verwandelt zu sein. Am deutlichsten 
spricht sich Gogols Malerfreude aus an der Schilderung des Schreitens 
zwischen Licht und Schatten. Das erstemal begegnet dieser Vorwurf 
im „Nevskij Prospekt“, als auf dem abendlich erleuchteten Nevskij 
Piskarev in Gesellschaft Pirogovs zwei Damen beobachtet, und wo 
er dann in der Richtung geht, wo „der bunte Mantel in der Ferne 
wehte, bald sich in hellem Glanze zurückschlagend, je nachdem er sich 
dem Laternenlicht näherte, bald sich in Finsternis hüllend, je nachdem 
er sich von ihm entfernte“. Das zweitemal schildert Gogol eine ähn- 
liche Situation im „Taras Bulba“, und hier ist es bemerkenswert, daß 
diese, wie eine folgende malerisch behandelte, Szene erst in die 
Neubearbeitung eingeschoben worden ist. Da hier obenein auf einen 
bekannten Maler Bezug genommen wird, ist gerade diese Stelle aufs 
beste geeignet, auch dem nicht Malkundigen den Beweis zu erbringen, 
daß derartige Schilderungen Gogols eben ihre Grundlage in einem 
malerischen Sehen haben. Andrij und die Tatarin schreiten (Kap. 6) 
bei der Belagerung von Dubno den finsteren unterirdischen Gang 
entlang, und als die Tatarin an einer ewigen Lampe einen kupfernen 
Leuchter angesteckt hat, „wird das Licht stärker, und während sie 
gemeinsam weitergingen, bald grell vom Lichte beleuchtet, bald sich 
in kohlenschwarze Finsternis hüllend, erinnerten sie an die Bilder des 
Gerardo dalle Notti“. Der Niederländer Gerhard Honthorst, der im 
Italienischen den Namen Gerhard der Nachtstticke erhalten hat, ver- 
dankt eben seine Berühmtheit in erster Linie diesen. Die in diese 
Neubearbeitung neu aufgenommene, dieser nächtlichen Wanderung 
folgende Morgenbeleuchtung in der Kirche zeigt wieder einmal die 
eigenartige Tatsache, daß Gogol eigene optische Beobachtungen 
gelegentlich auf die Gestalten seiner Phantasie überträgt. „Das 
bunte Glasfenster ersfrahlfe in rosigem Licht, und auf dem Fußboden 
zeigten sich, davon ausgehend, hellblaue, gelbe und andersfarbige 
Kreise, die plötzlich die dunkle Kirche erhellten. Der ganze Altar in 
der fernen Nische strahlte ganz in Glanz auf... Andrej blickte nicht 


161 


ohne Erstaunen auf das Wunder, welches durch das Licht hervor- 
gebracht wurde.“ Hat hier Gogol bei einer Neubearbeitung eine 
Morgenbeleuchtung eingeschoben, so hat er in die 2. Redaktion des 
„Portret“ eine Abendbeleuchtung neu aufgenommen. Als Cartkov 
das Bild des Wucherers nach Hause trägt, beobachtet er sie. „Der 
rote Schein der Abendröte war noch an der einen Himmelshälfte zu 
sehen, noch waren die dieser Seite zugewandten Häuser durch ihr 
warmes Licht angestrahit, aber indessen war das kalte bläuliche 
Leuchten des Mondes bereits heller geworden. Halbdurchsichtige 
Schatten, die von den Häusern und den Beinen der Fußgänger zurück- 
geworfen wurden, fielen mit den Spitzen auf die Erde.“ Die Beob- 
achtung dieser unbestimmien Himmelstönung veranlaßt den Maler zu 
dem Ausruf: „Was für ein leichter Ton!“ Die Neubearbeitung des 
„Portret“ enthalt schließlich noch eine in die Schattenstudien Gogols 
gehörige, sehr eigenartige Szene. Der kvartal’nik mustert in Cart- 
kovs Zimmer die angefangenen Studien und Akte und fragt, was der 
schwarze Fleck unter der Nase eines weiblichen Aktes zu bedeuten 
hätte, ob das Tabak sei, worauf Cartkov kurz antwortet: „Schatten.“ 
Senrok hatte geglaubt, diese kleine Episode hatte einen sozialen 
Untergrund, solle die Wertschakung Gogols für das Urteil der kleinen 
Leute bezeichnen, sie wird aber wahrscheinlicher aus der Erinnerung 
an eine eigene Studie Gogols oder an ein geschenes Bild ent- 
standen sein. 

Es war auf S. 154 darauf hingewiesen worden, daß Gogol für die 
weiße Farbe eine besondere Vorliebe gehabt zu haben scheint. Die 
dort zitierte Stelle aus den „Toten Seelen“ hatte die Vision der 
weißen Madchengestalt enihalten. Sie findet ihre Entsprechung in 
der Schilderung der weiß gekleideten Dame in den bereits zitierten 
Fragmenten, in einer Schilderung, die zu den eindrucksvollsten der 
malerisch gesehenen Partien in den Werken Gogols zählt. Der 
Student „mit dem denkbar längsten Schatten“ hatte beim Weiter- 
gehen neugierig ein Auge an den Spalt eines Fensterladens gedrückt, 
der wie ein feuriger Strich in der dunklen Straße sichtbar wurde, und 
sah in einem hellblauen Zimmer eine wahrhaft malerische Unordnung 
auserlesen schöner Seidenstoffe umhergestreut. „Doch am meisten 
fesselte den Studenten eine in der Ecke des Zimmers stehende 
(schlanke) Frauengestalt .. ] nur wie für den Studenten, in 
einem wunderbar entzückenden, in einem blendend weißen Kleide, 
im allerschönsten Weiß. Wie dieses Kleid atmete. .) Doch 
die weiße Farbe — ist über jeden Vergleich erhaben. Die Frau 
wird größer durch Weiß... Welche Funken sprühen durch die 
Adern, wenn mitien aus der Finsternis ein weißes Kleid auf- 
leuchtet! Ich sage — in der Finsternis, weil dann alles wie 
Finsternis erscheint... Alle Empfindungen gehen dann in dem Duft 
auf, der von ihm aussirömt, und in dem kaum hörbaren .. Geräusch, 
das es verursacht. Das ist die höchste und wollüstigste Wollust.“ 
Gogol verbindet hier den Begriff der Wollust mit dem Anblick des 


3) Die Punkte stehen im Text. 


162 


Weißen. Gesemann hat in seiner charakterologischen Studie über 
Gogol Wendungen wie „Säulen so weiß wie die Brüste einer Jung- 
frau“, „wollüstig weißer Marmor“ und ähnliche als Ausdruck sexueller 
Triebe gedeutet und beruft sich hierbei auf Mere2kovskij, der auch 
das blendende Weiß der Gogolschen Rusalken oder wirklichen Mäd- 
chengestalten für den Ausdruck einer gewissen Lüsternheit nimmt. Es 
mag vieles für diese Deutung sprechen. Nur wird man in diesem Zu- 
sammenhang darauf hinweisen dürfen, daß gerade die bei MereZkov- 
skij erwähnten schimmernden Leiber der Erirunkenen in der ,,Majskaja 
Not” einen gewissermaßen koloristischen Zweck haben, ebenso wie 
das einfache weiße Kleid der Blondine in den Toten Seelen, dessen 
Farbenwirkung auf dem nebligen, irgendwie hingeworfenen Grunde, 
d. h. der „trüben und undurchsichtigen Menge“ sichtlich von künst- 
lerischen Gesichtspunkten aus zu verstehen ist. Diese Textstellen, 
ebenso wie die aus den Fragmenten, und wie die eigenartige Wen- 
dung „jarkaja belizna sladostrasitno sverkaet v samom glubokom 
mrake teni“, die sich auf sonnenbeleuchtete Laubmassen bezieht im 
Aufsatz „Posi. den’ Pompei“, lassen erkennen, daß tatsächlich das 
Zusammentreffen des Weißen mit effektvoll davon abstechender 
Dunkelheit, lediglich als Farbeneffekt, für Gogol von ganz besonde- 
rem Reiz gewesen sein muß. Gogol hat in den Fragmenten noch eine 
sehtechnisch sehr feine Beobachtung aufgenommen, nämlich die 
optischen Wirkungen eines starken Regens auf Luft und Gegen- 
stande, die beweist, daß ihm auch für solche farbenarmen Vorgänge 
der Sinn nicht gefehli hat. Ein geschickter Radierer könnte danach 
getrost eine Regenstudie arbeiten. „.. Das bewegliche Regenneb 
hüllte fast vollständig alles ein, was vorher das Auge sah, und nur 
die vordersten Häuser huschten hinter einer feinen Gaze vorüber; 
trübe huschten die Aushängeschilder vorbei, noch trüber über ihnen 
der Balkon, darüber noch ein Stockwerk, schließlich war das Dach 
bereit, sich in dem Regennebel zu verlieren, und nur sein feuchter 
Glanz unterschied es ein wenig von der Luft. Man könnte meinen, 
einen Nachklang dieser Eindrücke zu sehen in den „Toten Seelen“, 
wo nur Cicikov bei der Einfahrt in den Hof der Korobočka durch den 
dichten Regen etwas einem Dache Ähnliches bemerkt. 

Sonst ist gerade bei Gogols Beobachtungen der Luftione seine 
Farbenfreudigkeit bemerkbar, man erinnere sich der Beobachtungen 
in den ,,Peterburgskija Zapiski“ (s. S. 152), in denen er sich an den 
blauen, lilalen und rosigen Lufttonen eines Frühlingsabends entzückt. 
Es seien hier nur einige Proben gegeben, die zeigen sollen, wie 
Gogol Lufttone unter nordischem und südlichem Himmel gesehen hat. 
In den „Toten Seelen“ vom Tetetnikovschen Hause (2, 1) läßt er Ci&ikov 
in die Landschaft blicken. „Endlos, grenzenlos enthiillien sich die 
Weiten! Hinter den Wiesen, die mit Mühlen und Baumgruppen besät 
waren, grünten in Gestalt einiger grüner Bänder die Wälder; hinter 
den Wäldern ward gelber Sand durch die Luft, welche schon anfıng 
den Nebelhauch der Ferne zu zeigen, sichibar, und wieder Wälder, 
schon in dunkles Blau getaucht, wie Seen oder Nebel in lang hin- 


165 


gestreckten Streifen; und wieder Sandflachen, schon blässer, aber 
doch noch gelb getönt.“ Gogols Vertrautheit mit Pastellfarben, die 
durch seine Jugendbriefe an die Eliern bewiesen ist, spricht aus einer 
Bemerkung im Kap. 3, wo Cicikov in Gesellschaft KostaZonglos in 
die Ferne sieht. Da zeigt sich ihnen bei einem Blick ins Tal, über 
das Haus des Generals Betriščev hinziehend, „die waldbewachsene 
krause Hohe, welche bereits den dunkelblauen Staub der Ferne trug“ 
(pylivSaja sinevatoju pyl’ju ofdalenijal. Es ist gerade an diesen 
beiden Textstellen besonders interessant, daß sie erst in eine spätere 
Bearbeitung des 2. Teiles der „Toten Seelen‘ aufgenommen worden 
sind, oder wenigstens, was die erstere anbelangt, der charakteri- 
stische Zusak zu dem „und wieder Sandflächen“ das „schon blässer, 
aber doch noch gelb getönt“. In der älteren Fassung hieß es nur 
„zelteli peski“. In dieser kleinen Nuance verrät sich das auber- 
ordentlich feine Sehen, welches auch die dichterische Arbeit begleitet 
haben muß (vergl. Tichonravov-Ausg. 4, 314 u. 468/69). Der Hauch der 
Ferne als ein farbiger Staub gesehen, dient Gogol als Ausdrucks- 
mittel auch in einer Schilderung der römischen Campagna, deren 
etwas trockener Ton dem Gegenstand wenig angemessen ist und 
eher in einer maltheoretischen Schrift angebracht wäre. Gogol sieht 
in der Campagna nach allen vier Seiten. „.. Nach der dritten Seite 
hin waren auch diese Felder durch Berge bekränzt, welche sich be- 
reits höher und näher erhoben, in ihren vorderen Reihen kräftiger 
hervoriraten und leicht abgestuft sich in der Ferne verloren. Die 
zarte hellblaue Luft umkleidete sie mit einer wunderbaren Abstufung 
der Farben, und durch diese durchsichtig-blaue Hülle hindurch leuch- 
teten kaum merklich die Häuser und Villen von Frascati, hier fein 
und leicht von der Sonne gestreift, da übergehend in den hellen 
Nebel in der Ferne verstäubender, kaum sichtbarer Gehölze.“ Dann 
sieht der Fürst in „Rim‘ von einer Terrasse in Frascati oder Albano 
herab auf die abendliche Campagna und ihre Wiesenflachen. 
„ . . Dann erschienen sie einem unübersehbaren Meer gleich, das 
sich leuchtend von der dunklen Brüstung abhob; Flächen und Linien 
verschwanden dann in dem sie umhüllenden Lichte. Anfangs er- 
schienen sie grünlich, und hie und-da waren auf ihnen zersireut 
die Gräber und Aquadukte zu erblicken, darauf leuchteten sie in 
hellem Gelb in den Regenbogenfarben des Lichtes auf, kaum die 
antiken Ruinen noch erkennen lassend, und schließlich wurden sie 
purpurfarbener und purpurfarbener und verschlangen in sich selbst 
die gigantische Kuppel und flossen zu einem dichten Himbeerrot zu- 
sammen.“ Man versteht die Ironie Turgenevs und den ästhetischen 
Schauder, mit dem er sich von dieser Schilderung der römischen 
Natur in seiner „Poezdka v Al’bano i Frascati: vospominanie ob 
A. A. lvanove“ abwendet. Und doch ist es Gogol mit der Schilderung 
eines römischen Sonnenunterganges sehr Ernst gewesen. Der Gogol 
befreundete Kupferstecher und Rektor der Akademie der Künste 
Fedor lv. Jordan gedenkt in seinen Zapiski eines mit Gogol, jazykov 
und Annenkov unternommenen Abendspazierganges in Rom. Da 


164 


„entzückte sich N. V. Gogol an dem Sonnenuntergang, dessen Be- 
schreibung ihm wahrscheinlich für eines seiner Werke nötig war. Da 
er weder Feder noch Papier bei sich hatte, war er sichtlich bemüht, 
das sich ihm bietende herrliche Schauspiel seinem Gedächtnis fest 
einzuprägen.“ 

Ein südlicher Himmel gab Gogol noch einmal Gelegenheit zur 
Beobachtung von Farbenphänomenen. 2ukovskij hatte ihn brieflich 
gebeten, ihn durch eine Schilderung des Heiligen Landes zu seinem 
„Vandernden Juden“ inspirieren zu helfen. „.. Ich brauche die 
Lokalfarben Palästinas... ich möchte die malerische Seite Jerusalems 
und des übrigen vor Augen haben.“ Und darauf erfolgte der lange 
Brief Gogols (IV, 297. Der Brief Zukovskijs ist von Senrok in e. Anm. 
wiedergegeben). Er schildert seine Enttäuschung an Palästina, an 
Jerusalem im besonderen. „... Was kann heute dem Dichtermaler 
der gegenwärtige Anblick ganz Judäas sagen?" „... Das alles, 
freilich, war malerisch zu den Zeiten des Erlösers, als ganz Judäa 
ein Garten war und jeder Jude im Schatten eines von ihm gepflanzten 
Baumes ruhen konnte; doch jekt, wo man nur ganz selten fünf oder 
sechs Oliven auf dem ganzen Abhang eines Berges antrifft, in ihrer 
Erdfarbe ebenso grau und staubig, wie eben dort die Steine des 
Berges sind, wenn nur eine dünne Moosdecke und hin und wieder 
Grasbüschel inmitten dieses bloßen, zerrissenen Steinfeldes grün 
schimmern, ... — wie soll man in einer solchen Landschaft das Land, 
wo Milch und Honig fließt, erkennen? Stelle Dir inmitten einer sol- 
chen Verödung Jerusalem vor. Nun folgt die bekannte Schilde- 
rung des eigenen sterilen Seelenzustandes, der „&erstvo serdca“, 
und unwillkürlich drängt sich für den, der Gogols malerische Exal- 
tationen beim Anblick einer ihn fesselnden Landschaft verfolgt hat, 
die Parallele zwischen der soeben geschilderten Landschaft und 
seiner Ernüchterung bei dieser Reise auf. Nur ganz vereinzelt 
tauchen freundlichere Erinnerungen an sie auf. Beim Herausreiten 
aus Jerusalem zeigen sich „plötzlich in der Ferne in hellblauem Lichte, 
als ein ungeheurer Halbkreis, Berge. Eigenartige Berge: sie waren 
ähnlich den Seitenwänden oder dem Karnies einer ungeheuren 
winkelförmig herausragenden Schüssel. Der Grund dieser Schüssel 
war das Tote Meer. Seine Seiten waren von bläulich-roter Farbe, 
der Grund blau-grünlih. Niemals habe ich solche sonderbaren 
Berge gesehen... sie alle waren wie aus einer ungeheuren Menge 
von Fazetien zusammengesetzt, die in verschiedenen Schattierungen 
durch die allgemeine dunstige blau-rotliche Farbe schimmerten. 
Dieses vulkanische Erzeugnis — ein aufgetürmter Wall fruchtloser 
Steine — erglanzte in der Ferne in einer unbeschreiblichen Schön- 
heit. Andere Blicke, die besonders eindrucksvoll gewesen waren, 
hat die schläfrige Seele nicht mit hinweggenommen...“ An dieser 
Stelle bringen die Erinnerungen Annenkovs wieder eine wertvolle 
Ergänzung. Er beschreibt seine lebte Begegnung mit Gogol (P. V. 
Annenkov i ego druzja, 1. 515 fl.). „... Anstatt des Sinnes für die 
Gegenwart, den er im Ausland verloren hatte, und durch seine lebte 


165 


Entwicklung, war seine künstlerische Eindrucksfähigkeit im höchsten 
Maße frisch geblieben. Er forderte mir das Ehrenwort ab, daß ich 
auf dem Lande Bäume und Baumgruppen schonen sollte, und for- 
derte mich einmal zu einem Spaziergang durch die Stadt (Moskau) 
auf, den er.ganz mit der Beschreibung von Damaskus ausfüllte, der 
wunderbaren Berge in der Umgebung der Stadt, der Beduinen in 
ihrer altbiblischen Kleidung, die sich in rauberischer Absicht an ihren 
Mauern zeigen..., aber auf meine Frage, „wie leben dort die 
Leute 7“ antwortete er mir fast ärgerlich: „Was soll das Leben! (cto 
Zizn’)). Daran denkt man dort doch nicht!“ Man sieht also, Gogol 
ist nicht während der ganzen Orientreise cindruckslos gewesen. 
Gerade die Freude an den malerischen Gestalten war ja so charakte- 
ristisch für sein ganzes Sehen in Italien; sein „Rim“, seine Briefe und 
auch wieder Annenkovs Erinnerungen bezeugen das in reichstem 
Maße. Als bestes Zeugnis dafür kann Gogols Freude an der male- 
rischen Wirkung der Kapuzinermonche in Rom herangezogen wer- 
den. Annenkov erzählt in seinen Erinnerungen (S. 44) von einem 
Gespräch Gogols mit Panaev, in dem er ihm die malerische Wirkung 
eines rotbraunen Kapuziners unter einer Gruppe bunter Frauen- 
gestalten auseinandersegte, er hatte in seinem „Rim“, gelegentlich 
der Schilderung, welche Freude der junge Fürst am Wiedersehen 
seines malerischen Roms hatte, den Farbeneffekt geschildert, den 
die „malerischen Scharen der Mönche in ihren langen weißen oder 
schwarzen Gewändern hervorrufen“, und wie „ein schmubiger rot- 
brauner Kapuziner plötzlich im Sonnenlichte in hellem Kamel- 
braun aufleuchiet“. Wie sehr ihn bei den eigenen Malsiudien gerade 
die Mönchsgestalten fesselien, bezeugt ja auch der Brief an Zukov- 
skij (s. S. 148), wo er von der gelungenen Farbenskizze spricht, die er 
bei einer Andacht im Kolosseum gefertigt hatte. Annenkov erzählt 
in seinen Vospominanija von einem gemeinsamen Spaziergang mit 
Gogol in der wundervollen Galerie von Steineichen zwischen Albano 
und Castelgandolfo und von der Begeisterung, in die sie Gogol ver- 
schie. „Wenn ich Maler wäre, dann würde ich ganz eigenartige 
Landschaften malen. Was malt man jetzt für Baume, was für Land- 
schaften! Alles ist glatt, verständlich, vom Lehrer durchgeschen, 
und der Beschauer kann es nachbuchstabieren. Ich würde Baum mit 
Baum zusammenfassen, würde ihre Äste durcheinanderbringen, da 
Lichter hinsetzen, wo sie niemand vermutet; solche Bilder müßten 
gemalt werden! Und er begleitete seine Worte mit energischen, 
nicht wiederzugebenden Gesten.“ Hier äußert sich wieder die Freude 
an der malerischen Behandlung der Lichtmassen im Baumschlag. 
Der Tadel, den Gogol hier ausspricht, wird sich vermutlich gegen 
gewisse Arbeiten jüngerer russischer Künstler richten, über die er 
sich in seinen Briefen wiederholt ungünstig äußert. Vielleicht ist 
damit auch das allgemeine Niveau des in Rom für den Verkauf 
Gearbeiteten und Ausgestellten gemeint. Daß in dieser Hinsicht der 
Aufenthalt dort sehr verflachend wirken konnte, geht aus Mono- 
graphien uber deutsche Kunstler jener Tage hervor. 


166 


Es ist in den bisherigen Ausführungen bei weitem nicht das ge- 
samte Material herangezogen worden, was in den Werken Gogols 
den sehgeübten Maler verrät. Seine Vertrautheit mit dcr Portrat- 
malerei wurde ebensowenig berücksichtigt, wie solche Szenen, die 
— ähnlich der stummen Schlußszene im „Revizor“, für die er ja 
selbst die allbekannten Konturzeichnungen gefertigt hat — gewisser- 
maßen als fertige Genrebilder aus seiner Feder hervorgegangen 
sind. Der zur Verfügung stehende Raum zwang dazu, die Textaus- 
wahl nur unter einem bestimmten Gesichtspunkt vorzunehmen, und 
da es vornehmlich der Zweck dieser Untersuchungen sein sollte, die 
Beziehungen zu verfolgen, die zwischen Gogols, in dem Aufsatz 
„Doslednij den Pompei“ geäußerten Beobachtungen, an der Land- 
schafismalerei seiner Zeit und seinen eigenen Naturbeobachtungen 
bestehen, mußte naturgemäß das Hauptinteresse dem Landschaft- 
lichen darin zugewandt werden und dem Figürlichen nur dann, wenn 
es geeignet war, die Intensität seiner Studien an Beleuchtung und 
Kolorit zu erweisen. Es mußte auch davon abgesehen werden, des 
näheren auf das Zeitgemäße in Gogols Kunstbestrebungen einzu- 
gehen; nur flüchtig sei erwähnt, daß er mit dem in seinem Sehen der 
Lufttone und des Lichtwechsels ihm sehr nahestehenden Arzt Carus, 
der sich als Maler und kunsttheoretischer Schriftsteller betätigt hat 
— sicher wohl ohne eine Ahnung von dieser Seelenverwandischaft 
zu haben — in persönliche Berührung gekommen ist. Er hat ihn 
seines Leidens wegen konsultiert und berichtet darüber brieflich an 
seine Freunde. 

Die naheliegenden Fragen: Was ist aus Gogols Arbeiten gewor- 
den? Kann man in ihnen seine besondere Art des Sehens verfolgen? 
müssen hier leider unbeantwortet bleiben. Es wäre gewiß eine inter- 
essante Aufgabe, diesen Untersuchungen an Ort und Stelle nach- 
gehen zu können. Doch abgesehen davon, was Gogol als Maler ge- 
leistet: die Bedeutung dessen, wie er als Maler gesehen hat, sollte 
bei der Analyse seines dichterischen Schaffens nicht übersehen 
werden. 


Die Literaturangaben beschränken sich auf weniger bekanntes 
oder nicht überall zugängliches Zeitschriftenmaterial. 


Cernickaja, A. Portrety Gogolja. (Istor. Vesin. 1890, 1, S. 641 ff.) 
CiZov, F. V. Vospominanija. (stor. Vestn. 1885, 11, S. 243 ff.) 


Danilevskij, Grig. Znakomstvo s Gogolem. (Istor. Vesin. 1886, 
Dek.) 


Gesemann, Gerh. Grundlagen einer Charakterologie Gogols. 
(Jahrbuch der Charakterologie. Jg. 1, Bd. 1, 1924.) 


Gogol’ v Odesse. (Russk. Archiv, 1902, 1.) 
Jordan, Fed. lv. Zapiski. (Russk. Starina, 1869—71.) 


Miljukov, A. P. Vsireta s Gogolem. (stor. Vesin. 1881, T. 4, 
S. 135 —38.) 


167 


168 


Nazarevskij, A. A. Gogol’ i iskusstvo. In: Pamjat}? Gogolja, 
S. 49 ff. (Univ. Izvestija. Kiev 1911, Priloz.) 


Nekrasova, E. S. Gogol’ i Ivanov. (Vesin. Evropy, 1883, Dek.) 


Repnina, V. N. knjaginja. Iz vospominanij o Gogole. (Russk. 
Archiv, 1890, 3.) 


Senrok, N. V. Druzja i znakomye Gogolja v ich k nemu pis’mach. 
(Russk. Starina, T. 63, S. 366 ff., 1889.) 


Ders. Gogol’ v neizdannych pis’mach i takže v pismach ego 
druzej. (Russk. Starina, T. 65, S. 407 ff., 1890.) 


Smirnova, Al. Oss. i N. V. Gogol’. (Russk. Starina, T. 58, 
S. 47 ff., 1888.) 


Diess. Zapiski. (Severnyj Vesin., 1893—95.) 
Diess. Pis'ma k Gogolju. (Russk. Starina, T.66, S. 639 ff., 1890.) 
Zolotarev, Iv. Fed. Raskazy o Gogole. (Istor. Vestn., I. 51, 1893.) 


KATHARINA IL VON RUSSLAND 
UND IHRE AUSWARTIGE POLITIK IM URTEILE 
DER DEUTSCHEN ZEITGENOSSEN 


Von 
Ulrich Preuss (Breslau). 


Fortsetzung.) 


Kapitel III. 
Die westliche Politik Katharinas Il. und die deutsche 
öffentliche Meinung. 
1. 


In dem voraufgegangenen Kapitel über die Orientpolitik Katha- 
rinas Il. und ihre Beurteilung durch die deutschen Zeitgenossen ist 
dargelegt worden, wie das Zusammenwirken von mehreren ver- 
schiedenartigen Momenten, von Momenten sowohl politisch-histori- 
scher als auch ideengeschichtlicher Natur einen Umschwung in der 
Haltung der öffentlichen Meinung Deutschlands herbeiführte, und wie 
dieser Umschwung zuungunsten Katharinas während des Türken- 
krieges von 1787 zum ersten Male in den deutschen Zeitstimmen 
deutlicher zutage trat. Begreiflicherweise mußten die Gefühle der 
Unlust und der Entriistung, mit denen ein betrachtlicher Teil der 
deutschen Publizistik dem zweiten Türkenkriege Katharinas gegen- 
überstand, noch erheblich wachsen, wenn sie auf die nach Westen 
gerichteten Transaktionen der Carin blickten. Denn hier handelte 
es sich nicht mehr um Vorgänge, die sich „hinten weit in der Türkei“ 
abspielten, und die man doch nur sehr von fern verfolgen konnte, 
sondern Katharina suchte durch sie die russischen Grenzen und die 
russische Einflußsphäre immer weiter nach Westen vorzuschieben und 
rückte infolgedessen den deutschen Grenzen immer näher. Die An- 
strengungen, die Preußen seit Friedrichs des Großen Tode gemacht 
hatte, um im Bunde mit England und Schweden dem Expansions- 
willen der Carin Einhalt zu gebieten, redefen eine deutliche Sprache. 
Allzu deutlich, um nicht sogar auf die mehr ideologisch orientierte 
als von eigentlichen politischen Erwägungen geleitete deutsche Pu- 
blizistik Eindruck zu machen. Die Vorstellung einer „russischen 
Gefahr“, die in der Diskussion der deutschen Publizisten über die 
Türkenkriege noch so gut wie fehlt, ergriff angesichts der polnischen 
Politik der Carin in der zweiten Hälfte der achtziger und in der 


169 


ersten der neunziger Jahre in Deutschland immer weitere Kreise, 
und als absolute Parallelerscheinung zu dem Umschwunge in der 
deutschen öffentlichen Meinung, die in ihrer so verschiedenartigen 
Beurteilung des ersten und des zweiten russischen Türkenkrieges 
zum Ausdruck kam, besteht ein wesentlicher Unterschied in der Ge- 
sinnung und Haltung, mit der man in Deutschland die erste und die 
beiden späteren polnischen Teilungen diskutierte. 

Wenn Sybel in seinem Aufsatze über „die erste Teilung Polens“ 
behauptet, die gesamte Literatur sei bei und nach der ersten pol- 
nischen Teilung von polenfreundlichen Stimmen bis zu dem Grade 
beherrscht gewesen, daß es „beinahe keine andern“ gegeben hatte’), 
so entspricht diese Behauptung, wenigstens für Deutschland, nicht 
den Tatsachen. Denn die deutschen Zeitgenossen haben dies Er- 
eignis, wie übrigens auch die spätere deutsche Forschung?) fest- 
gestellt hat, mit einer auffällig kühlen Gelassenheit hingenommen. 
Aber ebenso falsch ist die Behauptung in einer unlängst erschienenen 
Schrift), daß die öffentliche Meinung Deutschland auch den späteren 
Teilungen gegenüber die gleiche kühle Gelassenheit bewahrt habe, 
und daß die „zeitgenössischen Humanitatsfreunde“ damals „kein 
Wort der Sympathie oder des Mitleides für den zerstörten Staat“ 
übrig gehabt hätten. Vielmehr fand sie, wie noch zu zeigen sein 
wird, in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts sowohl für den 
Protest gegen das den Polen zugestofene Leid als auch für das 
Mitgefühl mit dem untergegangenen Staatswesen Worte von einer 
Herzhaftigkeit und einem Pathos, die denen der Höhezeit deutscher 
Polenschwärmerei in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts nicht 
viel nachstehen dürften. 

Nachdem dieser Unterschied in der Stellungnahme der deutschen 
öffentlichen Meinung gegenüber der Teilung von 1772 auf der einen 
und denen von 1793 und 1795 auf der anderen Seite bereits in der 
glänzend dargestellten und an Literaturkenninis kaum zu über- 
bietenden „Geschichte der deutschen Polenliteratur“ von Robert 
Franz Arnold eingehend geschildert und begründet worden ist, kann 
es nicht unsere Absicht sein, die Veränderungen, welche das Bild 
Katharinas infolge ihrer späteren Polenpolitik für die deutschen 
Zeitgenossen erfuhr, hier noch einmal in allen Einzelheiten zu schil- 
dern. Aber um des Zusammenhanges des Ganzen willen müssen 
wenigstens die Hauptlinien dieser Entwicklung in der zeitgenössischen 
deutschen öffentlichen Meinung noch einmal nachgezeichnet werden. 

Zunächst ist für die relative Gleichgültigkeit, mit der sich die 
deutsche zeitgenössische öffentliche Meinung gegenüber der ersten 
polnischen Teilung verhielt, auf die Tatsache hinzuweisen, daß ihr 


1) Kleinere histor. Schriften, Bd. Ill (1880), S. 160. 


2) Vgl. z. B. Woldemar Wenck: Deutschland vor 100 Jahren. Bd. I (1887), 
S. 256. — Am eingehendsten bei R. F. Arnold: Gesch. der deutschen Polen- 
literatur. Bd. I (1900), S. 73 f. 


3) |. Muller: Die Polen in der öffentlichen Meinung Deutschlands 1830 
bis 1832. (1923), S. 5. 


170 


diese Teilung nicht unerwartet kam. Denn in dem langen Verfalls- 
und Zersekungsprozeß des polnischen Staates, den die Geschichte 
Polens mindestens seit dem Jahre 1662 darstellt, wo der König lan 
Kasimir seinen Landsleuten den Untergang und die Zerstückelung 
ihres Landes durch ihre westlichen Nachbarmächte prophezeite®), lag 
der Gedanke einer polnischen Teilung sozusagen in der Luft. Er 
hatte mehrfach die europäischen Kabinette beschäftigt’), und daß er 
auch der weiteren Öffentlichkeit nicht fremd war, beweist Wekhrlin, 
der in einer seiner vielgelesenen Zeitschriften, um die Notwendigkeit 
dieser Teilung zu rechtfertigen, sogar auf das polenfreundliche 
Frankreich hinwies, das selber „das Beispiel eines Teilungspro- 
jektes“ gegeben hafte“). 

Sodann hatten sich — worauf schon in anderem Zusammenhange 
hingewiesen wurde — die Polen infolge ihrer fanatischen Unter- 
drückung der Dissidenten, d. h. aller Nichtkatholiken — gleichviel 
ob Protestanten, Griechisch-Unierte oder Juden — die Sympathien 
dieser so stark auf ihre Aufklärung und religiöse Duldsamkeit 
pochenden Zeit völlig verscherzt. Die Greueltaten der Konfoderierten 
von Radom und Bar, jener blutdürstigen und grausamen Vorkämpfer 
fanatischen Glaubenshasses, wie sie z. B. Gustav Freytag aus zeit- 
genössischen Überlieferungen aus dem damals polnischen West- 
preußen schildert”), wurden natürlich bald jenseits der nahen preu- 
Bischen Grenze bekannt und erregten in Deutschland einen Abscheu 
und eine Entriistung, die wir wohl vergleichen dürfen mit analogen 
Wirkungen der bol3evistischen Greuel auf unser Volk und unsere 
Zeit. Dazu kamen die traditionellen Vorstellungen von Polen als 
dem klassischen Lande der Zwietracht®) und Unordnung, die zur Bil- 
dung von historischen Schlagworten wie „polnische Wirtschaft" und 


a) Vgl. B. v. Bilbasov: Gesch. Katharinas Il. Deutsch von P. v. R. 
Bd. it (1893), S. 516 f. 


s) Vgl. R. Koser: Gesch. Friedrichs d. Gr. Bd. Ill (1913 3 u. 4, S. 203 f. — 

Ein noch früheres Beispiel (1575) bei F. Martens: Recueil des traités et 

conventions conclus par la Russie avec les pays étrangéres. Bd. I (1874), 

— Vgl. überhaupt über e Teilungs vorschläge Alexander 

Brückner: Katharina die Zweite. (1883), S. 252 f. Die „Dessins“ von 1768 

` 69 bei A. Beer: Die erste Teilung Bo Bd. Ili (1873), S. 262, u. Bd. Il, 
. 39. 


©) Chronologen, Jg. 1779, Bd. Il, S. 294. 


7) „Der polnische Edelmann Roskowski zog einen rolen und einen 
schwarzen Stiefel an, der eine sollte Feuer, der andere den Tod bedeuten; 
so ritt er brandschakend von einem Ort zum andern, ließ endlich in Jastrow 
(Kr. Deuisch Krohne) dem evangelischen Prediger Willich Hände und Füße 
und zuletzt den Kopf abhauen und die Glieder in einen Morast werfen. Das 
geschah 1768. Gustav Freytag führt aus anderen Beispielen auch eine da- 
mals unter den Polen gängige Redensart an: „Vexa Lutheranum dabit 
Thalerum.“ Bilder a. d. deutschen Vergangenheit. Bd. IV (1880 12), S. 271 F. 


©) Im Gotterstaat der komischen Epopöen des 18. Jahrhunderts hat die 
Zwietracht in Polen ihren Sib. Z. B. Das Strumfband. Ein comisches 
Heldengedicht. (1765), S. 48 f. — Rathlef: Der Schuh. Heroisch-comisches 
Gedicht. (1752), S. 15. 


171 


dergl. geführt hatten). Endlich war auch das unwürdige Verhalten 
der polnischen Volksvertreter auf dem Reichstage von 1773, auf dem 
die Teilung formell zum Abschluß kam, nicht gerade dazu angetan, 
um aufkeimende Mitleidsregungen für die Polen zur Entfaltung zu 
bringen?®). 

Alle diese einzelnen Momente aber wirkten zusammen, um ein 
eigentliches Mitgefühl weiter Kreise an dem Unglück, das Polen mit 
der Teilung von 1772 widerfuhr, nicht aufkommen zu lassen. Selbst 
das Volkslied, das doch sonst gewöhnlich für die Unglücklichen und 
Unterdrückten ein Herz hat, verriet — wie die von Arnold bei- 
gebrachte Probe zeigt?) — bei der Teilung von 1772 nur Spott und 
Hohn über das von den Polen selbst verschuldete Geschick und die 
schadenfrohe Weisheit: 


„Also geht’s: Ist erst gewichen 
Fried’ und Ordnung aus dem Haus, 
Kommt ein anderer bald geschlichen, 
Der es leichtlich plündert aus.“ 


Einem so diskreditierten Gegner gegenüber hatte Katharina, die 
Bändigerin der „fanatisch-grausam-rasenden Polen“::), die in ihrem 
eigenen Reiche „fremden Glaubensgenossen“ die „vollkommene Ge- 
wissensfreiheit“ gewährte:®), es verhältnismäßig leicht, sich die Sym- 
pathien ihrer deutschen Zeitgenossen auch dann zu erhalten, als sie 
von der Befriedung der polnischen Republik zur Aneignung einzelner 
ihrer Gebietsteile überging. Die deutsche Zeifstimmung in den 
Jahren, die der polnischen Teilung vorausgingen und folgten, hat 
ruckschauend der Göttinger Historiker Spittler mit den treffenden 
Worten charakterisiert: „Die ersten Eingriffe in die polnische Frei- 
heit, die bei der Konigswahl!*) geschahen, achtete man kaum, weil 
Rußland jetzt nicht mehr tat, als was schon vor 30 Jahren geschehen 


®) Georg Forster in sämtl. Schriften, hrsg. v. seiner Tochter, Bd. III 
(1843), S. 305, schreibt in einem Briefe aus Wilna vom 24. Juni 1785: „Doch 
ganze Bögen reichen nicht zu, um Ihnen einen Begriff von dem zu machen, 
was in den angrenzenden Gegenden Deutschlands, mit einem emphatischen 
Ausdruck, polnische Wirtschaft genannt wird.“ 

16) Koser, a. a. O. Bd. Ill, S. 337. 

11) Arnold, a. a. O. Bd. I, S. 76 f. — Vgl. Müller, a. a. O. S. 6. 

12) J. M. Hofmann: Katharina II., die einzige Kaiserin der Erde usw. 
Bd. I (1787), S. 32. 

18) P. Kirchhof: Die Glückseligkeit des russ. Staats usw. (1771), S. 35. — 
Uber die spätere Aufnahme der Jesuiten in Rußland durch Katharina vgl. 
die begeisterten Schilderungen von Frhr. von Tannenberg: Leben Katha- 
rina Il. (1797). — Karl B. Feyerabend: Kosmopolitische Wanderungen durch 
Preußen, Podolien usw. Bd. II (1800), S. 458 f. 

14) Die Wahl Stanislaus Augusts, den Katharina 1764 im Einverstandnis 
mit Friedrich d. Gr. den Polen aufdrangte, vgl. Bilbasov: Geschichte, a. a. O. 
Bd. Il, S. 542. — Für das geringe Aufsehen, welches dieser Eingriff bei den 
deutschen Zeitgenossen machte, ist bezeichnend, daß auch Arnold, Ge- 
5 15 a. O. S. 57 f., die Nachwirkungen dieses Ereignisses nur ganz 

ur z streift. 


172 


war. Die ferneren, aber tiefer fassenden Eingriffe aber vergaß man 
um der guien Sache der Dissidenten willen und ließ das Völkerrecht 
zu Ehren der Toleranz-Philosophie ruhen**).“ 

Die Gebietserweiterung, die Rugland bei der ersten Teilung da- 
vonirug, schien mäßig?!®) und eine berechtigte Entschädigung für den 
kostspieligen Türkenkrieg der Carin zu sein, welcher mittelbar aus 
ihrem Eintreten für die polnischen Dissidenten erwachsen war?’). 
Vor allem aber handelte es sich bei den erworbenen Landesteilen 
um Gebiete, von denen man mit nicht ganz takifester Kenntnis der 
russischen Geschichte behauptete, daß sie „noch im vergangenen 
Jahrhundert“ russisch waren. Diese historischen Rechte Rußlands 
wurden namentlich später, als die öffentliche Meinung Deutschlands 
längst nicht mehr so einmütig wie 1772 die Politik Katharinas billigte, 
mit besonderer Vorliebe von den Apologeten der Carin hervor- 
gehoben und als Momente zu ihrer Verteidigung ins Feld geführt:“). 

Wenn es auch nicht gänzlich an Stimmen fehlt, die das Schicksal 
Polens beklagen — den sensiblen, auf jedes bedeutendere Welt- 
geschehnis sofort poetisch reagierenden Schubart begeisterten die 
Opfer der Teilung sogar zu einem seiner leidenschaftlichsten und 
künstlerisch hochstehendsten Gedichte, dem ersten deutschen Ge- 
dicht, „in dem sich deutsche Teilnahme an dem „Polenschmerz“ aus- 
spricht“) — wenn ferner sogar schon Stimmen laut wurden, die 
Anklage erhoben und die Schuldfrage stellten — zu ihnen gehören, 
abgesehen vom katholischen Klerus, der allenthalben für die Polen 
eintrat**), auch die von Rousseaus Ideen beeinflußten Zeitgenossen —, 
so kennzeichneten diese Stimmen die deutsche öffentliche Meinung 
noch nicht. So sehr sich später der Protest, den Rousseau vom 
ethischen Standpunkt aus gegen die Teilung erhob, durchsetzte, 
so wenig hat im allgemeinen dieser Protest auf die deutschen Zeit- 
genossen, die die Teilung von 1772 miterlebten, gewirkt. Denn diese 
betrachteten in überwiegender Zahl den Teilungsvorgang ohne ein 
erkennbares Gefühl der Verwerflichkeit nur nach dem größeren oder 
geringeren Vorteile, den die einzelnen Mächte davongetragen 
hatten"*). Noch lebte in beinahe unbestrittenem Besitze seiner 


18) Samtl. Werke, hrsg. von Wachter-Spitiler. Bd. IV (1828), S. 372. 

10) Chronologen, Jg. 1779, Bd. II, S. 294. 

17) Bilbasov: Katharina Il. im Urteile der Weltliteratur. Bd. I (1897), S. 194. 

18) Vor allem Seume: Samtl. Werke, hrsg. v. A. Wagner (1837 2), S. 450. — 
Vgl. Hist. geneal. Kal., Jg. 1798, S.112. — Mursinna: Katharina Il. In Galerie 
aller merkwürdigen Menschen. Bd. XIII (1804), S. 47. — Denkwürdigkeiten 
aus dem ablaufenden achtzehnten Jahrhundert. (1800), S. 270. 

10) Arnold, Geschichte, a. a. O. Bd. I, S. 78. 

* Ebd. S. 373. — Vgl. auch Beer, a. a. O. Bd. Il, S. 314 f.: „Die einzige 
Macht, die zu Gunsten der Polen einen Schritt tat, war dıe römische Curie, 
welche eine fieberhafte Tätigkeit entfaltete, um das Teilungsprojekt zu 
hindern. Seit dem Frühjahr 1771 wurden die katholischen Mächte Österreich, 
Frankreich und Spanien besfürmi, gegen die verabscheuungswürdige Politik 
in die Schranken zu treten.“ 


31) Wenck, a. a. O. Bd. I, S. 256. 


175 


Führerschaft über die öffentliche Meinung Europas Voltaire, und Vol- 
faire hatte in seinem Glückwunschbriefe an Friedrich den Großen") 
die polnische Teilung sanktioniert. Rousseaus Einfluß auf Deutsch- 
land gelangte dagegen erst gegen Ende der siebziger Jahre in der 
Sturm- und Drangbewegung voll zur Entfaltung. Aber auch das 
stärkere Einströmen seiner Ideen würde — wie bereits ausgeführt — 
allein kaum ausgereicht haben, um für einen großen Teil der deut- 
schen Zeitgenossen das bisher gültige Bild Katharinas zu zerstören, 
wenn die Einwirkung seiner Ideen nicht zusammengefallen wäre mit 
der Umgruppierung der Mächtekonstellation, die sich im Verlaufe 
der achtziger Jahre vollzog. 

In den siebziger Jahren aber behaupteten das Feld der offent- 
lichen Meinung noch die Aufklärer von vorrousseauscher Prägung, 
die Generation, die mit dem Erlebnis der Taten und Handlungen 
Friedrichs Il. groß geworden war, die seinen aufgeklärten Absolutis- 
mus als einen ungeheuren Fortschritt im Vergleich zu dem Despotis- 
mus der früheren Herrscher empfunden und gefeiert hatte, und die 
an ihm und seinen Nachahmern auf den Thronen von Petersburg und 
Wien als vorbildlichen Gestalten des Herrschertums festhielt. 

Auch der Kampf, den diese Apologeten des aufgeklärten Ab- 
solutismus führten, verlief in der Hauptsache noch ganz in den her- 
kömmlichen Formen. Wie einst Friedrich der Große seine Ansprüche 
auf Schlesien in einer Reihe von „Staats- und Flugschriften“ offi- 
ziellen und halboffiziellen Charakters’) vor der Öffentlichkeit be- 
gründete und begründen ließ, so hatten auch die Teilungsmächie 
von 1772 eine Reihe von Deklarationen erlassen, die ihren Eingriff 
in das polnische Ländergebiet rechifertigten™). Diese riefen natürlich 
sowohl von polnischer Seite als auch in den neutralen Ländern eine 
Anzahl von Gegenschriften hervor, in denen die in diesen De- 
klarationen aufgeführten Begründungen der Rechtmäßigkeit des 
Vorgehens der Teilungsmachte untersucht und bestritten wurden»). 
Gegen diese wandten sich wiederum die Apologeten der Monarchen 
von Preußen, Österreich und Rußland. Für den Umfang, den diese 
Polemik annahm, ist es bezeichnend, daß das Erscheinen einer der 
heftigsten Anklageschriften aus dem neutralen Ausland, der mit der 
Druckangabe London 1773 versehenen „Observations sur les décla- 
rations des cours de Vienne, de Petersbourg et de Berlin au sujet 
du démembrement de la Pologne“**), nicht weniger als von vier 
solcher apologetischen Repliken begleitet war"). 

Unter diesen vier Repliken ist schon um der Persönlichkeit des 
Verfassers willen die bemerkenswerteste die „Beantwortung auf die 
in französischer Sprache erschienene Schmähschrift betitelt: An- 


22) Oeuvres publiés par Beuchot. Bd. LXVIII (1833), S. 6. 

ss) Koser, a. a. O. Bd. IV, S. 121 l. 

24) Bilbasov: Weltliteratur, a. a. O. Bd. I. Nr. 182, 199, 201, 202, 205, 216, 236. 
38) Ebd. Nr. 207, 209, 211, 212, 213, 234, 235, 243, 260, 261, 289, 297. 

20) Ebd. Nr. 206. 

31) Ebd. Nr. 208, 214, 215, 267. 


174 


merkung über die Erklärung der Wiener, Petersburger und Berliner 
Höfe, die Zergliederung der Republik Polen betreffend von Fr. 
v. d. Trenck, Aachen 1773“. In der Gesinnung und Haltung dieses 
allerdings mehr durch seine abenteuerlichen Schicksale, seinen mehr- 
fachen Wechsel in der Staatszugehörigkeit — er war nacheinander 
preußischer, russischer und österreichischer Untertan —, durch seine 
neuerdings angezweifelte romantische Liebesaffare mit einer preu- 
bischen Prinzessin und durch seine lange Kerkerhaft auf preußischen 
Festungen als durch seine publizistische Tätigkeit bekannten Mannes 
kommt vielleicht am deutlichsten zum Ausdruck, wie sehr für die 
durch ihn repräsentierte Generation „Credo der Aufklärung“ — um 
diese Arnoldsche Wortpragung zu gebrauchen”) — und Antipathie 
gegen Polen fast gleichbedeutende Dinge waren. Nach Trenck 
retteten die drei Mächte Polen aus seiner „Blindheit“, und er fand 
es sehr überflüssig und wenig angebracht, daß die polnische Pu- 
blizistik und ihre Parteigänger in Europa fortfuhren, „unsere besten 
Fürsten Europas“ Usurpatoren „eben der Provinzen zu nennen“, 
welche der polnische konföderierte Klerus, dem Trencks besonderer 
Haß galt und zu dessen Charakferisierung er bezeichnenderweise 
das Wort „türkisch“ als Ausdruck für höchsten Fanatismus und 
tiefsten Immoralismus braucht, „selbst zu einer Türkenmördergrube 
machen wollte’. Der Pole sollte Gott auf den Knien für das Wunder 
danken, daß seine Länder den „türkischen Mordklauen“ entrissen 
und in die Hände toleranter Monarchen gelegt wären. „Welcher 
Unterschied“ — so fragt er — „ein Unterthan der frommen, der 
besten Theresia, des großen nordischen Friedrichs oder eines nieder- 
trachtigen beirügerischen Mufti zu werden. Alles dieses hat Pohlen 
eben der erhabenen Catharina zu danken, die es durch Verführung 
arglistiger Brüder so grob beleidigie und dero Gnade und Mitleid 
es sich durch so viel schändliche Manifeste und Blutbader unwürdig 
gemacht hat. Mögte doch Pohlen unserm Europa zum Schreckbilde 
dienen und denen die Augen öffnen, die dieses Reich in seinem 
gegenwärtigen Zustande bedauern und über eine Zergliederung 
murren“®). Härter konnte wohl nicht über Polen abgeurteilt und 
energischer wohl kaum wenigstens das moralische Recht der drei 
Ostmächte und insonderheit der russischen Carin, „welche ganz 
Europa bewundert und die ihre despotische Gewalt nur für den 
Wohlstand und für die Freyheit treuer Unterihanen braucht“), be- 
gründet werden als in der Broschüre Trencks®). Daß sein Urteil 


28) Ebd. Nr. 215. 

20) a. a. O. S. 74. 

30) Trenck, S. 17, 40f., 59. 
31) Ebd. S. 65. 

..») Arnolds Bemerkungen über diese Schrift, der „billig zweifeln“ 
möchte, „ob wir es mit einer ernsigemeinten Apologie“ zu tun haben 
la. a. O. S. 74 f.) erscheinen nicht überzeugend. Bilbasov (Weltliteratur a. a. 
O. Bd. I. S. 208 f.), der das Machwerk Trencks „äußerst oberflächlich“ findet, 
setzt dennoch keinen Zweifel in die Ernstgemeintheit der apologetischen 
Tendenzen Trencks. 


12 NF 8 175 


aber nicht als ein zu exiremes aus dem Chorus der übrigen Zeit- 
stimmen herausfallt, zeigt ein Blick auf andere diesbezügliche 
Außerungen deutscher Zeitgenossen. Trenck hatte ausgeführt: „Wenn 
ein kluger Chirurgus dem Verwundeten das wilde Fleisch mit dem 
Lapide infernali reinigt und ihm dadurch Schmerzen verursacht, um 
den kalten Brand zu verhüten, thut er nicht ebenso recht und rühm- 
lich als die drey benachbarte Mächte Pohlens?“*) Einen solchen 
med:zinischen Eingriff hielt auch Wekhrlin für notwendig und wohl- 
tätig; aber er dachte dabei nicht so sehr an das Wohl der Polen als 
an das Interesse, das die Zivilisation Europas an dem Aufhören der 
polnischen Wirtschaft hatte. Daher ging er in seiner Rechtfertigung 
der Teilung Polens über Trenck noch weit hinaus und rief die 
Teilungsmächte auf, den Teilungsakt zu wiederholen, da es auch in 
dem polnischen Rumpfstaat niemals zu geordneten Zuständen 
kommen werde”). Es war dieselbe Auffassung, die später Seume 
vertrat, wenn er auch noch die folgenden Teilungen „kosmisch ge- 
nommen“ als eine Wohltat für die Menschheit bezeichnete®®). 


2. 


Zur Zeit der ersten polnischen Teilung war die Parteinahme in 
bezug auf das Für und Wider die Carin Katharina Il. unter ihren 
deutschen Zeitgenossen in der Weise vor sich gegangen, daß alles, 
was fortschrittlich und sozusagen liberal dachte — und das war der 
ganz überwiegend größere und vor allem der namhaftere Teil der 
damaligen deutschen Publizistik — sich mit seinen Sympathien auf 
der Seite der Teilungsmächte sah, während die konservativ-reaktio- 
nären Elemente — in Deutschland, wie überall, vornehmlich der 
katholische Klerus — für die Sache der vergewaltigten Polen ein- 
traten. Dazu kamen die Vertreter einer dritten, allerdings noch in 
der ersten Entwicklung begriffenen Richtung, die Wortführer der 
jüngeren Generation der Aufklärung, die sich mit demokratisch- 
philanthropisch-pazifistischen Ideen erfüllten, wie sie mit dem Ein- 
flusse der Vorbilder und Lehren aus den Romanen und philosophisch- 
politischen Schriften Rousseaus damals in Deutschland gerade Fuß 
zu fassen begonnen hatten. Diese Richtung wird aber in dem fol- 
genden Jahrzehnt, den achtziger Jahren, immer stärker, so dab sich, 
je mehr wir uns dem Untergange der polnischen Republik nähern, 
der Charakter der oben skizzierten Parteistellung der deutschen 
Publizistik von 1772 diametral verändert. Denn von nun an sind es 
die „Erben der Aufklärung“, die sogen. Illuminaten, die in Deutsch- 
land die Sache der Polen verfechten, und ihnen gegenüber nehmen 
die als Dunkelmanner oder Obskuranten von den Illuminaten ver- 
spotteten oder verschrienen Hüter des Bestehenden für Katharina 
und Friedrich Wilhelm Il. Partei. 


33) Trenck, a. a. O. S. 47. 
34) Chronologen, Jg. 1779, Bd. Il, S. 94. 
38) Seume, a. a. O. S. 449 f. 


176 


Die Bezeichnungen „Illuminaten“ und „Obskuranten“, die Robert 
Franz Arnold zur Benennung der beiden Hauptrichtungen in der 
damaligen deutschen Publizistik verwendet hats), wollen im großen 
und ganzen dasselbe besagen wie unsere etwas weniger bestimmte 
Unterscheidung in eine ältere und eine jüngere Generation von Ver- 
iretern der deutschen Aufklärung, die im Streite der Meinungen sich 
damals als Antagonisten befehdeten. Aber ganz abgesehen davon, 
daß die Bezeichnung „Illuminaten“ fro der Ausdehnung auf sehr 
weite Kreise, die man unter diesem Begriffe zusammenfassen darf), 
vielleicht noch etwas zu speziell ist’), kann man diesen Ausdruck 
doch erst seit den neunziger Jahren gebrauchen. Denn dieses Schlag- 
wort, das seinen Ursprung zunächst bloß in dem 1776 von dem Ingol- 
städter Universitätsprofessor Adam Weishaupt gegründeten und 
1784 von der bayrischen Regierung aufgelösten „Illuminafenorden“ 
mit freimaurerischen und antijesuitischen Tendenzen hatte, erhielt 
den vollen Umfang seines Begriffes erst, als die französische Revo- 
lution und ihr Widerhall in Deutschland die deutsche öffentliche 
Meinung in zwei große feindliche Lager schied. Damals wurde von 
den Verteidigern des Bestehenden, die überall hinter den Vorgängen 
in Frankreich die Wirkungen von geheimen Gesellschaften frei- 
maurerischer Provenienz witterten, die Bezeichnung „Illuminat“ als 
Schelte für jeden gebraucht, der auch nur von ferne der Sympathie 
mit dem französischen Umsturze verdächtig schien, und die Geschol- 
tenen replizierten, indem sie mit der Bezeichnung ihrer Gegner als 
~Obskuranten“ die alte Wortprägung des sechzehnten Jahrhunderts 
von neuem in Umlauf brachten. Wir dürfen uns daher dieses Schlag- 
wortes erst nach dem Ausbruche der französischen Revolution 
bedienen. 

Mit der Einwirkung der französischen Revolution auf die gleich- 
zeitige öffentliche Meinung Deutschlands aber haben wir ein Moment 
berührt, das auch für die Beurteilung der beiden lekten polnischen 
Teilungen durch die deutschen Publizisten von ausschlaggebender 
Bedeutung geworden ist. Und zwar in mehrfachem Betracht: Denn 
einmal führte dieses große welthistorische Ereignis dazu, daß sich 
die deutsche Publizistik und das deutsche Publikum in einem viel 
höheren Maße politisierten, als das bei den anderen Haupt- und 
Staatsaktionen des Jahrhunderts: Palastrevolutionen, Kriegen, Frie- 
densschlüssen u. dergl. bisher der Fall gewesen war**), Sodann 
schien — wenigstens in ihren Anfängen — die Revolution in höch- 
stem Maße die freiheitlichen und philanthropischen Forderungen der 


se) Arnold, a. a. O. S. 73, 135 f. 

87) Vgl. darüber auch das Kapitel: „Die Revolution und der deutsche 
Volksgeist“ in K. T. Heigels Deutscher Geschichte seit dem Tode Friedrichs 
d. Gr. bis zur Auflösung des alten Reiches. Bd. I (1899), S. 303 f. 

33) Arnold, a. a. O. S. 73, sagt bezeichnenderweise „die Erben der Auf- 
klärung, die Illuminaten und Freiheitsschwärmer“. 

3) Vgl. die aufschlugreidren Belege in dem Kapitel „Die Revolution und 
der deutsche Volksgeist“ bei Heigel a. a. O. 


177 


Zeit zu erfüllen und bestarkte daher nicht nur die bereits in dem 
Geiste Rousseaus groß gewordene jüngere Generation der Auf- 
klarung in ihren Ideen, sondern gewann auch unter der älteren 
manchen Anhänger. 

Es gab Zeitgenossen, die freilich stark übertreibend behaupten 
wollten, daß alle Gelehrten des damaligen Deutschlands Illuminaten 
seien‘). Selbst unter den Geistlichen beider Konfessionen griff der 
»Philanthropisch-kosmopolitische Schwindel des Zeifalfers“ um sich, 
so daß einer der führenden Obskuranten versicherte: „So viel ich 
alte und junge Theologen nach modernem Schnitt habe kennen lernen, 
so viel Demokraten und Verteidiger der französischen Revolution 
habe ich kennen lernen).“ Diese deutschen Sympathien für die 
französische Revolution kamen aber auch den Polen insofern zugute, 
als die Zeitgenossen den Umschwung in Frankreich — wie wir noch 
sehen werden — mit der freilich nur kurzen und Episode bleibenden 
Wiedergeburt des polnischen Staatswesens um die Wende der acht- 
ziger und neunziger Jahre zu vergleichen liebten. Wie gegen die 
„polnische Revolution“, die sie schon im Keime zu ersticken wußte, 
trat aber die russische Carin auch gegen die französische Revolution 
als Vorkämpferin des Absolutismus in die Schranken. Zwar wollte 
es russischerseiis zu keinen positiven Taten gegen Frankreich 
kommen, wie sie die Obskuranten in Deutschland von Katharina 
entsprechend ihres revolutionsfeindlichen Gestus erwarteten. Aber 
die Autorität, die sie, die lebte der großen Monarchentrias des auf- 
geklärten Absolutismus, als unversöhnliche Gegnerin in die Wagschale 
zu werfen hatte, blieb ihr bei allen Revolutionsfeinden Deutschlands 
um so weniger bestritten, als sie sich nicht wie die Mehrzahl ihrer 
gekronten Standesgenossen zu irgendwelchen Kompromissen mit den 
Neufranken herbeigelassen hatte, während natürlich diese doppelte 
Kampfstellung der Carin gegen die östliche und die westliche Revo- 
lution noch mehr dazu beitrug, ihr bereits infolge der Greuel des 
zweiten Türkenkrieges stark geschmälertes Renommee bei den 
deutschen Illuminaten völlig zu zerstören. So lenkten die Ereignisse 
der Revolution in Frankreich das Interesse der deutschen Zeit- 
genossen an den Vorgängen in Polen nicht nur nicht ab, sondern 
ließen diese unter dem. Eindrucke der großen Geschehnisse im 
Westen vielfach erst in einem neuen und interessanten Lichte er- 
scheinen. Ja, es wird vielleicht nicht zuviel gesagt sein, wenn man 
behauptet, ohne das Erlebnis der französischen Revolution wäre es 
den deutschen Zeitgenossen nicht möglich gewesen, den Grad von 
Wärme aufzubringen, den ihre Polensympathie beim Untergange des 
polnischen Reiches aufweist. 

Denn diesen Sympathien standen doch gerade für die geistes- 
freien Kreise Deutschlands die größten Hemmungen entgegen, und 
wir werden uns daher nicht wundern, wenn die deutschen Urteile 


0) Ebd. S. 313. 
1) Ebd. S. 285 f. 


178 


uber Polen noch lange nichi wesentlich anders klingen, als sie zur 
Zeit der ersten polnischen Teilung lauteten. Anläßlich des Teilungs- 
reichstages von 1773 hatte der sächsische Gesandte in Warschau, 
Baron Essen, ein notorischer Polenfreund, im Hinblick auf die scham- 
lose Käuflichkeit und die stumpfe Gleichgültigkeit der polnischen 
Landboten, die den Teilungstraktat zu genehmigen hatten, seiner Re- 
gierung mitgeteilt, daß die Zustände in Polen auch noch der schwär- 
zesten Berichterstattung in den ausländischen Journalen spotieten. 
Er hatte hinzugefügt: „Diese Verderbtheit und dieser Verfall der 
Sitten laßt mich fürchten, daß das Unglück der Nation noch nicht auf 
seinen Gipfel gelangt ist und daß sich über ihr ein neues Ungewitter 
zusammenzieht).“ 

Blicken wir etwa ein Dutzend Jahre weiter, so fallt Forster, der 
doch gewiß kein Polenfeind war, wenn auch bei seiner galligen 
Schilderung sein Unbehagen über seine verfehlte Wilnaer Wirksam- 
keit mit in Anschlag gebracht werden muß, in einem Briefe an 
Lichtenberg vom 18. Juni 1786 über die physische und moralische 
Verfassung des polnischen Volkes folgendes vernichtende Urteils»): 
„Oft habe ich mir hier schon in vollem Ernst Ihren Blick und die 
vortreffliche Art, die Sitten zu malen, gewünscht. Sie würden an 
diesem Mischmasch von sarmatischer oder fast neuseeländischer 
Roheit und französischer Superfeinheit, an diesem ganz geschmack- 
losen, unwissenden und dennoch in Luxus, Spielsucht, Moden und 
äußeres Clinquent so versunkenen Volke reichlichen Stoff zum 
Lachen finden; — oder vielleicht auch nicht; denn man lacht nur über 
Menschen, deren Schuld es ist, daß sie lächerlich sind; nicht über 
solche, die durch Regierungsformen, Auffütterung (so sollte hier die 
Erziehung heißen), Beispiel, Pfaffen, Despotismus der mächtigen 
Nachbarn, und ein Heer französischer Vagabunden und italienischer 
Taugenichtse, schon von Jugend auf verhunzt worden sind und keine 
Aussicht zur künftigen Besserung vor sich haben. Das eigentliche Volk, 
ich meine jene Millionen Lastvieh in Menschengestalt,die hier schlechter- 
dings von allen Vorrechten der Menschheit ausgeschlossen sind und 
nicht zur Nation gerechnet werden, ohnerachtet sie den größten 
Haufen ausmachen; — das Volk ist nunmehr wirklich durch die lang- 
gewohnte Sklaverei zu einem Grad der Thierheit und Fühllosigkeit, 
der unbeschreiblichsten Faulheit und stockdummen Unwissenheit herab- 
gesunken, von welchen es vielleicht in einem Jahrhundert nicht wieder 
zur gleichen Stufe mit anderm europäischen Pöbel hinaufsteigen 
wurde, wenn man auch desfalls die weisesten Maßregeln ergriff, 
wozu bis jet auch nicht der mindeste Anschein ist. Die niedrige 
Klasse des Adels, dessen äußerste Armuih ihn abhängig macht und 
zu den verächtlichsten Handarbeiten verdammt, ist fast in der näm- 
lichen Lage, was Dummheit und Faulheit betrifft; und in Ansehung 


#2) Zit bei E. Herrmann: Gesch. des russ. Staats. Bd. V (1853), S. 542. 


Š rE Scorch: a. a. O. Bd. VII, S. 343 f., angeführt bei Arnold, a. a. O. 


179 


der kriechenden Niederträchtigkeit und des zertretenden Mißbrauchs 
seiner etwa bei Gelegenheit ihm zufallenden Macht ist er noch viel 
verworfener. Der höhere und reichere Adel ist, im ganzen genom- 
men, nur eine Schattierung der vorhergehenden Klassen, mit mehr 
Gewalt. Jeder Magnat ist ein Despot, und läßt Alles um sich her 
fühlen, wer er sei. Denn nichts ist über ihm, und selbst die größten 
Verbrechen büßt er höchstens mit einer Geldstrafe oder einem Ver- 
haft von etlichen Wochen, wobei er ein Palais zum Gefängnis hat 
und die ganze Zeit mit seinen Freunden in Schmausen und Lusibar- 
keiten aller Art zubringt.“ Und abermals rund fünf Jahre später 
urteilt Fichte auf seiner polnischen Reise von 1791, daß er den pol- 
nischen Staat reif für den Untergang halt gleich einer jener bau- 
fälligen Hütten, wie sie die polnische Hauptstadt mitten unter Pracht- 
palasten in so großer Zahl sehen ließ). 

Dieses letztere Urteil darf jedoch kaum zeitgemäß genannt 
werden. Denn Fichte kam in Warschau an, als die neue polnische 
Verfassung vom 3. Mai 1791 bereits proklamiert war, und dieser von 
den polnischen Patrioten mit den optimistischsien Hoffnungen 
begrüßte Akt nun auch im Auslande wie mit einem Zauberschlage 
die völlige Umstellung der öffentlichen Meinung zugunsten der Polen 
bewirkte. Es vollzog sich damit ein Stimmungsumschwung von 
solcher Plößlichkeit, daß er sogar in der Geschichte der so wandel- 
baren öffentlichen Meinung ein Unikum darstellen dürfte. Der Stim- 
mungswedhsel, der etwa fünfzig Jahre später gegenüber der Hohen 
Pforte eintrat, als diese ihre europäisierenden Reformen begann, 
und der einem verrugten Deutschen den spottenden Ärger entlockte: 
„Die Turken hielt man alle für ebenso großmütig als den Bassa Selim 
in Mozarts Entfuhrung“**) war jedenfalls viel länger vorbereitet. 

Allerdings steht Fichte mit seiner Skepsis unter seinen begeister- 
ten Landsleuten — denn wie überall, so war auch in Deutschland die 
bisherige Polenverachtung umgeschlagen in eine glühende Polen- 
verehrung — nicht völlig vereinzelt da. Aber die Stimmen, die 
schon damals der neuen Schöpfung keinen langen Bestand pro- 
phezeiten, wie der alte Polenfeind Wekhrlin**) oder wie Schiozer*’), 
sind nicht gerade zahlreich. 

Die neue Verfassung stellte die Krönung der Reformbestrebungen 
des sogen. langen oder vierjährigen Reichstages dar“), der in erster 
Linie die Macht der polnischen Krone verstärken wollte, damit sie 
in Zukunft den Umirieben der russischen Partei und der unbot- 


“) J. G. Fichtes Leben u. literar. Briefwechsel, hrsg. von I. H. Fichte. 
Bd. I (1862), S. 125. 


4s) A. v. Grimm: Wanderungen nach Süd-Osten. Bd. Il (1856), S. IV. 
4¢) Paragrafen, Jg. 1791, Bd. Il, S. 217. 


47) Staatsanzeigen Bd. XVI (1791), S. 328 und noch einmal Bd. XVIII 
(1792), S. 130. 

48) Vgl. Walerian Kalinka: Der vierjahrige polnische Reichstag 1788 bis 
ited on sn Polnischen übersetzte deutsche Originalausgabe. Bd. Il 
1898), S. 665 f. 


180 


mäßigen polnischen Aristokratie wirksam entgegenzutreten ver- 
mochte. Sie war unter Überrumpelung dieser russischen Söldlinge 
und unter Begünstigung des Gesandten des mit den Polen seit 1791 
verbündeten Preußen auf dem Wege eines Staatsstreiches ins 
Leben getreten. Durch sie wurden die beiden wichtigsten Adels- 
privilegien der bisherigen Verfassung, das Recht der Königswahl 
und das liberum veto, kassiert. Denn Polen sollte nach dem Tode 
des kinderlosen Stanislaus August ein Erbreich mit einer Dynastie 
aus dem sächsischen Herrscherhause bilden, und dem einzelnen 
Landboten wurde mit dem Aufhören seines Einspruchsrechtes und 
seiner Konföderationsfreiheit die Möglichkeit genommen, nach 
eigener Willkür den ganzen Reichstag lahmzulegen. Des ferneren 
verhieß die neue Verfassung, eine Milderung der ständischen Gegen- 
sake und ein friedliches Zusammenleben der verschiedenen Kon- 
fessionen herbeizuführen. 

Man sieht, es waren Grundsätze, von denen die einen, wie die 
Wiederherstellung der Erbmonarchie, bei den deutschen Obskuranten 
ihren Eindruck nicht verfehlen konnten, während die anderen, die 
Beschränkung der adligen Privilegien, der Ausgleich der ständischen 
Gegensätze und die proklamierte Toleranz den Illuminaten wohl- 
gefällig sein mußten. Daher der nahezu ungeteilte Beifall, den die 
polnische Konstitution in der gleichzeitigen deutschen öffentlichen 
Meinung hervorrief. 

Unter den führenden Organen der Obskuranten feierte das im 
allgemeinen maßvolle und besonnene „Hamburger Politische Journal“ 
mit großer Wärme die durch die Verfassung vom 3. Mai angebahnte 
Restauration der Monarchie in Polen. Es pries den bisher zu sehr 
verkannten Polenkönig wegen seines „Genies“ und seiner „Ent- 
schlossenheit“, mit der er in kühner Tat dem kühnen Projekte zur 
Wirklichkeit verholfen habe, und stellte die Prognose, daß fortan 
Polen wieder im Rate der Völker die seiner Größe und seiner Ge- 
schichte gebührende Stellung einnehmen würde; denn „solange Polen 
monarchisch beherrscht wurde, war es blühend und der Gesekgeber 
des Nordens“). Besonders glorwürdig erschien ihm der polnische 
Konig im Gegensab zu dem französischen, der die Monarchie in 
Frankreich zu völliger Bedeutungslosigkeit habe herabsinken lassen. 

Nicht minder prompt als die Organe der Obskuranten reagierten 
die Illuminaten auf die ihnen besonders zusagenden Verheißungen 
der neuen Verfassung. Am promptesten sicherlich der immer von 
der jeweiligen Tagesstimmung abhängige Schubart. Noch zu Anfang 
April hatte er wieder einmal orakelt: „Der lezte Akt des polnischen 
Trauerspiels dürfte sich wohl wieder mit einer neuen Zerstückelung 
enden®).“ Nach dem 3. Mai aber kannte seine Polenbegeisterung 
schier keine Grenzen mehr, und seine pathetischen Ergüsse konnten 
kaum von den schwungvollsten Tiraden, in denen man sich in Polen 


+) Jg. 1791, Bd. I, S. 479, angeführt bei Heigel a. a. O. Bd. l. S. 386. 
se) Ges. Schriften, Bd. V, S. 255. 


181 


selbst über die neue Verfassung erging, übertroffen werden, wenn 
er seine Hoffnungen auf die polnische Wiedergeburt in den dem 
Homer abgeborgten Hexametern laut kundtat: 


„Nenne Sarmatiens Dichter, nenn die heiligen Namen: 
Einem Monde gleicht Stanislaus an deinem Olympos, 

Ihn umglühen die Vaterlandsfreunde wie leuchtende Sterne. 
Jauchze Polonia nun! Deine Nacht ist auf ewig gelichiet!**)“ 


Schubart, der schon im Oktober des Jahres 1791 starb, hat den Unter- 
gang des polnischen Staates nicht mehr erlebt. Er hätte uns diesen 
Proteus der damaligen deutschen öffentlichen Meinung vielleicht 
wiederum in einem neuen Gewande gezeigt. 

Wie Schirach, der Herausgeber des „Hamburger Politischen 
Journals“, so hat auch Schubart die Vorgänge in Polen in eine Pa- 
rallele zu den französischen gese i: „Es ist ein großes Gedankenfest 
für den Philosophen” — so schrieb er —, „daß sich zu gleicher Zeit 
zwei der mächtigsten Reiche in Europa aus einer verdorbenen Ver- 
fassung in eine bessere hinauszudringen streben. Wiederherstellung 
der Menschenwürde, Philosophie und Freiheit — Begriffe, die man 
in despotischen Staaten kaum ahnen darf — sind jest in Warschau 
wie in Paris im Schwange. Der Pole arbeitet sich aus Halbbarbarei 
heraus; er ist gleichsam noch halb Mensch und halb Erdkloß. Der 
Franke aber übernahm die weit schwerere Arbeit: die durch Gewalt- 
tat und Sittenlosigkeit verlorene Schnell- und Tatkraft wiederherzu- 
stellen. Beide Reiche brauchen einerlei Mittel, nämlich Wiederher- 
stellung der bürgerlichen Freiheit und Auswurzelung des Despotis- 
mus und Adelsstolzes‘s*). Ahnliche Vergleichungen zwischen den 
beiden Ländern bringt er auch noch an anderen Stellen; unter dem 
Eindrucke des zunehmenden Radikalismus aber fallen sie für die 
Polen immer günstiger aus“). 

Es sollte kein Mißklang in dem Jubel der öffentlichen Meinung 
Deutschlands uber das sich wieder aufrichtende Polen aufkommen. 
Fur diese Stimmung ist vielleicht das bezeichnendste Beispiel der 
Reisebericht eines Anonymus, der 1791 und 92 in der „Berlinischen 
Monatsschrift“, des von den Obskuranten besonders heftig des Illu- 
minatismus verdachtigten**) Journals des alten „Löschpapierdespoten“ 
Nicolai erschien®). Er zeigt sich auf das geflissentlichste bemüht, 
alles in Polen im rosigsten Lichte zu sehen und auch überall an den 
Stellen, an denen man früher bei den Polen nur Tadelnswertes ge- 
funden hatte, sie zu verteidigen oder zu entschuldigen. Auch die 
„Nachrichten über Polen‘ des Militscher Kreisphysikus Kausch, der 


51) Arnold, a. a. O. S. 120 f. 

82) Vaterl. Chronik, Jg. 1791, S. 307. 

88) Vgl. die von Arnold a. a. O. S. 121 Anm. 1 zit. Quellenstellen. 
t) Vgl. Heigel, a. a. O. Bd. I, S. 313 f. 


g b>) = XVIII (1791), S. 162 f. — Bd. XIX (1792), S. 545 f. — Bd. XX (1792), 
. 166 f. 


182 


aus seiner großen ärztlichen Praxis unter dem benachbarten pol- 
nischen Adel“) mit den polnischen Verhältnissen wohlveriraut war, 
„sind ebenfalls nichts als eine lange Apologie und Palinodie von 
seiten der Aufklärung“). Freilich vermochte der Anonymus der 
„Berlinischen Monatsschrift" seine Besorgnis über die Schwierigkeiten, 
auf die die Verfassung vom 3. Mai bei ihrer Durchführung stoßen 
würde, nicht zu unterdrücken“). Solche Befürchtungen sollten nur 
zu bald zur Wirklichkeit werden. Die durch den Staatsstreich vom 
Mai 1791 überrumpelte russische Partei sammelte sich wieder in der 
Konföderation von Targowice und rief die Carin als Garantin der 
bisherigen Verfassung zur Intervention in Polen auf, die infolge der 
Beendigung ihres zweiten Türkenkrieges in der Lage war, sich den 
polnischen Angelegenheiten wieder mit vollem Interesse und mit 
voller Energie zuzuwenden. Zum Unglück Polens kam es auch an- 
gesichts der Vorgänge in Frankreich, die eine gemeinsame Aktion 
der legitimen Mächte in Deutschland gegen die Revolution herbei- 
führten, zu einer Verständigung zwischen Österreich und Preußen 
und damit zu einem Systemwechsel der preußischen Politik im Osten, 
dem bald auch die Verständigung mit Rußland folgte. Die Polen 
hatten sich den Wünschen des Berliner Kabinettes nach der Ab- 
tretung von Danzig und Thorn zur Abrundung der westpreußischen 
Provinz immer hartnäckig widersebt.) Als aber nun Katharina mit 
neuen Annexionsgeliisten polnischer Gebietsteile hervortrat, da ergab 
sich für Preußen eine willkommene Gelegenheit, im Zusammenwirken 
mit Rußland diesen Lieblingswunsch Friedrich Wilhelms Il. und seines 
Ministers Herbkberg zu erfüllen. Infolgedessen wurde die bisherige 
protektionistische Polenpolitik aufgegeben, und Preußen schwenkte 
in das Lager der Gegner der Republik ab. Der Übermacht der rus- 
sischen Truppen, die bereits im Jahre der Verfassungsproklamation 
vom 3. Mai in Polen erschienen und denen nach der Verständigung 
der Petersburger und Berliner Regierung im Januar von 1793 auch 
noch preußische folgten, vermochten die Polen trok anfänglich tap- 
feren Widerstandes unter dem Fürsten Poniatowski, dem späteren 
napoleonischen General, und unter Taddeus Kosciusko auf die Dauer 
sich nicht zu erwehren. 

Troß des Sieges, den KoSciusko im Juli 1792 bei Dubienka er- 
focht, war der König einer der ersten, der das polnische Reformwerk 
preisgab und das Manifest der verfassungswidrigen Targowicer Kon- 
foderation unterschrieb, durch das die Verfassung vom 3. Mai auf- 
gehoben wurde. Auf dem sogen. stummen Reichstag von Grodno 
wurde die Zustimmung der Nation zu der zweiten polnischen Teilung 
erzwungen, die Preußen Danzig und Thorn, Rußland aber alles pol- 
nische Land einbrachte, das östlich der Linie liegt, die Chocim und 


se) Vgl. Joh. Jos. Kausch: Schicksale (1797). 
67) Arnold, a. a. O. S. 119. 

se) Bd. XVIII, S. 162. 

s) Vgl. Kalinka, a. a. O. Bd. Il, S. 248 f. 


185 


Pinsk mit den Landstrichen oberhalb Dünaburgs und südlich der 
kurlandischen Grenze verbindet). 

Für den bereits erheblich gewachsenen Einfluß der öffentlichen 
Meinung wie für die erschütterte Position des Absolutismus ist es 
ungemein bezeichnend, daß die Teilungsmächte sich in ihren De- 
klarationen über diesen neuen Eingriff in den polnischen Länder- 
bestand nicht mehr wie 1772 mit „staatsrechtlichen Velleitäten“ be- 
gnügen zu dürfen glaubten®:), sondern daß sie wirksamere Gründe 
dafür ins Feld zu führen suchten. Denn wenn sie nun ausführten, 
daß sie diesen Eingriff hätten vornehmen müssen, um wie in Frank- 
reich so auch in Polen den Jakobinismus zu bekämpfen und durch 
Einschränkung der polnischen Grenzen sein Übergreifen auf ihre 
eigenen Staaten zu verhindern, so konnten sie darauf rechnen, mit 
solchen Erklärungen — trokdem sie die Tatsachen völlig verdrehten — 
zum mindesten bei den Obskuranten Beifall zu finden. 

Man könnte nun vielleicht meinen, daß auch die Illuminaten, 
deren Hoffnungen auf den Anbeginn einer neuen humanen und zivili- 
sierten Epoche der polnischen Geschichte durch die Konföderation 
von Targowice und den Reichstag von Grodno so jäh zusammen- 
gebrochen waren, an ihren noch so jungen Sympathien mit den Polen 
wieder irre geworden wären. Denn die Zwietracht in Polen und die 
Schwäche des Königs, den sie soeben noch um seines Genies und 
seiner Entschlossenheit willen in den Himmel gehoben hatten, hatten 
zweifellos das meiste zu der Katastrophe beigetragen. Aber gerade 
das Gegenteil war der Fall. Denn die deutschen Publizisten aus den 
Illuminatenkreisen hielten, wohl nicht unbeeinflußt durch die polnische 
Emigration, deren erste Welle sich damals über Deutschland ergoß, 
an ihrer Voreingenommenheit, ihrem Mitgefühl und ihrer Bewun- 
derung für die Polen fest und machten allein die Teilungsmächte, 
insonderheit aber die Selbstherrscherin aller Reußen für das neue 
Unglück des polnischen Volkes verantwortlich. 

War, wenn man um 1772 die Schuldfrage gestellt hatte, von 
Katharinas und Rußlands Anteil davon noch kaum die Rede ge- 
wesen"), so wurde das „tyrannische russische Kabinett“ jetzt immer 
lauter und schroffer der Anstiftung dieses neuen Verbrechens an der 
„Sache der Menschheit“ bezichtigt. Man sprach von trügerischen 
Furstenworten und Fürstenversicherungen, die nur gehalten würden, 
wenn eine genügend starke Macht sie dazu zwängen]. Es erschien 
eine „Untersuchung über die Rechtmäßigkeit der Teilung Polens“) 
mit dem Motto „Habe ich Unrecht, so beweise mir, daß es Unrecht 


eo) E. Hanisch: Die Geschichte Polens (1923), S. 260 f. 

#1) Arnold, a. a. O. S. 122. 

es) Ebd. S. 71. 

es) Gesch. u. Darstellung d. polnischen Revolution in ihren nähern u. 
entferntern Ursachen, entwickelt von einem Vetter des Hippolitus a Lapide. 
Germanien (Leipzig) 1796 (von Carl v. Woyda), S. 73 

*) Bilbasov: Weltliteratur, a. a. O. Bd. I, Nr. 731 und Arnold a. a. O. 
S. 123, Anm. 1. 


184 


sei; habe ich aber Recht, was verfolgst Du mich?“ Es war eine 
Schrift, „kalt, kühn, aber wahr“, wie sich der Publizist Andreas Reb- 
mann ausdrückte®). Hierin wurde ausgeführt, daß Katharina als 
Garantin über Polen zwar glauben konnte, ein Recht zu haben, die 
alte Verfassung zu schützen und die neue zu verwerfen. Polen aber 
bedurfte keiner fremden Hilfe, da es sich mit seiner Konstitution, 
die keine Rebellion, sondern eine Schöpfung zur Herbeiführung eines 
besseren Daseins war, selber geholfen hatte. Mit den Waffen in 
der Hand wurde dies Werk vernichtet und das alte verkehrte System 
in Polen von neuem begründet, und „das that die große gepriesene 
Monarchin, die Wissenschaften und Künste beschützt, die Städte und 
Länder anbaut, und sich durch ihre Klugheit und Festigkeit die Be- 
wunderung von Europa und fast der ganzen Welt erworben, aber 
durch diese einzige politische Finesse, durch diesen gewaltsamen 
Eingriff in die politischen Rechte einer freyen respektablen Nation... 
das ganze Gebäude ihrer Größe zerstört hat und bey jedem wohl- 
denkenden Manne ein Gegenstand der Verachtung geworden ist"). 
Von jeher habe die Carin — fährt der Verfasser, die Entrüstung der 
deutschen Philanthropen über die Greuel des zweiten Türkenkrieges 
wieder wachrufend, fort — zur Befriedigung ihrer Herrschsucht Gut 
und Blut ihrer Untertanen nicht geschont. Es koste ihr keine Skrupel, 
einen fremden Staat zu vernichten. Sie erhebe Ansprüche auf pol- 
nisches Gebiet mit derselben Maßlosigkeit, wie sie Alexander der 
Große auf die ganze Welt und auf den „Mond gemacht hatte“). Der 
anonyme Verfasser der „Untersuchungen“ versichert uns, daß seine 
Meinung keineswegs subjektiv, sondern der „vollgültiige Ausspruch“ 
eines großen Teiles des Publikums sei*), und wir dürfen ihm um 
so mehr vertrauen, als wir bereits bemerkten, wie eng die Sache 
Frankreichs und Polens für das Empfinden der liluminaten sich ver- 
schwisterte, und wie sehr sich Katharina bei diesen deutschen Pu- 
blizisten dadurch in Mißkredit brachte, daß sie durch Tat und Wort 
— ihre Annexionen und Deklarationen — beide bekampfte. 

Aber wenn es sich bei solchen und ähnlichen Zornesausbrüchen 
der Illuminatenblätter und Schriften im wesentlichen doch nur um 
Abwandlungen desselben Themas handelte), des Themas von der 
„ehrgeizigen“, „ruhmsüchtigen“, „ländergierigen Despotin“, das fur 
diese im allgemeinen nur mit Moralbegriffen arbeitenden Philan- 
thropen seit dem zweiten Türkenkriege ein feststehendes war und 
blieb, so taucht im Verlauf der Erörterung der zweiten polnischen 


es) Neues graues Ungeheuer, Jg. 1796, Bd. I, S. 12. 
es) (1794), S. 10. 

*] Ebd. S. 30. 

ee) Ebd. S. 27. 


es) Vgl. Der polnische Insurrektionskrieg im Jahre 179%. Nebst einigen 
freimütigen Nachrichten und Bemerkungen über die letzte Teilung Polens. 
Von einem Augenzeugen. (1797), S. 245. — Joh. Fr. Albrecht: Miranda, 
Königin im Norden. (1798), S. 294. — Katharine vor dem Richterstuhle der 
Menschheit. (1797), S. 9 | 


185 


Teilung zum erstenmal in der damaligen deuischen öffentlichen Mei- 
nung ein Motiv auf, das, weil es bereits politischer gefärbt ist, unser 
Interesse stärker in Anspruch nehmen darf als alle die bisher an- 
geführten Äußerungen der Zeitgenossen: die nun aufkommende und 
seither wenigstens in den Kreisen des deutschen Liberalismus nicht 
mehr verstummende Furcht vor der russischen Gefahr. 

Es warnten zwar einzelne Zeitstimmen davor, die russische Macht 
zu überschätzen, wie die Wekhrlins, der 1788 auf die prekäre Stellung 
Katharinas auf dem usurpierten Carenthrone und mit keineswegs 
richtiger Beurteilung der russischen Verhältnisse auf die Möglichkeit 
ihres Sturzes durch das Bojarentum hinwies™), oder wie die eines 
der damaligen deutschen Rußlandreisenden, indem er das Carenreich 
als einen bloß in Goldstoff gekleideten Koloß ohne Hemde nannte ri). 
Aber in welchem Maße sich die Vorstellung einer russischen Gefahr 
seit der zweiten polnischen Teilung in den deutschen Zeitgenossen 
festgesetzt hatte, zeigt folgender Sak des hannöverschen Kanzlei- 
sekretärs Johann Waekerhagen, der das berühmte Schlagwort des 
jungen Deutschland vom „Koloß auf tönernen .Füßen“':) vorwegnahm: 
„Sollte dieser Koloß, wie nach politisch-historischer Wahrscheinlich- 
keit doch wohl zu erwarten steht, indessen unter seiner eigenen 
Größe erliegen; sollte die eherne Obermasse die Füße von Ton zer- 
malmen: wenn sie dann nicht auf uns fällt, so werde ich mich freuen, 
zuviel gefürchtet zu haben).“ Das beweist ferner der Sab eines 
Apologeten Katharinas, der zu ihrer Glorifizierung geschrieben ist, 
aber dabei unbeabsichtigt gerade das bedrohliche Moment der un- 


7 Hyperboräische Briefe, Jg. 1788, Bd. I, S. 51: „Merken Sie sich, daß 
es vier bis sechs vornehme Familien in Rußland “gibt, welche ehrsiichtig 
genug sind, ihre Gedanken bis zum Thron zu erheben. Wenigstens haben 
sie thre geheimen Ansprüche darauf gewiß nicht aufgegeben. Dieses Ver- 
hältnis droht dem russischen Reiche heute oder morgen mit Spaltungen und 
Bürgerkrieg, und sichert Europa vor seinem Übermut.“ Vgl. auch Bd. Il, 
S. 233. Wir können in diesem Falle R. F. Arnolds Bewunderung für Wekhr- 
lin, dem er das Verdienst zuschreibt, „die tönernen Füße des Kolosses 
lange vor der Journalistik unserer Tage“ entdeckt zu haben (a. a. O. S. 78), 
nicht beistimmen. Seitdem die Kaiserin Anna Ivanovna im Jahre 1730 den 
lebten bereits schwachlichen Versuch, die bojarischen Machtansprüche des 
alten Moskauer Staates mit Hilfe ihrer deutschen Freunde, der Biron und 
Münnich, niedergeworfen hatte, konnte von derartigen Ambitionen des rus- 
sischen Adels in der russischen Geschichte nicht mehr die Rede sein. Vgl. 
W. Recke: Die Verfassungspläne der russischen Oligarchen im Jahre 1750 
und die Thronbesteigung der Kaiserin Anna Ivanovna. In Zeitschr. f. ost- 
europ. Geschichte Bd. II (1912), Heft 2, S. 202 ff. 

71) Minerva, Jg. 1797, Bd. Il, S. 312. — Zur Entstehung des Schlagwortes 
„Koloß auf tönernen Füßen“ vol. auch Elisa v. d. Recke: Mein Journal. 
Hrsg. u. erl. v. Johannes Werner. (1927), S. 183 (25. Mai 1794): „Bis jetzt 
siegen die Polen noch immer. Hat das Unglück dieser Nation” Energie 
gegeben und bleiben die Anführer unbestechbar, so kann der Koloß im 
Norden durch sie erschüttert werden.“ 


73) O. Ladendorf: Historisches Schlagwörterbuch. (1906), S. 226. 


78) Versuch eines Beweises, daß die Kaiserin von Rußland den West- 
phälischen Frieden weder garantieren könne, noch dürfe. Nebst einigen 
Bemerkungen über die nächsten Weltbegebenheiten. (1794), S. VII 


186 


erschöpflichen Machtfülle Rußlands sehr deutlich hervorhebt: „Wer 
gerade dann“ — sagt Erich Biester in seiner Katharina-Biographie —, 
„wenn die Staatskunstrichter seinen lezten Soldaten und seinen leb- 
ten Rubel berechnet zu haben glauben, mit furchtbarer Menschenzahl 
auftritt und Millionen in großmütiger Verschwendung wegschenkt, 
muß doch nicht am Ende seiner Kräfte und seines Reichtums 
stehen“ )].“ Wir werden bei unseren Betrachtungen über den Wandel 
in der Beurteilung des Teschener Friedens und der Garantierechte 
der deutschen Reichsverfassung, die Rußland in dem Friedensver- 
trage von 1779 eingeräumt wurden, noch darauf zurückzukommen 
haben. 

Hier sei nur noch ein Zeitdokument erwähnt, das das Vordringen 
der russischen Macht nach Westen weniger unter dem Gesichtspunkte 
einer Deutschland bedrohenden Politik als unter dem kosmo- 
politischen einer Zivilisationsgefahr behandelt und aufs engste mit 
Katharinas Aggressivität gegen die französische Revolution in Ver- 
bindung bringt. Es ist um so bedeutsamer, als es aus dem Kreise 
eines aufgeklärten Fürsten jener Tage stammt. Der Herzog Friedrich 
Christian zu Schleswig-Holstein und der dänische Dichter Jens Bag- 
gensen haben dieser Art von Russenfurcht in ihrem Briefwechsel 
typischen Ausdruck verliehen. Katharina figuriert unter den Chiffren 
dieser Briefe als die Stierin, wobei wohl weniger an die erotische 
Unersättlichkeit der Carin als an das schonungslose Vordringen ge- 
dacht werden soll. Die beiden Briefschreiber empfinden es als eine 
infamie, daß „die große Tartarei“ Polen nicht zur Ruhe kommen läßt 
und daß diese „Madame Attila“ mit einem „hunnischen Aufmarsch“ 
gegen Frankreich drohe und in „überhunnischen Manifesten“ sich als 
die Herrin der Welt aufspiele: „Ein barbarischer, abscheulicher, alle, 
selbst die wenigst delikate Menschheit empörender Stoff.“ — „Er- 
innern sich Ew. Durchlaucht“ — schreibt Baggensen noch vor Ab- 
schluß der polnischen Teilung —, „die Besorgniß, die ich einst vor 
etwa anderthalb Jahren äußerte — damals nur aus allgemeiner 
Physiognomie der Weltgeschichte abstrahiert — es möchte unserer 
heutigen Cultur eine ähnliche Zerstörung aus Nordasien bedrohen, 
wie die aus Nordeuropa ehemals der Römischen? — wahrlich, die 
Despotin scheint die Weissagung aufs Wort nehmen zu wollen. Der 
überfall jener Hunnen und Gothen und Wandalen hat wenigstens 
nichts barbarischeres als die gegenwärtige Verkehrungs- und Ver- 
heerungs-Anstalten der nur einem Schirach noch immer verehrungs- 
würdigen Nordischen Semiramis’).“ Wie sehr Friedrich Christian 
mit solchen Ausfällen seines Freundes einverstanden war, zeigt sein 
ungefähr um dieselbe Zeit geschriebener Brief an den Grafen A.P. 
von Bernstorff, in dem er Katharinas Unternehmungen als ebenso 


78) Abriß des Lebens u. d. Regierung d. Kaiserin Katharina Il. (1797), S. 120. 


76) Timoleon und Immanuel. Dokumente einer Freundschaft. Brief- 
wechsel zwischen Friedrich Christian zu Schleswig-Holstein und Jens Bag- 
gensen. Hrsg. v. H. Schulz. (1910), S. 81, 166, 170, 224. 


187 


unklug wie unmoralisch verurteilt: Sie bedecke sich wirklich nicht mit 
Ruhm, wenn sie, die Ehre der Kronen zu retien, mit Waffen gegen 
republikanische Grundsafe kampft’®). 

Eine weit herbere Einbuße aber als durch alles Bisherige sollte 
das Katharinabild der deutschen Zeitgenossen erfahren, als nun den 
vergewaltigten Polen in Taddeus Kosciusko ein Rächer erstand, der 
noch einmal im allerletzten Augenblicke ihrer staatlichen Existenz 
den alten kriegerischen Geist der Nation wachzurufen vermochte, 
freilich nur, um nach glänzenden Anfangserfolgen im Oktober 1794 
bei Maciejowice von den Russen unter Suvorov vernichtend ge- 
schlagen zu werden und selber als Verwundeter in die Gefangen- 
schaft des Gegners zu geraten. „Sein tapferer Versuch scheiterte 
an der Überlegenheit der disziplinierten Truppen. Auch ein Kosciusko 
konnte nicht aufhalten, was Jahrhunderte vorbereitet hatten, konnte 
die Schlachta nicht zu einem Heere machen, das einem Suvorov 
hätte widerstehen konnen’’)." 

Wir vermögen uns das Ausmaß der Wirkung, welche die Er- 
hebung der Polen unter Kosciusko auf die deutschen Zeitgenossen 
hatte, etwas deutlicher zu vergegenwartigen, wenn wir an eine uns 
zeitlich naher liegende analoge Erscheinung in der Geschichte denken 
wie an den Heldenkampf der Buren gegen den britischen Imperia- 
lismus. Aber vor dem Burenkriege, dessen zum Teil geradezu 
phantastische Dimensionen annehmende Wirkung auf unsere öffent- 
liche Meinung noch in aller Erinnerung ist, hat die polnische Er- 
hebung von 1794 das voraus, daß sie in Kosciusko einen wirklichen 
Helden hervorgebracht hat, „den einzigen Helden des Polentums 
unter Stanislaus August‘ (v. d. Brüggen), und daß dieser infolge- 
dessen im Vergleich mit der großen Gegenspielerin als eine kom- 
mensurable Große gewertet werden konnte. Hinzu kam nach dem 
meteorhaft plößlichen und glänzenden Aufstieg die Krone des Mar- 
fyriums und das mit stoischer Würde „nach dem Vorbilde altrömischer 
Burgerhelden“ ertragene Exil. Hinzu, daß durch seine Tat die 
Schmach von Targowice, vor der doch auch die gluhendsten Polen- 
freunde die Augen nicht vollig zu schließen vermochten, mehr als 
gesuhnt gelten konnte, und das um so mehr, als es gerade die bis 
dahin wegen ihrer halb tierischen Verstumpftheit so viel gescholtenen 
polnischen Bauern waren — man denke an Forsters Schilderungen —, 
die sich mit Kosciusko erhoben und zahlreich um ihn scharten?®). 
Hinzu endlich das noch relativ große Freisein von nationalistischer 
Befangenheit, die es in diesen Zeiten des sich erst keimhaft ent- 
wickelnden Nationalismus selbst den gegen die Polen fechtenden 
Offizieren wie Hermann von Boyen oder dem später durch seine 
fruchibare Literatentätigkeit bekannt gewordenen Julius von Voß er- 


ze) Aus dem Briefwechsel des Herzogs Friedrich Christian zu Schles- 
wig-Holstein. Hrsg. v. H. Schulz. (1913), S. 105. 


77) E. v. d. Bruggen: Polens Auflösung. (1900), S. 369. 
78) Arnold, a. a. O. S. 123 u. 127. 


188 


möglichten, über Kosciusko nicht nur gerecht, sondern auch mit 
sympathischer Wärme zu urteilen”). 

Unter dem Zusammenwirken dieser einzelnen Umstände glühte 
nicht nur die Flamme der deutschen Polenbegeisterung von neuem 
hell auf, sondern wurde auch eine seltene Übereinstimmung der 
Meinungen erzielt. „An Kosciusko, so scheint es“ — sagt Arnold —, 
„erlahmte der Zwist der Parteien®).“ Es waren doch wohl nur ganz 
wenige Obskurantenorgane, die forifuhren, ihren Lesern die ab- 
gedroschene Mär von dem „lakobiner“ Kosciusko aufzutischen. 
Wohl oder übel, zum Teil aber auch selber angesteckt von der überall 
hindringenden Kosciusko-Begeisterung, mußten sich die meisten 
schon aus Rücksicht für ihr Publikum dazu verstehen, Kosciusko 
wenigstens mit Attributen wie „edler Schwärmer“, „wohlmeinender 
Patriot“ und dergi. zu bedenken®:). Wenn Zeitgenossen überliefern, 
daß die Polen halb Europa zu teilnehmenden Zuschauern ihres 
Kampfes gehabt hätten, daß kaum je ein gefallener Feldherr so 
beklagt worden sei wie Kosciusko, so ist das keine leere Phrase, 
sondern im buchsiablichen Sinne des Wortes aufzufassen®®?). 

Es ist hier nicht der Ort, um auf den deutschen Kosciusko-Kult 
jener Tage, dem Robert Franz Arnold neben seiner „Geschichte der 
deutschen Polenliteratur“ noch ein besonderes kleines Werk ge- 
widmet hat"), näher einzugehen. Uns interessiert hier nur die Kehr- 
seite der Medaille: die Frage: in welcher Weise oder vielleicht besser: 
in welchem Grade hat die deutsche Kosciusko-Begeisterung auf die 
damalige deutsche Beurteilung der Carin Katharina zuruckgewirkt? 
Denn nach dem bisher Gesagten erscheint es beinahe selbstver- 
ständlich, daß diese Rückwirkung das Katharinabild der Illuminaten 
qualitativ kaum mit neuen Zügen auszustatten vermochte; es konnte 
sich vielmehr dabei nur um eine quantitative Haufung von neuen 
Einzelheiten aus der Gegenwart und bisher noch nicht angewendeten 
Vergleichen aus der Geschichte handeln, die geeignet waren, die 
einzelnen, seit dem Ende der achiziger Jahre bereits unveränderlich 
feststehenden Grundzüge dieses Bildes immer mehr zu unterstreichen 
und — zu vergröbern. So enthält die infolge der Vorgänge in Polen 
abermals auf das heftigste enibrennende Polemik der Illuminaten 
gegen die Carin kaum ein neues Argument oder auch nur einen 
neuen Gesichtspunkt, sondern beschränkt sich darauf, die bereits 
während des zweiten Türkenkrieges der Carin und der zweiten 
Teilung gemachten Vorwürfe zu wiederholen. Die Phraseologie der 
deutschen Zeitstimmen, die nach der mit großen Blutopfern erkauften 
Einnahme von Praga, der festen Vorstadt Warschaus, durch Suvorov 
(4. November 1794) laut wurden, gleicht beinahe bis aufs Haar dem 


re) Ebd. S. 129 fl. 

se) Ebd. S. 128. 

81) Beispiele ebd. 

ss) Hist. geneal. Kal., Jg. 1797, S. 112 f. 

ss) Taddeus Kosciusko in der deutschen Literatur. (1898). 


189 


sentimentalen Wort- und Bilderschwall, in dem sich nach den Er- 
stürmungen von Očakov und Ismail die Entrüstung dieser pazifisti- 
schen Philanthropen entladen hatte: „Schlächter“, „Tiger“, „Henker“, 
„Würgeengel“, „Sense“, „Tamerlan Il.“, „der neue Tamerlan“, „der 
Tamerlan unserer Zeit“, „der Muley Ismael unseres Weltteils“, „Held 
Suvorov mörderischen Andenkens‘“), solche Ehrentitel fielen auch 
diesmal wieder hageldicht auf den russischen Feldherrn nieder. „Die 
Würde der Geschichte wird entweiht“ — erklärte selbst ein so maß- 
volles Organ wie die „Minerva“ des Hauptmanns von Archenholz —, 
„wenn sie das Leben dieses Mannes aufzeichnet®).“ Es ist inter- 
essant, zu beobachten, wie in den sehr erheblich voneinander ab- 
weichenden Verlusiziffern, die verschiedene deutsche publizistische 
Organe in ihrer Berichterstattung über den Sturm auf Praga ver- 
öffentlichten, sich die Parteizugehörigkeit zu den Freunden und zu 
den Widersachern der Carin deutlich widerspiegelt. Das reaktionäre 
„Hamburger Politische Journal“ zählte 11000 Tote“), die „Minerva“ 
14 000°), der „Obskurantenalmanach“ 18 000°) und der Verfasser 
des Pamphlets ,,Katharine vor dem Richterstuhle der Menschheit“ 
20 000 Opfer”). Teils, um die französischen Schreckensmanner zu 
entlasten, teils um den russischen General durch diesen Vergleich 
zu deteriorieren, wurde Suvorov von den radikalsten unter den 
deutschen Illuminaten mit Robespierre, Carrier und Jordan coupe- 
tete verglichen, der übrigens — wie das „Neue graue Ungeheuer“ 
versicherie — „auf der. Leiter der Geschöpfe“ noch um viele Stufen 
höher stände als der Feldherr Katharinas*). 

Das einzige, wodurch sich diese auf die Dauer recht eintönige 
und öde Polemik von der der achtziger Jahre unterscheidet, ist eine 
zunehmende Respektlosigkeit gegen die gekrönten Häupter und 
— soweit das noch möglich war — eine zunehmende Verrohung des 
Tones. Das Niveau des deutschen Journalismus der achtziger Jahre 
war mehr oder weniger bestimmt worden durch Vorbilder wie 
Schubart und Wekhrlin. Beide waren kurz nacheinander in den 
Jahren 1790 und 91 dahingegangen. An ihre Stelle trat eine Art von 
Wekhrlin-Epigonen, die den linken Flügel der Illuminatenpublizistik 
immer mehr beherrschten. Allerdings wichen diese hyperradikalen 
Zeitgenossen in ihrer Gesinnung erheblich von dem im Grunde seines 
Herzens aristokratisch fuhlenden Wekhrlin ab, und ihr Epigonentum 
bestand lediglich in einer ganz äußerlichen und häufig „bis zur Un- 
kenntlichkeit vergröberten“ Nachahmung der journalistischen Metho- 


è) Arnold, a. a. O. S. 156. 

85) Jg. 1797. Bd. IV. S. 293. 

86) Jg. 1794, S. 1293. 

87) Jg. 1797, Bd. IV, S. 293. 

a8) jg. 1798, S. 71. — Vogl. Jg. 1799, S. 38. 
a) S. 39 f. 

v0) Arnold, a. a. O. S. 158. 


190 


den des hochgepriesenen Meisters). Es möge genügen, wenn wir, 
um diese Richtung zu kennzeichnen, nur ihren Hauptführer Andreas 
Rebmann zu Worte kommen lassen. 

Erst Rebmann blieb es vorbehalten, das lezte an Massivität, was 
das überschwenglichste Pathos und die ausgekliigeltste Ironie der 
Zeit hergaben, aufzubieten, um Katharina damit zu überschütien. 
Erst er hat restlos alles ausgenukt und hervorgeholt, was ihm einer- 
seits der Schlagwortvorrat der Zeitgeschichte und andererseits sein 
Spüreifer nach Vergleichsobjekten aus übelbeleumundeten Epochen 
der Vergangenheit zur Brandmarkung der Carin zur Verfügung 
stellte. In einem Atem beschuldigt er sie des Jakobinismus und des 
Moskovitismus und traf mit dieser Synthese sogar insofern das 
Richtige, als sich ja tatsächlich Katharina nach den liberalen An- 
fangen ihrer Regierung immer mehr zu einer strengeren Autokratin 
entwickelt hatte, einer Entwicklung, die auch für die Lebensgeschichten 
ihrer Nachfolger, Alexander I. und Alexander Il., so charakteristisch 
ist. Mit schneidendem Hohn zitiert er die Verse Gleims: „Ergöbßen 
möcht ich mich an den gepriesenen Ziigen des menschenfreund- 
lichsten Gesichts“, um demgegenüber sein ganz in das düstere 
Kolorit eines Gemäldes aus der Zeit Ivans des Grausamen getauchtes 
Katharinabild aufzurollen: „Wer Katharina war, das erzählen die 
Thränen ihrer Völker, die vor Hunger oder Knutenstriemen starben, 
während die 16 Haupigünstlinge in 33 Regierungsjahren 400 Millionen 
Livres wegfrazen Die Geschichte ihres kaiserlichen Lebens 
war der vollendetste Jakobinismus, insofern dieser in Besudelung 
aller göttlichen und menschlichen Gesche bestehen soll, es war eine 
ununterbrochene Bordell- und Giftmischergeschichte, wobei die 
Heucheley andachtelnd mit Crucifix, Bibel und Kniebeugung vor dem 
Popenvolke in öffentlicher Kirche und bewaffnet mit Dolch, Strick, 
Henkerstreichen und Verbannung für die Gegner der Einsiedeley von 
Sarskoe Selo den Vorsik führte. In Catharinens Kopfe wohnte eine 
Legion von Teufeln, die klug waren; ihr Herz war ein harter Diamant, 
aber glänzend geschliffen; sie kannte das Licht, wußte es für sich zu 
gebrauchen, aber in die Viehhöhlen zu ihren Russen sollte es nicht 
kommen®).“ Und nichts lastete so drückend auf diesen fanatischen 
Moralisten vom Schlage Rebmanns wie das Bewußtsein, daß das 
Verdammungsurteil, das sie als angemaßte Richter ihrer Zeit immer 
wieder von neuem uber dieses „Non plus ultra eines bösen Weibes", 
„diese gekrönte Raubnachbarin des Königs von Polen“, „diese Mahl- 
mühle“, „Sklavenpeitsche und Geißel der blutenden Menschheit” ge- 
fallt und laut verkündet hatten, sicherlich an Katharina, wenigstens 
zu ihren Lebenszeiten, nicht vollstreckt werden würde und daß sie 
es der Nachwelt überlassen müßten, dieses Strafgericht zu voll- 
ziehen. Sie wollten es jedoch nicht unterlassen, der Nachwelt dieses 
Werk als heiliges Vermächtnis zur Pflicht zu machen: 


1) Ebd. S. 165 


03) Obskuranten-Almanach, Jg. 1798, S. 5, 42, 304 ff.: „Rußland — die 
dunkle Landkarte oder ein Blik durch Europens Finsternis.“ 


13 NF 5 191 


„Aber Fluch dem Ruhm und Fluch den gräßlichen Siegen, 
Wie ihn der Tiger erstrebt, wie die Hyäne siegt, 

Seid ihr ewig geschändet im Munde richtender Nachwelt, 
Wie im weinenden Aug edlerer Mitwelt ihr seid**).“ 


So übertrieben und fast ans Lächerliche streifend uns heute viel- 
fach diese Ergüsse der Illuminaten gegen Katharina erscheinen 
mögen, die Apologeten der Carin hatten zweifellos solchen Pam- 
phleten gegenüber einen schweren Stand. War der Ideenschaß ihrer 
Gegner wenig reichhaltig und mannigfalfig, so war er in seiner pri- 
mitiven Durchsichtigkeit desto eindrucksvoller und trug überdies dem 
Empfindsamkeitsbediirfnis und der Tugendsehnsucht der Zeit im 
höchsten Maße Rechnung. 

Demgegenüber verfügte die Ideologie der Apologeten Katha- 
rınas kaum über eine gleich zugkräftige Parole. Mit der einen Aus- 
nahme Seumes, der es grundsätzlich ablehnte, „Völkersachen nach 
den festgesekten Regeln eines philosophisch-bürgerlichen Moral- 
systems zu beurteilen‘), wagten es die Verteidiger Katharinas und 
der Teilungsmächte offenbar noch nicht, sich auf einen rein realpoli- 
tischen Standpunkt zu stellen und die Vergewaltigung der Polen 
zwar zuzugeben, aber sie mit den höheren Gewalten der biologisch- 
historischen Bedingtheiten der Staatenbildung zu begründen und zu 
rechtfertigen. Wie schwer und langsam eine solche Auffassung in 
Deutschland an Boden gewann, dafür ist eine bisher wenig be- 
achtete®) Stelle aus den Aufzeichnungen des Kanzlers von Müller 
über seine mit Goethe geführten Gespräche überaus bezeich- 
nend. Am 1. Januar 1832, mitien in der Höhezeit der deutschen 
Polenschwärmerei, verteidigte Goethe ähnlich wie Seume die Politik 
der Teilungsmachte mit folgenden Worten: „Ich stelle mich höher 
als die gewöhnlichen platten moralischen Politiker; ich spreche es 
geradezu aus: Kein König hält Wort, kann es nicht halten, muß stets 
den gebieterischen Umständen nachgeben; die Polen wären doch 
untergegangen, mußten nach ihrer ganzen verwirrten Sinnesweise 
untergehen; sollte Preußen mit leeren Händen dabei ausgehen, 
während Rußland und Österreich zugriffen? Für uns arme Philister 
ist die enigegengesebte Handlungsweise Pflicht, nicht für die Mäch- 
tigen der Erde.“ Der Kanzler bemerkte dazu: „Diese Maxime 
widerte mich an, ich bekampfie sie, jedoch erfolglos®) “ 

Da die Apologeten der Carin es aber noch nicht wagten, sich 
auf eine so amoralische Betrachtungsweise einzustellen, so blieb 
ihnen nichts anderes übrig, als immer wieder mit den beiden bis zum 
Uberdruß wiederholten Argumenten zu operieren, daß man den 
Polen jede Entwicklungsmöglichkeit zu einer besseren Zukunft ab- 


es) Daniel Falk: Satir. Werke. Bd. Ill (1826), S. 30 f. 
%) Werke, a. a. O. S. 457. 
ss) Die Goethesche Verteidigung scheint Müller a. a. O. unbekannt zu sein. 


ss) Goethes Gespräche. Gesamtausgabe, neu hrsg. v. Fl. Frhr. v. Bieder- 
mann. Bd. IV (1910), S. 425 f. 


192 


sprach") und die Carin als Pazifikatorin feierte, die den polnischen 
Unruhen zum Heile Europas ein Ende gemacht habe“) und auch die 
Revolution im Westen energisch bekämpfe. Allerdings ging Katha- 
rına in ihrer Bekämpfung der Revolution nicht viel über eine 
moralische Unterstiigjung der gegenrevolutionaren Elemente hinaus. 
Die aktive Bekämpfung gedachte sie zunächst wenigstens den deut- 
schen Herrschern zu überlassen, und in diesem Sinne schlug ihr 
Gesandter am Wiener Hofe folgende Arbeitseinteilung vor: Jeder 
von beiden Höfen hat eine ernste Mission zu erfüllen und eine 
Gegenrevolution durchzuführen, der österreichische in Paris und der 
russische in Warschau’). Erst nach der Durchführung der polnischen 
Teilung hat sie sich zu einer aktiveren Politik gegen Frankreich ent- 
schlossen, und wohl nur ihr Tod verhinderte sie an einer größeren 
Aktion gegen dasselbe. Infolge dieser Zurückhaltung Katharinas 
aber bite natürlich das Argument, das sie als Schuggeist und als 
Erretterin Europas hinstellte, viel an seiner demonstrativen Wirk- 
samkeit ein, und in der Obskurantenliteratur konnte es nur in der 
Weise verwendet werden, daß sie ausführte: „Diese Vormauer wider 
den französischen Schwindelgeist war stark genug, um die anderen 


®©) Tannenberg, a. a. O. S. 242 f. 
ei Das Polit. Journal, jg. 1794, S. 1293, vol. Jg. 1796, S. 1243, betrachtete 
die Teilungen „als eine egebenheit, die wegen der damit verbundenen 
Rückkehr des Friedens in dieses durch die unglückselige Freiheitsschwar- 
merei verwüstete Land für die Menschheit ebenso angenehm ist, als sie 
durch ihren bedeutenden Einfluß auf andere Länder von großen Folgen sein 
wird“. — A Denkwiirdigkeiten aus dem ablaufenden 18. Jahrhundert. 
(1800), S. — C. F. A. Grashoff: Einige Ideen zur Beantwortung der 
Frage: Vie k täßt sich die Bildung einer Nation am leichtesten und sichersten 
auf eine andere übertragen. (1796), S. VII. 
Uber Katharina als energische Bekämpferin der franz. Revolution vgl. 
W. Frhr. v. Byern: Was kann man von Rußland in den jchigen kritischen 
Zeitumstanden zum Wohl der Menschheit hoffen? (1794), S. 62: „Von dieser 
großen, mächtigen und weisen Macht können wir mit Recht hoffen und er- 
warten, cas sie dem bedrängten Europa den goldenen Frieden wieder 
Sehen, ab sie den französischen Horden Ziel und Schranken seben 
wir 
) Heigel, a. a. O. Bd. I, S. 454. 
190) Eine aktivere Politik Katharinas gegen das revolutionäre Frankreich 
= t ein nach Abschluß des Vertrages mit England (25. März 1793), in dem 
beide Mächte zu gegenseitiger Hilfeleistung verpflichteten. Am 22. Juli 
1793 verließ der russ. Admiral Cilagov mit einer aus 25 Linienschiffen, 
7 Fregatten und 6 leichten Fahrzeugen bestehenden Flotte die Häfen von 
Reval und Kronstadt, um vereint mit der englischen Flotte in der Nordsec 
zu kreuzen. Vgl. Michailovskij-Danilevskij und Miljutin: Gesch. des Krieges 
Rußlands mit Frankreich unter der Regierung Kaiser Pauls I. im Jahre 1799. 
A. d. Russ. übersetzt on Chr. Schmitt, Bd. I (1856), S. 7. — Uber später 
geplante Aktionen vgl. A. Brückner: “Katharina II. und die französische 
Revolution in Russische Revue Bd. Ill (1873), S. 52 fl. und seine Geschichte 
Katharinas, a. a. O. S. 552 f. — Wie sehr die Furcht vor einer kommenden 
Aktion die deutschen Revolutionsfreunde in Atem hielt, bezeugt „Katharine 
vor dem Richterstuhle“, a. a. O. S. 44: „Welche neue zum Verderben der 
Menschheit reichende Plane würde ihr später erfolgter Tod vielleicht doch 
noch zur Reife gebracht haben.“ — Vgl. auch kurzgefaßte Lebensgesch. 
Catharina II. (1797), S. 76 f. u. S. 89 f. 


195 


Fürsten zu ermannen und Unternehmungen zu bewirken, die sonst 
nie geschehen waren)", eine Wendung, die sich übrigens als 
schmeichelhafte Floskel auch in einem Briefe Leopolds Il. findet 
(9. September 1791), in dem er auf das Drängen der Kaiserin ant- 
wortet, „nur die Lauheit der europäischen Mächte hindere ihn, mit 
der nämlichen Entschiedenheit gegen die Revolutionäre aufzutreten, 
wie sie die große Kaiserin, auch hierin Muster und Vorbild für alle 
Souveraine, an den Tag lege“). Aber auch in solcher Form konnte 
dieses Argument nicht mehr recht verfangen, nachdem der Konig 
von Preußen, um bei der Verteilung der polnischen Beute in der 
dritten Teilung nicht völlig leer auszugehen, von der gegenrevo- 
lufionaren Koalition zurücktrat, durch den unrühmlichen Frieden 
von Basel das linke deutsche Rheinufer den Franzosen preisgab und 
damit erst recht eigentlich an die Revolution auslieferte. 

Daß das andere Hauptargument der Apologeten Katharinas noch 
von weit geringerer Wirkungskraft war, brauchen wir nicht erst aus- 
drücklich hervorzuheben. Denn den Hinweisen der Obskuranten auf 
die Unmöglichkeit einer Gesundung des polnischen Staates und der 
polnischen Gesellschaft konnte von den Illuminaten jederzeit auf das 
wirksamste mit der Erklärung begegnet werden, daß man den bereits 
sich anbahnenden Gesundungsprozeß durch die Aufhebung der Kon- 
stitution vom 3. Mai und durch die sich daran anschließenden 
Teilungen mit roher Gewalt verhindert habe. 

Vor allem aber wurde die ganze Aktion der Obskuranten da- 
durch lahmgelegt, daß sich unter ihnen Zwietracht erhob. Denn 
auch in diesem Lager war man. der Carin nicht mehr durchweg wohl- 
gesinnt. Die Obskuranten strenger Observanz, die überall nach 
Anstiftern des großen Umsturzes suchten, machten schließlich auch 
nicht einmal vor der großen Revolutionsgegnerin Katharina halt, 
sondern sekten sie auf die schwarze Liste „königlicher und fürst- 
licher Philosophenschüler“, die den Revolutionsgeist mittelbar oder 
unmittelbar gezüchtet hätten und somit eigentlich die Hauptschuld 
an der schweren Not der Zeit trügen:®). Der Kuriosität halber sei 
noch angemerkt, daß Katharina von den ihr treu Gebliebenen auch 
gegen den Vorwurf in Schu genommen werden mußte, daß die 
russischen Regimentskapellen die Marseillaise spielten!®*). 

Weit wichtiger als dieser Streit der Meinungen unter den deut- 
schen Tagesschriftstellern aber war es für die endgültige Beurteilung 
Katharinas durch ihre deutschen Zeitgenossen, daß auch die vom 
Streben nach Objektivität beseelte deutsche Geschichtsschreibung 
sich infolge der zweiten und dritten polnischen Teilung gegen Ka- 
tharina wandte und die Verurteilung ihrer polnischen Politik auch 
auf die erste Teilung ausdehnte, um derentwillen die Carin in den 


101) Vgl. Biester, a. a. O. S. 284 f. — Tannenberg, a. a. S. 233. 
102) Heigel, a. a. O. Bd. I, S. 454. 

103) Arnold, a. a. O. S. 146. 

104) Mursinna Galerie, a. a. O. Bd. XIII. S. 77. 


194 


siebziger Jahren so gefeiert worden war’). Eine so innerlich un- 
abhängige und freie Natur wie Ludwig Timotheus Spittler nannte die 
polnischen Teilungen: „Ein kunstvolles Gewebe, recht nach Römer- 
Art angelegt und nach Romer-Art vollendet. Nicht bloß ein zahl- 
reiches freies Volk mußte um seine Freiheit und Nationalstolz ge- 
bracht, sondern auch das europäische Publikum eingeschläfert werden. 
Die Reunionen Ludwigs XIV. waren ein Geringes gegen das, was Ka- 
tharına Il. in Polen und gegen Polen that. Wie laut aber und wie heftig 
wurde gegen jene geschrien, und wie wenig Wahrheitsstimmen er- 
hoben sich zu Ehren des alten Völkerrechts, da kein Recht mehr 
zwischen Rußland und Polen zu sein schien?!**)“ Aber auch die 
anderen Verireter der Göttinger Historikerschule haben mit wenigen 
Ausnahmen das Verhalten Katharinas gegen die Polen öffentlich 
gemißbilligt!”), und für die Durchschlagskraft der Wirkung ihres 
Urteils ist es bezeichnend, daß auch die begeistertsten Verehrer 


Katharinas sich ihren Einwendungen nicht völlig zu verschließen ver- 
mochten?*), 


3. 


Der zweite Türkenkrieg Katharinas, ihr Krieg mit Schweden, vor 
allem aber das Schicksal Polens hatte die öffentliche Meinung 
Deutschlands gelehrt, die russische Macht zu fürchten. Dieses Ge- 
fühl war ungefähr dreizehn Jahre vorher, als im Bayrischen Erbfolge- 
krieg die Carin gemeinsam mit Frankreich die Friedensvermittlung 
zwischen Österreich und Preußer übernahm, den deutschen Zeit- 
genossen noch vollig unbekannt. Obwohl durch den Teschener Ver- 
trag vom 13. Mai 1779 die russische Einmischung in die Angelegen- 
heiten des Reichs gewissermaßen geseblich festgestellt worden 
war!‘®), entsprach es nicht der damals vorherrschenden Auffassung, 
an der Garantie des Vertrages durch Rußland irgendwelchen Anstoß 
zu nehmen. Es war ganz selbstverstandlich, daß fremde Mächte 
Verträge oder Verfassungen eines anderen Staates garantierten, 
wie etwa Frankreich und Schweden den Westfälischen Frieden oder 
Rußland die polnische! oder schwedische Verfassung. „Tröstliche 
Aussichten vor die Erhaltung der Verfassung, Freiheit und Ruhe 
Teutschlands“ — meinte der Jurist Gerstlacher in seinem Corpus juris 


168) Joh. v. Müller: Sämtl. Werke Bd. XXIV (1853), S. 210, vgl. Bd. XXV. 
S. 60 sagt ohne nähere Motivierung: „Ich bin übrigens weit entfernt ent- 
schuldigen zu wollen, was der unglückseligen Republik geschah, doch poli- 
tisch laßt sich für den König (Friedrich Il.) das meiste anführen.“ Diese 
Stelle findet sich nur in der ersten Ausgabe (1787) der Darstellung des 
Fürstenbundes, in der zweiten verbesserten (1788) dagegen ist sie fort- 
geblieben. Vgl. David Fr. E. Preuß: Friedrich d. Gr. Eine Lebensgeschichte. 
Bd. IV (1834), S. 44. 

108) Werke, a. a. O. Bd. Il, S. 423. 

107) Arnold, a. a. O. S. 135. 

168) Vgl. Biester, der die erwähnte Stelle Spittlers zitiert, a. a. O. S. 122. 

106) A. Unzer: Der Friede von Teschen. (1906), S. 424. 


195 


germanici — „wenn man zumal die ganz besonders teilnehmende 
Art damit verbindet, womit die große Catharina von Rußland in Ab- 
sicht auf Deutschland und den Wesiphälischen Frieden insbesondere 
sich erkläret hat“:1e). 

Das Publikum feierte die Carin als Friedensbringerin, da es froh 
war, einen neuen Kampf zwischen den deutschen Mächten verhindert 
zu sehen. Ihrer Befriedigung über den Schritt Katharinas verliehen 
aber die einzelnen Höfe weit stärkeren Ausdruck. Friedrich der 
Große teilte der Carin in schmeichelhafter Weise mit, daß Rußland 
für das Reich in Zukunft ein Bollwerk zum Schutze gegen die 
Tyrannei der Cäsaren sein würde); aber auch Maria Theresia 
sprach Katharina aufs nachdrücklichste ihren Dank für die Friedens- 
vermittlung aus:]. „Alle gebildeten Leute in Wien“, berichtete 
Golicyn, der russische Gesandte am österreichischen Hofe, „bezeich- 
nen die Kaiserin von Rußland als Schiedsrichterin in diesem Kriege 
und als Reiterin der österreichischen Monarchie"). Die russische 
Einmischung in diese Reichsangelegenheit wurde überall mit Genug- 
tuung empfunden, und der Freiherr von Asseburg, der seit 1773 die 
Interessen Rußlands am Regensburger Reichstage vertrat, hatte von 
mehreren angesehenen Reichsfürsten Schreiben empfangen, in denen 
diese der Carin ihre Befriedigung über die Intervention aussprachen: 
„On ne demande pas mieux“, so bezeichnete er die Stimmung, „que 
de voir l'influence de la Russie augmenter et s’affermir de plus au 
plus dans |’Empire‘**). Dieser international gefärbte deutsche 
Diplomat schmeichelte dem Verdienste Katharinas: „Es ist ein wahres 
Glück für Deutschland, daß die Garantie unseres erhabenen Hofes, 
welche durch den Beitritt des Reiches und seines Oberhauptes zu 
dem Frieden von Teschen jekt anerkannt ist, ein Gegengewicht von 
der größten Bedeutung gegen alles errichtet, was seine Verfassung 
in Gefahr bringen kann.“ Den politischen Wert der Abmachung für 
das Carenreich verstand Asseburg bereits vollkommen richtig ein- 
zuschäßen, wenn er ausführte, daß Rußland von nun an nach Gefallen 
an den weltlichen und geistlichen Angelegenheiten des Reiches teil- 
nehmen werde:). 

Die überwiegend kosmopolitisch gesonnene und von natio- 
nalistischer Empfindlichkeit noch so gut wie völlig freie deutsche 
Öffentlichkeit war beglückt, den Frieden erhalten zu sehen, und küm- 
merte sich nicht sonderlich darum, ob ein Garant mehr oder weniger 
die deutschen Reichsgrundgesefe verbiirgte. Dennoch waren ein- 
zeine Politiker von Fach in Unruhe über die Stellung, die Rußland 


116) Corpus juris germanici Bd. II (1784), S. 641. 
R on ne imperatorskago istori¢eskago obščestva Bd. XX (1877), 
118) Alexander Brückner: Katharina, a. a. O. S. 317. 
118) Ebd. 
118) Denkwiirdigkeiten des Freiherrn Achatz v. d. Asseburg. (1842), S. 341. 
118) Ebd. S. 295. — Vgl. E. Reimann: Gesch. d. bayrischen Erbfolge- 
krieges. (1869), S. 2%. 


196 


durch den Teschener Frieden in Mitteleuropa erhalten hatte. Bereits 
1764 meinte vorausschauend der sächsische Diplomat Essen, als er 
die Haltung Katharinas in Polen beobachtete: Alles, was in Polen 
geschehe, erscheine nur als Vorbereitung für ein entfernteres Ziel 
der Carin, nämlich die Vermehrung ihres Anschens und Einflusses 
in Deutschland***). 

Wenn Friedrich der Große in seiner „Histoire de mon temps“ in 
dem Abschnitte über den Krieg von 1778 mit keinem Worte des Zu- 
wachses von Einfluß gedenke, den Rußland im Teschener Frieden 
auf die deutschen Angelegenheiten gewann, so läßt sich wohl sein 
Schweigen am besten mit dem Unbehagen erklären, welches der 
König darüber empfinden mußte, daß er, um sich die bereits gefähr- 
dete russische Bundesfreundschaft zu erhalten, selber dazu bei- 
getragen hatte, Katharina bei der Erlangung dieses Einflusses auf 
Deutschland behilflich zu sein is). Daß die Handlungsweise Preußens 
und Österreichs beim Abschlusse des Teschener Friedens späterhin 
Angriffen von seiten der deutschen öffentlichen Meinung ausgesebt 
war, wissen wir aus den Memoiren von Christian Wilhelm von Dohm, 
und dieser eifrige Apologet Friedrichs des Großen hat auch in dieser 
heiklen Angelegenheit seinen Helden mit dem Hinweise auf dessen 
Zwangslage verteidigt. Nachdem der Wiener Hof — so führte er 
aus — zuerst Rußlands Vermittlung in Anspruch genommen hatte, 
konnte Preußen die Mitwirkung der Carin nicht ablehnen, „die es 
bei den bestehenden freundschaftlichen Verhältnissen sich geneigt 
halten mufte***).“ Daß das Schweigen Friedrichs ebenfalls nicht auf 
Unterschätzung Rußlands zurückzuführen ist, zeigen andere Stellen 
aus seinen Werken — z. B. das Politische Testament von 1768 —, 
wo sich der König voller Besorgnis vor dem Anwachsen der russischen 
Macht und vor der Möglichkeit eines Rückfalles in seine Lage von 
1756 zeigt. 

In ein akutes Stadium scheint die Frage der russischen Inter- 
vention in die Angelegenheiten des Reiches für die deutsche öffent- 
liche Meinung zum ersten Male im Jahre 1791 getreten zu sein. Als 
das revolutionäre Frankreich den Kurfürsten von Trier bedrangte, 
weil er duldete, daß die französischen Emigranten seine Residenz 
Koblenz zum Zentrum ihrer antirevolutionären Bestrebungen machten, 
da wandte sich dieser um Unfersfützung an den Kaiser und die deut- 
schen Fürsten und schließlich, da seine Hilferufe ungehört blieben, 
an die russische Carin als die „Garantin des westfälischen Friedens- 
vertrages“. Diese Aktion, an der sich anscheinend auch noch andere 
westdeutsche Reichsfürsten, namentlich die auf dem linken Rheinufer 
beteiligten, rief mehrere Broschüren hervor, in denen für und wider 
den Schritt des Kurfürsten Clemens Wenzeslaus gestritten wurde, 


116) E. Herrmann, a. a. O. Bd. V, S. 425. 

117) Vgl. A. Unzer, a. a. O. S. 424. 

118) Vgl. die Ausführungen E. Herrmanns, a. a. O. Bd. VI, S. 21 f. 
119) Denkwürdigkeiten meiner Zeit. Bd. 1 (1814), S. 246. 


197 


obwohl Katharina gar nicht daran dachte, in diesem Falle von ihren 
Garantierechten ernsthaft Gebrauch zu machen?**). Diese Broschüren- 
polemik ist außerordentlich aufschlußreich für die Entwicklung, die 
die öffentliche Meinung Deutschlands in nationalistischem Sinne in- 
zwischen genommen hatte. Zwei Momente stehen dabei im Vorder- 
grund, die Auswirkung der französischen Revolution und der Eindruck, 
den die beiden lebten polnischen Teilungen in Deutschland hervor- 
riefen. 

In seiner historischen Betrachtung „Jahrhunderts-Ende vor 100 
Jahren und jet“ (1896) hat Max Lenz auf die Tatsache hingewiesen, 
daß aus allen Revolutionen des neunzehnten Jahrhunderts die Natio- 
nalitäten immer selbständiger hervorgegangen sind. Das war auch 
— mindestens bis zu einem gewissen Grade — schon bei der ersten 
dieser großen Umsturzbewegungen, der französischen Revolution 
von 1789, der Fall. „Internationalere Ideen,“ sagt Lenz, „hat es nicht 
gegeben als die Sage der Menschenrechte, mit denen die große 
Revolution begann ..... aber alles schlug den Revolutionaren ins 
Gegenteil um, und statt der Ara der Humanität kam die der natio- 
nalen Demokraticen***).“ 

Wurde aber durch solche Auswirkungen der französischen Re- 
volution in Deutschland eine bisher noch nicht gekannte nationa- 
listische Empfindlichkeit geweckt, so mußten natürlich die beiden 
letzten Teilungen Polens von einer Generation, die sich mit der 
französischen Revolution auf das Recht der Nation auf freie Selbst- 
bestimmung stübte, ganz anders angesehen und eingeschätzt werden 
als von den kosmopolitischen Aufklärern, die der ersten Teilung aus 
„kosmischen“ und dergleichen Gründen bedingungslos zugestimmt 
hatten. 

Das Schicksal Polens wurde jetzt wie eine drohende Warnung 
empfunden, eine Warnung wie das biblische Menefekel: „Gezählt, 
gewogen und zerstucki“ für das eigene Geschick. „Wieder und 
wieder,“ sagt Robert Franz Arnold, „hebt die zeitgenössische Lite- 
ratur und nicht bloß die der Radikalen gewisse unabweisbare 
Ähnlichkeiten zwischen Polen und dem Heiligen Römischen Reiche 
Deutscher Nation hervor... Selbst Halboffiziose des Wiener Hofes 
wiesen geflissentlich darauf hin, daß auch das deutsche Reich wie 
Polen durch systematische Schwächung der eigenen Zentralgewalt 
allmählich von seiner Machtstellung in Europa zu einer fast komischen 
Scheinexistenz herabgesunken sei; als Polen unterging, weissagten 
viele Einsichtige dem deutschen Reich ein ähnliches Schicksal... So 
einleuchtend waren diese Analogien, daß ein Anonymus von 1797 ein 
Buch von 176 Seiten darüber aufbauen konnte und Herder sie ein 
Jahr später poetisch verklärfein!).“ 


120) Vgl. B. v. Bilbasov: Ekaterina Il. i. Gr. N. P. Rumjancev. In Russ- 
kaja starina, Bd. LXXXI (1894), Februarheff, S. 82 f. 


i ‘isa Vortrage und Aufsage in: 9 Bücherei, Bd. 18/180 
o. 


122) Arnold, a. a. O. S. 144. 


198 


„Deutschland, schlummerst Du noch? Siehe, was rings um Dich, 
Was Dir selber geschah. Fühl’ es, ermuntre Dich, 

Ehe die Schärfe des Siegers 

Dir mit Hohne den Scheitel bloki! 


Deine Nachbarin sieh, Polen, wie mächtig einst, 

Und wie stolz! o sie kniet, Ehren- und Schmuckberaubt, 
Mit zerrissenem Busen 

Vor drei Mächtigen, und verstummet. 


Ach, es halfen ihr nicht ihre Magnaten, nicht 
Ihre Edeln, es half keiner der Namen ihr, 
Die aus tapferer Vorzeit 

Ewig glänzen am Sterngezelt. 


Und nun, wende den Blick! Schau die zerfallenen 
Trümmer, welche man sonst Burge der Freiheit hieß, 
Unzerstörbare Nester! 

Ein Wurf stürzte die Sichern hin. 


Weiter schaue. Du siehst, ferne im Osten sicht 

Dir ein Riese; Du selbst lehretest ihn, sein Schwert, 
Seine Keule zu schwingen. 

Zorndorf probte sie auch an Dir. 


Schau gen Westen; es droht fertig in jedem Kampf, 
Vielgewandt und entgluht, trojend auf Glück und Macht 
Dir ein anderer Kämpfer, 

Der Dir schon eine Locke nahm. 


Und Du säumeiest noch, Dich zu ermannen, Dich 
Klug zu einen? Du säumst, kleinlich im Eigennuß, 
Statt des Polnischen Reichstags, 

Dich zu ordnen, ein mächtig Volk? 


Soll Dein Name verwehn? Willst Du zerteilet auch 
Knien vor Fremden? Und ist keiner der Väter Dir, 
Dir Dein eigenes Herz nicht, 

Deine Sprache nicht alles werth? 


Sprich, mit welcher? o sprich, welcher begehrtest Du 
Sie zu tauschen? Dein Herz, soll es des Gallier, 
Des Cosacken, Kalmucken 

Pulsschlag frohnen. Ermuntre Dich. 


199 


Wer sich selber nicht schüßt, ist er der Freiheit werth? 
Der gemahleten, die nur ihm gegönnet ward. 

Ach die Pfeile des Bündels! 

Einzeln bricht sie der Knabe leicht***).“ 


Der Broschürenstreit, der sich an den Bemühungen Clemens 
Wenzeslaus von Trier um Herbeiführung der russischen Intervention 
entzündete, steht noch in dem Anfange dieser Bewegung. Damals 
war die zweite Teilung Polens noch nicht vollzogen worden. Aber 
Rußland war schon zugunsten der Konföderation von Targowice 
eingeschritten, und die Teilung von 1793 warf bereits ihre Schatten 
voraus. Dementsprechend stießen der Kurmainzische Hofrat Roth 
und die „Unpartheiischen Gedanken über die vom Kurtrierischen 
Hofe geschehene Anrufung der Kaiserin von Rußland um Unter- 
stützung gegen die Eingriffe Frankreichs“ 1 auf den heftigsten Wider- 
spruch. Sie hatten nämlich das Interventionsgesuch des Trierer Kur- 
fürsten in der herkömmlichen Weise mit einem Hinweis auf die Geseb- 
mäßigkeit der Garantieverträge verteidigt und bewiesen, daß die 
russische Carin nach Artikel 12 des Teschener Friedens, der den 
Westfälischen erneuerte, und nach Artikel 16, der die Garanten be- 
stimmte, auch zur Garantin über die deutschen Reichsgrundgeseke 
geworden wars). In den Repliken auf diese beiden Schriften wurde 
darauf aufmerksam gemacht, daß in Artikel 12 die Verträge von 
Osnabrück und Münster doch nur erneuert und bestätigt wären, 
„comme s’ils y’etaient inserés mot à mot“, und daraus gefolgert, 
daß nur die Garanten des Friedens von 1648 gemeint wären, während 
Rußland damals nicht paktiert hatte und daher nur Bürge für Teschen 
blieb. In einem so wichtigen Punkte hätte die Bestimmung über die 
Garanten des Westfälischen Friedens abgeändert und in einem be- 
sonderen Artikel die Garantie über die Neichsgrundgesetze auf das 
Carenreich erweitert werden müssen. „Fehlt es aber an der Absicht 
und dem Willen“ — so hebt v. d. Becke, der Verfasser der Broschüre: 
„ist die Kaiserin von Rußland Garant der westfälischen Friedens- 
schlüsse“, hervor —, „die Garantie des Westfälischen Friedens an 
Rußland zu übertragen und so die Zahl der Garanten zu vermehren, 
so folgt daraus, daß es deren Garant nicht geworden sey, wenn es 
auch diese Garantie zu übernehmen den Wunsch und die Absicht 
gehabt hatte. Wohithaten werden niemandem aufgedrungen, am 
wenigsten solche, die für denjenigen, dem sie geleistet werden sollen, 


123) Werke, hrsg. v. B. Suphan, Bd. XXIX (1889), S. 210. 
124) (1792): Vgl. Bilbasov: Welliteratur, a. a. O. Bd. I, S. 670. 


138) J. R. v. Ra Ist die Kaiserin von Rußland Garant des westphäl. 
Friedens? (1791), S. 10 f. 


136) Z. B. SeA Prüfung der Frage: Ob die Kaiserin von Rub- 
land durch den Teschener Frieden die Garantie des westphäl. Friedens 
übertragen erhalten habe und in der Eigenschaft als Garantin desselben 
nun gegen Frankreich auftreten könne. (1791), 8 3. 


200 


höchst bedenklich seyn können, und unter unabhängigen souverainen 
Staaten würde das gar eine Verletzung des Völkerrechts seyn.“ 

Aber viel starker als solche staatsrechilichen Deduktionen ge- 
langte in diesen Repliken die neugeweckte nationale Empfindlichkeit 
zum Ausdruck: ,,..... Jedes Mal soll unser Vaterland,“ heißt es in 
der oben zitierten Schrift des hannöverschem Adelsgeschlechte ent- 
stammenden v. d. Becke, „sich der Gefahr ausgesetzt sehen, daß 
große Heere halbwilder Tataren und Kosaken, die Bestürmer Ok- 
zakow’s in sein Innerstes wüthen! Welcher wahre Patriot schaudert 
nicht vor diesem Gedanken zurück:“ 

Vollends aber in der bereits schon unter dem Eindrucke der 
zweiten polnischen Teilung verfaßten Broschüre des hannöverschen 
Kanzleisekretärs Johann Wackerhagen wurde der Versuch eines Be- 
weises erbracht, „daß die Kaiserin von Rußland den Westfälischen 
Frieden weder garantieren könne noch dürfen.“ Zwar lag es 
Wackerhagen fern, „durch sinnreiche Sophismen“ die Absichten einer 
großen Regentin wie Katharina. Il. zu verdächtigen und da, „wo 
andere vielleicht den lieblichsten Nachtigallenschlag zu vernehmen 
glauben, nur unglückweissagenden Eulenruf hören zu wollen“; aber 
er wurde zu sehr beeinflußt von den jüngsten Vorfällen in Polen: 
„Polen ist nicht mehr der Schlagbaum zwischen uns und Rußland.“ 
Wenn auch die Carin im wahrsten Sinne des Wortes die nordische 
Semiramis sei, ihre Politik aber wolle es nicht vermeiden, bei jeder 
Veranlassung ein gewisses protektorisches Interesse, eine Mittlerrolle 
zwischen Kaiser und Standen zu „affektieren“. Namentlich seit dem 
Teschener Frieden würdige sie das Deutsche Reich eines besonderen 
Interesses ın geradezu furchtgebietender Weise, während sie doch 
nur darauf zu achten habe, daß der Vertrag von 1779 aufrecht- 
erhalten werde. Man käme nicht umhin, die deutsche Politik der 
Carın als eine Vorbereitung für künftige Eroberungen, wie sie ın 
Polen gemacht würden, anzusehen: „Nur noch einige scharfgeladene 
Kanonen mehr vor das Rathaus zu Grodno, nur noch ein Tedeum 
in der Kapelle zu Petersburg, und die ungeheure Lawine liegt vor 
den Thoren unseres Vaterlandes. Und wir sollten russische Garan- 
tieen unserer Konstitution annehmen? Unsere Freiheit vielleicht 
dereinst von Kosaken und Tatarenschwärmen mißhandeln lassen? 
Nein, nimmermehr:%)]“ 

Während die Möglichkeit eines Eingriffes Rußlands in die deut- 
schen Angelegenheiten auf Grund des Teschener Vertrages eine 
neue katharinafeindliche Welle in der deutschen öffentlichen Meinung 
emporsteigen ließ, brachte ihr ein anderer Eingriff in die west- 
europäische Politik, den Katharina ein knappes Jahr nach der 
Teschener Friedensvermittlung tat, bei Freund und Feind Bewunde- 


137) (1793), S. 35 u. 37. 

138) Ebd. S. 35 f. 

130) Versuch eines Beweises usw. (1794), a. a. O. 

190) Ebd. S. 21, 111, 120, 143. — Die Garantie lehnt selbst Erich Biester, 
a. a. O. S. 29, ab. 


201 


rung oder wenigstens Anerkennung ein. Am 10. Marz 1780 hatte die 
Carın die Deklaration an die Höfe von London, Versailles und 
Madrid erlassen, in der sie die Rechte des neutralen Seehandels 
festsetzte und als Hauptpunkt die Anerkennung des Grundsatzes 
„frei Schiff — frei Gut“ forderte**). Sie trat damit in einen Gegen- 
sab zu England, das als geltendes Völkerrecht den Sak, „frei Schiff — 
unfrei Gut“ bezeichnete und durch rücksichtslose Durchforschung der 
neutralen Schiffe nach feindlicher oder für die Feinde bestimmter 
Ladung sowie durch willkurliche Ausdehnung des Begriffs der Konter- 
bande lebhafte Entrüstung in allen Handel und Schiffahrt treibenden 
Kreisen veraniagte***). Katharina gelang es, durch die bewaffnete 
Neutralität von 1780—83 alle ihre Ansprüche und namentlich die 
Schubkraft der neutralen Flagge auch von England respektiert zu 
sehen’). Noch nie zuvor waren die Grundsätze des freien Verkehrs 
während des damals geführten amerikanischen Krieges so bestimmt 
ausgesprochen und verteidigt worden wie jebt, und daher mußte die 
bewaffnete Neutralität den Zeitgenossen als ein ebenso glänzender 
wie berechtigter Triumph der russischen Kaiserin erscheinen. 

In anerkennenden Worten pries Friedrich Il., der früher selbst 
einmal genötigt war, gegen die englische Willkür auf See einzu- 
schreiten**), Katharina als die Gesebgeberin der Meere und wollte 
Peter dem Großen in den Elyseischen Gefilden unter anderen Groß- 
taten der Carin auch die der Befreiung des Ozeans melden:“). 
Joseph Il. ließ sich in seinen Briefen an Katharına kaum weniger 
schmeichelhaft über dieses Ereignis aus), und ein weiterer Kor- 
respondent der Carin, Friedrich Melchior Grimm, nannte sie die 
„bewaffnete Neutralitatsprofessorin“, ohne welche Streitigkeiten in 
Europa überhaupt nicht mehr zu schlichten wären:]. 

Hinter diesen gewissermaßen privaten Huldigungen blieben die 
in der deutschen öffentlichen Meinung nicht zurück. Da schrieb das 
„Politische Journal“, das in Hamburg an bester Quelle die Wirkung 
der bewaffneten Neutralität studieren konnte, daß noch nie eine solch 
allgemeine Sicherheit auf den Meeren, ein freier Handel und unein- 


ä = Carl Bergbohm: Die Bewaffnete Neutralität von 1780-1783. (1883), 


133) Seume, Werke, a. a. O. S. 452, sagt: „Die Engländer übten in dem 
letzten amerikanischen Kriege mit ungewöhnlicher Willkür eine Despotie, die 
unerhört war, indem sie mit ihrer überlegenen Seemacht alle Schiffe als 
Prisen aufbrachten, von denen sie nur die entferntesten Mutmaßungen 
haben konnten, daß sie mit den Feinden handelten. Sie dehnten dabei den 
Begriff der Kriegsbedürfnisse so weit aus, daß man nach ihrer Bestimmung 
den Franzosen oder Spaniern durchaus gar nichts hätte zuführen dürfen, 
und nach dem Wohlgefallen der Briten allen Umgang mit diesen Nationen 
hätte abbrechen müssen.“ Vgl. auch Krauel: Preußen u. d. bewaffnete 
Neutralität in Forsch. zur brandenb.-preuß. Gesch., Bd XXI (1908), S. 410 f. 

133) Bergbohm, a. a. O. S. 210 

184) vgl. Krauel, a. a. O. Bd. XXL, S. 411 f. 

138) Sbornik, a. a. O. Bd. XX (1877), S. 393 fl. 

ıse) A. v. Arneth: Joseph Il. u. Katharina Il. Ihr Briefwechsel. (1869), 
S. 44 f. u. 130 f. 

187) Sbornik, a. a. O. Bd. XLIV (1884), S. 113. 


202 


geschränkte Schiffahrt mitten im Kriege gesehen worden wären bis 
auf die Zeit, wo die „unsterbliche Katharina“ ein allgemeines See- 
gesek gab: „Ein solches Ereignis ist ohne Beyspiel in der Geschichte, 
sowie es die ausgebreitetste Wohlthat ist, die jemals einer Menge 
von Ländern auf eine so wirksame Weise gegeben worden).“ Oder 
andere hoben hervor, daß das ganze europäische Publikum, insonder- 
heit das handeltreibende, Katharina zu unendlichem Danke verpflichtet 
wäre. Denn unter dem Schube der bewaffneten Neutralität hatte der 
Handel gewonnen „zum großen Verdrusse der Engländer“, die, wie 
man sagte, „vorzüglich in ihren Kriegen dahin arbeiten, den Handel 
anderer Nationen, die sie als Nebenbuhlerinnen ansehen, zu ver- 
derben***).“ Ganz offensichtlich trat zutage, daß den größten Nutzen 
Dänemark, Schweden und Preußen aus der neugeschaffenen Lage 
zogen, während Rußland, das die bewaffnete Neutralität in Aktion 
gesekt hatte, den verhältnismäßig geringsten Vorteil davontrug, 
indem, da sein Aktivhandel nicht florierte, nur eine Steigerung im 
Passivhandel zu vermerken war). Um so größer mußte daher das 
Verdienst der Carin eingeschätzt werden, „je weniger sie selbst un- 
mittelbar ausgezeichnete Vorteile dadurch gewann"). Nirgends 
haben wohl die Zeitgenossen Katharina vorgeworfen, sie habe sich 
bei der Begründung der bewaffneten Neutralität von Motiven der 
Herrschsucht leiten lassen. 

Vor allem aber wurde die bewaffnete Neutralität gepriesen als 
Etappe auf dem Wege zur Humanisierung des Seekrieges. Man be- 
merkte, daß die Carin bemüht war, „den Krieg in vernünftige 
Grenzen einzuschränken“; und so konnten denn auch die Menschen- 
freunde befriedigt sein: „Die Idee und ihre Ausfülnung war gewiß 
so herrlich“ — führte Seume aus —, „hatte so sehr das Gepräge der 
Humanität und der allgemeinen Philanthropie, daß ich kaum begreife, 
warum man bloß dieses einzigen Gedankens wegen nicht Katha- 
rinens Namen mit wahrer Dankbarkeit nennt“). 

Der neutrale Seebund von 1780—83 richtete sich in seinen Be- 
stimmungen gegen England. Die deuischen Zeitgenossen begrün- 
deten die plößliche Abkehr der „anglomanen“ “e Carin von ihrer bis- 
herigen freundschaftlichen Gesinnung für England mit dem Umstande 
— zweifellos wohl kaum mit vollem Recht —, daß ihr Minister Panin 
wider Wissen und Willen Katharinas, die mit der Deklaration und 
Flottendemonstration etwas zugunsten Englands, zum mindesten aber 
gegen Spanien ausführen wollte, die tatsächliche Spike der Aktion 


138) Jg. 1781, S. 500 f. 

130) Seume, Werke, a. a. O. S. 452. — Vgl. Biester, a. a. O. S. 259. 

180) Seume, Werke, a. a. O. S. 452. — H. v. Storch: Gemälde v. Rußland 
am Ende = Re Jahrhunderts. Bd. VI (1798), S. 27. — Vgl. dazu Bergbohm, 
a. a. 

1010 Seume, Werke, a. a. O. S. 452. 

142) Ebd. 

148) Katharina hat mehrfach in ihren Äußerungen, z. B. im Brief an Vol- 
taire vom 6. Juli 1772, ihre Vorliebe für England und die englische Kultur 
zum Ausdruck gebracht und diese Vorliebe als Anglomanie bezeichnet. 


205 


gegen England kehrte). Bei einer solchen Beurteilung der Vor- 
gänge hätte — so könnte man meinen — der Ruhm der Carin als 
der eigentlichen Urheberin der bewaffneten Neutralität leicht ge- 
mindert und verdunkelt werden können, zumal in einer Zeit, wo der 
Stern der Kaiserin in der deutschen öffentlichen Meinung schon im 
Sinken begriffen war. Es sind aber Zeugnisse vorhanden, die das 
Gegenteil beweisen. Der Göttinger Historiker Spittler, der als Han- 
noveraner und gewissermaßen englischer Uniertan schon deshalb 
Anlaß gehabt hätte, sich über das Vorgehen der Carin abfällig zu 
äußern, stellie in einem seiner Hauptwerke den Sag auf, daß die 
Carin seit der Stiftung der bewaffneten Neutralität ihre Größe mit 
einem Glanze umgab, „mit dem wirklich in der ganzen Geschichte 
nichts verglichen werden kann als die angebetete Autorität der 
Römer nach geendigtem Illyrischem Krieg“). 

Auch wenn. die Zeitgenossen wie Christian Wilhelm von Dohm 
in Panin den intellektuellen Urheber der bewaffneten Neutralität 
sahen, so wollien sie doch bei der Ausführung dieses Projektes 
Katharinas Verdienst nicht vergessen. Nach Dohm war die bewaff- 
nete Neutralitat ,das Werk der Geschicklichkeit des Staatsmannes, 
welcher einer Laune seiner Monarchin eine andere Richtung gab, als 
sie selbst ahndete, und einer Verlegenheit begegnete, in welche 
diese Laune den Staat zu bringen drohete. Ist gleich dieser Ur- 
sprung minder glänzend, als es oft behauptet worden, so bleibt 
Panins Verdienst, der die Idee hatte, und Katharinens Verdienst, 
welche sie annahm, nicht minder glänzend. Der Ruhm, den Katha- 
rina ll., von ihrem Minister geleitet, sich in dieser Angelegenheit er- 
worben, ist der edelste ihrer Regierung“). Und Dohms Urteil 
wiegt um so schwerer, als dieser begeisterte Verehrer Friedrichs des 
Großen im allgemeinen zu den notorischen Gegnern der Carin gehört. 


Schluß. 


Es liegt nahe, diese der zeitgenössischen Beurteilung von Ka- 
tharinas Il. auswärtigen Politik gewidmeten Ausführungen nicht zu 
beschließen, ohne noch die Frage aufgeworfen zu haben, ob und in- 
wiefern die Tatsache der deutschen Abkunft dieser russischen Carın 
als Faktor bei der Bildung der öffentlichen Meinung über sie im da- 
maligen Deutschland eine Rolle gespielt hat. Da läßt sich nun so- 
gleich feststellen, daß die Zeitstimmen, die dieses Umstandes ge- 
denken, innerhalb der Fülle von zeitgenössischen deutschen Auße- 
rungen, die wir über Katharina besitzen, doch stark zurücktreten. Es 
laßt sich ferner feststellen, daß diese Zeitstimmen fast ausnahmslos 


144) Graf Schlib-Goerb: The secret history of the armed neutrality 
together with memoirs etc. by a German Nobleman, translated by St.. 
H... (1792). — Vol. Bergbohm, a. a. O. S. 236. — Dasselbe französisch 
unter dem Titel: Mémoire, ou précis historique sur la neutralité armée et 
son origine, suivi de pieces justificatives. (1801.) 

145) Werke, a. a. O. Bd. IV, S. 376. 

188) a. a. O. Bd. Il, S. 116 ff. 


204 


auf die Jahre um die Wende des 18. und 19. Jahrhunderts entfallen. 
Endlich, daß die literarischen Gegner Katharınas — soweit wir schen — 
diesem Momente überhaupt keine Beachtung geschenkt haben. Wenn 
es die späteren, den Zeiten eines entwickelteren NationalbewuBtseins 
entstammenden Beurteiler der Carin wohl nur selten unterlassen 
haben, über das leidenschaftliche Bemühen dieser deutschen Fürstin, 
„sich selbst zu russifizieren“:), ihre Betrachtungen anzustellen, wenn 
es — um ein Beispiel anzuführen — in einem während des Welt- 
krieges, d. h. einer Hochkonjunkturperiode des Nationalismus, er- 
schienenen deutschen Zeitschrifienaufsake?) heißt: „Eine Freude ist 
es wahrhaftig nicht, am weltgeschichilichen Beispiele der „deutschen 
Carin“ Katharina ll., die ein Prinzeßchen von Anhalt-Zerbst gewesen, 
zu beobachten, wie trefflich Deutsche zu verausländern imstande 
sind“, so zeigen sich die Zeitgenossen Katharinas von solchen Emp- 
findlichkeiten noch wenig berührt. Selbst denjenigen unter ihren 
literarischen Widersachern, in welchen — wie wir sahen — die rus- 
sische Expansionspolitik schon deutlichere Vorstellungen von einer 
auch Deutschland mittelbar oder unmittelbar bedrohenden „russischen 
Gefahr“ auslöste, scheint es nicht in den Sinn gekommen zu sein, 
der Carin deswegen Vorwürfe zu machen, weil sie, die geborene 
Deutsche, nur russische Politik trieb, ohne sich dabei um die deut- 
schen Interessen zu bekiimmern. Eher schon wurde wohl einmal die 
Hoffnung ausgesprochen, Katharina könne sich als Vertreterin des 
aufgeklärten deutschen Absolutismus und seiner höheren Gesittung 
dazu bereit finden lassen, den Expansionsdrang ihrer russischen Um- 
gebung zu zügeln. In diesem Sinne wandte sich in einem Briefe 
vom 23. Februar 1795 „der alte Hüttner“ Gleim an die Fürstin Pauline 
zur Lippe, eine geborene Prinzessin von Anhalt-Bernburg, und bat 
sie als nahe Verwandte und deutsche Standesgenossin der Carin, 
durch persönliche Interzession bei dieser für eine Milderung der rus- 
sischen Expansionspolitik zu wirken. Mit einer allerdings wohl kaum 
zu überbietenden politischen und psychologischen Harmlosigkeit 
schrieb er angesichts des Zusammenbruches der polnischen Erhebung 
von 1794: „Ach! und jetzt gehen wieder erschreckende Gerüchte! 
Rußland, sagt man, wolle bis ins Unendliche sich vergrößern. Hatte 
es mit diesem Willen seine Richtigkeit, so fielen die eroberten Völker 
in die alte Barbarei ohne Zweifel wieder zurück. Die Selbst- 
herrscherin von Rußland kann nun aber diesen Humanität tödtenden 
bösen Willen nicht haben; sie stammt ja aus dem humanen deutschen 
Fürstenhause von Anhalt und liebt, wie Pauline, die Musen; also 
hat ihr Senat den oben angeführten bösen Willen! — Ach! Durch- 
lauchtigste Fürstin..... möchten Sie ihr doch sagen können: Sie 
solle dem Willen ihres Senats nicht folgen; ihr eigener Wille, das 
schon unübersehliche Reich im Innern zu einem unabsehbaren Pa- 


on oo Gesch. Rußlands unter Kaiser Nikolaus |. Bd. I 
2) V. Rath: Das Deutsche in Katharina Il. Konservative Monatsschrift, 
jg. 74 (1916/17), Dezemberheft, S. 210. 


205 


radiese zu machen, sei der bessere Wille; folge sie diesem, dann 
erst wäre sie Selbstherrscherin, wäre des Menschengeschlechtes 
wahre Wohlthäterin?).“ 

Wenn praktische Politiker wie die europäischen Diplomaten am 
Petersburger Hofe beobachteten, daß Katharina „sich selbst mit dem 
entschiedensten Eifer für eine Russin gab“), daß sie — wie der 
preußische Gesandte Graf Solms an Friedrich den Großen schrieb — 
es als ihren Hauptfehler (,,vice capital“) betrachtete, nicht als Russin 
geboren zu sein®), so nahmen sie das als ein durch die unsichere 
Stellung der Kaiserin auf dem usurpierten Throne bedingtes Faktum 
hin, das sie als eine gegebene Größe in ihre politische Kalkulation 
einstellten. Für den sentimentalen Kosmopolitismus ihrer deutschen 
literarischen Beurteiler hatte dagegen eine solche Beobachtung leicht 
einen unangenehmen Beigeschmack, nicht deshalb, weil damit Ka- 
tharına ihre deutsche Vergangenheit verleugnete, sondern weil ihm 
jede nationalistische Einstellung eine mit der Weltweite des kosmo- 
politischen Empfindens nicht zu vereinende Eingeschränktheit, ja 
Beschränktheit bedeutete, im besten Falle eine „heroische Schwach- 
heit“, wie Lessing gesagt hatte). Demgegenüber empfand dann 
gerade der Bewunderer Katharınas das Bedürfnis, sich den vollen 
Umfang ihrer Leistung als Vertreterin der Aufklärung und des 
Toleranzgedankens zu vergegenwärtigen, um auf diese Weise für 
sein Endurteil ihre ihm anstößige nationalistische Befangenheit zu 
kompensieren. Hierfür ist eine Stelle aus den „Kosmopolitischen 
Wanderungen“ des westpreuBischen Literaten Karl Feyerabend be- 
zeichnend’). „Sie, aus Politik eine Russin“, schreibt Feyerabend, 
»versiattete jeder Religionsparihey eine unumschränkte Freyheit in 
ihren Gebräuchen und Sitten..... Nie ist irgendein Andersdenkender 
seit dem Laufe ihrer merkwürdigen Regierung gemißhandelt oder 
gar unterdrückt. Ihre Seele schien von dem edlen Wunsche des 
großen Stifters unserer Religion belebt, sie wollte eine Herde und 
einen Hirten schaffen.... Alle Menschen waren ihr gleich, was sie 
glaubten und predigten, wenn sie nur ruhig und still lebten. Diese 
in dieser Hinsicht so mustervolle Fürstin steckte in Verbindung mit 
dem großen Friedrich das erste Licht der Aufklärung im Norden an. 
Heiden und Muhammedaner, Griechen und Unierte, Catholiken und 
Protestanten, alle lebten in süßer Einigkeit bey einander und ver- 
folgten sich nicht. Um die Einigkeit der Partheyen zu erhalten, ver- 
anstaltete sie zuweilen kleine Feste, wo die Geistlichkeit aus allen 


3) P. Rachel: Fürstin Pauline zur Lippe und Herzog Friedrich Christian 
von 5 (1903), S. 20 f. 


4) Th. Bernhardi: Gesch. Rußlands und der europäischen Politik in 
den Jahren 814-1831. Bd. II (1875), Teil 2, S. 207. 


s) Am 7. August 1772. S. Politische Korrespondenz Friedrichs d. Ge. 
Bd. XXXII (1908), S. 422. 


©) Lessing an Gleim, bei W. Wenck: Deutschland vor 100 Jahren. Bd. I 
(1887), S. 134. 
7) Bd. II (1803), S. 456. 


206 


Sekten zusammenkam, sich freundschaftlich besprach, brüderlich die 
gemeinschaftliche Freude genoß, die ihnen ihre große Monarchin 
bereitete, und friedlich wieder auseinanderging“. Interessant ist auch 
der ebenso echt aufklärerisch gedachte wie vom Standpunkte der 
religiösen Denker unter den Slavophilen unmögliche Schlußsak 
Feyerabends: „Vom Thron verbreitet sich das Licht der Duldung über 
den ungesitteten Haufen. Das edle Beyspiel der Kaiserin wirkt auf 
die Herzen ihrer Untertanen. Diese noch so roh, so ungebildei, 
wissen nichts von Religionsverfolgung. Nirgends findet man weniger 
Fanatismus wie bei den Russen.“ 

Nun war auch bei denjenigen, die sich zu einem mehr oder 
weniger „reinen“ Kosmopolitismus bekannten, die weltbiirgerliche 
Exklusivität in einem sehr verschiedenartigen Grade entwickelt, und 
für so manchen von ihnen ließ sich die weltbürgerliche Gesinnung 
recht wohl mit einem freudigen Stolze vereinigen, der betonte, was 
gerade Deutschland und die Deutschen für die Sache der Menschheit 
namentlich in kultureller Beziehung geleistet hatten. Woldemar 
Wenck hat in seinem Buche „Deutschland vor hundert Jahren“ dieser 
Stimmung deutschen Selbstbewußtseins, die mit dem Aufschwunge 
der deutschen Literatur seit den siebziger und achtziger Jahren 
gleichen Schritt hielt, als einer Vorform des deutschen National- 
bewuBiseins eingehendere Beachtung geschenkt’). In diese geistes- 
geschichtlichen Zusammenhänge reihen sich auch die deutschen Zeit- 
stimmen ein, die bei der Verherrlichung von Katharinas Großtaten 
sich mit Genugtuung an die deutsche Herkunft der russischen Carin 
erinnerten. Je weniger aber die deutschen Zeitgenossen — wie wir 
sahen — gegenüber dem Willen Katharinas, sich selbst zu russifi- 
zieren, empfindlich waren, desto ungehemmter konnten sich ihre 
stolzen Gefühle ausleben, daß diese Frau, „die größte des neueren 
Zeitraumes“), deren Regierung „für alle Zeiten ein wichtiges Stück 
in der allgemeinen Geschichte der Menschheit bleiben wird‘), eine 
Deutsche war. Zwei Beispiele mögen diese Stimmung unter den 
zeitgenössischen Beurteilern Katharinas noch etwas farbiger ge- 
stalten. „Unter allen bisherigen Kaysern und Kayserinnen aus 
Peters I. Stamme“ — so schrieb 1800 der Berliner Geistliche David 
Jenisch — „war kein einziger des großen Urahnen würdig gewesen. 
Endlich betritt denselben eine teutsche Prinzessin, auf welcher sein 
Geist der Kraft, der Kühnheit, der Festigkeit ruht, verbunden mit der 
feinsten Cabinets-Gewandtheit und Geschmeidigkeit. Von dem 
schönen Lichte ihres Jahrhunderts erleuchtet, ein so großes Muster 
als ihren unsterblichen Oheim Friedrich Il. im Auge, entwirft und 
vollführt sie schöpferische Plane; fängt an, wo Peter I. aufhörie; 


8) a. a. O. Bd. I, Abschnitt 3, S. 108 ff. 


*) J. R. Forster: Run, 5 der Geschichte Katharinas II., Kaiserin 
von Rußland. (1797), S. 


10) Kurz gefaßte en Catharinas Il. Kaiserin und Selbst- 
herrscherin aller Reußen. (1797), S. 100. 


14 NF 5 907 


vollendet, wo er begann“ ii]. Oder womöglich noch volltönender 
heißt es im „Politischen Journal“ von 1796 aus Anlaß von Katharinas 
Tode: „Dies große menschliche Wesen, welches in Rußland wohnte 
und ein Drittheil des achtzehnten Jahrhunderts zu seiner Epoche 
machte, war eine teutsche Prinzessin aus dem unmächtigen Anhalt- 
schen Hause von Zerbst: Ein teutsches Geniel*?)“ 

Wenn man aber wie Wenck für die zeitliche Abgrenzung dieser 
Stimmung deutschen Selbsibewußtseins bis auf die Behauptung 
Wielands zurückgeht, er entsinne sich nicht, daß er in seiner Kind- 
heit jemals das Wort deutsch ehrenhalber habe aussprechen hören:), 
so wird man dabei natürlich das für den Durchbruch dieser Stim- 
mung entscheidende Erlebnis Friedrichs des Großen und seines Welt- 
ruhmes nicht übersehen. Gerade in der Begeisterung der Süd- 
deutschen für Friedrich den Großen, die Preußen nach Goethes Wort 
„nichts anging“), spielt das Moment eine Hauptrolle, daß durch 
Friedrichs Taten der deuische Name dem Auslande gegenüber wieder 
zu Ehren gebracht wurden. Insofern — wird man sagen können — 
hat Katharina von dem Weltruhme Friedrichs des Großen profitiert, 
als der Preußenkönig zuerst den neuen Fiirstentypus des aufge- 
klarten Selbstherrschers in einer vorbildlichen Gestalt verkörpert 
hatte und dadurch seit langer Zeit zum ersten Male wieder die 
allgemeinste Teilnahme auf einen deutschen Fürsten gelenkt worden 
war. Bei dem Stolze, mit dem diese Tatsache die deutschen Zeit- 
genossen erfüllte, und bei der großen Zahl überdurchschnittlicher 
Begabungen, die im 18. Jahrhundert unter den deutschen Fürstinnen 
vorhanden waren, war es für den damaligen deutschen Publizisten 
ein naheliegender und verlockender Gedanke, der Gestalt dieses 
großen weltberühmten deutschen Fürsten ein deutsches weibliches 
Gegenbild an die Seite zu stellen. Hierfür erschien aber, sowohl 
was den politisch-militärischen Erfolg, als auch was die Sichtbar- 
machung des herrscherlichen Eihos des Aufklärungsfürsten anlangt, 
Katharina unter allen ihren deutschen Standesgenossinnen als die 
vergleichbarste Größe, während die von Friedrich überwundene 
österreichische Kaiserin Maria Theresia, die überdies stärker, als die 
freigeistigen Literaten der Aufklärung wünschten, an den religiös- 


oe Geist und Charakter des achtzehnten Jahrhunderts. Bd. III (1801), 


12) Jg. 1796, S. 1247. — Ahnlich auch J. M. Hofmann: Katharina Il. Die 
einzige Kaiserin der Erde usw. Bd. I (1787), S. 8: „Ist die einzige Kaiserin 
sie bewundernder Welten nicht Deutschlands würdigste Tochter?" — Allg. 
Deutsche Bibliothek, Bd. XXXVIII (1798), S. 174: „Unsere große Lands- 
männin.“ — Historisch-genealogischer Kalender, Jo. 1798, S. 6 f: Nach Auf- 
zählung von Katharinas Taten: „Es sind Unternehmungen einer Frau, ciner 
Deutschen.” Usw. 


18) Uber deutschen Patriotismus in Werke (Hempel), Bd. XXXIV, S. 318. 
l 1 Dichtung und Wahrheit. Buch 2. Weim. Ausg. Abt. I, Bd. XXVI 
1889 
i 0 es Wohlwill: Weltburgertum und Vaterlandsliebe der Schwaben. 
1875 


208 


gebundenen Traditionen des habsburgischen Hauses festhielt, dabei 
ganz zurücktrat. 

„Wie glücklich sind wir, in einem Jahrhundert zu leben, das 
keinen gekrönten Unmenschen gezeuget hat! Wie glücklich, den 
Zepter eines Friedrichs zu küssen, der sich der Schwäche der Mon- 
archen ebenso sehr bewußt ist, als er sich bestrebet, ihre Hoheit zu 
erreichen! Wir setzen ihm hierin seine große Bundesgenossin, die 
glorreichst regierende Russische Monarchin Catharina zur Seite,“ 
so hieß es in einer Rede, die der Professor Johann Wilhelm Hecker 
zur Feier des Geburtstages der Carin im Gymnasium ihrer Vater- 
stadt Stettin im Jahre 1771 hielt!). Und ähnlich lautete es in den 
1800 erschienenen „Denkwürdigkeiten aus dem ablaufenden Jahr- 
hundert“): „Wenn je herrschende Personen sich in der Regierung 
durch Vorzüge zu gleicher Zeit ausgezeichnet haben, so dürften 
Friedrich der 2te von Preußen und Katharina die 2te von Rußland 
dazu aufgestellt werden.“ Viel entschiedener aber und zugleich die 
deutsche Stammeszugehorigkeit der beiden fürstlichen Persönlich- 
keiten kräftig unterstreichend, drückte sich Johann Gottfried Seume 
aus, wenn er in seiner Katharina-Biographie von 1797 schrieb: „Die 
beiden nordischen Helden zum Anfange des Jahrhunderts ausgenom- 
men, sind ohne Widerspruch in kosmischer Rücksicht ein deutscher 
Mann und eine deutsche Frau, Friedrich der Zweite von Preußen und 
Katharina die Zweite von Rußland, die wichtigsten.“ Und mit nicht 
mißzuverstehendem Seitenhiebe auf die deutschen Revolutions- 
enthusiasten fügte er hinzu: „So merkwürdige Männer auch in den 
neueren Händeln der Franzosen aufgetreten sind, so ist doch keiner 
derselben so wichtig, daß er nur entfernt in eine Vergleichung mit 
diesen beiden gestellt werden könnte. Unser Vaterland darf stolz 
sein, sie unter seine Kinder zu zählen.“ Wie für Friedrich, möchte 
Seume auch für Katharina den Beinamen „die Einzige“ in Anspruch 
nehmen, ja er meint, daß man diesen Namen für sie noch eher 
behaupten könne als für den König von Preußen: „Friedrich findet 
gewiß in der Geschichte der Männer noch mehr, wie er war: Es 
würde aber schwer werden, noch eine Frau zu finden, die mit 
Katharina durchaus verglichen werden konnte’®).“ 

Indem aber für die deutschen Zeitgenossen die Gegenüber- 
stellung von Friedrich und Katharina immer mehr der gegebene Ver- 
gleich wurde, bildete er auch den Ausgangspunkt für zahlreiche, 
mehr oder weniger durchgeführte Parallelen zwischen den beiden 
Herrschern, die sich ebensosehr auf ihre Taten wie auf ihre 
Charaktereigenschaften ersireckten!®). Diese Parallelen waren schon 
darum sehr beliebt, weil sie begreiflicherweise bequeme literarische 


10) Der Monarch ein Mensch. (1771), S. 6. 

17) (1800), S. 269. 

18) Werke, hrsg. v. A. Wagner. (18372), S. 439 u. 475. 

10) Polit. Journal, Jg. 1796, S. 1244 f. — Denkwiirdigkeiten aus dem ab- 
laufenden achtzehnten Jahrhundert. (1800), S. 593. — H. v. Storch: Gemalde 
von St. Petersburg. Bd. II (1793), S. 84 f. 


209 


Hilfsmittel zur Charakteristik Katharinas boten. Der wunderliche 
Sak Theodor von Hippels: „Wenn diese Monarchin mit dem Könige 
von Preußen ein Paar worden: Welt! Was meinst Du)?“ ist ohne 
die den zeitgenössischen Darstellern so lieb gewordene Gewohnheit, 
den großen Mann und die große Frau des Jahrhunderts gewisser- 
maßen als „Pendants“ zu sehen, kaum verständlich. Aber Friedrich 
hatte doch nicht nur dem Ruhme der Carin vorgearbeitet, indem er 
durch seine Gestalt den Zeitgenossen die Sicht für eine Erscheinung 
wie Katharina erst freimachte, sondern — wir sahen es bereits an 
dem Beispiele Seumes — sein Ruhm diente doch auch wieder dem 
Ruhme Katharinas zur Folie, von dem dieser sich desto heller abhob. 
Hinzu kam, daß der Gestus der Liebenswürdigkeit, Heiterkeit und 
Grazie, den Katharina in ihrem ganzen Auftreien bis zur Virtuosität 
‚handhabte, den Menschenfreunden des achtzehnten Jahrhunderts 
natürlich viel besser lag als die bissige Menschenverachtung des 
Preußenkönigs in seinen Spätjahren. Wenn z.B. Johann Michael Lenz 
in seinem Briefe an Lavater vom 15. April 1780 gegen das Bild, das 
der große Physiognomiker von der Carin entworfen hatte, polemi- 
sierend schrieb, der Blick Katharinas habe bei aller Majestät ihres 
Auges und ihrer Haltung „nicht das schröckende Feuer des alten 
Friedrichs“), so war das sicherlich ganz aus den Herzen aller 
Humanitätsfreunde von damals gesprochen. 

Durch nichts aber — so möchte man annehmen — hätte für den 
zeitgenössischen deutschen Literaten der Ruhm Friedrichs durch den 
Katharinas mehr verdunkelt werden können als durch die Tatsache, 
daß der König von Preußen die deutsche Literatur verachiete, 
während die seit ihrem vierzehnten Lebensjahre von Deutschland 
entfernt lebende Carin den Zusammenhang mit Werken deutschen 
Schrifttums nie völlig verlor. War es auch nicht die zukunftsreiche 
deutsche Literatur, die Klassiker, an die sie sich wandte, als sie, des 
zunehmenden Radikalismus der französischen Aufklärung über- 
drüssig, seit Voltaires Tode immer ausschließlicher deutsche Schrift- 
steller las, sondern die deutschen Aufklärer zweiten Ranges, die 
Nicolai, Thümmel, Schummel usw., so glaubte sie doch in ihren 
Briefen an Friedrich Melchior Grimm, den Herausgeber der „Cor- 
respondance littéraire“, Friedrich den Großen wegen seiner Unkennt- 
nis und Verachtung der deutschen Literatur beklagen zu müssen»). 
Bei der Bedeutung, die Grimm für die damalige europäische Literatur- 
berichterstattung hatte, sollte man meinen, daß diese Stellungnahme 
Katharinas nicht unbekannt geblieben ist. Dennoch haben wir unter 
den zahlreichen Parallelen, die von den deutschen Zeitgenossen 
zwischen Katharina und Friedrich gezogen wurden, nur eine zu finden 
vermocht, die diese Tatsache hervorhebt. Sie findet sich in Heinrich 


20) Samtl. Werke, Bd. IV (1828), S. 256 f. 

21) Bricfe von und an Joh. Michael Lenz. Hrsg. v. K. Freyhe und 
W. Stammler. Bd. II (1918), S. 162. 
8 en, Vgl. Karl Hildebrand: Zeiten, Völker und Menschen. Bd. V (1902), 


210 


Storchs „Gemählde von St. Petersburg‘), einem Buche, das Katha- 
rina gewidmet ist. Storch, bekanntlich einer der Hauptvertreter der 
sogen. deutsch-russischen Schule der Nationalokonomie™), wurde 
1766 zu Riga geboren, bekleidete seit 1789 verschiedene Stellen im 
russischen Staatsdienste und wurde nach dem Tode Katharinas Il. 
Erzieher der Großfürsten Nicolaj und Michail. Es lag daher nahe, 
daß er bei der Darstellung dessen, was Katharina in Petersburg für 
die Wissenschaften und Künste Rußlands geschaffen hatte, auch ihres 
persönlichen Verhältnisses zur Literatur gedachte. Vielleicht darf 
man sogar annehmen, daß er dabei wenigstens mittelbar von Katha- 
rina oder ihren Hofleuten inspiriert war. Immerhin ist diese Stelle, 
schon weil darin bezeichnenderweise der Auslandsdeutsche das Be- 
durfnis fühlt, den reichsdeutschen Leser wegen seiner Lobeserhebung 
der russischen Herrscherin auf Kosten des deutschen Herrschers um 
Verzeihung zu bitten, interessant genug, um hier zum Schlusse in 
vollem Umfange wiedergegeben zu werden: „Friedrich der Zweyte 
liebte die Wissenschaften, wie Katharina, seine erhabene Freundinn; 
wie sie beschubte und pflegte er die Musen, denen er wie sie in 
seinen sorgenfreyen Stunden manches Opfer brachte. Gleich ihr 
suchte er unter seinem Volk Kenntnisse und Geschmack zu ver- 
breiten, die Morgenröthe der Philosophie über der Dämmerung der 
Vorurtheile und des Pedantismus herbeyzuführen und den Künsten 
Tempel zu weihen. — Aber Friedrich, ein deutscher Fürst, kannte die 
Sprache seines Volkes nicht, hatte den Eigensinn, sie nicht kennen 
zu wollen, selbst da sie seiner Schätzung Werth geworden war, 
selbst da seine Vertrauten ihn auf die Fortschritte seiner Nation auf- 
merksam machten. Überall ein großer Mann, ließ er sich hier von 
einem längst gefaßten und oft widerlegten Vorurtheil leiten, welches 
der deutschen Nation seinen aufmunternden Beyfall entzog und ihr 
die unersetzliche Ehre raubte, den größten aller Schriftsteller den 
ihrigen nennen zu können. — Katharina die Zweyte, durch Geburt und 
Erziehung mit zwey Sprachen vertraut, lernt die dritte, mitten im 
berauschenden Gewühl eines glänzenden Hofes, unter den Sorgen 
einer unermeßlichen Herrschaft, unter dem Jubelgeton errungener 
Siege — aus dem Gefühl ihrer Pflicht und aus patriotischem Interesse 
fur die Kultur ihres Volks! — Deutscher Leser! Für dich ist kein 
Anstoß in dieser Vergleichung. Auch Sie ist ja dein, wie Er es war.“ 


Anhang P’. 
Geschichien, Reisebeschreibungen, Programme usw. 


1762. Joh. Gotth. Lindner, Programm zum Namenstage der Kaiserin Ka- 
marina Il. (25. Nov. 62). Riga. 


ss) Bd. Il (1793), S. 84 f. 

34) Handwörterbuch der Siaatswissenschaften. Bd. VII (19264), S. 1143. 

* Anhang | u. Il wollen, was die deutsche Literatur über Rußland und 
Katharina Il. anbelangt, B. v. Bilbasov: Katharina Il. im Urteile der Welt- 
literatur. Autor. Übersehung aus dem Russischen. Mit einem Vorwort 
v. Th. Schiemann. Bd. I u. II. (1897) ergänzen. 


211 


1763. 
1764. 
1764. 
1764. 
1764. 


1764. 
1765. 
1765. 


1765. 


1768. 
1769. 
1770. 
1771. 


1772. 
1775. 


1777. 
1778. 


1779 f. 


1780. 
1780. 
1781. 
1782. 
1785. 


212 


Gespräch im Reiche der Todten zwischen einem österreichischen 
Feldpater und russischen Popen von dem Leben und Ende Peters Ill, 
Kaiser und Selbstherrscher aller Reußen. Frankft. u. Lpz. 
D. Joh. Fr. Joachim, Fortgesebte Geschichte der Staatsveranderungen 
des russischen Reichs, 3. Teil zu Herrn de la Combes Geschichte 
von Rußland. Halle. 
Kurze Beschreibung und Geschichte des russischen Reichs, wie auch 
merkwürdige Staatsveranderung von anno 900 bis auf Peter d. Or. 
und seit dessen Regierung und Ableben bis auf die Thronbesteigung 
und den 4. Okt. 1762 geschehenen Crönung Catharina Alexiewna Il. s. l. 
Anton F. Büsching, Gelehrte Abhandlungen und Nachrichten aus und 
von Rußland. Lpz., Kbg. Pr. und Mitau. 
Joh. Gotth. Lindner, Denkmal auf die allerhuldreichste Gegenwart 
Catharina Il. zu Riga bei der Feyer des Kronungsfestes in einer 
Schulabhandlung den 23. Sept. 1764 errichtet. 
pao Programm zum Kronungsfeste der Kaiserin Catharina fl. 
iga 
Derselbe, 1 LOQEAIaND zum Namenstage der Kaiserin Catharina II, 
ov iga 
Dem hohen Geburtsfeste der allerdurchlauchtigsten Beherrscherin 
aller Keußen widmen diesen Glückwunsch in unterthänigster Er- 
ae die somes Alumni des Jageteufelschen Collegii zu Stettin 
en 2. 
(Christian. Fr. Schwan), Russische Anekdoten oder Briefe eines teut- 
schen Offiziers an einen lievländischen Edelmann, worinnen die vor- 
nehmsten Lebensumstände des russischen Kaysers Peter Ill. nebst 
dem unglücklichen Ende dieses Monarchen enthalten sind. Wands- 
beck 8 J. 1765 von C. F. S. de la Marche. 
Joh. G. Herder, Rede am Namensfeste der Monarchin. April 1768 in 
Riga in sämtliche Werke, hrsg. von B. Suphan Bd. XXXI, S. G. 47. 
Derselbe, Tagebuch meiner Reise von Riga nach Nantes. Werke, 
a. a. O. Bd. IV, S. 343 f. 
Graf Viktor A. Henckel v. Donnersmarck, Tagebuch des russ.-türk. 
Krieges in Milit. Nachlaß, Bd. II (1846), hrsg. von K. Zabeler. 
J. G. von Boden, Erste Rede am feyerlichen Krönungsgedächtnisfeste 
Ihro Majestät der Kaiserin Katharina d. Zweyten am 22. Sept./3. Okt. 
1771 in einer Versammlung von Patrioten abgelesen. Vermischte 
Schriften. Mitau. 
J. G. Landgraf, Bemerkungen über den letzten Krieg wider die Türkei 
als eine Erläuterung zum jebigen. Glogau. 
Samuel Gottfr. Geyser, Programm zu der Feier des festlichen Tages, 
welcher dem Andenken des 1764 mit den Türken geschlossenen 
Friedens gewidmet ist. Reval. 
Andreas Meyer, Briefe eines jungen Reisenden durch Livland, Kur- 
land und Deutschland, 2 Bde. s. |. 
Karl Aug. v. Struensee, Kurzgefaßte Beschreibung der Handlung der 
Peen europäischen Staaten Bd. I, S. 469—510 über Rußland. 
ing. 
er Bernoulli, Reisen durch Brandenburg, Pommern, Preußen, Kur- 
and, Rußland und Polen in den Jahren 1777—78, 6 Bde. Lpz. 
Chr. Aug. Clodius, Die Schlacht bei Chios. Neue vermischte Schrif- 
ten, Bd. II, S. 1—30. ; 
Joh. Plan 15 Russisches Kriegslied zur See in Schriften, 
Bd. l, S. 233. Gießen 1780. 
Uber Rußland. An Ihre Majestät Catharina Il. Selbsthalterin und 
Kaiserin aller Reußen, Bd. I. Breslau. 
Joh. Chr. Moris, Das Namensfest Catharinas ll. und das Andenken 
der Zurückkunft des Oroßfürsten Paul Petrowib. Riga. 
von Kerten, Auszug aus dem Tagebuch eines jungen Russen auf 
seiner Reise nach Riga. (Riga.) 


1784. 
1784. 


1784. 
1784. 


1785. 


1785. 
1787. 
1787. 
1787. 
1787. 


1788. 


17%. 


1790. 
1790. 
1790. 


1791. 


1795. 


er Gildenstadt, Reisen durch Rußland und im kaukasischen Ge- 
ge, 2 Bde. St. Pbg. 

Heinr. Chr. Gehe, Redehandlung bei der Feyer des Geburtstags- 
festes Ihro K. M. Katharinen ll. nebst einem Programm usw. Reval. 
S. M. Gmelin d. J., g cen durch Rußland, 4 Bde. St. Pbg. 

Adam Fr. Geisler d . J., Katharina ll. in Gallerie edler deutscher 
Frauenzimmer, Teil I. S. 1—86. 

K. Th. M. Snell, Programm zur Charakteristik großer Regentinnen. 


* Riga. 


M. E. Tozen, Einleitung in die europ. Staatenkunde, 2 Bde. s. l. 
Tagebuch der Reise eines Deutschen von Lübeck nach St. Peters- 
burg im August 1785. Langensalza. Vgl. Allgemeine deutsche 
Bibliothek Bd. 95, S. 560. 

Heinrich Nudow, Rede am 25jahrigen Oedächtnisfeste der Thron- 
besteigung Katharinas ll. St. Pbg. 

8 Bapt. Cataneo, Eine Reise ‘durch Deutschland und Rußland. 


a Michael Hofmann, Katharina Il. die einzige Kaiserin der Erde, 

Selbstherrscherin aller Reußen, Tauriens würdige Tochter, machtigste 

Erretierin und großmütigste Beglückerin, ein untertänigstes Opfer am 

herrlichsten wonnevollen Kronungstage der allergutigen und ae 

liebten Huldgottin zu Tauriens urerster Alleinbeherrscherin. 

sang. Frkft. a. M. (Mehr nicht erschienen.) 

Unparteiische Nachricht von dem Ursprung, den Eroberungen, dem 

98 15 Regierung und der Kriegs verfassung der Türken. Frft. 

a. M. u. Lpz. 

J. M. Schweighofer, Politischer Zuschauer. Wöchentliche Beiträge 

zur Geschichte des gegenwärtigen Feldzuges der Österreicher und 

Russen wider die Türken. 13 Hefte. Wien. 

Unpartheiisch-geographisch-historischer Kriegsweiser. Wien. 

Ein Wort im Vertrauen über den Türkenkrieg. Wien. 

Chr. Fr. Scherwinzky, Rußlands Flor. Riga. 

(Joh. Rautenstrauch), Ausführliches Tagebuch des ibigen Krieges 

zwischen Österreich und der Pforte, Bd. I. Wien. 

oh. Eb. Fr. Schall, Drei Silhuetten, Katharina Il, Peter l., Friedrich ll. 
iga. 

Morib Boye, Beytrage zur Statistik von Rußland. Bayreuth. 

(Adam Chr. Gaspari), Urkunden und Materialien zur näheren Kennt- 

15 aan Geschichte und Sitaatsverwaltung nordischer Reiche, 3 Bde. 
amburg 

Benedikt. F. J. Herrmann, Statistische Schilderungen von Rußland in 

Rücksicht auf Bevölkerung, Landesbeschaffenheit, Naturprodukte, 

Landwirtschaft, Bergbau, Manufakturen und Handel. St. Pbg. u. Lpz. 

Sammlung der merkwiirdigsten Stadte und Festungen, welche in den 

Jahren 1788, 1789 und 1790 von den k. k. österreichischen und k. rus- 

sischen Armeen der Pforte abgenommen worden, nach ihrer wahren 

Lage bezeichnet und illuminiert, nebst einer kurzen Beschreibung der- 

selben, nach Hof- und andern glaubwürdigen Berichten, 2 Teile mit 

illuminierten Kupfern und Planen. Prag. 

Th. Oldekop, Friedenspsalm, gesungen am Friedenstage. Dorpat. 

Jakob Fries, Reise durch Rußland, 1770—80. Lpz. 

Leprecht, Reise nach Petersburg und einem Teile von Deutschland. 

Frft.a.M. u. Pest. 

Unpartheiische Prüfung der Frage: Ob die Kaiserin von Rußland 

durch den Teschener Frieden die Garantie des westfälischen Friedens 

übertragen erhalten habe, und in der Eigenschaft als Garantin des- 

selben nun gegen Frankreich auftreten könne? Frft.a.M.u.Lpz. 

Ludwig Heinrich Frh. v. Nicoley, An die Kaiserin von Rußland — 

poetische Epistel in Werke, Bd. IV, S. 1 f. 


215 


179). 
1795. 
1793. 
1793. 
1793. 
1793. 


1794. 
1794. 


1795. 


1795. 
1796. 
1796. 
1796. 
1797. 


1798. 
1798 ff. 


1798 ff. 


1799. 


1800. 
1802. 


1802. 


1803. 
1805. 


214 


Balthasar Frh. v. Campenhausen, Versuch einer geographisch- stati- 

en Beschreibung der Statthalterschaften des russischen Reichs. 
ingen. 

Heinrich v. Storch, Gemählde von St. Petersburg, 2 Bde. Riga. 

Mathias Chr. Sprengel, Grundriß der Staatenkunde der vornehmsten 

europäischen Reiche. Halle, Bd. I, S. 181—229 über Rußland. 

Graf Joachim v. Sternberg, Reise von Moskau über Sofia nach 

Königsberg. Bin. 

Georg Forster, Erinnerungen aus dem Jahre 1790 in historischen Ge- 

mälden und Bildnissen von D. Chodowiecki. 

Joh. Gottl. Willamov, Sämtliche poetische Schriften, 2 Bde. Wien. 

1. Auf das Geburtsfest der russischen Monarchin, von Konfoderierien 
in Thorn gefeiert (1767). 

2. Auf die Wiedergenesung Ihro russ. kais. Majestät und des Groß- 
fürsten von der Einimpfung der Blattern (1768). 

3.Katharinens Einweihungsfest, auf das 40. Geburtsfest thro kais. 
Majestät aller Reußen, den 21. April 1769. 

4. Auf die Eroberung von Chocim (1769). 

5. 77 der russischen Armee bei Eröffnung des Feldzuges 
1770 

6. Auf die Schlacht am Kagul (1770). 

7.Abschiedslied der russischen Flotte (1770). 

8. Auf die Seeschlacht bei Tschesme (1770). 

9.Noch auf die Seeschlacht bei Tschesme (1770). 

10. Siegeslied auf die Eroberung von Bender (1770). 

11. Auf das Geburtstagsfest der russischen Monarchin (1772). 

Amalie v. Lie mann, Reisen durch einige russische Lander. Gottingen. 

Th. Gott. v. pees Lebensbeschreibung, Teil Ill: Rugland und Werke, 

14 Bde. Bin. 1827—39. 

Timotheus Frh. v. Spittler, Entwurf der Geschichte der europäischen 

znan Rußland: Werke hrsg. von Wächter-Spittler, 1827 f., Bd. IV, 

0 

Daniel G. Balk, Was war einst Kurland und was kann es jebt unter 

Katharinas Zepter werden? Mitau. 

Joh. Heym, Versuch einer vollständigen geographisch-topographischen 

Enzyclopädie des russischen Reichs. Göttingen. 

Heinrich Friebe, über Rußlands Handel, landwirtschaftliche Kultur, 

Industrie und Produkte. Gotha und St. Pbg. 

Konrad Pfeffel, Unter ie Bild in Poetische Versuche. Stutt- 

gart 1802 f., Bd. VII. S. 111 

Karl Elzner, Gemählde, meiner Reise aus Rußland durch Litauen 

un 17 nach Teutschland. Erfurt 1797, 1. Aufl., Hamburg 1802, 

Aufl. 

Zeichnungen eines Gemähldes von Rußland. Entworfen auf einer 

Reise durch das russische Reich. Moskau und St. Pbg. Celle. 

Daniel Falk, Taschenbuch für Freunde des Scherzes und der Satire. 

Andreas Rebmann, Obs kuranten- Almanach. 

Joh. Gottfr. Seume, Zwei Briefe über die neuesten Veränderungen in 

Rußland seit der Thronbesteigung Pauls I. Lpz. 

David Jenisch, Geist und Charakter des 18. Jahrh., 3 Bde. Bin. 

Joh. Wilh. Möller, Reise nach Volhynien und Cherson in Rußland im 

Jahre 1787. Hamburg. 

Der russische Kolonist oder Christian Gottlob Züges Leben in Ruß- 

land. Nebst einer Schilderung der Sitten und Gebräuche der Russen 

vornehmlich in den asiatischen Provinzen, 2 Bde. Zeitz u. Naumburg. 

Karl B. Feyerabend, Kosmopolitische Wanderungen durch Preußen, 

Podolien, Liv- und Kurland, 4 Bde. Königsberg i. Pr 

Heinrich v. Reimers, St.Petersburg am Ende seines ersten Jahr- 

hunderts mit Rückblicken, 2 Teile. St. Pbg. u. Lpz. 


1805. Georg Reinbeck, Flüchtige Bemerkungen auf einer Reise über 
St. Petersburg, Moskau, Grodno, Warschau und Breslau und Deuisch- 
land im Jahre 1805. Lpz. 

1808. Samuel Bauer, Interessante Lebensgemählde und Charakterzuge der 
denkwiirdigsten Personen aller Zeiten. Teil V: Peter Ill. Wien. . 

1809. Joh. Petri, Neuestes Gemählde von Liev- und Esthland unter Katha- 
rina Il. und Alexander Il. in statistik-politisch-merkantilistischer Hin- 
sicht. 2 Teile. Lpz. 

1811. D. W. Soltau, Briefe über Rußland und dessen Bewohner. Bin. 
1812. Brockhaus’ Zeitgenossen, Bd. XI, Brief Elisas v. d. Recke an Friedrich 
Nicolai vom Jahre 1795 aus St. Petersburg. 

1813. Ernst Wilhelm von Drümpelmann, Beschreibung meiner Reisen und 
merkwürdigen Begebenheiten meines Lebens. Riga. 

1819. Chr. Jacob Kraus, Vergleichendes Olossarium aller Sprachen und 

Mundarten 1 Kaiserin Katharina Il. in vermischte Schriften. Bd. VIII. 

romga uei 

8 Schlegel, Reisen in mehrere russische Gouvernements. 2 Teile. 

iga. 

1821. Christian Aug. Fischer, Kriegs- und Reisefahrten. Lpz. 

s.a. Auszug aus dem Tagebuche einer Geschäftsreise nach Rußland mit 
beigefügten Postrouten. Frft. a. M. 

1897. Karl H. Frh. v. Heyking, Aus Polens und Kurlands letzten Tagen. 

1907. Petersburger Tagebuch der Frau Erbprinzessin Auguste Karoline 
Sophie von Sachsen-Coburg-Saalfeld, geb. Grafin Reub j. L. im Jahre 
1795, hrsg. von W. K. v. Arnswaldt. Darmstadt. 


1819. 


Anhang II’. 
Zeiischrifienartikel. 


Im Chorus der öffentlichen Meinung Deutschlands im achizehnten 
Jahrhundert spricht das heutzutage stärkste Instrument einer offent- 
lichen Meinung nur mit einer schwach vernehmbaren Stimme. Die 
deutschen Zeitungen von damals dienten nahezu ausschließlich der 
Vermittlung von Nachrichten und kannten noch kaum das Räsonne- 
ment unserer modernen Zeitungen, durch welches diese zu Ver- 
treterinnen von politischen Parteien oder wirtschaftlichen Interessen- 
gruppen werden. Infolgedessen können wir die Zeitungen aus den 
Quellen für unsere Betrachtung im allgemeinen ausscheiden. 

Bis zu einem gewissen Grade wurde diese Funktion unserer 
heutigen Zeitung zu jener Zeit mitversehen durch die Zeitschriften- 
literatur), die mit dem von der Aufklärung geweckien Bedürfnis 
nach öffentlicher Erörterung allgemein interessierender Gegenstände 


Auffallend lückenhaft erweist sich die Bilbasovsche Bibliographie hin- 
sichtlich der zeitgenössischen deutschen Zeitschriftenliteratur, die eine so 
reiche Ausbeute für unser Thema lieferte, daß die Rußlandartikel der da- 
maligen deutschen Journale mit einer kurzen diese Quelle charakterisieren- 
den Bemerkung hier ebenfalls verzeichnet werden sollen. 


1) Vgl. die umfangreiche Bibliographie von J. H. Christian Beutler und 
J. Chr. F. Guts-Muths: Allgemeines Sachregister über die wichtigsten deut- 
schen Zeit- und Wochenschriften (1790). — Eine übersichtlichere Zusammen- 
stellung der wesentlichsten deutschen Zeitschriften des achtzehnten Jahr- 
hunderts gab R. F. Arnold in seinem in dieser Beziehung viel zu wenig 
beachteten Buche: Allgemeine Bücherkunde zur neueren deutschen Literatur- 
geschichte. (19192), S. 19 ff. u. 176 ff. 


215 


schnell und üppig?) emporgewachsen war. Ursprünglich auf ästhetisch- 
belletristische und mehr oder weniger wissenschaftliche Themen be- 
schränkt oder wie die große Masse der „moralischen Wochenschriften“ 
der Verbreitung praktischer Lebensweisheit auf populär-philoso- 
phischer Grundlage dienend, strebten diese Zeitschriften seit der 
zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts immer mehr dahin, auch 
politisch-aktuelle Fragen und Ereignisse, soweit das in den engen, 
von der scharfen absolutistischen Zensur gesteckten Grenzen möglich 
war, in den Kreis ihrer Betrachtungen zu ziehen. Mit dem Jahre 1773, 
dem Erscheinungsjahre des ersten Bandes von Wielands „Teutschem 
Mercur“ entsteht — wie vor kurzem überzeugend dargelegt wurde — 
in den „staatsbürgerlichen“ Journalen ein neuer deutscher Zeit- 
schriftentyp, der sich durch eine intensivere Behandlung von ver- 
fassungs- und sozialpolitischen Fragen sowohl von den moralischen 
Wochenschriften, von denen er abstammt, wie von den ausgesprochen 
literarisch-kritischen und gelehrten Zeitschriftenunternehmen deutlich 
unterscheidet?). Daneben wurden gleichzeitig oder doch nur wenig 
später Zeitschriften immer häufiger, in deren Titeln oder Untertiteln 
das Beiwort „politisch“ erscheint). In dem „Hamburger Politischen 
Journal“, das von 1781—1839 in dem damals dänischen Altona her- 
auskam, wird durch dieses Beiwort sogar schon eine weitgehende 
Spezialisierung auf das Gebiet der auswärtigen Tagespolitik aus- 
gedrückt. Seine Berichterstattung war entweder revueartig, indem 
mehrere Tagesereignisse und -fragen gemeinsam — in der Regel 
durch den Schriftleiter — besprochen wurden, oder bestand aus Ein- 
zelberichten der verschiedenen Korrespondenten, die mit oder ohne 
Kommentar zum Abdrucke gelangten. 

In der damaligen deutschen Zeitschriftenliteratur nahmen die Be- 
richte über Rußland bereits einen ziemlich breiten Raum ein. Schon 
viele von ihnen — auch die unpolitischen oder weniger auf das Poli- 
tische gerichteten — waren offenbar bemüht, ihre Leser nach Mög- 
lichkeit über das bisher so unbekannte Land im Osten, das unter 
Katharina einen so schnellen und weithin sichtbaren Aufstieg erlebte, 
zu unterrichten. Ihre Rußlandartikel enthalten zum größeren Teile 
landeskundliche und statistische Mitteilungen wie etwa die des „Han- 
növerschen Magazins“ (1750—1813), das von dem Kanzleisekretar 
Klockenbring in Hannover herausgegeben wurde und seinen Leser- 


2) Auf einen verwandten Vorgang in der russischen Publizistik des 
neunzehnten Jahrhunderts hat G. Grupp: Literatentum der Aufklarungszeit 
in Historisch-politische Blätter f. d. kathol. Deutschland, Bd. CXII (1893), 
S. 390 ff., im Anschluß an Leroy-Beaulieu hingewiesen. Auch hier verhinderte 
die Strenge der Zensur die quantitative, die qualitative Entfaltung des 
Tageszeitungswesens wurde aber die Veranlassung für das Enistehen von 
zahlreichen und inhaltlich wertvollen Revuen. 

3) Johanna Schultze: Die Auseinandersekung zwischen Adel und Bürger- 
tum in den deutschen Zeitschriften der lebten drei Jahrzehnte des achtzehnten 
Jahrhunderts (1773—1806). In E. Eberings Historischen Studien, Heft 165 
(1925), S. 24 

) Vgl. z. B. Beutler und Guts-Muths a. a. O., S. 261 fl. 


216 


kreis vorzugsweise unter der im praktischen Leben stehenden Be- 
völkerung suchte). Andere gaben mit Vorliebe Beiträge zu dem 
damals überaus geschätzten Thema der Sitten und Gebräuche. Für 
diese sei allein das von dem Weimaraner Bertuch — nach Goethe 
„der größte Virtuos im Aneignen fremder Federn“ — redigierte und 
namentlich in den oberen Schichten viel gelesene „Journal des Luxus 
und der Moden“ (1776—1827) als artvertretend genannt“). 

Aus der Reihe der an geisiigem Gehalt erheblich höher stehen- 
den „staatsbürgerlichen‘ Journale muß hier zunächst des „Deutschen 
Museums“ gedacht werden, das von 1776—73 von Dohm und Boie 
herausgegeben, dann von Boie allein (1789—91) als „Neues Deutsches 
Museum“ fortgeführt wurde’). Denn das „Deutsche Museum“ brachte 
gleich im ersten Jahrgange den anonym erschienenen Aufsak „Ka- 
tharina die Zweyie, Kaiserin von Rußland. Ein Gemäld ohne 
Schatten.“ Dieser Aufsak, der der Feder eines so namhaften zeit- 
genössischen Publizisten wie Friedrich Karl von Moser entstammte, 
war eine Frucht der Reise, die Moser als Geleiter der großfürstlichen 
Braut Natalja Alekseevna, Tochter der „großen Landgräfin‘ Karoline 
von Hessen-Darmstadt, 1773 nach Petersburg unternommen hatte’). 
Sein kleiner Aufsab, der 1773 geschrieben, zwei Jahre nach dem 
Frieden von Kutschuk-Kainardsche, dem eigentlichen Kulminations- 
punkt der auswärtigen Politik Katharinas, erschien, hat als der erste 
Ansatz zu einer zeitgenössischen Biographie der Carin Epoche ge- 
macht. Er ging, als beim Tode Katharinas die biographische Literatur 
über die Kaiserin sich erst voll entfaltete, 1797 wörtlich in das Buch: 
„Katharina ll., ein biographisch-charakteristisches Gemälde“ des 
Plagiators H. F. Andra über“). 

Während wir bei unserer Überschau über die damalige Zeit- 
schriftenliteratur weitere Erscheinungen dieses durch das „Deutsche 
Museum“ reprasentierien „staatsbürgerlichen“ Zeitschriftentypes als 
minder ergiebig für unser Thema hier übergehen können, muß die 
zu derselben Gruppe gehörige von Biester und Gedicke geleitete 
„Berlinische Monatsschrift" (1799—1811) schon deswegen hier aus- 
drücklich hervorgehoben werden, weil ihr Verleger, der aus der Ge- 
schichte der Berliner Aufklärung hinreichend bekannte Friedrich 
Nicolai, zugleich auch der Verleger von Katharinas Il. in deutscher 


8) Vgl. W Stammler: Friedr. Arn. Klockenbring. Ein Beitrag zur Ge- 
schichte des geistigen und sozialen Lebens in Hannover. In Zeitschr. des 
histor. Vereins f. Niedersachsen, Bd. LXXIX (1914), S. 185 f. 


©) Vgl. Goethes Gespräche. 5 Neu hrsg. v. Fl. Frhr. 
v. Biedermann. Bd. II (1909), S. 


7) Vgl. W. Hofstatier: Innere Oesch. v. H. C. Boies „Deutschem Museum“ 
(1776—1791). Diss. phil. Leipzig 1907, S. 18 ff. u. 35. 


8) Vgl. Briefwechsel der großen 8 Caroline von Hessen. 
Hrsg. v. A. Walther. Bd. II (1877), S. 4 


e (1797). 


217 


Übersetzung erschienenen kleineren Schriften warte). Man könnte 
daher geneigt sein anzunehmen, daß diese Zeitschrift dank der Be- 
ziehungen, in die Nicolai zu Katharina trat, besonders häufig und 
besonders gut uber Rußland unterrichtet hatte. Das ist nun aber 
tatsächlich in einem bescheidenen Maße der Fall, wenn auch die von 
ihr gebrachten Rußlandartikel wie z. B. der 1783 veröffentlichte 
„Beytrag zur Geschichte des russischen Hofes“ zu den gediegeneren 
Erscheinungen in der damaligen Literatur über Rußland gehören. 
Diese befremdliche Tatsache laßt sich heute nicht mehr ohne weiteres 
erklären. Teilweise darf man sie wohl auf Zensurschwierigkeiten 
zurückführen. Denn die Berliner Zensur unter Friedrich dem Großen 
war bei allen auf Rußland bezüglichen Druckschriften sehr peinlichii). 

Nicolai fand indes in einer anderen seiner buchhändlerischen 
Unternehmungen, der „Allgemeinen Deutschen Bibliothek“, jener 
großen Rezensieranstalt, in der er in den Jahren 1765— 1806 alle 
literarischen Neuerscheinungen Deutschlands vom Standpunkte des 
„Aufklärungsberlinismus“ bekritteln ließ, Anlaß und Spielraum genug, 
um seine Meinung über Rußland zum Ausdruck zu bringen. Es ist 
wirklich erstaunlich, bis zu welchem Grade der Vollständigkeit hier 
die in deutscher Sprache über Rußland erschienenen Werke ver- 
zeichnet und besprochen worden sind. Die „Allgemeine Deutsche 
Bibliothek“ bildet für den Bibliographen dieser Literatur geradezu 
eine Fundgrube ersten Ranges, die aber von Bilbasov auch mit keinem 
Worte erwähnt wird. Daß die Besprechungen in diesem Organ in 
der Regel sehr rußlandfreundlich ausfielen, dafür sorgte nicht zulebt 
der Umstand, daß Katharina seine Abonnentin war:2). 

Wenn man auch die Wirksamkeit dieser in der Hauptsache kultur- 
politisch eingestellten ,,staaitsburgerlichen“ Gruppe unter der da- 
maligen Zeitschriftenliteratur für die Bildung einer öffentlichen Mei- 
nung über Katharina ll., wie wir sahen, keineswegs unterschaben darf, 
so kommt speziell für die zeitgenössische Beurteilung von Katharinas 
auswartiger Politik den Journalen mit ausgesprocheneren außenpoli- 


10) Es waren dies Katharinas „Aufsäbe betreffend die russische Ge- 
schichte“, mehrere ihrer kleinen Schriften, ihre Märchen und moralischen 
Erzählungen. Vgl. Bilbasov, Weltliteratur, Bd. I Nr. 414, 435, 455, 457, 482, 
542, 549. Für die Wirkung dieser Schriften Katharinas in Deutschland ist es 
bezeichnend, daß sich Musäus in der Vorrede zu seinen „Volksmärchen der 
Deutschen“ bei der Rechtfertigung des Erscheinens seines Märchenbandes 
auf Katharına als Vorgängerin beruft. Vgl. die Ausgabe der Musäusschen 
an n S Leyenschen Sammlung: Märchen der Weltliteratur. Bd.! 
1912), S. 


11) Vgl. F. Ebin: Die Freiheit der öffentlichen Meinung unter der Regie- 
rung Friedrichs des Großen. In Forschungen z. brandenb.-preuß. Gesch. 
Bd. XXXIII (1921), S. 36 u. 107: „Alle künftigen Ereignisse im russisch- 
türkischen Kriege mußten auf Befehl des Königs in russischer Beleuchtung 
erscheinen. — Vgl. auch E. Widdecke: Geschichte der Haude und Spener- 
schen Zeitung (1734—1874). (1925), S. 66. — Vgl. ferner Arend Buchholz: 
Pic 5 Zeitung. Geschichtliche Rückblicke auf drei Jahrhunderte. 
1904), S. 48 fl. 


12) Vgl. Alexander Brückner: Katharina die Zweite. (1893), S. 591. 


218 


tischen Tendenzen naturgemäß noch eine weit größere Bedeutung zu. 
Das einflußreichste von ihnen, das „Hamburger Politische Journal", ist 
schon genannt worden. Es wurde 1781—1804 von Gottlob Benedict 
Schirach (1743 — 1804), vordem Geschichtsprofessor an der Universität 
Helmstedt, herausgegeben und spielte dank seiner geschickten 
Schriftleitung und dank der für die damalige Zeit doch recht groß- 
zügigen Organisation seines weitverzweigten Mitarbeiterstabes, der 
sich aus Korrespondenten in allen namhafteren deutschen Städten 
zusammensebte, unter den Gebildeten der damaligen deutschen 
öffentlichen Meinung eine sehr beträchtliche Rolle. Wie hoch die 
Machthaber jener Tage seinen Einfluß bewerteten, zeigt u. a. die 
Tatsache, daß Maria Theresia den Herausgeber in den Adelsstand 
erhob. Anfangs den liberalen Ideen der Zeit mindestens nicht feind- 
lich, ließen seine guien Beziehungen zu den gekrönten Häuptern 
Schirach immer mehr in ein reaktionäres Fahrwasser einlaufen, ohne 
daß dadurch die Nachfrage nach seiner Zeitschrift gelitten hätte. 
Trotz der Begeisterung, die der Ausbruch der französischen Revo- 
lution überall in Deutschland weckte, fanden seine Hefte, in denen 
er 1789 die deutschen Fürsten zur Unterdrückung der Revolution auf- 
rief, einen so reißenden Abgang, daß ein Neudruck derselben nötig. 
wurde. 1790 hatte es von allen politischen Schriften Deutschlands 
zweifelsohne die größte Auflage**). Das Rußland Katharinas über das 
Schirach dauernd und regelmäßig berichtete, erscheint in seiner 
Zeitschrift geradezu als ein Wunderland von ungeahnten und un- 
begrenzten Möglichkeiten. Eine ähnliche Gesinnung wie das „Ham- 
burger Politische Journal“ zeigte bei geringerer Wirkung das von 
dem historisch geschulten Karl Renatus Hausen) und dem staats- 
wirtschaftlichen Schriftsteller Ferdinand Lüder:°) redigierte „Historische 
Portefeuille zur Kenntnis der gegenwärtigen und vergangenen Zeit" 
nn 1789), das ebenfalls ziemlich regelmäßig Artikel über Rußland 
brachte. 

Unter den weniger zahmen und weit weniger höfisch eingestellten 
süddeutschen journalisten traten in der zweiten Hälfte des achtzehn- 
ten Jahrhunderts besonders hervor die beiden Schwaben Christian 
Friedrich Daniel Schubart (1739—91), der Herausgeber der „Deutschen 
Chronik“ (1774—77), die er nach seiner Entlassung aus der zehn- 
jährigen Haft auf dem Hohen Asperg als ,,Vaterlandische Chronik“ 
(1787—91) fortführte:"), und der geniale Pamphletist Wilhelm Ludwig 
Wekhrlin (1739—92). 

Beide, trob ihrer Stammesbrüderschaft und Gleichaltrigkeit, nach 
Anlage, Charakter, Temperament, Gesinnung, Haltung, Überzeugungs- 


18) Vgl. Allg. deutsche Biographie. Bd. XXXI (1890), S. 307. 
2 a Ludwig Salomon: Gesch. des deutschen Zeitungswesens. Bd. 111900), 


18) Vgi. Allg. deutsche Biographie. Bd. XI (1880), S. 87. 

10) Ebd. Bd. XIX (1884), S. 377. 

17) Vgl. E. Schairer: Daniel Schubart als politischer Journalist. Diss. 
phil. Tübingen 1914. 


219 


treue, Blick für Realitäten usw., kurz in jeder Beziehung Antipoden. 
Die ewige Geistestrunkenheit Schubaris des „Kraffbarden“, wie 
Wekhrlin spottete, läßt sich wohl nicht leicht glücklicher charakteri- 
sieren, als das Robert Franz Arnold in seiner „Geschichte der deut- 
schen Polenliteratur‘:®) getan hat: „In verzückter Betrachtung der 
Tagesereignisse schuf er rund um sich ein Pantheon und opferie 
vor jedem Aliar..... Mit der großen Carin trieb er einen förmlichen 
Kultus, der sich in allen möglichen biblischen, mythologischen, histo- 
rischen Parallelen erschöpft. So oft er von Rußland spricht, erzeugt 
dumpfes Furchigefuhl, gepaart mit jener Bewunderung für alles 
Grandiose, in seinem Geist eine Flut kühner Metaphern ..... Was 
die Midashand des schwäbischen Chronisten berührt, alles wird zu 
poetischem Gold.... und so, je nach Laune den Gesichtspunkt wech- 
selnd, bringt er es fertig, gleichzeitig Russen- und Turkenlieder zu 
dichten.“ 

Ungleich moderner als Schubart — moderner im Sinne des Jour- 
nalismus aus der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts — 
erscheint Wekhrlin. Sein letzter Biograph hat die tiefe Verschieden- 
heit in der Anlage und der Bildung der beiden schwäbischen Zeitungs- 
schreiber: des „leichten, geistreichen, freigeistigen und aristokratisch 
gesinnten“ Wekhrlin und des ,,pathetischen, frommeinden, demokra- 
tischen, volkstümlichen“ Schubart auf die vielleicht etwas zu einfache 
Formel gebracht: „Es war ein Gegensatz wie zwischen Wieland und 
Klopstock:®).“ Denn was den Vergleich Wekhrlins mit Wieland recht- 
fertigt, beruht doch in der Hauptsache nur darauf, daß die Bildung 
beider durchaus im Französischen wurzelt. Wekhrlin hatte, wie er 
selbst sagi, seinen Geist „größtenteils an der Quelle der gallischen 
Pieriden genährt“*) und an den Vorbildern seiner französischen 
Lieblingsautoren Montaigne, Montesquieu, Voltaire, Diderot, Galiani, 
Raynal, Mercier gelernt, seinen Hang zu Humor, Witz und Satire zu 
jener Vielseitigkeit, Fülle, Tiefe und Treffsicherheit zu entwickeln, 
„die von keinem zeitgenössischen Schrifisteller, Lichtenberg aus- 
genommen, überboten wurden‘). Deutlicher hat wohl G. Grupp den 
Unterschied zwischen Schubart und Wekhrlin zur Anschauung ge- 
bracht, wenn er sagt: „Er war in ersier Linie Literat, Freigeist und 
Schöngeist. Der politische Trieb beherrschte sein Leben, und dieser 
Grundzug gibt ihm ein einheitlicheres Gepräge als dem seiner aben- 
teuernden Landsleute?®).“ Auch das nähert Wekhrlin den journa- 
listen des neunzehnien Jahrhunderts, daß er ausschließlich von der 
Zeitung lebte). So kurzlebig die meisten seiner Zeitungsunter- 


18) Bd. I (1900), S. 78. 


10) Gottfried Böhm: Ludwig Wekhrlin. Ein Publizistenleben des acht- 
zehnten Jahrhunderts. (1893), S. 238. 


20) Chronologen, Jg. 1782, Bd. IV, S. 39. 


21) F. W. Ebeling: W. L. Wekhrlin. Leben und Auswahl seiner Schriften. 
(1869), S. 7. 


22) Literatentum der Aufklarungszeit, a. a. O. S. 383. 
23) Ebd. S. 382. 


220 


nehmen, wie die „Chronologen“ (1779-81), das „Graue Ungeheuer“ 
(1784—87), die „Hyperboräischen Briefe“ (1788—90), die „Paragrafen“ 
(1791), waren, er hat immer aus ihnen seinen Lebensunterhalt schlechi 
und recht zu bestreiten vermocht. 

Als „Erben“ Wekhrlins hat sich ein anderer Siiddeutscher, der 
Franke Andreas Georg Friedrich Rebmann aus Jugenheim*!) (1760 bis 
1824) betrachtet und seine geistige Abhangigkeit von ihm mit Vor- 
liebe dadurch bezeugt, daß er die Titel Wekhrlinscher Journale und 
Broschüren für seine Zeitschriften und sonstigen publizistischen 
Machwerke übernahm. Aber seine geistige Physiognomie ist der 
Wekhrlins doch nur von ferne betrachiet ähnlih. Wie sein sprach- 
liches und stilistisches Niveau ein wesentlich niedrigeres ist als das 
Wekhrlinsche, so erscheinen auch seine geistigen Züge neben denen 
Wekhrlins karikaturenhaft verzerrt. Wekhrlin war ein geradliniger, 
aufrechter, von leidenschaftlichem Unabhängigkeitsgefühl erfüllter 
Mensch. Rebmann, eine dem Magister Laukhard verwandie Natur, 
gehört zu jenen zweifelhaften, brüchigen, hali- und hemmungslos 
umhergeworfenen Existenzen, an denen auch in Deutschland das 
stürmische Jahrhundertende nicht arm war). 

Ein so fanatischer Kämpfer „für jede Revolution und gegen fast 
jeden Thron“ fühlte natürlich häufig genug Veranlassung, sich in 
seinen zahlreichen und kurzlebigen Zeitschriften: dem „Neuen Grauen 
Ungeheuer“ (1795), der „Schildwache“ (1796), der „Geißel“ (1797), der 
„Neuen Schildwache“ (1798) und dem „Obskuranfen- Almanach“ 
(1797 1800) mit der russischen Carin, der lezten Repräsentantin des 
ausgehenden aufgeklärten Absolutismus großen Stiles, auseinander- 
zusetzen. 

Stellen wir uns nach dieser subjektivsien aller Berichterstattungen 
auf den Boden einer objektiveren, so haben wir in unserer Überschau 
der deutschen Journalliteratur schließlich noch zweier Zeitschriften 
zu gedenken, die stärker als die bisher genannten wissenschaftliche 
Ziele verfolgen. Die „Minerva“, ein Journal historischen und poli- 
tischen Inhalts (1798 — 1809), geleitet von dem ehemaligen Hauptmann 
der friderizianischen Armee und ersten Geschichtsschreiber des 
Siebenjährigen Krieges Johann Wilhelm von Archenholz*) aus Lang- 
fuhr bei Danzig (1741—1812), der sich schon vorher als Redakteur 
der wissenschaftlichen Monatsschrift „Literatur- und Völkerkunde“ 
(1782—86) („Neue Literatur- und Völkerkunde“, 1787—91) versucht 
hatte, sollte vorzüglich der neuesten Geschichte aller Länder gewidmet 
sein, brachte aber dann zumeist nur Materialien zur Geschichte der 
französischen Revolution. Erst nach seiner Rückkehr von Frankreich 


34) Vgl. N. v. Wrasky: A. G. F. Rebmann. Leben und Werke eines 
Publizisten zur Zeit der großen französischen Revolution. Diss. phil. Heidel- 
berg 1907, S. 3. 

26) Vgl. auch dafür Arnold, Polenliteratur, a. a. O. S. 161 fl. 

38) Vgl. Friedrich Ruof: Johann Wilhelm von Archenholz. Ein deutscher 
Schriftsteller zur Zeit der französischen Revolution (11741 1812). E. Eberings 
Historische Studien, Heft 131 (1915), S. 44 f. 


221 


nach Deutschland griff Archenholz auf den anfänglichen Plan zurück 
und brachte auch wieder andere Beiträge zur Zeitgeschichte. Für 
das Urteil der deutschen Zeitgenossen über Katharina Il. ist die 
„Minerva“ vor allem durch die Biographie des carischen Günstlings 
Potemkim aus der Feder des sächsischen Legationsrates Helbig, 
eines der unterrichtetsten damaligen Rußlandkenner, wichtig ge- 
worden, um von anderen interessanten und aufschlußreichen Artikeln 
ganz zu schweigen. 

Noch mehr wissenschaftlich eingestellt und dem Charakter 
unserer heutigen wissenschaftlichen Fachzeitschriften doch schon 
recht nahe kommend, war das von einem der berühmtesten Geo- 
graphen des Jahrhunderts, Anton Friedrich Büsching, herausgegebene 
„Magazin für die neuere Geschichte und Geographie“, das von 1767 
bis 1793 in 27 Bänden erschien. Büsching war zweimal in Rußland 
gewesen, zuerst 1750 als Hauslehrer in der Familie des dänischen 
Ministerresidenten Grafen Lynar, das andere Mal als Pastor der 
lutherischen Gemeinde in Petersburg in den ersten Regierungsjahren 
Katharinas Il. (1761—65). Unterstüßt und gefördert von maßgebenden 
Persönlichkeiten wie dem Herzoge von Kurland, dem Feldmarschall 
Münnich und dem Grafen Johann Jacob Sievers, dem aufgeklärten 
Staatsmanne Katharinas ll., hatte er während seines Aufenthaltes in 
Petersburg umfangreiche Sammlungen historischen, geographischen 
und statistischen Materials anlegen können. Einen großen Teil dieser 
Materialien, die die Hauptquellen für seine „Erdbeschreibung“ 
bildeten, hat er nach seiner Rückkehr nach Deutschland in seinem 
„Magazin“ veröffentlicht, das zweifellos die genauesten, zuverlässig- 
sten und reichhaltigsten Nachrichten enthält, die wir aus jenen Tagen 
über Rußland besiken. Vollkommen erfüllte sich daher für seine 
Zeit, was er sich im Vorworte zum dritten Bande des „Magazins“, 
der vornehmlich der Geschichte Rußlands gewidmet ist, zum Ziel 
steckte: „Der Staatsverfassung und neueren Geschichte dieses Reichs 
die Aufklärung zu verschaffen, die es bisher nicht gehabt hat?”).' 

Was den Quellenwert des in den deutschen Zeitschriften des 
achtzehnten Jahrhunderts mitgeteilten Materials über Rußland betrifft, 
so war dieser natürlich in den einzelnen Fällen ein sehr verschieden- 
arhger. Die Rußlandartikel der kleineren Journale waren wohl nicht 
allzu häufig „Originalbeifräge“, sondern aus der bereits gedruckten 
Rußlandliteratur geschopft. Als willkommene Hilfsmittel für solche 
Zwecke boten sich an das viel zitierte, von dem deutschen Überscker 
der Werke Katharinas Il. C. G. Arndt herausgegebene „St. Peters- 
` burger journal“ (1776—80), fortgesetzt als „Neues St. Petersburger 
Journal” (1781—84), an dem auch Katharina selber mitarbeitete, oder 
die von 1781—91 in Riga erscheinenden „Nordischen Miscellaneen“ 
(„Neue Nordische Miscellaneen“ 1792—98) des Pastors August Wil- 
helm Hupel (1737— 1819):®), dessen Mitteilungen sich allerdings über- 


37) Magazin, Jg. 1770. Bd. Ill. Vorrede. — Vgl. auch A. P. Büschings 


Lebensgeschichte. (1789), passim. _ 
28) Vgl. Allg. Deutsche Biographie. Bd. XIII (1880), S. 422. 


222 


wiegend auf die Ostseeprovinzen bezogen. Beide, von denen die 
eine sozusagen unter der Aufsicht Katharinas entstand, die andere 
sich des Beifalls der Kaiserin rühmen durfte, waren von vornherein 
auf Auslandwirkung berechnet, haben jedoch auf die Dauer ihren 
Zweck nicht erfüllt). 

Ein wesentlich höherer Wert kommt den Rußlandartikeln der 
größeren deutschen Zeitschriften zu. Der weitaus größere Teil von 
ihnen stammte doch wohl von Leuten, die Rußland aus eigener An- 
schauung kannten; der Rest gewöhnlich von Gelehrten, die min- 
destens mit der vorhandenen Rußlandliteratur wohlvertraut waren. 
Die fortlaufenden Türkenkriegsberichte des „Politischen Journals“ 
können für ihre Zeit den Anspruch erheben, als gründliche Kriegs- 
berichterstattung zu gelten. Sie berücksichtigen sorgfältig alles be- 
kannt gewordene Material, in erster Linie natürlich das offizielle: die 
Manifeste und Proklamationen der beiden kriegführenden Parteien. 
Die zeitgenössische historiographische und biographische Literatur 
hat aus eigenem Besitz selten etwas herausgebracht, was die Rub- 
landkenninis des damaligen Deutschlands wesentlich gefördert hätte. 
Sie betrachtete dieses gewöhnlich als Quelle, die sie in der Regel 
ziemlich kritiklos benubte oder wohl gar einfach wörtlich ausschrieb. 
Infolgedessen geht man kaum fehl, wenn man den Quellenwert der 
Rußlandberichte in den größeren deutschen Zeitschriften höher ein- 
schätzt als den der übrigen Erzeugnisse der damaligen deutschen 
Publizistik, die Reisebeschreibungen im engeren Sinne ausgenommen. 


Hannöversches Magazin. 
. 1765. Rußlands vorteilhafte Lage zum Handel nach Ostindien. 
.1774. Untersuchung über die Veränderungen, welche bis auf unsere 
Zeiten in der russischen Oesebgebung vorgenommen sind. 
.1779. Zustand der Chirurgie und Musik bei der russischen Armee. 
g. 1780. Assemblee, Gesetze beschrieben von Wehrs. 
1781. Bemerkungen über das Klima von King. 
über die Einwohner Rußlands. 
jg. 1786. Pallas, Beschreibung des Schlangenberges, des vorzüglichsten 
russischen Bergwerkes. 
2 1788. EIwas über die Russen und Türken. 
1789. Eine bei dem Blutbade von Oczakow im Dezember 1788 gemachte 
Bemerkung. Aus den Briefen eines russischen Offiziers. 
Von Müller: Katharina befichit statt unterthänigster Knecht ge- 
treuester Unterthan zu sagen. 


journal des Luxus und der Moden. 

Jo. 1791. Uber Rußland, seine Landesart, Sitten, Luxus, Moden und Ergob- 
lichkeiten. 

Deuisches Museum. 


Ja. 1776. Nachricht von der Expedition des Prof. Lowiz in Astrachan, der 
daselbst astronomische Beobachtungen anstellen sollte, von 
Inochodzew. 

Catharina Il. Ein Gemald ohne Schatten (Fr. Karl Moser). 
über die Volksmenge. 


se) Vgl. Bilbasov, Weltliteratur, a. a. O. Bd. I, S. 555. 
15 NF 85 993 


Jg. 1777. Rußlands auswärtiger Handel, beschrieben von Prof. Güldenstädt, 
mit Anmerkungen konzentrieret von Ch. Dohm. 

2 1782. Zustand der russischen Bergwerke. 

g. 1783. Petersburgs neuester Handel. 

Jg. 1786 f. Joach. Ch. Schulz, Aphorismen zur Kunde der kaiserlichen Staaten. 


Goltingesches Magazin. 
Jg. 3. Bemerkungen auf einer Reise von Petersburg nach der Krym. 


Teutscher Mercur. 

9.1774. Merkwürdigkeiten der russischen Volkerschaften aus Pallas. 
9.1782. Einige nähere Umstände über den Guß von Peters Bildsäule. 
Jg. 1789. Uber die esthnischen und russischen Bäder, von J. Bellermann. 


Historisch-literarisches Magazin. 
Ja. 1786. F. Ch. Jebe, Beitrag zu Katharinas Universalglossarium. 


Ephemeriden der Menschheit. 

Jg. 1776. Erziehungsanstalten in Rußland. 

inschränkung gerichtlicher Instanzen. 

a 1776. Handelsertrag in den Jahren 1760, 1768, 1775. 

g. 1781. As kais. Verordnung über die Verwaltung der Gouver- 
nementer. 
An die kaiserliche Akademie der Wissensch. in re 
Neue Anstalten zu Petersburg zur Beförderung der Wissen- 
schaften und Künste. 

Jo. 1782. Entwurf der bewaffneten Neutralität. 
Polizeiverordnung für Katholiken. 

Ja. 1785. Rußlands geographische Veränderungen. 
Rußlands Knospen zu seinem künftigen Flor. 
Russ. kais. Manifest bei Errichtung der Statue Peters d. Großen. 
Etwas neues von der russischen Landwirtschaft. 

Ja. 1784. Medizinalverfassung von Rußland, von J. C. S. aus Herren Hofrath 
Baldingers neuem Magazin für Arzte Bd. VI, Stück 1, S. 9. . 


Deutsche Monaisschrift. 


Ja. 1793. Uber die öffentliche Sicherheit in St. Petersburg, von H. Storch. 
eudenfest Peters d. Großen, von v. Wackerbart. 
Lebensgenuß in St. Petersburg. 


Berlinische Monaitsschrift. 

Ja. 1783. Beitrag zur Charakteristik des russischen Hofes. 

Ja. 1785. Nachrichten über die Jesuiten in Rußland. 

Jo. 1787 f. Nachricht vom russischen Seekriege wider die Türken in den 
Jahren 1769—1773. 

Jg. 1788. Schreiben Katharinas Il. an Frau v. d. Recke. 

Jg. 1789. 1 und Zustand der Jesuiten aus ihrem eigenen Staats- 

alender. 


Allgemeine deutsche Biblloihek!). 

Bd. 54. 11,329. Nachricht von verschiedenen Völkern. 

Bd. 60. 1,304. Katharina die Große lieset die A. d. B. u. a. deutsche 
Schriften mit Vergnügen. 

Bd.61.11,523. Beim Schulwesen soll ein höchst schädlicher Universal- 
schuldespotismus herrschen. 

Bd.63. 1,189. Mangel an Ärzten. 

Bd. 66. I, 7f. Geseke wider Beschimpfungen. 

Bd. 69. I, 7. Peter Ill. von Rußland, über seine große Liebe zum un- 
mäßigen Trinken. 


1) Hier sind nur die selbständigen Artikel aufgenommen, nicht aber die 
auf die Rußlandliteratur bezüglichen Kritiken. 


224 


Bd.76. I, 3f. Beiträge zur topographischen Kenntnis dieses Reiches. 
Bd. 79. 1,188. Kirchliche Statistik, welche von dem geg egenwärtigen kirch- 
lichen Zustande dieses Reichs gute Nachrichten gibt. 
Bd. 80. Il, 509. Unterstiibung Rußlands mit Geld und Offizieren durch 
Preußen im vorigen Türkenkriege. 
Bd. 86. 1,202. Ruglands Handel nach China 
1, 261. ene die Oleichheit der Stande wiederhergestellt 


Anhang V.2,1026. Rußlands berühmte Uneigennübigkeit wird bezweifelt. 
Bd. 95. 11,341. Von Rußland und Österreich fiirchtet man, daß sie die 
Freiheit schwächerer Staaten bedrohen. 
Bd.105. J, 166 . Die Kronbauern besitzen kein erbliches Land. 
Bd. 111.11, 530. Der Russen Anhanglichkeit an alte Gebräuche und Ab- 
neigung gegen neue. 
Il. Bi. n Kriege und Eroberungssucht schädigen den 
andel. 
Bd. 112. 1,165. Leibeigenschaft in Rußland. 
Il, 507. Oewissensfreiheit in Rußland. 
II. 508 f. Verteilung von Amtern ohne Rücksicht auf die Religion. 


Hamburger Politisches journal. 
Dauernde Berichte: 
1. Allgemeiner Bericht von den politischen Merkwürdigkeiten und 
Begebenheiten. 
2. Nachrichten von verschiedenen Ländern. 

Jo. 1783. Kriegsgeschichte. Anfang der Feindseligkeiten zwischen Rußland 
und den Tataren. 

Manifest der Kaiserin von Rußland bei Besisnehmung der Krym. 
Kurze Beschreibung der Krym und der Kubanischen Tatarey. 
An Katharina, Rußlands große Kaiserin, ein Gedicht. 

Jg. 1784. Genauere Geschichte der russ. u. türk. friedlich geschlossenen 
und österr. und türk. fortgehenden Negotiationen. 

Jg. 1786. Schreiben des Herrn v. Kosodowlew aus St. Petersburg an den 
Herrn v. Thümmel von den Schulanstalten und anderen merkwür- 
digen neuen Einrichtungen in Rußland. 

Jg. 1787. Vorfälle zwischen den Russen und Tataren und in Georgien und 
Ägypten. Russ.-türk. Angelegenheiten. 

Reise der russischen Kaiserin nach Kiew. 

Briefe aus St. Petersburg. 

Liste der Volksmenge in Rußland nach der neuesten Zählung in 

allen Gouvernements. 

a des römischen Kaisers und der russischen Kaiserin nach 
erson. 

Kriegserklärung der oflomanischen Pforte gegen Rußland. 

Hung Fortgesebte Geschichte. S. auch Jg. 1788, 1789, 

Ja. 1788. Wahre Darstellung von dem Betragen der Kaiserin in Angelegen- 
heiten der Krym. 

ja. 1796. Tod der Kaiserin; Hist. stat. Schattenriß von ihr und Rußland unter. 
ihrer Regierung. 


Hamburger Adreß-Comtoir-Nachrichien. 
Jg. 1784. Nr. 13—16. C. D. Ebelings kurze Schilderung an gegenwärtigen 
Gouvernementisverfassung des russischen Nei 


Hislorisches Portefeuille. 


Dauernder Bericht: Abriß der Begebenheiten. 
Jo. 1786. Uber Rania ands Ärzte und medizinische Anstalten. 
Be der u Tea im russischen Reich. Ein ungedruckter Auf- 
sab aus 


225 


Übersicht der Vor- und Nachfeile, welche für Rußland durch die 
Besitznehmung der Krym entstehen können. 
Fabricius: Ungedruckte Briefe auf einer Reise durch Rußland im 
Jahre 1786. 

Jg. 1787. Fabricius: Ungedruckte Briefe usw. 
Etat der Reichsleihebank in Petersburg. 
Krieg zwischen Rußland und der osmanischen Pforte. S. auch 
Jg. 1788, 1789. 

jg. 1788. Bemerkungen über die russische gegen die Türken ziehende 
Armee. Aus den Briefen eines bei derselben befindlichen Offiziers. 
Briefe über den bevorstehenden Türkenkrieg zur Aufklärung des 
zeitigen europäischen Handlungssystems. 
Krieg der beiden Kaiserhofe gegen die osmanische Pforte. 
Krieg zwischen Rußland und Schweden. 
Russische und schwedische Ministerialschriften. 


Deutsche Chronik. 

Jg. 1774. Türkengesang. — Pugatschew. — Schlachigesang eines russischen 
Grenadiers nach der Schlacht bei Chocim. 

Jg. 1775. Rußland. 


Vaterlandische Chronik. 


Jo. 1787. Auszug in den Krieg. — Ein Bild aus dem Türkenkrieg. — Weis- 
sagung Mahomeds. 

Jg. 1788. Schlachtruf eines Ungarn. — Kriegsblicke. — Polen. — Moskovia. 
— Gang des Türkenkrieges. 

Jg. 1789. Otschekof: Ein russisches Siegeslied. — Der Kriegsdamon. — 
Rußlands Entwicklung. — Rußland. — Katharina. — Hinblick auf 
das sterbende Jahr 1789. 

Jg. 1790. Katharina. — Friede. 

Jg. 1791. Sistovo. — Vom Türkenfrieden: Geschlossen, geschlossen der 
wütige Kampf. 


Chronologen. 
Ja. 1779. Russische Anekdoten. 


Das graue Ungeheuer. 
Ja. 1787. Kriegsgeräusche. 3 Briefe aus Rußland, Österreich, der Türkei. 
Rußland und die Türken. 


Hyperboraische Briefe. 
Jg. 1788. Mentor an Egisth: Uber den Tod Peters Ill. u 
Dragut an Resinowics, Zween Dragusanische Pafrizier: Uber 
den Krieg. 
Ja. 1789. Kultur und Barbarei. 
Markulf an Rhynsold: Für den Liebhaber. 
Rhynsold an Markulf: Zur Antwort. 
Palinodie. 


A. Schlözers Briefwechsel meist historischen und politischen Inhalis. 


Heft 1. Stadt-, Dorf-, Diözesen-, Kirchen-, Manufakturen-, Bauernmenge 
nach Peters d. Gr. Tode. 

Heft 2. Truppenbesoldungswesen im Jahre 1762. . 

Heft J. Abgabenzahlung aller kopfsteuernden männlichen Einwohner im 
anre 1725, 1745, 1766. , 

Heft 4. erzeichnis der seit 1763 an der Wolga angelegten Kolonien. 

Heft 5. Darstellung der Zunahme des Handels Rupana im 18. Jahrhundert. 

Heft 8. Kirchenlisten der Provinz Nowgorod. — lands Holzhandel. — 


Uber die Akademie der Wissenschaften in Petersburg. 
Heft 11. Uber Petersburgs Handel, Größe, Rußlands Einkünfte, Land- und 
Seemacht aus Reisenachrichten. i . 
Heft 19. Extrait des remarques, qu'un voyageur a fait 1774 sur la Russie. 


226 


Heft 31. Volksmenge und Einkünfte der von Polen erhaltenen Provinzen. 

Heft 48. rnal der russischen Flotte in der Levante 1770—74. 

Heft 60. der Arzte, Aufwand im Innern des Landes, deutsche Be- 
dente, Branntweinseinkinfte, Pockeninoculation, Papiergeld, 
erende Städte. 


A. Schlözers Staatsanzeigen. 
Heft 11. Russische Schulprojekte. Vgl. Heft 17. 
Heft 19. Russische Volksschulen. 
Heft 20. Rußland er\.bert Konstantinopel nach einer alien Weissagung. 
Heft 27. Errichtung des Gouvernements Riga und Reval betreffend. 
Heft 37. Neue Kanäle. 
Heft 46. Uber Schwedens Krieg mit Rußland 1741 und 1788. 
Heft 48. Zustand des Schulwesens. 
Heft 49. Rußlands Verhältnisse gegen Schweden. 
Manifest das Papiergeld betreffend. 


Archenholz’ Minerva. 
jo. 1797. Justizpfiege in einigen russischen Provinzen. 
.1798. Historische Züge und Nachrichten zur Lebens- und Regierungs- 
geschichte der Kaiserin Katharina Il. gehörig. 


Das neue graue lingeheuer. 
Jo. 1798. Fragment einer Reise durch Rußland und Polen. 


Neue nordische Miscellaneen. 


Bd. 1/2. Uber die im russischen Reich gebräuchlichen Strafen. 
Katharina Il.: Etwas von ihrem Charakter. 

Bd. 3/4. Eine ruhmwürdige Privatanstalt für arme Kranke in St. Pbg. 

Bd. 7/8. Welches sind die vorteilhaftesten Manufaktur- und Fabrikbeschäf- 
figungen in Rußland? Von Herrn Hofrat Müller. 
1 8 8 5 fl. Ihre vorteilhaften und weisen Einrichtungen des 

andels. 
Bd. 13. Katharinas Grogmut gegen Gelehrte. 


Forigesegie neue genealogische Nachrichien. 

Ja. 1762. Die ersten Handlungen des neuen russischen Kaisers. — Die 
merkwürdige Regierungsgeschichte des Kaisers Petri Ill. — Die 
Entthronung des russischen Kaisers Peter Ill. und dessen darauf 
erfolgtes Ende. 


Rigische Anzeigen. 
Jo. 1765. St.27. Joh. G. Herder, Gedicht auf Catharinas Thronbesteigung. — 


Lobgesang auf Catharina am Neujahrsfeste = in: Gelehrte 
Beyträge zu den Rigischen Anzeigen 1765 St. 


227 


MISCELLEN 


POLNISCHE STUDENTEN IN FRANKFURT 


Von 
Theodor Wotschke. 


Im April 1506 wurde unfern der polnischen Grenze eine neue deutsche 
Hochschule, die Viadrina, eröffnet. Sie sollte die Landesuniversitat des 
Kurstaates Brandenburg sein, aber auch die Studenten des Ostens ab- 
fangen, die die deutschen Hochschulen, besonders Leipzig und die vor 
wenigen Jahren erst gegründete Leucorea besuchen wollten. Es ist ihr doch 
nicht geglückt. Ihre Ablehnung der Reformation und die wunderbare Ent- 
wicklung Wittenbergs ließ die lernbegierigen Jünglinge an ihr vorüber zur 
Elbstadt ziehen, und als sie der Reformation ihre Pforten öffnete, auch 
Georg Sabinus, der Schwiegersohn Melanchthons, dem Humanismus an ihr 
einen Aufschwung gab, kehrten sie wohl bei ihr ein, aber doch nur um 
bald weiterzuziehen, Wittenberg und Leipzig zuzustreben, da Lehrkräfte 
fehlten, die sie dauernd hätten fesseln können. Als sie nach einem jahr- 
hundert reformierten Charakter erhielt, steigerte sich ihre Anziehungskraft 
für die Anhänger Calvins, aber schon war deren Zahl in Polen so stark 
zurückgegangen, daß sie jährlich eine größere Zahl von Studenten nicht 
mehr stellen konnten. Immerhin war Frankfurt ein bedeutender Kulturfaktor 
für den Osten, die deutsche Universität, die selbst im 17. und 18. Jahrhundert 
neben Königsberg noch etliche Studenten aus Polen aufsuchten. Diese 
waren an der Oder noch zu finden, als sie in Leipzig und Wittenberg schon 
wieder eine ganz unbekannte Erscheinung geworden waren. Unbemittelte 
polnische Studenten lockten ja auch die Stipendien, die hier wie am 
Joachimstaler Gymnasium für sie gestiftet waren. Ein interessantes Bild, 
die Wogen polnischen Zuzugs in Frankfurt zu beobachten, zu verfolgen, 
wie diese in 300 Jahren auf- und niedergingen. 

Natürlich lockte die neue Universität zunächst die deutschen Bürger- 
söhne in den Städten Großpolens. Schon im ersten Jahre ihres Bestehens 
ließen sich an ihr zwei Posener einschreiben. Ihnen folgten Meseritzer. 
Schweriner, 1520 auch zwei Krakauer aus den bekannten Familien der 
Schilling und Gutteter. Einige Posener seien mit Namen genannt: Stanis- 
laus von Watt, der Sohn des Schöffen Konrad von Watt, eines Bruders des 
beruhmten Vadian, des Humanisten, Reformators und Geschichtschreibers 
von St. Gallen, der sich in Großpolens Hauptstadt niedergelassen, aber die 
Verbindung mit seinen Schweizer Verwandten immer aufrechterhalten, 
Herbst 1518 auch den Besuch seines berühmten Bruders in Posen emp- 
fangen hatte, ferner Kaspar Lindner, der Patriziersohn, auf dessen Stirn, 
mit dem Humanisten Andreas Trzecieski zu reden, der heilige Lorbeer 
grünte, ein Mediziner, der doch auch für die Sprachen das regste Interesse 
hatte, noch mehr fur die große religiöse Frage, der Freund der Witten- 
berger, der Korrespondent des Wittenbergers Paul Eber, schließlich die 
Brüder und Vettern Ridt, die Söhne der Kaufherren Zacharias und Hierony- 
mus Ridt, der reichsten Posener. Von ihnen hat Christoph Ridt (1568 Frank- 
furter Student, t 3. Februar 1606) seinen Namen tief in die Posener Ge- 


228 


schichte eingegraben. Auch die polnisch-katholische Sage hat sich seiner 
bemächtigt. Ausgehend von seinem Wappentier, der Rüde in seinem 
Ritterschilde, läßt sie ihn nach seinem Tode in einen wilden Wolf ver- 
wandelt werden und ruhelos umherirren. Den Posener deutschen Burger- 
söhnen stelle ich zur Seite einen deutschen Bürgersohn aus Neustadt bei 
Pinne, Andreas Volan, der 1544 uns unter den Studenten der Viadrina be- 
gegnet. Doch war er wirklich ein Deutscher? Sein Vater Johann aus 
schlesischem Adelsgeschlechte hatte sich in dem kleinen polnischen 
Stadtchen niedergelassen und eine Kwilecka geheiratet. Als Sohn einer 
polnischen Mutter und in polnischer Umgebung aufgewachsen, wird er sich 
als Pole gefühlt haben. Er hat 1550 noch in Königsberg aus deutschem 
Geistesleben geschöpft. In Litauen, wohin ihn sein Onkel Hieronymus Kwi- 
lecki, der Verwalter der Güter der Königin Bona Sforza, gezogen, ist er 
der Führer der Reformierten geworden, ihr leitender Theologe, unermüdlich 
die Feder führend im Glaubenskampfe, zugleich der Vater eines Theologen- 
geschlechtes, dessen Söhne noch nach zwei Jahrhunderten ihre Schritte zur 
Hochschule an der Oder lenkten. Vor allem aber müssen wir einen Frau- 
städter Schuhmachersohn nennen, den Frankfurt 1581 neben Leipzig ge- 
bildet hat, Valerius Herberger, den größten und bekanntesten deutschen 
Prediger im alten Polen, den frommen Schriftsteller und Dichter, dessen 
Lied: „Valet will ich dir geben, du arge, bose Welt“ in jedem evangelischen 
deutschen Gesangbuche sich findet, auch in unzählige Sprachen übersebt ist. 

Ein Franzose Spak hat Volan in seiner Jugend unterrichtet, deshalb 
wollen wir hier zwei Franzosen nennen, die in Frankfurt rasteten, hier 
lehrten und lernten, ehe sie den Wanderstab nach Polen weitersebten, um 
hier eine Lebensstellung zu gewinnen: Antonius Felix aus Poitou, 1524 an 
der Viadrina immatrikuliert, dann unter dem Rektor Bedermann Lehrer an 
der Lubranskischen Akademie in Posen, hier freilich bald durch den Leip- 
ziger Magister Christoph Hegendorf in den Schatten gestellt, und Michael 
Nigonius, Doktor der Jurisprudenz, Schützling Melanchthons, durch diesen 
schon 1540 Lektor in Wittenberg, 1542 in Frankfurt. Er hat in den folgenden 
zwei Jahren vergebens ein Amt in Polen zu gewinnen gesucht. Seine evan- 
gelische Überzeugung, über die er in seiner Heimat fast zum Märtyrer 
geworden wäre, war ihm allenthalben hinderlich. Selbst der Kastellan von 
Sieradz, Stanislaus Laski, konnte oder wollte ihm nicht helfen; er empfahl 
ihn nach Königsberg. Auch Jost Ludwig Dieb, der bekannte Krakauer Groß- 
kaufmann, Diplomat und Humanist, schrieb für ihn an den Hohenzoller im 
alten Ordenslande. Den beiden Franzosen seien einige italiener zur Seite 
gestellt, die Frankfurt zum Sprungbrett ihres Fortkommens in Polen zu 
machen gedachten. Georgio Negri aus Chiavenna und Franco Franci aus 
Conegliano in Venetien, Frankfurter Studenten 1552 und 1605. Dieser, in 
dem feurig das Blut kreiste und der in tollkühnem, falschem Eliaseifer eine 
Prozession störte: „Was fut Ihr, das Brot, das Ihr herumtragt, ist nicht 
Gotti" erhielt doch nur die Martyrerkrone 1611 in Wilna, und jener, der 
Sohn des namhaften Orientalisten Francesco Negri aus Bassano, fand ein 
nicht minder tragisches Ende. Pastor der italienischen Fremdengemeinde 
in Pinczow, dann schroffer Gegner der altkirchlichen Trinitätslehre und 
Parteiganger seines Landsmannes Socino, ist er gleichfalls eines gewalt- 
samen Todes gestorben, 1570 wurde er erschlagen. Und der, der ihn nach 
Polen gebracht und hier vier Jahre überlebt hat, Francesco Stancaro aus 
Mantua, der unheilvolle Zänker und Stänker, der die kleinpolnisch-evan- 
gelische Kirche 1559 f. in ein Chaos verwandelt, ihre werbende Kraft ge- 
brocken, dem Antifrinitarismus die Tür geöffnet, der unheilvollste Mann der 
polnischen Reformationsgeschichte? Welche Stellung er 1552 und Anfang 
1553 in Frankfurt eingenommen, ist nicht recht klar. Als Hörer hat er sich 
an der Akademie nicht eintragen lassen, auch Universitatslehrer war er 
nicht. Privatim hat er unterrichtet, unter seinen Schülern mag er auch 
manchen Polen gehabt haben. Dazu ließ er bei Eichhorn seine Canones 
reformationis mit Widmung an den polnischen König drucken, ein Büchlein, 
nach dem die Reformfreunde im Osten in den nächsten Jahren fleißig griffen. 


229 


Doch nicht von Ostdeutschen, Franzosen und Italienern unter den er 
furter Studenten, die sich später in Polen einen Namen gemacht 
dem Geschichtsfreunde Beachtung abzwingen, wollen die folgenden Zeilen 
handeln, sondern von Polen, die es zum Oderstrande zwang und die hier 
ihre Ausbildung gefunden haben. Als erster von ihnen sei Lukas Jenkowski 
genannt, 1526 Student der Viadrina, Erbherr auf Krzeskowice im Kreise 
Samter, der Schußherr der böhmischen Brüder in Großpolen. Als einer der 
ersten von den adligen Herren hat er sich ihnen angeschlossen, und mit 
seinem Schwager, dem Scharfenorter Grafen Jakob, der 1532 in Leipzig 
studiert hat, wohin übrigens auch Jankowski zur Vervolistandigung seiner 
Frankfurter Studien 1528 gegangen ist, war er immer zur Stelle, wo es galt, 
bedrängte Glaubensgenossen zu schützen, Verfolgungen von ihnen abzu- 
wenden. Einen Valentin aus Samter scheint er angeregt zu haben, gleich 
ihm die Studienfahrt nach Frankfurt 1535 zu unternehmen. Bedauern wir 
hier, daß uns der Familienname nicht genannt wird, so haben wir auch 
sonst zu klagen, daß das Frankfurter Studentenverzeichnis die polnischen 
Namen zuweilen in einer Fassung bietet, daß wir unter ihnen ihre Träger 
nicht immer zu erkennen vermögen. Der Albertus Apenpufi, den die Ma- 
trikel noc 1533 verzeichnet, ist doch ein Pempowski, Erbherrnsohn aus 
Biechowo bei Wreschen. Er ist mit seinem Bruder Christoph, den er nach 
sich zog, im folgenden Jahre auch nach Wittenberg gewandert. Auch ein 
dritter Pempowski, Petrus, und ein Matthias Konarzewski haben 1535 und 
1536 ihre Schritte von der Viadrina zur Leucorea gelenkt. Da unter dem 
4. Februar 1534 der König Sigismund das Studium in Wittenberg streng 
verboten hatte, sollte vielleicht das Frankfurter Studium die Wittenberg- 
fahrt verschleiern. Martin Niegolewski, der 1537 vor den Rektor trat, hat 
sich durch das Verbot wohl schrecken lassen. Er ist 1545 dafür nach Leipzig 
gegangen, während sein Bruder oder Vetter Stanislaus in demselben Jahre 
auch die Wittenbergfahrt wagte. Erasmus Glitzner, der großpolnische Ge- 
neralsuperintendent, hat ihm 1565 eine kleine Schrift gewidmet, darin er vor 
den modernen Antitrinitariern warnt und ihre Verwandtschaft mit den ver- 
schrieenen Erzkebern der alten Kirche nachzuweisen sucht. 

Im Jahre 1538 war der gefeierte Sabinus als Professor der Poesie und 
Beredsamkeit nach Frankfurt gekommen, im folgenden Jahre erhiclt die 
Universität eine evangelische theologische Fakultat, die mittelalterliche 
Scholastik an ihr mußte dem siegenden Geiste der Reformation und des 
Humanismus weichen. Der Zuzug aus Polen beginnt nun zu wachsen. Die 
Oderuniversität ist auch fortan nicht mehr bloße Durchgangsstation für die 
Söhne des Ostens nach Wittenberg und Leipzig, wenn natürlich auch der 
Glanz der Leucorea weiter lockte. Manch einer läßt sich doch mit dem 
Studium an der Viadrina genügen. So 1542 Stanislaus Jaromirski, Johann 
Grocholski und Petrus Lanczki. Dieser war ein Schützling des Meseritzer 
Hauptmanns Nikolaus Myszkowski. Durch ihn erhielt er das Pfarramt auf 
seinem Erbgute Spytkowice unfern der oberschlesischen Grenze, dann 1557 
die ertragreiche Meserib-Schweriner Pfründe, der erste evangelische Stadt- 
pfarrer dieser Städte, nachdem evangelische Prädikanten hier schon ein 
Jahrzehnt und darüber im evangelischen Sinne gepredigt hatten. Im Jahre 
1543 steigt die Zahl der polnischen Ankömmlinge auf zehn. Ich nenne von 
ihnen Johann Jaczinski aus der Gegend von Sierads, Johann Lawski, Hiero- 
nymus Konarski. Jakob Rokossowski, der noch vor ihnen sich einschreiben 
ließ, hat in Laube im Fraustädter Kreise die Reformation eingeführt. Er ist 
Oberschakkaémmerer geworden und ist in Krakau 1580 verstorben, hat aber 
sein Grab in der damals noch evangelischen Pfarrkirche in Samter gefunden. 
Noch heute zeigt das Gotteshaus sein Sandsteindenkmal. Sein Studien- 
freund Stanislaus Obernicki, der Neffe des Tenutarius von Obornik Gregor 
Skora von Gaj, hat in Obornik die Reformation einzuführen gesucht, freilich 
damit auch 1562 ein königliches Edikt wider sich heraufbeschworen. Sein 
Bruder Albert ist noch 14 Jahre nach ihm 1557 zur Viadrina gekommen, dann 
aber an Wittenberg und Leipzig vorbei nach Italien gezogen. In Bologna 
hat er sich am 29. April 1561 einschreiben lassen. Noch in demselben Jahre 


250 


wurde er Ehrenrektor dieser altberiihmten Hochschule. Der beachtens- 
werteste Student des Jahres 1543 ist aber Stanislaus Ostrorog, Erbherr von 
Grab und Neustadt (Lwowek), deshalb als Lwowski in die Universitäts- 
matrikel eingetragen. Wenn er im Gegensabe zu seinem Bruder, dem 
Scharfenorter Grafen Jakob, der 1532 in Leipzig studiert hat, ausgeprägter 
Lutheraner war, also gegen die böhmischen Brüder sich ablehnend verhielt, 
so dürfen wir wohl annehmen, daß die lutherische Predigt in Frankfurt einen 
tiefen Eindruck auf ihn gemacht hat. Er war das Haupt der Lutheraner in 
Großpolen. Im engen Anschluß an Herzog Albrecht in Königsberg suchte 
er für sie zu sorgen. Synoden berief er, mit Vergerio und Melanchthon 
verhandelte er, um den Gemeinden eine Kirchenordnung zu geben, für die 
Ubersetzung evangelischer Schriften ins Polnische sorgte er. Durch seine 
Frau Sophie Tenczynska, „die andere Placilla“, war er mit dem Reformator 
Johann Laski und mit Johann Boner, dem geadelten reichen deutschen Groß- 
kaufherrn in Krakau, verschwägert. Zu früh, viel zu früh für seine Kirche 
ist er 1567 heimgegangen, seine beiden Sohne, die ihm nach 18jahriger 
kinderloser Ehe geschenkt waren, in unmündigem Alter zurücklassend. Sie 
sind dann auch andere Wege gegangen als der Vater. Johann, der Marien- 
burger Hauptmann und Posener Wojewode, trat 1590 zur römischen Kirche 
über, Nikolaus, der Kastellan von Belz, zählte sich zu den Reformierten, ist 
selbst auf seiner Studienfahrt 1578 ff. nach Altdorf, Straßburg, Basel, Zürich 
an Frankfurt vorbeigezogen, hat auch seinen Sohn, einen Schüler des Dan- 
ziger Theologen Keckermann, nicht zur märkischn Hochschule, sondern 1611 
nach Herborn in das Haus des Theologen Alsted gesandt. Sein katholisch 
gewordener Bruder hat dagegen seinen Sohn, der auch den Namen Nikolaus 
führte, 1617 nach Padua geschickt. 

Im Jahre 1544 ging der Humanist Georg Sabinus, Melanchthons Schwieger- 
sohn, nach Königsberg, um dort an die Spitze der neu errichteten Hoch- 
schule zu treten. Die Viadrina verlor in ihm viel Anziehungskraft, 1545 
suchte sie deshalb nur ein Pole auf, Christoph Politek aus Posen. Er war 
ein Verwandter des kursachsischen Kanzlers Brück. Für seinen Vater Petrus 
hat Melanchthon am 25. Marz dieses Jahres zur Feder gegriffen und ihn 
dem Grafen Johann Tarnowski empfohlen. Seinen Stiefbruder Georg, einen 
Sohn aus der zweiten Ehe des Vaters mit der Tochter des Posener Patri- 
ziers Jakob Korb, Hedwig, sehen wir 1558 in Leipzig. Von den wenigen 
Studenten der beiden nächsten Jahre seien Erasmus Krenski, ein Glied der 
Herrenfamilie in Kranz unfern Bentschen, genannt und Johann Bukowiecki, 
also Schlichting aus dem alten Herrengeschlechte in Bauchwitz (Bukowiec). 
1548 zieht unsere Aufmerksamkeit auf sich Johann Powodowski. Er hal 
1533 schon in Krakau studiert und lenkte nun seine Schritte noch zur Via- 
drina. Vielleicht wollte er zur Lutherstadt ziehen und hat ihn der Schmalkal- 
dische Krieg mit seinen Nachwehen nur bis zur Oder kommen lassen. Selbst 
vorübergehend ist er wohl für die neue Lehre nicht gewonnen worden, 
jedenfalls hat er als Kanonikus in Posen und Propst von Kosten alles getan, 
um die evangelische Predigt in dieser damals noch halb deutschen Stadt 
verstummen zu lassen, dann, als der Antitrinitarismus, wohl auch das Täufer- 
tum in Kosten um sich griff, dieses zu dämpfen. Verschiedene Edikte er- 
wirkte er gegen die Neuerer und zwang sie zur Abwanderung nach Schmie- 
gel, wo nun die unitarische Gemeinde mächtig aufbliihte. Als Kostens 
Gegenreformator muß unser Powodowski gelten. Neben ihm trat 1548 in 
Frankfurt vor den Rektor Petrus Potulicki, der Sohn des Wojewoden von 
Brest, der selbst zum Kastellan von Priment, Wojewoden von Plozk, Brest, 
schließlich Kalisch aufstieg (+ 1589). In Murowana Goslin hat er der Refor- 
mation cine Stälte geboten, seine Söhne Johann und Stanislaus 1582 nach 
Wittenberg geschickt, zur Stärkung des Protestantismus in Polen enge Ver- 
bindung mit Danzig und dem Herzog in Preußen unterhalten. Diesen lud 
er auch ein, als er am 13. Oktober 1585 seiner Tochter die Hochzeit aus- 
richtete und dabei den evangelischen Hochadel um sich versammelte. Vier 
Jahre nach ihm kam zur Viadrina sein Bruder Stephan, der Gönner des 
Generalsuperintendenten Gligner, schon 1572 verstorben. Noch zeigt die 


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längst wieder katholisch gewordene Kirche in Cerads bei Buk, wo er die 
evangelische Predigt eingeführt hatte, seinen und seines Schwiegervaters 
Andreas jankowski, der 1534 in Leipzig studiert hat, Grabsteine. 

Von den weiteren Studenten des Jahres 1548 fesseln unsere Aufmerk- 
samkeit Franz Gorajski und Johann Kwiatkowski, der Sproß ruhmreicher 
Türkenkämpfer, der 1558 noch nach Wittenberg ging, freilich um hier der 
Schwindsucht zum Opfer zu fallen. Albert Caprınus aus Buk, der 1550 durch 
Frankfurts Tore zog, hatte schon in Krakau studiert, dort auch magistriert, 
dort 1542 mit Widmung an den Bischof Maciejowski auch ein um 
astrologicum veröffentlicht. Er hat sich später in Posen zu dem Evange- 
listen Trepka gehalten, durch ihn sich auch an Herzog Albrecht gewandt und 
von ihm die Mittel zu einer Studienreise nach Italien zu bekommen gesucht. 
Auch an Georg Sabinus machte er sich heran. Nur kurze Zeit blieb Johann 
Iwinski, dem Trzecieski in dem Ruhmeskranze, den er den polnischen evan- 
gelischen Adelsgeschlechtern geflochten, ein Blatt gewidmet hat, in Frank- 
furt, dann zog er weiter nach Wittenberg. Adam Brzeznicki, der sich 1552 
einschreiben ließ, war der Sohn des Posener Bürgermeisters Hieronymus 
Brzeznicki (t 29.3.1563) und ein Bruder des Weihbischofs Jakob B., der fünf 
ahre später zur Leucorea zog, des Biographen der Posener Bischöfe. 
Hat auch der dritte Bruder Hieronymus, der wie sein Vater Bürgermeister 
in Posen wurde, auf einer deutschen Universität seine Ausbildung erhalten? 
Ich weiß es nicht. Weitere Studenten des Jahres 1552 sind Jakob Zlotowski, 
Stanislaus Starzinowski und Johann Chlapowski. 

Zu den eben genannten, dic an der Viadrina ihre Studien abschlossen, 
traten im folgenden Jahre (1555) nahezu 20 neue Sohne des Ostens, darunter 
Hieronymus Bojanowski, später Senior der böhmischen Brüder, Christoph 
5 aus der Neustadter Linie, Sohn des Kastellans von Ostriszow, und 
Simon Zegocki, ferner Gabriel Splawski, drei Brüder Jaskolecki, Bartholo- 
mäus Ossowski und Christoph Krajewski. Verschicdene von ihnen haben 
sich nach Wittenberg gewandt, so Christoph Ostrorog mit seinem jüngeren 
Bruder Martin, dem späteren Kastellan von Kamieniec. War der Albert 
Kaminski aus Posen, der im Wintersemester zur Hochschule eile, ein Sohn 
der bekannten Goldschmiedfamilie Kamin, ein Sohn des Meisters Erasmus, 
von dem die Bibliothek des Gewerbemuseums in Berlin noch Musterblatter 
besitzt? Aus angesehener Posener Familie war jedenfalls sein Kommilitone 
Stanislaus Grodzicki. Sein Vater Johann hat als Bürgermeister verschiedent- 
lich an der Spibe der Stadt gestanden, sein Schwager Blasius Winkler, der 
Gatte seiner Schwester Hedwig, war lange einflußreicher Stadtschreiber. 
Aber war die Familie auch mit dem Schweizer Konrad von Wait in Posen, 
dem freudigen Anhänger der Reformation, verschwagert, sie war doch 
streng katholisch, und unser Frankfurter Student Stanislaus Grodzicki ist 
1571 in Rom in den Jesuitenorden getreten, der Ordensgeneral Aquaviva 
sein naher Freund geworden. Er hat spater in der Heimat viele der vor- 
nehmsten Familien in den Schoß der römischen Kirche zurückgeführt. Hat 
er schon in Frankfurt jenen Fleiß gezeigt, der ihm später den Namen 
„Bücherverschlinger“ eingetragen? 1615 ist er in seiner Vaterstadt ge- 
storben. Der junge Johannes Winkler, der zwei Jahre nach ihm zur Oder- 
stadt kam, war doch wohl sein Neffe. Neben ihm trat in dic Hochschule 
ein, bereits von Wittenberg kommend, Martin Ostrorog, der spätere Haupt- 
mann von Kowel, 1586 auch Kastellan von Kamieniec. 

1555 kehrte Georg Sabin von Königsberg nach Frankfurt zurück, und 
sofort stieg der polnische Zuzug. 26 junge Edelleute des Ostens ließen sich 
1556 einschreiben, unter ihnen die zwei Brüderpaare Lukas und Stanislaus 
und wieder Stanislaus und Johannes Koscielecki, die Söhne des Lenschiger 
Wojewoden Stanislaus und des Sieradzer Wojewoden Johannes Koscielecki, 
der beiden bekannten Gegner der Reformation. Der letztere aber hat seine 
Söhne selbst nach Wittenberg gesandt, auch mit Melanchthon wegen eines 
Lehrers für sie Briefe ausgetauscht. Dorthin zog von der Viadrina auch Thomas 
Okun, der Sohn des Hauptmanns von Rawa, und Johann Gorinski, der Sohn 
des Wojewoden von Masowien. Diesen beiden letzteren hat Zacharias Prä- 


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torius, der namhafte neulateinische Dichter, ein Karmen gewidmet, während 
Wenzel Ostrorog Stanislaus und Johann Koscielecki eine kleine Dichtung 
zueignete. In Frankfurt hat man wohl nicht weniger als in Wittenberg 
lateinische Verse geschmiedet und den vornehmen Herrensöhnen überreicht, 
sie sind uns nur nicht mehr erhalten. Eine „Catechesis sanctorum patrum“ 
hat am 16. April 1556 der Frankfurter Professor Muskulus den Führern der 
Lutheraner im Posener Lande Nikolaus Myszkowski, Lukas Gorka und 
Stanislaus Ostrorog gewidmet. Von dem niederen Adel haben sich 1556 
einschreiben lassen Albert Kodowski, Thomas Rataiski, Stanislaus Laricki, 
aus Kleinpolen Ambrosius Pempowski, aus Kujawien die Brüder Philipp 
und Albert Zakrzewski, um nur diese zu nennen. Letztere kamen von 
Wittenberg und waren auf dem Wege zur Heimat. 

Der erste Litauer erschien in Frankfurt zum Studium, soweit ich sehe, 
im Jahre 1557 in Stanislaus Kmita. Aus dem Posener Grenzlande kam in 
demselben Jahre Troilus Policki, der zweite Sohn des Posener Notars und 
Erbherrn von A Albert Policki, dazu zwei Brüder Petrus und Stanis- 
laus Karnodowski. Nikolaus Latalski ging mit dem Krakauer Johann Rosz- 
kowski von der Viadrina nach Leipzig, später auch Petrus Przylepski und 
Albert Koscielski, den wir als Vertreter der Gemeinde Radziejow nahezu 
vierzig Jahre später auf der Thorner Generalsynode sehen, während andere 
mit einem Studium in Frankfurt sich begnügten. Besondere Beachtung ver- 
dienen die vier Söhne des Kalischer, bald Posener Wojewoden Martin 
Zborowski: Martin und Petrus, Andreas und Samuel, sie sind 1560 und 61 
auch nach Wittenberg gegangen, haben aber wohl nicht die ganze Zeit seit 
1557 an der Viadrina zugebracht. Der eine von ihnen, Andreas, war jeden- 
falls inzwischen in Wien gewesen und dort von Hosius für den alten 
Glauben zurückgewonnen worden. Er hat an ihm auch im Gegensatze zu 
seiner ganzen Familie fesigehalten; der Aufenthalt in Wittenberg, wohin 
ihn der bekiimmerte Vater Anfang 1561 kommandierte, hat ihn nicht um- 
stimmen können. Er starb als Hofmarschall 1589, sein ältester Bruder Martin, 
Kastellan von Kriewen, von dem Wittenberger Professor Georg Major durch 
die Zueignung seiner Erklärung des Philipper- und Kolosserbriefes gechrt, 
ging frühzeitig heim, der zweite Bruder Petrus, der Direktor der General- 
synode zu Sendomir, schloß als Wojewode von Krakau 1580 seine Augen, 
der jüngste Samuel mußte bekanntlich am 26. Mai 1584 das Schafott be- 
steigen, worüber die Fehde der Häuser Zborowski und Zamojski entbrannte, 
die uns Caro mit Meisterhand gezeichnet hat. 

Noch können wir vom Jahre 1557 nicht scheiden, ohne Johann Trze- 
buchowskis, des Neffen des einflußreichen königlichen Kammerers und Se- 
kretärs Nikolaus Trzebuchowski, zu gedenken, sowie der Brüder Nikolaus 
und Matthias Orzelski. Der lebte war später Richter von Nakel, die 
Posener Februarsynode 1582 erwählte ihn, zusammen mit einem Severin 
Palecki die Beiträge zum Ausbau des evangelischen Schulwesens einzu- 
ziehen. Von Frankfurt sind die drei Genannten nach Wittenberg weiter- 
gezogen. . Ebenso ein Johann Colmei aus Gostin, während Petrus Mier- 
zwinski, Matthias Pronski, Bartholomäus Libarski, wie auch Jakobus Rosra- 
zewski aus angcsehenem evängelischen Geschlechte anscheinend direkt 
wieder nach der Heimat gingen. 

1558 gewann die Viadrina in dem Professor und Poeten Johann 
Schosser eine tiichtige humanistische Kraft. Von Wittenberg, wo er bis 
dahin gelebt, gewirkt, gedichtet hatte, entliegen ihn die Freunde mit der 
Mahnung, den Pieriden am Oderstrande eine rechte Heimstätte zu schaffen. 
Er hat auch den Humanismus mit Nachdruck vertreten, gleichwohl begann 
jet schon der Zuzug aus dem Osten etwas nachzulassen. Stanislaus 
Sirzalkowski, seit 1554 schon in Wittenberg, folgte wohl dem geliebten 
Lehrer Schosser zur neuen Wirkungsstätte, aus der Heimat erschienen 
Johann Rozdrazewski, zwei Brüder Slupski, Andreas und Matthias und 
Nikolaus Czarnotulski. Die Orzelski zogen zwei Brüder nach sich, darunter 
Swientoslaus, den späteren Hauptmann von Radziejewo, den glänzenden 
Redner und bedeutenden Historiker, der 1595 auch der Thorner General- 


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synode präsidierte. Der Zug seines Herzens führte ihn im Mai 1564 mit 
seinen Brüdern Matthias und Johannes zur Lutherstadt; er wollte noch hefer 
aus deutschem Glaubens- und Geistesleben schöpfen. 

War 1558 ein Nikolaus Kaczkowski nach Tübingen und Basel gezogen, 
so erschien ein Stanislaus Kaczkowski 1559 an der märkischen Hochschule, 
ihm folgten Jakob Koszucki, Matthias Ponetowski, Valentin Ciwinski, Paul 
Pawlowski, dieser anscheinend ein Sohn des vor Posens Mauern begüterten 
Stanislaus Pawlowski, der die reiche Posener Patriziertochter Dorothea 
Lindner heimgeführt hatte. Weiter traten 1559 vor den Rektor mit der 
Bitte um Immatrikulation Martin Lipinski, Adam Balinski und Martin Skrze- 
tuski. Dieser suchte, nachdem er seinen Bruder Johann noch hatte kommen 
lassen, in den nächsten Jahren auch noch die Leucorea auf. Er war der 
Sohn eines Posener Goldschmieds, Ratsherrn und Bürgermeisters, war 
später Tenufarius in Meseritz, verschiedentlich auch Gesandter in Berlin; 
mit Diestelmeyer hat er korrespondiert. Die weiteren Studenten des Jahres 
1559 wollen wir übergehen, nur bei zweien von ihnen noch einen Augenblick 
verweilen, Sebastian Grabowiecki und Stanislaus Reszka. jener, der Sohn 
des Kämmerers der Königin Katharina, Stanislaus Grabowiecki, der Neffe 
eines Wittenberger Studenten vom Jahre 1536, der sich als Gabriel Grabo- 
fels in die Matrikel der Lutherstadt hatte eintragen lassen, ist noch nach 
Italien gewandert und hat sich später mit einer Ehrendame der Prinzessin 
Anna verheiratet. Früh verwitwet, ist er in den geistlichen Stand getreten, 
hat 1585 auch, seine Frankfurter Studien verleugnend, wider Luther ge- 
schrieben, ferner durch fromme Lieder sich einen Namen gemacht. 1592 ist 
er Abt des alten deutschen Zisterzienserklosters Blesen geworden, das wie 
die anderen deutschen Klöster in Polen sich schon seit Jahrzehnten pol- 
nische Abte gefallen lassen mußte. Nachdem er noch die durch eine 
Feuersbrunst zerstörte alte Klosterkirche wieder aufgebaut, ist er 1607 ver- 
storben. Eine ähnliche Entwicklung durchlief sein Frankfurter Studienfreund 
Reczka. Bald nachdem er die Viadrina verlassen, trat er in die Dienste 
des Kardinals Hosius, folgte ihm auch nach Rom, Wien, Trient, half ihm 
mit seinen an der evangelischen deutschen Hochschule erworbenen wissen- 
schaftlichen Kenntnissen bei seinen literarischen Arbeiten, sammelte ihm 
besonders die Stellen aus den Kirchenvätern, dic er in seiner Polemik gegen 
die Reformation verwerten konnte, übernahm auch die Widerlegung der 
ersten Centurie von des Flacius großem kirchengeschichtlichen Werke. In 
Neapel ist dieser Frankfurter Student 1600 verstorben, nachdem ver- 
schiedene Reisen ihn nach seinem Vaterlande gelegentlich zurückgeführt 
hatten. Auch hat er sich als Biograph des Hosius einen Namen gemacht. 
In seiner Polemik gegen den Protestantismus und gegen das Ideal seiner 
ugend gefällt er sich im Unterschiede zu Grabowiecki oft in recht ge- 
ässiger Schreibweise. 

_ 1560 starb Frankfurts bekanntester Lehrer Sabinus, der schon infolge 
seiner verschiedenen Gesandtschaftsreisen sich großer Wertschabung in 
Polen erfreut hatte. Hatte ihm doch einst (1536) der Primas Krzycki gar 
versprochen, zu seiner Hochzeit in Wittenberg in Melanchthons Hause als 
Gast zu erscheinen. Sein Tod, dann der wenige Jahre darauf anhebende 
Lehrstreit zwischen den Professoren Muskulus und Prätorius schwächte die 
Anziehungskraft der Hochschule, der Zuzug aus Polen ließ nach. Für 1560 
nenne ich von polnischen Studenten Johann Otto Kwilecki und Wenzel 
Tolibowski, Albert Mielczynski und Albert Wolski, weiter Martin Strzal- 
kowski, der von Wittenberg kam, und Martin Przepalkowski, der nach 
Wittenberg ging. 1561 haben nur sieben Polen das akademische Biirger- 
recht erbeten, wieder ein Mielczynski, Christoph mit Vornamen, Lisowski 
und aus dem Dobrzyner Lande neben Wenzel Chodowski zwei Brüder Chel- 
micki, Stanislaus und Johann. Waren es Brüder des Adrian Chelmicki, des 
Dobrzyner Vogts, der 1554 in Wittenberg studiert, wie sein Onkel, der 
Kruschwißer Kastellan Johann Grabski, auch mit Melanchthon korrespondiert 
hat? Stanislaus Zawadski, also ein Kurzbach, der auf Zawada an der 
schlesischen Grenze saß, als letzter der Polen 1561 immatrikuliert, ist im 


254 


September des folgenden Jahres mit den Scharfenorter Grafensöhnen 

Wenzel und Johann noch nach Heidelberg, ihnen dann 1563 voran nach Basel 

gc zogen. Vierzig Jahre später zog ein anderer Stanislaus Kurfbach von 
awada nach Wittenberg, ein Lukas und Johannes 1604 auch nach Helmstedt, 

wo der große Caselius sie aufs freundlichste aufnahm, Lukas gleichfalls 
auch nach der Lutherstadt und nach Leipzig. 

Die wenigen Studenten der Jahre 1562 und 65 übergehen wir, nennen 
für 1564 Albert Chlapowski, Wenzel Obarecki und Kaspar Wilkowski aus 
dem Süden des Posener Landes. 1564 sandte der Gorkasche Kanzler in 
Posen Matthias Poley, ein Schlesier aus Schweidnitz, der 1538 in Witten- 
aw studiert hatte und dann in die Dienste des Posener Hauptmanns 

a getreten war, durch seine Heirat mit Lucie von Ende mit den ersten 
Posener Familien sich verschwägert hatte, seinen ältesten Sohn Christoph 
zur Viadrina. Professor Schosser nahm daran Gelegenheit, dem Posener 
Kanzler ein Sinngedicht auf die Blume in seinem Wappenschilde zu widmen: 
„in lilia et pulegium Matthiae Polegii.“ jakob Sarbski und Johann Boja- 
nowski begnügten sich mit den Frankfurter Lehrern, aber von den beiden 
Brüdern Matthias und Jeremias Wojnowski zog der letztere, „ein gelehrter, 
versuchter Gesell, guter Poet, feiner Historiker, guter Graecus, perfec- 
tissimus Hebraeus“, wie ihn Lorenz Müller in seiner polnischen und liv- 
ländischen Geschichte nennt, 1567 nach Heidelberg, dann auch nach Basel. 
Noch von Frankfurt aus hat er Jakob Ostrorog, als er die Posener Haupt- 
mannschaft 1566 erhielt, einen poetischen Glückwunsch gewidmet. 

Für 1566 nennt die Matrikel einen Stanislaus Minski, Andreas Skrzyd- 
lewski, dazu Felix Kosmas aus bekannter Bromberger Familie. Er war 
1563 schon nach Wittenberg gezogen, wie seine Brüder Valentin und Vitus 
1559 auch die Viadrina aufgesucht hatten. Später finden wir die Söhne 
dieses Bromberger Geschlechts auf dem Gymnasium in Danzig. 1567 lenken 
unsere Augen auf sich Lorenz Jactorowski, der gleichfalls schon in Witten- 
berg war, und Johann Chrostowski, vor allem aber die Brüder Andreas 
und Petrus Czarnkowski, die Söhne des Schrimmer Kastellans und Kostener 
Hauptmanns Albert Czarnkowski aus seiner Ehe mit Barbara Gorka. Mit 
ihrem Lehrer Matthäus Wengierski waren sie zur Hochschule gekommen. 
Der ältere Bruder wurde 1569 Ehrenrektor der Akademie. Viele Glück- 
wünsche wurden ihm da in wohlgesetzten Versen dargebracht. Die Lati- 
nisten Frankfurts wetteiferten, ihm ihre Aufmerksamkeit zu erweisen. 
Natürlich fehlte in ihrem Chor auch Schosser nicht. Schon die Mutter 
Barbara hatte seine Muse gefeiert, als er sie kennengelernt hatte, da sie 
ihre Söhne in der Oderstadt besuchte. Ebenso eignete man Czarnkowski 
Geleitsgedichte, Propemptica, zu, als er 1572 die Stadt verließ. So viele 
auch sonst den Söhnen Sarmatiens bei ihrem Scheiden gewidmet sein 
mögen, sie allein sind uns erhalten geblieben. Andreas Czarnkowski ist 
dann nach Italien und Frankreich gezogen, „hat an nützlicher Lehre und 
Sprachen einen rühmlichen a. sich erworben“, sagt eine alte Nachricht. 
a der Aufenthalt in katholischen Landern loschte alles in seiner. Seele 

was er in Frankfurt gesehen und gelernt hatte. Er wurde streng 
katholisch, und als ihm nach dem Tode des kinderlosen Stanislaus Gorka, 
des Wittenberger Ehrenrektors vom Jahre 1554, die weiten Gorkaschen 
Güter zuſielen, nach dem Tode seines Schwie ervaters Stanislaus Latalski 
und dem frühen Heimgange seiner Gattin auch ein Teil des Latalskischen 
Besitzes, hat er alle Kirchen, über die er nun Patron geworden war, rekatho- 
lisiert, der größte Gegenreformator im Posener Lande. Neben den Czarn- 
kowskis finden wir 1568 an der Viadrina Johann Bronikowski, Johann Zych- 
linski und drei Brüder Jaskolecki, ferner Albert Granowski, den Sohn der 
Erbherrnfamilie in Granow bei Grab. Aus Posen ließ sich einschreiben 
Andreas Trepka, der Sohn des Evangelisten Eustachius Trepka, des 
dipen übersebers ee Bücher ins Polnische, der selbst an eine 

pregung der Bibel sich machen wollte, 1558 aber jah durch einen 
aan aus seiner fleißigen Tätigkeit herausgerissen worden war. 
Seinen Sohn hatte Herzog Albrecht schon nach Preußen kommen lassen, 


255 


um ihn dort seinen Pagen einzureihen, jetzt erschien er in Frankfurt, doch 
im nächsten Jahre ging er nach Meigen, wo ihm der sächsische Kurfürst auf 
Vorstellungen des Grafen Lukas Gorka eine Freistelle gewährt hatte. 

Naturgemäß kamen die Inischen ue meist aus dem nahe- 
gelegenen Großpolen nach Frankfurt, elegentlich auch aus dem 
ferneren Kleinpolen. So meldeten a = ufnahme dem Rektor 1569 
vier Brüder Stadnicki aus Dubiecko unfern Przemysl, Nikolaus, Johannes, 
Samuel und Andreas. Ihr Vater Stanislaus, durch seine Gattin Barbara 
ein Schwager der obengenannten Zborowski, war einst der argste Priester- 
feind gewesen. So hatte cr den Bischof Johann Dziaduski, dem er wegen 
einer Gewalttat zürnte, überfallen, niedergeworfen und alle Anstalten zu 
seiner Entmannung getroffen, in letzter Minute ihn aber noch unverstiimmelt 
wieder freigelassen. Natürlich hatte er die Kirchen auf seinen Gütern 
evangelischen Prädikanten eingeräumt, aber es war doch mehr der Geist 
des Widerspruchs gegen Rom, der ihn beseelte, und der Haß gegen die 
weltliche Macht der Hierarchie, der ihn trieb, als Freude an der evan- 
gelischen Verkundigung Sein Widerspruchsgeist brachte ihn auch bald zu 
den Evangelischen ın Zwiespalt, er entschied sich für den zänkischen Stan- 
caro und seine Sonderlehre, wurde der Patron und Schubherr dieses 
ltalieners, der die Entwicklung der Reformation in Polen so unheilvoll be- 
stimmt hat, wechselle über ihn auch mit Calvin Briefe, konnte um seinet- 
willen recht laubige Pastoren aus ihren Pfarren vertreiben. Sein ältester 
Sohn Stanislaus, ihn in Trob, Eigensinn und Jähzorn noch überbietend, „der 
Teufel von Lancut“, war 1565 nach Heidelberg gegangen, die jüngeren 
Söhne, die später sämtlich zur römischen Kirche ubertraten, beschränkten 
sich auf den Besuch des näher gelegenen Frankfurts. 

Während daheim die Synode zu Sendomir zusammentrat, die einen 
verheißungsvollen Zusammenschluß der evangelischen Bekenntnisse brachte, 
nahten sich der Viadrina zwei Brüder Johann und Andreas Siedlecki, Söhne 
des Landrichters von Hohensalza Johann Siedlecki. Auch die jüngeren 
Söhne Nikolaus und Thomas kamen nach dem Tode des Vaters 1580 zum 
Oderstrande, freilich um zum Elbestrande ein Jahr später wetterzuziehen. 
Interessanter als sie ist ihr Kommilitone, Andreas Lubicniecki, der älteste 
der drei Sohne des Lubliner Richters Stanislaus Lubieniecki, seit 1586 uni- 
tarischer Pastor zu Schmiegel, der erste Antitrinitarier, von dem wir in 
Frankfurt wissen. Weitere deutsche Universitäten hat er, soweit ich sehe, 
nicht bezogen, dafür finden wir seinen Bruder Christoph, den Großvater 
des bekannten Kirchenhistorikers, 1578 in Altdorf, 1581 in Basel, in dem- 
selben Jahre auch in Genf, 1582 wieder in Altdorf. Schade, daß uns nichts 
Näheres über seine religiöse Entwicklung bekannt ist, wir nicht wissen, 
wann und wo er an der Trinitätslehre der Kirche irre geworden ist. 

Die Ehrung, die die Universität Andreas Czarnkowski erwicsen, trug 
ihre Frucht. Für die weitverzweigte Familie war es fortan selbstverständlich, 
ihre Söhne zur Hochschule zu senden, die ihr Zepter cinem ihrer Glieder 
anvertraut hatte. So sehen wir an der Viadrina schon 1570 Sendivogius 
Czarnkowski, 1574 Andreas Sendivogius, den Sohn des Generalstarosten 
und Hauptmanns von Peisern, mit Matthias Nadolski. Im nächsten Jahre 
reichte die Universität auch seinem Bruder Adam das Zepter. Professor 
Schosser mit seiner immer bereiten Feder hat ihn bei seinem Einzug in 
die Stadt begrüßt und beglückwünscht zu seinem Studium. 1578 erschienen 
noch die Brüder Stanislaus und Johann Czarnkowski. Als diese zur Hoch- 
schule kamen, fanden sie dort unter anderen Landsleuten die Brüder 
Andreas und Petrus Potulicki, die schon 1573 mit einem ganzen Gefolge 
eingetroffen waren. Erst 1581 zogen sie weiter nach Wittenberg und 
Leipzig. Sie waren Neffen der beiden Potulicki, die in den vierziger und 
fünfziger Jahren zu des Melanchthon und Sabinus Füßen gesessen haben, 
Söhne ihres Bruders Kaspar, der an behaglichem Landleben sich mehr er- 
freute als an glänzenden Ehren, deshalb alle Amter, die auch ihm, dem 
Wojewodensohne, angeboten waren, abgelehnt hatte. Seinen Namen bietet 
weder die Frankfurter noch die Wittenberger Matrikel, doch muß auch er 


236 


in engen Beziehungen zu dem Präzeptor Germaniae und seinem Schwie- 
gersohne, dem gefeierten Humanisten, gesianden haben, wie ein Brief 
Schossers an ihn verrät: „Devinxisti tibi duorum inter mortales clarissi- 
morum benevolentiam Georgii Sabini et Philippi Melanchthonis, quibus una 
cum fratre recte simul et intelligendi et vivendi magistris utebaris.“ Gelingt 
es einmal alle Fäden aufzudecken, die die Edelsöhne des Ostens mit den 
gro deutschen Lehrern verknüpften, ganz überraschend groß wird deren 
influ in Polen sich erweisen. Frei war hier die Hinneigung zu 
deutschem Glauben und Wesen nur eine vorübergehende Erscheinung. 

Aus den siebziger Jahren seien noch genannt Friedrich und Sigismund 
Gorski aus dem Miloslawer Erbherrngeschlechte, das durch einige Ge- 
nerationen auch die Hauptmannschaft Fraustadt besaß, Stanislaus Jac- 
torowski, verschiedene Kosmider, Johann Roznowski, für 1580 Lucas 
Chrosciewski. Dieser war der spätgeborene Sohn des Stanislaus Chro- 
sciewski, des unter dem Namen Niger bekannten Arztes aus Ciechanow in 
Masowien, der in Posen gelebt und gewirkt hat, eines freudigen Anhängers 
der Reformation, eines der besten Freunde Trepkas, bekannt auch mit dem 
italienischen Romhasser Vergerio. lm Jahre 1567, in der evangelischen Zeit 
Posens, da Jakob Ostrorog Hauptmann von Gro len war, stand er als 
Bürgermeister an der Spitze der Stadt. Zu den berühmten Arzten Polens 
wird er gerechnet, deshalb sei noch bemerkt, daß er 1537 in Leipzig studiert, 
hier im folgenden Jahre auch ein Epicedion veröffentlicht hat. Am 5. April 

1544 hat cr sich noch in Padua einschreiben lassen, wohin scin Sohn 
Johann, der später auch in Posen praktizierte, 1611 auch Bürgermeister 
wurde, aber die religiöse Stellung scines Vaters nicht teilte, auch im 
Sommer 1582 ging. 

Waren es meist junge polnische Edelleute, dic ihre Ausbildung auf der 
deutschen Grenzuniversitat suchten, 1581 kam doch zu ihr auch wieder ein- 
mal ein junger Theologe, Daniel Mikolajewski. Fünf Jahre später führte cr 
als Prazeptor die Söhne des Kastellans von Lond, Albert und Wladislaus 
Przyjemski, nach Heidelberg. Im Jahre 1601 ging er im Auftrage des 
Lissaer Grafen Andreas nach Basel zu dem Theologen Grynäus und nach 
Genf zum Patriarchen Beza, führte auch zwei gräfliche Stipendiaten von 
Altdorf nach Basel. Nicht der lutherischen Formulierung der evangelischen 
Erkenntnis, wie sie ihm in Frankfurt entgegengeireten war, gehörte also 
sein Herz, sondern der reformierten. Als reformierter Pastor und Senior 
in Radziejow hat er auch später gewirkt, hier alle Not der Verfolgung 
kennengelernt, verschiedene Verwüstungen und Plünderungen seiner Kirche 
durchgemacht, schließlich die Vernichtung seiner Gemeinde erlebt und zum 

enstabe greifen müssen. In Swierzynek in Kujawien fand er, der 
auf der Thorner Generalsynode übrigens als Schriftführer tätig gewesen, 
ein neues Amt. Hier ist er lebenssatt 1633 gestorben. Raphael Nowo- 
wiejski, 1581 eingeschrieben, trat in die Dienste des Erbherrn von Koz- 
minek und begleitete ihn 1585 nach Heidelberg. Zehn Jahre später eilte er 
zur Generalsynode nach Thorn. Für das Jahr 1582 nennt uns die Matrikel 
Martin und Andreas Gorzenski, doch wohl Söhne des Herrengeschlechts in 
Bucz unfern Posen, für 1584 Christoph Chelmski, Martin Silnicki und zwei 
Vettern Przylenski, die sämtlich 1585 bzw. 1586 ihre Studien in Heidelberg 
fortseßten. Als Begleiter hatte Chelmski auf seiner Fahrt zur Neckarstadt 
den Posener Patriziersohn Konrad Ridt, mit ihm zog er 1587 auch nach 
Freiburg, 1592 nach Padua. Im folgenden Jahre verzeichnet das Studenten- 
album außer den beiden schon erwähnten Przyjemski Bonaventura Sobocki 
und Matthaus Hermes. Beide gingen 1587 gleichfalls nach Heidelberg. Der 
lebtere war der Sohn des Pfarrers in Cienin unweit Peisern, Nikolaus 
Hermes, der selbst einst aus seiner Heimat Mähren 1560 zum Studium nach 
Wittenberg gezogen, dann auf Veranlassung Wenzel Ostrorogs nach Polen 
gekommen war. Noch an der Thorner Generalsynode hat er 1595 teil- 
genommen, drei Jahre später aber seine Augen geschlossen. 

1587 traten vor den Rektor zwei Briider Pronski, Florian Grozlicki und 
Adam Nasitrecki, 1589 außer Stanislaus Rambinski und Theodor Karnkowski, 


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die mit_ihrem Hofmcister Petrus Piotrkowski zur Hochschule gekommen 
waren, Zbigniew Lanckoronski, der Sohn des Radomcr Kastellans Christoph 
Lanckoronski. Sein Bruder Prädislaus war dagegen 1581 nach Wittenberg, 
1584 nach Altdorf gewandert. Unser Frankfurter Student war einer von 
den vielen, die sich später freigemacht haben von ihren Studienerinnerungen 
und von dem Ideal ihrer Jugend; die Kirche in Olesnica an der Weichsel 
hat er katholisiert. In dem letzten Jahrzehnt des Jahrhunderts begegnen 
uns unter den Studenten in Frankfurt zwei Wolski, ein Johann Branski, zwei 
Brüder Nikolaus und Albert Strzelecki. Zbygniew Gorkowski, drei Mynski, 
Georg Rzeczycki. Dieser war ein Sohn des Lubliner Kammerers Andreas 
Rzeczycki, den dic Sorge um seine Kirche 1595 nach Thorn auf die Synode 
getrieben hatte. Ein Glied seiner Familie war schon 1577 nach dem un- 
längst eröffneten akademischen Gymnasium in Altdorf gepilgert. Johann 
Statorius oder Stoinski, der 1597 um Aufnahme bat, war der Sohn des Lus- 
lawicer und Rakower Pfarrers Petrus Statorius, der selbst 1582 in Altdorf 
studiert hatte. Er war wie sein Vater Unitarier. Er ist mit seinem Bruder 
Stephan 1598 auch noch zur Palaeocome gezogen, dann Nachfolger seines 
Vaters in Rakow geworden, hat hier den Raub der Kirche, die Zerstörung 
der Schule erlebt und selbst geächtet nach Holland flüchten müssen. Ging 
er von der Viadrina noch zur Palaeocome, so zog 1603 zur Ruperta Daniel 
Jezierski, der Kurower Pfarrersohn. Als Präzeptor sehen wir ihn 1605 auch 
noch in Genf und 1613 in Basel. Wieder nach Altdorf ging Johann Musonius 
aus Koschmin, der Stipendiat des Grafen Andreas von Lissa, noch 1597 in 
Frankfurt inskribiert, 1604 Rektor des Gymnasiums in Lissa, dann Pastor 
in Kozminek und Marszewo bei Pleschen, der Stammvater eines bekannten 
Pfarrergeschlechtes. 

Im 17. Jahrhundert sank die Frequenz polnischer Studenten in Frank- 
furt. Die steigende Abkehr des polnischen Adels von der Reformation 
machte sich geltend. Nach Wittenberg, wohin im 16. Jahrhundert mehr als 
ein halbes Tausend aus dem polnischen Osten gezogen war, ging überhaupt 
kein Pole mehr. Doch begegnet uns im ersten Viertel des neuen Jahr- 
hunderts in den Bursen Frankfurts immerhin noch eine verhältnismäßig 
stattliche Zahl von Studenten polnischen Volkstumes. So 1602 Johann Gar- 
czynski, Nikolaus Dokowski und Petrus Wielowieski, ein Glied jener 
Familie, die in Wielkanoc bei Xions in Kleinpolen Schugherr der Re- 
formation war und unlängst einen Sohn Andreas auch nach Altdorf hatte 
gehen lassen. Wieder einmal ein Wojewodensohn erschien 1603 in Paul 
3 dem Sohne des Erbherrn von Niszczyce hinter Plock, des 

astellans von Belz, der 1597 auch noch die Wojewodschaft Belz erhalten 
hatte. Mit Daniel Wlostowski und mit einem Belzer Bürgersohne kam er 
zur Hochschule. Hatte der Vater einst 1575 in Leipzig studiert, so zog 1603 
dorthin auch ein anderer Sohn Christoph, der spätere königliche Sekretär. 
Ihm folgte dorthin 1605 unser Frankfurter Student, zog aber mit ihm und 
einem dritten Bruder Stanislaus in demselben Jahre noch nach Basel. Die 
Niszczycki waren die einzige Familie in der Plocker Wojewodschaft, die 
eine Kirche der Reformation aufgetan hatten, übrigens deutschen Ursprungs, 
ein polonisierter Zweig der von der Goltz. Dieses deutsche Herrengeschlecht 
war einst im nördlichen Polen weit verbreitet, hatte im 14. Jahrhundert Plock 
verschiedene Bischöfe und Wojewoden gegeben. Nach ihren verschiedenen 
Herrensiken hatten sich die einzelnen Zweige der Familie verschiedene 
polnische Namen beigelegt. 

Petrus Biskupski, der 1604 durch die Tore Frankfurts zog, ging Ende 
des Jahres 1606 nach Wittenberg. Er war wohl ein Stipendiat des Lissaer 
Grafen Andreas. Als dieser im Alter von nur 47 Jahren am 24. Juli 1606 
seine Augen schloß, hielt er ihm eine Gedachtnisrede in Frankfurt. Doch 
auch zu dem polnischen Abte im alten Zisterzienserkloster Paradies unfern 
Meserik, Stanislaus Ranizewski, hatte er Beziehungen, auch diesem ein 
Schriftchen gewidmet; später wurde er sogar ein eifriger Vertreter der 
Interessen Roms. Dem Biskupski folgte nach Frankfurt, ihm ging nach 
Wittenberg voran Petrus Kozminski, den der Gräber Kaspar Speer, seit 


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1601 in Frankfurt, zur Bezeugung seiner Freundsdiaft in Versen gefciert 
hat. Biskupskis und Kozminskis Freunde waren auch Jakob Musonius aus 
Pakosch und Matthias Wengierski aus jener bekannten Theologenfamilie, 
die der Kirche manchen tüchtigen Pastor, der Wissenschaft einen fleißigen 
Historiker geschenkt hat, dessen kirchengeschichtliches Werk der historischen 
Forschung noch heute unentbehrlich ist. Noch sei gedacht des Stanislaus 
Niewierski, der später in Posen der polnischen Gemeinde predigte, im Mai 
1610 aber nach Thorn an die Marienkirche ging. Diesem Gliede der Brüder- 
unität, das in Frankfurt mit Petrus Felix aus Punitz und den beiden Brüdern 
Andreas und Georg Prusinski verbunden war, sei zur Seite gestellt der 
polnische Bruder, also Unitarier, Michael Gittich, seit dem 31. Mai 1605 an 
der Viadrina, im nächsten Jahre an der Palaeocome, die jetzt für die Unitarier 
die bevorzugte Hochschule wurde, der spätere Pfarrer von Nowogrodek, 
ein in unitarischen Kreisen geschätzter Theologe. Als Polonus Venetianus 
hat er sich in die Matrikel eintragen lassen, weil sein Vater, ein deutscher 
Arzt in Venedig, vor den Schergen der Inquisition flücht end, sich nach 
Polen gerettet hatte. Mit ihm war zu unscrer Hochschule gekommen 
Christoph Pawlowski, wohl ein Sohn jenes königlichen Kämmerers Christoph 
Pawlowski, den wir 1595 auf der Thorner Generalsynode sehen und der 
1599 in Wilna zum Provisor der Kirche gewählt wurde, und die Brüder An- 
dreas und Stephan Wojnarowski. Sie begleiteten ihn auch nach Altdorf. 
Stephan Wojnarowski hat nach dem fernsten Osten den Ruf der märkischen 
Universität getragen. Er ist der Kijewer jäger, der den Unitariern in 
Szersznie unfern des Dniepr ein Gotteshaus baute. Wie einst Durchgangs- 
schule für Wittenberg und Leipzig, wurde es Frankfurt jetzt vorübergehend für 
Altdorf, denn dorthin zogen auch Albert Srdzinski und Christoph Kiel- 
czewski, ein Verwandter des Fraustadter Hauptmanns Wenzel Kielczewski, 

je zwölf Monate nach Gittich und seinen Schülern zum Oderstrande ge- 
kommen waren und schnell mit ihnen Freundschaft geschlossen hatten, sie 
nun auf der Studienfahrt nach Süddeutschland begleiteten. 

Schon hatten sie die Viadrina verlassen, als 1608 anzogen Christoph 
Bresinski, Petrus Borewski, Lukas Brodowski und Christoph Arciszewski, der 
Sohn des theologisierenden unitarischen Erbherrn von Schmiegel, der 1623 
den Käufer seines väterlichen Besitzes auf offener Strage niederschlug, 
dann als Flüchtling in den Niederlanden zu hohen Ehren emporstieg, a 
Admiral 1629 ein holländisches Geschwader nach Brasilien führte. A. Kraus- 
har hat dem interessanten Leben dieses Frankfurter Studenten, der zuvor 
das Thorner Gymnasium besucht hat, eine Monographie gewidmet. Dem 
Schmiegler Erbherrnsohn folgte einige Jahre später zur märkischen Hoch- 
schule der Schmiegler Pastorensohn David Caper. Im Gegensage zu seinem 
Bruder Johann, dessen Name uns in den Briefen der unitarischen Theologen 
begegnet, ist er früh verschollen. Kamen 1613 aus Großpolen mit ihrem 
Lehrer Theophil Pitiskus, dem spateren ersten Pastor von Bojanowo, der 
deutschen Exulantenstadt, Wladislaus und Petrus Ossowski, denen 1620 
auch ihr Vetter Andreas Ossowski folgte, der verdiente Senior der 
lutherischen Kirche und Hauptmann von Fraustadt, ferner Martin Nie- 
wierski und aus Koschmin Andreas Musonius, später in Lobsens und Sluck 
Rektor, schließlich Senior des Wilnaer Distrikts (t 1672), so aus Kleinpolen 
mit ihrem Lehrer Christoph Jakobäus Samuel Domaradzki aus Lutcza unfern 
Pilzno an der Wisloka und die beiden Bal Petrus und Samuel aus Hoczew 
am Fuße der Karpathen. Nicwierski diente in der Folgezeit dem Grafen 
Raphael von Lissa als Hausgeistlicher, wirkte dann in Lublin und in ver- 
schiedenen Gemeinden Litauens, wurde endlich Senior von Herborn wo 
Domaradski vertauschte die Viadrina mit der Hohen Schule zu Herborn, wo 
er 1617 unter dem Theologen und Polyhistor Alsted disputierte und seine 
Schrift seinem Vater Johann und seinem Onkel Peirus Bal, dem Kämmerer 
von Sanok, widmete. Mit dem Lehrer Jakobäus, der schon in Marburg und 
Leiden studiert hatte, zog sein Vetter Samuel Bal zur Ruperta am Neckar. 

Dorthin folgte ihm 1618 auch Andreas Orlitz der Ältere und sein Schüler 
Johann Stephan Grudzinski, die ein Jahr nach ihm (1616) nach Frankfurt 


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gekommen waren. Der Kalischer Wojewode Sigismund Grudzinski, der 
große Kolonisator, der seine weiten Besitzungen mit deutschen Kolonisten 
zu bevölkern suchte, besonders den aus Schlesien um ihres Glaubens 
willen Vertriebenen manchen Freiheitsbrief ausgestellt hat, bekundete seine 
Wertschäßung deutschen Geistes und deutscher Bildung auch darin, d 

zum Erzieher seines ältesten Sohnes einen Prazeptor gewählt hatte, der 
in Leipzig und Danzig gebildet war. Die Abziehenden ersetzte in Frankfurt 
1619 Daul Bochnicki, der spätere Pfarrer von Sienno im Radomer Lande, 
der indessen auch bald zum reformierten Zion am Neckar weiterpilgerte, 
dann 1620 der schon erwähnte Andreas Ossowski, Christoph Pentowski und 
Simon Simonides, ein Sohn des bekannten Dichters am Hofe des Kanzlers 
Zamojski, des Lieblings der Musen, des letzten polnischen Humanisten. Vie 
dieser mit deutschen Humanisten, ich denke an Johann Caselius in Helm- 
stedt, in Verbindung gestanden und manche Briefe mit ihnen ausgetauscht, so 
suchte sein Sohn auch auf deutschen Hochschulen Lehre und Unterweisung. 
Aus Litauen hatte sich ihm angeschlossen Johann Dzicwaltowski, der Sohn des 
Bannerträgers von Nowogrodek Paul Dziewaltowski, den wir seit 1614 schon 
in Thorn sehen, aus Großpolen ein Przylubski und Bonifaz Bronikowski 
und andere. In dem siebzehnjährigen Andreas Rutkowski empfing an 
unserer Universitat seine erste hohere Ausbildung ein junger Gelehrter, der 
spater lange Jahre als Erzicher in vornehmen Hausern tatig war,. auch seine 
Schüler nach dem Westen geführt hat, z. B. Georg Niemirycz, den Kam- 
merer von Kiew. Damals hat ihn der gelehrte Ruar nach Paris an Grotius 
empfohlen. Wie Ruar war er ein Freidenker, hatte er von dem altkirch- 
lichen Dogma sich abgewandt. 

Gering war der Zuzug 1621 aus dem Osten, ich nenne Martin Zakrzewski 
aus jenem kujawischen Geschlechte, das seine Söhne vordem nach Witten- 
berg geschickt hat, und Christoph Dziembowski aus Kranz an der mär- 
kischen Grenze, aus jener Erbherrnfamilie, die ihren evangelischen Glauben 
bis in die Gegenwart bewahrt hat. Um so stärker der Andrang das fol- 
gende Jahr. Das schwere Verhängnis, das über Heidelberg hereingebrochen 
war, die Vernichtung der blühenden reformierten Hochschule, ihre Katho- 
lisierung, hemmte die Wallfahrt nach der Pfalz und empfahl Frankfurt, 
führte hierher jetzt auch manchen, der sein Studium an der Ruperta hatte 
abbrechen müssen, so Samuel Bochwiz und Johann Romanowicz, der 
Johann Gerhards, des großen Jenaer Theologen, Meditationes ins Polnische 
übersetzt hat. Bochw’5 kam über Herborn, wo er noch am 24. August 
1622 disputiert hat. Er war ein jüngerer Sohn des Seniors von Weißruß- 
land Philipp Bochwig, ein Bruder jenes Lukas Bochwif, den wir als Prä- 
zeptor 1601 in Basel, 1606 in Heidelberg sehen. Seine Herborner Dis- 
pulation hat er neben anderen dem Salomo Ryfinius gewidmet, der 1601 
den jungen Christoph Radziwill zum Studium nach Leipzig, 1603 nach Basel 
geleitet hatte. Direkt aus der Heimat erschienen in Frankfurt mit ihrem 
Lehrer Nikolaus Niklassius aus Lobsens, der selbst 1614 in Marburg studiert 
hat, die Brüder Johann und Christoph Potocki, Johann Potworowski und 
Franziskus Gorzkowski sowie Abraham Goluchowski aus dem Krakauer 
Lande. Schon nach einem Jahre setzle der lebte seine akademische Wan- 
derfahrt fort und ging nach Leiden, wohin ihm nach neun Monaten auch 
Gorzkowski und Potworowski folgten. Dagegen blieben in Frankfurt und 
schlossen hier ihre Studien ab die Brüder Andreas und Lukas Gorski aus 
der Miloslawer Erbherrnfamilie. Der Synode ihrer Glaubensbrüder hatte 
diese Familie 1607 in ihrer Stadt Schub und Schirm gewährt und immer 
freudig zu ihrem Bekenntnis gestanden. Der Erzieher, der ihre beiden 
Söhne zur deutschen Hochschule geleitete, war auch ein Sohn des be- 
kannten lutherischen Superintendenten Erasmus Glitzner, Bartholomäus, der 
seine eigene Ausbildung 1607 fl. in Königsberg gefunden hatte. Als Brod- 
nicki hat er sich immatrikulieren lassen, weil sein Vater, nachdem ihm die 
Gegenreformation seine Gräber Gemeinde genommen, in Straßburg (Brod- 
nica) gewirkt hatte. Von weiteren Studenien des Jahres 1622 seien noch 
genannt: Andreas Cikowski, Andreas Petricius, wohl ein Sohn des Belzer 


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Seniors Thomas Pefricius, und Johann Chelmski, der spätere Krakauer 
Jäger und Schutzherr des Gotteshauses in Góry. Stephan Chelmski hat da- 
gegen 1619 die Hohe Schule zu Herborn bezogen und hier 1622 disputiert, 
seine Schrift den Brüdern seines Vaters Christoph und Marcian, dem 
Krakauer Bannertraéger, sowie dem Bruder seiner Mutter Stanislaus Zie- 
linski, dem weitgereisten und vielversuchten Manne, gewidmet. Johann 
Moskorowski, den die Matrikel noch unter dem Jahre 1622 verzeichnet, war 
doch wohl ein Sohn jenes Hieronymus Moskorowski, der 1575 in Wittenberg 
und in Leipzig studiert, später aber dem Unitarismus sich zugewandt, mit 
Sozino Freundschaft 3 eine Tochter des bekannten Dudith heim- 
geführt, seinen Olaubensgenossen in Czarkow an der Weichsel ein Gottes- 
haus erbaut hat. 

Der eben genannte Cikowski zog im folgenden Jahre aus der Heimat 
nach sich zur Hochschule seinen Vetter Stanislaus Cikowski von Woys- 
lawice, dessen Bruder ridley ik zehn Jahre zuvor nach Basel gegangen 
war. Bemerkenswerter aber als dieser dem Kleinadel angehörige Student 
sind die Brüder Nikolaus und Christoph Siupecki, die mit Peter Mlodecki 
und Lukas Gluski gekommen waren unter Führung des Präzeptors Petrus 
Sowinski, der bereits 1598 in Basel einen jungen polnischen Baron beauf- 
sichtigt hatte. Waren es doch die Söhne des Lubliner Kastellans Felix 
Stupecki, der selber in Heidelberg und Altdorf studiert hatte, und der 
Lissaer Grafin Barbara. Drei Jahre später sehen wir sie in Leiden, wo sie 
dem berühmten Vossius näher traten, dann auch in Paris, wo sie der große 
Grotius seiner Zuneigung würdigte. Doch waren sie nicht mehr evangelisch, 
schon ihr Vater war zur römischen Kirche zurückgetreten. 

Gleichfalls mit einem Studium in den Niederlanden und besonders in 
Leiden krönten ihre Frankfurter Lernzeit die Brüder Stanislaus und Paul 
Spinek von Batkow aus dem Lubliner Lande, die auf Veranlassung ihres 
Stiefvaters, des Hauptmannes von Horodlo Stanislaus Gabriel Zborowski 
auf dem Thorner Gymnasium vorgebildet, mit Johann Kossowski und Albert 
Wissakowski 1624 vor den Rektor getreten waren. Dagegen zogen mit 
ihrem Lehrer Johann Wundergast aus Marburg, der bisher die Schulen in 
Oksza und in Belz geleitet hatte, nach Leipzig weiter die Lissaer Grafen- 
söhne Andreas und Raphael, Sohne des Belzer Wojewoden. Auch sie 
hatten vorher das Thorner Gymnasium besucht. Dagegen begnigten sich 
mit einem Studium in Frankfurt die Sohne des Kammerers Bal von Oczew, 
obwohl sonst gerade Sohne dieser kleinpolnischen freu evangelischen 
Familie auch nach Heidelberg, Marburg und Leiden gepilgert waren. 
Wiederum zog nach einem dreijährigen Studium in Frankfurt nach Leiden 
weiter Stanislaus Karwicki, der mit seinem Bruder Paul ebenfalls 1624 zur 
Viadrina gekommen war. Sein Begleiter zur märkischen und holländischen 
Hochschule war Martin Büttner, der spätere Senior der Gemeinden hinter 
Wilna (t 1670), der als Sohn eines Bartholomäus Büttner in Straßburg 1614 
in das Thorner Gymnasium eingetreten war. Sein Bruder Viktorin, der fünf 
Jahre nach ihm die märkische Hochschule besuchte, ließ sich als Glombovicio- 
Polonus eintragen, weil sein Vater inzwischen das Pfarramt in Glebowice 
an der schlesischen Grenze angenommen hatte. Das Jahr 1625 führte einen 
Andreas Czerniecki aus Zamosc nach unserer Universität. 

120 Jahre waren seit Gründung der Viadrina vergangen, etwa 500 Söhne 
des polnischen Adels hatten an ihr ihre Ausbildung erhalten, dazu so viele 
Söhne deutscher Bürgerfamilien des Ostens. Diese strömten ihr auch 
weiter zu, und immer mußte Frankfurt in erster Linie den Deutschen Polens 
die in ihrem Lande ihnen fehlende deutsche Hochschule ersehen, aber 
Polen begegnen uns hinfort an der märkischen Hochschule nur noch verein- 
zelt. Die Abkehr des polnischen Volkes von der Reformation, der anwach- 
sende jesuitische Einfluß wirkte sich aus. Doch nicht ganz wie in Wittenberg, 
Leipzig, wurde in Frankfurt der Pole eine seltene Erscheinung. 1644 trat vor 
den Rektor der Franziskanermönch Kasimir Malinowski aus dem Kalischer 
Konvent, der in der Oderstadt auch zur evangelischen Kirche sich bekannte, 
ein Jahr später Johann Latalski, den wir mit seinem Bruder Nikolaus seit 


241 


1645 unter den Thorner Gymnasiasten sehen und der 1662 uns auf der 
Mielenciner Synode begegnet. 1650 erschienen mit ihrem Ephorus johann 
Reczynski, der mit seinem Bruder Alexander das Jahr zuvor Thorn auf- 
gesucht hatte, die beiden Brüder Stanislaus und Bogislaus Zbanski aus der 
Korower Linie, freilich nur um schon im nächsten Jahre nach Leiden weiter- 
zuziehen. 1650 führte Georg Ciachowski, bald unifarischer Pfarrer in 
Czerniechow, dann nach der Achtung seines Bekenntnisses in Polen Seel- 
sorger an den unitarischen Exulanten in der Mark, seinen Zögling Raphael 
Gorayski, den Sohn des Chelmer, bald Kiewer Kastellans, des unermüd- 
lichen Wortführers der Reformierten, auch ihr Vertreter auf dem Thorner 
Religionsgespräch, zur Viadrina, 1651 Raphael Gorzynski den Andreas 
Drohojowski. Mehr als hundert Jahre waren vergangen, daß dessen Ahn- 
herr, der Przemysler Kastellan Stanislaus Drohojowski, zur Studienfahrt nach 
Wittenberg sich gerüstet hatte, und in jeder Generation hatte sein Ge- 
schlecht einen Sohn nach Deutschland geschickt, nun sehen wir in seinem 
Urenkel Andreas den letzten seiner Familie auf einer deutschen Akademie. 
1664 konnte der Rektor den Sohn des Bannertragers von Nowogrodek Paul 
Frankiewicz Radzyminski einschreiben, 1677 einen Stanislaus Jurkiewicz, 
1679 mit ihrem Lehrer Andreas Makowski zwei Brüder Orzechowski und 
zwei Goluchowski, Severin und Martin. Ein jüngerer Bruder oder Vetter 
Michael Goluchowski erschien noch 1687 und zog im folgenden Jahre nach 
Leiden, und damit haben sich auch die Studienfahrten dieses kleinpolnischen 
Geschlechts zu evangelischen deutschen Hochschulen erschöpft. 

Für das Jahr 1694 verzeichnet die Matrikel einen Johann Borzymowski, 
für 1696 einen Daniel Borzymowski aus Stuck, etwa in derselben Zeit drei 
Brüder Wladislaus, Alexander und Johann Zychlinski und einen Alexander 
Konsinowski, nachdem ein Petrus Konsinowski schon 1683 um Aufnahme 
gebeten hatte. 1716 richtet ein Wladislaus Konsinowski einen Hilferuf nach 
Berlin. Er habe die Starostei Deutsch Krone käuflich erworben, aber die 
katholische Gegenpartei hindere die erforderliche königliche Bestätigung 
mit der Begründung, Evangelische seien nicht berechtigt, Hauptmannschaften, 
die mit Gerichtsbarkeiten verbunden, zu besitzen. Ob Berlin für ihn in 
Warschau Vorstellungen erhoben hat? Von den in der Neumark ansässig 
gewordenen unitarischen Polen bat 1689 Stanislaus Morstein, 1708 Johann Jakob 
Wilkowski und Johann Wladislaus Suchodolski, 1716 dessen Bruder Friedrich 
Samuel und schon 1709 Achatius Taszycki aus der Lustawicer Linie um 
Aufnahme. Der Ahne des letzteren, Cyrill Taszycki, war 1616 nach Marburg 
gezogen. Seit 1686 gingen durch die Frankfurter Kollegien verschiedene 
Wolk, Söhne jener Familie, die in der Zeit, da das Los der Evangelischen 
immer düsterer wurde, in Litauen mit Nachdruck dem Verhängnis sich ent- 
gegenzustemmen suchten und gegen die Entrechtung sich wehrten. Johann 
Wolk, der Jäger von Nowogrodek, der Vertreter seiner Glaubensbrüder 
1710 in Warschau, hat als erster seines Geschlechts sich nach Frankfurt 
gewandt. Ähnlich sandte die andere Familie, die damals in Litauen ihre 
Kraft für die Glaubensfreiheit einsetzte, die Estko, ihre Söhne seit 1717 zur 
märkischen Hochschule. Jener Alexander Gabriel Hulewicz, der mit Bogus- 
laus Mikolajewski 1718 akademischer Burger wurde, hat bei der Druck- 
legung der polnischen Bibel, die in Halle erschien, mitgearbeitet, ihre 
Korrekturbogen gelesen. Die Twardowski, Kurnatowski, Bronikowski, die 
um die Mitte des 18. Jahrhunderts nach Frankfurt zum Studium kamen, waren 
Söhne der wenigen letzten polnischen evangelischen Adelsgeschlechter. 
Ihre Namen finden wir unter der Urkunde der Thorner Konfoderation 1767. 
Unter den Jahren 1777 nennt die Matrikel einen Paul Przystanowski, 
Sohn des königlichen Kämmerers Michael Przystanowski, unter den Jahren 
1773 und 1775 zwei Grabowski, also Söhne jener evangelischen Familie, 
der es kurz vor dem Zusammenbruch des Reichs noch gelang, den 
1Sojährigen Bann des Ausschlusses von höheren Amtern zu brechen und zu 
Senatoren emporzusteigen. 

Zahlreicher als polnische Edelsöhne waren in den letzten 150 Jahren der 
Viadrina unter den Studenten polnische und litauische Pastorensöhne, An- 


242 


warter des geistlichen Amtes, die ihre Ausbildung und Zurüstung suchten, 
angelockt zum Teil von den Stipendien, die die Herrscher Preußens in 
ihrer Fürsorge für ihre verarmten und bedrängten Glaubensbrüder im Osten 
an ihrer Landesuniversität gestiftet halten. dei Frankfurt wurde wesentlich 
die Hochschule, die den Reformierten des Ostens den Nachwuchs für das 
geistliche Amt lieferte. Wir wollen nicht alle anführen, die hier zu nennen 
wären, doch aber die verzeichnen, die besonders ihre Namen in die Ge- 
schichtsbücher ihrer Kirche eingeschrieben haben. So studierten Theologie 
1651 der Pastorensohn aus Malice (Sendomir) Samuel Büttner, der spätere 
Senior des Distriktes jenseits von Wilna, dann von Samogitien, der un- 
ermüdliche Verteidiger der Rechte seiner Glaubensgenossen, der gegen- 
uber der gesteigerten oo um um eine 5 Verbindung mit der 
ähnlich bedrängiten orthodoxen Kirche sich bemühte, 1678 Georg Luto- 
mierski, der Sohn des Seniors von Samogitien gleichen Namens, der selbst 
einst seine Ausbildung auf englischen und holländischen Universitäten ge- 
funden hatte. Er wirkte in verschiedenen Gemeinden und starb 1694 in 
Kiejdany. Für 1681 sei Florian Swida genannt, der spätere Senior von 
Nowogrodek, für 1686 der Lubliner Thomas Cien, später Pfarrer in Sielec, 
etliche Meilen östlich von Pinczow, für 1689 Paul Cassius, dann Pfarrer in 
Zychlin unfern von Kalisch, seit 1725 auch Senior der Brüderunität in Groß- 
polen. Für 1689 verzeichne ich Johann Aram, der später in Sieczkow, dicht 
bei dem genannten Sielec der Gemeinde am Worte Gottes diente, für 
1698 Georg Rekuc. Da er der Sohn einer Mischehe war, deshalb ohne 
Lebensgefahr in seinem Vaterlande nicht weilen konnte, wandte ihm 
Jablonski, der bekannte Berliner Oberhofprediger, das reformierte Pfarr- 
amt in Königsberg zu. In unermüdlicher Sorge hat er hier für die Kirche 
seiner Heimat gearbeitet, fern von dem väterlichen Boden auch das Se- 
niorat . von Samogitien bekleidet, das ihm seine dankbaren Glaubens- 
genossen übertragen hatten. 

Im Jahre 1703 finden wir in Frankfurt wieder Christian Sitkowski, den 
Lissaer Pfarrer, 1734 auch Unitäts-Senior, 1705 Daniel Krosniewiecki, dann 
Pastor in Radziwiliszki, 1710 Martin Dyakiewicz. Die Dissertation, die er 
geschrieben, hat er Jablonski gewidmet ob seiner väterlichen Fürsorge für 
die Kirchen des Ostens, in Wengrow hat er mit einem lutherischen Pastor 
an demselben Gotteshause gestanden. 1715 wurde Student Andreas Skirski, 
dann Geistlicher in Piaski, 1717 Michael Estko, dann in Nowe Miasto, schon 
das Jahr zuvor der Sendomirer Boguslaus Petroselinus, dann in Belzyce, 
gelegentlich auch Prediger in der preußischen Gesandtschaft in Warschau. 
Im ae 1722 begann sein Studium Christoph Myslowski, in der Folgezeit 
deuischer Prediger in der reformierten Gemeinde zu Wilna, 1724 Samuel 
Nerlich, der dann in Lapczynska Wola in Kleinpolen ein Amt fand, in dem- 
selben Jahre auch Samuel Majewski, der, fast siebzigjährig, in Zychlin 1767 
seine Treue mit einem qualvollen Martyrertode besiegelte. 1727 ist immatri- 
kuliert Samuel Pawlowicz, der in Sidra in Podlachien dann des Hirtenamtes 
waltete, 1729 Stephan Izbicki, fortan Rektor in Birze, seit 1740 Pfarrer in 
Lubecz, 1730 Daniel Begin, der dem schon genannten Senior Aram in Siecz- 
kow als Diakonus zur Seite stand, 1731 Johann Ernst Vigilantius, eines 
Pfarrers Sohn und Enkel, dann auch selbst Pastor in Lagwik, der bohmi- 
schen Briidergemeinde. Fur 1737 sei erwahnt Jakob Reczynski, in der 
Folgezeit Senior in Podlachien, für 1741 Stephan Volan, dessen Ahnherr 
schon 1544 zur Hochschule am Oderstrande gewandert war, und Stephan 
Wannowski, der 27 Jahre später auch seinen Sohn nach Frankfurt sandte. 
Alexander Andreas Kopycki, 1768 Student der Viadrina, diente der Kirche 
schließlich als Senior in Samogitien. Ein Blick in die Pastorenfamilie der 
Cassius. Von ihr erhielf Franz Ernst, der Thorner Pastor, seine Ausbildung 
in Frankfurt 1715, Samuel August, der Schwartower Pfarrer, 1721, Johann 
Alexander, der Prediger in Orzeschkowo und Lissa, auch Senior, 1726, 
Boguslaus David, der Schockener, 1732, Christian Theophil, der Posener, 
1760, Boguslaus David, der Lissaer Direktor, 1766, sein Bruder Johann Lud- 
wig, der Generalsenior, 1764, Johann Bogislaus, der seine Studien 1786 in 


245 


Leiden fortisekte, 1783. Noch 1804 hat der Orzeschkowoer Pfarrer und 
Posener Professor Johann Wilhelm Cassius, noch 1805 der Lissaer Professor 
Johann Friedrich Ludwig Cassius zu den Füßen Frankfurter Lehrer gesessen. 
Auch der Pfarrer von Kieidany, uslaus Bernakki, um noch einmal nach 
Litauen zu schauen, der Wilnaer Pastorensohn, der selbst 1770 an der 
Viadrina aus dem Quell der Wissenschaften geschöpft, führte ihr noch 1805 
seinen Sohn Alexander Boguslaus zu, der zuerst nach Königsberg gegangen 
war. Wie mancher Pastorenfamilie ist die Alma mater am Oderstrande 
durch mehrere Geschlechter Lehrerin gewesen! 

Wir stehen am Schlusse. Nie hat Frankfurt den Zauber gehabt, den 
Wittenberg für lern- und Ne DIENT al besessen, nie den Reiz, 
den Heidelberg für die reformierten, orf für die unitarischen Studenten 
hatte, aber länger als diese Bildungsstatten hat es dem Osten gedient, 300 

e ihm Oeisteskräfte gespendet, gerade auch in einer Zei, da seine 
evangelischen Kirchen unter schwersiem Drucke standen, bedrängt, ver- 
folgt um ihre Existenz ringen mußien, ihre Widerstandskraft durch die 
Pastoren, die es ihnen ausgebildet, gestärkt. Die Kultur und das Geistes- 
leben Polens ist von der deutschen Grenzuniversitat auf märkischem Boden 
anfänglich wesentlich beeinflußt worden, dann, als es sich in der Zeit seines 
Niederganges und Zerfalls gegen deutsches und evangelisches Wesen be- 
wußt verschloß, hat in ihm wenigstens noch das Häullein, das festhiell an 
den Errungenschaften des 16. Jahrhunderts, der großen Zeit Polens, gelebt 
von den Geisteskraften, die diese Grenzuniversität spendete. 


244 


Il 
LITERATUR BERICHTE 


ARCHEION 


(Czasopismo naukowe poświęcone sprawom archiwalnym. Redaktor: 
Stanisław Ptaszycki. Warschau 1927—1928, Bd. I- IV.) 


Von 
Dr. Kazimierz Tyszkowski 
und Dr. Stanisław Zajączkowski (Lemberg). 


Die große Entwicklung der Rechtspraxis im alten Polen, sowie 
die genealogischen und finanziellen Interessen des polnischen Adels 
waren Ursachen, daß das polnische Archivwesen mit besonderer Vor- 
liebe gepflegt wurde. Die Grodbiicher und Landtafeln wurden mit 
großer Pietät aufbewahrt, alle Familien besaßen eigene Archive, wo 
genealogische Papiere und Güterdokumente aufgehoben wurden. 
In der Hauptstadt hatte man alle Staatsarchive gesammelt, die unter 
Obhut des Großkanzlers standen, der Teilungen wegen hatten sie 
jedoch keine neuzeitliche Ordnung und Entwicklung erreicht. Ein 
großer Teil des Kronarchivs wurde aus Warschau nach Moskau weg- 
geführt, alle anderen wurden den drei verschiedenen Staatsorganis- 
men einverleibt und anderen Vorschriften unterworfen. Die archiva- 
lische Tradition wurde dadurch gebrochen; man mußte sie von neuem 
im Jahre 1918 aufbauen, als die Archive in polnische Hände zurück- 
kamen. 

In diesem Momente sind viele Historiker vom Fach in den Archiv- 
dienst getreten. Galizien, auch Preußen und Rußland haben einige 
Spezialisten hinzugefügt, und die Arbeit begann. Zwei Richtungen 
wurden in erster Linie verfolgt: die Ordnung und die Zutrittserleich- 
terung der Schätze für die wissenschaftlichen und staatlichen Zwecke, 
ferner die Revindikation der Archivalien, die einst dem polnischen 
Staate angehörten, oder dem rechtsmafigen Leben unentbehrlich 
waren. Dabei mußte man archivalische Studien auch im theoretischen 
Sinne pflegen und die Archivwissenschaft auf dem polnischen Boden 
einpflanzen. Dieser Aufgabe dient die im Jahre 1927 gegründete 
Zeitschrift ,Archeion“ unter der Leitung des Generaldirektors 
Professor Stanistaw Ptaszycki, vorher Universitätsprofessor 
in Petersburg. 

Schon während der Historikertagung zu Posen (1925) hat 
Dr. Lopacinski die Gründung einer archivalischen Zeitschrift ge- 


245 


fordert. Auf diesem Kongresse wurden die bisherigen Resultate 
und Arbeiten der Archivistik sichtbar und schufen dieser Disziplin 
eine eigene Stelle inmitten anderer historischen Wissenschaften, da 
die zahlreichen Referate durch ihren wissenschaftlichen Wert die 
Aufmerksamkeit aller versammelten Historiker auf sich zogen. 

Das Programm der neuen Zeitschrift wurde, wie in der Vorrede 
des Redaktors auch bemerkt ist, weit bemessen. Wir sollen genaue 
Informationen über den Zustand der polnischen Archive, über ihre 
Entstehung und Organisation, über die Arbeiten und Studien er- 
halten. Dabei werden theoretische Probleme des Archivwesens ge- 
pflegt, ferner die Geschichte der Archive in Polen, die Berichte über 
die Literatur und Archive im Auslande, die Bibliographie usw. Alle 
diese Aufgaben haben in den vorliegenden vier Heften ihre Reali- 
sation gefunden. 

Dr. Anton Rybarski widmete den Organisationsproblemen 
einen einleitenden Artikel u. d. T. „Centralny Zarzad Ar- 
chiwalny w odrodzonej Rzpltej Polskiej“ (Archiva- 
lische Zentralverwaltung in der neuen polnischen Republik Polen, 
Bd. I, S. 1—14). Ausführliche Angaben über dieses Thema kann der 
deutsche Leser in dem Artikel Bachulski’s in der Archiva- 
lischen Zeitschrift!) oder noch besser, was die deutsche 
Archivverwaltung in Kongreßpolen während des Welikrieges an- 
betrifft, im Referate von Dr. Recke auf dem Deutschen Archiviage 
zu Danzig?) finden. 

Eine Übersicht über alle Staatsarchive gibt Dr. Lopacinski: 
Archiwa Pafistwowe Rzpltej Polskiej (Die Staats- 
archive der Republik Polen, Bd. I, S. 15—32). Als wichtige Ergan- 
zung dient die in jedem Bande der Zeitschrift angegebene Chronik, 
aus welcher wir genaue Informationen iiber die Geschichte und Ar- 
beiten jeder Institution vom Weltkriege angefangen bis zum heutigen 
Tage entnehmen. 

In den letzten Jahren hat man in Polen einige solche Übersichten 
zusammengestellt. Es erschienen in chronologischer Reihenfolge: 
Handelsman „Historik“, Ptaszycki „Encyklopä- 
die“), Wierzbowski „Vademecum“ ), dann ein Artikel uber 


chulski a. Polnische Staatsarchive, Archivalische Zeitschrift 
m. F. 84 IV., S. 241—261. 

3) Recke, Walther: Das Archivwesen in Polen. Korrespondenzblatt des 
„„ der Altertums- u. Geschichtsvereine. 1928. Jg. 76, S. 239 
is 24 

3) Handelsman, Marceli: Historyka. Część l. Zasady metodologii 
historji. Zamość. Zygmunt Pomarański i Spólka. 1921. str. XI + 256. Wyd ll. 
Warszawa. Naki. Gebethnera i Wolffa. 1928. str. XIII + 332. 

] Ptaszycki, Stanislaw: Encyklopedja Nauk Pomocniczych Historji i 
Literatury Polskiej. Część I. Wyd. II 3. Lublin, Nakł. Uniwersytetu Lubel- 
skiego. 1922. str. 283 + V. 

5) Wierzbowski, Teodor: Vademecum., Podręcznik dla słudjów archi- 
walnych Wyd. II zmienione i rozszerzone po śmierci autora przez K. Tysz- 
5 i B. Wiodarskiego. Lwów-Warszawa. Ksiaznica-Atlas 1926. 
sir. 253 + A 


246 


die Archive von Dr. Paczkowski, ehemaligen Generaldirektor, 
vorher im preußischen Staatsarchivdienste, im Handbuch über 
Polen von Sujkowski*) und Kutrzeba „Geschichte der 
Rechtsquellen“). Alle diese Verzeichnisse sind unvollständig 
und erheben keinen Anspruch darauf, da sie nur für informations- 
zwecke bestimmt sind. 

Einen größeren Umfang und einen größeren Wert besitzt die 
ll. Ausgabe von Chwalewik: „Polnische Sammlungen“) 
samt den Materialien zum Verzeichnisse, die im Jahrbuche , Nauka 
Polska“) publiziert wurden. Die Zahl dieser Verzeichnisse 
beweist, wie notwendig diese waren, andererseits aber stellt deren 
Menge ihre Zweckmäßigkeit in Zweifel. Die offiziellen Angaben von 
Dr. Łopaciński können, obzwar unmittelbar von den Archivverwal- 
tungen geliefert, doch manchmal bestritten werden, da sie nicht 
gleich lauten und deshalb nicht in demselben Maße nukbar sind. Das 
haben wir schon einmal in der Rezension des Archeion besprochen:“). 

Eine besonders wichtige Frage des polnischen Archiviebens war 
die Rückgabe der alten Archive und der gegenwärtigen Registra- 
turen von den drei Herren Polens vor dem Kriege. Man widmete 
deshalb diesem Probleme vier Artikel, wo wir genaue Informationen 
darüber treffen; so besitzt die russische Revindikation schon eine 
große Literatur‘), für den deutschen Leser sind die zitierten An- 


©) Sujkowski, Antoni: e Niepodległa. Warszawa. Wyd. Kasy im. 
Mianowskiego. 1926. str. 260 + 6. 


7) Kutrzeba, Stanislaw: Historja źródeł dawnego prawa polskiego. 
Lwów. Wyd. Zakładu Nar. im. Ossolińskich. T. I. str. IV + 286. r. 1925. 
T. II. str. 462 +2. r. 1926. 


*) Chwalewik, Edward: Zbiory Polskie. Archiwa bibljoleki, gabinety, 
galerje, muzea i inne zbiory pamigtek przeszłości w Ojczyźnie i na ob- 
czyźnie w porzadku alfabetycznym według miejscowości ułożone. War- 
szawa-Kraköw. Wyd. J. Mortkowicza. T. I. A—M. str. IX + 490. r. 1926. 
T. I. N- Z. str. 559. r. 1927. 


J Nauka Polska. Rocznik Kasy im. Mianowskiego Instytutu popiera- 
nia Polskiej Twórczości Naukowej f. VII. Materjały do spisu instytucyj i 
atA a Naukowych w Polsce. Warszawa. Pałac Staszica 1927. sir. 


10) Kwartalnik historyczny 1927. S. 591. 


11) Dokumenty dotyczące akcji Delegacyj Polskich w Komisjach Mie- 
. i Specjalnej w Moskwie. Zeszyt 1—9. Warszawa 
1922 — 1 

Kunge, E.: Sprawy rewindykacyjne. Pamietnik IV Powszechnego 
Zjazdu Historyków en w Poznaniu 6—8 grudnia 1925. 1. Referaty. 
Lwéw 1925. S. VI, S. 

Tyszkowski, K.: Z deieiow rewindykacji. Kwartalnik historyczny. 1924. 
Nr. 3 (auch separat). 

Derselbe: Rewindykowane rekopisy Bibljoteki Publiznej w Petersburgu 
jako materjal badań historycznych. Pamietnik IV. Powszechnego Zjazdu 
Historyków Polskich. Bd. Il. 1927. S. 230-236 (und separat). 

Chwalewik, E.: Losy Zbiorów Polskich w Rosyjskiej Bibljotece Pu- 
blicznej w Leningradzie. Odb. ze „Zbiorów Polskich“, sfr. 43+5. Warszawa. 
Wyd. Jakuba Mortkowicza 1926. 


247 


gaben von Bachulski in der „Archivalischen Zeitschrift‘ zugänglich. 
Die großen Vorbereitungen und Vorstudien haben viele wissen- 
schaftlich neue Resultate gebracht und im allgemeinen auch die Ge- 
schichte der polnischen Archive stark gefördert und beeinflußt. 


Siemiefski Józef: Revindikation der Kron- 
archive. Wissenschaftliche Vorbereitung und Resultate (Rewindy- 
kacja archiwöw koronnych. Przygotowanie naukowe i wyniki. Bd. !. 
33—60). 

Der heutige Direktor des Warschauer Hauptarchivs, der an den 
Revindikationsarbeiten in Moskau teilnahm, stellt uns in seinem Re- 
ferate, das auf der Posener Historikertagung gelesen wurde, alle 
archivalischen Arbeiten vor, welche in Warschau und an Ort und 
Stelle in Moskau vorgenommen wurden, um auf Grund des Friedens- 
vertrages alle Kronarchive zurückzubekommen, welche im Jahre 1795 
nach Rußland weggeführt waren. Man mußte dabei nicht nur die 
Geschichte der Konfiskation durcharbeiten, sondern auch alle alten 
Inventare und Verzeichnisse durchsuchen, um das ganze Material zu 
identifizieren, welches teilweise an verschiedenen Stellen Rußlands 
zerstreut war. Die Verhandlungen führten dazu, daß die russische 
Regierung die Abgabe der polnischen Teile des ehemaligen Kron- 
archivs bewilligte, die der anderen Archive jedoch, welche historische 
Provinzen des alten Polenstaates betrafen, versagte. Von be- 
sonderer Wichtigkeit ist hier die sogenannte „Litauische und Wolhy- 
nische Metrik“. Dem abgegebenen Teile gehören die Dokumente 
des Kronarchivs, die Kronmetrik und die Staatsakten des XVIII. Jahr- 
hunderts bis zum Jahre 1795 an. 


Biatkowski, Leon: Was sollen wir aus Kiew 
revindizieren ? (Co powinniśmy rewindykowaé z Kijowa? 
Bd. I, S. 61—65.) Ein Verzeichnis der Gerichtsakten und Gerichts- 
bücher im Zentralarchiv in Kiew, welche sich auf Wolhynien polni- 
schen Anteils bezichen. 


Suchodolski, Witold: Die Ausführung des 
Art. XI des Rigaer Vertrages hinsichtlich der 
Staatsarchive (Wykonanie Art. XI Traktatu Ryskiego w za- 
kresie archiwów pafstwowych. Bd. I, S. 66—78). 

In diesem Artikel finden wir genaue Angaben, was für Archive 
und Akten des XIX. Jahrhunderts von den Russen zurückgestellt 
wurden. Es sind dies in erster Reihe neue Registraturen der rus- 
sischen Behörden in Polen, die im Laufe der Zeit nach Rußland ge- 
bracht wurden, und auch solche, welche während des Weltkrieges 
evakuiert worden sind. Neben ganz neuen Akten, die doch für die 
Administration des Landes von besonderem Wert sind, treffen wir 
auch alte und wichtige Aktengruppen, wie z. B. die Archivalien der 
Olkuszer Bergwerke. Hierher gehört auch das Archiv des Staats- 
sekretariats für das Königreich Polen (1815— 1866). Die weiteren 
Arbeiten bei der Rückgabe sind im Gange und werden noch viel 
Material für den Historiker des XIX. Jahrhunderts ans Licht bringen. 


248 


Barwifski, Eugenjusz: Die Archivverhand- 
lungen mit Österreich (Rokowania z Austria w sprawach 
archiwalnych. Bd. I, S. 79-92). Der Lemberger Staatsarchivdirektor 
schildert hier die Verhandlungen zwischen Osierreich und Polen 
über die Ausgabe der Akten, wobei er selbst teilgenommen hatte 
Die auftretenden Schwierigkeiten bestehen darin, daß Osterreich 
das Provenienz-, Polen dagegen das Territorialprinzip vertritt. 

Stojanowski, Jözef: Die Archivverhandlungen 
mit Deutschland (Rokowania z Niemcami w sprawach archi- 
walnych. Bd. I, S. 93—105). Die Archivverhandlungen mit Deutsch- 
land sind über gegenwärtige Amtsakten nicht hinausgekommen; jene 
Archivalien, d. h. Akten, welche an Archive schon verteilt wurden, 
blieben dabei unberührt. 

Alle anderen Aufsätze und Abhandlungen, welche in den vier 
Heften des Archeion enthalten sind, können in fünf Abteilungen ge- 
teilt werden. Die erste bilden Aufsätze, welche Probleme aus der 
Theorie der Archivkunde, Einrichtung der Archive usw. beireffen, die 
zweite Aufsäbe historischen Inhaltes, in der dritten sind Berichte 
über einzelne Archive, Archivdepots und Sammlungen, die vierte 
Kategorie ist den ausländischen Archiven gewidmet, die fünfte end- 
lich umfaßt Literaturberichte und Bücherbesprechungen. 

Konarski, Kasimir: Über Probleme der mo- 
dernen polnischen Archivkunde (Z zagadnień nowo- 
Zyinej archiwistyki polskiej) l, 106— 124. 

Der Verfasser hebt die Schwierigkeiten, welche die polnische 
Archivkunde zu überwinden hat, hervor. Diese treten bei der Fest- 
stellung der archivalischen Terminologie und der Hauptaufgaben der 
archivalischen Praxis auf. Der vorliegende Aufsatz wird der Be- 
stimmung des Begriffes „archivalischer Fond“ (zespöl) und der Be- 
zeichnung seiner Merkmale gewidmet; dabei schlagt der Verfasser 
die Einführung des Ausdruckes „Prinzip der Kanzlei-Zustandigkeit“ 
anstatt des Ausdruckes ,,Provenienz-Prinzip“ vor. Zuletzt wirft er 
die Frage der Aufbewahrung der Archivalien in der Zukunft mit 
Hinweis auf die immer mehr anwachsende Masse von Papieren, die 
den Archiven zukommen werden, und ferner das Problem der Akten- 
skartierung auf. 

Siemiefs ki, Joseph: Die bibliothekarmäßige 
Repertorisierung der Archive (Katalogowanie archiwöw 
po bibljotekarsku) I, 125—134. Kritik der Arbeit Jacek Lipski’s: 
„Archiv des Schul-Kuratoriums des Fiirsten Adam 
Czartoryski“, welche auf eine bibliothekarmäßige Weise, mit 
Nichtbeachtung des Provenienz-Prinzips, durchgefuhrt wurde. 

Manteuffel, Thaddäus: Registratur-Uber- 
nahme und das Ordnen derselben (Dziedziczenie regi- 
stratur i ich porzadkowanie) l, 135—139. Der Verfasser berührt 
mit Hinweis auf ein konkretes Beispiel die Frage, wie man beim 
Ordnen der übernommenen Registraturen, welche die älteren in sich 
enthalten, vorgehen soll. 


249 


Ehrenkreutz, Stephan: Bereisungs-Archivisten 
oder Konservatoren für Kunst- und Kultur-Denk- 
maler (ArchiwiSci objazdowi czy konserwatorowie zabytków sztuki 
i Kultury) I, 145—154. Besprechung der neusten polnischen Geseb- 
gebung in betreff der Aufsicht uber Archivalien, mit welcher sowohl 
die Bereisungs-Archivisten wie auch die Konservatoren für Kunst- 
und Kultur-Denkmäler betraut wurden, wobei mancherlei Modifika- 
tionen der bestehenden Vorschriften vorgeschlagen werden. 

Handelsman, Marzell: Die Methode der For- 
schungen in den Archiven (Metoda poszukiwań archiwal- 
nych) II, 31—48. Indem der Verfasser vor dem Grübeln nach dem 
unbekannten archivalischen Material warnt und das Verhältnis des 
Ungedruckten zum Gedruckten richtig fesistellt, gibt er praktische 
Ratschläge und Regeln, welche die Vorbereitung zu den Forschungen 
in den Archiven, dann die Forschungen selbst in ihrer äußeren (tech- 
nischen) und wissenschaftlichen Beziehung und endlich die Behand- 
lung der Archivalien betreffen. 

Ptaszycki, Stanisław: Archiv-Archeion. Ety- 
mologisch-historische Betrachtungen (Archwun- 
Archeion. Uwagi etymologiczno-historyczne) Ill, 1—11. Betrach- 
tungen uber die Bedeutung und Geschichte des Wortes „Archiv“ 
(„archiwum“) sowie den Gebrauch desselben in der polnischen 
Sprache. 

Siemienski, Joseph: Terminologische Betram- 
tungen (Roztrzasania terminologiczne) Ill, 12—22. Betrachtungen 
uber archivalische Fachausdrücke in der polnischen Sprache, nämlich 
„archiwum“ (Archiv), welches Wort, wie der Verfasser beweist, drei- 
fache Bedeutung besikt: Behörde, die zur Aufgabe hat, Akten auf- 
zubewahren (Archivdepot), dann Akten einer funktionierenden Be- 
hörde, die vorlaufig keinen praktischen Wert haben, die aber von 
derselben aufbewahrt werden, endlich Gesamtheit der Akten, welche 
den Nachlaß der Wirksamkeit einer Behörde bilden und dem Archiv- 
depot übergeben worden sind. 

Pawłowski, Bronisław: Einiges über Akten- 
skartierung (Nieco o brakowaniu akt) Ill, 23— 29. Der Ver- 
fasser hebt die Wichtigkeit dieses Problems mit Hinweis darauf, daß 
die Archive von Überhäufung mit modernen amtlichen Papieren be- 
droht sind, hervor. Er stellt die Forderung auf, daß die Skartierung 
der den Archiven von verschiedenen Behörden zu übergebenden 
Akten von dem Personale dieser Behörden durchgeführt werde, was 
aber durch genaue Vorschriften geregelt werden soll. Als Beispiel 
führt er eine solche fur die Militärbehörden entworfene instruktion an. 

Abraham, WIadys law: Die Gesetzgebung der 
katholischen Kirche in betreff der Archive (Usta- 
wodawstwo kościelne o archiwach) IV, 1—14. Der Verfasser be- 
spricht die allgemeine, auf die Archive Bezug nehmende Gesch- 
gebung der katholischen Kirche seit dem Tridentiner Konzil, dann die 
gleichzeitigen Leistungen der polnischen Kirche in dieser Hinsicht. 


250 


Das Provlem der Einrichtung und Erhaltung der kirchlichen Archive 
wird jetzt durch den neuesten Kodex des kanonischen Rechtes ge- 
regelt, wobei aber, auf Grund des Konkordates zwischen Polen und 
dem apostolischen Stuhl, der polnischen Regierung die Möglichkeit, 
ihren Einfluß darauf auszuüben, eingeräumt wurde. 

Kwolek, Johann: Die wissenschaftliche Orga- 
nisation der Diözesanarchive (Naukowa organizacja 
archiwów djecezjalnych) IV, 15—35. Der Verfasser hebt die Be- 
deutung und das Bedürfnis der wissenschaftlichen Einrichtung der 
Diözesanarchive in Polen hervor, wozu eine Grundlage im Art. XIV 
des Konkordates zwischen Polen und dem Vatikan geschaffen wurde 
und was im Sinne der päpstlichen Instruktion für die italienischen 
Bistümer vom 15. April 1923 erfolgen kann, und bespricht alle damit 
verbundenen Fragen. 

Kryński, Adam Antoni: Archivist und Archivar 
(Archiwista i archiwarjusz) IV, 36—44. Historisch-philologische Be- 
trachtungen über die dienstlichen Titel „archiwista“ (Archivis und 
„archiwarjusz“ (Archivar), wobei Verf. sich für den Gebrauch des 
ersteren erklärt, da diese Bezeichnung schon im Großherzogtume 
Warschau, dann in Kongreß-Polen in Anwendung war, der Ausdruck 
„Archivar“ dagegen erst unter dem Einflusse der preußischen, dann 
der russischen Behörden aufzutauchen begann. Im Anhang werden 
die darauf Bezug nehmenden Meinungen des Prof. Dabkowski und 
des Generaldirektors Ptaszycki beigelegt. l 

Siemiefiski, Joseph: Terminologische Betrach- 
tungen Il. Ausweise (Rozirzasania terminologiczne. Il. Wykazy) 
IV, 45—53. Betrachtungen uber die Bezeichnungsweise der verschie- 
denen Ausweise der Bestande, sowohl der einzelnen Archive wie 
auch deren der Archivdepots. Verf. schlägt die Anwendung des 
Ausdruckes „Inventar“ vor, erörtert verschiedene Kategorien der In- 
ventare und stellt den Unterschied zwischen einem Inventar und 
Katalog fest. | 

Ketrzynski, Stanistaw: Uber die Anfänge der 
Registerbücher der Kronkanzlei und ihren Cha- 
rakter im XV. Jahrhundert (Uwagi o poczatkach Metryki 
koronnej i jej charakter w XV. w.) Il, 1—30. Die ersten Nachrichten 
von den Registerbüchern in Polen beziehen sich auf die geistlichen 
Kanzleien seit dem J. 1320. Ihre Einführung in die königliche Kanzlei 
ist-aber erst für den Anfang der zweiten Hälfte des XIV. Jahrhun- 
derts anzunehmen. Regisferbücher der Kronkanzlei sind uns seit 
dem J. 1447 erhalten. Sie waren in drei Kategorien eingeteilt (Re- 
gister des Kronkanzlers, Unterkanzlers und Sekretärs) und bestehen 
aus einzelnen Heften, welche später zusammengebunden worden 
sind. In ihnen waren die Urkunden sowohl auf Grund des Konzepts 
wie auch der Große, in extenso oder im Regest eingetragen. Die 
darauf Bezug nehmenden Vorschriften und Regeln sind erst im Laufe 
der Zeit festgestellt worden. 


251 


Prochaska, Anton: Ursprüngliche Anordnung 
der landesgerichtlichen Akten (Pierwotny uklad akt 
ziemskich) I, 140—144 u. II, 58—70. Der Verfasser stellt die ursprüng- 
liche Einteilung der gerichtlichen Akten im XVI. Jhdt. in drei Kate- 
gorien fest: Actiones, Perpetuitates, Obligationes, welche der drei- 
fachen Einteilung der Grodbücher entsprechen. 

Wolff, Adam: Uber die Relationsformelin der 
mazowischen Kanzlei (Formula relacji w kancelarji mazo- 
wieckiej) I, 176—208. Eine Studie über die Bedeutung der Formel 
„Relatio..“ oder „Ad relationem ..“ in der Kanzlei der mazowischen 
Teilfürsten, hauptsächlich im XV. Jhdt. In ihr waren diejenigen Per- 
sonen bezeichnet, auf Grund deren Informationen die Nachricht von 
einer Tatsache in die Kanzleibücher eingetragen wurde. Die in der 
Formel Erwähnten waren für ihre Informationen verantwortlich. 

Dabkowski, Przemystaw: Verzeichnis der In- 
duzenten des Grodgerichtes in Halicz im XVIII. 
Jahrhunderte (Wykaz inducentöw grodzkich halickich w XVIII w.) 
II., 49—57. Alle Eintragungen in die Bücher der Grodgerichte ge- 
schahen in doppelter Form, zuerst im Auszuge in das Protokoll, dann 
mit Versehung der vorgeschriebenen Formeln in die sog. Inducta. 
Die Inducta-Bücher waren von den Induzenten geführt. Verf. gibt, 
auf Grund der Halicz’er Grodbücher, ihre Liste im XVIII. Jhdte an. 

Iwaszkiewicz, Johann: Zur Geschichte des Àr- 
chives alter Akten in Warschau. Das Ordnen der 
Archive im Großherzogtume Warschau (Z dziejów 
Archiwum akt dawnych w Warszawie. Uporzadkowanie archiwów 
Ksiestwa Warszawskiego) li, 85—95. Darstellung der Wirksamkeit 
des Matthias Wierzejski, Archivar beim Staatsrate des Königreiches 
Polen in den Jahren 1815—1818, welcher die Archive der obersten 
Behörden des ehemaligen Großherzogtumes Warschau (Regierungs- 
Kommissär, Ministerialrat, Staatsrat, Oberster Rat) in Ordnung ge- 
bracht hatte. 

Budka, Vladimir, Dr.: Dieerste Anwendung des 
gregorianischen Kalenders in den grod- und 
landesgerichtlichen Akten der ehemaligen Woje- 
wodschaftKrakau (Pierwsze zastosowanie kalendarza gregor- 
janskiego w aktach grodzkich i ziemskich dawnego Wojewédztwa 
krakowskiego) Ill, 30—34. Der Verfasser beweist auf Grund des 
archivalischen Materials, daß die Einführung des neuen Kalenders 
in die Bücher des Krakauer Grod-Gerichtes gleich nach der Kalender- 
reform geschah. Diesem Beispiele folgten auch andere kleinpolnische 
Grod-Gerichte, manche von ihnen mit einer kleinen Verspätung, alle 
aber bis Ende Oktober 1582. 

Ptaszycki, Stanistaw: Inventar des Kron- 
archives aus dem Jahre 1613 (Inwentarz Archiwum Koron- 
nego z r. 1613) IV, 98—130. Beschreibung der vier bis jet erhal- 
tenen Handschriften des Inyentars des polnischen Kronarchivs aus 
dem Jahre 1613, deren zwei im Hauptarchive in Warschau, die dritte 


252 


in der Stadtbibliothek zu Breslau, die vierte in der Universitäts- 
Bibliothek in Krakau aufbewahrt werden. Dabei sind auch die 
Spuren einer fünften nicht mehr vorhandenen aufzuweisen. 


Karı asinska, Jadwiga: Über die ältesten 
Bücher der sog. „Rechnungen der königlichen Hof- 
haltung“ (O najdawniejszych ksiegach f. zw. „Rachunki dworu 
królewskiego“) I, 155—175. Beschreibung der Rechnungsbücher der 
ökonomischen Beamten der königlichen Güter in Kleinpolen aus der 
Regierungszeit König Ladislaus Jagiełło (1386—1434), welche vor- 
zugsweise im Haupt-Archive in Warschau aufbewahrt werden. 


Przelaskowski, Richard: Aktendes Senatsdes 
Großfürstentums Warschau und des Königreiches 
Polen (Akta senatu Księstwa warszawskiego i Królestwa pol- 
skiego). I, 209—214. Eine Abhandlung über das Archiv des Senats 
des Grobfurstentums Warschau (1807—1815) und des Königreichs 
KongreB-Polen (1815—1831), welches jetzt im Archiv alter Akten 
(Archiwum akt dawnych) in Warschau aufbewahrt wird und im J. 1925 
endgültig geordnet und inventarisiert wurde. 


Mienicki, Richard: Notiz über das verlorene 
Archiv der Familie JaroszyfAski in Kuna (Notatka o 
zaginionem archiwum Jaroszyfiskich W Kunie) I, 215—219. Kurze 
Nachricht über den Inhalt einer archivalischen Sammlung der Familie 
Jaroszyński in Podolien, welche während der russischen Revolution 
zugrunde gegangen ist. Die einzige Spur dieser Sammlung bildet 
jekt die im Besize des Verfassers sich befindende Abschrift des In- 
ventars derselben. 

Jakubowski, Johann: Preußische Schulakten 
aus den Jahren 1794-1807 im Archive der öffent- 
lichen Bildung (Akta szkolne pruskie z lat 1794—1807 w Ar- 
chiwum Oświecenia Publicznego) ll, 70—82. Beschreibung der Akten, 
welche auf das Schulwesen der in den Jahren 1794—1807 dem preu- 
kischen Staate angehörigen, später dem Großfürstentum Warschau 
einverleibten Provinzen Süd- und Ostpreußen Bezug haben und 
jetzt im Archiv der öffentlichen Bildung in Warschau aufbewahrt 
werden. 

Karwasınska, Jadwiga: Salinen-Rechnungs- 
bücher im XIV. und XV. Jahrhunderte Aus dem Ar- 
chivdes Krakauer Unterschakmeisters (Rachunki żup 
solnych w XIV i XV wieku. Z Archiwum podskarbińskiego krakow- 
skiego) III, 35—45. Die Verfasserin bespricht die ältesten verloren 
gegangenen Rechnungsbücher der königlichen Salinen in Wieliczka, 
Bochnia usw., deren Folge, die Zeit des XV. Jhdts. bis zum Anfang 
des XVII. Jhdts. umfassend und eine Unterabteilung des Archives des 
Krakauer Unterschaßmeisters bildend, bis auf unsere Tage sich er- 
halten hat. Hauptsächlich beschreibt Verf. das neue im Haupt-Archiv 
in Warschau entdeckte Rechnungsbuch der Salinen von Bochnia aus 
den Jahren 1394 — 1421. 


255 


Stojanowski, Joseph: Akten des Permanenten 
Rates (Akta Rady Nieustającej) IV, 54—89. Beschreibung der 
Akten des Permanenten Rates (1775—1788), welche jetzt größtenteils 
im Hauptarchive zu Wärschau aufbewahrt werden mit einem sum- 
marischen Ausweis derselben. 

Mańkowski, Thaddäus: Das Archiv in Jabłonna 
(Archiwum w Jabłonnie) IV, 90—97. Summarische Beschreibung der 
Geschichte und Bestände des Archivs der Familie Poniatowski in 
Jabłonna. Den Kern dieser Bestände bilden die Papiere des letzten 
Königs Stanislaus August. 

Suchodolski, Witold: Organisation der Ar- 
chive in Sovet-Rußland (Organizacja archiwów w Nosji 
sowieckiej) Ill, 70—83. Der Verfasser stellt die neue Organisation 
der russischen Archive, deren Grundlage die Dekrete des Volkskom- 
missärrates vom J). 1918 und des allrussischen Wcik vom ]. 1922 
bilden, dar. Alle russischen Staatsarchive bilden ein einziges Zen- 
tral-Archiv der Republik (Centrarchiv). lhre Bestände sowie alle 
anderen außerhalb des Zentral-Archivs vorhandenen, aber von ihm 
registrierten Archivalien bilden ein einheitliches Archiv (Fonds), 
welches dem Staate gehört. Das Verwaltungsorgan des Zentral- 
Archivs verfügt auch über alle Archivalien in Rußland. Die Einrich- 
tung des Archivwesens in Rußland und das Funktionieren einzelner 
Archivdepots ist selbstverständlich von den politischen Anschauungen 
stark beeinflußt. Dabei aber wendet die Zentralverwaltung ihre Auf- 
merksamkeit den wissenschaftlichen Arbeiten zu, was die periodi- 
schen Publikationen des Zentral-Archivs (Krasnyj Archiv, Archivnoe 
Delo) beweisen. 

Manteuffel, Thaddäus: Organisation der Är- 
chive in Frankreich (Organizacja archiwöw francuskich) Il, 
96-109. Darstellung der Organisation der Zeniralbehörde, sowie 
der inneren Einrichtung der „Archives nationales“ und der „Archives 
départementales“ nebst einigen Bemerkungen über Kommunal- und 
Spital-Archive, sowie über die Fachausbildung der Archivare. 

Bachulski, Alexius: Die belgischen Archive 
(Archiwa belgijskie) Ill, 46-70. Eine gründliche Darstellung der Or- 
ganisation der belgischen Staatsarchive, dann des Stadtarchivs in 
Brüssel und des Archivs des Weltkrieges. . 

Bachulski, Alexius: Bericht über die archiva- 
lische Literatur in R. S. Ff. S. R. 1919 - 1926 (Sprawozdanie 
2 literatury archiwalnej R. S. F. S. R. 1919—1926). ll, 110-129. Im 
vorliegenden Berichte werden nachfolgende Publikationen bespro- 
chen: 1. Historisches Archiv (Is forièeskij Archiv) Petrograd 1919, ver- 
öffentlicht von der Archiv-Hauptverwaltung. 2. Archivalische Kur- 
sus. Vorlesungen gehalten im J. 1918 (Archivnye kursy. Lekcji €ytan- 
nyja w 1918 godu) Petrograd 1920. 3. Sammlung der das Archiv- 
wesen betreffenden Dekrete, Zirkulare, Instruktionen und Verord- 
nungen für die Zeit vom 15. 6. 1918 bis 15. 6. 1920 (Sbornik dekretov, 
cirkularov, instrukcij i rasporjaZenij po archivnomu delu) Moskva 


204 


1921. 4. Archivwesen. Zentral-Archiv der R.S.F.S.R. (Archivnoe 
Delo. Centrainyj Archiv R. S. F. S. R.) Moskva 1923—1926. Lieferung 
I—IX, veröffentlicht von der Archiv-Hauptverwaltung. 

Konarski, Kazimir: Aus der auslandischen Ar- 
chivkunde (Z archiwistyki obcej) IV, 131—133. Besprechung der 
Arbeit des Pio Pecchiai: Manuale pratico per gli archivisti. Milano. 
1898. 


Eine Ergänzung des Materials, das hier in den vier Heften des 
„Archeion“ angehauft wurde, bildet die Chronik des archivalischen 
Lebens und eine bibliographische Übersicht der Literatur über das 
Archivwesen in Polen (Verzeichnis der wichtigsten Pu- 
blikationenund Arbeiten über die polnischen Àr- 
chive: Spis wa2niejszych wydawnictw i prac, tyczacych sie polskich 
archiwów Bd. Il, S. 194—207 und die archivalische Literatur 
im neuen Polen: Literatura archiwalna odrodzonej Polski, 
1918— 1926. Bd. Ill, S. 84— 167), zusammengestellt von Dr. K. Ka c2 
marczyk. 


17 NF 5 955 


BÜCHERBESPRECHUNGEN 


von Taube, Prof. Dr. Michael Freiherr: Rußland und Westeuropa. 
(Rußlands historische Sonderentwicklung in der europäischen 
Volkergemeinschaft.) — Aus dem Institut für internationales Recht 
an der Universität Kiel, 1. Reihe: Vorträge und Einzelschriften, 
H. 8. Berlin, Georg Stilke, 1928. 63 S., geh. RM. 2,50. 


Die Schrift geht aus von der Tatsache, daß sich nach Krieg, Revolution 
und russischem Zusammenbruch wie im Zeitalter vor Peter d. Or. eine 
tiefe Kluft zwischen Westeuropa und Rußland aufgetan hat, äußerlich da- 
durch dokumentiert, daß die moderne Sovei-Regierung in and noch 
keineswegs von allen genwartsstaaten der Erde anerkannt wurde, vor 
allem nicht von dem materiell mächtigsten Tochterstaat Europas, den Ver- 
einigten Staaten von Nordamerika, aber auch nicht von der geistigen 
Autorität der christlich-katholischen Welt, dem Papst. 

Auch heute wie vor etwa 60 Jahren, zur Zeit der „Slavophilen“, suchen 
deren heutige Epigonen, die modernen „Eurasiaten“, Rußlands Größe in 
Asien. Das hat in bezug auf Rußlands Stellung zu Deutschland zu einem 
eigentümlichen Rückschlag in der Einstellung eines Teils der russischen 
Intelligenz in der Diaspora und wohl auch in Rußland selber geführt, zu 
einem Haß gegen Europa, ja, infolge der Sovet-Rußland freundlichen 
Politik des offiziellen Deutschland auch zu einem Haß gegen Deutschland. 
Für die ganze Kulturwelt, Deutschland keineswegs ausgenommen, ist aber 
nach Meinung des Autors diese neueste Einstellung im Sinne einer „eurasia- 
tischen“ Weltanschauung von ernster und noch nicht übersehbarer Bedeu- 
tung. Kurz gefaßt und politisch betrachtet erklärt diese Lehre und Geistes- 
verfassung nach Taube etwa folgendes: „Wir wollen nicht mehr die lebten 
in Europa und dessen Diener gegen Asien sein; wir sind vielmehr die ersten 
in Asien und, nötigenfalls, dessen Anführer gegen Europa.“ (Vgl. S.6.) 

Unter diesen Umständen hält es der Verfasser, der früher russischer 
Minister war, für wichtig und notwendig, den Versuch zu machen, aus der 
Fülle ihm als Geschichtsforscher und Juristen zur Verfügung stehender 
Kenntnis kulturhistorischer und völkerrechtliher Tatsachen die Erklärung 
dieser verhängnisvollen Neugestaltung der europäischen Welt zu finden, und 
zwar auf Grund einer das Wichtigste scharf hervorhebenden, erklärenden 
Schilderung der historischen Sonderentwicklung Rußlands in der europäi- 
schen Völkergemeinschaft. Das geschieht durch Betrachtung der folgenden, 
auch sonst anerkannten drei großen Zeitabschnitte russischer Geschichte: 
1. Das beginnende Kiever und Novgoroder Rußland innerhalb der 
europäischen Staatengemeinschaft (Mitte des IX. bis Mitte des XII. jahr- 
hunderts). 2. Das moskovitische Rußland außerhalb des europäischen 
Staatensystems unter dem Tatarenjoch und unter den kulturell völlig talari- 
sierten ersten Zaren von Moskau (Mitte des XIII. bis Ende des XVI. Jahr- 
hunderts). 3. Das wiedererwachende Rußland der ersten Romanovs, be- 
sonders seit Peter d. Gr. in der Periode allmahlicher Entwicklung des 
russischen Reiches zu einem bedeutenden Faktor der allgemeinen Volks- 
und Staatsgemeinschaft Pan-Europas. 


256 


Heute ist nun das so erst vor 200 Jahren von Peter d. Gr. wieder 

in die europäische Völkerfamilie eingeführte Rußland nach Meinung des 
Autors erneut in die „Moskovitische riode“ zurückgeworfen worden, so 
daß von neuem ein Abgrund klafft zwischen Ost- und Westeuropa. 

Wo für diese kulturhistorisch sehr merkwürdige und bedauerliche Tat- 
sache der Grund liegt, sucht Nr durch Aufdeckung von Gründen 
1. staatsrechtlicher, 2. privatrechtlicher, 3. kirchenrechilicher Natur zu er- 
mitteln. Für ihn ergibt sich, daß zwar Rußland nach wie vor sehr vieles 
vom übrigen Europa Abweichendes zur Schau trägt, trotzdem aber mit 
unserm Kontinent durch fünf siarke historische Bande verbunden bleibt: 
1. durch Zugehörigkeit zur indogermanischen Sprach- und Völkerfamilie, 
2. durch das Christentum, 3. durch jahrhundertelange wirtschaftliche Zu- 
gehörigkeit Rußlands zu Westeuropa, 4. durch die enge Verbindung der 
russischen Intelligenz mit der westeuropaischen Kultur, 5. durch das 200- 
jährige politische und völkerrechiliche Zusammenleben mit dem europäischen 
Staatensystem seit Peter d. Gr. Zum Schluß wünscht Verfasser, es möchte 
Rußland „womöglich mit Deutschlands Hilfe“ auf die historischen Bahnen 
seiner europäischen Geschichte zurückkehren. f 

Breslau. M. Friederichsen. 


Graham, Malbone W.jr.: New Governments of Eastern Europe. 
T. 1: Text, T. 2: Sammlung von Urkunden. — New York: Henry 
Holt Co. 1927. VIII, 826 S. 


Die Aufgabe, die sich der Verfasser von „New Governments of Central 
Europe“ im vorliegenden Werk sebt, ist die Darstellung der Auflösung des 
verfallenen russischen Carenreiches auf dem Wege über die bürgerliche 
und proletarische Revolution in die UdSSR und die baltischen Staaten und 
die Schilderung des Eigenlebens dieser Staaten und ihrer Beziehungen zur 
Umwelt bis ins Jahr 1927 hinein. Hauptsache ist ihm hierbei die innere Ent- 
wicklung, die äußere Politik wird einer relativ beschränkten Analyse unter- 
worfen. Um das gleich vorwegzunehmen, die Einwirkung der Großmächte 
auf die Gestaltung der Verhältnisse, beginnend mit der bürgerlichen rus- 
sischen Revolution, wird nur so weit, als es irgend notwendig ist, hervor- 
gehoben. Das Spiel der Kräfte steht bei ihm innen- und außenpolitisch 
nicht im Mittelpunkt seines Interesses, er begnügt sich mit der Konstatierung 
ihrer Resultate, seine. historischen Teile sind eine detaillierte Chronik der 
Ereignisse, um an deren Aufeinanderfolge die Hauptentwicklungstendenzen 
nachzuweisen. 

Die treibenden Momente sind für ihn der Wille der Völker zur Selbst- 
bestimmung und der Hunger nach Land. Ihre verschiedene Lösung in der 
UdSSR und in den aus dem Bestande Rußlands ausgeschiedenen Staaten 
werden durch die verschiedene soziale Struktur der Bevölkerung erklärt. 
Rußlands Mittelschichten waren zu klein, um als herrschende Klasse das 
Reich zu gestalten, während die sog. Randstaaten dank ihren Mittelklassen 
den Weg der bürgerlichen Demokratie beschreiten konnten. 

Daraus folgt aber nicht eine Zweiteilung des Werkes in die Darstellung 
von zwei Gruppen, die UdSSR und die Randstaaten als Ganzes. Der Ver- 
fasser weiß als guter Kenner der Verhältnisse, daß „no two of the Baltic 
states started out with a common level of culture“, und darum behandelt 
er jeden Staat einzeln. Ein Schlußkapitel fal die Gemeinsamkeiten der 
baltischen Staaten zusammen, die ihren äußeren Ausdruck in den gemein- 
samen Konferenzen der baltischen Staaten gefunden haben, ohne es_zu 
einer einheitlichen Linie des Verhaltens zu bringen. Die Sicherung der Zu- 
kunft der neuen Staaten sieht der Verfasser, abgesehen von Sicherheits- 
pakten mit Rußland, in der Fundierung und Entwicklung ihrer staatlichen und 
gesellschaftlichen Einrichtungen, um eine möglichst markante Grenzzone „of 
two vasily different civilizations“ zu bilden. 

Hier ist der Punkt, warum die Praponderanz auf den inneren Verhalt- 
nissen ruht. Und wer sich über die Verfassung der Lander, die Parteien 


a 257 


und Parteineubildungen, die Behandlung der Minoritäten sowie die agrari- 
schen Verhältnisse orientieren will, findet bei Graham bestes Material. Die 
Auflösung der Gro§grundbesibverhaltnisse in eine tragfähige Schicht von 
kleineren Landbesigern sei ihm die beste Gewähr für das Gedeihen der 
neuen Staaten als demokratische Gebilde. Die Lex Kallio, die estnische, 
lettische und litauische Agrarreform sind für ihn Dinge größter Befriedigung. 
Selbst für die enischädigungsiose Form der Landenteignung in Lettland 
findet der Verfasser, trojdem er das Privateigentum als den Kern der 
„westlichen Zivilisation“ empfindet, Worte der Verteidigung: „Despite the 
charges that the law was a brazen confiscatory act of „zold Bolshewism“, 
the remarkable social effects... more than justify the change wrought.“ 

Die größte Schwierigkeit bereitet ihm Polen — nicht nur in Hinsicht 
auf seine agrarischen Maßnahmen. Schon im Aufbau seines Siaatsgebiets 
steckt eine Verlekung des Selbstbestimmungsrechts der Volker. Venn der 
Verfasser auch der Ansicht ist, daß die Grenze gegen Deutschland im 
großen und ganzen einschließlich des Korridors ethnographisch gerecht- 
fertigt erscheint, so kann er nicht umhin, die Lösung der oberschlesischen 
Frage (a distinct injustice was done) und des Danziger Problems, die Ein- 
verleibung Osigaliziens, den Raub Wilnas und den Raubkrieg gegen Ruk- 
land zu tadeln und als Gefährdungen des Friedens zu beirachten. Die Er- 
wartungen, die die Alliierten auf ein gegen den Bolschewismus und gegen 
Deutschland auf Kosten der Nachbarn stark gemachtes Polen gesebt haben, 
seien ohne Aussicht auf Erfolg. Ausgesprochen fordert er nur die Rück- 
gabe Wilnas an Litauen und glaubt an kein Ostlocarno ohne Bereinigung 
des oberschlesischen Unrechts. Was die Minoritaten betrifft, so rechnet er 
auf (den inzwischen zurückgetreienen) Bartel, der „was the first premier 
since Paderewski to take his stand on a loyal fulfilment of the Minority 
Guarantees Treaty“. Der ganze Verlauf der Entwicklung Polens, seine 
soziale Rückständigkeit, die Stärke seiner antidemokratischen Kräfte, die 
vor dem Mord des Präsidenten Narutowicz nicht zuruckschreckten, wird auf- 
gezeigt. Merkwürdigerweise sicht der Verfasser in Pilsudski nicht eben- 
falls eine Gefahr für die demokratische Zukunft Polens. Bereits im Kapitel 
über Litauen hat er die sehr milden Worte über den Faschismus: „ihe coup 
... scrupulously respected all formalities and avoided a break in the legal 
order, hence it cannot in any sense be regarded as revolutionary“, und 
an anderer Stelle sagt er über den litauischen und polnischen Faschismus: 
„It has, in the last analysis, been only as a result of experience that the 
new states have come to realize that the strength in executive arm is not 
synonymous with autocracy.“ Inzwischen wird ihn der geschichtliche Ver- 
lauf eines Besseren belehrt haben, sowohl in bezug auf Litauen, dessen 
„constitution forecasts a benevolent régime of Christian state socialism“ 
und dessen „whole bill of rights is devoid of Marxism”, als auch in bezug 
auf Polen. Für die Unzulänglichkeiten Polens hat der Verfasser fast immer 
ein mildes Urteil, herbe Worte findet er nur für Polens Angriff auf die 
UdSSR: „the rôle of Poland in 1919 and 1920 was a most sorry one, and 
one, which exhibits a painful example of a nation losing, increasingly, all 
contact with the political reality“. 

Nimmt man das Bild, das der Verfasser von den baltischen Staaten 
entwirft, in seiner Gesamtheit, so ist die beste Prognose für die Stetigkeit 
staatlichen und gesellschaftlichen Lebens Finnland und Estland, die schlech- 
teste Polen gestellt. Die „middle-of-ihe-road"-Politik, die die Voraus- 
sebungen ruhiger Entwicklung bildet, hat sich dementsprechend seit den 
Sturmjahren 1917 und 1918 am stärksten in Staat und Parteien Finnlands 
durchgesebt, um nach Süden zu abzunehmen, bis ihr der Faschismus am 
krassesten in Polen die Geltung: bestreitet. Der Verfasser kennt die 
faschistischen Bestrebungen in Reval und Riga bereits, doch schenkt er 
ihnen kaum Beachtung und erwähnt den faschistischen Umsturzversuc in 
Lettland vom Januar 1927 überhaupt nicht. Befürchtungen für den bürger- 
lichen Charakter irgendeines baltischen Staates hegt er nicht, und so ist 
die Übersicht über die baltischen Staaten mit der Frage zu schließen, ob 


258 


er nicht die sozialistischen revolutionären Kräfte in diesen Ländern 
unterschäbt. 

In der UdSSR, die schon deshalb zum ersten Abschnitt des Buches 
gemacht ist, weil seine historische Einleitung zugleich die Vorgeschichte 
sämtlicher neuen Staaten bildet, sieht der Verfasser das Aufkommen einer 
Staats- und Geselischaftsform, mit der ein modus vivendi möglich ist. Die 
proletarische Revolution hat sich in der Epoche des Bürgerkrieges und der 
Interventionen um die Einführung des Kommunismus bemüht, hat ihn aber 
zugunsten der Neven Okonomischen Politik aufgeben müssen, die der Ver- 
fasser mit „final abandonment of communism” gleichsekt. Seitdem gibt es 
einen Staatskapitalismus, für den der Kommunismus „an end to be ap- 
proximated, not a goal to be reached ist. Seitdem ist die UdSSR zu einer 
stärkeren Wirtschaftseinheit geworden, als Rußland es unter den Caren 
je gewesen ist, und befindet sich in ständigem, wenn auch langsamem Auf- 
stieg. Und wie der Kommunismus auf dem wirtschaftlichen Gebiet sein 
Ziel nicht erreicht hat, so auch nicht auf staatlichem und sozialem Gebiet. 
Die Kommunisten haben nicht den „Einklassenstaat“, den klassenlosen 
Staat, schaffen können und haben in der Nationalitätenfrage nachgiebig sein 
müssen. Obwohl die Tscheka seit Mitte 1918, als „the ennemies of the 
soviet government abroad did not scruple to resort to assassination“, die 
Konterrevolution und mit ihr die alten herrschenden Schichten auszurotten 
begann und tatsächlich ausgerotiet hat, blieben nur das Proletariat und die 
Bauernschaft als Klassen übrig. Beide Klassen, die gemeinsam die Revo- 
lution durchführten, stehen heute untereinander im Kampf um die Macht, 
hier das Proletariat in Stadt und Land im Bunde mit der Dorfarmut, dort die 
besitzliche Bauernschaft, bei der der Verfasser keinen Unterschied zwischen 
den Kulaken und den Miltelbauern macht. Vor der besißlichen Bauernschaft 
müsse „Moskau“ von Kompromiß zu Kompromiß weichen, „until the new 
class of self-made peasants come to command authority“. In diesem Zu- 
sammenhang berührt der Verfasser die Frage, ob irgendwelche Emigranten 
je wieder eine Rolle spielen könnten, und lehnt sie verständigerweise rund- 
weg ab. Alles in allem sieht der Verfasser Rußland „slowly returning to 
the paths of democracy and national selfgovernment". Aus der Tatsache 
dieses derart sich entwickelnden Staatswesens folgt aber nicht nur, daß 
der modus vivendi möglich, sondern vielmehr, daß das friedliche Zusammen- 
leben der Völker mit der UdSSR vom Willen der kapitalistischen Welt ab- 
hängig ist. In bezug auf den litauisch-russischen Vertrag von 1926 sagt 
der Verfasser, daß er auf einer Basis aufgebaut ist, „which could bridge 
differences between a mildly bourgeois world and a world of pseudo- 
communism”. Natürlich soll das ein Hinweis für alle analogen kommenden 
Fälle sein. Und so möchte ich diesen Abschnitt mit der Frage schließen, 
gibt es eine solche „mildly bourgeois world“? Die Interventionen der 
Alliierten waren jedenfalls von dem Willen diktiert, den jungen Siaat zu 
vernichten, und es geht nicht an, sie als Folge des bolschewistischen „un- 
pardonable sin of defection from the ranks of the allies“ zu bezeichnen. 
Man braucht nur an das Freundschaftstelegramm Wilsons an den Allrus- 
sischen Ratekongre§ vom März 1918, als der Rücktritt Rußlands vom Kriege 
entschieden war, zu erinnern, um zu wissen, daß die entscheidende Macht 
jenes Jahres diesen Standpunkt nicht vertrat. Diese Tatsache kann nicht 
aus der Welt geschafft werden, trojdem Wilson seine Truppen an der 
Intervention teilnehmen ließ. Dieses letztere gehört zu denselben Sonder- 
barkeifen wie die Tatsache, daß Wilson sich die l.osung der russischen 
Emigranten vom „einigen unteilbaren Rußland“ in Paris zu eigen machte 
und das proklamierte Selbstbestimmungsrecht der Völker für die baltischen 
Staaten mit Ausnahme Polens nicht gelten ließ und die Anerkennung versagte. 

Was Deutschland betrifft, so hat der Verfasser als Bürger eines demo- 
kratischen Landes für das wilhelminische Deutschland nichts übrig, und das 
antidemokratische baltische Deutschtum ist ihm ein Greuel. Man wird sein 
Urteil manchmal nicht gerecht finden können, so z. B. wenn er für die Aus- 
beutung der okkupierten Gebiete im Osten die Notlage, in die Deutschland 


259 


durch die Blockade versetzt war, nicht geltend macht, oder wenn er die 
kulturelle Bedeutung der Balten durch Stillschweigen ignoriert und nur die 
der schwedischen Herrschaft positiv bewertet. In den meisten Fällen wird 
man ihn nicht ablehnen können, selbst wenn die Worte, in die er seine 
Urteile kleidet, nicht sympathisch berühren. Manchmal wird man sogar mit 
der Ironie des Verfassers mitgehen können, wie in dem Falle, wo er die 
Umbenennung der Svecomanen in Schwedische „ Volks“ partei erwähnt und 
dazu die Bemerkung macht, daß sie, die dabei ihren „essentially ultra- 
conservative” Charakter beibehielten, deutschem Vorbilde folgten. 

Ein so inhalls- und umfangreiches Werk wie das vorliegende läßt sich 
im Rahmen einer Besprechung nicht erschöpfen, es sei daher betont, daß 
es mit großer Akribie gearbeitet und zur Orientierung über den Verlauf der 
Dinge im Osten Europas ein wertvolles Handbuch darstellt. Daß ein so 
solides Werk zustande gekommen ist, ist um so erstaunlicher, als der Ver- 
fasser keine Literatur in den osteuropäischen Sprachen benuft und die viel- 
faltige und fast durchweg sorgfältig ausgewählte Literatur in westeuropäischen 
Sprachen nur durch einige Hinweise auf die „Izvestija“ und durch einiges 
neue Material, das die baltischen Staaten ihm zur Verfügung gestellt haben, 
komplettiert. Da wir an Werken dieser Art nicht verwöhnt sind, so wird 
dieses Buch sicherlich viele Benutzer finden. 

Breslau. Harald Cosack. 


Die Geschichtswissenschaft in Sowjet-Rußland 1917—1927. — Biblio- 
graphischer Katalog, herausgegeben von d. Deutschen Ges. z. 
Studium Osteuropas anläßlich der von ihr in der Preuß. Staats- 
bibl. zu Berlin veranstalteten Ausstellung. Mit einem Vorwort 
von Professor Dr. OttoHoetzsch. Ost-Europa-Verlag, 
Berlin und Königsberg i. Pr. 1928. S. 193. 


„Das Bedürfnis, einen Überblick über die geschichtswissenschaftlichen 
Veröffentlichungen in Rußland zu gewinnen, wird von jedermann geteilt, der 
dem Studium der osieuropäischen, der russischen Geschichte zugewendet 
ist.” Diesen Worten, mit denen Professor Hoetzsch den der Ge- 
schichtswissenschaft in Sovet-Rußland während der Revolutionsjahre gewid- 
meten Bibliographischen Katalog einleitet, muß gewiß zugestimmt werden. 
Den einleitenden Worten folgen im Vorwort allgemeine Betrachtungen dar- 
über, was ein Historiker, der nach dem Kriege nach Rußland kommt, zu 
beobachten hat. So ein Historiker sieht, daß zunächst zur Geschichte der 
Arbeiterbewegung, des Sozialismus und der Revolution drinnen und draußen 
sehr viel gearbeitet und gedruckt wird und daß auch ältere Perioden der 
russischen Geschichte vom historischen Materialismus in Angriff genommen 
werden. Der westeuropaische Historiker sieht ferner, daß neben der 
marxistischen die nichtmarxistische, die idealistische Geschichtswissenschaft 
nach westeuropäischer methodischer, kritischer, erkenntnis-theoretischer Auf- 
fassung arbeitet und um 5 ihrer Studien kämpft. Dieser 
Historiker sieht auch, wie das erwachte Selbstbewu§tsein der nicht grob - 
russischen Nationalitäten im Sovetstaat, besonders in der Ukraine, a 
auch vielfach sonst, in einer lebhaften historischen Arbeit seinen Ausdruck 
findet und sich durchsetzt. Schließlich — daß das stark auf Aufklärung und 
Propaganda in weiten Volkskreisen gerichtete Streben der herrschenden 
Partei auch in der geschichtswissenschaftlichen Literatur zu lebhafter Pro- 
duktion führt und naturgemäß dabei die Grenzen zwischen wissen- 
schaftlicher Forschung und Arbeit der populären Aufklärung und Agitation 
haufig verwischt. Alle ‘diese Beobachtungen beweisen, dag Professor 
Hoetzsch ein scharfer und dabei objektiver Beobachter der e 
ist, in denen die Geschichtswissenschaft in Sovei-Rußland sich zu belätigen 
hat. Diesen Beobachtungen wären vielleicht nur einige Worte über die 
Evolution, die diese Bedingungen im Laufe der Jahre der Sovetherrschaft 
durchgemacht haben, beizufügen. Es wäre dann zu sagen, daß in den ersten 


260 


a 28 fe 


* N 


ON Za Se aT Sa AR FR u MA AH; 


Jahren der Existenz der Soveiregierung die Geschichtswissenschaft zwar mit 
einer durch den Kriegskommunismus hervorgerufenen Not an technischen 
Mitteln zu leiden hatte, dag aber der „ideologische“ Druck erst später kam, 
zur Zeit, als der Kriegskommunismus bereits überwunden war, daß der 
ungleiche Kampf der idealistischen F um ihr Dasein 
mit den Jahren immer hoffnungsloser wurde, und daß heutzutage nur von ein- 
zeinen Trümmerstücken einer Geschichtswissenschaft, die „nach wesieuro- 
päischer methodischer, kritischer, erkenntnis-theoretischer Auffassung” in 
Sovetrugland arbeitet, die Rede sein kann. 

Dem Titelblatt gemäß soll der Bibliographische Katalog uber die Ge- 
schichtswissenschaft in Sovei-R nd 1917—1927 berichten. Gleich darauf 
{S. 2) wird jedoch erwähnt, daß die Bücher, die mit einem Sternchen (°) im 
Katalog versehen, in den Kriegsjahren 1914—1916 gedruckt worden sind. 
Professor Hoetzsch spricht in seinem Vorwort über die Literatur der 
Kriegsjahre (S. 4), ohne deren Anschluß an die historische Forschung Sovet- 
Rußlands zu begründen. Es ist gewiß sehr erfreulich, wenn dem deutschen 
Historiker auch eine bibliographische Zusammenstellung der russischen ge- 
schichtswissenschaftlichen scheinungen der Kriegsjahre vorgelegt wird, 
aber diese Erweiterung des Rahmens der berücksichtigten Literatur sollie 
eigentlich auch auf dem Titelblatt erwähnt werden. 

Der Katalog soll somit über die russische geschichiswissenschaftliche 
Literatur der Kriegs- und Revolutionsjahre berichten. Die Zusammensteller 
des Katalogs haben sich aber an diese chronologischen Grenzen nicht immer 
streng gehalten: hier und da werden im Katalog Werke erwähnt, die aus 
den Vorkriegsjahren stammen (die unter Nr. 112, 149, 905, 986, 1004, 1297, 
1646 angegebenen Werke gehören dem Jahre 1913, Nr. 130, 1108, 1307 dem 
Jahre 1911, Nr. 1047 sogar dem Jahre 1901). Was die Verfasser veranlaßt 

diese vereinzelten Werke aus der Literatur der Vorkriegsjahre im Ka- 
talog zu berücksichtigen, isi schwer zu erraten. 

Der Katalog selbst enthält sechzehn Abteilungen [wobei einige dieser 
Abteilungen weitere Unterabteilungen enthalten): 1. die Organisation der 
russischen Geschichtsforschung, das russische Archivwesen, Bibli aphie, 
2. Die russische Geschichtsanschauung der Gegenwart, der historische 
terialismus, 3. Russische 5 (Quellen und Darstellungen zur politi- 
schen und Kulturgeschichte), 4 ee der nichtrussischen Volker der 
Sovet-Union, 5. Allgemeine Geschichte, 6 Historische Hilfswissenschaften, 
7. Religions- und Kirchengeschichte, 8. Geschichte der Philosophie, 9. Ge- 
schichte der Pädagogik, 10. Literaturgeschichte, 11. Archäologie und Ge- 
schichte der bildenden Künste, Bic Musikgeschichte, 13. Theatergeschichte, 
14. Rechts-, Verfassungs- und N 15. Wirtschafts- 
geschichte, 16. Sammelwerke, Zeitschriften und periodische Veröffent- 
lichungen der wissenschaftlichen Gesellschaften und der Universitäten. 


A) Der erste Eindruck, den man bei der Durchblatterung des Katalogs 
gewinnt, isi der, daß seine Zusammensteller einen äußerst weiten Begriff der 
Geschichte angenommen haben. Aber auch diese äußersien Grenzen des 
Begriffs der Geschichtswissenschaft sind mehrmals überschritten und in den 
Katalog Bücher aufgenommen worden, die mit der Geschichte überhaupt 
nichts zu tun haben. Um nur einige Beispiele anzuführen: 

1. Im ersten Teil sind als bibliographische Werke u. a. fölgende Ver- 
öffentlichungen angegeben: 

a) Bibliographische Zehnjahresschrift über das Konsumgenossenschafts- 
no (Kommunistische Genossenschaftsliteratur in den Jahren 1917—1927), 

b) Junovié, Die ica tiber Weltwirtschaft und Weltpolitik fiir das 
Dezennium 1917—1927, Nr. 

c) Da lar a der Werke von Lunaéarskij (1875 
bis 1925), Nr. 15. 

2. Im zweiten, der russischen Geschichtsanschauung der Gegenwart ge- 
widmeten Teil, finden wir das Buch von N.N. Alekseev, Abriß der all- 


261 


gemeinen Staatstheorie, 1919 (Nr. 44), das die theoretischen und methodo- 
logischen Probleme der allgemeinen Staatslehre behandelt, von einem 
Juristen verfaßt ist und nichts für die Erkenntnis der russischen Geschichts- 
anschauung der Gegenwart bieten kann; ferner die marxistischen rechis- 
theorelischen Werke von PaSukanis (Die allgemeine Rechtstheorie und 
der Marxismus, Nr. 68) und von Razumovskij (Probleme der marxisti- 
schen Rechtstheorie, Nr. 78). 


3. In der dritten Abteilung, die die russische Geschichte behandelt, finden 
wir das Buch des Dichters Alexander Blok — Rossija i intelligen- 
cija 1907—1918 (die deutsche Ubersetzung lautet „Rußland und die Intelligenz 
in den Jahren 1907—1918°), obwohl die eszahlen auf dem Titelblatt des 
Büchleins nur die in ihm enthaltenen Aufsätze des Verfassers zu datieren 
haben, der Inhalt der Aufsabe selbst aber keinesfalls geschichtlicher, 
sondern kulturphilosophischer ist. 


4. In der vierzehnten, der Rechts-, Verfassungs- und Verwaltungs- 
geschichte gewidmeten Abteilung des Katalogs haben die meisten 
Werke einen soziologischen oder rechtsdogmatischen Inhalt und gehören 
daher keinesfalls der Geschichtswissenschaft an. Es sind dies ent- 
weder Werke über die allgemeinen Lehren über den Sovetstaat (Stuéka, 
Nr. 1784, 1785), über die Sovetverfassung im allgemeinen (Engel, Nr. 1766, 
Gurvi&, Nr. 1767), oder über einzelne Fragen des Sovetverfassungsrechts 
Ar chippov, Nr. 1762, Rejche l, Nr. 1780), über das Sovetverwaltungs- 
recht (Kobalevskij, Nr. 1773), über das Völkerrecht Korovin, 
Nr. 1774—1775), oder Werke, die in erster Auflage noch vor der Revolution 
erschienen sind, wie das Werk von N. I. Lazarevskij, Das russische 
Staatsrecht, dessen erste Auflage noch aus dem Jahre 1908 stammt und dessen 
vierte Auflage im Jahre 1917 auf der ersten Lieferung abgebrochen wurde, 
da die Februarrevolution von 1917 eine gründliche Neubearbeitung dieses 
Lehrbuches für erforderlich gemacht hatte, zu der es allerdings nicht mehr 
gekommen ist, und das Werk von V.M. Gessen über die Grundlagen des 
Verfassungsrechts, das in erster Auflage im Jahre 1916 erschienen ist Gm 
Jahre 1918 anastatischer Neudruck) und seinem Wesen nach ein Lehrbuch 
des allgemeinen Verfassungsrechts der westeuropäischen Demokratie vor 
dem Welikriege darstellt. 


B) Wenn der Katalog einerseits Material enthält, das in einem der 
geschichiswissenschaftlichen Bibliographie gewidmeten Katalog zweifellos 
eig © ist, müssen andererseits erhebliche Lücken hervorgehoben 
werden. Einige Beispiele müssen wiederum genannt werden: 


1. Unter Nr. 130 wird die Festgabe für S.F. Platonov von 1911 angeführt. 
Im Jahre 1922 ist aber zu dem vierzigjährigen Jubiläum der wissenschaftlichen 
Tätigkeit des hochgeschäbten_ russischen Historikers von seinen Schülern 
und Freunden wiederum eine Festschrift zustande gebracht worden: Sbornik 
state} po russkoj istorii, posone ennyi S. F. Platonovu (Sammlung von 
S. F. Platonov gewidmeten Aufsätzen über die russische Geschichte), "Peters 
burg 1922, Verlag „Ogni“, S. XII u. 459. Diese Festschrift ist in den Katalog 
nicht aufgenommen worden. 

2. In den den Zeitschriften gewidmeten Abteilungen des Katalogs fehlen 
zwei sehr bedeutende Zeitschriften: 

a) die historische Zeitschrift der Petersburger Akademie der Wissen- 
schaften — Russkij Istori¢eskij Zurnal (Russische Historische Zeitschrift), die 
in den Jahren 1917—1922 herausgegeben worden ist und als wissenschaftlich 
bedeutendsie historische Zeitschrift der Revolutionsjahre bezeichnet 
werden muß; 

b) die von P. E. Séegolev herausgegebene Zeitschrift „Byloe“ (Das 
Gewesene), die speziell der Geschichte der Revolutionsbewegungen ge- 
widmet war. 

3. Der Katalog enthält eine Reihe einzelner von der Sovei-Union 
abgeschlossenen Staatsvertrage, die stets nach ihrem Abschluß vom Volks- 


262 


kommissariat für Auswärtiges herausgegeben werden (Nr. 196, 205—206, 
218—219, 236, 238, 1019), aber keine genaue Angaben über die für den prak- 
tischen Gebrauch gewiß viel wichtigere Sammlung der Staatsvertrage, die 
alle diese Verträge umfaßt: Sbornik dejstvujuScich dogovorov, soglaSenij i 
konvencij, zakijucennych s inostrannymi gosudarsitvamı (Sammlung gelten- 
der Vertrage, Abkommen und Konventionen, die mit den auslandischen 
Staaten abgeschlossen ne Lieferung I, Moskau 1924, S. 436 u. IV u. IV; 
Lieferung Il, Moskau 1925, S. 132; Lieferung Ill, Moskau 1927, S. 2791). Un- 
erwähnt bleibt auch die dieser schon von der Union hergestellten Samm- 
lung vorausgehende Sammlung der Staatsverträge der RSFSR (Sbornik 
dejistvujuScich dogovorov, sogla3enij i konvencij, zakliucennyh RSFSR s 
inostrannymi gosudarstvami [Sammlung geliender Verträge, Abkommen und 
Konventionen, die von der RSFSR mit den 5 Staaten abge- 
schlossen sindl; Teil I, Petersburg 1921, S. VII u. 252; Teil Il, Moskau 1921, 
S. 159; Teil Ill. Moskau 1922, S. VII u. 339: Teil IV, Moskau 1923, S. 50; Teil V. 
Moskau 1923, S. 32). 


O) Das System, nach welchem die gesamte geschichtswissenschaftliche 
Literatur im Katalog geordnet ist, ist oben wiedergegeben worden. Die 
Einordnung selbst ruft jedoch öfters wesentliche Bedenken hervor. Um 
wiederum nur ein paar Beispiele anzugeben, sei erwähnt, daß die Erinne- 
rungen der Witwe des bekannten Chemikers Mendeleev „Mendeleev in 
seinem Privatleben” (Nr. 117) in der Unterabteilung „Gesamtdarstellung und 
Allgemeines“, die Theatererinnerungen der berühmten Schauspielerin M.G 
Savina (Leiden und Irrwege. Aufzeichnungen aus den Jahren 1854—1877) 
in der Unterabteilung „Revolutionäre und Arbeiterbewegung“ untergebracht 
sind (Nr. 378), daß dagegen die Erinnerungen des Revolutionars N. S. 
Tjutlev (Nr. 1511) in dem der Literaturgeschichte gewidmeien Teil auf- 
gesucht werden müssen, neben den Briefen von F. l. Tjutéev, des be- 
ruhmien Dichters, der keinesfalls mit dem gleichnamigen Revolutionär zu 
verwechseln ist. 


D) Wenn man sich der äußeren Seite des Katalogs zuwendet, so fällt 
sofort folgendes auf: 


1. Einige Werke werden zweimal genannt: z. B. Nr. 950 = Nr. 952 
(PetrusSevskij), Nr. 1438 — Nr. 1914 (Aus dem Archiv Dostoevskijs). 


2. In vielen Fällen werden einzelne Teile mehrbändiger Werke unter 
verschiedenen Nummern angeführt (z. B. Nr. 108—110: drei Bände eines 
Werkes von Firsov; Nr.916—917, zwei Bände eines Werkes von Buzeskul; 
Nr. 939—941, drei Bände eines Werkes von Egorov und noch zahlreiche 
andere Fälle); dadurch wird gewiß die Zahl der im Katalog angeführten 
Nummern, aber nicht die Zahl der berücksichtigten Werke erhöht. 

Berlin-Lichterfelde. A. N. Makarov. 


Bindewald, Helene: Die Sprache der Reichskanzlei zur Zeit 
König Wenzels. Halle a. S., Max Niemeyer, 1928. LXIX + 270 S. 


Wenn die Hofkanzlei Karls IV. die Grundlagen des schriftsprachlichen 
Ausgleichs geschaffen hat, ist die Kanzlei König Wenzels dadurch be- 
deutungsvoll geworden, daß sie die neue Hofsprache übernahm und festigte. 
Die Untersuchung des Kanzleigebrauchs zwischen 1380 und 1400 kann die 
Ergebnisse der Untersuchungen über die Urkundensprache der vorauf- 
gehenden Zeit nachprüfen und die Richtung verdeutlichen, in der der Laut- 
wandel, die Anderungen in Formenbestand, Wortschatz, Sazbau und Stil 
verlaufen. So kann ersichtlich werden, ob gewisse bereits erkennbare 


1) Unter Nr. 236 ist allerdings der Titel dieser Ausgabe wiedergegeben, 
gleich darauf aber der Titel des Handelsabkommens zwischen der U.d.St.R. 
und Schweden vom 15. März 1924. 


265 


Richtungen der Entwicklung wieder im Sinne einer Angleichung an frühere 
Gepflogenheiten preisgegeben worden sind, ob S Grundzüge = ranna. 
sprache Karls sich behaupten konnten. Spradhli che Richtung ist Symbol d 
Kulfurganges überhaupt. Aus der Geschichte des Prager Kullurverlaufes 
und aus der Sonderart der sprachlichen Quellen (Urkunden) erleidet die 
Ausdeutung der Untersuchungsergebnisse für die Geschichte der neuen 
Hochsprache zwar wesentliche Einschränkungen, aber eine klare Einsicht 
in die Frühgeschichte der neuhochdeutschen Gemeinsprache ist ohne eine 
n eststellung des Sprachbestandes der Kanzlei Venzels nicht 
denkbar. Mit der Andeutung dieses Sachverhaltes ist der Wert des Binde- 
waldschen Buches gekennzeichnet. Daß eine Ergänzung durch sprachliche 
Untersuchungen der zeitgenössischen Literatur nötig sei, betont Verf. selbst; 
stellenweise sind die bereits vorhandenen Darstellungen auch zur Nach- 
prüfung herangezogen worden. Daß es nicht in reicherem Maße geschah, 
ist zu bedauern. Der beschränkte Wortschab und die Armut an sprach- 
lichen Wendungen, die geringe Lebensnähe der Urkunde bieten für gewisse 
Erscheinungen nur dürftige Belege und lassen Bedenken aufkommen gegen 
eine Gleichsetzung der Übung der Kanzlei mit der Umgangssprache der 
Hofgeselischaft. Besonders schmal ist die Basis für die Beurteilung des 
syniaktisch-stilistischen Einflusses der lateinischen frühhunianistischen 

Aus der Zeit Wenzels liegt z. B. nur eine Urkunde in lateinischer Fassung 
und gleichzeitig deutscher Sprache vor. Syntaktisch-stilistische Vergleichs- 
möglichkeiten bieten die Handschriften der Soliloquienübersetzung und des 
Hieronymuslebens des Kanzlers Johann von Neumarkt, die die lateinischen 
Originale neben die Ubersebung stellen lassen. Da ein großer Teil dieser 
Handschriften aus der Zeit um 1400 überliefert ist, zeigen sie der Urfassung 
Johanns von Neumarkt gegenüber wesentliche Anderungen in Wort- 
gebrauch und Stil, die zum Teil auf einer Preisgabe allzu enger Anlehnung 
an die lateinischen Muster beruhen. Die Urkunden Wenzels weisen diesen 
Handschriften gegenüber auch manche mundartliche Unterschiede auf. So 
ist in den Urkunden die Diphihongierung des mhd. f stärker fortgeschritten; 
die Vorsilben uz—, uf—, zu— sind seltener geworden gegenüber auz—, 
auf—, zer—; die Präposition kegen, kein (gegen), die früher beliebt ist, ist 
dem gegen fast ganz gewichen, wogegen sie sich im Schlesischen mit stimm- 
losem Anlaut bis heute gehalten hat: ei di kéne gen (entgegengehen); die 
für Johann von Neumarkis Stil kennzeichnende Konjunktion auf die rede das 
ist bis auf Spuren geschwunden. Auffallend ist die Abnahme des Ge- 
brauches von i anstatt e in nebentonigen Silben: gebin usw. Nach meinen 
statistischen Beobachtungen haben die ostmitteldeutschen Handschriften um 
1400 noch in etwa ½ aller Fälle i für e: doch ist der folgende Konsonant 
von starkem Einflusse: —ist und —est finden sich in gleicher Zahl; ir findet 
sich etwa doppelt so oft als —er; —il fünfmal öfter als —el; —et dreimal 
öfter als —il. 

Doch ändern solche Einzelheilen nichts an der Gesamthaltung; die Hand- 
schriften decken sich im ganzen mit der Kanzleisprache König Wenzels, die 
man als ein durch bayrisch-österreichische Einschläge gemildertes Ost- 
mitteldeutsch bezeichnen kann. Das ist, wie Verf. mit Recht betont, der 
stark ostmitteldeutschen Zusammensetzung des Prager Kanzleipersonals zu 
verdanken. Die Angaben darüber können noch vervollständigt werden; so 
ist der S. 11 Anm. 1 gesuchte Johannes Jaurensis auch sonst nach- 
weisbar; vgl. Ulm. Urkb., S. 825, Nr. 1011 v. 10. Okt. 1376; Cod. dipl. Mor. X, 
221, Nr. 202 v. 3. Okt. 1373 u. 6. Er wird wohl ein Sohn des schon 1363 in 
Karls Diensten nachweisbaren Peter v. Jauer sein. Mit der juristisch- 
technischen Sonderart der Urkundensprache hängt es zusammen, wenn ihr 
sprachschopferische Kraft fehlt. Doch sollte diese Wahrnehmung [S. 210) 
nicht auf die literarische Sprache der Zeit übertragen werden, die sich be- 
sonders in Wortzusammensekungen durchaus schöpferisch erweist. Ob das 
Eindringen Cechischer Beamter auch auf die Hofsprache gewirkt hat, wird 
sich am Urkundendeutsch kaum entscheiden lassen. Vielleicht sind hier 
rein orthographische Einwirkungen spürbar, wenn im Ostmitteldeutschen 


264 


ganz allgemein cz für iz steht, 3 s und z durcheinander gehen (lezen), 
wenn Schreibungen wie $üczei begegnen. Im übrigen zeigen die literarischen 
Denkmäler der Zeit in syntaktisch-stilistischer Hinsicht kaum irgendwo slavische 
Einwirkung. Oeschichtlich gesehen bedeutet die Sprache der Kanzlei Wenzels 
Höhepunk ‘und Abschluß der von der Prager Kultur bestimmten Entwicklung 
der neuhochdeutschen Schriftsprache: mit der Hussitenzeit tritt die schle- 
sische und mehr noch die obersächsische Sonderart in den Vordergrund 
und bestimmt die Weiterentwicklung. 
Breslau. J. Klapper. 


265 


ZEITSCHRIFTENSCHAU 


BULGARIEN 


Renato Poggioli: N poeta bulgaro Nikolaj Liliev. Rivista di 
letterature slave. Anno 3 (1928), 3, S. 221—230. 


P. gibt als Einleitung zu einigen von ihm ins italienische übersetzten 
Dichtungen Lilievs einen kurzen Überblick über sein Leben und Schaffen 
und eine Charakteristik seiner Stellung innerhalb der bulgarischen Literatur. 

Nachklänge aus der zeilgenössischen oder wenigstens neueren Lyrik an- 
derer Völker: Verlaine, Rainer Maria Rilke, George, Blok in den Dichtungen 
Lilievs, ebenso wie Reminiszenzen an die Gestalten Shakespeares und 
enat aus der Weltliteratur, die sich bei Liliev eingestreut finden, scheinen, 

der Meinung Poggiolis, ein Beweis dafür zu sein, dak Nikolaj Todorov 
Fier ist nur Pseudonym) keineswegs sehr originell und neutönig ist, 
P. fragt, worauf sich die a gemene Anerkennung, dab man in Liliev den 
größten modernen Lyriker Bulgariens zu sehen habe, stübt. Und, 
das paradox erscheinen könnte, glaubt er, dab gerade der starke west- 
europäische Einschlag Lilievs die Ursache seines starken Einflusses auf die 
jebige Generation in Bulgarien ausmacht. Er ist einem Instrument ähnlich, 
welches die Schwin en, die der Lufthauch aus dem Westen in der um- 
ebenden Welt auslöst, erklingen läßt. Der am meisten hervorstechende 
ug Lilievs liegt in seiner Femininität, doch ist dieses Wort nicht in dem 
Sinne einer Verweichlichung zu verstehen, sondern soll nur Lilievs eigen- 
artige Gabe in Worte kleiden, in den Dichtungen, wo er in der ersten Person 
spricht, aus der Seele einer Frau oder eines Mädchens heraus zu empfinden. 
Eigen ist diesen Dichtungen eine jungfräulich keusche Stimmung oder ein 
Nachempfinden der in der Volksiyrik ausgedriickten Stimmungen ver- 
heirateter Frauen. Das Pseudonym Liliev nimmt wohl bewußt von dem 
Wort lilija seinen Ausgang. Liliev hat aber auch das Gedicht „Vojna“ ge- 
schrieben, doch auch in Dichtungen dieser Gattung spricht eine verfeinerte, 
nicht kampfesharte Natur. Erklärlicherweise fehlen bei Liliev Dichtungen, in 
denen er eine Frau verherrlicht, oder, wenn er sie besingt, zerfließi ihre 
Gestalt ins Mystische, im Unterschied zu Blok, dessen prekrasnaja dama 
zeitweise sehr greifbare Gestalt annimmt. Liliev trägt seine Frauenvision 
nie herab auf die Erde. P. sieht eine Gefahr für die Individualität Lilievs 
in dieser Art ekstatischer außerweltlicher Stimmungen und findet, daß sich 
unter ihrem Einfluß auch der Wortschab der Dichtungen sehr beschränkt. 
Seiner Dichtung fehlt das Rückgrat, sie ist zum Fragment verurteilt von 
vornherein. Aber liegt nicht in der ganzen neuzeitlichen Kunst etwas Frag- 
mentarisches? Die moderne Sensibilität ist impressionistisch und flicht 
großangelegte Konstruktionen; vielleicht ist das ein Grund dafür, daß die 
junge Generation Bulgariens Slavejkov ‚vergißt und dafür Liliev liebt. In 
dem vergänglichen Duft dieser zarten Dichtungen, die wie die blaue Blume 
des Novalis anmuten, spricht sich der Zeitgeist aus, um dessentwillen man 
Liliev lieben muß. Emmy Haertel. 


266 


UKRAINE 


J. Miréuk: H. S. Skovoroda, ein ukrainischer Philosoph des XVIII. 
Jahrhunderts. — Zeitschrift für slavische Philologie. 5 (1928), 1—2, 
S. 36—62. 


Zum Verständnis des Zr. ammenhangs, der zwischen jeder genialen 
Einzelpersönlichkeit und dens historischen Hintergrund, auf dem sie er- 
wachsen, immer besiehen muß, auch dann, wenn die Originalität des be- 
treffenden Individuums stark genug war, sich davon zu einem großen Teil 
frei zu machen, gibt M. zur Einleitung in seine Darstellungen einen kurzen 
Überblick über das 18. Jahrhundert der ukrainischen Geschichte, und zwar 
vornehmlich über Geschehnisse und Zustände innerhalb der Jahre 1722—63. 
In der Weltanschauung Sokovorodas spiegeln sich die sozialen, politischen 
und wirtschaftlichen Verhältnisse dieser Zeit. Aus diesem Verwachsensein 
mit ihnen erklärt sich der ungeheure Einfluß, den er ausgeübt, ungeachtet 
der scheinbar widersprechenden Tatsache, daß in den ersten 100 Jahren 
nach seinem Tode seine Schriften keine ihrer würdige Ausgabe erlebi 
haben. Bei Gelegenheit der Lebensbeschreibung Skovorodas hebt M. 
dessen früh sich äußernden starken Wandertrieb hervor, der ihm später 
die Bezeichnung eines „Wanderphilosophen“ eintrug. Ein charakteristischer 
Zug ist auch sein starker Widerstand gegen die damals herrschenden philo- 
sophischen Richtungen. Seine Vorliebe für die Antike und besonders für 
Plato ist z. B. auch aus den Schuleinflüssen der Kiever Akademie nicht zu 
erklären. Die geistige Selbständigkeit Skovorodas führte während seiner 
Tätigkeit als Lehrer für Poetik am Kollegium von Perejaslav zu Konflikten 
mit dem dortigen Bischof, und ebenso fanden auch seine späteren Ver- 
suche, an anderer Stelle eigene Anschauungen und von den Zeitgedanken 
unabhängige Überzeugungen in Vorlesungen über christliche Ethik vor 
seinem Hörerkreise zu entwickeln, Migdeutungen und kollegialen Neid. 
Sein unstillbarer Wandertrieb mag das seinige dazu beigetragen haben, 
daß Skovoroda nirgends warm werden konnie, er war auch eine Natur, 
für die es keinerlei soziale Bindungen von vornherein gab. Sein Kritiker 
A. Hasdeu hat ihn mit einem einzelnen Berg auf weiter Steppe verglichen. 
Er widerstand auch innerlich vielem, was zur damaligen Zeit allgemein- 
gültig war: dem Hang zu materiellen Erfolgen und Gewinn und trieb seine 
Studien um ihrer selbst willen. Auch seine antirationalistischen religiösen 
Überzeugungen stachen ab von der Zeitstimmung. Als armseliger Wander- 
prediger seiner Weltanschauung zog er auf dem linksuferigen Dneprgebiet 
umher und lehrte, wo seine Lehre gern angehört wurde. Sein herzliches 
Verhältnis zu dem einfachen ukrainischen Volke trug dazu bei, daß Lieder 
von ihm mit moralisierendem Inhalt sich lange unter dem Volke lebendig 
erhalten haben. Daß bei ihm Leben und Lehre stark von Sokrates be- 
einflujt war, springt in die Augen. Beider Philosophie entbehrte eines 
fertigen Systems. Obgleich Skovoroda eine literarische Erbschaft hinter- 
lassen, ist er doch ein „Philosoph ohne System“ genannt worden, denn 
seine Haupigedanken sind ohne alle systematische Ordnung in seine nicht 
gerade zahlreichen Werke eingestreut. Er hat auch, ähnlich wie Sokrates, 
der praktischen Philosophie den Vorzug gegeben vor einer theoreti- 
sierenden. Die an ethischen Idealen arme Gesellschaft der damaligen Zeit 
drängte ihn dazu, vor ihren Augen ein Leben zu leben, welches nur einem 
ethischen Ideal diente. Was Tolstoj nur im Alter getan, übte Skovoroda 
in den besten Jahren seines Lebens, er kannte keine Kompromisse. Ab- 
gesehen von dieser originellen Übereinstimmung von Lehre und Leben war 
seine Philosophie keineswegs originell und spiegelt wider, was antikes 
Denken und die Schriften der Kirchenväter an geistigem Gut aufgespeichert 

aben. Weniger leicht zu verfolgen ist das Eindringen neuerer philo- 
sophischer Strömungen bei ihm. M. führt die Literatur an, welche hier 
analysierend gearbeitet hal. In religiöser Hinsicht vertritt Skovoroda einen 

aus universellen, nicht nur konfessionell uninteressierten Standpunkt. 
Er sieht auch im Heidentum und seiner Moral das schlechthin Göttliche. 


267 


Seine Bibelverehrung gründete sich auf die Anschauung, daß Golf sie zu 
einem Werkzeug seines Verkehrs mit den Menschen bestimmt habe, was 
ihn aber nicht hinderte, kritisch klar die in ihr enthaltenen Widernatürlich- 
keiten zu erkennen und den unkritischen Geist ihrer Ausleger zu tadeln, 
welcher in ihr alles wörtlich glauben wolle. Er hat es VE gestützt 
auf die alten Kirchenschrifisteller, den Text der Bibel „mit Hilfe eines 
Schlüssels von Symbolen zu erklären“, durch welche ein neuer und tiefer 
Sinn auch in bisher schwer zu Deutendes gek¢immen ist. M. charakterisiert 
dann kurz die Hauptgedanken der Philosophie Skovorodas. Das Höchste 
für ihn bedeutet das Streben nach Wahrheit, ähnlich wie Lessing das 
forderte, ein tiefer Anthropologismus durchzieht die Orundlagen seines 
pirosopniioien D Denkens, und zwar ist sein Anthropologismus dreifacher 
Natur: ontologisch, erkenntnis-theoretisch und moral-praktish. Makro- 
kosmos und Mikrokosmos entsprechen einander. Nach seiner Auffassung 
„bildet der Mensch den Ausgangspunkt jeder Erkenntnis“. Die sichtbare 
Natur alles Seienden ist vergänglich und wertlos, nur das implicite in ihr 
Enthaltene: Wahrheit, Schönheit... Gedanken, Geist „hat Wert. Infolge- 
dessen existiert eigentlich jede Sache doppelt.“ — Der Einfluß Pilatos ist 
hier unverkennbar. „Die Schaffung eines durchgeisti en Menschen aus 
sich ist die zweite Geburt jedes Individuums.“ Aus der Selbsterkenninis 
eines jeden Menschen fließen die moralpraktischen Zwecke und Forderungen 
hervor. Alles Abstrakte ist bei Skovoroda praktischen Zwecken unter- 
geordnet. Das Hauptgewicht a Denkens li bei ihm_im konkreten 
Leben, ein Zug, der ihn, wie M. sagt, den allgemeinen Tendenzen : 
Slaven freu erweist. Skovoroda ist Eudämonist, sein Streben nach Glick- 
seligkeit trägt jedoch einen ganz eigenen Charakter. Daß der Mensch sein 
Glück immer individuell suchen muß, unterscheidet ihn von der übrigen 
Kreatur. Skovorodas Forderung, sich im leben dem Willen Gottes zu 
fügen, verrät manche Verwandtschaft mit stoischen Lehren. Wie in der 
Natur alles nach Gottes Willen seiner eigenen ‘dem Angeborenen gemab 
lebt, soll der Mensch das ihm Gemäße suchen, nur dem An enen gemäß 
leben und wirken. Skovoroda war überzeugt, daß in Natur des 
Menschen bestimmte Anlagen vorhanden sind, die Ken werden 
müssen. M. weist auf die Ähnlichkeit zwischen dem Glückseligkeitsprinzip 
Skovorodas und dem Sokratischen Begriff der ager} hin. Daneben aber 
zeigt sich auch die Verwandtschaft mit platonischen und soles aera 
Gedanken. Gerade diese Theorie stand im Widerspruch zu den philo- 
sophischen Lehren des 18. Jahrhunderts, welche die Gleichheit aller Menschen 
verkündigten. Skovoroda aber sagt „es ist besser, ein natürlicher Kater 
als ein Löwe mit einer Eselsnatur zu sein“ und „Je mehr Eintracht und Friede 
mit Gott, desto seliger und friedlicher das Leben“. Emmy Haertel. 


CECHOSLOVAKEI 


Paul Diels: Ein Hussitenlied auf König Sigismund. Archiv für 
slav. Philologie. 42 (1928), 1/2, S. 97— 108. 


Auf der Innenseite der Predigthandschrift 1 O 395 der Breslauer 
Staats- und Universitätsbibliothek befindet sich nebst anderem Nofizen- 
material, stark beschädigt, der Rest eines Liebesliedes in polnischer 
Sprache, welches D. späterhin zu bearbeiten gedenkt, und die Aufzeichnung 
des Liedes, welches den Gegenstand der vorliegenden Untersuchung bildet. 
Der sehr schlecht und unsorgfältig geschriebene Text ist hier zum Abdruck 
gebracht, wobei D. aufmerksam macht, wie schwer eine Wiedergabe der 
Handschrift war, da der Schreiber bei der Nachlassigkeit seiner Schrift 
zwischen c, e und o fast gar keinen und zwischen o und a nicht immer 
einen Unterschied erkennen läßt, ähnlich verhält es sich mit mehreren 
‘anderen Buchstaben. Es müssen daher beim Abdruck Entscheidungen 
gefällt werden, welche der Schrift selbst nicht zu entnehmen sind, woraus 
folgt, daß bei dem Sinne nach nicht ganz klaren Stellen auch Zweifel über 


268 


den Buchstabensinn bestehen. Auch die Wortirennung des Textes ist unklar 
und unfolgerichtig. Die fraglichen Stellen werden im folgenden besonders 
vermerkt und besprochen. Es entsteht die Frage: ist das Lied nach dem 
Gedächtnis oder nach einer Vorlage geschrieben? D. vermutet bei der 
Menge des Unverstandlichen, daß Bruder Christian aus Guhrau, der dieses 
Lied niederschrieb, vieles daraus selbst nicht verstanden haben wird. Ge- 
wisse Worte sind schiechterdings unsinnig. Nicht nur die Schrift, auch die 
Überlieferung selbst ist kläglich, die Reimanordnung der ersten Strophen 
kehrt später nicht mehr wieder. D. versucht die einzelnen Strophen all- 
gemein sinngemäß zu scheiden in: Erzählung, Antwort und so fort. Den 
ursprünglichen Bau des Gedichtes und seinen Wortlaut herstellen zu wollen, 
wäre ein aussichtsloses Unterfangen. D. hat den Text ins Cechische um- 
gesetzt und dabei die Lautform gewählt, die etwa der Hussilenzeit eigen 
gewesen sein kann, ohne Versuch, dialektische Färbung hineinzutragen. 
Unverstandliches ist durch * wiedergegeben. Das überlieferte Lied selbst 
ist polnisch aufgezeichnet, kann aber weder in Polen, noch bei den polnisch 
sprechenden Schlesiern entstanden sein, da es vom Hussitenkrieg handelt 
und außerdem einige Reimausgänge erst sich reimen, wenn man bei dem 
betreffenden polnischen Wort die Cechische Lautform einsetzt. Der Dichter 
kann aber selbst kein Ceche gewesen sein, sonst hätten die Worte „co 
nam Česi pravili“ keinen Sinn, vielleicht war er ein Mahrer. Die in dem 
Lied genannten Persönlichkeiten deuten etwa die Jahre 1420 und 1424 an. 
D. verfolgt die Geschichte eines an den Hussitenkämpfen beteiligten Hašek 
von Waldstein und Ostrov, der in dem Lied als pan Ostrovsky auftritt. 
Unklar ist, wer mil Jan Kravovsky gemeint ist. Da sicher angenommen 
werden kann, daß hier keine für die Zeitgeschichte unbedeutende Persön- 
lichkeit mit hineingezogen ist, vermutet D., daß Bruder Christian einen 
Namen verbalihornt hat. Er beleuchtet dann die Möglichkeiten, ob der 
Geschlechisname Kravarsky, d. h. die Herren von Kravarn, gemeint sein 
kann; die Tatsache, daß sowohl Hašek von Ostrov wie Wenzel von Kravarn 
mährische Barone waren, daß beide die Sache Sigismunds i. J. 1421 offen 
preisgegeben hatten, würden Spottworte im Liede, die sie gegen Sigismund 
äußern, entsprechend ihrer Rolle in der Geschichte erscheinen lassen. 
Allerdings sind in der Liedüberlieferung auch Widersprüche enthalten, und 
die hier angenommene Namensform für die beiden Barone ist nur unter 
Ausmerzung von allerlei Verdrehungen im Text möglich, doch wimmelt ja 
dieser Text von Fehlern. — Daß dieses Lied, wie von vornherein zu ver- 
mufen, zum Singen gedacht ist, geht aus den Noten unzweideutig hervor, 
welche sich über der ersten Strophe befinden. Soviel zu erkennen, 
bezeichnen diese undeutlichen Noten keine der bekannten Melodien aus 
der Hussitenzeit, ob eine Melodie nichtbohmischer oder mährischer Her- 
kunft dahintersteckt, vermag D. nicht zu entscheiden. — So schlecht und 
rätselvoll die Überlieferung dieses Hussitenliedes auch ist, steht es stofflich 
ohne Seitenstück da, es gibt nur noch ein Lied, das sich mit Sigismund 
beschäftigt, mit dem aber das vorliegende Lied nichts gemein hat. Auch 
aus den sonstig vorhandenen Hussitenliedern hebt es sich allein durch seine 
Länge hervor. D. erwähnt hierbei kurz die in Betracht kommenden Lieder. 
Das Lied der Breslauer Handschrift besingt die Ereignisse der Schlacht von 
Kuttenberg, zu deren Zeit der Aufzeichner des Liedes noch ein Kind war 
(er war im Jahre 1439 dreißig Jahre alt), und es knüpfen sich eine ganze 
Reihe von nicht zu beantwortenden Fragen daran, wie er zu dem Liede 
gekommen sein mag. Ob es vielleicht Hussiten mitgebracht haben nach 
Schlesien? Zu bedauern ist nur, daß Christian den Text nicht besser im 
Kopfe behalten hat. Emmy Haertel. 


Karel Stoukal: „Die Anfänge der Nuntialur in Prag.“ — Cesky 
časopis historický, Jahrgang XXXIV 1928, Heft I, SS. 1—24, Heft ll, 
SS. 237-279. 


Infolge des ungeahnten Aufschwunges des Katholizismus in Böhmen 
in der zweiten Hälfte des XVI. Jahrhunderts hatten neben der ideellen 


269 


Wiedergeburt der ganzen römischen Kirche vier Ereignisse eine grund- 
legende Bedeutung: die Einführung der Jesuiten in Böhmen (1556), die Er- 
neuerung des Prager Erzbistums (1561), die Übertragung der kaiserlichen 
Residenz nach Prag (1585) und die damit verbundene Verlegung des Sitzes 
der Nuntiatur von Wien nach Prag, deren Anfängen Autor seine Arbeit 
widmet. Er vermerkt zunächst, daß diese Ubersiedlung der Nuntiatur nach 
Prag ein bis zu einem gewissen Grade unerwartetes Ereignis bedeute. Als 
Nuntius Bonhomini Ende 1583 mit der Nuntiatur infolge der teilweisen 
Ubersiedilung des kaiserlichen Hofes Rudolfs II. von Wien nach Prag über- 
siedelte, ahnte er nicht, daß es eine dauernde Ubersiedlung sein werde. 
Das Programm für die Tätigkeit der Nuntien in Böhmen wuchs automa- 
tisch aus den gegebenen Verhältnissen heran. Die erste Sache, mit der 
sich Bonhomini zu beschäftigen hatte, war die Durchsetzung des gregoriani- 
schen Kalenders in Böhmen und Mähren. Als nächster Schritt des ersten 
Nuntius folgte die versuchte Reformierung der Prager Universität im katho- 
lischen Sinne, um diese in die Hand zu bekommen und sie im mittelalter- 
lichen Sinn zu klerikalisieren, da sie sich in der Zeit der Hussiten in den 
Händen der Utraguisten befand. Trozdem mußte diese Reformbestrebung 
ad calendas graecas verschoben werden, weil der Nuntius nicht zu diesem 
Mittel greifen konnte. Ferner erstreckte sich die Tätigkeit des Nuntius auf 
die Ausweisung der Keber aus dem Königreiche Böhmen, inbegriffen die 
Böhmischen Brüder. So sebte er durch, daß am 27. Juli 1564 cin Mandat 
gegen die Keber erlassen wurde, das jedoch dem Nuntius eine Enttäuschung 
brachte: denn es sprach nur im allgemeinen über „andere Religionen“, 
ohne ausdrücklich die Lutheraner oder Böhmischen Brüder zu nennen. Bei 
der Unklarheit der Stilisierung konnten sich auch die Böhmischen Brüder 
darauf ausreden, daß sich das Mandat auf sie nicht bezieht, da auch sie sich 
zu einer gesetzlich anerkannten Religion bekennen. Auf diese Weise konnte 
auch Bonhomini das Oewünschte nicht erreichen. Der Nachfolger Bon- 
hominis, der ihm im Dezember 1584 folgte, Malaspina, verurteilte den Plan 

onhominis auf Rekatholisierung Bohmens und Mährens, doch anerkannte 
die römische Kirche zahlreiche Punkte dieses Planes Bonhominis für richtig 
und wies Malaspina an, diesem Plane mehr Achtung entgegenzubringen. 

Eugen Perfeckii. 


Wolfango Giusti: Karel Havlíček Borovsky. L’Europa Orien- 
tale. Anno 8 (1928), 7—8. S. 207—226. 

O. hat sich die Aufgabe gestellt, in der Charakteristik Havličeks, die er 
hier gibt, zugleich die Frage zu erörtern, wie weit die häufig hervor- 
gehobene Ähnlichkeit zwischen ihm und Mazzini tatsächlich zutreffend ist, oder 
vielmehr, G. will es versuchen, die Gegensäßlichkeit beider ins rechte Licht zu 
setzen, da ihr Lebenswerk eigentlich nur manche Äußerlichkeiten gemeinsam 
hat. Selbst das ihnen Gemeinsame: Kampf gegen Österreich zum Zweck 
der Erlangung größerer politischer Freiheiten für das eigene Volkstum ist 
nach Zweck und Kampfmethode grundverschieden. Mazzini revoltierte, 
predigte illegale Kampfmethoden, Havlíček wollte den Kampf innerhalb der 
geseklichen Grenzen. Beiden gemeinsam ist die Behandlung des sozialen 
Problems, über dessen Lösung jeder von ihnen Anschauungen besaß, 
welche zu widerstreitenden Auslegungen führen konnten. G. behandelt 
eingehend die aus Havličeks common sense resultierende Stellungnahme 
zum Panslavismus und weist immer wieder hin auf die grundverschiedene 
Ideologie des Slovaken Stur in dieser Frage. Er schildert Havličeks Ent- 
täuschung an dem von den Panslavisten getraumten, in Wirklichkeit diesen 
Träumen aber ganz unähnlichen Rußland, das er aus eigener Anschauung 
kennengelernt und sowohl in Briefen wie in Aufsätzen der Prazké Noviny 
und anderer Zeitungen lersch. unter dem zusammenfassenden Titel „Obrazy 
z Rus. Praha, Laichter 1907) sehr abfällig beurteilt hat. G. zitiert besonders 
charakteristische Stellen daraus. Nach Haviféeks Rückkehr aus Rußland 
sind seine früheren panslavistischen Träume verflogen, und alle seine Inter- 
essen gelten der Aufgabe, innerhalb des politisch Gegebenen das denkbar 


270 


Beste für das eigene Volkstum zu erreichen, er will Österreich nicht stürzen, 
sondern umwandeln. Ähnlich wie Palacky ersehnt er ein foderatives Reich, 
in welchem das slavische Element zu gleicher Bedeutung kame wie das 
deutsche oder magyarische. Ebenso wie den Pangermanismus will er aber 
auch den Panrussismus abwenden, das Untertauchen im „russischen Meer“, 
welches die Slovaken ersehnen, lehnt er ab. Diese grundsäßliche Ein- 
stellung Osterreich gegenüber zeigt, wie verschieden sein Programm von 
dem Mazzinis war. interressant ist es, zu sehen, wie objektiv Havlíček, 
trotz dieser politischen Gegensäßlichkeit zum Slovakentum, doch die kul- 
turclle Geschlossenheit des letzteren anerkannt und seine „Reinheit“ gegen- 
uber den westierisch affizierten Cechen hervorgehoben "hat. Er erhoffte 
von ihm sogar für die Zukunft viel für das nationale Leben. Bei der Ab- 
lehnung des panslavistischen Programms ging Havlíček sogar so weit, nächst 
den Russen auch die Polen mit kritischer Kühle zu beurteilen. Seine Stel- 
lung zu der in den vierziger Jahren aktuell gewordenen revolutionären Be- 
wegung zeigt auch wieder Berührungspunkte mit Palacky. Im Grunde war 
er mehr reaktionar als revolutionär veranlagt. Bakuninsche Ideen lagen 
ihm nicht im geringsten, ein Glauben an die revolutionären Instinkte der Masse 
ging ihm ab, Revolutionen taugen seiner Meinung nach dann etwas, wenn 
sie Erfolg haben, sonst sind sie zu verwerfen usw., Anschauungen, die 
erklärlicherweise seinen Gegnern Anlaß gaben, Havlíček des Opportunismus 
zu beschuldigen. Nichtsdestoweniger hat er die Radikalen psychologisch 
begriffen, er schätzte aber den Umsturz für zu gefährlich ein, als daß er 
icht friedlichere Kampfmittel vorgezogen hatte. Auch hier zeigt sich der 
gewaltige Unterschied gegenüber Mazzini, sowohl in der Wahl der Kampf- 
methoden wie des Urteils über die politischen instinkte der Massen, die 
nach Havličeks Meinung in erster Linie durch materielle und praktische, 
nicht durch ideelle Motive geleitet werden. Weder ausschließlich mon- 
archisch noch republikanisch eingestellt, hielt er für Osterreich an dem 
monarchischen Prinzip fest, die Volksindividualitäten der österreichischen 
Monarchie würden gerade durch das Herrscherhaus in gewisser Hinsicht 
vereint, das hindere keineswegs das Besiehen einer Demokratic, eines 
Parlaments usw. G. charakterisiert im folgenden Haviféeks Stellung zu 
Fragen der Religion und stellt dabei fest, daß sein Verlangen nach einer 
Reform der katholischen Kirche in der Cechoslovakei vieles Gemeinsame hal 
mit den Wünschen, die dort nach dem Weltkrieg laut geworden sind, in beiden 
Fallen ist ein starkes Nationalgefühl der Hauptbeweggrund, das sich mit 
der austrophilen katholischen Kirche auseinanderzusefen bestrebt ist. 
Schließlich erörtert G. noch Halfiéeks Stellung zum Marxismus. Bei seiner 
Ablehnung jedes doktrinären Systems und jeder wirklichkeitsfernen Ideologie 
konnte er auch hier nur zu einer Ablehnung gelangen, ähnlich wie Mazzini, 
der allerdings eine gründlichere Kenntnis der marxistischen Lehre besaß 
und sie durch wissenschaftlichere Methoden bekämpfte. Havlíček, der 
grundsätzlich am Privateigentum festhiclt, war aber Gegner des großen 
Kapitalismus, der sich in Böhmen wesentlich in deutschen oder jüdischen 
Händen befand. In einem Rückblick auf diejenigen Verdienste, welche 
Havificeks Ideen und seinem Wirken ganz entschieden zuzusprechen sind, 
erwähnt G., daß sein unerschülterliches Vertrauen, daß auch bei augenblick- 
licher Erfolglosigkeit des Kampfes für die nationalen Interessen seine Fol- 
gen für die späteren Generationen nicht ausbleiben werden, sich wieder 
mit den Überzeugungen Mazzinis berührt. Emmy Haertel. 


POLEN 


Wirtschaftliche Beziehungen Oberdeutschlands zu Polen und dem 
Osten im Mittelalter. — Schles. Geschichtsblatier. Mitteilungen 
d. Ver. f. Gesch. Schlesiens. 1927, Nr. 3, S. 49—57. 


Hektor Ammann-Arau (Schweiz) bringt Mitteilungen „Zur 
Geschichte derwirtschaftlihenBeziehungenzwischen 


18 NF 5 971 


Oberdeutschland und dem deutschen Nordosten im 
Mittelalter.“ Der Nordosien lieferte nach Oberdeuischland Pelzwerk, 
Wachs und, wenigstens im 15. Jahrhundert, Schlachtvieh, Oberdeutschland 
dafür Wein aus dem Donaugebiet, dann aber gewerbliche Erzeugnisse: 
Leinwand und Barchent aus Schwaben und vom Bodensee, Metallwaren aus 
Nürnberg. Es werden durch Oberdeutsche teilweise auch die Beziehungen 
zu den Niederlanden vermittelt zum Bezuge der dortigen Tuchwaren. Wich- 
tiger aber war noch der durch Oberdeutschland laufende Verkehr mit 
Italien. Die Verbindung mit dem Orient ging freilich, statt über Italien, 
über das Schwarze Meer (vgl. dazu noch Heinrich Wendt chle- 
sien und der Orient“, = Bd. 21 der „Darstellungen u. ellen z. 
schles. Gesch.“, 1916). E. Hanisch. 


Marjan Gumowski: Architektura i styl przedromafski w Polsce. 
(Die Architektur und der vorromanische Stil in Polen) Przeglad 
Powszechny Bd. 179 (1928), S. 129— 152, 285—312. 


Diese Studie reiht sich der früheren über die ältesten polnischen 
Kirchenbauten desselben Verfassers an. Das wichtige Resultat der mit 
unermüdlicher Zähigkeit betriebenen Forschungen Gumowskis ist die ge- 
sicherte Feststellung cines durch mehrere bedeutende kirchliche Bauwerke 
vertretenen vorromanischen, byzantinischen Baustils auf polnischem Boden, 
in dem außer der ältesten Krakauer Kirchen noch eine Anzahl Heiligtümer 
im Herzen Großpolens errichtet waren. Uber dieses bedeutsame kunst- 
geschichtliche Ergebnis ragt an Wert noch hinaus, daß für die Urgeschichte 
des Christentums im vorpiastischen Polen durch die Zeugnisse der auf deut- 
schen und über Mähren hereindringenden Einfluß zeugenden Baudenkmale 
unmittelbare Quellen erschlossen werden, deren Steine, vom Zauberstab 
des kundigen Gelehrten berührt, zweifelsohne noch viel reden mögen. 

Otto Forst-Battaglia. 


Kazimierz Tymieniecki: Z dziejów rozwoju wielkiej wias- 
ności na Slgsku w XIII w. (Zur Geschichte der Entwicklung des 
Großbesikes in Schlesien im XIII. Jahrh.) — Prace komisji Histo- 
rycznej, Bd. IV, Posen 1927. S.235—298. 


Im ersten Kapitel wird die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des 
Großbesibes in Schlesien im 13. Jahrh., insbesondere der Klosſerbesitztümer 
unter Berücksichtigung der Archivquellen des Zisterzienserklosters an der 
Ohle untersucht. — Das zweite Kapitel ist der Organisation des Klein- 
besitzes, der Kolonisierungspolitik des Klosters, seiner rechtlichen Lage etc. 
gewidmet. Eugenie Salkind. 


Dr. Kazimierz Bieszk: Der Kampf des Deutschen Ordens mit 
Polen um kirchliche Abhängigkeit des Pommerschen Erzdiako- 
nats. (Walka zakonu krzyżackiego z Polska o przynależność 
koscielna archidiakonatu pomorskiego.) — Roczniki towarzystwa 
naukowego w Toruniu, Nr. 34, Thorn 1927, S. 3—53. 


Unmittelbar nach seinem Eindringen in die preußischen Länder sekte 
der Deutsche Orden alle Mittel ans Werk, um kirchliche Macht über Pom- 
mern zu bekommen. Kaum im Besitze des säkulären Rechtes, bemächtigte 
er sich fast aller Bistümer und eignete sich das Patronatsrecht an. Diese 
Maßregeln konnten natürlich nicht ohne Schwierigkeiten durchgeführt wer- 
den, besonders in dem 1309 eroberten Teile Pommerns, der am linken Ufer 
der Weichsel liegt. Der größte Teil dieser Territorien gehörte, vom kirch- 
lichen Standpunkte aus, der Diözese von Wloclawek (Vladislaviensis), der 


272 


Rest der Erzdiözese von Gnezen. Die Erzbischöfe sahen sich oft genötigt. 
bei den poln. Königen Hilfe zu suchen; sie befanden sich gleichsam in der 
Lage poln. Vorposten inmitten der Territorien des Deutschen Ordens. Der 
Orden machte inzwischen weitere Versuche, seine Stellung in Pommern zu 
sichern, sei es durch Gründung neuer Diözesen oder durch Einführung ad- 
ministrativer Institutionen. Die ersten Versuche, das pommersche Erz- 
diakonat von der Diözese von Wioclawek zu trennen, wurden 1343 unter- 
nommen, als Kasimir d. Or. Pommern dem Orden abtrat. Diese Politik 
wurde im Laufe des 14. Jahrh. fortgesebi, doch der endgültige Erfolg blieb 
aus, weil sich auch der Papst zuletzt mit Rücksicht auf Polen den Plänen 
des Ordens widersetzte. Im Jahre 1400 unternahm der Großmeister einen 
neuen Versuch dieser Art, doch als das Gerücht davon bis an den poln. 
Hof vorgedrungen war, leugnete er alles aus Furcht vor einem neuen Kon- 
flikt mit Polen, das jebt durch seine Union mit Litauen gefestigt war. Die 
darauffolgenden Jahre brachten dennoch einen Krieg mil sich, der für den 
Orden 1410 mit einer schweren Niederlage endete. Im Jahre 1421 starb der 
Erzbischof von Włocławek, Jan Kropidio; der Orden schlug als Nachfolger 
den Sohn des Fürsten von Mazowien vor. Der polnische König unterstübte 
die Kandidatur des Bischofs Jan Pella, eines geschickien Diplomaten und 
erbitterten Gegner des Ordens. Der Papst Martin V. fand eine Kompromiß- 
lösung des schwierigen Dilemmas: er beschloß, den Bischof von Plock nach 
Wioclawek zu versetzen und Pella das Bistum von Plock anzubieten. Jedoch 
der polnische diplomatische Einfluß siegte in Rom: Pella wurde zum Erz- 
bischof von WIoclawek ernannt. Die Jahre 1431—33 brachten den letzten 
Versuch des Ordens, der sich auch in großen materiellen Schwierigkeiten 
befand: der Großmeister wandte sich mit einer Bitte um Fürsprache an 
König Sigismund, der zum Empfang der Kaiserwürde nach Rom reiste. Doch 
waren die Aussichten des Ordens zunächst gering, denn der Papst Eugen IV. 
unterstüßte Polen, während Sigismund zu der gegnerischen Partei, die sich 
um das Basler Konzil gruppierte, hielt. Als jedoch zwischen dem Papst 
und Sigismund eine Einigung erreicht wurde, beschloß man, den Bitten des 
Ordens statizugeben. Man verbreitete bereits Pamphlete, in welchen Polen 
der Unterstiijung der Hussiten beschuldigt wurde. Der Waffenstillstand 
v. J. 1433 zwischen Polen und dem Deutschen Orden setzte allen Intrigen ein 
Ende und gab dem Orden die Herrschaft über Pommern. Durch den Ver- 
trag von Thorn (1466) bekam Polen diese Provinz zurück. 
Eugenie Salkind. 


Dr. E. Perfeékyj, PeremySler Chronik erster Redaktion als 
Teil der Chronik von J. Diugosz. — Mitteilungen d. Sevcenko- 
Ges. d. W. Bd. 147 u. 149, Lemberg 1927—28, S. 1—54, 31—83. 


In einer umfangreichen, vorläufig noch nicht vollendeten Arbeit, ver- 
sucht Dr. Perfeckyj, auf Grund des Textes der bekannten Historia Polo- 
nica von Jan Diugosz, einen siidruthenischen (ukrainischen) Chronik-Kodex 
zu rekonstruieren. Das verstorbene Mitglied der Petersburger Akademie 
A. Sachmatow bediente sich bekanntermaßen bei der Abänderung des 
Grundiextes des ersten Kiever Kodexes des XI. Jahrhunderts — und auch 
anderer Kodizes — jenes Materials, welches im Texte späterer Chroniken- 
Kodizes in südruthenischen (ukrainischen) und nordrussischen Redaktionen 
uns erhalten blieb. Das Resultat seiner 25jahrigen, ersprießlichen Arbeit 
ist die 1916 erschienene Rekonstruktion der ersten Auflage der Chronik. 
In den Richtlinien und Meihoden seines Lehrers fortfahrend, machte uns 
Dr. Perfeckyj auf eine fremde Quelle aufmerksam, aus welcher man ein 
geeignetes Material zur Rekonstruktion eines Chronik-Kodexes, der uns im 
Original leider nicht zugekommen ist, schöpfen kann. Diese Quelle ist 
nämlich die bereits erwähnte Arbeit von Jan Dlugosz. Es ist auch weiter 
bekannt, daß auch Diugosz sich der ruthenischen Chronik-Kodizes bei seiner 
Arbeit bediente, was bis dato von keinem Gelehrten angewendet wurde. 
Dr. Perfeékyj stellt anfangs fest, daß jener Kodex, aus welchem Dlugosz 


275 


das Material schöpfte, mit keinem der uns bekannten sudruthenischen Kodizes 
gänzlich übereinstimmt. Es steht also der Gedanke nahe, daß Dlugosz einen 
bisher nicht bekannten ‘Text vor sich hatte. Auf Grund einer Analyse stellt 
Dr. Perfeckvi weiter fest, daß es sich hier um einen in Peremy3l zusammen- 
gesetzten und bis zum Jahre 1225 zurückreichenden Kodex handelt. Daß 
dieser Kodex gerade in Peremy3l zustande kam und nicht anderswo, be- 
weist uns die Tatsache, daß wir in ihren zehn verschiedenen Aufzeichnun- 
gen aus den Jahren 1117—1135, welche hauptsächlich Peremy3i betreffen, 
vorfinden, was sich in keinen uns bekannten Kodizes findet. Gerade 
Peremy3l hatte in der Hinsicht eine sehr bedeutende Tradition der Chro- 
niken. Schon gegen 1110 wurde dort eine Redaktion der sogenannten 
„Povist vremennych lit gegründet, die man mit dem Namen eines 
Monches Nestor des Kiever Pecersk-Klosters verknüpfte. Als Autor 
dieses Peremy3ler Kodexes des 1100. Jahriges halten Dr. Perfeckvi sowie 
die übrigen Forscher den damaligen Seelsorger des Fürsten Vassilko, 
Priester Vassyl. Dieser erste Peremy3ler Kodex wurde von Dr. Perfeckyi 
als der „fürstliche Kodex“ benannt, während der zweite Peremy3ler Ko- 
dex von 1225 von Dr. Perfeékyj als „bischöflicher“ benannt wurde, da lebt- 
genannter Kodex am Hofe des Bischofs Antonius zusammengesetzt war. 
Dr. Perfeékyj versucht weiter, auf Grund der Textvergleiche zwischen der 
Dlugosz- und der Kiever Anfangs-Chronik, sowie der Novohoroder Chro- 
niken — in letzteren sind bekanntlich sehr viele Fakten erwähnt worden — 
vorlaufig nur die erste „Fürstliche“ Chronik von Peremy3l zu rekonstruieren. 
Dazu verwendet er in erster Linie die bekannten Erzählungen über die 
legendären Begründer Kievs, nämlich die drei Brüder Kyj, Scek und Choryv, 
sowie über die Varjager-Fürsten Ruryk, Sineus und Truvor, welche einer 
Sage nach den Varjager-Staal in Novohorod begründeten. Die Analyse der 
Diugosz-Erzählungen zeigt uns, daß der Peremy3ler Kodex die Angaben der 
alten Kiever Chronik erschöpfend ausnübte, hatte aber eine solche Redak- 
tion derselben, die den Text der Novgoroder Chronik mit ihren archäischen 
überlieferungen widerspiegelte, welche somit vollinhalllicher als alle an- 
deren Redaktionen, die uns bekannt sind, war. 

Schließlich rekonstruiert Dr. Perfeékyj den Inhalt der Erzählungen über 
die Anfänge des Kiever Staates, auf Grund des Textes von Dlugosz, welchen 
er mit den bekannten ruthenischen Chroniken vergleicht. 

D. Doroschenko. 


Stanislaw Tync: Die Geschichte des Thorner Gymnasiums 
(1568—1793), I. Teil (Dzieje gymnazjum torunskiego). — Roczniki 
towarzystwa naukowego w Toruniu. Nr.34, Thorn 1927, S.57 


bis 284. 

Das Thorner Gymnasium, das mit einem humanistischen Programm als 
Erziehungs- und Bildungsstätte für die protestantische Jugend gegründet 
wurde, hat in den Zeiten der alten polnischen Republik Epochen außer- 
ordentlicher Blüte gekannt. Viele Historiker, die zum größten Teil dem 
Lehrkörper des Gymnasiums angehörten, haben sich mit seiner Geschichte 
befaßt; Verf. erwähnt sie und ihre Werke in seiner Einleitung. 

Im vorliegenden I. Teil der Monographie wird die Geschichte des Gym- 
nasiums in den Jahren 1568—1600 dargestellt; ihr wird ein kurzer Umriß der 
vorhergehenden Geschichte (seit 1375) der Schule, die, als Parochialschule 
gegründet, später zur munizipalen Schule umgebildet wurde, voraus- 
geschickt. Als die Thorner Bürger zunächst heimlich, dann offen, zum 
Luthertum übergingen, berührten die neuen religiösen Strömungen auch die 
städtische Schule. Ihr protestantischer Charakter offenbarte sich jedoch erst 
um 1550, als die Schule sich unter der Leitung von Urban Stürmer befand. 
Seit 1557, als der Stadt das Privilegium der Konfessionsfreiheit verlichen 
wurde, hatte die Schule nicht mehr nötig, ihren lutherischen Charakter zu 
verbergen. Ihre ersten lutherischen Rektoren waren Simon Reymann und 
Christoph Ortlob. Im Jahre 1568 fand die Gründung des Gymnasiums, das 


274 


aus sechs Klassen bestand, statt. Der Lehrkörper setzte sich aus zehn Pro- 
fessoren zusammen, das Lehrprogramm wics ein sehr hohes Niveau auf 
und entsprach ungefähr dem der westeuropäischen Schulen; es zeige auch 
Spuren des Einflusses Melanchthons in der Wahl der Lehrfächer und 
-mittel. Die feierliche Eröffnung fand am 8. März 1568 statt; Matthias Breu, 
aus Chemnitz berufen, wurde zum Rektor ernannt. 

Die Entwicklung der Schule begann unter guten Auspizien; die Stadt- 
verwaltung stellte ihr beträchtliche Summen zur Verfügung. Doch bereits 
nach Verlauf einiger Jahre beklagen sich die Professoren über das Aus- 
bleiben ihrer Besoldung. Dem gelehrten und ehrgeizigen Bürgermeister 
Stroband gebührt die Ehre, das Gymnasium auf die Höhe seiner Entwick- 
lung gebracht zu haben. Seine im Auslande gemachten Studien gaben ihm 
den ersten Impuls dazu. Als Muster diente ihm die von Johann Sturm refor- 
mierte Schule von Straßburg. Stroband war auch bestrebt, das Lehrper- 
sonal durch wissenschaftliche Kräfte zu ergänzen; er setzte sich mit einem 
Doktor der Leipziger Universitat, Ulrich Schober, in Verbindung, der 1585 
zum Konrektor des Gymnasiums ernannt wurde. Diese beiden Leiter faßten 
den Plan, das Gymnasium zu einer akademischen Schule umzugestalten. 
Im Jahre 1594 wurde eine „classis suprema“ mit zweijährigem akademischen 
Kursus eröffnet; eine umfangreiche Publikation, die im selben Jahre unter 
dem Titel „Orationes X“ erschien, enthielt das detaillierte Programm dieser 
Klasse. Doch die Plane von Stroband gingen noch höher: gelegentlich der 
Zusammenberufung einer protestantischen Synode in Thorn (21.—27. Aug. 
1595) machte er den Vorschlag, in Thorn eine protestantische Akademie zu 
gründen. Dieser Plan scheiterte an dem Widerstand anderer preußischen 
Städte. In den folgenden Jahren geht die Entwicklung der Schule lang- 
samer vor sich. Erst 1600 erhält sie ihr Reglement (ordynacja), das vom 
Stadtrat von Thorn approbiert wurde. Verf. unterzieht dieses Reglement 
einer eingehenden Untersuchung und stellt fest, daß das Thorner Gym- 
nasium in allen seinen Einzelheiten dem Straßburger Muster nachgebildet 
wurde. Die nachgedruckien Lehrmittel von Sturm, sowie die anderen, spe- 
ziell für das Gymnasium verfaßten, erbringen den Beweis dafür. Zum 
Schluß untersucht der Verfasser die polnische Unterrichtsmethode an der 
Schule und erwähnt die Namen ihrer hervorragendsten Lehrer und Schüler. 

Eugenie Salkind. 


Klazimierz Piekarski: Data śmierci Jana Hallera. — Silva 
rerum 1927, S. 78. 


Das genaue Datum des Todes Jan Hallers war bisher unbekannt, wenn 
auch von PtaSnik (in „Monumenta Poloniae Typographica“. Einltg. S.29) als 
Todesjahr des Druckers 1525 ermittelt war. Tagebuchartige Aufzeichnungen 
des Mikołaj Sokolnicki und des Marcin Biem z Olkusza am Rande sogen. 
astronomischer „Almanache“ aus dem XVI. Jahrh. ergeben die Nacht vom 
7.18. Oktober 1525 als Datum des Todes Jan Hallers. E. Koschmieder. 


Wtodzimierz Budka: Muza Ksiąg sadowych XVI w. — Silva 

rerum 1927, S. 85—88. 

W. Budka veröffentlicht hier fünf Gedichte, vier lateinische und ein 
polnisches, aus den Jahren 1564—1588, die sich in verschiedenen, zur Zeil 
im Landesarchiv in Krakau aufbewahrien Gerichtsbüchern finden. Die Ver- 
fasser sind Jan Kmita (der Neffe des Krakauer Landesschreibers Jan Kmita), 
Stanislaw Zawada, Krzysztof Czarnocki und Adam Kröl, die alle in den 
Kanzeleien gearbeitet haben. E. Koschmieder. 


Stanisław Kot: Pierwszy wiersz polski tłoczony w Paryżu. — 
Silva rerum 1928, S. 1—5. 


Als Heinrich I., König von Frankreich, 1559 an den Folgen einer beim 
Turnier erlittenen Verwundung starb, verfaßte der junge Humanist Karl 


275 


Utenhove ein Epitaphium auf ihn in mehreren Sprachen. Durch sprachkundige 
Bekannte ließ er es dann noch in andere ihm selbst unbekannte Sprachen 
— u. a. auch ins Polnische — übersetzen. Dieses polyglotte Epitaphium er- 
schien dann mit anderen Gedichten zusammen 1560 im Druck u. d. T.: 
„Epitaphium in mortem Herrici... per Carolum Utenhovium... et alios...” 
Paris: Robert Estienne. St. Kot druckt den poln. Text in modernisierter 
Orthographie ab und fügt photogr. Reprod. des Textes und des Titelblattes 
bei. Bestimmte Anhaltspunkte für die Person des Ubersefers lassen sich 
nicht geben, wenn auch manches dafür spricht, daß es sich um die gleiche 
Persönlichkeit handeln dürfte, der wir die Gedichte verdanken, die von 
Ign. Chrzanowski in der „Bibljoteka pisarzów polskich Akad. Um.“ Nr. 43, 
1903, u. d. T.: „Anonima — protestanta XVI wieku Erotyki, fraszki, obrazki, 
epigramaty” veröffentlicht worden sind. E. Koschmieder. 


Szymon Czechowicz. 


MaciejLoret: Z rzymskich lat Czechowicza. (Aus Czechowiczs 
römischen Jahren) Tecza 1928, Nr. 34. 


Ein paar Bemerkungen über die römischen Lehrjahre des vorzüglichen 
Spatbarock-Meisters, der mit Konicz und Smuglewicz die polnische Malerei 
der Sachsenzeit auf das beste vertritt. Loret leugnet die Möglichkeit, in 
Czechowicz einen unmittelbaren Schüler des um 65 Jahre älteren Maratta zu 
erblicken. Immerhin ist das Wirken des italienischen Künstlers dem Polen 
in vielem ein Muster geblieben. Loret stellt aus den Dokumenten ver- 
schiedene Daten von Czechowiczs römischem Aufenthalt sicher, die mit 1714 
beginnen. Otto Forst-Battaglia. 


Zofja Birkenmajerowa: Z miodzienczych lat jan Daniela 
Janockiego. (Aus den jugend jahren von J. D. Janocki.) — Prace 
Komisji Historycznej, Poznańskie Towarzystwo Przyjaciół Nauk, 
Bd. IV. Posen 1927, S. 1— 126. 


Verf. stellt sich zur Aufgabe, die Jugendjahre des ersten polnischen 
Bibliographen des 18. Jahrh., J. D. Janocki (Jänisch), aufzuhellen. Generationen 
der poln. Bibliographen — unter ihnen ist Estreicher an erster Stelle zu 
nennen —, haben die Schriften von Janocki studiert, doch herrschte bisher 
unter ihnen eine Meinungsverschiedenheit über die wichtigsten biographi- 
schen Momente seines Lebens. Verf. gelingt es, an Hand einer J nd- 
schrift J's. („Kritische Briefe, an vertraute Freunde geschrieben etc. , Dres- 
den 1743 oder 1745) und anderer Originaldokumente, den Geburtsort und 
tag., und somit auch die poln. Abstammung J’s., die von den Forschern off 
bezweifelt wurde, festzustellen. Geb. 1721 in Birnbaum i. Pos. (Międzychód), 
verbrachie der Bibliograph seine Jugend vornehmlich in Deutschland: zu- 
nächst in Dresden, wo er die Erziehungsanstalt zum „heil. Kreuz“ besuchte, 
dann in Schulpforta, wo er in der berühmten, aus einem Zisterzienser- 
kloster hervorgegangenen Schule zum Bibliothekar ausgebildet wurde. Die 
oft unvollständigen Angaben der „Kritischen Briefe“, die J's. Zeitgenossen 
betreffen, werden von der Verf. ergänzt, und so entsteht, teils auf Hypo- 
thesen aufgebaut, ein Bild der Schuljahre )’s., seiner Beziehungen zu den 
polnischen und sächsischen Bibliophilen und Gelehrten und seines Verhält- 
nisses zu Polen, seiner eigentlichen Heimat. Etwas länger verweilt Verf. 
auch bei den heute vergessenen Werken des poln. Schrifttums des 18. Jahrh., 
die J in seinen „Kritischen Briefen“ erwähnt (2. Kap.). Im 3. Kap. untersucht 
Verf. die Beziehungen von J. zu seinen Zeitgenossen, den Naturwissen- 
schaftlern und Mathematikern; als eines „gewandten Mathematikers“ ge- 
denkt er u. a. seines Schulfreundes J. A. Schlegel (Vater von Aug. Wilh. und 
Friedrich Schlegel). In einem Überblick uber die geographischen Werke 
der oH und ihre Verfasser wird besonders der sachsische Geograph Adam 
Fr. Zürner, Herausgeber der damals bekannten Periodica „Fortgesebte 


276 


BI I AM 


10 25 


* 


SAA AKA A TE we 


geographische Nachricht von dem Markgrafthum Mähren“, hervorgehoben. 
Das 4. Kap. ist der rätselhaften Persönlichkeit eines „Pan Tucholski“, den 
J. oft in seinen „Briefen“ erwähnt, gewidmet. Verf. stellt die Hypothese auf, 

„es sich hier um den Grafen Bieliński, einen Sohn Augusts Il. und der 
Bezirkshauptmannstochter Marianna aus Tucholski, handelt. Das Verzeichnis 
der außerordentlich wertvollen Bibliothek dieses Tucholski, die hebräische, 
lateinische, griechische, deutsche und polnische Manuskripte enthielt, wird 
in den „Kritischen Briefen“ angeführt. 

Der Anhang bringt u. a. griechische und lateinische Gedichte von ja- 
nocki, einen Brief an Załuski, den Bischof von Kiev (1769), und ein Namen- 
register. Eugenie Salkind. 


Stanislaw Staszic. 


Tadeusz Grabowski: Największy Wielkopolanin. (Der größte 
Großpole — sic!) Tecza 1928, Nr. 30. 


Czeslaw Le$niewski: Bohusz — nie Staszic. [Bohusz und 
nicht Staszic.) Przegląd Historyczny Bd. 26 (1927), 385—395. 


_ „ Grabowskis Skizze ist weit besser, als der ungeschickte Titel vermuten 
ließe, und überzeugt durch konzise Schilderung des edien Menschen, Staats- 
mannes, Dichters und Gelehrten von Staszics hoher Bedeutung auch die, 
denen der Geschmack an Schönheitskonkurrenzen auch auf dem Gebiet der 
Politik, der Literatur und Wissenschaft und schon gar im retrospektiven 
Begriff mangelt. 

Leśniewski, der Autor einer vortrefflichen Arbeit über Staszic, zeigt auf 
das klarste, daß die von Kraushar 1905 als Tagebuch Staszics von drei 
Reisen veröffentlichten Aufzeichnungen nur zum geringen Teil das Werk 
des großen Schriftstellers waren, dagegen in ihrer Mehrzahl von einem 
anderen Autor herrührten. Als diesen Verfasser identifiziert Leśniewski 
nunmehr den Prälaten Ksawery Michal Bohusz (1746—1820) des Wilnaer 
Domkapitels. Die scharfsinnige Untersuchung ist zugleich ein charakteristi- 
scher Beitrag zu den Methoden der dilettantischen Geschichtsschreibung im 
ehemaligen Kongreßpolen, deren typischer Vertreter Kraushar war. 

Otto Forst-Battaglia. 


Franziszek Giedroyé: Casus notabilis. Przegląd Historyczny 
Bd. 26 (1927), 365—366. 


Man kennt die Episode aus Sienkiewiczs „Kreuzrittern“, wie Zbyszko 
durch den Einspruch einer Jungfrau, die ihn vom Tode retten will, aus 
Henkershand befreit wird. An diesem sogenannten Casus notabilis des alt- 

Inischen Rechtes, daß eine Jungfrau durch ihre Bereitwilligkeit, einen zum 

od Verurteilten zu ehelichen, diesen vor Strafe bewahrt, erinnert Giedroyé 

durch die Erzählung eines Falles aus dem Jahre 1791. Leider versagen die 

Akten gerade über das weitere Los des Delinquenten, von dem wir also 

nicht wissen, ob das alte Vorurteil oder das grausame Urteil Sieger blieb. 
Otto Forst-Battaglia. 


Jan Nieczuja-Urbafiski: W sprawie „Prosiej odpowiedzi na 
list rabina lizbońskiego do rabina brzeskiego“. (Zur schlichten 
Antwort auf den Brief des Lissaboner Rabbiners an den Rab- 
biner von Brześć.) Przegląd Historyczny Bd. 26 (1927), 367 — 384. 
Der vorzügliche Kenner der Geschichte des polnischen Freimaurer- 

wesens bespricht eines der seltenen Erzeugnisse antifreimaurerischer 

Publizistik im alten Polen, die „Antwort“, welche der Wilnaer Domherr 

Aloizy Korzeniowski (aus der Familie des polnischen Erzählers oder aus 

der des Anglo-Polen Conrad-Korzeniowski?) dem für die Freimaurer be- 

geisterten Pralaten Michal Dluski und dessen nach den Rezepten der Enzy- 


277 


klopädisten in rabbinisches Gewand gehüllter Broschüre gab. Korzeniowski 
zerpflückt die salbungsvoll vorgetragenen Legenden vom uralten Ursprung 
des Freimaurerwesens, und er zeigt die Unvereinbarkeit der maurischen 
Grundsäße mit denen der katholischen Kirche, während Diuski den christ- 
lichen Geist der Logen verteidigt hatte. Er wendet sich auch gegen die 
revolutionären Tendenzen des Freimaurerordens. im ganzen unterscheidet 
sich die Broschüre indes gar nicht von der Legion ähnlicher Erzeugnisse des 
traditionalistischen Lagers, wohingegen der bekampften Schrift Diuskis die 
Originalität wenigstens im Versuch, Katholizismus und Loge zu versöhnen, 
nicht abzusprechen ist. Otto Forst-Battaglia. 


Stanisław Pigof: Des „Aieux“ d’Adam Mickiewicz, sa genèse. 
Revue des études slaves. T. 8 (1928), 1—2. S. 5—41. 


_ In der Einführung zu seinen Untersuchungen weist P. darauf hin, daß 
die „Dziady“ in ihrer Bedeutung für die polnische Romantik eine wichtigere 
Stellung einnehmen als die, der Gewohnheit nach, ihnen in dieser Hinsicht 
vorangestellten Balladen und Romanzen Mickiewicz’. Man könnte sagen, 
daß „die ganze polnische Romantik sich in drei kurzen Stunden, in den drei 
herausgegebenen Teilen der Dziady konzentriert habe“. — Von grund- 
legender Wichtigkeit ist für das Studium der einzelnen Werke von Mickie- 
wicz die Erkenntnis des ihnen zugrunde liegenden Entwicklungsprinzips, des 
allmählichen Ausreifens ursprünglich einfacher Pläne zu großartigen Aus- 
maßen. P. zitiert B. Chlebowskis Ausspruch (dessen Briefe, T. 4, S. 182), 
daß Grundgedanke und Ausführung bei Mickiewicz sich zueinander ver- 
hielten wie der Wildling zum veredelten Baum; Chlebowski, der als erster 
die Genesis dieses Schaffens richtig erkannt, hat aber nach Pigofs Meinung 
bei seinen Schlußfolgerungen geirrt, z. T. wohl deshalb, weil ihm Quellen 
und erklärende Texte, welche unentbehrlich sind zur lebten Klärung der 
Fragen, nicht bekannt oder nicht zugänglich gewesen sind. P. weist auf 
die verwickelte Frage nach der genauen Datierung der Skizze zum 1. Teil 
der „Dziady“ hin und nennt die bisherigen Deutungsversuche. Es ist ihm 
hierbei gleichgültig, ob die eine oder andere Reihenfolge der Teile als die 
ursprüngliche angesehen wird, Hauptsache ist es ihm dagegen zu wissen, 
wo in ihnen der Ausgangspunkt für das ganze Werk zu sehen ist. Er tritt 
in dieser Frage der schon von M. Konopnicka ausgesprochenen Meinung bei, 
daß ursprünglich der jebige 2. Teil dem jebigen 1. vorausgegangen ist, lehnt 
aber die von ihr angewandte Beweisführung ab. P. sieht bei der im Archiv 
der Philomaten befindlichen Abschrift des 2. Teils der „Dziady“ nach einer 
Autographie des Dichters von der Hand Czeczots cin wertvolles Moment in 
den Änderungen, welche Mickiewicz an einer früheren Fassung vor- 
genommen, er hat an Stelle des ursprünglich beim Feste der Toten gewollten 
Priesters einen Guslenspieler eingesebt. Die Frage nach dem Warum? 
beantwortet P. damit, daß die realistischere Form hier aus Stilgründen, zu- 
liebe einer mehr fiktiven, aufgegeben worden ist, er weist auf Ahnliches 
hin bei Umänderungen der in Kowno und Wilna entstandenen Teile. Sollte 
selbst diese Schlußfolgerung nicht richtig sein, so gestattet sie doch mit 
Sicherheit das Festseßen einer chronologischen Ordnung innerhalb der cin- 
zelnen Teile der Dichtung. Der Entwurf zum 1. Teil enthält von Anfang an 
bereits den Guslenspieler und erwähnt den Geistlichen nicht, hier ist also 
die definitive Gestallung durchgedrungen, ja Mickiewicz spricht davon, daß 
die Kirche diesem Totenkull feindlich gegenüberstehe, wie es auch im 4. Teil 
gesagt ist. Der Guslenspieler tritt hier auf als Inkarnation der volkstüm- 
lichen Glaubensvorstellungen. Von derartigem ist im jetzigen 2. Teil keine 
Rede, es geht also deutlich hervor, daß der Entwurf zum 1. Teil erst ent- 
standen sein kann, als der jetzige 2., wenigstens im groben Gerüst, bereits 
komponiert war. P. halt also den 2. Teil der Dichtung für deren ältesten 
Teil und somit für deren Ursprung. Er sucht in der Kopie Czeczots einen 
Stubpunkt zu finden für die Mutmaßungen, wie die elementarste Form 
dieses ältesten Teiles gewesen sein kann; hier geben auch die Ab- 
änderungen von der Hand Mickiewicz’ Fingerzeige. Die Kopie Czeczots 


278 


ıst erheblich kürzer als der von Mickiewicz veröffentlichte Text des 2. Teils; 
es entsteht die Frage: liegt hier eine verstümmelte Fassung vor oder zeigt 
ste die älteste Gestalt dieses Teils? Der Schluß fehll. Hat Czeczot von 
Mickiewicz nur diesen unvollständigen Text zum Äbschreiben erhalten, oder 
hat er den erhaltenen nicht vollständig abgeschrieben? P. ist davon über- 
zeugt, Czeczot das gesamte ihm zum Abschreiben übergebene Ma- 
nuskript abgeschrieben hat, und daß im Archiv der Philomaten davon nichts 
verloren gegangen ist. Die äußere Gestalt dieser Kopie spricht dafür. Die 
Einteilung der gebrauchten Papierblätter bezeugt, daß weiter nichts mehr 
abzuschreiben gewesen ist als abgeschrieben wurde. Die Kritiker der 
„Dziady“ haben wiederholt darauf hingewiesen, daß der jetzige 2. Teil ur- 
sprünglich kürzer gewesen sein muß, die Schlußszene fehlte mit der Er- 
scheinung Gustavs. Die Kopie Czeczots beweist diese Hypothese, leider 
ist es nicht möglich, sie fest zu datieren, sie wird aber nicht lange nach 
Fertigstellung des Textes entstanden sein. P. nimmt an, daß sie im Sommer 
1821 entstanden ist, gestützt auf Bemerkungen von Zeitgenossen Mickiewicz’. 
P. verweilt des näheren bei den von Mickiewicz noch späterhin vorgenom- 
menen Abänderungen dieses 2. Teiles und verfolgt seine Versuche, das 
Heterogene der einzelnen Teile der Dichtung einheitlicher zu verschmelzen. 

Im folgenden untersucht P. die Gründe für die Zutaten zu dem ur- 
sprünglich kürzeren Text des 2. Teils, führt die Literatur über diesen Teil 
der Mickiewiczforschungen an und Mickiewicz’ eigene Aussprüche darüber. 
Bei der weitergeführten Erforschung der den „Dziady“ zugrunde liegenden 
keimhaften Gedanken gewinnt für P. die Erscheinung des jungen Mädchens, 
welches wegen seines Mangels an Fähigkeit zur Gegenliebe ins Fegefeuer 
verwiesen ist, besondere Bedeutung. Sie hat ihre genaue Entsprechung in 
der Ballade „To lubię“. Maryla und Zosia sind verwandte Seelen, auch 
ihre Schicksale sind einander ähnlich. Hier kommt man den Grundgedanken 
der Dichtung nahe. Das Verbrechen, sich dem Naturgesch der Liebe nicht 
gefügt zu haben, wird durch Strafe geahndet, in „To lubię“ geschieht das 
in galanter, launiger Weise, ohne Hinweis auf die katholische Eschatologie. 
Auch in der ursprünglichen Fassung der betreffenden Stelle in den „Dziady“ 
klingt diese mehr scherzhafte Note an. In beiden Werken ist die gleiche 
Idee ausgedrückt, die ältere Fassung in den „Dziady“ stellt einen Übergang 
dar von der Liebeskomödie des „To lubię“ zu der ernsten Feierlichkeit im 
endgültigen Text der „Dziady“. Die Art, wie hier, ohne in dem Leser 
Grausen zu erregen, die Geisterwelt als Mittel zu didaktischen Erwägungen 
benützt wird, widerspricht den sonstigen Gewohnheiten der Romantik, cs ist 
vielmehr ein vorromantischer Zug und erinnert an die englische Literatur 
des 18. Jahrhunderts. Mickiewicz zeigt sich in der ältesten Fassung dieses 
Teils der „Dziady“ noch nicht als Adept der volkstümlichen Glaubensvor- 
stellungen. Erst der persönliche Schmerz des Dichters hat in die Geister- 
erscheinung die ergreifenden Töne hineingetragen. 5 

Warum aber ist aus dieser in sich abgeschlossenen Szene später ein 
unsterbliches Drama geworden, welches alle Leiden und Lebensphasen des 
Dichters zum Ausdruck bringen sollte? Sicher hat hieran seine neu- 
gewonnene Anschauung über das Drama Anteil, er bricht mit alten Bühnen- 
traditionen und versucht Neues. P. weist hier auf W. Bruchnalskis Aufsatz 
im Pamietnik literacki (9. 1910, S. 239) hin. Außerdem klingen hier auch die 
demophilen Tendenzen der jüngeren Dichter Polens in jener Zeit mit an. 
Man wollte an Stelle des durch die Rationalisten des 17. Jahrhunderts für 
gut Gehaltenen, an der kirchlich zugelassenen Form des Totenfestes vorbei 
zu seinen heidnischen Grundelementen gelangen. Mickiewicz folgte hier 
dem Zuge der jüngeren Generation. Er gelangte auf diesem Wege zugleich 
zu den Quellen der Bühnenkunst, zur griechischen Tragödie, und zwar zu 
deren ältester Form, dem religiösen Drama. Er glaubte, im Totenfest die 
uralten Überbleibsel einer autochthonen Zeremonie auf slavischem Boden, 
ein Echo des griechischen Kulis entdeckt zu haben und glaubte auch, diese 
Idee durch die Etymologie: koZlarz, husla, guslarz stützen zu können. 

Die Fragmente des 1. Teils der „Dziady“ verdeutlichen den ganzen 
Gedankengang des Dichters, wenn man in ihnen eine Weiterentwicklung des 


279 


früher Oeschaffenen sicht. Es lag ihm daran, für den Hauptpunkt, das 
Totenfest, eine entsprechende Einleitung und Vorbereitung zu schaffen. In 
diese neuen Bilder wird aber die Liebe eingeführt, hier tritt die Jungfrau 
auf, welche die Geliebte Gustavs werden soll. Dadurch aber wird das 
eigentliche Zentrum der Dichtung, der gegenwärtige 2. Teil, zu einer zweit- 
gradigen Episode und der Nebensproß zur Bekrönung des Oanzen. Aus 
der ursprünglichen Absicht, Maryla durch eine Ballade zu schrecken, wird 
das Drama des eigenen Herzens. Es entsteht die Doppelaufgabe, für das 
volkstiimliche Fest und für das Liebesdrama eine dichterische Form zu 
finden. P. weist hier auf Mickiewicz’ Liebesabenteuer dieser jahre hin. In 
der Psychologie des Helden und der Heldin: Gustav und der Jungfrau 
kommen charakteristische Züge der romantischen Zeit zum Ausdruck. 
Sicher hat der Gedanke, eine psychologische Zeitstudie in der Liebes- 
geschichte der Dichtung zum Ausdruck zu bringen, stark mit eingewirkt auf 
die Ausgestaltung des ursprünglichen Planes der „Dziady“. 

P. sucht schließlich noch die Verbindung zwischen dem 1. und dem 
4. Teil der Dichtung zu deuten. Trob aller Verschiedenheit besteht ein 
geistiges Band unter ihnen. Hier ist der Chor der jungen Leute von beson- 
derer Wichtigkeit. Drückt er die persönlichen Gedanken des Dichters aus 
oder ist er das unpersönliche Sprachrohr der Gerechtigkeit? Dieser Chor 
verurteilt Gustav. Sah Mickiewicz in diesem Typ eine Verirrung der Ro- 
mantik? Die Konopnicka hatte die rationalistische Kälte der in diesem 
Chor ausgedrückten Meinungen herausgefuhit. Der Entwurf zu dem Chor 
der jungen Leute im 1. Teil ist sicherlich die älteste Fassung und besonders 
aufschlußreich. Er zeigt sich hier weit entfernt von der allwissenden Weis- 
heit des antiken Chors, ja er erscheint sogar kleinlich voreingenommen, der 
guslarz allein hat Weltweite des Blicks und Urteils, der Chor der Jungen 
ist fast trivial in seinen Aussprüchen. Er erinnert an die Gestalt des roman- 
tischen Gelehrten in „Romantyczność“, und das gestattet die Schlußfolge- 
rung, daß Mickiewicz auf der Seite der Jungfrau stand und nicht auf der 
des Chores. Da in „Romantyczność“, wo Mickiewicz Śniadecki in der 
Gestalt des Gelehrien verkörpern wollte und dessen Gedankengang, ganz 
ähnliche Gedanken ausgesprochen werden wie im Chor der jungen in den 
„Dziady“, vermutet P., daß auch hier Mickiewicz Zeitlgenössisches zu ver- 
körpern sucht, und glaubt, hier Erinnerungen an die Freunde Mickiewicz’ in 
Wilna wiederzufinden, welche seine Liebesexaltationen verurteilten. Wenn 
hier also die persönlichen Erinnerungen des Dichters und sein Zusammen- 
prall mit dem Positivismus seiner Umgebung einen Platz gefunden hatten, 
so liegt es nahe, zu vermuten, daß er schließlich im 4. Teil seiner großen 
Dichtung das Drama der eigenen Seele einführen wollte. 

Emmy Haertel. 


Adam Mickiewicz: Pani Twardowska. Z autografu wydał po 
raz pierwszy józef Kallenbach. — Silva rerum 1927, S. 113—118. 


In der Bibljoteka Kérnicka hat sich ein Autograph der Mickiewicz’schen 
Ballade „Pani Twardowska“ gefunden. Das Wasserzeichen im Papier be- 
stätigt (1820), daß d:e Ballade in Kowno oder Wilna entstanden ist. Der 
Text selbst, den Kallenbach genau abdruckt, ist schon eine Abschrift aus 
einem Konzept und weicht verschiedenflich von der uns im Druck der 
„Ballady i romanse“ überlieferten Fassung nicht unwesentlich ab. 

E. Koschmieder. 


Jözef Korpala: Kraszewski jako wydawca „Pism“ Brodzif- 

skiego. — Silva rerum 1928, S.5— 11. 

Auf Grund der in der Jag.-Bibl. aufbewahrten Korrespondenz J.I. Kra- 
szewski’s, und zwar besonders von Briefen F. S. Dmochowski’s, Fr. Dobro- 
wolski’s, Gebethners, der Familie Rucz und L. Vasiutynski's, gibt J. Korpala 
hier einen interessanten Einblick in die Genesis der achtbändigen Ausgabe 
der Werke K. Brodzifski’s, die in Warschau, von Kraszewski bearbeitet, bei 


280 


Gebethner erschien. Die Initiative zu dieser Ausgabe war von F.S.Dmo- 
chowski ausgegangen. Sie sollte eine kritische und vollständige Ausgabe 
werden und mithin alle die reichhaltigen Materialien mit aufnehmen, die 
Dmochowski selbst gesammelt hatte, und zwar mit Rücksicht auf die russ. 
Zensur in einem besonderen Bande. Jedoch es kam weder zur Veröffent- 
chung dieses Bandes noch der Biographie Brodzifiski’s, die Kraszewski 
versprochen halte, woran wohl hauptsächlich auch Rucz und Gebeihner 
schuld sein dürften. Da nun überdies die Ausgabe Kraszewski’s gegenüber 
den Materialien Dmochowski’s viele Ungenauigkeiten, Auslassungen etc. 
aufweist, erscheint Korpala eine vollständige Neuausgabe der Werke Bro- 
dzifski’s geboten. E. Koschmieder. 


Z. L. Zaleski: Jan Kasprowicz: Le Monde slave. 5. Jg. (1928), Nr. 2, 
S. 196—212. 


_  Gedachtnisrede auf Kasprowicz. Die leitende Idee ist, daß Kasprowicz 
eine der drei wesentlichen Vollendungen und Offenbarungen der moralischen 
Existenz Polens in der Zeit vor dem Kriege verkörpert habe: Ce que fut 
Wyspianski pour le drame de la destinée collective, ce gue furent Zeromski 
et Reymont pour le spectacle épique de la vie, tout strié d'ailleurs d'éclairs 
tragiques, Kasprowicz le devint spontanément et puissamment pour le mode 
Iyrique de Ylexistence, source premiere de tout mouvement ef de toute 
création. (S. 197.) F. Epstein. 


Chrzanowski, Ilgnacy: Adam Asnyk. — Przeglad współczesny 
XVI. S.3—21. 


Im Hinblick auf die bei dem Verlag „Bibljoteka Polska“ in Vorbereitung 
befindliche Gesamtausgabe der Werke Asnyks, die außer der Lyrik auch die 
dramatischen Werke, Novellen, Litcraturstudien, Reden und Artikel des 
Dichters umfassen soll, wirft Chrzanowski die Frage auf, ob es etwa ge- 
nüge, sich auf die Lyrik zu beschränken. Im ersten Kapitel seiner Studie 
zeigt nun Chrzanowski, wie Asnyks dramatische Werke von lyrischen Ele- 
menten durchdrungen sind, und daß schon deswegen eine Ausgabe seiner 
Lyrik allein ohne das dramatische Schaffen ein ganz unvollständiges Bild 
seiner Lyrik gäbe. In einem zweiten Kapitel führt Chrzanowski aus, daß 
Asnyk, wenn auch vielleicht nicht vom romantisch patriotischen Gesichts- 
punkt, so doch vom ästhetischen aus, unbedingt zu den „großen Dichlern“ 
Polens zu rechnen und somit eine . Ausgabe aller seiner Werke 
völlig gerechtfertigt sei. Das nächste Kapitel weist auf die Vereinigung von 
höchster Vollendung der Form und größter Einfachheit mit Erhabenheit des 
Inhalts in Asnyks Lyrik hin. Nicht, wie Wyspiański es boshaft aussprach, ein 
ausgestopfter Adler ist er, sondern ein lebender, wenn auch ein verwun- 
deter, dem die nationale Katastrophe im Januaraufstand die Kraft der 
Schwingen gebrochen. Das letzte Kapitel beschäftigt sich mit der Religiositat 
und der Philosophie des Dichters. E. Koschmieder. 


Polnische bildende Kunst der Gegenwart. 

Z. St. Klingsland: La sculpture de Zamoyski. Pologne Litté- 
raire 1928, Nr. 19. 

Derselbe: La peinture de Tadeusz Makowski. Ibid. Nr. 22. 

Mieczysław Wallis: Die Gruppe des „Rhythmus“. Ibid. Nr. 21. 


Die mit schönen Reproduktionen verschenen Artikel von Klingsland 
und Wallis tragen sehr viel dazu bei, eine knappe Übersicht über die her- 
vorragendsten polnischen Maler und Bildhauer unserer Tage zu vermitteln. 
Die reiche Skala der Ausdrucksmöglichkeiten, die von der derben Realistik 
des Malers Makowski über die ironische, klassisch stilisierende „Formistik“ 
des Bildhauers Zamoyski zur Gruppe des „Rhythmus“ führt, bezeugt in 


281 


überraschender Weise die Vielfalt des polnischen Kunstschaffens. In der 
Würdigung des „Rhytumus“ durch Wallis vermisse ich einen Hinweis auf die 
Paralielerscheinungen in der Literatur. Skoczylas, der bedeutendste unter 
den Leuten des „Rytm“, ist das Gegenstück zu Zegadlowicz, auch er der 
Erde verhaftet und aus ihr seine Inspiration holend. Auch innerhalb der 
Gruppe ist reicher Raum für individuelle Sonderheit geblieben. Neben 
Skoczylas, der wie ein technisch vervollkommneter Wowro anmutet — wer 
kennt nicht den naiven Holzschniger aus den Beskiden, dem Zegadlowicz 
seine Balladen von den „Dorfgängern“ dankt?l! — neben W z, der 
ganz im Schatten von Skoczylas, dem Meister der Graphik, sicht, ist der 
zarte, träumerische Eugenjusz Zak, der 1926, zu früh, dahinsterben mußte 
und sich den westlichen Einflüssen schon mehr gefangen gab. Ganz 
Europäer aber Ludomir Slendzifiski, während Henryk Kuna irgendwo in 
einer christlichen, strengen Antike wurzell. Otto Forst-Battaglia. 


RafalMalczewski. 

Stanislaw Ignacy Witkiewicz: Malarstwo (nie sztuka) 
Rafała Malczewskiego i lo jego powstanio. (Die Malerei — nicht 
Malkunst — Raphael Malczewskis und der Hintergrund ihres 
Entstehens) Wiadomości Literackie 1928, Nr. 21. 


Von aufrichtiger Bewunderung getragene und diese Bewunderung 
schamhaft hinter kühler Sachlichkeit und ein paar Absagen an das ver- 
faulende Europa verbergende Anmerkungen zum Schaffen des ungemein 
begabten Landschaftsmalers Rafat Malczewski, den Träger eines großen 
Namens der polnischen Malerei und dennoch eine starke eigenwillige In- 
dividualitat. Die beigefügten Reproduktionen überzeugen uns von der tech- 
nischen Vollkommenheit und dem künstlerischen Wert dieser Bilder, die ganz 
im Geist der sogenannten „neuen Sachlichkeit“ gehalten sind. (Ich weiß 
nicht, warum Witkiewicz sich so gebärdet, als wüßte er nicht, wie sehr Rafat 
Malczewski in einer mächtigen Kunststromung seiner Zeit untertaucht.) Uber 
diese im Grund gar nicht so neue Sachlichkeit hinaus hat Malczewski einen 
Vorzug: er ist nicht nur der talentierte Schuler der holländischen Realisten 
des Landschaftsgemäldes, sondern auch der polnische Segantini, dem kein 
zweiter die Gebirgsfirne der Tatra ebenbürtig erfaßt. Wovon aber Wit- 
kiewicz mit keinem Wort Erwähnung tut. o Forst-Battaglia. 


M. J. Wielopolska: Rembrandt i Re-Rembrandty. (Rembrandt 
und die Re-Rembrandt.) — WiadomoSci Literackie 1928, Nr. 28. 
Vgl. ibid., Nr. 24. 

Jan Wiktor: Wskazania Ossolińskich, Czartoryskich, Krasińskich. 
(Die Mahnungen der Ossoliński, Czartoryski, Krasiński.) — Ibid. 
Nr. 36. 


Die Polemik um den von Graf Tarnowski nach den Vereinigten Staaten 
gesandten Rembrandt dauert fort (vgl. diese Jb. NF. 4, 357). Die Wielopolska 
verteidigt mit Verve und Eloquenz den Besitzer des Gemäldes, das angeb- 
lich nur zum Zweck der Restaurierung nach Paris gebracht worden sei und 
jedenfalls sich nunmehr wieder in Polen befindet. Dem Unbeteiligten, der 
die Verhältnisse kennt, will es scheinen, daß erst der im ganzen Lande er- 
hobene Lärm den voreiligen Verkäufer bewog, das Bild aus New York, 
wohin es unzweifelhaft den Weg genommen hatte, mit großen Opfern zu- 
rückzuholen. Sicherlich hat Jan Wiktor recht, wenn er die Angelegenheit 
nicht als abgeschlossen betrachtet, und zwar nicht, wie recht unnotigerweise 
die Redaktion der „Wiadomości Literackie“, nach dem Staatsanwali, doch 
nach einer gründlichen Revision der beklagenswerten Zustände ruft, die in 
den meisten Sammlungen der Magnaten herrschen. Man kann den Skandal 
nicht oft genug, und auch vor dem Forum des Auslands annageln, daß die 


282 


* 5 „ KA KW Raa Bp E 


Potocki, Branicki, Popiel und viele andere ihre, auf nicht immer einwandfrei 
rechtlichem Wege gesammelten Archivalien verwahrlosen und zugrunde 
gehen lassen, unter den verschiedensten Vorwänden Gelehrten den Zutritt 
verweigern und, im Besib von Revenuen, die in die Millionen gehen, die 
bescheidenen Mittel zur Erhaltung der ihnen anvertrauten historischen 
Schätze verweigern. Nicht nur die Tradition der Ossoliński, Czartoryski, 
sondern auch ein Blick auf die Sorgfalt, mit der etwa die deutschen mediati- 
sierten Häuser und die großen englischen Familien die dokumentarischen 
Vermächtnisse ihrer Vorfahren behandeln, sollte der unhaltbaren Mißwirt- 
schaft ein Ende bereiten. Oder aber der Staat greife energisch, ohne 
falsche Scheu vor dem Privateigentum, ein. o Forst-Battaglia. 


Jan Parandowski: Kazimierz Chiedowski. Pologne Littéraire 
1928, Nr. 22. 


Niemand war mehr berufen, die Silhouette des feinsinnigen Magnaten 
zu zeichnen, der die Mußestunden nach emsiger politischer Tätigkeit dazu 
verwendete, um wunderschöne Bücher über die vornehme Gesellschaft ver- 
gangener Jahrhunderte und ihr Mazenatentum zu schreiben, als Paran- 
dowski, der unvergleichliche Beseeler antiken Kulturguts. Wir vernehmen, 
als seien wir in einem behaglichen Salon, auf das anmutigste von der Her- 
kunft, vom Wesen und vom Werk Chiedowskis, des österreichischen Mi- 
nisters und polnischen Schriftstellers, der doch vor allem ein verspäteter 
Nachfahre jener italienischen Renaissance war, der er seine beiden besten 
Bücher gewidmet hat. Etwas von dem farbenfrohen Prunk der Epoche 
Julius II. und der Medici war in Chiedowskis Schilderungen, die, mit Klaczkos 
Schriften vereint, als polnischer Beitrag zur Erkenntnis der glänzendsten 
Epoche frei erstrahlender Persönlichkeit ihren Rang neben Burckhardt und 
Gregorovius, Gobineau und Pater behaupten. Otto Forst-Battaglia. 


Wlastinil Hofmann. 
Marjan Morelowski: Wlastimil Hofmann. Tecza 1928, Nr. 18. 


Hofmann, von weiterher deutscher, dann unmittelbar Cechischer Ab- 
stammung, doch durch seine polnische Mutter dem Polentum geworben, ist 
als Maler seit den Tagen der Sezession auch in Mittel- und Zentraleuropa 
wohlbekannt. Sein 25jähriges Jubiläum war der Anlaß dieser Studie, die 
ebenso wie ihr Gegenstand guter Durchschnitt ist. Otto Forst-Battaglia. 


Stanistaw Wasylewski: Listy Heleny Modrzejewskiej. (Briefe 
Helene Modrzejewskas.) Tecza 1928, Nr. 28. 


Abdruck dreier Briefe der berühmten Tragödin, an den Lemberger 
Kritiker Romanowicz und an józef Nikorowicz, den Vater des bekannten 
Schriftstellers Ignacy Nikorowicz. Willkommene Ergänzung zu Franciszek 
Siedieckis Monographie der Künstlerin. Otto Forst-Battaglia. 


Artur Schroeder: Zofja Stryjefska. Tecza 1928, Nr. 18. 


Die prächtigen Reproduktionen des Tanz-Zyklus der genialen Künst- 
lerin, die durch ihre plötzliche Erkrankung ihrer Wirksamkeit, hoffentlich nur 
für kurze Frist, entrückt wurde, geben eine ausreichende Vorstellung von 
den Qualitäten dieser vom Geist der malerischen, stolzen, bunten polnischen 
Vergangenheit erfüllten Frau. Ich glaube, man wird das Richtige treffen, 
wenn man ihr gegenüber dem polnischen Folklore das zubilligt, was man 
von Matejko für die polnische Geschichte anerkennt, daß sie in die Schöpfun- 
gen ihrer Hand den Extrakt ihres Volkstums gebannt habe. Das verbindet 
sich mit dem glücklichsten technischen Können. Welcher Rhythmus in den 
sich im Tanz drehenden oder würdig zu den Klängen der Polonaise einher- 
schreitenden Paaren. Schröder kargt nicht mit dem Lob. Er hätte noch 


285 


stärkere Akzente anschlagen können und ware noch nicht der Stryiefiska 
gerecht geworden, die als Buchillustratorin kaum in Europa ihresgleichen 
hat und meines Erachiens das stärkste, originellste Genie unter den pol- 
nischen Malern des 20. Jahrhunderts ist. Otto Forst-Battaglia. 


Taszycki, Witold: Jan Los. W czterdziestolecie pracy 
naukowej. — Przegląd Współczesny. T. XVI, S. 22—38. 


Taszycki zeichnet hier ein Bild der wissenschaftlichen Laufbahn seines 
Lehrers, des für die Polonistik so bedeutenden Gelehrten jan Łoś. Er 
Bug dabei seine bedeutenderen Werke und Schriften, indem er sie in 
ihre Entstehungszeit mit ihren Erfordernissen und Schwierigkeiten hinein- 
stellt. Eine bibliographische Liste aller Schriften Los's bis 1922 befindet sich 
in den Sprawozdania Towarzystwa Naukowego we Lwowie. Rocznik Il, 
1922, S. 47—49. E. Koschmieder. 


Zdzisław Morawski 

LeonPinifski: Zdzislaw Morawski. Ruch Literacki Bd. 3 (1928), 
S. 103— 106. 

Stanislaw Wedkiewicz: Zdzislaw Morawski jako historyk 
N włoskiej. Przegląd Współczesny Bd.25 (1928), S. 492 
is 498. 


Zwei Nachrufe, die, einander ergänzend, die hohen Qualitäten des ver- 
storbenen Historikers der Renaissance würdigen. In beiden wird Morawski 
über den bekannteren Chiedowski erhoben, an den er durch seine Abkunft 
aus halbaristokratischer Familie, seinen Hauptberuf als politischer Beamter 
in k. k. Diensten und seine elegante Schreibweise erinnert. Morawski, 
übrigens ein Bruder des verewigten großen Latinisten und Präsidenten der 
Polnischen Akademie der Wissenschaften und ein Onkel des nur zu früh 
verstummien Historikers, ein Verwandter des christlichen Philosophen und 
eines anderen Historikers des 19. Jahrhunderts, ven: einer Familie an, in 
der, wie bei den Koźmian, das literarische Talent erblich und der Drang zu 
den ,,Lettres“ unbezwingbar ist. Seine Werke sind solide Denkmale gründ- 
licher Fachbildung und Zeugnisse vortrefflicher stilistischer Begabung. 
Unter ihnen kommt der erste Platz den Studien „Z Ravenny“ und „Z Odro- 
dzenia włoskiego“, sowie „Epilogi krucjat XV wieku“, endlich der Mono- 
graphic über den „Sacco di Roma“ zu. Unter den polnischen Schriftstellern 
war wohl Klaczko, der Sohn des Wilnaer Ghettos, dem großpolnischen 
Szlachcicen am nächsten verwandt. Otto Forst-Battaglia. 


Stanislaw Wedkiewicz: Zaniedbana dziedzina humanistyki. 
(Ein vernachlässigtes Gebiet der Geisteswissenschaften.) Przegląd 
Współczesny Bd. 25 (1928), S. 283—307, 470—485, Bd. 26 (1928), 
S. 276—320. 


Nach den spanischen Reisebriefen Windakiewiczs ist Wedkiewiczs un- 
gemein lebendiges Plaidoyer für eine intensive Beschäftigung mit den iberi- 
schen Kulturen kein Vorstoß in unvorbereitetes Terrain. Der Krakauer 
Romanist bietet eine fesselnde Uberschau des Standes der iberischen 
Kulturkunde in Europa. Er beginnt mit der spanischen Literaturwissenschaft 
im eigenen Lande, spricht hernach über spanisch-französische, spanisch- 
italienische Wechselbeziehungen, und, nach kursorischem Verweilen bei 
Skandinavien, Holland, England, über das Aufblühen der spanischen Studien 
im deutschen Sprachgebiet (unter den markanten Reisebüchern fehlen 
Emil Lucka, Kasimir Edschmid). Für diese Jb. ist am wichtigsten, was Wed- 
lee über den Stand der polnischen Forschungen zur spanischen Ku 
mitteilt. 


284 


NICH KK N Sy 


Die Zeit des alten Polen wird vom Verfasser nur flüchtig beachtet. Für 
die neuere Literaturgeschichte erhallen wir dagegen ein fast vollständiges 
Bild. Unter den verzeichneten Büchern fehlt nur Freilich, Legion gen. 
Bema. Den Einfluß der spanischen Literatur auf die neuere polnische möchte 
Wedkiewicz doch nicht so gering anschlagen, als es Windakiewicz tat. Zu 
ergänzen: Ligockis „O Don Kiszocie błękitnym“. Es folgt eine Zusammen- 
stellung der geschichtlichen und literargeschichtlichen Arbeiten über spa- 
nische Themen. Meine dabei zitierte Studie über Unamuno ist im „Czas“ 
vom 2. und 24. April, nicht im Sommer, erschienen. Den Beschluß bildet 
ein Kapitel über Polen und das portugiesische Sprachgebiet. Der Ruf nach 
Pflege der iberischen Kulturkunde wird in Polen sicher Gehör finden. 

Otto Forst-Battaglia. 


Polnische Anglistik der Gegenwart. 

Roman Dyboski: Polska historja romantyzmu angielskiego. 
(Eine polnische Geschichte der englischen Romantik) Przeglad 
Współczesny Bd. 26 (1928), S. 140— 152. 


Stanislaw Helsztyfiski: Polish Autors on English Matters. 
Pologne Littéraire 1928, Nr. 21. 


Wladislaw Tarnawski: Rezension von Andrzej Tretiaks 
„Literatura angielska w okresie romaniycznym“. Ruch Literacki 
Bd.3 (1928), S. 128— 180. 


Nicht ohne Zusammenhang mit der politischen Entwicklung — die An- 
näherung an England ist einer der Hauptpunkte im Programm des Mar- 
schalls Pilsudski — ist seit einigen Jahren ein starkes Aufblühen der pol- 
nischen Anglistik zu bemerken. Die Professoren Dyboski, Tretiak, Tar- 
nawski, dann Stanislaw Helsziyfiski haben zahlreiche Bücher, Broschüren 
und Artikel veröffentlicht, die durchwegs auf sehr hohem Niveau stehen. 
Der englische Aufsa& von Helsziyfiski in der „Pologne Littéraire“ führt 
außer den standard works auch eine Anzahl bedeutender Monographien an, 
so „Shakespeare”-Bücher von Pinifiski und Dyboski, die älteren Schriften 
von Windakiewicz und Szyjkowski über den Einfluß der englischen auf die 
polnische Literatur. Dyboskis und Tarnawskis Besprechungen von Tretiaks 
Geschichte der englischen Romantik sind reich an wertvollen Ergänzungen 
und Anregungen, stimmen übrigens in der verdienten Anerkennung für das 
schöne Buch des Warschauer Professors überein. 

Otto Forst-Battaglia. 


Das Ausland über Polen. 


Juljan Krzyżanowski: Z polonikéw angielskiech. (Englische 
Polonica.) — Przeglad Wspölczesny Bd. 26 (1928), S. 334— 340. 


Roman Pollak: Polonica włoskie. (Italienische Polonica.) — 
Ibid. Bd. 25 (1928), S. 316 f. 


Stanislaw Wedkiewicz: Z motywów polskich w publicystyce 
francuskiej. — Ibid. Bd. 25 (1928), S. 318—324; Bd. 26 (1928), 
S. 341—352. 


Die Randbemerkungen zu fremden Veröffentlichungen über Polen sind 
sehr dankenswert, wenn sie von so kundiger Seite geschehen, wie im 
„Przegląd Współczesny“. Krzyżanowski stellt am Beispiel eines englischen 
Handbuchs von Magnus fest, wie wenig der gebildete Engländer von Polen 
weiß — es drängt sich der Vergleich mit den sehr ähnlichen Verhältnissen 
in Frankreich auf, wo Van Tieghem ganz in den Bahnen von Magnus wen- 
delt. — Er verzeichnet hernach die polnischen Aufsäbe in der „Slavonic Re- 


285 


view“. Zur Ergänzung noch der Hinweis auf die sich mehrenden polnischen 
Artikel in der berühmten Kunstzeitschrift „The Studio“. Pollak analysiert in 
derselben Weise die „Rivista di letterature slave“ und lobt besonders die 
Arbeit Mavers über Slowacki. . 
Weit reichlicher sind freilich die, wie stets, von stupender Belesenheit 
zeugenden Notizen Wedkiewiczs. Sie betreffen des Grafen Comminges 
„Blerancourt“, dann wenig aufregende und mit eleganter Ironie abgefer- 
tigte Romane von Dunois, Dekobra, St. Yves, P. Girard. Der Streit Ossen- 
dowski-Montandon (was Wedkiewicz übersah, in den „Nouvelles Littéraires“ 
protokollarisch festgehalten), der Bohémien Zborowski, von dem Carco be- 
richtet, Floquets „Vive la Pologne, Monsieur“ (Wedkiewicz eniging, was 
darüber Wiadystaw Mickiewicz in seinen Denkwürdigkeiten schreibt: er 
trägt es im Przegląd Współczesny 25, 508 nach), Abouts Konflikt mit Klaczko 
und die angebliche polnische Herkunft Jules Vernes bilden den Gegenstand 
weiterer Glossen. Paléologue, der französische Botschafter in Petersburg, 
wird anläßlich seiner Wahl in die Akademie als Polenfeind und mittelmäßiger 
Literat geschildert. Endlich bringt Wedkiewicz, als Ergänzung zu Janiks 
»Geschichte der Polen in Sibirien“ Stellen aus Vigny und Amiel, die von 
polnischen Verbannten handeln. Otto Forst-Battaglia. 


JanParandowski. 

Jözef Aleksander Gałuszka: Klejnot prozy polskiej. (Ein 
Kleinod polnischer Prosa.) Tecza 1928, Nr. 7. 
Enthusiastische Würdigung der großen formalen Vorzüge von Parandow- 


skis Griechenlandbuch „Dwie wiosny“, die im weiteren Umfang der gesamten 
Leistung des ausgezeichneten Hellenisten gilt. Otto Forst-Battaglia. 


Edward Chwalewik: Zbiory polskie. 

Kazimierz Kaczmarczyk: Rezension von Edward Chwale- 
wiks „Zbiory polskie“. Kwartalnik Historyczny Bd. 42 (1928), 
S. 87—100. 


Ungemein wichtige und gewissenhafte Besprechung des in diesen Jb. 
angezeigten Werkes (vgl. Jb. NF. 4, 85 ff.), die sich hauptsächlich mit den 
polnischen Archiven beschäftigt. Otto Forst-Battaglia. 


Stanistaw Brzozowski. 

Józef Czapski: O Towarzystwo im. Stanislawa Brzozowskiego. 
(über eine Brzozowski-Gesellschafi.) Wiadomości Literackie 
1928, Nr. 28. 


Aufforderung, eine Vereinigung von Freunden des verstorbenen Kritikers 
zu bilden, in dem Czapski, wie manche andere, den lebten Vertreter einer 
schöpferischen Kritik erblicken. Otto Forst-Battaglia. 


Jerzy Kossowski. 
Walerjan Charkiewicz: Na ostainim szafıcu. (Auf der le$- 
fen Schanze.) Przeglad Powszechny Bd. 178 (1928), S. 306—318. 


Tragikomische Beiträge zur Geschichte der von Rußland erzwungenen 
Union in Litauen. Es handelt sich hauptsächlich um den Krieg, den die 
Gattinnen der zwangsbekehrten Priester und Laien gegen die Russifikation 
und gegen das Schisma führten. Ein wichtiges Kapitel in diesem Krieg bildet 
der Kampf um den Bart. Die meist polnisch-adeliger Herkunft sich rühmen- 
den Kleriker weigerten sich, äußerlich den verachteten Popen zu gleichen, 


286 


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1 5 


bei diesem Widerstand von ihren besseren Hälften unterstüzt. Der Erz- 
bischof Siemaszko sucht mit List und gelegentlich mit Gewalt die Wider- 
spenstigen zu zähmen. Otto Forst-Battaglia. 


Stanislaw Wasylewski: O wpływie mody na jezyk polski. 
(Vom Einfluß der Mode auf die polnische Sprache.) Tecza 1928, 
Nr. 1. 


„Dahin sind die Trachien, sie kamen nicht nur aus der Mode, sondern 
es verschwand im Meer der Zeit sogar die Spur ihrer Benennungen. Trob- 
dem blieb im Sprachschab die ewige Erinnerung an sie wach, es blieb das 
Wort, das suggestiv auf die Einbildungskraft der Massen wirkt.“ Zu dieser 
auch aus anderen Sprachgebieten genugsam bekannten Tatsache bringt 
Wasylewski einige treffende Illustrationsfakten aus Polen. In der geist- 
reichen Untersuchung vermissen wir ein Wort über die Spuren nationaler 
Wechselwirkung, die auf dem Umweg über Sprache und Mode sich, oft 
ungeahnt, aus irgendeiner versteinerten Redewendung ergeben. 

Otto Forst-Battaglia. 


M. Kacprzak: O sianie zdrowia publicznego w Polsce. (Uber 
den Stand der öffentlichen Gesundheit in Polen) Przeglad 
Powszechny Bd. 179 (1928), S. 58—90. 


Besagter Stand stellt sich als sehr betriiblich heraus. Nach den Epide- 
mien, die im Gefolge des großen und des russisch-polnischen Krieges auf- 
traten, ist Polen noch immer von Seuchen, wie dem Fleck- und Bauchtyphus, 
der Ruhr geplagt, die eine Begleiterscheinung der allgemeinen Unreinlich- 
keit sind. Die staatlichen Organe kämpfen aufopfernd und heroisch gegen 
die Indolenz der meisten lokalen Behörden, gegen den cingewurzelten 
Schmut der Kleinbürger, Bauern und Juden. Kacprzak macht mit seiner 
Studie im jahre 1927 halt. Seither hat der gegenwärtige Innenminister mit 
verdoppelter Kraft die Gesundung Polens in Angriff genommen. Während 
in den ehemals deutschen Gebieten die sozialen Verhältnisse und die Kultur 
auf einer so hohen Stufe stehen, daß die sanitäre Lage der Mitteleuropas 
gleicht, steht im verschlampten Galizien und besonders in den halbasiati- 
schen, unter der russischen Tradition lebenden Ostprovinzen der Regierung 
ein harter Strauß bevor. Auch die venerischen Krankheiten, ein anderes 
Kriegserbstuck, machen genug zu schaffen. Otto Forst-Battaglıa. 


Kaschubische Literatur. 


RajimundBergel: Kaszubska literatura gqwarowa. (Die kaschu- 
bische Dialekiliteratur.) Tecza 1928, Nr. 28. 


Nach spärlichen Bruchstücken um die Mitte des 19. Jahrhunderts beginnt 
sich das kaschubische Schrifttum um die Mitte des 19. Jahrhunderts zu regen. 
Florian Ceynowa (1818—1881) gibt eine volkskundliche Zeitschrift heraus, 
Hieronym Derdowski (1852—1902) erringt zuerst als Dichter einen Namen. 
Aleksander Majkowsk vereinigt unter den lebenden kaschubischen Schrift- 
stellern beides, die publizistische und die dichterische Begabung. Budzirza 
und Sedzicki sind an zweiter Stelle zu nennen. Als Hauptmotiv der kaschu- 
bischen Poesie findet Bergel das patriotische des Gemeinschaftsempfindens 
mit Polen: „Me Kaszube, jesz strzezeme Polsci morskich granic“ und „Nima 
Kaszub bez Poloni, a bez Kaszub Polści“. Otto Forst-Battanlia. 


Ilja Ehrenburg: „In Polen“. — Krasnaja Nov’, Febr./März 1928. 


Der bekannte Schriftsteller Ehrenburg erzählt über seine Eindrücke in 
Polen. Polen klagt über eine schwere Erbschaft, die des caristischen Ruß- 


19 NF 6 287 


lands. Diese Erbschaft hat Polen voll angetreten, aber nur im negativen 
Sinne; es hat die Methoden des Kampfes mit politischen Feinden und Fremd- 
stämmigen übernommen. Die russische Kultur ist aber vollkommen zerstört; 
es existieren keine russischen Bibliotheken, keine russischen Schulen mehr; 
die russische Sprache wird verfolgt. Nur in den deutschen Schulen in Lodz 
wird die russische Sprache unterrichtet. Über Rußland weiß man in War- 
schau weniger als in Berlin. Es ist unmöglich, in Warschau Zeitungen aus 
Sovet-Rußland zu bekommen. Und doch ist der Einfluß Rußlands enorm. 
Nach einer Umfrage der Zeitschrift „Wiadomości literackie“ in Krakau be- 
steht das größte Interesse in Polen für die alte russische Literatur. Der 
polnische Dichter Tuwim übersetzt das Igorlied. 

Die Lodzer Fabrikanten aber erinnern sich mit Wehmut: „Ja, es waren 
Zeiten. Da kam Mitrofanov oder Vlasov: gib alles her.« jezt kommt ein 
Rumäne — und kauft ein paar Meter.“ Ehrenburg sieht einen inneren Zu- 
sammenhang der beiden großen slavischen Völker. Der französische 
Schrifisteller Luc Durtain behauptet, das andere Europa beginne irgendwo 
neben Lodz. „Die Negerstämme können untereinander hadern,“ sagt Ehren- 
burg, „es bleiben doch dieselben Neger.“ Der Chauvinismus der Polen ent- 
setzt den russischen Schriftsteller. Der Russe, der Deutsche, wie scharf und 
treffend bemängeln sie das Eigene! Den Polen entzückt alles Polnische. 
Die Werke des englischen Schriftstellers Konrad werden in den Himmel 
N weil er polnischer Abstammung war, obwohl er nie auch nur eine 

eile polnisch geschrieben hat 

Ein Heldenkultus lebt in der polnischen Gesellschaft, daher die fast 
krankhafte Schwärmerei für Pilsudski. 

Das Leben des polnischen Schriftstellers ist schwierig. 5000 verkaufte 
Exemplare sind ein großes literarisches Ereignis. Die polnische Literatur 
ist nur lokal, sie hat keine europäische Bedeutung. Und doch erwähnt 
Ehrenburg auch interessante Talente, das eines Hetel, eines Kaden- 
Bandrowsky, mit seinem schönen Buch: „Miasto matki mojej,“ die feine 
Ironie eines Slonimski. Besondere Sympathie erweckt in Ehrenburg der 
Dichter Tuwim, den er vom Stamme Tollers oder des Russen Pasternak 
nennt. Aber trob der großen Reklame der „La Pologne Litteraire“ für die 
polnische Literatur gibt es in Polen weder einen Gorkij, noch einen Thomas 
Mann, noch einen Duhamel. 

Ehrenburg besuchte auch Lodz. Die Ruhr, Lille, Charleroi, sämtliche 
Fabrikstadte des Westens sind ihm Idyllen im Vergleiche mit Lodz. Hier 
sieht man nur Hasten und Rennen. „Drei Waggons“, „Scheck New-York", 
das sind die einzigen Unterhaltungen, die man in den Siraßen vernimmt. 
Neben Palästen der Millionäre haust hier unglaubliches Elend, das ans 
XV. Jahrh. erinnert. 50% der arbeitenden jüdischen Bevölkerung sind tuber- 
kulos. Und kein Wunder bei einem Verdienst von 20 zi. die Woche und 
einer Ernährung ausschließlich durch Heringel Lodz kann mit Europa nur 
durch Billigkeit seiner Waren konkurrieren. Diese Billigkeit wird aber nur 
durch schlechte Arbeitslöhne erreicht. 

Ehrenburg besuchte auch Krakau, und es versebte ihn in Entzücken; nicht 
die kleine österreichische Stadi, sondern der Wawel. Wenn man am Wawel 
steht, versteht man die vergangene historische Größe Polens; nur eine Groß- 
macht konnte so etwas erbauen. Und wenn man den Markiplag sieht, ver- 
steht man, daß Polen doch zur westeuropaischen Kultur gehört: dieses 
Latein, das Polen verstand, schuf den großen Unterschied zwischen ihm und 
Rußland, zwischen Wawel und Kreml. Tragisch findet Ehrenburg die Lage 
der Juden. Sie haben auf dem Papier sämtliche Bürgerrechte. Die Wirk- 
lichkeit kennzeichnet ein Anschlag an einem Kloster: „Eintritt Juden und 
Hunden verboten.“ 

Ehrenburg interessierte sich für den Chassidismus. Im XVII. Jahrh. er- 
scholl aus den dumpfen Ghettomauern zwischen Weinen und Klagen auf 
einmal der Ruf: „Es lebe das Leben.“ Das war der in Chelm entstandene 
Chassidismus, eine Bewegung wie die der Franziskaner im Katholizismus, 
wie das ,,staréestvo" bei den Orthodoxen: die tote Erfüllung des Geseges 


288 


sei unwichtig, wichtiger als alle Religionssitten sei die Reinheit des Gefuhls. 
Man kann zu Gott beten, nicht in der Synagoge, sondern im Walde. Man 
braucht nicht zu trauern und zu ‘ok n. Man muß sich freuen, denn in der 
Freude nähert sich der Mensch Gott. Diese neue Bewegung gewann alle 
Träumer, alle Dichter, auch alle Verrückten. Die Chassiden wollien das tote 
Buch durch die Erfahrung erseben. Nicht die Buchstaben sollten Führer sein, 
sondern Menschen, heilige Menschen, die „Zadiks“. Aber der Chassidismus 
schuf eine Erbschaftsfolge; der Sohn des Zadik wurde auch als Zadik ver- 
ehrt. Das war gegen die Gesebe der Natur. E. erwähnt bedeutende unter 
diesen Zadiks; in den 60er bis 70er Jahren wohnte in Kozk ein Zadik, dessen 
Lehre an die Philosophie Dostoevskijs erinnert. Er segnete vor seinem 
Tode auch die Sünde. 

E. erwähnt auch die Chassiden aus dem kleinen Städtchen Brazlau, 
deren Zadik ein wahrer Poet und Philosoph war und keinen Nachfolger 
hatte. Dieser Zadik war ein Prophet der jüdischen Armen. Den Gottes- 
dienst dieser Brazlauer Chassiden besuchte E. in Warschau. Ihn über- 
raschte das Singen und Tanzen der Gläubigen, das ihn an die russischen 
Sektierer erinnerte. 

_ Einen anderen Zadik der Armut besuchte E. persönlich in Warschau und 
bringt nun viele seiner schönen, tiefen Aussprüche: „Die Armut ist der We 
zu Gott.” „Gott hat viele Gewänder, doch umhüllt Er sich nur mit dem Gebe 
des Armen.“ „Was ist Paradies und Hölle? Nach dem Tode erlebt der 
Mensch sein ganzes Leben. Die Freude über die von ihm geschenkte 
Liebe — das ist das „Paradies“. Und die Hölle? Die Hölle ist die Reue.” 
Ein Zadik anderer Kreise ist der ,Gerer“ Zadik, der im Städichen „Góra 
Kalvarja“ residiert. Die Verehrer dieses Zadik rekrutieren sich aus wohl- 
habenden jüdischen Kreisen. Er ist selbst Millionär, besibt in Lodz eine 
eigene Bank. Er verfügt bei den Wahlen über 50000 Stimmen. Der Wert 
seiner moralischen Persönlichkeit ist gering, er gilt allgemein für käuflich. 
E. besuchte das Städichen am Freitag, an einem Tage, wo die Verehrer den 
Rabbi aufsuchten. Eine große Zahl reicher jüdischer Kaufleute war aus 
allen Ecken Polens herbeigekommen. E. wohnte der Zeremonie der 

iraim“ bei, einer Zeremonie, bei der die Speisereste des Rabbi an die 
Gläubigen verteilt wurden. Solche Speisereste, denen man eine wunder- 
tätige Kraft zuschreibt, werden mit schwerem Gelde bezahlt. 

E. kam auch mit der jungen jüdischen Intelligenz zusammen und lernte 
die Vertreter der jüdischen Literatur kennen. Er findet, daß diese Literatur 
noch zu jung sei und die Kulturstufe des jüdischen Volkes noch nicht erreicht 
habe. „Das jüdische Volk ist älter, höher, reicher und vielseitiger als die 
jüdische Literatur,” sagt E. Dadurch erklärt er das Interesse der jungen 

für Überseßungen. Besonders gilt das Interesse des Judentums der 
russischen Literatur; die polnische berührt sie kaum. Die Juden suchen eine 
Antwort auf allgemein menschliche Fragen, die lokale, eng-nationale pol- 
nische Literatur kann sie nicht befriedigen; die russische Literatur ist aber 
eine Antwort auf alle menschlichen Probleme. 

Was ist der Gesamteindruck E.s? Er nennt Polen das Land eines vom 
Größenwahn erfaßten Volkes, hofft aber, daß nach der Genesung von dieser 
Krankheit Polen andere Wege betreten werde. N. Jaffe. 


NEKROLOGE 


lv. D. SiSmanov t. 


Am 22. Juni 1928 starb während des internationalen Kongresses des 
Pen Klubs in Oslo, fern von der Heimat, der bulgarische Literarhistoriker 
Iv. D. SiSmanov, Professor für vergleichende Literaturgeschichte an der 
Universität in Sofia. SiSmanov wurde geboren am 22. Juni 1862 in SviStov. 
Als er die höhere Ausbildung in Osterreich und Deutschland hinter sich 
hatte, bereiste er studienhalber Frankreich, Italien und Rußland und kehrte 
mit einer wirklich europäischen Bildung und einem an ro geistigen 
Horizont in die Heimat zurück. Hier war er zunächs Gymnasiallehrer 
tätig, bis er als Vorstand (naéalnik) in der Sektion. für Mittelschulwesen 
und als Hauptinspektor (glaven inspektor) in die Schulverwaltung ins 
Unterrichtsministerium berufen wurde, in welcher Funktion er sich für den 
Ausbau des höheren Bildungswesens in Bulgarien große Verdienste erwarb. 
Als Unterrichtsminister (1905-7) sorgte er dafür, daß es zur Errichtung je 
einer Lehrkanzel für germanische und romanische Philologie in Sofia kam. 
Als es 1925 auf der niversität in Sofia zur Vereinigung der germanischen 
und romanischen Philologie in eine eigene Abteilung „Nova filologije i 
literatura” kam, wurde er Chef dieser Abteilung. Als ordentliches itglied 
der bulgarischen Akademie der Wissenschaften war er Vorsitzender der 
historisch-philol Ra Abteilung. Ferner war er Präsident des ugs 
rischen Pen Klu 1918-19 war er bevolimachtigter Minister in der 
krame, hernach bis 1924 Professor in Freiburg im Breisgau. 

Was Sišmanovs na ee literarische Tätigkeit und Bedeutung 
betrifft, so ist zu sagen, daß er der Erforschung der neueren bulgarischen 
Kultur-, Literatur- aus 5 und ihrer Zusammenhänge mit dem 
übrigen 5 en Kulturleben bahnbrechend die Wege gewiesen hal. 

Sein dsr heat itsgebiet war die neuere bulgarische Literaturgeschichte und 
Folklorishk, ferner allgemeine Literatur- und Geistesgeschichte. In dieser 
Hinsicht beschäftigte er sich besonders eingehend mit der italienischen 
Renaissance, mit dem französischen Klassizismus und dem germanischen 
humanistischen Idealismus und hielt auch allgemeinkulturgeschichiliche Vor- 
lesungen über Dante, Shakespeare und Voltaire. Wie gut er die west- 
europäische, vor allem deutsche wissenschaftliche Literatur kannte, beweist 
auch sein vor einigen Monaten erschienener Aufsatz in der Bigarska Istori- 
česka Biblioteka, God. I, T. I, S.145—94 (Sofia 1928), in dem SiSmanov 
synthetisch die westeuropäische und die bulgarische Wiedergeburts- 
bewegung in den wesentlichen Zügen vergleicht und zeichnet. — In seinen 
Arbeiten zur neueren bulgarischen Kultur- und Geistesgeschichte untersucht 
Siämanov mit seiner psychosozialen Methode den Ursprung und den Verlauf 
der Ideen und Tendenzen in der reg ze Literatur von Paisije bis 
zur Gegenwart. Er legte die organische Entwicklung des neueren Bildungs- 
wesens, der politischen und Kulturideale, in einer Periode von 100 Jahren 
bei dem Übergang zweier großen Epochen, der älteren Epoche eines Aprilov, 
Fotinov, Neofit Rilski, Neofit Bozveli, Mamarcov und Beron einerseits, der 
jüngeren Epoche eines 5 Slaveikov, 1 Makimpolski, Krsfovič 
Botjov anderseits, dar. Er zeigte den Gang und die Mittel der legalen und 
der revolutionären Kämpfe um die geistige, kirchliche und politische Frei- 


290 


heit der Bulgaren im 19. Jahrhundert auf und stellt die erreichten Resultate 
als objektiv und subjektiv notwendige Folgen der allgemeinen historischen 
Bedi gen, Temperamente und Ideologien hin. Seine Hauptleistung war 
die tige Erforschung der bulgarischen Wiedergeburtsepoche, des 
vazraidane. 

In seinem zweiten este boners aan in der Arbeit an der Erforschung 
der reichen bulgarischen Volksliteratur, der Volkslieder, Sagen, Märchen 
vnd Legenden sowie des allgemeinen volkskundlichen Tatsachenmaterials, 
war er Anhänger der vergleichenden Methode. Durch eine Reihe folklori- 
stischer und az Studien hat er als erster Licht in das 
Chaos der Mythen, der Überlieferung, des Volksglaubens und der Bilder 
der Volksphantasie gebracht. Schon eine seiner ersten Arbeiten auf diesem 
Gebiete, die in deutscher Sprache erschienene Studie: „Der Lenorenstoff 
in der bulgarischen Volkspoesie“, Straßburg 1894 (SA aus den Indogerma- 
nischen Forschungen IV), in der auf breiter, vergleichender Basis der Ur- 
sprung, die Grundidee des Lenorenstoffes, sowie das genealogische Ver- 
halinis und die Wanderung desselben untersucht werden, war diesem 
Problem gewidmet und zeigt die weite Beherrschung des gesamten Ver- 
gen erials. SiSmanov hat den Ursprung, die Genesis und die reale 

deutung einer Reihe von Motiven nicht bloß der bulgarischen, sondern 
auch der gesamten Balkanfolklore klargelegt. Er war der eigentlidie 
Gründer des volkskundlichen wissenschaftlichen Sammelor des Sbornik 
za Narodni Umotvorenija, jahrelanger Redakteur dieser anfangs vom Unter- 
richtsministerium, später von der bulgarischen Akademie herausgegebenen 
Publikationsreihe und erzog in dieser Tätigkeit eine ganze Reihe page 
bulgarischer volkskundlicher Forscher. — Seine wissenschaftlichen Arbeiten 
erschienen zum Hauptteil in dem oberwähnten volkskundlichen Sbornik 
Sb. N. U.), dann in Sbornik der Akademie (Sb.B.Ak.N.), ferner in ver- 
schiedenen Zeitschriften, vor allem in Bigarski Prégled, dann in der heute 
noch erscheinenden, sehr ut redigierten, außerordentlich materialreichen 
Kulturzeitschrift Blgarska Mis], dann im Učilišten Prégled, ferner arbeitete 
SiSmanov auch in deutschen Organen mit, so in dem seinerzeitigen „Bulga- 
rischen Echo“, ferner im Archiv für slavische Philologie. 

‚In der ihm anläßlich des jährigen Jubiläums seiner wissenschaftlichen 
Tätigkeit 1920 gewidmeten Festschrift werden 214 wissenschaftliche Arbeiten 
aufgezählt. Hier_seien nur seine wichtigsten größeren Arbeiten erwähnt: 
I. Folklore und Ethnographie: 1. Znacenieto i zadalata na naSata eino- 
grafija. Sb.N.U. 1, 1—65; 2. Prinos käm it he narodna erie ier 
Sb. N. U. IX, S. 445—648; 3. Der Lenorenstoff etc. (siehe oben); 4. Glick 
und Ende einer berühmten literarischen Mystifikation: Veda Slovena. 
A. f. sl. Ph. XXV, S. 580-611; 5. Kritičen prégled na väprosa za prabligarité 
ot ezikovo glediScé i etimologiité na imeto „bigarin“. Sb. N. Ul. XVII, S. 505 
bis 754. — Il. Geschichte der Wiedergeburt: 6. Paisij i negovata epocha. 
Sp.B.A.N. VIII, S. 1—18; 7. Studii iz oblast’ta na bigarskoto vdzrazdane. 
Sb. B. A. N. VI, S. 1—221, ferner XXI. — Dazu kommen eine ganze Reihe 
kleinerer Studien, ferner Aufsätze über bulgarische Kultur- und Erziehungs- 
fragen, Rezensionen und Kritiken, die allein Bände füllen. 

SiSmanovs Bedeutung liegt nicht nur in seiner wissenschaftlichen und 
akademischen Lehrtätigkeit, sondern auch in seiner Tätigkeit im öffentlichen 
Leben. SiSmanov war kein Stubengelehrter, sondern ein Mann, der ständig 
aktiv Anteil nahm am Öffentlichen, vor allem am kulturellen Leben seiner 
Zeit und seines Volkes. Als ihm vor 25 Jahren das Amt eines Unterrichts- 
ministers anvertraut wurde, zeigte er sich als Vertreter einer großzügigen 
Kulturpolitik und einer von jeder parteimäßigen Engherzigkeit freien poli- 
tischen Toleranz, als Vertreter des Humanitats-, Toleranz~ und Fortschritts- 
gedankens, damit als Gegner der alten aus der Türkenherrschaft und dem 
geistigen und politischen Kampf gegen die geistige Knechtschaft unter den 
Phanarioten stammenden brutalen Methoden; als Vertreter eines gesunden, 
aus der seelischen Verbundenheit mit der heimatlichen Scholle erwach- 
senden und die Tradition der patriarchalischen Entwicklungsepoche der 
weiteren Volksschichten achtenden Nationalismus, als „fanatischer Anhänger 


291 


des bulgarischen nationalen Genius“ wie er selbst gelegentlich sagte (vgl. 
Bigarska Mis! Ill, S. 601). Er war durchdrungen von dem Glauben an die 
kulturellen Fähigkeiten der Bulgaren und an ihre Mission in der Geschichte 
der Menschheit. Aus diesem uben heraus unterstützte er in jeder Weise 
alle die, welche an dem Fortschritt der nationalen Kultur tätig waren, schickte 
junge abte Lehrer, Schriftsteller, Künstler zur Spezialisierung und 
weiieren Ausbildung ins Ausland. Bei aller Anerkennung der Bedeutung 
955 litischen Selbständigkeit war er sich doch bewußt, die Weckung 
ermehrung der intellektuellen Kräfte eines Volkes von ebenso wesent- 
licher Bedeutung für seinen Weiterbestand waren: Er war der Griinder 
einer Reihe bulgarischer Kulturinstitutionen und arbeitete in den lebten 
40 Jahren unermüdlich daran, die Bulgaren zu einem Sleichberedikigien Glied 
der europäischen Kulturfamilie zu erziehen. — Bei alledem war Siämanov 
als geistige Persönlichkeit kein nationaler Chauvinist, sondern ein be- 
geisterter eee der kosmopolitischen Ideen und der neuen paneuro- 
ischen Bewegu Beim Paneuropäischen Kongreß in Wien vor einigen 
en vertrat er garien. Wie Herder war SiSmanov der Anschauung. 
es Volk einen Organismus mit eigener Physiognomie und mit dem 
Rechte auf eigene Existenz und auf Weiterentwicklung seiner e 
Charakterzüge darstelle. Er trat für die Aufnahme westeuropäischer Kul- 
turelemente ein und sein Ideal war eine Synthese der b rischen mit den 
westeuropaischen Kulturelementen. Ebenso wie der große Dichter Pento 
ouie Eur vertrat auch er den Standpunkt: Wir müssen gute Bulgaren und 
uropacr werden. ). Mati 


Vjekoslav Kiaić. 


Am 1. Juli 1928 starb in Agram eb) im 79. Jahre seines Lebens der 
Nestor der kroatischen Geschichisfor ung Vjekoslav Klaić. Klaić stammt 
aus einer slavonischen Lehrerfamilie, geboren 28. 7. 1849 in Garčin bei 
Slavonisch-Brod. Die ersten drei Klassen Gymnasium maie q in Wa- 
rasdin, die nächsten drei in Agram, wo er Jagić und den P 
A. Weber zu Professoren hatte. Mit 14 Jahren frat er in das A 
Klerikat ein, wo er vier Jahre (1863—67) verblieb und die 7. und 8. 
Gymnasium und die ersten zwei Jahrgänge Theologie machte. In diesa 
Zeit las er sich in die kroatische belletristische Literatur ein, daneben las er 
am liebsten historische Werke, vor allem Abhandlungen von Racki und 

ukuljeviec. Im 2. Jahrgang trat er aus der Theologie aus, um sich dem 
Lehrberuf zu widmen. Nachdem er zwei Jahre (1867—69) als Supplent am 
Warasdiner Gymnasium tätig gewesen war, wurde er 1869 von 
kroatischen Landesregierung nach Wien geschickt, um dort Geschichte und 
Geographie an der Wiener Universität zu hören und die Lehramispriifung 
aus diesen Fächern abzulegen. In Wien studierte er bei Aschbach, Jäger, 
Lorenz und Sickel. Bei Aschbach lernte er die Methode kritischer Unter- 
suchung historischer Denkmäler, bei Sickel Paläographie, Chronologie und 
historische Diplomatik, bei Jäger österreichische Geschichte. N Ablegung 
der Professursprüfung in Wien (1873) wurde er zum Professor am Agramer 
Gymnasium ernannt. Als 1878 der Professor für kroatische Geschichte an 
der Agramer Universität Matija Mesić starb, wurde Klaié berufen, der 
1879—82 als Supplent für dieses Fach fungierte. Nach Ernennung des älteren 
Smičiklas zum ordentlichen Professor für kroatische Geschichte mußte 
Klaié wieder in die Mittelschule zurückkehren. Doch zwei Jahre später 
(1884) wurde er wieder und zwar als n für „ der 
Südslaven an die Universität berufen. Als die 
kroatischen Kultuschefs Kršnjavi eine zweite en für allgemeine oe 
schichte errichtet worden war, wurde Klaić 1893 zum ordentlichen 1 
für allgemeine Geschichte ernannt. In dieser Stellung war er 29 jahre, bis 
zu seiner Pensionierung im Jahre 1922 tätig. Während Nodilo, der die erste 
Lehrkanzel für allgemeine Geschichte innehatte, alte und mittelalterliche 


292 


Geschichte vortrug, trug Klaić neuere vor. Nach seiner Ernennung zum 
ordentlichen Professor an der Universitat hatte Klaić endlich die Möglich- 
keit, sich gonz der Erforschung der kroatischen Gebiete zu widmen. Die 
jugoslavische Akademie ernannte ihn 1893 zum korrespondierenden, 1896 
zu ihrem wirklichen Mitglied. 1922 wurde ihm von der Prager &echischen 
Universität das Ehrendoktorat verliehen. 

Sein wissenschaftliches Arbeitsgebiet umfaßte die ganze kroatische Ge- 
schichte, und zwar politische, Kultur-, Sozial- und Rechtsgeschichte, ferner 
kroatische und jugoslavische Geographie. Methodisch gehört Klaić der 
positivistisch-kritischen Richtung an, und zwar war er ein Vertreter der 

enetischen Schule. Seine literarische Tätigkeit begann Klaić als Hörer 

er Wiener Universitat mit Aufsäßen zur slavischen Geschichte (über den 
Gott Svetovit und über König Samo, Vijenac 1870) und von diesem Jahre 
an war er bis zu Ende seines Lebens, also 58 Jahre, unermüdlich literarisch 
tätig. Da es an einer Bibliographie der kroatischen Geschichtswissenschaft 
fehlt und ein Großteil der Zeitschriftenaufsäße von Klaić auch heute noch 
für den Historiker Wert besiben, seien im Folgenden auch seine in Zeit- 
schriften verstreuten Aufsäße aufgezählt: Zunächst veröffentlichte Klaić 
mehrere kleinere Studien zur älteren kroatischen Geschichte im Vijenac 
1871—74: „Oporuka 0 Dr2islavica“, „Dmitar Svinimir, kralj 
hrvatski", „Petar Kresimir IV. Veliki“ (alle drei 1874); „Smrt kralja Svini- 
mira“, „Seoba Hrvata“, „Hrvatska Straža u Spaniji“ (1872); „Deter Svačić, 
pösljednji kralj hrvatski“, „Pavao Šubić i sin mu Mladen“ (1873), „Matija 
Gubec“ (1874). In dieser Zeit war Klaić auch belletristisch tätig und ver- 
Offentlichte im Vijenac 1873—74, später auch in der „Hrvatska Lipa” 
Gedichte und Novellen. Im Jahre 1875 übernahm Klaić die Redaktion des 
belletristischen Organs „Hrvatska Lipa“, in dem er neben literarhistorischen 
Skizzen (über die Technik in dem Epos Smrt Smail age Cengiéa, über den 
Vers der kroatischen Volkslieder) eine historische Studie: „Tomislav“ 
brachte. In den folgenden Jahren kehrte Klaić wieder zum Vijenac zurück 
und wir finden 1876—79 folgende historische und geographische Studien von 
ihm: „Grobničko polje“, „Potres Dubrovnika“, ,Otok Brač“ (1876); „Simeon 
Veliki, car bugarski“, „Petar Veliki“, „Jaice u Bosni“ (1877). im gleichen 

r gab die Matica Hrvatska sein geographisches Werk „Prirodni zem- 
jopis Hrvatske” heraus, im folgenden Jahre seine große Geographie Bos- 
niens: „Zemljopis Bosne“. Im Vijenac 1878: „Tri erte iz hrvatske povijesti 
XII. stoljeća“, ferner geographische Aufsätze: „Nehaj grad u Arbaniji.‘, 
„Bitolj“, „Maglaj“, „Banjaluka“, „Travnik“, „Ključ“, „Trebinje“, die Auszug 
aus seinem obgenannten geographischen Werk über Bosnien darstellen. im 
Vijenac 1879: „Stjepan Kotromanić“, ,Podatci za povijest grada Osijeka“. 
Daneben schrieb Klaić in den 70er Jahren und später in den 80er Jahren 
noch, mehrere historisch-geographische Schulbücher. Nach langer Vor- 
bereitung erschien 1880-85, herausgegeben von der „Hieronymus-Oesell- 
schaft“ (Društvo sv. Jeronima) Klaić’ historisch-geographische Beschreibun 
der kroatischen Länder „Opis zemalja, ukojih stanuju Hrvati 
in 3 Bänden. Der erste beschreibt Kroatien-Slavonien und die Militär- 
grenze, der zweite Band Dalmatien, der dritte die kroatischen Ansiedlungen 
ın Ungarn, Österreich, Mähren und Süditalien. Das Werk wurde mit großer 
Freude aufgenommen und trug viel zur intensiveren Kenntnis der einzelnen 
kroatischen Gebiete untereinander bei. Nach eingehender Erforschung der 
een zur bosnischen Geschichte brachte Klaić 1882 die erste kritische 

schichte Bosniens heraus „Povijest Bosne“, die auch ins Deutsche 

Ungarische übersetzt wurde und erst in neuester Zeit durch die Arbeiten 
Prelogs und VI. Corovié teilweise überholt wurde. Von politischer Be- 
deutung ward die Abhandlung „Slavonija od 10. do 13. stoljeća“ (Vijenge 
1882), in der gegen die madjarısche These nachgewiesen wurde, dak Slavo- 
nien schon vom 10.—13. Jahrhundert ein kroatisches Land war. Die Abhand- 
aoe rae auch von Bojničić ins Deutsche übertragen. 1883—90 war Klaić 
Redakteur des in jener Zeit führenden kroatischen Kulturorgans Vijenac. 
Hier brachte er neben ständigen Notizen über das kroatische wissenschaft- 
liche, künstlerische und literarische Leben auch eine Reihe weiterer Stu- 


dien: „General Matija Rukavina u Trogiru“, „Pulj“ » „Rihard Wagner” (1883), 
„Cetvrii srpanj 1848", „lme Srb“, ,,Blaino jezero“, „Hrvatska i srpska knji- 
ževnost g. 1883“, „Pred Novim Dvorom“, „Novela i roman u Hrvata” (1885); 
sararan, nameng braće, Sto su łobož Hrvate dovela na jug“, „Glazba u 
r 

1886 veröffentlichte Klaić eine Karte Kroatiens, Slavoniens, Dalmatiens 
Bosniens und der Herzegovina, im gleichen jahr gab die Hieronymus- 
Gesellschaft seine „Pripovijestiiz hrvatske povijesti” (später 
durch zwei weitere Bändchen fortgesebt) eine populäre Darstellung der 
kroatischen Geschichte für weitere Volkskreise. Erwähnenswert sind auch 
die zahlreichen Biographien von Zeitgenossen (Franjo Markovié, Jos. Eug. 
Tomić, Janko Drašković u. a.), die Klaić als Redakteur des Vijenac veröffent- 
lichte. Von den Aufsätzen im Vijenac sind noch zu nennen: „Hrvatski knezovi 
u 13. stoljeću“, „Uspomene na Nikolu Tordinca” (1888); „Kako su Turci osvo- 
jili Požegu“ ‚„Borba za hrvatski pravopis“, „Slava ı na Gosposvetskom polju” 
„Kosovo“, „Život za cara“, „Babinska republika“, „Priča o Čehu, Lehu i 
Mehu“ (1889); „ime Hrvat u historiji slavenskih naroda“, „Razboj na Krbav- 
skom polju“, „ime Dubrovink“ (1890); ,,Crtice o Vrbovskom“, „Ivan Crnoje- 
vić, posljednji gospodar Zete“, „Velika i Bijela Hrvatska“ (1891); „Kako je 
postala pjesma: Jos Hrvatska ni) propala“ (1892), „Hrvati i Srbi“ (1893); 
„Ne3to o krsnom imenu“ (1895), „Ban Mladen II Subié", „Ban Pavao I Šubić“ 
(1897), daneben im gleichen Jahre kleinere Skizzen und Rezensionen. 1897 
gab die Matica Hrvatska Klaić’ Buch „Bribirski knezovi od ple- 
mena Subideva“ heraus, in der uns Klaić die Geschichte der Familie 
Subié bis 1347 (in welchem Jahre die Familie Subié zu Fiirsten Zrinski wurde) 
gibt. Die Geschichte der ebenso bedeutenden kroatischen Adelsfamilie 
Frankopan bis zum Jahre 1480 gab Klaié in dem Werke ,Krékiknezovi 
Frankopani“, herausgegeben 1901 von der Matica Hrvatska. Leider 
kam Klaić nicht mehr dazu, die beiden Monographien fortzusetzen bzw. zu 
vollenden. Einen Teil der im Vijenac erschienenen historischen Skizzen gab 
Klaić gesammelt in dem Buch „Slike iz slavenske povijesti” (1905 
Matica Hrvatska) heraus. Eine Sammlung der in verschiedenen Tages- 
organen erschienenen historisch-patriotischen Aufsäße übergab Klaić kurz 
vor dem Tode der Matica Hrvatska, die sie demnächst unter dem Titel 
„Crtice iz hrvatske povijesti“ herausgeben wird. Die ebenfalls 
von der Matica 1914 herausgegebene Monographie „Zivot i djela 
Pavia Rittera-Vitezoriéa“ gehört heute noch zu den besten 
kroatischen literar- und kulturhistorischen Arbeiten über die zweite Halfte 
des 17. und erste Hälfte des 18. Jahrhunderts. Als der vor kurzem ver- 
storbene Ivan Bojničić, zuletzt Direktor des kroatisch-slavonischen Landes- 
archivs (jest Staatsarchivs] in Agram“ 1900 die historische Zeitschrift 
„Viesnik kr. hrvatsko-slavensko-dalmatinskoga ze- 
maljskog arkiva“ herauszugeben begann, gewann er in Klaié einen 
eifrigen Mitarbeiter. In diesem Organ brachte Klaié folgende Abhandlungen: 
„Porietlo banske časti“, „Hrvatski bani za narodne dinastije“, „Hrvatski 
bani za Arpadovića“ (1), dazu mehrere Notizen: ,,Crtice o Vukovskoj župa- 
niji i o Djakovu u srednjem vijeku“, „Admirali ratne mornarice hrvatske 
g. 1358—1413“, „Povelja kralja Stjepana Dabiše, izdana Hrvoju Vukčiću 
g. 1392“ (D; „O neupotrebljenom dosad prilogu za povijest hrvatsku na 
početku XII stoljeća“; „Tri Sekelja, rodjaci Ivana Hunjada“, „Dubrovačka 
vlastela Žunjevići u Senju i Vinodolu g. 1477—1502“, „Dva priloga za povijest 
cisterčanskoga samosłana u Topuskom“ » „Pismo ugarskoga kralja Ladi- 
slava I opatu montekasinskomu Oderiziju“ (III); „Gradja za povjesnicu zagre- 
bačkih biskupa od g. 1433 do g. 1466“ (IV), „Pismo ninskoga biskupa Jurja 
Divnića papi Aleksandru VI, pisano u Lici 27. rujna 1493“ (V); „Pad Obrovca, 
Udbine i Jajca“ (VIII, „Popis ratne daće u Slavoniji g. 1543", „Matija Kirinić 
(1746—1805) i njegov sinovac Valentin Kirinié (1785—1840), „Kandidacija 


* Ober Bojničić’ Leben und Werke vgl. Vjesnik Kr. Državnog Arkiva u 
Zagrebu, II (1926), S. 1 ff. 


294 


hrvatskom saboru za viadanja kuće Habsburg“, „Osnutak mana- 

re epoglave i povijest njegova u XV. stoljeću“, „Povelja, izdana u 
Varaždinu 15. listopada od kneza i bana Ulrika Celjskoga za samostan 
Pavlina u Lepoglavi“, „isprava od 10. junija 1370, u kojoj se spominje sloboda 
dvanaest plemena hrvatskih“ ‚ „Darovnica Bernardina Frankopana za Mar- 
tina Osireheriéa od g. 1481“ (IX); „Tužba Franja Taha protiv kmetova su 
jedgrada i Donje Stu dice“ (XD; ,Savremeni opis 5 pot ara od 
g. 1706“, „Zanimiva isprava od g. 1605“ (XII. Für die Geschichte des kroa- 
tischen Staatsrechtes wichtig ist die Abhandlung „Regnum Croatiae et Dal- 
matiae“ (ibid. XID; „Prilozi za voces Bartola Oeorgijevica, pisca o Tur- 
cima u XVI. stoljeću (XIID; „Pavao Zondinus i osnutak ugarsko- ah 
kolegija u Bologni g. 1553 do g. 1558", „Nekoliko priloga za povijest hrvat 
pragmaticke sankcije od g. 1712“, ,Smrt Gregorija Tepelica i njegovih dru- 
gova“ (XIV); „Prilog za povijest Poljica u XV. stoljeća“, „Dva priloga za 
povijest Isusovaca u Zagrebu“ g 

n dem „Vjesnik Kr. Državnog Arkiva (1925—28, I-IM ver- 
öffentlicht Klaié eine neue Monographie zur Geschichte der kroatischen 
Adelsgeschiechter „Hrvatsko peme Kreščić ili Kri8¢ié“ (1), ferner 2 Studien 
zur neueren kroatischen Geschichte „Borba za hrvatske prekosavske kra- 
jeve i njihova reinkorporacija g. 1814—22 (li), ferner ein auf die Reinkorpo- 
ration bezügliches Gedicht. Im Ill. und bisher letzten Band des Vjesnik 
brachte Klaié einen weiteren Beitrag zur Geschichte des kroatischen Staats- 
rechtes „Prilozi za historiju državnoga prava hrvatskoga“. 

Im Rad der Jugoslavischen Akademie erschien in der knj. 130 die kultur- 
geschichtlich heute noch grundlegende Studie „Hrvatska plemena ad 
12. do 16. stoljeća. Im Rad 134: „Rodoslovlje knezova Krbavskih od 
plemena Gusić“; Rad 136: „O hercegu Andriji“; Rad 142: Hrvatski hercezi 
i bani za Karla Roberta i Ljudevita 110. 1301—82); Rad 157 die agrar- und 
sozialgeschichtlich wichtige Abhandlung: „Marturina, slavonska daća u 
srednjem vijeku“; Rad 199 eine weitere genealogische Studie: „Plemići 
Svetacki ili Nobiles de Zempche“; Rad 206 die staatsrechilich wichtige Ab- 
handlung: 5 pragmaticka sankcija“; Rad 211 eine umfangreiche Ge- 
aa Kroat iens in der Zeit 1617—22: „Banovanie Nikole Frankopana 

a“. 

Weitere Abhandlungen Klaić’ finden wir im „Vjesnik ars 
ArheoloSkoga Društva“: „Croatia superior et inferior“ „Rodo- 
slovlie knezova Nelipića od plemena Svačić“ (D; „Ime i porijeklo Franko- 
pana”, „O knezu Novaku g. 1346" (IV); „Rimski zid od Rijeke de Prezida“ 
(V); „Gradja za topografiju ličko-krbavske županije u srednjem vijeku“ (VI, 
VID; »indagines i Portae u Hrvatskoj i Slavoniji“, „Castrum antiquum Paga- 
norum kod Ka3ine u gori zagrebačkoj“ (VID, „O krunisanju ugarskih Arpa- 
dovića za kraljeve Dalmacije i Hrvatske g. -1091 —1207“, ko kra- 
lievstvo u 15. stoljeću i u prvoj četvrłi 16. stoljeća“ Wim, „Topografske 
silnice“ (IX), „Zanimljiv peat hrvatskih banova ‚Jurja Draškovića i Franje 
Frankopana“, „Krapinski gradovi i predaje o njima“ (X), „Novi koledar u 
Hrvatskoj i Slavoniji“, „Prilozi za povijest grada Zeline“, „Zaključci hrvatskih 
sabora i njihova sankcija za prva tri Habsburgovca“ (XD, „Episcopatus 
Ludrensis u Dalmaciji“ (XID. — Eine kurze Darstellung der Geschichte 
Agrams beinhaltet die Broschüre „Zagreb“ 1918. Einen kulturgeschichtlich 
wertvollen Beitrag zur Geschichte des kroatischen Buchhandels bringt die 
Broschüre „KnjiZarstvo u Hrvata“ (Zagreb 1922). Eine ichte 
oct T ipe der Agramer Stadtverwaltung 1609—18 bringt das Buch 
„Status grada Zagreba“. Aus der Beschäftigung mit der histori- 
schen Geographie entstand 1898 der historische Atlas der kroatischen Länder. 
Die von Klaić ursprünglich auf 4 Bände berechnete und in Angriff ge- 
nommene kritische Gesamtdarstellung kroatischer Geschichte blieb leider 
ein Torso. Von dieser vorzüglichen „Povijest Hrvata od najsta- 
rijih vremena do svr3eika XIX stoljeća“ erschienen 1899 bis 
1911 fünf Bände, die die kroatische Geschichte bis 1608 bringen. Für dieses 
Werk wie für seine Abhandlungen verarbeitete Klaié neben dem bestehen- 


295 


1 gedruckten Material auch zahlreiches neues, ungedrucktes archivelisches 


Anläßlich der Jahrtausendjahrfeier des Bestandes des kroatischen 
reiches veröffentlichte Klaić in der Festschrift der Matica Hrvatka 
Matice o tisuéoj godišnjici Hrvatskog Kraljevstva 1925) noch zwei Studien: 
»Narodni Sabor i krunisanje kralja na Duvaniskom pom, fes ferner „Hrvatski 
sabori do godine 1870“, in der Festschrift der arg vischen are 
(Zbornik kralja Tomislava Jugoslavenske Akademije ne anae ae 
Studie über L. Hauptmanns Arbeiten zur ältesten kr 
»Dva slovenska učenjaka o starijoj historiji Hrvata do 1102 goan in der 
Denkschrift des Akademischen Senates der Agramer Universität anläßlich 
der SOjährigen Bestandsfeier gab Klaić eine eingehende Darstellung der 
Entsteh und Entwicklung dieser führenden kroatischen Kulturinstifution. 
Zu den lebten Studien Klaić’ gehört die Studie „Crvena Hrvatska i Crvena 
Rusija“ in dem seit 1927 wieder neu erscheinenden Hrvatsko Kolo der 
Matica Hrvatska (Knj. VIII, 1927)“. 

Graz. J. Mati. 


Cedomil Jakša (Dr. jakov Cuka) tł. 


Am 1. November 1928 starb der unter dem Pseudonym Cedomil 
in der neueren kroatischen Literaturgeschichte bekannte Literaturkritiker. 
Jakša war ein Dalmatiner, geb. 1868 in Zaglava bei Zara. Nach Absolvierung 
des italienischen Gymnasiums und der Theologie in Zara und nach längeren 
Studien in Rom, wo er sich den juridischen Doktorhut holte, wirkte er zu- 
nächst als Kaplan in der Seelsorge, dann als bischöflicher Sekretär und 
als Professor am italienischen Gymnasium in Zara, dann als Kanonikus des 
Domkapitels daselbst. Nach dem Weltkriege übersiedelte Jakša nach SHS. 
Da er als ausgezeichneter Kenner der kirchlichen Verhältnisse der katholi- 
schen Südslaven und ihrer Beziehungen zum Vatikan bekannt war, wurde 
er zu den Konkordatsverhandlungen in Beograd herangezogen. Als zwischen 
der j en und der italienischen Regierung ein Einverständnis hin- 
sichtlich des Institutes des hl. Hieronymus in Rom hergestellt war, über- 
nahm Cuka die Leitung dieses Institutes. Cuka war literarisch in serbo- 
kroatischer und italienischer Sprache tätig und gehörte in der Zeit von 1887 
bis 1903 zu den führenden Vertretern der kroatischen Literaturkritik. Eine 
große und gründliche literarische Erudition, eine vorzügliche Kenntnis der 
westeuropäischen, vor allem italienischen Literatur, ferner eine genaue Ver- 
trautheit mit den grundsäßlichen ästhetischen und literatur-kritischen Fragen 
befahigten ihn, durch seine Kritik die Literaturentwicklung und die literarische 
Bewertung durch Jahrzehnte hindurch entscheidend zu beeinflussen. Seine 
literarischen Arbeiten sind in verschiedenen Zeitschriften verstreut. Seine 
kritische Tätigkeit begann er 1887 im Narodni List, und von da an finden 
wir seine Abhandlungen und Referate über ältere und neuere kroatische 
Dichter, über italienische Literatur des 19. Jahrhunderts, über russische Lite- 
ratur, über französische Literatur, über Niebsche, über die Theorie der 
literarischen Kunst und der Literaturkritik, in allen führenden kroatischen 
Literatur zeitschriften: Iskra (Zara), Novi Vijek, Prosvjeta, Vijenac, Nada, 
Život. Von literarhistorischer Bedeutung wurden vor allem seine kritischen 
Abhandlungen über die kroatischen Realisten, so über Kumičić, Kovačić, 
Gjalski. Sein Verdienst war es, daß er in einer eingehenden kritischen 
Untersuchung der damaligen kritiklosen Verherrlichung des kroatischen 
Pseudonaturalisten Kumičić ein Ende machte. Methodisch war ihm Vorbild 
Sainte-Beuves psychologische Kritik, die versucht, im künstlerischen Werke 
und durch das künstlerische Werk den Dichter zu entdecken. Weltanschau- 
lich gehörte er der katholischen Richtung Brunetitres an. Dauernden Wert 
besitzen auch seine Studien über die kroatische Dorfnovelle und über den 


* über Klaić vgl. R. Horvat, Nastavni Vjesnik XXXVII (1928), S. 3—19; 
ferner J. Nagy, Savremenik XXI (1928), S. 273—77. 


296 


kroatischen Roman. In dem Kampf der Jungen und Alten beim Beginn der 
sogenannten Moderne in der kroatischen Literatur nahm er eine Vermittler- 
rolle ein, weltanschaulich stand er auf Seite der Alten, Konservativen. 
Geistesgeschichtlich gehört er zusammen mit dem Dichter Tresié und 
dem katholischen Dichter Marin Sabié zu den Führern der idealistisch- 
romanischen Bewegung — romanisch wurde die Bewegung deshalb bezeich- 
net, weil in ihr die Einflüsse des zeitgenössischen französischen und italie- 
nischen geistigen und literarischen Lebens idealistischer Richtung ent- 
scheidend waren —, die in der Zeitschrift Novi Vijek (Spalato 1897) ihr 
geistiges und literarisches Zentrum fand. 

(Eine eingehende Analyse der literatur-kritischen Arbeiten JakSas gab 
sein Landsmann, der dalmatinische Literarhistoriker Ante Petravi¢, in 
senan Treće Studije i portreti, Split 1917, S. 11—36.) 1 Matt 

. Mall. 


297 


OSTEUROPA-INSTITUT IN BRESLAU 


JAHRBÜCHER 


FÜR 


KULTUR UND GESCHICHTE 
DER SLAVEN 


IM AUFTRAGE DES OSTEUROPA-INSTITUTS 
HERAUSGEGEBEN VON 


PAUL DIELS-BRESLAU, FELIX HAASE-BRESLAU, 
ERDMANN HANISCH-BRESLAU, ROBERT HOLTZ- 
MANN-HALLE, JOSEF MATL-GRAZ, HEINRICH 
FELIX SCHMID-GRAZ, KARL STÄHLIN-BERLIN, 
KARL VÖLKER-WIEN, WILHELM WOSTRY-PRAG 


SCHRIFTLEITUNG: 
ERDMANN HANISCH 


* 


N. F. BAND v. HEFT m 
1929 


— a Zn :T——!᷑ ĩd.«—ñ 


PRIEBATSCH’ BUCHHANDLUNG 


BRESLAU, RING 68, UND OPPELN 


Beiträge und Mitteilungen sind zu richten entweder an das 
Osteuropa-inatitut in Breslau oder an die Anschrift 
des Schriftleiters: Prof. Dr. Erdmann Hanisch, 
Breslau 15, Körnerstraße 5/7. 


I 
ABHANDLUNGEN 


DIE NIEDERE VOLKSGERICHTBARKEIT UNTER DEN 
SLOVENEN VON ENDE DES 16. BIS ANFANG DES 
19. JAHRHUNDERTS’) 


Von 
Dr. Method Dolenc, Ljubljana (Laibach). 


Inhaltsangabe: l. Einleitung: 8 1. Bergtaidinge als 
autonome Volksgerichte. 8 2. Andere Volksgerichte. Il. Außere 
Organisationder Volksgerichte. 83. Zahl und Zeit der 
Bergtaidinge nach den Bestimmungen der Bergrechtsbücel. 8 4. 
Zahl und Zeit der Bergtaidinge in der Praxis. 85. Ort der Abhaltung 
der Bergtaidinge. 8 6. Pflicht der Teilnahme an den Bergtaidingen. 
8 7. Die übrigen Volksgerichte. Ill. Innere Organisation 
der Volksgerichte. A. Die Bestimmung der Bergrechtsbüchel. 
8 8. Allgemeine Charakterisierung. 8 9. Bestimmungen des Originals 
des Bergrechtsbichels. 8 10. Bestimmungen der slovenischen Uber- 
setzungen. B. Die Bergtaidinge in der Praxis. 8 11. Der Bergherr. 
§ 12. Die Richter. § 13. Der Bergmeister. § 14. Die Suppane. § 15. 
Die Referenten. 8 16. Protokollführer. 8 17. Andere Hilfsorgane 
des Bergherrn. C. Unterschiede bei den übrigen Volksgerichten. 
8 18. Billich- und Quatemberrechte. 8 19. Unparteiisches Recht. 
IV. Zuständigkeit der Volksgerichte. 8 20. Nach den 
Bergrechtsbücheln. 8 21. In der Praxis. V. Verfahren bei den 
Volksgerichten. 8 22. Prozefeinteilung. 8 23. Hauptgrund- 
sake des Prozeßverfahrens. § 24. Höhere Instanzen. 8 25. Die Ent- 
wicklung in der Praxis. 


„Abkürzungen: CZN. = Časopis za zgodovino in narodopisje 
(Zeitschrift für Geschichte und Volkskunde), Maribor (Marburg a. d. Drau); 
IMD. = Izvestja Muzejskega Društva za Kranjsko (Mitteilungen des Muscal- 
vereins für Krain), Ljubljana (Laibach); LMS. — Letopis Matice Slovenske 
Jahrbuch der Slovenischen Matica), Ljubljana; ZZR. = Zbornik znanstvenih 
razprav, izdaja Profesorski Zbor juridiène Fakultete (Sammlung wissen- 
schaftlicher Abhandlungen, herausgegeben vom Professorenkollegium der 
Juridischen Fakultät der Universität Laibach), Ljubljana; BRB. — Bergrechts- 
büchel aus dem Jahre 1543 (Vgl. Anm. 2); Beradt. BO. — Beradthschlagte 
Perkrechtsordnung aus dem Jahre 1595; BT. — Bergtaiding; U. = Übersebung; 


299 


I. Einleitung. 
81. Bergtaidinge als autonome Volksgerichte. 


Anton Mell ist es zu verdanken, daß wir nunmehr über die 
Entstehungsgeschichte der Bergartikel Ferdinands I. vom 9. Februar 
1543 genau informiert sind®). Unter ihren Vorgängern, den Aufzeich- 
nungen der gewohnheitsrechtlich entstandenen Bergrechtsregeln, be- 
findet sich auch eine Handschrift in der Laibacher Studienbibliothek, 
die wohl in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrh. entstanden isi*). Sie 
bietet uns den urkundlichen Beweis dafür, dab auch auf dem Ge- 
biete, dessen breite Volksschichten Slovenen gebildet haben, schon 
vor dem Jahre 1543 eine Volksgerichtsbarkeit in Weinbergsachen 
geübt wurde‘). Die Bestätigung des BRB. ist von den steirischen 


slov. = slovenisch; Rezl- U. = slov. U. des BRB. von Andreas Rezi aus dem 
J. 1582 (veröffentlicht von V. Oblak, Starejši slovenski teksti, LMS. 1889, 
S. 180—191, und von A. Koblar, Slovenica, IMD. IX, 1899, S. 147—158); 
Kapsch-U. = slov. U. des BRB. von l. Kapsch aus Reittenburg aus d. J. 1683 
(beschrieben und teilweise [Art. 25—34] veröffentlicht von V. Oblak, a. a. 
O., S. 199—201, Layb.-U. — slov. U. des Laibacher Domkapitelbeamten Hans 
Laybasser aus dem jahre 1646; Stud. B.-U. = slov. U, entstanden um 
1639, verwahrt in der Laibacher Studienbibliothek (veröffentlicht von 
V. Oblak, Trije rokopisi slovenski, LMS. 1887, S. 298—305); Mus.-U. = 
slov. U., entstanden im 18. Jahrh., verwahrt im Laibacher Nationalmuseum: 
Wagensb. Torso = slov. U. der ersten 16 Artikel des BRB., Fundort Wagens- 
berg; Wagensb. Exc. — stark gekürzte slov. U. des BRB. Fundort Wagens- 
berg; lebtere beide entstanden Mitte des 18. Jahrh., beide veröffentlicht von 
M. Dolenc, in der unten S. 347, Anm. 106 angeführten Abhandlung, S. 101 bis 
104; Weißenst. U. = slov. U., entstanden vor 1781, bei der Herrschaft Weißen- 
stein a. d. Save, aufbewahrt im Laibacher Nationalmuseum; Ain.-U. = slov. 
U., entstanden bei der Herrschaft Ainodt a. d. Gurk in der ersten Hälfte des 
18. Jahrh.; Ubermurg.-U. = slov. U., entstanden im Übermurgebiete zwischen 
1807 und 1811, auszugsweise gedruckt im Kalendar Najszvetesega Szrca je- 
zusovega na 1912. leto, Szombathely, 1912; Hoff-BRB. — deutsche U. der 
slov. Mus.-0., gedruckt in 1 Georg Hoff, Gemählde vom Her- 
zogthume Krain, Laibach 1808, Il. S. 17—31. — Näheres über die an- 
geführten slovenischen W des Bergrechisbüchels in den Ab- 
handlungen von M. Dolenc, Pravni izrazi v prevodih gorskega zakona 

(Die juridische Terminologie in den Ubersetzungen des Bergrechisbüchels), 
Časopis za slovenski jezik, književnost in zgodovino (Zeitschrift für slo- 
venische Sprache, Literatur und Geschichte), II, Ljubljana 1920, S. 72—91, 
Dokedaj so veljale „Gorske bukve“ na Slovenskem? (Wie lange war das 
„Bergrechtsbüchel“ in Slovenien in Geltung?), CZN. XX, 1925, S. 113—119; 
Kmečko dedno nasledsivo za časa veljavnosti gorskih bukev (Die bäuer- 
aae Erbfolge zur Zeit der Geltung des Bergrechisbiichels), CZN. XXII, 1927, 

. 105—148. 


3) Anton Mell, Das Steirishe Weinbergrecht und dessen Kodifikation 
im Jahre 1543: Aka d. d. Wissensch. in Wien, Philos.-hist. Kl., Siķungsberichte, 
207. 4. Abh., 1928. Vgl. auch desselben Grundriĝ der Verfassungs- 
und Ver A Steiermarks, Heft 1/2, Graz 1929, S. 63 f. 


3) Vgl. Mell, Weinbergrecht, S. 58—60. Der Text ist veröffentlicht 
von F. Bischoff und A. Schönbach, Steirische und kärnthische Tai- 
dinge, Österreichische Weistumer VI, Wien 1881, S. 411 f. 


4) Das Vorhandensein n Bestimmungen wird für alle 
fünf „niederösterreichischen Lande“ (Nieder- und Oberösterreich, Steier- 
mark, Kärnten und Krain) vorausgesetzt in „Der Fünf niderösterreichischen 


500 


Landständen erst nach elfjährigem Bemühen der Regierung in Wien 
abgerungen worden’). Selbsiredend galt das BRB. vorerst nur für 
Steiermark. Allein seine Geltung griff auf Grund der Bestimmun- 
gen der 1460 von Kaiser Friedrich Ill. bestätigten und erganzten Land- 
handfeste für Krain (erlassen 1338 von Herzog Albrecht II.) selbst- 
tätig auch auf dieses Land samt seinen Annexen (Windische Mark, 
Karst, Istrien) über®). 

Tatsächlich kennen wir eine sozusagen wörtliche slovenische 
Ubersefung der gedachten Bergartikel, die im Jahre 1582 Pfarrer 
Andreas Rez! aus Arch bei Landsiraß (Markt in Unterkrain) 
besorgt hat’). Die Annahme, daß die Bergartikel für Steiermark 
alsbald auch in Krain galten, findet hierdurch in bester Form ihre 
Bestätigung. Nun haben die Landstände von Krain im Jahre 1595 
allerdings eine „Beradihschlagte Perkrechtsordnung für Krain, die 
windische Mark, Histerreich und Kharst‘‘ entworfen, wie aus einer 
privaten Aufzeichnung des Laibacher Domkapitelsbeamten Hans Lay- 
basser ersichtlich ist®). Auch in dem Grazer Joanneum habe ich einen 
Teil dieser neuen Bergrechtsordnung — einen Torso von 18 Artikeln — 
gefunden und mir abgeschrieben’). Zwei slovenische Geschichts- 


Lannde und Fürstlichen Grafschaft Görk Vergleichung eic. Anno MDXXXII 
(sc. 9. Okt. 1552)" (Druck o. O. u. J.). Einzelne, auf die Organisation der 
Gerichtsbarkeit in Weinbergsachen bezügliche Bestimmungen bietet auch 
Das Urbarium der Herrschaft Gotischee vom Jahre 1574, (auszugsweise) 
veröffentlicht und erläutert von P. Wolsegger, Mittheilungen des Museal- 
vereines für Krain Ill. Laibach 1890, S. 140—183, IV, 1891, S. 13—45 la. a. O. 
IV. S. 28 f., das jedenfalls aus älteren, wahrscheinlich in die Zeit vor der 
Verbreitung der Bestimmungen des BRB. zurückgehenden Quellen schöpft 
(vgl. Wolsegger, a. a. O. Ill, S. 140 f.), zumal seine weinbergrechtlichen 
Bestimmungen von diesen unabhängig zu sein scheinen. 


8) Siehe Anton Mell, Weinbergrecht, S. 73ff.: Arnold Lus chin 
v. Ebengreuth: Österreichische Reichsgeschichte (Lehrbuch), Bamberg 
1896, S. 353. Vgl. A. Luschin v. Ebengreuth, Handbuch der öster- 
reichischen Reichsgeschichte lz, Bamberg 1914, S. 158. 


*) Vgl. bezüglich der Landesgerichtsordnung für Steiermark von 1574 
Hugo Hoe gel. Geschichte des österr. Strafrechts, I., Wien 1904, S. 34, 35. 


7) Rezl-U. Die ganz geringfügigen Abweichungen müssen auf lapsus 
calami zurückgeführt werden. 


e) Die Handschrift Laybassers stammt aus dem Jahre 1646 und ist u. W. 
in deutscher Sprache noch nirgends behandelt worden. Sie enthält For- 
mularien und andere Aufzeichnungen für den praktischen Gebrauch. Den 
Text der Beradt. BO. bringen wir im Anhang I (unten S. 357). 


$) Es geschah knapp vor dem Ausbruche des Weltkrieges. Die Ab- 
schrift befindet sich noch in meinen Händen und deckt sich vollkommen mit 
den ersten 18 Artikeln der Beradi. BO. aus dem Jahre 1595. Die Urkunde 
zu zitieren bin ich außerstande, weil meine Aufschreibungen bei den fol- 
genden Ubersiedlungen zum großen Teil abhanden gekommen sind. — An- 
merkung der Redaktion: Die Auffindung des Textes ist trob mehr- 
facher Bemühungen verschiedener Grazer Fachleute bisher nicht gelungen. 
Daß er vorhanden ist, wird von Herrn Hofrat Univ.-Prof. Dr. Anton Mell 
bestätigt. H. F. Schmid. 


20 NF 8 301 


forscher — Gruden und Verhovec —‘**) glaubten, in der ge- 
dachten Beradt. BO. der Landstände in Krain ein regelrechtes Gesch 
erblicken zu müssen. Meine eingehenden Nachforschungen in den 
verschiedenen Archiven von Wien, Graz und Laibach haben keine Be- 
statigung dieser Annahme gefunden. Sie erscheint übrigens auch 
dadurch entkraftet, daß weitere in Krain entstandene slovenische 
Üübersekungen der Bergrechisartikel aus der Zeit nach 1595 der Fas- 
sung aus dem Jahre 1543 und nicht jener der Beradt. BO. von 1595 
folgten und sich direkt auf steiermärkische Verhältnisse beriefen, was 
im Fall der Promulgierung eines neuen Gesetzes für Bergrechtssachen 
in Krain bestimmt nicht vorgekommen wäre. 

Hierbei ist allerdings noch eine andere, bedeutungsvolle Tatsache 
zu konstatieren: Während das deutsche Bergrechisbiichel wiederholt 
im Drucke erschienen ist und bei seinem ursprünglichen Texte ver- 
blieb (nur valutarische Betrage wurden zeitgemäß abgeändert), diffe- 
rieren die zehn bisher bekannten slov. Ubersezungen der Bergrechts- 
artikel sowohl vom Originaltexte, als auch untereinander. Dies konnte 
nur die Folge des Umstandes sein, daß die Übersetzer, die ja ihre 
Übersetzungen zu verschiedener Zeit in verschiedenen Gegenden an- 
fertigten, notgedrungen den Wünschen ihrer Bergherren folgen muß- 
ten; allein sie konnten dabei keineswegs die gewohnheitsmäßig ein- 
hergehende Entwicklung des Volksrechtes unbeachiet lassen. Waren 
doch diese Übersekungen dazu bestimmt, zu Beginn der Bergtaidinge"*) 
nach Art eines Weistums verlesen zu werden! Dies wird in einigen 
slov. U. am Anfange des Textes auf das deutlichste vorgeschrieben. 
Nun waren aber die Bewohner auf den Weingebirgen Krains durch- 
aus nicht geneigt, sich willkürliche Anderungen der Bergartikel ohne 
weiteres gefallen zu lassen‘). Darüber sind wir aus einer zweiten, 
noch viel wichtigeren Quelle des Gewohnheitsrechtes genauer infor- 
miert: aus den Protokollen, die über die Vorkommnisse auf den 
Volksgerichten berichten. Sie sind in deutscher Sprache verfaßt, nur 
hier und da sind slov. Worte oder Sake, auch ganze Eidessprüche 
eingesireut worden. Diese Protokolle geben uns, da sie aus ver- 
schiedenen Herrschaften (Deutsche Rittersordenresidenz in Rudolfs- 
wert, Zisterziensergrundherrschaften in Landstraß und Klingenfels, 
Jesuitenresidenz in Pletriach, Herrschaft Ainödt, Seisenberg und 


16) Josip Gruden; Slovenski župani v preteklosti (Die slovenischen 
Zupane in der Vergangenheit), Ljubljana 1916, S. 63; Ivan Vrhovec, 
Gorski zakon in gorske pravde (Das Weinberggeseb und die Bergtaidingel, 
IMD., VII., 1897, S. 37—41, 69—77, 101—110, 145—151. 


_ 41) Das Hauptwort Bergtaiding (Perktading, perktaiding, perktiding) ist 
im BRB. bald sächlichen (Art. 1), bald weiblichen Geschlechts (Art. 14). 


13) Alfred Fischel, Das österreichische Sprachenrech?, Brünn 1910 
(S. XX), prägte das Wort, in Krain habe „die dumpfdahinbrütende Masse 
der untertänigen Bauern für das öffentliche Leben der Alpenländer nichts 
bedeutet“, nimmt aber den Gebrauch der slov. Sprache bei den Dorfge- 
richten dennoch an. Die nachstehenden Ausführungen werden dartun, 
von einer Charakterisierung der slov. Bauernschaft als „dumpfdahinbrütende 
Masse“ keine Rede sein kann. 


802 


TATA A 


Weißenstein) und auch aus verschiedenen Jahrhunderten stammen, die 
verläßlichste Auskunft darüber, welches Verhältnis zwischen den 
Bergherren und ihren Untertanen herrschie!). Vorweg sei betont, 
daß insbesondere in der Zeit bis etwa Anfang des 18. Jahrh. die 
Untertanen ihre Autonomie voll zu wahren wußfen und wiederholt 
sich selbst zu Richtern in Prozessen zwischen ihren Bergherren und 
deren Untertanen aufgeworfen haben. Zur Zeit der französischen 
Revolution haben sie sich sogar selbstherrlich das Bergrechtsbüchel 
nach eigenem Geschmacke umgewandelt, ohne daß irgendeine Be- 
horde dagegen Stellung genommen hätten). 


82. Andere Volksgerichte. 


Wir haben gesehen, daß sich in den slovenischen Weinberg- 
gebieten das auf fränkischen Ursprung hinweisende Institut der BT. 
zähe erhalten hat. Wie noch ausführlicher zu erörtern sein wird, 
befaßten sich diese BT. mit allgemeinen Verwaltungsfragen sowie 
auch mit der Rechtssprechung; allerdings nur in Ansehung der unter 
den Bergstab fallenden Angelegenheiten. Wenn erwogen wird, daß 
in Unterkrain etwa die Hälfte des produktiven Bodens dem Weinbau 
gewidmet war, so kann es nicht wundernehmen, daß sich das Volk 
auch dort die niedere Gerichtsbarkeit nicht aus den Händen ent- 
winden ließ, wo es sich um andere als Weinbergsachen handelte. 

So sind also neben den Bergtaidingen noch lange die sogenann- 
ten Quatemberrechte (in den Gebieten von Landstraß, Ple- 
triach, Stein und Veldes) sowie Billichrechte (in den Gebieten 
von Landstraß und Pletriach) erhalten geblieben. Die ersten waren 
die Nachfolger der alten Wötschengerichte:®), deren Existenz Anton 
Kaspret für das 15. und 16. Jahrh. in Südsteiermark, Krain und 
Küstenland urkundlich nachgewiesen hate]. Sie hatten Streitigkeiten 


aus dem gewöhnlichen Leben der Burgfriedleute zu schlichten. 


18) Vgl. uber diese Quellen die Abhandlungen von M. Dolenc, Pra- 
vosodstvo kostanjeviske opatije v letih 1631 do 1635 (Die Rechtspflege in der 
geistlichen Landgerichisherrschaft Landstra§ in Unterkrain in den Jahren 
1631 —1655), CZN. XI, 1914, S. 33—66, Pravosodstvo pri novomeškem inkor- 
poriranem uradu nemškega viteškega reda v letih 1721 do 1772 (De iuris- 
dictione apud Rudolfsvertense incorporatum officium Ordinis equestris 
Teutonici annis MDCCXXI—~MDCCLXXIl), ZZR. I, 1920/1921, S. 22—100, Pra- 
vosodstvo cisłercienške opatije v Kostanjevici in jezuitske rezidence v Ple- 
terju od konca 16. do konca 18. stoletja (La jurisdiction de l'abbaye de 
Cisterciens à Kostanjevica {Landstrass! de la fin du 16@me à la fin du 18ème 
siècle et de la Résidence des jésuites à Pleterje [Pletriach)), ZZR. Ill, 
1923/1924, S. 1—118 (franz. Résumé S. 116—118), Pravosodstvo klevevške in 
bošłaniske graščine od konca 17. do začetka 19. stoletja (La cour de justice 
populaire auprès des seigneurs de Klevevž (Klingenfels} et Boštanj [Weiben- 
stein) depuis la fin du XVIle jusqu'au commencement du XIXe siècle), ZZR. 
V, 1925/1926, S. 153—247 (franz. Résumé S. 246 f.). 

14) Siehe Anhang Il. 

18) ,,Wotsche™ aus slov. ve C a, urslav. *vétja „Ratsversammlung“. Vgl. 
serbokroat. vijeéa. und (mit anderem Suffix) alibulg. v&äte, russ. 
véée, ukrain. viče, poln. wiecle), čech. véce. 

10 Vol. A. Kaspret, O veéah, CZN. IV, 1907, S. 214— 222. 


Die Billichrechte fungierten als Kausalgerichte in Gegenden, wo 
das Vorkommen der Billiche (Siebenschläfer, myoxus giis) in 
großen Massen eine besondere Regelung der aus der Jagd auf dieses 
Tierchen sich ergebenden Divergenzen heischte. 

Uber die Gerichtsbarkeit der Quatember- und Billichrechte sind 
wir gleichfalls aus den Protokollen der Grundherrschaften informiert. 
Sie wurden in dieselben Folianten aufgenommen, in denen die Berg- 
taidingsprotokolle eingetragen worden sind. Nur für die Veldeser 
Herrschaft ist die Ausnahme zu konstatieren, daß sie für die ersten 
20 Jahre des 17. Jahrh. in den Protokollen des Grundobrigkeits- 
gerichtes bloß Erwähnung fanden. 

Wenn sich auch die Quatember- und Billichrechte nicht so lange 
erhalten haben wie die Bergtaidinge, so kann dennoch festgestellt 
werden, daß auch bei ihnen das Rechtsbewußisein des niederen 
Volkes als die einzige Rechtsquelle für Prozeßentscheidungen in 
Frage kam, wofür allerdings das Vorbild der Gerichtsbarkeit auf den 
Bergtaidingen von ausschlaggebender Bedeutung war. 


ll. Außere Organisation der Volksgerichte. 


83 Zahl und Zeit der Bergtaidinge nach den 
Bestimmungen der BRB. 


Im Originaltexte des BRB. aus dem Jahre 1543 steht die Bestim- 
mung, die Bergtaidinge müssen jedes Jahr zwischen Ostern und 
Pfingsten an jenen Orten abgehalten werden, wie es von alters her 
gewohnlich gehalten wurde; in dieser Beziehung darf ohne besondere 
Ursache nichts abgeändert werden’). Die Erfordernisse des echten 
Taidings (Tage-Dings) sind dadurch deutlich hervorgehoben, nur 
wurde mit Rücksicht auf die dem Bergstab untertanigen Personen 
dieses Taiding zu einem Bergtaiding gestempelt. 

Die älteste slov. Ubersetzung der Bergartikel (1582) blieb bei der 
einmaligen Abhaltung der Bergtaidinge’*). Die Beradt. BO. aus dem 
Jahre 1595 ordnet eine jährlich zweimalige Abhaltung der BT. an, wie 
es gewohnheitlich feststeht: das erste Mal zwischen Osfern und 
Pfingsten, das zweite Mal im Herbste, und dies am Orte, wie es nach 
alter Gepflogenheit geübt wurde’*). Die Übersekung des Johann Lay- 
basser (1646) folgt der Beradt. BO. Kapsch-U. bleibt bei der Zwei- 
zahl der Taidinge im Jahre, gibt aber die Reihenfolge umgekehrt an. 
In der Stud. B.-U. heißt es, obwohl in ihrer Anschrift die Geltung 
dieser Bergrechtsartikel für Steiermark, Krain und Kärnten an- 
gegeben wurde, die Bergtaidinge sollen einmal im Jahre, und zwar 
zwischen Ostern und Pfingsten gehalten werden, wobei jedoch die 
Bestimmung aus dem Urtext betreffend das Verbot der Abänderung 


17) Art. 1, Mell, Weinbergrecht, S. 109. 
š > Rezi-U. Art. 1, ed. Oblak, a. a. O. S. 181, ed. Koblar, a. a. O. 
. 147 


19) Beradt. BO. Art. 1, unten Anhang I. 


504 


at! 


der Dingstatte nicht übernommen wurde”). Wortlich wurde der Ur- 
text in die slov. Übersekung übernommen, die sich im Laibacher 
Nationalmuseum befindet und im 18. Jahrh. — doch vor dem Jahre 
1781 — entstanden ist (Mus.- U.]: auch der Saf bezüglich der Ding- 
stätte fand hier seinen Plab. {Nach dieser slov. U. hat Heinrich 
Georg Hoff, Gemahide vom Herzogthume Krain (1808) die Berg- 
artikel ins Deutsche übersetzt, ohne den deutschen Urtext gekannt zu 
haben.! Im Schlosse Wagensberg, dem ehemaligen Herrschaftssige 
des berühmten Verfassers der „Ehre des Herzogtums Krain“ namens 
Johann Weikhard Valvasor, wurden zwei handschriftliche Übersebun- 
gen gefunden, die eine blieb beim Artikel 16 stehen, die andere 
kürzte den Text in einer Weise, daß nicht einmal die Hälfte des In- 
halts der Artikel blieb und auch deren Umfang auf ein dürftiges 
Konzept zusammengeschrumpft ist. Sicherlich wurde auf den BT. nur 
der zweite gekürzte Text verlesen. Beide entstanden in der Zeit von 
1744—1781. Im Wagensb.-Torso heißt es: In Steiermark oder anders- 
wo sollen die Bergtaidinge einmal im Jahre, oder wie es Gebrauch ist, 
gehalten werden); im Exzerpt findet diese Bestimmung überhaupt 
keine Erwähnung mehr. Im Weißensteiner Manuskript (aus dem 
18. Jahrh., Verfasser unbekannt) wird angeordnet, daß die Bergtai- 
dinge in jedem Weingebirge je zweimal im Jahre, das erste Mal im 
Herbste, das andere Mal zwischen Ostern und Pfingsten abzuhalten 
sind. Die Übersetzung, die im Schlosse Ainodt (an der Gurk) ge- 
funden wurde und aus der Zeit Mitte des 18. Jahrh. stammt, ohne den 
Autor zu verraten, enthalt die Wendung, der Bergherr habe ein jedes 
Jahr das BT. abhalten zu lassen und dürfe es niemals absagen. Die 
zehnte Übersekung, die für das Über-Mur-Gebiet galt und von un- 
bekannten Verfassern Anfang des 19. Jahrh. angefertigt wurde, ver- 
langt eine dreimalige Abhaltung des Bergtaidings in jedem Jahre, 
und zwar am Tage des hl. Martin (11. Nov.), zu Lichtmeß (2. Febr.) 
und am Tage des hl. Georg (24. April); der Bergmeister (hegymesier) 
hat die Pflicht, die Leute hierzu zusammenzurufen??). 


§ 4. Zahl und Zeit der Bergtaidinge in der Praxis. 


Aus den vorstehenden, mit Gesekeskraft ausgestatteten Bestim- 
mungen geht es klar hervor, daß das BRB. nicht als ein unabänder- 
liches Gesek aufgefaßt, sondern daß in dieses alles das hineingefügt 
wurde, was man nach dem Gewohnheitsrechte für billig gehalten hat, 


ohne daß es für die verschiedenen Gegenden unbedingt gleich lauten 


se) Stud.-B.-O. Art. 1, ed. Oblak, a. a. O. S. 298. 
31) Wagensberg-Torso Art. 1, ed. Dolenc, a. a. O. S. 101. 

_ %) Das Goftscheer Urbar von 1574 schreibt u. d. T. „Perckhrechts be- 
sibung” (ed. Wolsegger, a. a. O. IV, S. 29) vor: Das Perckhrecht bey 
hievor beschribnen Pergen besitzt jarlich ain Innhaber der Herrschafft 
Gotschee oder von seinetwegen ain Pfleger und Ambischreiber mit allen 
Perckhgenossen unnd wirdet solch Perckhrecht alle Jar im Monet September 
am Suntag nach khlain unnser Frauentag (8. Sept.) gehalten. 


505 


müßte. Die Bergtaidingsprotokolle bieten uns viele Beweise, daß 
sich die Praxis keineswegs verpflichtet hielt, die gesetzlichen Vor- 
schriften einzuhalten. Schon die ältesten Protokolle des Landstraßer 
Zisterzienserklosters, die uns vom Jahre 1590 an erhalten blieben, 
zeigen, daß die Bergtaidinge in einigen Gegenden einmal, in andern 
zweimal im Jahre abgehalten wurden. Also 60 Jahre nach der Gesek- 
werdung des BRB. bestand unter demselben Bergstab keine Einheit- 
lichkeit der Praxis mehr. Unter dem Klingenfelser Bergstab, aller- 
dings 100 Jahre später, wurde die zweimalige Abhaltung der BT. im 
Jahre beinahe zur Regel. Auch unter dem Bergstabe der Auersperger 
Herren in Seisenberg sind zu Anfang des 17. Jahrh. die meisten BT. 
noch zweimal im Jahre abgehalten worden. 

In den ersten Dezennien des 18. Jahrh. machte sich jedoch schon 
die Tendenz der Bergherren stark bemerkbar, die Anzahl der. Berg- 
taidinge einzuschränken. Dies wurde zum Teil auf diese Weise in 
die Wege geleitet, daß mehrere benachbarte Weingebirge, die ehe- 
mals jedes fur sich ihr BT. abzuhalten berechtigt waren, zu einem 
einzigen zusammengelegt wurden, zum Teil wurden aber einige Berg- 
taidinge auch ohne weiteres ohne Ersak abgeschafft. Allerdings mag 
mit Recht der Umstand als Begründung ins Treffen geführt worden 
sein, daß einzelne Weingebirge ein ungenügendes Erträgnis ab- 
warfen und in andere Kuliurarten umgesebt wurden. 

Allein die Weingärtner haben, wie uns einige Protokolle dartun, 
der Verringerung der . Anzahl der Bergtaidinge bemerkenswerten 
Widerstand geleistet. Im Klingenfelser Gebiete verlangten sie noch 
im Jahre 1767 und erreichten auch, daß die bereits eingestellten Berg- 
taidinge wieder abgehalten wurden. Wiederholt wurde der Wunsch 
der Weingäriner protokolliert, man soll die Bergtaidinge regelrecht 
abhalten. Einmal, am 4. März 1771, wurde verlangt, daß deren Zahl 
auf vier vermehrt werden solle, so daß sie in jeder Quatemberwoche 
abzuhalten wären. Ein anderes Mal (16. März 1767) haben die Wein- 
gärtner, der Verfügung des Bergherrn zum Trob, die Bergtaidinge 
nicht mehr abzuhalten, beschlossen, daß am Tage des hl. Michael alle, 
die das Bergrecht zu entrichten haben, aus eigenem Antriebe er- 
scheinen und ihren Gerichtstag abhalten sollen. 

In der Zeit nach Josef ll. haben die Bergtaidinge in vielen Ge- 
genden zu bestehen aufgehört, doch erhielten sie sich. im Klingen- 
felser Gebiet bis 1804, unter dem Bergstab von Ainodt sogar bis 
1843, allerdings mit der wesentlichen Einschränkung, daß es voll- 
ständig im Belieben der Bergbehörde stand, wann und wo, sowie fur 
welche Gebiete immer es ihr beliebte, das BT. zusammenzuberufen. 
Dies wurde auf dem Bergtaiding der Herrschaft Ainodt am 14. Sep- 
tember 1784 sogar als Befehl des Bergherrn zur Kenntnis genommen, 
ja die Weingärtner haben der Bergbehörde für die Abhaltung des 
BT. dessenungeachtet wiederholt Dank ausgesprochen. Zu dieser 
Zeit kam es bezeichnenderweise zu einer Umbenennung der Berg- 
taidinge. Sie wurden schon vorher im Laufe der Jahrhunderte Berg- 
datting, Bergtäding, Bergdeutung geheißen, offenbar in Unkenntnis 


506 


der Herkunft des Ausdruckes Bergtaiding. Nun zeitigte die Un- 
kenninis eine ganz falsche Vorstellung: das BT. ist zu einer „Berg- 
raittung“ geworden, als ob es zu einer rechnerischen Auseinander- 
sekung bestimmt wäre. Erst das allerletzte Protokoll vom 29. Sep- 
tember 1843, abgehalten in der Herrschaft Ainödt, bekam wieder die 
Bezeichnung ,,Bergtaiding“**). 

Nach dem Wortlaut des Urtextes sollten für die Zusammensetzung 
und Tagung der BT. im Rahmen der Bestimmungen des BRB. die 
alten Gewohnheiten maßgebend sein. In der Praxis hat man 
daran lange zähe festgehalten, und doch sind im Laufe der Zeit die 
Tage des BT. ganz außerhalb des gedachten Rahmens geraten. So 
wurden im Klingenfelser und Seisenberger Gebiet die Bergtaidinge 
schon in den Wintermonaten Anfang des Jahres, also vor Ostern, ab- 
gehalten, im Landsitraßer Gebiet aber im Hochsommer, nämlich am 
10. August, und wurde deshalb das BT. nach dem Tagesheiligen 
„St. Laurenzenrecht“ genannt. Ahnlicherweise hieß im Seisenberger 
Gebiet das BT. nach der hl. Gertraud (17. März) „das Gertraudisrecht“. 
Mit gutem Grunde kann angenommen werden, daß diese BT. schon 
vor 1593, vielleicht schon seit Jahrhunderten an den Tagen dieser 
Heiligen abgehalten wurden, und daß dies auch das BRB. nicht ab- 
zuschaffen vermochte. 

Wenn der Tag des BT. entgegen der aligepflogenen Gewohnheit 
abgeändert wurde, mußte dies besonders verlautbart werden. Dar- 
aus entwickelte sich gegen Ende des 18. und zu Anfang des 19. Jahrh. 
die Gewohnheit, daß jedes BT. öffentlich verkündet wurde, während 
sich in dem 17. Jahrh. die Protokolle noch ausdrücklich darauf be- 
rufen, daß jedermann „ohne Verkündigung“ dazu zu erscheinen habe. 
In einigen Gegenden wurde das BT. eingelautet, d. h. unter Glocken- 
geläute festlich begonnen, vielfach ging ihm auch eine hl. Messe 
voraus. In den Protokollen liest man auch von den Bemühungen 
der Weingärtner, daß das BT. spätestens um 9 Uhr vormittags zu 
beginnen habe. Es scheint, daß sich die Abgesandien der Berg- 
behörde gerne Zeit ließen, insbesondere, wenn sie auf das Wein- 
gebirge nicht leicht fahren konnten. 


.. 733) Daß das Wesen der Bergtaidinge schon Anfang des 18. Jahrh. 
nicht mehr richtig erfaßt wurde, beweisen die Texte der Instruktionen, die 
das Auerspergsche Inspektorat in Laibach an die Verwalter herausgab und 
die von diesen mit „landschadenbündigem“ Reverse unterschrieben werden 
mußten. (Die Landschadenbund-Klausel bedeutete die Einwilligung des 
Verpflichtefen zur sofortigen Exekution bei Nichterfüllung) P. 11 der Inst. 
vom 27. 7. 1703 (Verwalter Joh. Georg Peer) schreibt vor, daß die Verhöre 
oder Klagen, insonderheit aber die Perkhihaiding sorgfältig durchzuführen 
sind. In der Instruktion vom 30. Okt. 1729 für den Verwalter Johann Anton 
Kraillingh hieß es aber, er solle über Bergehren oder Klage „sonderlich 
über die haltend Verheidigungen ordentlich Protokoll führen“. Daß dies 
nicht ein bloßes Vorschreiben war, ersieht man aus der weiteren Instruktion 
vom 6. Okt. 1725 für Joh. Bapt. de Fabiani, in der der Ausdruck „Verheidi- 
gung“ wiederholt wurde, wenn auch in anderem Zusammenhang. Anschei- 
nend dürfte er mit „Vereidigung“ verwechselt worden sein. Seit der Mitte 
5 a Jahrh. verschwindet in den Instruktionen auch jede Erinnerung an 


507 


85. Ort der Abhaltung der Bergtaidinge. 


Die Texte des deutschen Originals und aller slov. U. des BRB. 
lauten in Ansehung des Zusammentrittes der Bergtaidinge (Gerichts- 
statte) übereinstimmend, dies sei jener Ort, der nach der alten Ge- 
wohnheit dazu bestimmt ist. Troßdem einige slov. U., wie z. B. 
Kapsch-U., Vagensb.- Torso, besonders betonen, daß die Gerichts- 
stätte ohne zwingenden Grund nicht abgeändert werden darf, ersehen 
wir dennoch aus den Protokollen, insbesondere des 18. Jahrh., daß 
sich bei den Bergbehörden ein geradezu lebhaftes Bestreben ein- 
stellte, die Gerichtsstätte an den Sif, ihrer Herrschaft zu verlegen. 
Gründe der Bequemlichkeit dürften wohl in erster Linie dazu den 
Anlaß gegeben haben. Die Weingärtner haben dagegen ab und zu 
remonstriert. In einem Protokolle des Klingenfelser Gebiets (17. Fe- 
bruar 1769) lesen wir, daß sich die Weingärtner geradezu verab- 
redeten, daß sie bis zum lekten Manne von dem BT., das nicht mehr 
auf den Weinberg Bojnik, sondern in das Schloß Klingenfels ein- 
berufen wurde, ausbleiben wollten. Erst als der Bergherr nach- 
gegeben und das BT. an die uralte Dingstätte einberufen hatte, sind 
sie wiederum erschienen. Allerdings dauerte der Widerstand nicht 
zu lange, insbesondere nicht unter den Bergstäben der Herrschaften, 
deren Inhaber Laien waren. Im Ainodter Bezirk (Furstlich Auers- 
pergsche Verwaltung) wurden die Gerichtsstatten schon zur Zeit 
Josefs Il. beliebig verlegt, zumeist auf den Herrschaftssi selbst 
oder in ein nahe gelegenes Dorf. Dabei wurden oft mehrere Gebiete 
zusammengelegt, wohl um die Mühe des öfteren Bergtaidingbesuches 
zu ersparen. 

Die nähere Angabe der Stelle der Gerichtsstatte ist in den Pro- 
tokollen selten ersichtlich gemacht worden. Oft war es eine Kirche 
oder ein zur Kirche gehöriges Gebäude, doch scheint noch vielfach 
der alte, für die Wötschengerichte beglaubigte Brauch geübt worden 
zu sein, daß man unter einer schattigen Linde in der Nähe der Kirche 
tagte, bzw. wenn schlechtes Wetter war, in einem herrschaftlichen 
Weinzierlhause?®). 


86. Pflicht der Teilnahme an den Bergtaidingen. 


I. Bevor wir in die Erörterung dieser wichtigen Frage eingehen, 
müssen wir feststellen, welchem Stande die Weingärtner ange- 
hörten. Die Protokolle über die bergrechtlichen Prozesse, insbeson- 
dere jene aus dem 16. und 17. Jahrh. erwähnen außer den Bergherren 
(Kloster oder Herrschaftsbesiker) und seinen Abgesandten ausdrück- 
lich dreierlei Arten von Weingärtnern, nämlich die Mejaschen 
(auch Measchen geschrieben), Bergholde und Inwohner. 

Der Ausdruck „Mejas ch“ ist aus dem slovenischen Worte 
meja, die Grenze, der Rain, abzuleiten. Er wird in den deutsch 
geschriebenen Gerichtsprotokollen ständig in dieser Form ohne er- 


se) Weinzierl — Winzer. 


508 


klarenden Beisa gebraucht und ist daher als terminus technicus 
für die Zeit bis Ende des 18. Jahrh. anzusehen, doch durfte er 
in Unterkrain schon aus einer Zeit weit vor dem BRB. stammen. 
Man könnte glauben, daß er bloß das nachbarliche Verhältnis kenn- 
zeichnen sollte. Dem ist aber nicht so. Als Mejaschen sind nämlich 
alle jene Weingartenbesiker bezeichnet worden, die dem Bergherrn 
nicht mit ihrer Person, sondern lediglich mit ihrem Weingartenbesike 
untertänig waren. Dies waren Angehörige anderer Stände, wie 
adelige Gutsbesitzer, Geistliche, Stadtbürger, Freibauern (Freisassen), 
die meist gar nicht auf dem Weinberge ansässig waren, jedoch Wein- 
gärten besaßen, die unter die Hoheit des Bergstabes fielen. Es 
ist klar, daß es insbesondere in den als besonders gut geltenden 
Weingebirgen auch anderen Leuten und nicht nur den dort ansässigen 
Bergholden gefiel, dortselbst einen Weingarten zu besifen. Diese Art 
der bloß sachlich und nicht persönlich untertanigen Besitzer wurde 
in dem deutschen Texte der Bergrechtsartikel mit „Berggenossen“ 
bezeichnet, doch sind die Begriffe Berghold und Berggenosse keines- 
wegs scharf auseinandergehalten worden). 

Die zweite Art der Weingärtner waren Bergholde, in slov. 
Sprache in Krain als sogorniki (etwa Mitweingärtner), in Steier- 
mark als gormani**) (etwa Bergleute schlechtweg) bezeichnet. 
Diese waren sachlich und persönlich Untertane des Bergstabes, daher 
bis zu den Reformen Josefs Il. glebae adscripti. Wenn ein 
solcher Weingärtner von seinem Bergherrn zu einem andern Berg- 
herrn entlief, durfte ihn erster noch während zweier Jahre für sich 
reklamieren. Das Verhältnis zwischen der Zahl der Mejaschen und 
Bergholde war selbstredend je nach Gegend und Zeit verschieden. 
Aus einem Zehentregister aus der Mitte des 18. Jahrh. haben wir für 
das Gebiet einer Herrschaft feststellen können, daß etwa ein Zehntel 
der Weingärtner zu den Mejaschen gehörte. 

Die dritte Gruppe der Weingärtner bildeten die Inwohner (slov. 
vsobenjki, auch osabeniki, eigentlich: Stubenbewohner*’). 
Dies waren Leute, die aus irgendeinem Grunde ihren Besif im Tale 
verlassen haben, um sich im Gaden (Weinkellerhaus) im Weingebirge 
wohnlich einzurichten. Ein großes Kontingent der Inwohner haben 
aber auch die Uskoken abgegeben. Dies waren Flüchtlinge aus Bos- 
nien, Herzegovina, aber auch aus Kroatien, die seit dem Beginne des 
16. Jahrh. aus ihrer Heimat von den Türken verdrängt und sohin ins- 


ss) Vgl. Dolenc, Pravni izrazi, a. a. O. S. 81. 


se) Vgl. K. Strekelj, Slovensko cesarsko odločilo iz l. 1675 (Eine 
slovenische kaiserliche Entscheidung aus d. J. 1675), CZN. I, 1904, S. 28 f. 

27) Vgl. über diese Bezeichnung M. Dolenc, Odkod-vsobénjki? (Wo- 
her stammt die Bezeichnung v.?), CZN. XXIV, 1928, S. 165—175, Dodatna 
pojasnila k vprašanju o poreklu vsobenjkov (Weitere Beiträge zur Frage 
der Herkunft der vsobeniki), CZN. XXV, 1929, S. 90—94. Uber eine ab- 
weichende Etymologie des Wortes vsobeniki vgl. noch Fr. Ramovš, 
Osobénik, inquilinus, advena, in Casopis za slovenski jezik, književnost in 
zgodovino (Zeitschrift für die slovenische Sprache, Literatur und Geschichte), 
VII. Ljubljana 1928, S. 171, 172. 


509 


besondere an den Siidabhangen des Gebirges an der Grenze Krains 
kompakt angesiedelt wurden**). Man wollte sie als eine ständige 
Militärhilfe gegen die türkischen Invasionen zur Hand haben. im 
Verlaufe der Zeit mußten sie sich aus Not einen anderen Erwerb 
suchen und fanden ihn vielfach als Weingartenarbeiter, wobei sie eine 
dirftige Unterkunft in den Weingarten oder wenigstens in ihrer Nahe 
bezogen. Sie waren von sämtlichen Steuern und anderen Giebig- 
keit befreit. Im allgemeinen waren alle Inwohner Habenichise und 
vielfach dem Müßiggang ergeben; nicht selten waren unter ihnen auch 
eigentumsgefährliche Individuen. Bei den Bergherren waren daher 
diese Inwohner (ab und zu auch „Untersassen‘ genannt) nicht beliebt. 
Wenn sie einheimische Leute waren, die einer anderen Bergbehörde 
entlaufen waren, entstanden dem neuen Herrn häufig sehr unange- 
nehme Prozesse. 

Die Bergherren fanden im Art. 20 des Original-BGB. einen guten 
Anhaltspunkt, um die Besiedlung der Weingebirge mit Inwohnern 
oder Untersassen hintanzuhalten. Hier stand es, daß diejenigen, die 
mit „aigem Rucken im perkrecht gesessen“, den Weinberg zu ver- 
lassen und sich auf ihre Huben zu begeben haben v]. Nun ist der 
Ausdruck „mit aigem Rucken“ dahin zu verstehen, daß dies Leib- 
eigene waren, die mit eigenem Rauche (Ofen, Herd) dienten). Die 
Bestimmung des zitierten Artikels hatte daher den Sinn, wer im Tale 
oder sonstwo außerhalb des Weinberges das Rauchgeld als Steuer 
zahlte, soll auf seinem Besitztum bleiben und darf nicht als Inwohner 
auf den Weinberg übersiedeln. Welche Schwierigkeiten sich bei der 
Übersetzung der Stelle „mit aigem Rucken“ ins Slovenische ergaben, 
mag daraus entnommen werden, daß zwar die älteste Rezl-U. (1582) 
noch die wörtliche Wiedergabe der Wendung „mit eigenem Rücken“ 
bringt, alle nachfolgenden aber die Sache so umschrieben haben, als 
ob es sich schlankweg um Weinbergbewohner im allgemeinen handeln 
würde, was selbstredend keinen vernünftigen Sinn ergab. Zwei Uber- 
sefungen {Layb-U. und Ainodi-U.) haben aber die Sache dahin ver- 
einfacht, daß sie an die besagte Stelle „osabeniki“ (gleich: In- 
wohner) sekten. Allerdings wurde dadurch instinktiv der Unver- 
ständlichkeit des Anfangsabes des Artikels 20 zum Troge das richtige 
gelroffen. Gemeint waren ja die Ofen bzw. Herde (mit dem Rauch- 
fange), die im Weinkellergebäude errichtet werden mußten, um darin 
eine Stube oder Wohnung zu schaffen. Noch heute wird auf den 
Sudabhangen des Uskokengebirges zum symbolischen Zeichen, daß 


28) Vgl. J. Mal, Uskočke seobe i slovenske pokrajine (Die Siedlungen 
der Uskoken und die slovenischen Gebiete), Srpska Kraljevska Akademija, 
Srpski etnografski Zbornik XXX (Naselja i poreklo stanovništva 18). Ljub- 
jana 1924 

29) Mell, Weinbergrecht, S. 126. 

30) Siehe J. Schatz, Glossar zu den 5 Weis- 
tümern, Österreichische Weistümer XI, Wien 19t3, S. 702, O. H. Sto- 
wasser, Niederösterreichische Weistumstexte, Wien 1925 (— Osterreichische 
me Nr. 9), S. 19. Eine andere Ausdeutung des Ausdruckes ergäbe 

einen Sinn. 


510 


die Hauskommunion (Zadruga) zu bestehen aufgehört hat und die 
dazugehörigen Familien fortan geirennt leben wollen, der gemein- 
same Herd zerstört. Allein wenn auf der einen Seite die Bergherren 
diese Inwohner aus dem Weingebirge hinauszuschaffen besirebt 
waren, so glaubten die Weingärtner auf der anderen Seite, insbeson- 
dere diejenigen, die nicht ständig geradezu im Weingarten wohnten, 
ohne die Inwohner als ständige Taglohner nicht auskommen zu 
können. Diese Gegensätze der Interessen haben sich insbesondere 
dort ausgebildet, wo nicht die verhaßten Uskoken den Haupfanfeil 
der Inwohnerleute ausmachten. Während noch in der zweiten Hälfte 
des 18. Jahrh. im Ainodter Gebiet Urteile des Volksgerichtes erflossen, 
die die Ansiedlung der Inwohner verboten, weil sie Uskoken waren, 
ja selbst einer einheimischen Frau die Errichtung eines Herdes in 
dem Weinkellergebäude energisch untersagten, haben sich im Land- 
straßer Gebiete schon in dem Jahre 1705 auf einem BT. wüste Szenen 
abgespielt, weil der Bergherr — es war der Zisterzienserabt aus 
Landstra — die Entfernung sämtlicher Inwohner aus den Wein- 
gebirgen verlangte: das BT. wurde gewaltsam verhindert. Nun kam 
es im Gebiete des Unterlaufes des Flusses Gurk wiederholt zu Er- 
örterungen bezüglich der Inwohnerfrage. Da handelte es sich offen- 
sichtlich um einheimische Inwohner und nicht um Uskokenflüchtlinge. 
Schließlich erzielten die Weingariner im Jahre 1784 eine Kompromiß- 
lösung, nämlich, daß jeder Weingärtner je einen Inwohner im Wein- 
gebirge für sich behalten dürfe. So hat das Volksrecht die Bestim- 
mungen der Bergrechtsartikel außer Kraft gese§t**). Auf diese Weise 
wurde eine Nivellierung der ursprünglich bedeutenden Unter- 
schiede zwischen den Weingärtnern und Inwohnern in die Wege ge- 
leitet, um schließlich und endlich durch die bekannten Reformen 
Josefs Il. zur Gänze durchzudringen. 

Allein auch die Unterschiede zwischen den Mejaschen und den 
Bergholden, die vor dem 16. Jahrh. gewiß noch viel deutlicher waren, 
verloren im Laufe der Zeit an Bedeutung. Schon die Ausdrucksweise 
des Original-BRB., die Berggenossen und Bergholden nicht scharf 
auseinanderhält, weist auf den beginnenden Ausgleichungsprozeß 
hin. Nun ergab es sich in der Praxis, daß die Bergherren, die selbst 
auf dem BT. den Vorsitz zu führen gehabt hätten, im Laufe der Zeit 
bloß ihre Abgesandten dorthin schickten; ja, bei einigen Berg- 
behörden ergab sich dies von selbst, zum Beispiel bei der Herrschaft 
in Seisenberg, da die Grafen (seit Anfang des 18. Jahrh. Fürsten) 
Auersperg ständig außerhalb ihres Herrschaftsgebietes wohnten. So 
wie diese Bergherren, unterliegen auch adelige Mejaschen den per- 


31) Allerdings hat ein hervorragender Okonom und Gelehrter, der selbst 
Bergherr war, Franz Anton Edl. von Breckerfeldt aus Alten- 
burg bei Rudolfswert, in einem Berichte an die k. k. Landwirtschaftsgesell- 
schaft für Krain in Laibach noch im Jahre 1781 eine Reformierung des BRB. 
verlangt und dabei das Verbot des Haltens von Inwohnern beizubehalten 
geraten, obschon dadurch den Bergherrn „der Rauchgulden“ entgehen 
wurde. Der Bericht befindet sich im Nationalmuseum zu Laibach. 


511 


sönlichen Besuch des BT.; auch sie schickten ihre Bediensteten als 
Vertreter zum Volksgerichte. Freilich geschah dies nicht überall ın 
gleichem Maße. In einigen Protokollen, z. B. von den Bergbehörden 
Landstraß und Klingenfels, werden die Ausdrücke Mejaschen und 
Bergholde schon seit dem 17. Jahrh. zum Teil promiscue gebraucht, 
zum Teil gleichgestellt und für die wirklich persönlich freien 
Weingärtner der Ausdruck „Freisassen“ ausgeführt. Aus anderen 
Bezirken, insbesondere aus Weißkrain (südlich des Uskokengebirges) 
zeigen uns aber die Protokolle aus dem Jahre 1728 eine sehr deut- 
liche Unterscheidung zwischen Mejaschen und Bergholden. Die ersten 
werden mit „ehrsame“ Mejaschen tituliert, während die Urkunden 
hinsichtlich der Bergholden immer nur von „arbeitsamben“ Berg- 
holden sprechen. Die Mejaschen durften der Bergbehörde Ratschläge 
erteilen; sie hatten das Recht, das Bergrecht als Steuer nicht in 
natura abzustatten, sondern in Geld zu reluieren. Auch im Klin- 
genfelser Gebiete nennt man noch im Jahre 1744 die Mejasche „ehr- 
same“. Noch am 4. September 1787 werden in einem Protokolle der 
Herrschaft Ainödt die Gruppen der Mejaschen und Bergholde im 
Sinne unserer Auffassung auseinandergehalten. Interessant ist es, 
daß Heinrich Georg Hoff eine deutsche U. der im Laibacher 
Museum vorfindlichen slov. U. der Bergrechtsartikel anfertigte und 
die Ausdrücke ,sogornik“ und „meja3“ mit „Weingärtner“ und 
„Bergnachbar“ verdolmetschie, wobei ihm beide als gleichbedeutende 
Begriffe galten, — allerdings dürfte er den deutschen Urtext nie zu 
Gesichte bekommen haben??). 

ll. Nach diesen grundsätzlichen Erörterungen können wir uns nun 
der Frage der Dingpflicht zuwenden. Der deutsche Urtext (1543) 
sagt im Art. 14: „Ain jeder“ (ohne Beisab) habe auf das Bergtaiding 
zu kommen oder an Stelle seiner einen andern zu schicken, sonst 
trifft ihn eine Geldbuße von 72 Pfennigen. Hierzu kommt noch ein 
motivierender Beisak: man sei nicht schuldig, „jedem besonder für- 
zubieten“, damit er da sei und hore, ob welche Klagen gegen ihn 
vorkommen würden»). Die Rezl-U. (1582) hat diese Bestimmungen 
wortwörtlich gebracht*4). Die Beradt.-BO. (1595) blieb desgleichen in 
demselben Rahmen, nur sagt sie: Ein jeder Berghold habe zu er- 
scheinen). Die Layb.-U. (1646) hat die Sache vereinfacht; es heißt 
da, ein jeder Berghold habe persönlich zu erscheinen; die Bestim- 
mung, daß ein Stellvertreter abgesendet werden darf, und die Moti- 
vierung, warum dies so bestimmt werde, fiel unter den Tisch. Jeden- 
falls ist in den beiden lektgenannten Texten die Dingpflicht für die 


33) H. G. Hoff, Historisch-statistisch-topographisches Gemählde vom 
Herzogthume Krain, Laibach 1808, Il. B., S. 17—31, siehe Art. XIII., XIV, 
XV. etc., die infolge der Verwechslung der Begriffe nicht richtig verstanden 
werden können. 


33) Mell, Weinbergrecht, S. 118. 
5 eer Art. 14, ed. Oblak, a. a. O. S. 183 f., ed. Koblar, a. a 


35) Beradt. BO. Art. 14, unten Anhang I. 


512 


i 
= 
=: 


1a 


— M om = 


8 Ww A E OER. oe 


Mejaschen nicht mehr aufrechterhalten. Die Möglichkeit, daß ein 
Berghold einen Ersatzmann schicken dürfe, fand vielleicht deswegen 
keine Berücksichtigung, weil ohnehin alle Bergholde auf dem Wein- 
gebirge ansässig waren. Die Kapsch-U. (1683) sagt in ihrem Art. 11, 
ein jeder Berghold habe persönlich anwesend zu sein oder einen 
rechischaffenen Mann zu schicken. Die Ehegattin könnte nach dieser 
Textierung den Berghold nicht vertreten; übersehen wurde aber da- 
bei, daß es auch weibliche Weingartenbesiker gab. Wohl brachte 
dieser Text auch die Motivierung der Bestimmung. Die Stud.-Bibl.-U. 
(Mitte des 17. Jahrh.) halt sich an den Text der Beradt.-BO. und sagt, 
ein jeder Berghold habe selbst zu erscheinen oder einen anderen zu 
schicken; die Begründung wird beibehalten). Die Mus.-U. (18. Jahrh., 
vor 1781) bringt die Wendung, ein jeder Mejasch oder Berghold 
müsse persönlich erscheinen oder einen rechtschaffenen Ersabmann 
schicken; die obgedachte Motivierung fehit. Im Wagensb.-Torso (An- 
fang des 18. Jahrh.) wurde ein ganz neuer Gedanke zum Ausdruck 
gebracht; es heißt da, ein jeglicher (also sowohl Mejasche als auch 
Berghold) müsse persönlich erscheinen und dürfe sich' nicht durch 
einen Ersatzmann vertreten lassen. Die Motivierung lautet selbst- 
redend nunmehr ganz anders: Sollte der Bergherr aus dem Grunde, 
weil ein Weingärtner nicht erschienen ist, jemand besonders zum 
Bergtaidinge zu kommen auffordern, so verfällt dieser einer Geld- 
buße, doch könne ihn der Bergherr aus wichtigen Gründen immerhin 
von der Strafe „verschonen“. Das Wagensb. Exzerpt sagt im Art. 6 
bloß, daß derjenige Mejasche, der zum BT. nicht kommt, gestraft 
werden wird:]. Die Ain.-U. betont bloß die Pflicht, persönlich zu er- 
scheinen. Die Übermurg.-U. (zirka 1809) geht vom Standpunkte aus, 
es müsse allen Familienvorständen anbefohlen werden, zum BT. zu 
erscheinen; die entfernt wohnenden müssen 10 Tage vorher aufge- 
fordert werden; wer nicht erscheint, wird bestraft. 

Die obigen Feststellungen zeigen deutlich, wie das Gewohnheits- 
recht in den verschiedenen Gebieten im Laufe der Zeit die Lösung 
dieser Kardinalfrage umzuändern verstand. Die Grundlinien weisen 
aber sicher darauf hin, daß ursprünglich ein jeder, ob bloß persönlich 
oder sachlich und persönlich Untertane des Bergstabes, am Berg- 
taidinge teilzunehmen hatte, daß aber, vornehmlich wohl die nicht im 
Weingebirge wohnenden Mejaschen (Berggenossen), einen Stellver- 
treter schicken durften. Später, als die Grenzlinien zwischen den 
Bergholden und Mejaschen verwischt zu werden begannen, sind die 
Weingärtner der höheren Standesgruppen nur dann persönlich er- 
schienen, wenn sie aus besonderen Gründen etwas auf dem Berg- 
taiding vorzukehren hatten. Alles dies bestätigen nun auch die Pro- 
tokolle. Selbst ein Graf Barbo (Kroisenbach) oder ein Edler 
von Breckerfeldt hat als Mejasch am Bergtaidinge teilgenommen. 
Sehr häufig werden Gutsverwalter, Pfarrer, Kaplane oder Stadter 


s) Stud.-Bibl.-U. Art. 19, ed. Oblak, a. a. O. S. 301. 
87) Wagensb.-Torso Art.14, Exz. Art. 6, ed. Dolenc, a.a. O. S. 103, 104. 


514 


(ein Doktor medicinae und dergl.) als anwesende Parteien und Wein- 
gartenbesiker erwähnt. Allerdings muß angenommen werden, daß 
alle diese ein Interesse ad hoc zur persönlichen Teilnahme drängte, 
weil sie sonst bloß einen Stellvertreter geschickt haben würden. In 
der Tat treten sie vornehmlich als Kläger oder Beklagte auf, hie und 
da aber auch als Beschützer ihrer eigenen Untertanen, die eine Klage 
vorzubringen oder abzuwehren hatten. Man kann übrigens an- 
nehmen, daß solche vornehme Parteien von einer wider sie bevor- 
stehenden Klage noch vor dem BT. benachrichtigt werden mußten. 
Klar und unbestritten war aber die Dingpflicht der Bergholden, die 
das Bergrecht zu entrichten hatten; ihre Pflicht wurde nie gelockert. 
Dies war auch das Kriterium, an dem die Weingärtner bei dem oben 
erwähnten Beschlusse vom 16. März 1767 festgehalten haben, näm- 
lich, daß alle Weingärtner, die um Bergrecht dienen, auch selbst am 
Bergtaidinge des 29. September des gleichen Jahres erscheinen und 
ihre Angelegenheiten austragen würden, sofern die Bergbehörde das 
BT. nicht mehr selbst verkündigen wollte. Ein halbes Jahrhundert 
später, allerdings in einer anderen Gegend, in Ainödt und in Weiß- 
krain, wurden die Namen sämtlicher Weingärtner zu Anfang des BT. 
verlesen, die fehlenden festgestellt, um sie der Bestrafung zuzu- 
führen. 


87. Die übrigen Volksgerichte. 


Hinsichtlich der Quatembergerichte ist es klar, daß die 
Bestimmungen des BRB. an und für sich für sie keine Geltung haben 
konnten. Um so bemerkenswerter erscheint die Tatsache, daß in 
den Protokollen über die Quatembergerichtsverhandlungen dennoch 
auch Zitate der Bergrechtsartikel vorkommen. Nun sind die lebt- 
gedachten Protokolle in das gleiche Buch eingetragen worden wie 
die Bergtaidingprotokolle. Auch muß fur den Großteil der in Frage 
kommenden Gebiete angenommen werden, daß wohl zwei Drittel, 
wenn nicht gar drei Viertel aller dauernd angesiedelien Bewohner 
Weingärten besaßen. Man kann daher ruhig annehmen, daß das 
Volksrecht, das sich auf Grundlage des BRB. entwickelte, als Volks- 
recht für alle Bewohner des Gebietes, ob Weingärtner oder schlecht- 
weg Bauern oder Handwerker, gleichmäßig seine Geltung bean- 
spruchte, daß es daher als Volksrecht kat’exochen angesehen 
wurde. Nur so kann man es verstehen, daß Appellationen von den 
BT. an das Quatemberrecht, desgleichen aber auch umgekehrt Be- 
rufungen vom Quatemberrecht an das BT. als höhere Instanz ab und 
zu vorkamen. Hieß es ja im Schwabenspiegel, eine gute Gewohnheit 
sei ebenso gut wie ein geschriebenes Geseg§. 

Da nun die Quatemberrechte (gleich -gerichte), wie der Name 
besagt, in jeder Quatemberwoche, zum Beispiel in Landstrag an 
jedem der Quatembermittwoche, in der Kirche zusammenzutreten hatten, 
so war es ein leichtes, die Zeit und den Ort dieser Taidinge gewohn- 


514 


= ff 


se PF oo eR ee fw AO p 


heitsmäßig aufrechizuerhalten. Sie wurden, wenn nicht in der Kirche, 
so doch bei der Kirche abgehalten. 

über die Dingpflicht sind wir in Ansehung der Quatemberrechte 
wenig informiert. Die schriftlichen Quellen versagen, weil allbekannte 
Bestimmungen in die Gerichtsprotokolle nicht eingetragen wurden, 
sie versiegen aber auch bald, weil die Quatemberrechte im Laufe des 
17. Jahrh. wahrscheinlich überall abgestellt worden sind. Die Analogie 
mit den Bergtaidingen weist allerdings dahin, daß auf den Quatember- 
gerichten alle Burgfriedenleute, seien es ländliche Besitzer, seien es 
städtische Bewohner, zu erscheinen hatten, zumindestens aber jene, 
die von der Herrschaft oder von der Gegenpartei zum persönlichen 
Erscheinen aufgefordert wurden. Waren doch die Quatemberrechte 
bloß für die Erledigung von anhängig gewordenen Klagen bestimmt, 
während die Bergtaidinge, wie noch später des näheren erörtert 
werden soll, vorzüglich auch autonome Verwaltungsgeschäfte aus- 
zuüben hatten. 

Die Billichrechte, die für das Landstraßer und Pletriacher 
Herrschaftsgebiet urkundlich nachgewiesen sind, wurden in jedem 
Jahre bloß einmal abgehalten und dies stets am „Erchtage“ nach 
Pfingsten (Pfingstdienstag). Die Ähnlichkeit der Billichrechte mit den 
BT. ist allerdings insofern gegeben, als beide reine Kausalgerichte 
waren. Nichtsdestoweniger geben die Protokolle über die Billich- 
rechtstagungen keinen Aufschluß, wer an ihnen teilzunehmen ver- 
pflichtet war. Wir neigen zur Annahme, daß nur jene Bewohner der 
Dörfer und Siedlungen an den Berghangen des Uskokengebirges 
erscheinen mußten, die wegen eines bevorstehenden Prozesses be- 
sonders aufgefordert wurden, weil sie sich in einen Rechtsstreit 
wegen der Jagd auf Billiche verfangen haften“). 


il. Die innere Organisation der Volksgerichte. 
A. Bestimmungen der Bergrechtsbüchel. 
88 Allgemeine Charakterisierung. 


Die slovenischen Volksgerichte des 16., zum Teil auch noch des 
17. Jahrh. weisen Grundzüge auf, die die von Karl dem Großen ein- 
geführten Gerichte kennzeichneten. Wir müssen annehmen, daß die 
Slovenen schon in der Zeit vor der Unterjochung Carantaniens ihre 
Zupanengerichte besaßen, auf denen die allgemeinen Fragen im 
Interesse der gesamten Z up a erörtert wurden, während die Streitig- 
keiten der einzelnen Familienkommunionen deren Ortsgerichte regel- 
ten®). An diese Organisation mußten die Franken ihre Reformen 


2% Schon hier sei erwähnt, daß „nach dem Landgebrauch“ das Rechts- 
institut des „Besuchens“ galt, d. h. bevor die Klage anhängig gemacht 
wurde, mußte der Gläubiger den Schuldner wegen allfälliger gütlicher Be- 
reinigung des strittiigen Anspruches aufsuchen. 
%) Vgl. L. Hauptmann, Das Schöffentum auf slowenischem Boden; 
„ des Historischen Vereines für Steiermark, X, Graz 1912, S. 181 
is : 


515 


anknüpfen. Sie führten ihre Thinge ein, geboten die allgemeine 
Pflicht, hierzu zu erscheinen, ließen aber nur besonders ausgewählte 
Männer die Urteile in Streitsachen schöpfen“). Aus dieser Form 
haben sich die Wotschengerichte für die allgemeinen Rechtsange- 
legenheiten in den Talsiedlungen, die Bergtaidinge in den Wein- 
gebirgen entwickelt, wo eine Kausalgerichtsbarkeit mit Rücksicht auf 
die besonderen Verwaltungsumsiande geboten erschien. Diese 
Grundlinien des Werdeganges finden ihre Bestätigung vorzüglich ın 
dem Umstande, daß der Prozeß auf den Bergtaidingen keineswegs 
dem kanonischen Summarprozesse nachgebildet erscheint. Es kann 
nicht der geringste Anhaltspunkt ins Treffen geführt werden, daß der 
Grundsatz gegolten habe: „Simpliciter et de plano ac sine strepitu 
ac figura iudicii.“ Im Gegenteil! Der Summarprozeß auf dem BT. 
hat die fränkische Form der Prozeßführung intakt gelassen, denn 
der mündlichen Klage folgt die Antwort des Beklagten, beiden die 
Beweisführung ohne jede schriftliche Aufzeichnung, worauf es sofort 
zur mündlichen Verkündigung kommt. 

Allerdings drängt sich die Frage von selbst auf, warum sich 
gerade unter den Slovenen Unterkrains dieses Institut mit seinen 
fränkischen Wurzeln jahrhundertelang bis zur großen Kodifikations- 
ara am Ende des 18. Jahrh. erhalten konnte. Die Antwort hat zu 
lauten: Der slovenische Bauer und Weingariner war ungemein kon- 
servativ veranlagt gewesen, da er von allem Anfang mit Rücksicht 
auf die große Abgeschlossenheit seines Siedlungsgebietes und auf 
die häufigen Turkengefahren auf sich selbst angewiesen war, zumal 
die adligen Herrschaftsbesifer seine Sprache selten oder auch gar 
nicht beherrschten. Auch bedeutete das BRB. als eine Kodifikation 
der Rechtsregeln, die sich im Zeitalter der großen Bauernunruhen 
geltend machten, eine Errungenschaft des niederen Volkes, eine 
Magna charta libertatum und genoß deswegen eine große 
Autorität. Die ältesten uns bekannten Bergtaidingsprotokolle da- 
tieren ja aus dem Jahre 1590 und entstammen einem Gebiete — Land- 
straß —, wo noch viele Weingärtner persönliche Erinnerungen mit 
dem am 15. Februar 1573 in Agram (5 Stunden Gehwegs von Land- 
strak entfernt) hingerichieten ,,Bauernkonig“ Mattias Gubec ver- 
banden. Schließlich ist es nicht zu verkennen, daß auch unter den 
Slovenen, wie auch bei anderen Völkern, der Spruch gegolien hat, 
daß es unter dem Krummstabe gut zu leben sei. Allerdings haben 
die vielen Klöster die Bauern als Verteidiger gegen die Türken- 
invasionen benötigt und ihnen ihre Rechte — vornehmlich in den 
ersten in Betracht kommenden Jahrzehnten (etwa bis 1650) — gerne 


40) Freilich konnte diese Neuordnung dabei wahrscheinlich in weitem 
Umfang bereits vorhandene, gemeinslavische Rechisinstitute benuken; zu 
ihnen ist jedenfalls die Heranziehung ausgewählter Vertreter der dingpflich- 
tigen Bevölkerung zur Urteilsfindung zu zählen. Vgl. über verwandte Er- 
scheinungen auf kroatischem und serbischem Boden WI. Namystowski, 
Die Teilnahme der Bevölkerung an der Rechtssprechung in den mittelalter- 
lichen kroatischen und serbischen Ländern, Jahrbücher für Kultur und Ge- 
schichte der Slaven N. F. Ill, 1927, S. 345— 364. 


516 


belassen, dadurch aber eine solche Lage geschaffen, daß auch die 
weltlichen Herrschaftsbesiger sich ähnlich verhalten mußten. 

Wenn es heißt, die Grundzüge der BT. zu charakterisieren, muß 
im voraus noch deren zweifache Funktion hervorgehoben 
werden: Sie waren als Vollversammlungen aller Wein- 
gartner das autonome Verwaltungsorgan für alle 
gemeinschaftlichen Angelegenheiten einer- und 
vorzüglicherseits, anderseits aber waren sie in 
derFormdes den „Ring“ bildenden Kollegiums der 
auserwählten Repräsentanten der Vollversamm- 
lung das Organ zur Ausübung der Justiz für die 
Rechtsstreitigkeiten der einzelnen Weingärtner. 


89 Die Bestimmungen des Original-BRB. 


Die steirischen Landstände entwarfen das BRB. auf Grund ge- 
wisser Voraussetzungen, die sie als allgemein bekannt und unzweifel- 
haft gultig erachteten. Im Art. 1 wird vom Bergherrn gesprochen 
und bestimmt, er solle „solch recht (d. h. das BT.) mit seinen perk- 
holden“ besefen. Im Art. 17 werden aber diese Richter als „Perk- 
genossen“ bezeichnet). Welche Zahl der Richter notwendig war, gibt 
das BRB. nicht an. Auch die Zahl wird als bekannt vorausgesegt. 
Der Bergherr wurde nämlich angewiesen, im Falle, daß er die er- 
forderliche Anzahl aus dem in Frage kommenden Weingebirge nicht 
zur Verfügung hat, sie aus anderen Weinbergen zu nehmen. Da 
kann gefragt werden, ob unter den anderen Weinbergen bloß die 
eigenen oder auch solche unter fremden Bergstäben stehenden ge- 
meint waren. Die Praxis hat diese Frage im Sinne der zweiten 
Variante gelöst.. 

Neben den beiden eben erwähnten Instituten — Bergherr und 
Bergrichter — werden im BRB. im Art. 21 und 29 der „Hergmeister“ “)), 
im Art. 27 der „Hubmeister“ ), im Art. 48 der Bergsuppan oder 
Bergmeister genannt»). Außerdem finden wir im Art. 51 die Aus- 
drücke „Paumann“ und „geschworn pauleut und perkgenossen“*), die 
nach dem Sinne nichts anderes bedeuten können als Weingariner*’). 


41) Mell, Weinbergrecht, S. 109, 122. 

83) So lautete 2. B. das „Gemein Urtl“ vom 23. April 1730 auf einem BT. 
des Klingenfelser Bergstabs, die Strafandrohung fur Viehschaden habe zu 
gelten, „sowohl in den Klingenfelsischen als in des woll Ehrwiirdig Herrn 
Sigmundien Khinskyschen Perkrechts jurisdiction, massen von beyden das 
Assessorium gewest”. 

3) Mell, Weinbergrecht, S. 129, 134. 

“) In der Wiedergabe des BRB.-Textes bei Mell, O. S. 133, 
dürfte im Art. 27 durch einen Druckfehler aus „Hubmeister“ - — e 
geworden sein. Im Verzeichnisse der Worte und Sachen auf Seite 151 steht 
richtig „Hubmeister“ mit dem richtigen Fundort „Art. 27“. 

s) Mell, Weinbergrechi, S. 143. 

s) Mell, Weinbergrecht, S. 145. 

37) Das ergibt sich u. a. aus der von Mell, Weinbergrecht, S. 128, zu 
Art. 20 angeführten Urkunde von 1360. 


21 NF 5 817 


Nach Art. 4 hatten die angeführten Faktoren das BT. als ein „ordent- 
lich Gericht wie von alter herkommen“ zu halten, also als das Gericht 
der ersten Instanz, „wo all Sachen so das perkrecht beruhrt vur- 
genommen und gehandit werden‘). 

Als zweite Instanz hatte das Amt zu handeln „der Kellermeister“, 
(Art. 60, bzw. „des Landsfursten Kellermeister“ (Art. 28), als dritte 
der „Landshauptmann, landsverweser und vizedomb“, allein nur in- 
soweit „solches ir kuniglich majestat bewilligt“ (Art. 28)*). Doch die 
hier angeführte Organisation hat das BRB. nur in betreff der gericht- 
lichen Funktionen begründet und auch dies nicht erschopfend. Die 
Praxis haf neben dem Bergherrn noch andere Gerichtsfunktionare 
ins Leben gerufen: den Schriftführer, die Delegaten, die unpartei- 
ischen Richter, den Gerichtsaltesten, die Referenten für Urteile, 
weiter in Ansehung der Beschlüsse der Vollversammlung — die Re- 
ferenten des „Gemeinurtels“, in Ansehung der Exekutionsdurch- 
führung die Petschafter, auch „Weinzedl“. Uber die Bedeutung 
dieser Funktionäre soll erst später gesprochen werden. 


8 10. Bestimmungen der slovenischen 
Übersetzungen. 


Pfarrer Andreas Rez! (Rezl- U.) hat die Ausdrücke Bergherr 
und Bergholden sprachlich richtig ubersebt („gorski gospod“ 
bzw. „ogorniki“). Bloß die Wendung „die erste Instanz“ wurde 
übersebt, als ob es hieße „die rechte Instanz“ (Art. 4). Im Art. 17, 
wo steht, daß die Entscheidungen (,,erkantnus“) die Perkgenossen 
zu schöpfen haben, gebraucht Rezi denselben Ausdruck wie im 
Art. 1 für die „Perkholden“. Im Art. 13 wird in der Wendung „on 
urlaub aines Perksuppan“ dieser Funktionär einfach mit dem Aus- 
druck für Bergmeister bezeichnet. Der Ausdruck „Hubmeister“ wurde 
als unübersekbar einfach mit demselben deutschen Worte wieder- 
gegeben (Art. 27). Im Art. 48 sind die beiden Ausdrücke „perk- 
suppan oder perkmeister“ sprachlich sinngemäß richtig wieder- 
gegeben. Im Art. 51 wird ,,paumann“ mit einem dem deutschen Be- 
griffe des Hauswirts adäquaten Ausdrucke („gospodar“), die „ge- 
schwornen pauleute“ mit einem dem Begriffe „beeidete Weingärtner“ 
adäquaten Worte (,sapersesheni vinogradarye') wieder- 
gegeben®!). 

In der Beradt. BO. (1595), die in demselben Formularienbuche 
von derselben Hand wie die Layb.-U. niedergeschrieben wurde, ist im 
Art. 1 wie auch im Originale nur von ,,perckholden“ die Rede“). In 


4) Mell, Weinbergrecht, S. 112. 
a) Mell, Weinbergrecht, S. 112. 
se) Mell, Weinbergrecht, S. 133 f. 


81) Rezl-U. Art. 4, 17, 1, 13, 27, 48, 51. ed. Oblak, a. a. O. S. 182, 184, 
181. 183, 186, 189, 190, ed. Koblar, a. a. O. S. 14, 151, 147 f., 150, 153, 156. 


53) Unten Anhang I. 


518 


der Layb.-U. steht es aber ,Sagornike ale Meiasche“ gleich 
Bergholden oder Mejaschen, wobei aber aus fremden Weingebirgen 
bloß Mejaschen zu nehmen erlaubt war, was gleichfalls einen Beweis 
für die Unterscheidung zwischen Bergholden und Mejaschen be- 
deutet. Im Art. 25 der Beradt. BO. steht nicht mehr „Hubmeisfer“, 
sondern Kellermeister®). In der Layb.-U. wurden die Ausdrücke 
Baumann und geschworene Bauleute nicht übersekt, sondern um- 
gangen. Die Stelle, wo die Urschrift vom Hubmeister spricht, ließ 
Laybasser unübersekt. Bezüglich der übrigen slov., übrigens 
weniger bedeutungsvollen Übersekungen wollen wir der Kürze 
halber ein gemeinschaftliches Bild ihrer Bestimmungen entwerfen, 
sofern sie für den inneren Aufbau der Volksgerichte in Betracht 
kommen und von der Layb.-U. stark differieren. 

Die beiden Ausdrücke Berghold und Berggenosse wurden pro- 
miscue bald mit „sogorniki“, bald mit „mejas“ übersebt, 
was mit unseren obigen Fesistellungen im Einklange steht, daß die 
Standesgruppen mit der Zeit ausgeglichen worden sind. Das Berg- 
recht als Gericht wird mit „gorska pravda“ übersetzt, was soviel 
als Recht oder Gerechtigkeit heißt]. Die Kapsch-U. besagt, daß das 
Bergrecht vom Bergherrn mit seinen eigenen Mejaschen zu besefen 
sei, auf das Bergtaiding müssen alle Bergholden kommen. Die 
Mus.-U. drückt sich umgekehrt aus, daß auf das BT. alle Mejaschen 
kommen müssen, während das Gericht von den Bergholden gebildet 
wird. Der Wagensb.-Torso erwähnt bloß die Bergholden, das 
Wagensb.-Exzerpt überhaupt nur die Mejaschen, doch bringt es keine 
Bestimmungen uber die Besetzung des Gerichtes. Die Sfud.-Bibl.- U. 
kennt als Richter nur Bergholde, der Ausdruck Mejasch wird nur dort 
angewendet, wo er als Übersekung für „Anrainer“ zu dienen hat. 
Als Bezeichnung einer besonderen Standesgruppe der Weingärtner 
kommt er nicht vor. In der Weißenst.-U. begegnen wir zum ersten 
Male der Bestimmung, daß die Zahl der Richter zwölf zu betragen 
habe, die Bergholde oder Mejaschen sein können. Doch ist hier auch 
die Rede einmal von einem Erkenntnis der Mejaschen, das andere 
Mal vom Erkenntnis der Mejaschen oder Bergholde Die Ain.-U. 
gebraucht bloß die Bezeichnung Mejaschen, spricht aber wohl, wie 
schon oben erwähnt, von „osabeniki“ gleich Inwohner, die aller- 
dings in indirekter Weise von der Teilnahme an der Richterbank 
ausgeschlossen waren. Die jüngste Übersekung aus dem Übermur- 
gebiete kennt „hegyszek“, was in der magyarischen Sprache 
Berg + Stuhl, also Bergstuhl (Bergtaiding) zu bedeuten hat; weiters 
erwähnt sie den ,hegy-biro“ gleich Bergrichter, der in einer 
Wendung auch Ritar, recte Richtar gleich Richter genannt 
wird, verlangt auch 12 „esküt“, d. h. Richterbeisiker, spricht aber 


63) Unten Anhang I. 

%) Dasselbe Wort (pravda) kennen wir aus dem Kampfrufe des „Win- 
dischen Bauernbundes“ zu Anfang des 16. Jahrh.: „Aus irer gemain, theten 
sy schreien „Stara pravda“. „Ain newes lied von den kraynerischen 
bauren“, veröffentlicht von J. Bleiweis, LMS. 1877, S. 200 f. 


319 


durchwegs von Mejaschen, Bergholde werden in dieser Übersekung 
überhaupt nicht erwähnt. 

Das Institut des Bergmeisters ist in allen Übersekungen bekannt 
und wird mit „gornik“ oder in der Ain.-U. mit „gors che k“ über- 
sekt, was aber gleichbedeutend ist. Nur die Übermurg.-U. bedient 
sich der wortwörtlichen Übersekung des Ausdruckes, indem es den 
Bergmeister mit ,hegy mester“ bezeichnet. Die Bezeichnung 
Bergsuppan des Originals des BRB. wird nur in der Rezl-U. in einem 
Fall richtig mit „gorski Župan“ übersetzte), überall sonst aber 
wird der Begriff auch sprachlich mit „gornik“ (Bergmeister) iden- 
tifiziert. 

Das Amt des Hubmeisters (eines landesherrlichen Rentenver- 
walters) war in Krain nicht bekannt: infolgedessen ist in den 
slov. 0.57) statt seiner der „Grundherr“ (Kapsch-U.) oder der Berg- 
meister (Stud.-B.-U.)®®) genannt. Die Beradt BO. ersebt sinngemäß 
den Ausdruck „Hubmeister“ durch ,Kellermeister“*). 

Alle Ubersebungen bezeichnen konform dem Urtexte das BT. als 
die rechte oder die erste Instanz, auch „ordentliches Gericht“. Eine 
Sanktion für die Nichtbeachtung dieses Gerichtes steht aber nur in 
der Übermurg.-U. Diese sagt nämlich im Art. 14: „Wer mit Umgang- 
nahme des Bergrichters und der Beisitzer sofort seinen Bergherrn 
oder Gebieter angeht, das Bergtaiding aber verwerfen würde, wird 
zur Geldbuße von 2 Gulden verurteilt.“ Hierbei ist noch hinzu- 
zufügen, daß nach dieser Übersekung nicht der Bergherr, sondern 
der hegymester (gleich Bergmeister) allein die Bergtaidinge zu 
verkünden hatte. 


B. DieBergtaidingeinder Praxis. 
§ 11. Der Bergherr. 


Aus den Protokollen betreffend die bergrechilichen Prozesse 
lassen sich deutliche Unterschiede zwischen den Verhältnissen er- 
kennen, die nach den gesetzlichen Bestimmungen eintreten müßten, 


ss) Rezi-U. Art. 48, a. a. O. 

s) Vg. F. v. Krones, Landesfurst, Behörden und Stände des Herzog- 
thums Steier 1285—1411, Forschungen zur Verfassungs- und Verwaltungs- 
geschichte der Steiermark IV, 1, Graz 1900, S. 189, Mell, Grundriß, Heft 4 
1929, S. 174. Zur Tätigkeit des Hubmeisters in Bergrechtssachen vgl. auch 
die Berufung des Bergtaidings im Grazer Hubamte, Ende des 15. Jahrh, 
Steirische Taidinge (Nachträge), herausgegeben von A. Mell, und E. Frhrn. 
v. Müller, Österreichische Weistumer X, Wien 1913, S. 201—203, Nr. 34. 

67) Mit Ausnahme der wörtlichen Rezl.-U., die in Art. 27 (ed. Oblak, 
a. a. O. S. 186, ed. Koblar, a. a. O. S. 153) vom „huebmastr“ spricht. 


88) Stud.-B.-U. Art. 27 (ed. Oblak, a. a. O. S. 304). 


se) Art.25, unten Anhang I. Entsprechend hat schon das BRB. in Art. 44, 
Mell, Weinbergrecht, S. 140 f., den „huebmaister zu Grezz“ des um die 
Mitte des 15. Jahrh. niedergeschriebenen Steirischen Bergrechts (Mell, 
a. a. O. S. 141, ad 44, B. R. A. Ill, Art. 2) durch des „landsfursten keller- 
maister“ erscht. 


520 


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5. 


und jenen, die sich bei der praktischen Durchführung dieser Bestim- 
mungen herausgebildet haben. Dies gilt auch für die Stellung des 
Bergherrn, sofern er bei den Bergrechtsprozessen mitzuwirken hatte. 

Die Bergtaidingsprotokolle der Landstraßer Abtei, die vom Juli 
1590 an erhalten blieben, führen in dieser Zeit und noch fast ein 
halbes Jahrhundert lang zu Beginn der Aufschreibungen stets Tag, 
Monat, Jahr und Ort der Tagung an. In den ersten Jahrzehnten stets, 
später sporadisch wurde auch ausdrücklich angegeben, daß der Abt 
Iscil. vom Landstraßer Zisterzienserkloster) das Taiding anbefohlen 
und gehalten hat. Er hat selbstredend die Tagung eröffnet und ge- 
schlossen. Er war der Gerichtsherr und Inhaber des Bergstabes, 
dem die Giebigkeiten und Strafen (sei es in Geld, sei es in Wein 
oder Most — Bannwein) zufielen. Doch war seine Rolle in diesem Ge- 
biete grundverschieden von jener, die er im Weinberggebiete von 
Niederösterreich“) hatte: Die Ausübung der Gerichtsbarkeit fiel 
keineswegs ihm, sondern den Gärichtsbeisikern unter dem Vorsike 
des Gerichtsaltesten zu, die alle dem Namen und Vornamen nach im 
Kopfe des Protokolles angeführt waren. Der Gerichtsherr besorgte 
bloß vornehmlich im eigenen fiskalischen Interesse die Aufschreibung 
aller Beschlüsse der Richter, ja hier und da hat er sie selbst nieder- 
geschrieben, meist aber bloß diktiert. Seine Aufgabe bestand darin, 
daß er die in den Bergtaidingsprotokollen beurkundeten Beschlüsse 
und Urteile nach der Tagung den Parteien ausfertigte und mit Siegel 
und Unterschrift versah. 

Mit der Zeit hat sich aber das Interesse der Bergherren für die 
bloß formelle Beteiligung an dem BT. sichtlich abgekühlt: Hierzu hat 
neben dem allgemein bemerkbaren persönlichen Abrücken der Herr- 
schaftsinhaber vom gemeinen Volke sicher auch der Umstand viel 
beigetragen, daß das Verhalten der Bergbehörde häufig eben auf 
den BT. zum Gegenstande einer scharfen Kritik gemacht wurde. 
Denn das Volksgericht urteilte auf den Bergtaidingen auch bezüglich 
der Begehren, Klagen und Beschwerden der eigenen als auch frem- 
der Bergbehörden gegen die Weingärtner, aber auch — allerdings 
seliener — umgekehrt über die Beschwerden und Klagen der Wein- 
gariner wider die Bergbehorde oder ihre Funktionäre, insbesondere 
den Bergmeister. Es kam ab und zu vor, daß der Bergherr einen 
Prozeß verlor, ja auch offener Widerstand wurde seitens der Wein- 
gariner seinen Anordnungen entgegengesetzt]. Kein Wunder, daß 
die Bergherren keine Lust hatten, persönlich an den BT. teilzu- 


% Dort hat der Bergherr das iudicium rurale et ius vinearum geleitet, 
doch wurden keine Urteile gesprochen, sondern er hielt seinen Weingartnern 
eine Standrede und machte sie auf ihre Fehler aufmerksam. Die kleinen 
Rechtssachen haben bloß vier Geschworene, die auf dem Bergtaiding ge- 
wählt worden sind, zu erledigen gehabt. Allerdings war in Niederösterreich 
kein BRB. in Kraft. 

en) Die einzelnen Fälle von dieser Art werden in den oben S. 303 Anm. 13 
angeführten Abhandlungen angeführt. Auf eine detailliertere Wiedergabe 
der fraglichen Prozesse kann wegen der notwendigen Raumersparnis hier 
nicht eingegangen werden. 


521 


nehmen, und es vorzogen, sich durch eine andere Person ihres Ver- 
trauens vertreten zu lassen. Doch war dies nicht überall gleich. Ja 
nicht einmal ein und derselbe Bergherr hat stets den gleichen Vor- 
gang beliebt. So haben sich der Zisterzienser-Abt von Landstraß 
oder der Jesuiten-Superior von Pletriach durch den Prior oder Vor- 
stand des Kelleramtes oder einen Konfrater ohne Ehrenfunktion ver- 
treten lassen. Der Klingenfelser Bergherr war der Abt von Sittich 
(Zisterzienser), er residierte aber nie in Klingenfels und besuchte 
auch niemals die Bergtaidinge. In Verwaltungsangelegenheiten ließ 
er sich ständig durch zwei Patres oder Fratres als Administratoren 
vertreten; einer von den beiden präsidierte bei den Bergtaidingen. 
In Rudolfswert, wo die Kommende des Deutschen Ritterordens keine 
Geistlichen beherbergte, führten auch erbetene Adelige, z. B. Johann 
Siegmund Edler von Breckerfeldt aus Altenburg, den Vorsitz. In 
Seisenberg, dem Herrschaftssike der Grafen bzw. später Fürsten 
Auersperg, nahmen die Verwalter als Vertreter der Bergbehörde an 
den Bergtaidingen teil. Seit Anfang des 18. Jahrh. bemerken wir 
immer häufiger, daß an Stelle des Bergherrn als Vorsikender der 
Bergtaidings ein iudex delegatus angeführt wird, bald der 
Inhaber eines fremden Bergstabes, bald ein Geistlicher. Noch später 
übernahm die Leitung ein Beamter, wie der Hofrichter oder Ver- 
walter, schließlich sogar bloß ein Bergmeister. 

Nach Auflösung der Sitticher Abtei mit der kaiserlichen Verord- 
nung vom 25. Oktober 1784 kamen die Klöster Sittich wie auch 
Klingenfels unter die Verwaltung des Religionsfonds. Dennoch 
hat noch bis zum 21. Februar 1786 Pater Josef Köschner die Berg- 
taidinge als „administrator et iudex“ eröffnet und geleitet. Erst nach 
seinem Abgange übernahm den Vorsitz der jeweilige Verwalter des 
Religionsfonds auf der Herrschaft Klingenfels. In den Weißenstein- 
schen Bergtaidingsprotokollen wird bis in die Anfangsjahre des 
19. Jahrh. bald der Verwalter der Herrschaft, bald ein Gemeindevor- 
steher (Zupan) als Vorsikender angeführt. Wenn das BT. für meh- 
rere zusammengelegte Weinberggebiete abgehalten wurde, prä- 
sidierten auch zwei Gemeindevorsteher zugleich. Die jüngsten Pro- 
tokolle, die bis zum Jahre 1843 reichen, entstammen der Herrschaft 
Ainodt. Hier führte stets der jeweilige Verwalter oder Kontrollor 
den Vorsik, allerdings war das Bergtaiding zu dieser Zeit schon zu 
jener „Hergraiftung“ umgestaltet worden, auf der die Weingärtner 
fast durchwegs nur mehr die Befehle ihrer Herrschaft entgegen- 
zunehmen hatten. 


8 12. Richter. 


Die gerichtliche Funktion war in den Händen der Bergrichter 
geborgen, die ihren Obmann in der Person eines besonders ausge- 
zeichneten und geachteten ,,Altesten“ (starešina) hatten. Die 
Protokolle bezeichnen ihn als ,,Perchrichter“ oder „Perchtaidings- 
richter“, hier und da auch als ,,Unparteiischer Richter“ oder „iudex“ 


522 


schlechthin. Die Richter — das gesamte Kollegium wird einige Male 
als ,,Beysibertoffel“ bezeichnet — werden „Beisizer“, „Asses- 
sores“ oder auch kurzweg „Mejaschen“, aber auch „Perchholden“ 
genannt. In der Regel werden ihre Namen angegeben, nur wenn es 
dieselben waren wie bei den vorhergehenden Bergtaidingen, gestat- 
teten sich die Schriftführer die Abkürzung „Die gewöhnlichen Me- 
jaschen und Perchholden“. 

Der Obmann präsidierte in einigen Gegenden mit dem Richter- 
stab in der Hand. Wenn auch er nie in die Gelegenheit gekommen 
sein kann, den Gerichtsstab nach Art der Bannrichter über einen 
Schuldigen zu „brechen“, was dessen Verurteilung zum Tode be- 
deutete, so scheint es doch, daß die ständige Urteilsphrase „er wurde 
von der Klage entbrochen“, sowie die ständige Benennung der frei- 
sprechenden Urkunde als „Entbrechsbrief“ ihre Herkunft einer sym- 
bolischen Anlehnung an die bezeichnete Verwendung des Gerichts- 
stabes des Bannrichters zu verdanken haben:). Ein und dieselbe 
Person durfte öfter, ja Jahre hindurch als Richter-Obmann sowohl 
bei den Bergtaidingen, als auch bei den Quatemberrechten fun- 
gieren. Besonders beliebt waren als Obmänner Stadtrichter und 
Gemeindevorsteher (župani) Seine Würde bekleidete der Ob- 
mann als „Gerichtsältester‘ (stareSina) lebenslänglich oder 
wenigstens bis zum Zeitpunkte, in dem er seines Alters wegen selbst 
um seine Enthebung ersuchte. Die Verleihung war in einigen Gebieten 
sicher einem Wahlakte der Beisitzer zu verdanken; doch war die 
Wahl wohl noch von der Genehmigung der Vollversammlung, eventi. 
auch des Bergherrn bzw. seines entsandten Vertreters abhängig. Im 
Seisenberger Gebiete kam es Anfang des 18. Jahrh. dazu, daß die 
Verwalter der Herrschaft als Bergherren und zugleich als Obmänner 
der „Beisiseriafel“ fungierten; noch später — in der zweiten Halfte 
des 18. Jahrh. — arrogierte sich der Verwalter auch selbständige Ge- 
richtsfunktionen und trat sozusagen als geseßlich bestimmter Prä- 
sident des Gerichtes auf. Einmal — es war am 16. September 1783 
in Altstrascha bei Ainodt — wird als iudex delegatus neben 
einundzwanzig Beisigern ein „Herr Josef Ambroschitz“ angeführt, der 
wahrscheinlich ein Abgesandter des Laibacher Inspektorates war, 
denn der damalige Verwalter, der sonst schon oft den Vorsitz führte, 
begnügte sich mit der bescheideneren Funktion eines Beisibers. 

Die Beisitzer bildeten den „Ring“, der das Zentrum der 
versammelten Weingärtner bedeutete. Der Ausdruck ist dem Ori- 
ginalbergbüchel entnommen (Art. 31) und wurde in die slov. U. in 
der deutschen Form übernommen, hat aber im Volksmunde sicherlich 
auch „srenja“ (von sredina = Mitte) geheißen. Die Zahl der 
Richter-Beisiger war nicht so genau bestimmt, daß die Besekung in 


es) Vgl. dazu auch Grimm, Deutsches Wörterbuch Ill, Leipzig 1862, 
S. 502 s. v. „Entbrechen“ ad c), E. v. Moeller, Die Rechtssitte des Stab- 
ee Zeitschr. d. Savigny-Stifig. f. Rechtsgesch. XXI, Germ. Abt., 1900, 


e) Mell, Weinbergrecht, S. 135. 


525 


einem ein wenig geringeren oder größeren Umfange ein Hindernis 
der Funktion in Prozeßsachen bedeutet hätte. Übrigens war 
dies für die verschiedenen Gebiete verschieden eingerichtet. In den 
meisten war die Grundzahl zwölf, aber auch die Zahl vierundzwanzig 
war vertreten. Ihrer Standeszugehorigkeit nach waren die Beisiber 
insbesondere in der Zeit, als die Unterschiede zwischen Mejaschen 
und Bergholden noch stärker hervorstachen, in der Mehrzahl Me- 
jaschen, ja in einigen Gebieten vielleicht ausschließlich Mejaschen. 
Später trifft man Protokolle, in denen Bergholden als einzelne Bei- 
sitzer, aber auch für die gesamte „Beisitzertafel“ angeführt werden. 
Man liest sehr oft in den Protokollen, daß als Richter anwesend 
waren „die gewöhnlichen 12 (bzw. 24) Mejaschen und Perckholden“, 
aber auch „Mejaschen oder Perckholden“. Nicht selten wird ein 
Pfarrer, der Hofrichter oder ein benachbarter Guisbesiger als Bei- 
sitzer angeführt, was von einer hohen Auffassung der Ehre, im 
„Ringe“ zu sitzen und zu richten, zeugt. 

Auf welche Weise wurde man Beisizer? Nach den Bestim- 
mungen des BRB. sollte der Bergherr das Gericht besetzen. Dies 
scheint aber kaum je praktiziert worden zu sein. Denn in den Pro- 
tokollen liest man häufig, sie seien gewählt worden, hier und da 
wird es aber auch bloß konstatiert, der und der sei in den „Nat“ 
eingetreten. Nirgends haben wir aber eine Angabe gefunden, durch 
wen, wo und wie die Wahl getroffen wurde; sicher war dies 
nach dem Gewohnheitsrechte so allgemein bekannt, daß es einer 
Erwähnung gar nie bedurfte. Nun waren die Namen der Beisitzer 
Jahr für Jahr die gleichen. Also müssen wir uns vorstellen, daß die 
Zugehörigkeit zum Ringe so lange bestand, bis der eine oder andere 
infolge Krankheit oder Alters oder Todes ausfiel, worauf die not- 
wendig gewordene Wahl durchgeführt wurde. Sie vorzunehmen 
waren nach unserer Anschauung die übriggebliebenen Beisitzer be- 
rechtigt. Dies folgern wir erstens aus dem Umstande, daß für die 
Beisitzer ein Wahlakt durch die Vollversammlung oder eine Bestah- 
gung seitens der Bergbehörde in keinem einzigen Protokolle be- 
urkundet ist, was bei den vielen Tausenden der Protokolle jedenfalls 
eine auffallende Erscheinung ist; zweitens aus dem Umstande, daß 
diese Art der Berufung der Richter in einigen istrianischen Statuten*) 


*) So heißt es im Statut für Kastav (Castua) bei Fiume in Kap. 67 (in 
Ubersebung des kroatischen Textes): Am Tage des 11. Januar 1611 in der 
Stadt Kastav im Hause des Richters Johann Gosčić, wann die ehrsamen 
Richter und Räte der Stadt Kastav versammelt waren (folgen elf Vor- und 
Zunamen) — wurde von uns ein Kapitel des Gesees verstanden, in dem 
es heißt, daß wann einer von den zwölf Räten aus dieser Welt scheidet, 
die übrigen sich einen rechtschaffenen Mann an dessen Stelle auszuwählen 
haben, der ihnen als tauglich erscheint, keineswegs darf es aber gehen 
nach der Erbfolge, noch nach Bitten. Statut kastavski, uredio Fr. Raéki, 
Monumenta historico-juridica Slavorum Meridionalium edidit Academia 
scientiarum et artium Slavorum Meridionalium, vol. IV (Statuta lingua Croa- 
tica conscripta), Zagrabiae 1890, S. 198. Vgl. dazu C. Mikuž, Notranii 
ustroj avtonomnih mestnih občin ‘vzhodne Istre po kastavskem, veprinaskem 


324 


ausdrücklich erwähnt wird und ein Grund für eine andere Vorgangs- 
weise bei der Gleichheit der Stammeszugehörigkeit nicht erfindlich 
ist. Dadurch ist es auch am leichtesten erklärlich, wieso ein Fremder 
so leicht ad hoc, d. h. auf einem einzigen Bergtaiding Eingang 
in den Ring finden konnte; es bedurfte eben nur der Zustimmung 
der übrigen Beisitzer, selbstredend in erster Linie des Obmannes. 

Nun wurde aber einige Male auch ein Ausschluß eines Beisitzers 
aus dem Ringe beschlossen. Vor allem, wenn der Beisiker seine 
Pflicht, zum Bergtaiding zu kommen, nachlässig erfüllte. Im Jahre 
1688 haben in Pletriach die Richter im Ringe selbst den Grundsak 
aufgestellt, daß nur „Oottesgewalt“ oder „wichtige Geschäfte“ ein 
Ausbleiben entschuldigen können, und wenn keine Entschuldigung 
zugebilligt werde, den Ausgebliebenen die Strafe von 6 „Viertel“ 
Wein zu treffen hat. Für den Fall des ad hoc-Ausbleibens „sine 
legitima causa“ wurde die Anzahl aus den anwesenden ange- 
schenen Weingarinern ergänzt. Aber auch aus anderen Gründen 
konnte ein Ausschluß erfolgen, so z. B. wegen Verübung einer straf- 
baren Tat oder wegen zänkischen Wesens. Selbstredend bedeutete 
dies eine ungemein schwer in die Wagschale fallende Ehrenstrafe. 
Dennoch ist sie einige Male vorgekommen. Nebenbei bemerkt, 
haben die Richter nicht nur den Anspruch eines solchen Ausschlusses 
eines Beisizers aus dem Ringe als ihre Gerechtsame aufgefaßt, sie 
haben, wenn auch bloß vereinzelt, so doch sogar das Recht in An- 
spruch genommen, einen Weingärtner durch ihr Urteil aus dem Ver- 


in moščeniškem statutu (Die innere Verfassung der autonomen Stadigemein- 
den des östlichen Istriens nach den Stafuten von Kastav, Veprinac und 
Mošćenice), Pravni Vestnik (Der Rechtsbote), VII, Trst (Triest) 1927, S. 146. 


“) Das „Viertel“ als bergrechtliches Weinmaß ist im allgemeinen dem 
„Tischkandl“ gleichzusetzen. Solcher „Tischkandin“ gingen zwölf bis sechs- 
undzwanzig, meist aber sechzehn, in einen „Emper“ oder „Eimer“. Der In- 
halt des Eimers wechselte wiederum nach den Gegenden. Nach den Ein- 
tragungen betreffend den Zehent- und Bannwein aus der Mitte des 18. Jahrh. 
wurde für die Herrschaft Seisenberg ein Emper mit 24 Kandl, für die Herr- 
schaft Klingenfels bald mit 12, bald mit 13 Viertl berechnet. Vgl. dazu 
F. Frhr. v. Mensi, Geschichte der direkten Steuern in Steiermark bis zum 
Regierungsantritt Maria Theresias, Forschungen zur Verfassungs- und Ver- 
waltungsgeschichte der Steiermark, Vil, Graz und Wien 1910, S. 429—435: 
Der Grazer Eimer (105,01 1 — 1,858 Wiener Eimer) enthielt bis 1556 64 Tisch- 
viertel oder Tischkandl, die lokalen Flüssigkeitsmaße in Steiermark kennen 
Eimer von einem Inhalt, der zwischen 12 Tischvierteln und 1% Grazer Eimern 
schwankt. Vgl.auch A.Luschin, Vorschläge und Erfordernisse zu einer 
Geschichte der Preise in Österreich, Wien 1874. Nach dem Gottscheer Urbar 
von 1574 (ed. Wolsegger, a. a. O. IV, S. 28) faßten die als Weinmaß 
in der Herrschaft Gottschee gebräuchlichen „Most-Emper“ oder „-Emer 
teils 12 „altter Weinmaß Tischkhanndlen oder Viertl“ und ein Seidel, teils 
16% ,Viertl Kanndlen“. — Im Zehentregister der Herrschaft Wagensberg © 
aus den Jahren 1747—1749 wurde ein Emper mit 4 Quart zu 4 Vierteln 
gerechnet. — Nach „Der Fünf niderösterreichischen Lannde ... Ver- 
gleichung“ von 1532 (vgl. oben Anm. ) kommt der Inhalt zweier in den 
krainischen Weinberggebieten gebräuchlicher „Emper“ dem eines Wiener 
„Emers“ gleich (demnach etwa 28,25 I). Dann wäre der Inhalt des „Kanndis“ 
oder Viertels auf etwa 2 | zu bestimmen. 


525 


bande der Weinbergbesiker auszuscheiden und ihn seines gesamten 
unbeweglichen Besiktums für verlustig zu erklären, am häufigsten 
bei Diebstahl und Unzuchtsfällen, wozu auch die Zeugung eines un- 
ehelichen Kindes gezählt wurde. 

Weder der Obmann noch die Beisiker wurden für ihre 
Richtertätigkeit in bar entlohnt. Im BRB. wird einer Entlohnung 
ihrer Mühewaltung keine Erwähnung getan. In der Praxis fanden 
die Beisitzer allerdings Mittel und Wege, sich eine entsprechende 
Entschädigung dadurch zu verschaffen, daß sie Strafen in einer be- 
stimmten Anzahl von Eimern oder „Vierteln“ Weins diktierten, den 
sie dann gemeinschaftlich vertranken. Daß sie berechtigt waren, den 
Wein zu verkaufen und den Erlös zu teilen, erscheint weniger glaub- 
haft, weil davon in den Protokollen nirgends eine Erwähnung zu 
finden war. Wohl aber bezeugen die Protokolle und slov. U. des 
BRB., daß es auf den BT. nicht ohne Zechereien einherging. Einmal 
steht bei einem Beisitzer der Beisab „Weingastgeber“. Die Kapsch-U. 
befiehlt aber in der Einleitung ausdrücklich, daß die Teilnehmer an 
dem Bergtaiding nüchtern bleiben müssen und daß kein „Leitkauf“ 
aufgetragen werden dürfe, während nach einigen Protokollen aus 
anderen Gebieten die Strafe in Wein eben als „Leiikauf“ für die 
Beisitzer diktiert wurde. 


§ 13. Der Bergmeister. 


Das Rückgrat des wirtschaftlichen und rechtlichen Lebens in den 
Weingebirgen waren die Bergmeister. Dieses Institut überlebte 
selbst die Lebensdauer der BRB. Es war von allem Anfang des 
Weinberglebens in allen Vorgängern des BRB. vorgesehen, fand in 
allen slov. U. ausnahmslos Eingang, spielte in jedem Bergtaidings- 
protokolle eine gewichtige Rolle, es wurde auch noch in der Wein- 
leseordnung vom 28. Jänner 1832 Zl. 27049 beibehalten, die für den 
Neustädtler (Rudolfswerter) Kreis herausgegeben wurde und bis zum 
Jahre 1860 in Geltung verblieb. 

Trob der hervorragenden Bedeutung, die dem Institute der Berg- 
meisterschaft zukam, war der Wirkungskreis der Bergmeister nicht 
eindeutig bestimmt, ihre Funktionen waren je nach dem Gebiete ver- 
schieden, ja selbst unter demselben Bergstabe konnten sie un- 
gleich sein. | 

Im allgemeinen war der Bergmeister das Organ, welches die 
Verwaltung der Weinberge in einem abgeschlossenen Gebiete führte. 
In der ältesten Periode unserer Protokolle war er in einem gewissen 
Sinne geradezu der Stellvertreter und Vertreter des Bergherrn. In 
einigen Gebieten trug er noch im 18. Jahrh. ein sichtbares Zeichen 
seiner Würde, einen Bergmeisterstab, in der Hand. Wenn dies nur 
einmal in den Gerichtsprotokollen erwähnt wurde, so mag das darauf 
zurückgeführt werden können, daß es zu bekannt war, als daß man 
es in das Protokoll besonders eingetragen hätte. Er war derjenige, 


526 


der Klagen im Namen des Bergherrn vorbrachte. Überall kam er 
als Erster zum Worte; erst nach ihm durften Privatparteien als Kläger 
auftreten. In einigen Gebieten fungierte er gewissermaßen selbst- 
verständlich als Beisitzer, sehr häufig auch als Obmann der Beisiker- 
tafel. Dies beweist, daß er zugleich Vertrauensmann des Bergherrn 
und der Bevölkerung war. Hundert Jahre später änderte sich das 
Bild. In der Rudolfswerter Umgebung war er bloß Exekutionsorgan 
des Bergherrn, desgleichen in Seisenberg und Ainodt; er urteilte nie, 
sondern klagte bloß im Namen der Bergbehörde an. Als er einmal 
in Ainodt als Richter dem Ringe beigezogen wurde, hat dies eine 
besondere Anmerkung im Bergtaidingsprotokolle zur Folge gehabt. 
Im übrigen sank seine Rolle im Laufe der Zeit vielfach zu der eines 
Weinbergpolizisten herab, der bei etwas strengerer Auffassung 
seiner Pflichten entsprechend angefeindet wurde. 

Seine Pflichten in ökonomischer Hinsicht umfaßten die Aufsicht 
darüber, daß die Wege ausgebessert und neue nicht angelegt wurden; 
daß die Zäune in sicherem Zustande erhalten blieben; daß mit der 
Weinlese nicht früher begonnen wurde, als es die Bergbehorde an- 
ordnete; daß das Vieh im Weingebirge nicht Schaden verursachte. 
Besonderes Augenmerk hatte er in letzterer Beziehung auf die Ziegen 
und Schweine zu richten. In moralischer Beziehung hatte er dafür 
zu sorgen, daß die Weingärtner an den heiligen Messen und Pro- 
zessionen teilnahmen; daß sie den nach uralter Gewohnheit am Tage 
eines bestimmten Heiligen (z. B. in Landsfraß des hl. Florian oder 
auch Sigismund) begangenen Festzug durch das Weingebirge mit- 
machten; weiter, daß im Weingebirge keine unerlaubten Verhältnisse 
zwischen Leuten beiderlei Geschlechtes geduldet wurden; daß etwa 
vorgekommene Fälle der Unzucht mit Tieren der Strafe zugeführt 
wurden; daß das Fluchen im Weinberge nicht einreiße und dergl. mehr. 
In rechtlicher Beziehung war er der Vermittler zwischen dem Berg- 
herrn und dessen Untertanen. Bei ihm wurden Anzeigen wegen un- 
sittlichen Verhaltens, Diebstahls, Viehschäden, Raufereien angebracht; 
bei ihm wurde das auf fremdem Boden im Schadenzufügen angetrof- 
fene Vieh zur Aufbewahrung eingestellt, damit es als Pfand für die 
Entschädigungsanspruche diene. Der Bergmeister war Schatzmann 
bei Schadensfällen, Vollstrecker der Beschlüsse des Bergtaidings, 
Aufseher in Ansehung der Wein- und Getreideausfuhr, des Wetter- 
schießens®‘) usw. Er hatte das ungemein wichtige Recht, im Namen 
der Bergbehorde in dem Weingarten vor dem Eingang ein Kreuz 
aus Brettern oder aus Strohbündeln aufzustellen oder den Wein- 
gartenkeller („Gaden“) unter Petschaft zu seen. Dies bedeutete 
das strikte Verbot, den Weingarten oder die Felder zu betreten. Die 


es) Das Wetterschiefen wurde im 18. Jahrh. in den Weingartengebieten 
vielfach geübt; allerdings beruhte es auf abergläubischen Motiven, da durch 
das Schießen die Hexen aus den Wolken vertrieben werden sollten. (Vgl. 
Dolenc: „über das Schießen in Slovenien“, erschienen in slov. Sprache 
in der Monatsschrift Gruda (Die Scholle), Jg. 1924, S. 113 ff.) 


527 


Ubertretung dieses Verbotes zog eine Strafe nach sich, die bei 
Wiederholungen so weit gesteigert werden konnte, daß es zum Heim- 
fall des Weingartens an den Bergherrn kam. (Nur nach einer Hand- 
schrift der Ainödt-U. traf die Strafe den Schuldigen erst beim zehnten 
Ubertretungsfalle.) 

Fur seine Diensiverrichtung bekam der Bergmeister eine Ent- 
lohnung in der Form einer Quote von den eingebrachten Straf- 
beirägen; so war es im Orig. BRB. im Art. 48 bestimmt, dabei wurde 
sein Anteil an den Strafgeldern, ohne Rücksicht auf deren Höhe, mit 
jeweils zwölf Pfennig fesigesebt"). In einigen slov. U. ist aber 
dieser Artikel zur Gänze ausgelassen worden. Auch sind in den 
Bergtaidingsprotokollen keine Vermerke enthalien, ob etwas bzw. 
wieviel von den Strafgeldern auf den Bergmeister entfallen ist. 
Allerdings wird ab und zu, wenn eine Strafe in Bannwein diktiert 
wurde, ein gewisses Quantum direkt dem Bergmeister zugesprochen. 
In den Protokollen vom Jahre 1801, in denen eine autonome Abande- 
rung des Inhaltes der Bergartikel ersichtlich gemacht worden ist, 
wird angegeben, daß er für die Schätzung und den dabei zu machen- 
den Weg je ein „Viertel“ Wein zu bekommen habe. Aus anderen, 
noch jüngeren Protokollen erfahren wir, daß er jährlich ein gewisses 
Quantum, zehn Eimer, in Wein als Entlohnung von der Gesamtheit 
der Bergleute beanspruchen durfte, dabei aber von der Pflicht, die 
abliefernden Weingärtner zu bewirten, losgezählt wurde. In vielen 
Gebieten war der Bergmeister von vornherein frei von der Verpflich- 
tung, das Bergrecht und den Zehent zu leisten, wobei er allerdings 
die Abgeordneten des Bergherrn gastlich zu empfangen, den Ab- 
geordneten des Zehentherrn aber bloß „Speis und notdurff“ zu 
reichen hatte. 

Die Bergmeister waren aber in Ansehung ihrer Dienstverrich- 
tungen nicht bloß dem Bergherrn, sondern auch den Weingarinern 
verantwortlich. Die Bergtaidingsprotokolle berichten ziemlich oft 
von Klagen gegen die Bergmeister; bald sollen sie ihren Dienst zu 
lax versehen, bald die Grenzen ihrer Machtbefugnisse überschritten 
haben. Auch Klagen sind verzeichnet, daß sich ein Bergmeister zu 
sehr der Trunksucht ergeben hätte. Das „Gemein-Urtl“ (von dieser 
Einrichtung wird noch weiter unten die Rede sein) hat ihm Besserung 
aufgetragen, weil er sonst seines Amtes enfsezf werden würde. 
Nicht gar selten kündigte der Bergmeister auf dem Bergtaiding 
seinen Dienst auf, weil er von den Weingarinern zu viel Unangeneh- 
mes hören mußte 

Die Ehre, als Bergmeister zu fungieren, war in einigen Gebieten 
erblich. Die Protokolle führen durch Jahrzehnte die gleichen Familien- 
namen an und erwähnen, daß der neue Bergmeister des alten Sohn 
ist. Wo aber solche Verhältnisse nicht bestanden, wurde der Berg- 
meister gewählt, und zwar in der Vollversammlung, allerdings war 
die Zustimmung der Bergbehörde zur getroffenen Wahl notwendig 


°) Mell, Weinbergrecht, S. 143. 


528 


Erst im 19. Jahrh. konnten die Bergmeister, z. B. von der Bergbehorde 
in Ainödt, einfach bestellt werden, und die Bestellten mußten auch 
gegen ihren Willen den Posten übernehmen, weil sie sich sonst einer 
Strafe ausgesetzt haben würden“). 


8 14. Die Suppane (župani). 


Der Dienst der Suppane stand in einer engen Beziehung mit jenem 
der Bergmeister. In den Protokollen werden zweierlei Suppane er- 
wähnt, nämlich der „Bergsuppan“ und der „Suppan“ schlechthin. 
Die erstgedachten waren Ortssuppane auf dem Weingebirge, die 
dortselbst die Funktionen eines Ortsvorstehers mit jenen des Berg- 
meisters verbanden; die zweiten hatten nur Ortsvorsteherdienste zu 
versehen. In einem Beeidigungsprotokolle aus der Umgebung von 
Rudolfswert (vom 24. Okt. 1730) werden beide zugleich, aber jeder 
unter seiner eigenen Bezeichnung, als Zeugen des Beeidigungsaktes 
angeführt. 

In zwei Gebieten — Pletriach und Weichselburg — gab es auch 
Suppleuth; ihre Existenz ist wenigstens beurkundet worden. 
Sie haften dafür Sorge zu fragen, daß die herrschaftlichen Unter- 
tanen rechtzeitig zur Robot erschienen. Diese ganze Einrichtung 
beweist, daß die Suppane in der Vergangenheit als Ortsvorsteher 
niedere wirtschaftliche Bedienstete der Herrschaft waren®). Die 
Herrschaften haben sie vornehmlich aus einer bestimmten Familie 
entnommen, solange diese hierzu geeignete Personen darbot. Als 
Entlohnung wurde ihnen der Fruchtgenuß bestimmter Acker, die 
„zupanice‘ — Suppansäcker genannt wurden, überlassene). Wo 
mehrere Ortschaften mit mehreren Suppanen auf ein und demselben 
Weingebirge lagen, wurde derjenige unter ihnen, der zugleich Berg- 
meister war, Bergsuppan genannt. 


815. Die „Referenten“ 


Zweierlei Funktionäre, die bei den Bergtaidingen eine Rolle 
spielten, hat die Praxis ins Leben gerufen; von ihnen ist weder im 
Originale noch in den slov. U. des BRB. die Rede, ihre Existenz ist 
jedoch durch Bergtaidingsprotokolle sichergestellt. Sie waren das 
Produkt der praktischen Bedürfnisse. 


es) Ausführliche Bestimmungen über die Einkünfte und Lasten der 
»Perkembtleuth", deren Tätigkeit in der Herrschaft Gottschee derjenigen 
der Bergmeister in den übrigen Weingebirgen entsprach, enthält das Gott- 
scheer Urbar von 1574 led. Wolsegger, a. a. O. IV, S. 28 f.]. 

„ Vgl. über die Entwicklung des Suppansamtes jetzt auch F. Gor- 
šič, Župani in knezi v jugoslovanski pravni zgodovini (Les „joupani“ et les 
princes dans Fhistoire du droit yougoslave), CZN. XXV, 1929, S. 16—49 
(S. 48 f. deutsches Résumé). 

) Vgl. über derartige Amtsgüter L. Hauptmann, a. a. O, passim. 
Beispiele für derartige als Supnicza, Suppwissl, Supp-Ge- 
rechtigkeit, Suppgründte bezeichnete Amtsgüter im Golischeer 
Urbar von 1574 led. Wolsegger, a. a. O. Il, S. 14—177). 


529 


A. Die erste Art waren die „Referenten für Gemein-Urieile”. 
Wie schon oben (3 8) erwähnt, wurde auf jedem BT. ausnahmslos zu 
Anfang der Tagung über solche Angelegenheiten verhandelt, die das 
allgemeine Wohl und Wehe der Gesamtheit aller Weingärtner be- 
trafen. Nach der Eröffnung des BT. und der Verlesung lim 19. Jahrh.: 
„Ausdeutung“ des Inhalts) des BRB. kam es sofort zu der Erörte- 
rung jener Punkte, die ins „Gemeinurfl“ aufgenommen werden sollten. 
Die betreffenden Beschlüsse waren nicht Akte der Judikatur, sondern 
Akte der autonomen Verwaltung, durch welche zum Ausdruck ge- 
bracht wurde, was die Vollversammlung der Weingärtner eines in 
sich abgeschlossenen Gebietes als für die Gesamtheit niiglich oder 
zweckdienlich betrachtet und daher im Interesse aller Weingärtner 
als allgemeinverbindlich erklart wissen will. Dieser autonome Ver- 
waltungsakt, der nach einer gemeinsamen Beratung in der Vollver- 
sammlung gesetzt wurde, hieß das „Gemein-Urtl“. In der Ein- 
leitung zu einem solchen Gemeinurteile gaben die Weingärtner ihre 
ergebenste Versicherung ab, daß sie nach den eben zuvor vor- 
gelesenen Vorschriften des BRB. leben wollen. Hier und da wurde 
in diese einleitende „Resolution“ eine Wendung eingeflochten, die 
darauf hindeuten sollte, daß auch der Bergherr durch den Inhalt des 
BRB. gebunden erscheint, z. B.: „Die Pergarticl wurden punctatim 
vorgehalten, sollen allseits observiert werden“. Im Laufe der Zeit, 
insbesondere seit dem Beginne des 18. Jahrh., wird die Einleitung 
fast ständig dahinlautend beschlossen, daß sich die Weingäriner fur 
die Abhaltung des Bergtaidings bedanken, ab und zu mit dem Bei- 
safe, „daß die kk. Freiheiten‘ oder „die kais. kön. Artikel“ genaue- 
stens eingehalten werden sollen. Allerdings haben sich die Wein- 
gariner im Klingenfelser Gebiet in der Zeit vom 12.—18. Marz 1801 
an drei aufeinanderfolgenden BT. die Bergartikel autonom abgeändert 
(siehe Anhang II)”:) und sich gegenseitig verpflichtet, sie unter Straf- 
sanktion halten zu wollen. Dies ist um so bezeichnender, als die 
Protokollierung dieser Eigenmächtigkeiten der Vertreter des Reli- 
gionsfonds besorgte. 

Wie bereits oben (86) erwähnt, gab es auch Gemeinurteile, die 
der Bergbehörde gegenüber Ungehorsam, ja troķigen Sinn bekunde- 
ten. Einige Male wurden Gemeinurteile geschöpft, daß die Berg- 
behörde in Hinkunft nur die alten Maße und nicht die größeren ge- 
brauchen dürfe, wann das Bergrecht eingehoben wird. Einmal 
(11. Okt. 1594) wurde der Beisaķ der Weingärtner protokolliert, sie 
würden, wenn der Herr oder seine Abgesandien mit einem neuen 
Maße kommen, das ihren gerechtenForderungen nicht entspricht, dieses 
in kleine Stucke zerschellen. Auch darüber wurde einmal ein Gemein- 
Urteil geschöpft, daß die Dingstatte auf einen anderen Ort über- 
tragen werden solle, wodurch die Weingäriner selbst in Mißachtung 
der alten Gewohnheit eine augenscheinliche Neuerung schufen. Spe- 
zielle Anordnungen des Bergherrn wurden bei dieser Gelegenheit 


71) Unten S. 367 f. 


550 


meist zur Kenninis genommen, hier und da wohl auch einer Kritik 
unterzogen. Aber auch okonomisch-praktische Beschlüsse wurden 
im ,,Gemein-Urtl“ gefaßt. Es wurde die Herrichtung der Wege, Er- 
haltung der Zäune, das Zuschilten der Pfützen angeordnet, die 
nachbarliche Hilfe bei Viehschäden bewilligt, der Anfang der Wein- 
lese bestimmt, der aleatorische Verkauf der Weintraubenernte „am 
grünen Ast“ verboten, die Verrichtung von Arbeiten einschließlich 
des Fisolenklaubens am Freitag oder an Sonn- und Feiertagen oder 
während der Prozessionen, die im Frühjahr auf dem Weingebirge 
veranstaltet wurden, unter Strafsanktion gestellt. Nicht selten wur- 
den Strafbestimmungen pro futuro aufgestellt, z. B. das Erschießen 
des Tieres, das Schaden verursachte, oder die Durchprügelung der 
Nachlesediebe und dergl. Hier wurde die Errichtung einer Kapelle 
oder eines Wahrzeichens beschlossen und die Aufteilung der dadurch 
entstehenden Kosten bestimmt. Gemein-Urteile setzten die Beiträge 
fest, die die einzelnen Weingärtner in Geld zu entrichten hatten, 
damit das Weiterschießen — zur Verscheuchung der Hexen aus den 
Wolken — sowie das Wetterlauten besorgt werden konnten. Auf 
der Vollversammlung wurden, wenigstens in der Zeit bis zum 18. Jahr- 
hundert, letztwillige Anordnungen der einzelnen Weingärtner getroffen, 
zur Kenntnis genommen und im Protokolle beurkundet. Hier wurden 
ab und zu die Besitzver änderungen angezeigt und für einen drohenden 
Schaden antezessorische Entschädigungsansprüche gestellt. 

Den gesamten Komplex dieser Fragen mußte jemand evident 
führen. Da die diesfälligen Entscheidungen nicht im Ringe der Bei- 
siber, sondern in der Vollversammlung der oft nach Hunderten 
zählenden Weingärtner zu schöpfen waren, kann es nur als natürlich 
erscheinen, daß eben für die Angelegenheiten besondere „Urteils- 
referenten“ aufgestellt waren. Meist waren es zwei besonders 
erfahrene und angesehene Weingartenbesiger, Mejaschen oder Berg- 
holden, die zunächst den anwesenden Bergherrn oder dessen Ab- 
gesandten im Namen der gesamten Weingarinergemeinde ehrfurchts- 
voll begrüßten; ob ein Zeremoniell festgesetzt war, kann den Proto- 
kollen nicht entnommen, wohl aber vermutet werden. Sodann legten 
sie die ihrer Ansicht nach entsprechenden Vorschlage dem Plenum 
zur Schlußfassung vor. Sofern kein Widerspruch erhoben wurde, 
galt der Vorschlag als ,,Gemein-Urtl“ und wurde von dem Abge- 
sandten des Bergherrn protokolliert. Man darf annehmen, daß später, 
etwa im 18. Jahrh., nur jene Gemeinurteile in das Protokoll auf- 
genommen wurden, die auch die Bergbehörde zu genehmigen 
befunden hat. 


Diese beiden Urteilsreferenten waren zumeist nicht Beisiber: 
aus den BT.-Protokollen kann allerdings das Gegenteil auch nicht 
erwiesen werden. Die Namen der Beisitzer wurden nämlich stets, 
jene der Urteilsreferenten aber nur selten angeführt. In einigen Ge- 
bieten, so in Seisenberg und Ainödt, werden Urteilsreferenten nicht 
einmal erwähnt. Doch kann u. E. daraus nicht gefolgert werden, daß 
es in diesen Gebieten solche nicht gegeben habe. Viel näher liegt 


551 


die Annahme, daß sie allgemein so bekannt waren, daß sich schon 
aus diesem Grunde die Anführung ihrer Namen erübrigte. Wir 
dürfen sogar annehmen, das Institut habe sich dahin entwickelt, daß 
aus diesen Urteilsreferenten — Ausschußmänner geworden sind. Ende 
des 18. Jahrh., als die BT.-Gebiete vielfach zusammengelegt und die 
Dingstätten in die Schlösser verlegt wurden, was die Teilnahme an 
den Bergtaidingen stark beeinträchtigt hat, tauchen auf einmal 
— eben im Gebiete Ainodt — je zwei Ausschußmänner für je ein 
Gebiet auf, die gewisse Funktionen übernehmen mußten, im 19. Jahrh. 
sogar die Person des Bergmeisters ohne Mitwirkung der Veliver- 
sammlung oder des Richterkollegiums vorzuschlagen hatten. Die 
gleiche Erscheinung finden wir auch im Klingenfelser Gebiet zu An- 
fang des 19. Jahrh. Es liegt auf der Hand, daß die ehemaligen Urteils- 
referenten nunmehr als Ausschußmänner die gemeinschaftlichen 
Interessen der stark gelichteten Weingärtnerversammlung zu ver- 
treten hatten, andererseits aber auch für die Durchführung der An- 
ordnungen, die die Bergbehörde auf der „Bergraiſtung“ zu ver- 
kündigen beliebte, sorgen mußten. 


B. Eine andere Gathmg von Referenten bildeten die Bericht- 
erstatter bei der Schöpfung der konkreten Entscheidungen in dem 
einzelnen „im Ring“ vor der Beisitzertafel anhängig gemachten 
Rechtsstreite. Nachdem Klage und Antwort der Prozeßparteien an- 
gehört, die Zeugen vernommen worden waren, mußte jemand unter 
den Beisitzern sozusagen als erster Votant das Wort bekommen, um 
seinen Rechtsstandpunkt bekanntzugeben und eine dementsprechende 
Entscheidung — Urteil oder vorläufigen Verfagungsbeschluß — in 
Antrag zu bringen. Die Parallele zwischen diesen Referenten und 
den Urteilsfindern des altgermanischen Dings, dem späteren Rachim- 
burgen, liegt auf der Hand. Wer nun als Urteilsfinder bei den Wein- 
bergsprozessen des 16.—18. Jahrh. berufen war, kann aus den Ge- 
richtsprotokollen nicht entnommen werden. Ihre Berufung entsprach 
wohl althergebrachter Sitte. Auch wurden diese Urteilsfinder in den 
Protokollen nur in einigen Gebieten mit Vor- und Zunamen angeführt. 
Vielfach waren es Beisitzer, doch nicht immer. Es gibt eine Reihe 
von Fällen, in denen nicht eine unter den Richtern angeführte, sondern 
eine ganz fremde Person die Urteilsfindung in Vorschlag brachte. 
Man darf wohl annehmen, daß es vielleicht ein besonders angeschener 
Weingärtner war, der seines Alters wegen schon aus dem Ringe aus- 
geschieden war. Auch ist es ab und zu geschehen, daß die Richter 
selbst jemand aus dem Auditorium aufgefordert haben, er möge als 
ein mit den Verhältnissen besonders gut vertrauter Mann seine 
Meinung abgeben. In ein und demselben Protokolle finden: wir der 
Reihe nach für verschiedene Prozesse verschiedene Urteilsfinder. 
Aber auch solche Fälle wurden protokolliert — allerdings sehr 
selten —, daß jemand aus dem Auditorium der Vollversammlung mit 
seinem Rate in vorlauter Weise hervorgetreten ist, dafür aber aller- 
dings an Ort und Stelle gestraft wurde. 

Eine Einflußnahme der Vertreter der Bergbehörde auf die Be- 


352 


stimmung der Urteilsfinder kann nicht ausgeschlossen werden, zumal 
in der späteren Zeit und in den Gebieten, wo die Abgesandten der 
Bergbehorde auch die richterlichen Agenden als Obmänner der Bei- 
sifertafel an sich gebracht haben. 

Bei der Schlußfassung ist fast immer Einhelligkeit erzielt worden. 
Selten wird der Vermerk gefunden, die Entscheidung sei nur mit 
Majorität der stimmberechtigten Beisitzer geschopft worden. Aller- 
dings wird hier und da die Stimmeneinhelligkeit des Beschlusses ver- 
merkt, um der Wichtigkeit der Sache Nachdruck zu verleihen. 


8 16. Die Protokollfuhrer. 


Die Notwendigkeit, alles Wichtige aufzuzeichnen, was auf dem 
BT. vorgefallen ist, machte sich vorzüglich auf Seite des Bergherrn 
bemerkbar; flossen doch die zahllosen dort verhängten Geldbußen 
in seine Kasse. Weiter hat der Bergherr auf Verlangen der Parteien 
Ausfertigungen der Urteile und Beschlüsse der Bergrichter heraus- 
geben müssen, wofür ihm wiederum Gebuhren zu zahlen waren. 
Schließlich betrafen die Entscheidungen der Bergrichter vielfach 
Rechtsgeschäfte, die nach Vorschrift des BRB. nur unter Genehmi- 
gung des Bergherrn wirksam werden konnten, z. B. die Besifver- 
änderung, Verpfändungen, letztwillige Anordnungen usw. Die Ge- 
nehmigung wurde aber auch von der Entrichtung gewisser Gebühren 
(laudemium, mortuarium, Gewährtaxe) abhängig gemacht. 

Die Protokolle sind in deutscher Sprache geführt worden, nur 
hier und da wurden slovenische Ausdrücke, die schwer übersekbar 
waren (z. B. Schimpfworte) oder aber eine technische Bedeutung 
hatten (so „Mejaschen“] in den Inhalt des Protokolles eingeflochten. 
Vereinzelt wurden auch Eidesformeln in slovenischer Sprache nieder- 
geschrieben, da die Parteien nur dieser Sprache mächtig waren. 
Zweifellos haben sich aber die Verhandlungen auf dem BT. in slove- 
nischer Sprache abgewickelt. Daher war die Beiziehung eines Schrift- 
fuhrers notwendig, der beide Sprachen, die slovenische und die 
deutsche, gut beherrschte. Die hierzu geeigneten Personen hat die 
Bergbehörde selbst ausgesucht und zum BT. geschickt. Doch erhellt 
aus einigen Protokollen, daß sie nach dem Diktate des Bergherrn 
geschrieben waren, der auf dem BT. den Vorsitz geführt hat. In 
diesem Falle war die Beiziehung des Protokollisten zwar nicht un- 
bedingt erforderlich, immerhin aber auch nicht ausgeschlossen. Die 
Protokolle sind häufig nicht an Ort und Stelle, sondern erst später 
am Site der Herrschaft oder sogar an einem anderen Orte nieder- 
geschrieben worden (z. B. in Laibach). — Die Protokolle wurden fur 
die BT. unter allen Umständen angefertigt, wenn es auch keine 
Rechtsstreitigkeiten gab, die bei dieser Gelegenheit zu schlichien 
waren. Gab es doch unter allen Umständen ein Gemeinurteil zu 
schöpfen, und war es noch so knappen Inhaltes, so mußte es jeden- 
falls stets in ein Protokoll aufgenommen werden. 

Nach der Übung der damaligen Zeiten vor zwei, drei Jahrhunder- 


22 NF 5 335 


ten, wurden die Protokolle von niemandem unterschrieben. Nur ganz 
vereinzelt, z. B. zum ewigen Gedachinisse, daß einmal zufällig keine 
Klagen vorgekommen, unterfertigte das Protokoll mit einem ent- 
sprechenden Vermerke der Abt als Bergherr selbst. Erst in der Zeit 
unmittelbar nach Josef Il. werden die BT.-Protokolle häufiger, seit 
etwa 1820 aber regelmäßig vom Bergherrn und vom Schriftführer, 
allenfalls auch vom Bergmeister und den Ausschußmännern gefertigt. 

Die Protokolle aus der Zeit, in der die Bergherren nicht mehr 
selbst den Vorsitz führen wollten, geben beredte Kunde davon, daß 
auch hochgebildete Protokollisten an den Bergtaidingen teilgenom- 
men haben, die mit dem römischen und kanonischen Rechte vertraut 
waren. Es finden sich eine Menge fachmännischer Zitate aus den 
erwähnten fremden Rechten vor. 

Die Protokolle wurden mächtigen gebundenen Folianten einver- 
leibt. Doch nicht allel Hier und da fehlen für eine Zeitperiode alle 
Protokolle. Es ware unangebracht, daraus folgern zu wollen, daß 
in der besagten Zeit kein BT. stattgefunden habe. Es kann sein, 
daß das Protokoll auf besonderen Bogen niedergeschrieben und 
dann in den Folianten lose eingelegt wurde, später aber verloren 
ging. Solche bloß eingelegte Protokolle sind keine Seltenheit. Es 
kann aber auch sein, daß kein Protokollist zum BT. erschienen war, 
so daß die Weingärtner das BT. ganz unter sich abhielten. Schließ- 
lich war es auch gewiß möglich, daß ein Protokollist aus Nachlässig- 
keit die Niederschrift des Protokolles unterließ”?). 


8 17. Die Hilfsorgane des Bergherrn. 


Jede Bergbehörde mußte sich gewisser niederer Organe be- 
dienen, wenn sie solche Anordnungen vollziehen lassen wollte, die 
der Bergmeister nicht durchführen konnte, bzw. die man ihm nicht 
anvertrauen oder überantworten wollte, etwa wegen der weiten Ent- 
fernung vom Sige des Bergherrn. Im Ainödter Gebiete war z. B. vom 
Sige der Herrschaft bis zum Wohnorte des Bergmeisters in Weißkrain 
fast eine Tagereise nötig. 

Solche Organe werden in den verschiedenen Protokollen unter 
verschiedenen Namen angeführt. So hört man von „Ouartherrn“ 
oder ,,Dezimatoren“. Sie waren Bedienstete, die das Bergrecht, 
Zehentrecht, den Bannwein und auch andere Giebigkeiten einzu- 
bringen hatten. In vielen Gegenden durften sie nur unter Begleitung 
des Bergmeisters ihren Dienst versehen. Im Klingenfelser Gebiete 
treffen wir „Petschafter“ an. Vermutlich waren es Pfandungsorgane, 
die die Keller oder andere Gebäude zu „verpetschieren“ (versiegeln) 
hatten, allerdings unter Beobachtung von bestimmten formellen Vor- 


72) An dieser Stelle sei es gestattet, auf die vielen Parallelen zu 
den Ehedingen der Zittauer Ratsdörfer hinzuweisen. Siehe F. M. Mitter, 
Die Grundlagen der Gerichtsverfassung und das Pacang der Zittauer Rats- 
Hörer on Beguine des 16. bis zum Ende des 18. Jahrh. (Leipzig 1928); vergl. 
ins 12 u 


554 


schriften, die hier nicht des nähern erörtert werden sollen. Im Seisen- 
berger und Ainodter Gebiete bediente sich die Bergbehorde der 
„Weinzedl“; sie waren Zustellorgane und mußten auch das vom 
Bergmeister gepfändete Vieh in den Herrschaftsstall einbringen. 

Es ist nicht ausgeschlossen, daß in anderen Weinberggebieten, 
von denen uns keine BT.-Protokolle erhalten blieben, noch andere 
niedere Hilfsorgane verwendet wurden. Welchen Namen immer sie 
in den verschiedenen Zeiten und Gegenden führten, ihre Aufgabe 
war wohl stets mit dem Zustellungs- und Vollstreckungsdienste ver- 
quickt. 


C. Unterschiede bei den übrigen Volksgerichten. 
§ 18. Billich- und Quatemberrechte. 


Da die Billichrechte ebenso wie die BT. reine Kausalgerichte 
waren, bestanden nur unbedeutende Unterschiede in deren innerer 
Organisation. 

Gesetzliche Bestimmungen bezüglich des Billichrechtes sind uns 
nicht bekannt, sie dürften auch höchstwahrscheinlich nie besonders 
aufgestellt worden sein. Wir können nur annehmen, daß sie in Nach- 
ahmung des Institutes der BT. entstanden sind und sich fortan ge- 
wohnheitsrechtlich erhalten haben. Im ganzen sind überhaupt nur 
rund neunzig Protokolle über abgehaltene Billichrechte bekannt, wo- 
mit aber selbstredend nicht gesagt sein soll, daß außer den pro- 
tokollierten Billichrechten keine anderen abgehalten worden wären. 
Wir müssen im Gegenteil bei den horrenden Mengen des Billiches, 
wovon geradezu märchenhafte Dinge erzählt wurden’), annehmen, 
daß auch anderswo außer in Landstraß und Pletriach Streitigkeiten 
in Ansehung des Billichfanges durch Volksrichter geschlichtet werden 
mußten. Jedenfalls ersehen wir aus den erhaltenen Protokollen, daß 
der innere Aufbau des Billichrechies jenem der beiden Bergtaidinge 
im großen und ganzen ähnlich war und nur geringfügige Besonder- 
heiten aufwies. Es gab vielleicht auch da Vollversammlungen, doch 
ist es nicht beurkundet, daß sie sich mit den allgemeinen Fragen des 
Billichfangs befaßt hätten. Wir wissen auch nicht, ob die Grund- 
herrschaften besondere Jagdreviere aufgestellt haben. Vermutlich 
haben die Teilnehmer des Billichrechfes, nämlich alle in der Nahe 
der Wälder mit Billichbeständen angesiedelten Bauern, an den Re- 
vieren, wie sie sich von selbst gewohnheitsrechtlich gebildet haben, 
festgehalten. Die Jagdberechtigten mußten der Herrschaft eine be- 
stimmte Anzahl der gefangenen Billiche abliefern, vielleicht auch nur 
deren Felle, im Seisenberger Gebiete den zehnten Teil. 

Die Anzahl der Richter betrug zehn bis zwölf, den Vorsitz führte 
ein gewählter Obmann. 

Die Prozesse drehten sich vielfach um „Billichgruben‘“, um Ent- 


rs) Siehe J. W. Valvasor, Die Ehre des Herkogthums Crain. Lai- 
bach 1689. I. B., S. 437—442. 


555 


wendungen und dergl. Sie wickelten sich aber genau so ab wie 
jene auf den BT. Auch die Vollstreckung der Urteile, die auf dem 
Billichrechte beschlossen worden waren, wurde nach Art derjenigen 
der BT.-Urteile durchgeführt.. 

Bezüglich der inneren Organisation der Quatemberge- 
richte ist vorauszuschicken, daß für Krain eine besondere Bestim- 
mung der Landgerichtsordnung vom 18. Februar 1535, also aus einer 
Zeit knapp vor Sanktionierung des BRB. in Geltung stand, die die 
Zuständigkeit fur die niedere Gerichtsbarkeit betraf. Sie lautete 
folgendermaßen: „So sollen ... unsere (sc. die landesherrlichen) 
Pfleger, Ambt-Leuth oder ihre nachgesekten Land-Richter, wann 
sich unter den gemainen Bauersleuthen, auch andern der Landleuth 
Unterthanen, Unzuchten und Unbescheydenheyten zutragen, als offi 
beschicht, daß einer den andern an seiner Ehre antast oder einer 
Unthat, als Dieberey beschuldigt, dazwischen sich Maulstreiche und 
Harrauffen begehen, und daß man mit Wohren zu drucken Streichen 
kommt, aber doch niemands kein Leibschaden zugefügt, oder so einer 
beschädigt, Blutrust und Lahm geschlagen wirdet, wo er auch seiner 
Wöhr nur schlechtlich entplöst, zu verstehen, daß dadurch kein Pein- 
liche oder Halsstraff verdient wird, Solch und dergleichen schlechter 
Sachen für Land-Gerichts-Händel achten: Erklähren wir ihnen, daß 
nun füran unsere Land-Rifchlier sich solcher schlechten Sachen zu 
richten nicht unterstehen, sondern die einen jeden Grundherrn selbst 
in krafft ihrer Freyheiten handlen und richten lassen sollen’®).“ Diese 
Differenzierung hat allerdings die geringfügigeren Delikte noch nicht 
den Volksgerichten zugewiesen, jedenfalls aber die Existenz von 
niederen Gerichten für sie vorausgesekt, deren Weiterbestand der 
Gesebgeber nicht beseitigen wollte. Da aber, wie urkundlich be- 
wiesen”), schon vorher Quatembergerichte in Krain auch für solche 
causae minores ihre Urteile schöpften, waren die Patrimonial- 
herrschaften gerne bereit, sie in ihrer Tätigkeit zu belassen, zumal 
die diktierten Geldbußen in ihren Säckel flossen’*). Allerdings wurde 


784) Landgerichts-Ordnung Def Loblichen Hörkogthumbs Crain Und der 
Angeraichten Herrschafften Windischen March, Mottling, Ysterreich und 
Karsst (vom 18. Februar 1535). Einleitung, im Druck von Johann Georg Mayr, 
Laibach 1707, S. 3f. l 

75) Darüber vgl. die oben S. 303 Anm. 16 angeführte Abhandlung von Anton 
Kaspret; den Ausdruck Quatemberrecht hat Kaspret noch nicht ge- 
kannt. Zweifellos waren die Wotschengerichte, die er in Südsteiermark, 
Unterkrain und im Küstenlande verfolgen konnte, genau so organisiert wie 
die Quatemberrecte, ja die letzteren können nur eine Fortbildung der 
ersteren gewesen sein; zunächst waren alle Burgfriedensleute verhalten, sie 
zu besuchen, in der zweiten Hälfte des 16. Jahrh. kamen aber bloß die 
Suppane als Vertreter der dem Gerichte unterworfenen Herrschaftsunter- 
gebenen. Jedenfalls sind auch die von Valvasor, op. cit., B. III., S. 95, 
96 aufs Korn genommenen Gerichte mit den „hölzernen Protokollen“ eine 
Art von Wötschengerichten gewesen. Darüber 3. unten Anm. 1°). 

76) Mit Recht bezeichnet J. Polec, Razpored sodnih instanc v slo- 
venskih deželah od 16. do 18. stoletja (Aperçu des tribunaux dans les pro- 
vinces slovenes du 16° ou 18e siècle) ZZR. VI, 1927/1928, S. 116—142 (S. 
140—142 franz. Résumé), das Problem, wie sich 'die Patrimonialgerichte or- 


556 


diese niedere Gerichtsbarkeit auch in Zivilsachen geübt und wohl 
nach Erscheinen des BRB. dem Verfahren auf den BT. noch mehr 
angepaßt, als es ohnehin schon vorher der Fall gewesen war. 

Die Patrimonialbehorde war bei den Quatembergerichten durch 
ihren Pfleger vertreten, der die Prozesse leitete und nach gepflo- 
gener Umfrage deren Ergebnisse protokollierte. 

Nur eines war sicher anders als bei den Bergtaidingen: Gemein- 
urteile konnten nicht geschöpft werden, da allgemeine Fragen nicht 
zu behandeln, sondern lediglich konkrete Streitsachen zu entscheiden 
waren. 

Im allgemeinen war das Geltungsgebiet der Quatemberrechte 
nicht ausgedehnt, vielleicht nur auf den Burgfrieden eingeschränkt, 
weshalb eine Zahl von zwölf oder dreizehn Richtern genügte. Die 
Referenten (Urteilsfinder) gaben ihre Ratschläge, wie bei den BT.; 
ia in den schriftlichen Protokollen über Quatemberrechte findet man 
Zitate zur Begründung von Entscheidungen, die aus dem BRB. ent- 
nommen wurden. Der Fall, daß die Protokolle bloß zu konstatieren 
hatten, es habe keine Klagen gegeben, war hier viel häufiger als 
bei den BT. 


8 19. Unpartetisches Recht. 


In Anlehnung an die BT. und Quatemberrechte entwickelte sich 
noch eine weitere Form der Volksgerichtsbarkeit, die jedenfalls auf 
dem Boden des gemeinen deutschen Gewohnheitsrechts entstanden 
ist. Diese Form hatte keine Beruhrungspunkte mit den Bergrechts- 
bestimmungen, die Protokolle über die BT.- und Quatemberrechts- 
prozesse registrierten aber ihre Tätigkeit genau so, als ob es sich 
um die eben angeführten Sachen gehandelt haben würde. Dies 
waren die „Unparteiisch Rechte“ oder ,,extraordinary rechte“, die in 
Wirklichkeit als ad hoc einberufene Schiedsgerichte zur Entschei- 
dung bestimmter Streitsachen bezeichnet werden müssen. In Steier- 
mark und in Niederösterreih waren sie nach Nicolaus de 
Beckmann”) geboten: 1. wenn der Patrimonialherr mit seinem 
eigenen Untertanen wegen einer unbeweglichen Sache in Streit ge- 
raten war und daher nicht als iudex in propria causa auftreten 
konnte; 2. wenn ein Untertan einer fremden Obrigkeit mit einem 
Untertanen des Gerichtsherrn in causis personalibus eine Streit- 
sache auszutragen hatte, wobei die Gefahr hintangehalten werden 


ganisierten als noch ungelöst. Uns will es scheinen, daß eine gewisse Zeit 
hindurch Volks- und Herrschafisgerihte nebeneinander existierten, 
wofür wir für die Brixener Herrschaft in Veldes Beweise bis ins 17. Jahrh. 
verfolgen konnten; dort aber, wie in Unterkrain, — wo Bergtaidinge existier- 
ten, dürften die Grundobrigkeiten überhaupt sehr lange nur eine vermit- 
teinde und vorbereitende Rolle in Streitsachen gespielt haben. Erst im 
Laufe des 17. Jahrh. begann der Abbröckelungsprozeß, der bis zur Änstel- 
lung besonderer Hofrichter bei den größeren Herrschaftsbesikern führte. 


77) S. Nic. de Beckmann, Idea juris statutarii et consuetudinarii 
Stiriaci et Austriaei, Graecii, 1688, S. 544, 545 


557 


mußte, daß der Gerichtsherr zugunsten seines Untertanen hätte 
entscheiden wollen. Die Entscheidungen des unparteiischen Rechis 
waren anfechtbar, und der Rechtszug ging an den Landeshauptmann 
bzw. in Bergrechtssireitigkeiten an den Kellermeister. 

Die Rechtsverhältnisse, wie wir sie aus den ziemlich zahlreichen, 
in den Gerichtsprotokollen beurkundeten Fällen bezüglich der Tatig- 
keit des unparteiischen Rechts kennenlernten, stimmen mit den 
eben angeführten Bestimmungen für Steiermark und Niederösterreich 
nicht ganz überein. In Unterkrain waren viele Prozesse des Berg- 
oder Patrimonialherrn als Klägers gegen seine Untertanen anhängig, 
einige Prozesse sind aber auch mit umgekehrten Rollen durchgeführt 
worden, und dennoch wurden sie von dem autonomen Volks- 
gerichte durchgeführt. Die Beschwerden gegen die Entschei- 
dungen der Unparteiischen Gerichte gingen ab und zu wirklich an 
den Kellermeister, einige Male aber — bezeichnend genug — an das 
Bergtaiding des betreffenden Gebietes! 

Im allgemeinen kamen vor das unpariciische Recht besonders 
wichtige und bedeutsame oder aber besonders dringliche Prozesse. 
Nicht einmal causae criminales waren von ihrer Zustandig- 
keit ausgeschlossen. So trat ein Unparteiisches Recht am 7. Marz 
1635, das am 29. August 1636 fortgesekt wurde, in Landstraß zu- 
sammen, um in Sachen eines großen Viehdiebstahles ein Urteil zu 
fällen, — allerdings kam es zu einer Verurteilung nicht, weil der 
Kläger seine Entschädigungsansprüche zu spät gestellt hatte. Am 
1. Juli 1639 war sogar der Krainer Bannrichter Hanns Frankh in Land- 
straß Obmann des Unparteiischen Rechtes und judizierte in Sachen 
der Beschuldigung wegen eines Diebstahles von fünf Schweinen, 
wobei es zu einem Freispruche gekommen ist. Die Bestellung des 
Unparteiischen Richters und seiner Beisiker war Sache des Patri- 
monialherrn. Doch sind auch Fälle beurkundet, wo die Parteien den 
Unparteiischen Richter selbst erwahliten, worauf erst dessen Be- 
stellung durch den Patrimonialherrn erfolgte. So steht es in einem 
Protokoll vom 29. August 1636 (Landsiraß): „Durch mich Caspar 
Kherin als von Ihro Gnaden Herrn Ruppertus Abten zu Landstra 
und beiden Thaillen Erkhisten Unparteiischen Richter.“ 

Dem Unparteiischen Richter wurde durchgehends eine Anzahl 
richterlicher Beisitzer beigegeben, deren Zahl zwischen drei und vier- 
undzwanzig variiert; im allgemeinen wurde aber doch eine niedrigere 
Anzahl als bei den BT. verwendet. Im Landstraßer Gebiete war es 
gewohnheitsrechtlich festgesetzt, daß die Beisitzer des Unparteiischen 
Rechtes nicht Untergebene desselben Patrimonialherrn sein durften. 
Am 21. Dezember 1598 hat der Beklagte gegen die Zusammensebung 
des Unparteiischen Rechtes Protest eingelegt, weil vier Untergebene 
des Abtes von Landstraß „im Ringe“ saßen. Das Unparteiische Ge- 
richt hat „den von der Landsobrigkeit aufgebrachten Brauch“, daß 
„fremde unparteiische Leut bei diesem recht sein sollen“, bestätigt 
und „das recht derzeit aus solchen Ursachen willen aufgehebt“. In 
späteren Zeiten hat man jedoch diesen Gebrauch vergessen, denn 


858 


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Medi hg A a a 


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wir finden Protokolle über unparteiische Rechte, in denen — noch 
im 18. Jahrh. — unter dem Vorsise des Bergmeisters — zwölf Berg- 
holden den „Ring“ bildeten. 

Obmann des unparteiischen Gerichtes war stets eine prominente 
Persönlichkeit. Das Protokoll führte derselbe Abgeordnete der 
Patrimonial- bzw. Bergbehörde, der auch die Bergtaidingsprotokolle 
niederschrieb. Auch die äußere Form war die gleiche, und die Ver- 
handlungen der Unparteiischen Gerichte wurden ebenfalls in die- 
selben Folianten eingetragen, in denen sich die Bergtaidings- und 
Quatemberrechisprotokolle vorfanden. Mit einem Worte, alles war 
so eingerichtet wie bei den Bergrechts- und Quatemberrechts- 
prozessen — nur die innere Organisation des Unparteiischen Rechtes 
war eine andere. Diese Art der Ausübung der Gerichtsbarkeit war 
bei den meisten Bergherren beliebt und wurde von ihnen auch be- 
günstigt; denn auf diese Weise konnte sie am leichtesten aus der 
Hand der autonomen Volksgerichte in die Hand des Bergherrn oder 
wenigstens seines Vertrauten hinübergespielt werden, wodurch sie 
auch in die erwünschte Abhängigkeit von ihnen gelangte. 


IV. Zusiändigkeit der Volksgerichte. 
820. Die gesetzlichen Bestimmungen. 


Eine systematische Einteilung derjenigen Rechtssachen, die in 
die Zuständigkeit der Bergtaidinge fallen, würde man im Bergbüchel 
vergebens suchen. — Nur das eine mag aus der Anführung der Arten 
der Rechtssachen entnommen werden, auf welche von ihnen der 
Gesetzgeber ein größeres Gewicht gelegt hat. 

a) Als die wichtigsten in die Zuständigkeit der BT. fallenden 
Gegenstände erscheinen die in dem BRB. gleich zu Anfang angeführ- 
ten Erbrechisklagen (Art. 2)*). Doch finden sich noch später in An- 
sehung des Erbrechts die eingehendsten Bestimmungen vor, so im 
Art. 22 und 23 bezüglich des Heimfalles und der Kaduzität des Wein- 
gartens als Berglehen; weiter in Art. 12 bezüglich der Desertion des 
väterlichen Hauses und Besiftums, die Kaduzität zur Folge haben 
kann; über die Legate in Ansehung der Weinberge (Art. 21), über die 
Zuerkennung der Erbschaft (Art. 44), über die Erbschaftsannahme 
(Art. 49), über die Verschweigung des Klagrechts bezüglich der Erb- 
schaft (Art. 45), schließlich bezüglich der Haftung der Erbschaft für 
die Hereinbringung der Abgaben und Steuern (Art. 19)**). Dieser Zu- 
ständigkeitskomplex betrifft aber lediglich die Streitigkeiten um Grund 
und Boden, der im Besige der Mejaschen oder Bergholden steht. Die 
Zuständigkeit ist eine absolute; eine Einschränkung etwa nach dem 
Werte des Grundes war nicht vorgesehen. 

Im Bergbüchel sind die Fragen der Zuständigkeit für die Klagen 
um das Erbrecht in Ansehung des den Mejaschen außer den Wein- 


rs) Mell, Weinbergrecht, S. 110; vgl. auch Art. 2, a. a. O. S. 115f. 
re) Mell, Weinbergrecht, S. 130, 116, 129, 140 f., 143 f., 142, 124 f. 


859 


gärten gehörigen Besibtums nicht geregelt worden. Wir müssen 
daher annehmen, daß die Weingärten, die unter den Bergstab der 
Bergbehörde gehörten, in die Zuständigkeit der BT. fielen, während 
die übrigen Realitäten (außer den Weingärten) nach dem gemeinen 
Erbrechte zu behandeln waren, so daß Herren und Landleute vor 
dem Landrechte des Schrannengerichtes (forum nobilium), Stadt- 
bürger vor dem Stadtgerichie, die persönlich freien Mejaschen Frei- 
sassen) aber vor dem Landeshauptmann um das Erbe zu klagen 
hatten. 

b) An zweiter Stelle befassen sich die Bestimmungen des BRB. 
mit den Fragen der allgemeinen Ordnung während der BT., als auch 
überhaupt im ganzen Weinberggebiete. Dies waren meistens Dinge, 
die in die autonome Machtsphäre der Vollversammlung gehörten. 
Dazu gehörten z. B. die Pflicht, an den BT. persönlich zu erscheinen 
(Art. 14), während der Versammlung die Waffen abzulegen, im nüch- 
ternen Zustande zu bleiben und auf den Gang der Verhandlungen 
aufzupassen (Art. 3), weiter die Pflicht, sich wieder auf der Hube 
niederzulassen, wenn sie ohne Genehmigung des Bergherrn ver- 
lassen wurde (Art. 20°). — Zu den Weisungen über die Erhaltung 
der Rechtsordnung im allgemeinen zählen die Vorschrift, daß alle 
Verlezungen der „Bergfreiheiten“ beim BT. anzuzeigen sind, ins- 
besondere aber die Gewalittätigkeiten der heimischen und fremden 
Leute (Art. 7); dann die Vorschrift betreffend die Erhaltung der 
Wege, Zäune und dergl. (Art. 8, 9, 10)°2). Daß alle diese Vorschriften 
sowohl die Berggenossen (Mejaschen) als auch die Bergholden be- 
treffen, erhellt deutlich aus dem Umstande, daß die Originalberg- 
artikel keinen Unterschied zwischen den beiden machten. Eine jede 
Verletzung dieser Vorschriften kann Gegenstand eines BT.-Urteiles 
werden. Freilich sind einige Vorschriften im Laufe der Zeit obsolet 
5 so insbesondere die über die Pflicht der Teilnahme an 

en BI. 

c) Ein breites Feld nehmen jene Weisungen der Bergartikel ein, 
die die Pflichten der Weingärtner gegenüber dem Bergherrn in An- 
sehung seiner Einkünfte betreffen. Die erste Gruppe dieser Vor- 
schriften sorgt für die Erhaltung der Weinbergbestände sowie für die 
entsprechende Ertragsfähigkeit der Weingärten. Weinberggrund darf 
ohne Genehmigung des Bergherrn weder verkauft noch zu Pfand 
gegeben werden (Art. 23, 41); die Art der Bodenkultur darf nicht 
eigenmächtig verändert werden (Art. 20); die Weingärten müssen 
technisch richtig behandelt werden, die erste Haue, das Beschneiden 
der Reben und dergl. kamen da in Frage (Art. 24, 26). Mit der Wein- 
lese darf nicht zu früh, daher nur auf Anordnung des Bergherrn be- 
gonnen werden (Art.51). Der Most darf mit keinen Zutaten versebi 
werden; der Bergherr hat den ersten reinen Beerenmost als Berg- 
recht zu bekommen, nicht etwa den aus den Trebern ausgepreßten 


s) Mell, Weinbergrecht, S. 118, 111, 126 f. 
81) Mell, Weinbergrecht, S. 113 f. 


540 


(Art. 15). Ohne Erlaubnis des Bergherrn oder Bergmeisters darf 
kein Wein oder Getreide aus dem Weinberg ausgeführt werden 
(Art. 13). Ist ein Jahr die Weinernte schlecht oder überhaupt nicht 
geraten, hat der Weingärtner die benötigte Quantität des Mostes 
anderswo zu kaufen, um sie dem Bergherrn als Bergrecht zu reichen 
(Art. 15002). 

Die Hohe des Bergrechts (Giebigkeit in Most) wird in dem BRB. 
nicht angeführt; nur bei den Kulturveränderungen, die vom Bergherrn 
genehmigt worden sind, wird angeordnet, daß man ein „zimlich perk- 
recht darauf schlahen“ soll, allein „nach erkanninuss der perk- 
gnossen“ (Art. 20)*); auch ist bestimmt worden, daß das Berg- 
recht, falls es in einem Jahre nicht „gezahlt“ wurde, das andere Jahr 
im doppelten Ausmaße und weiterhin stets verdoppelt zu reichen ist 
(Art. 16)°). Übrigens wurde das Bergrecht nicht nur vom Weingarten- 
erirag, sondern auch von Holz, Getreide, vom Honig aus dem Bienen- 
hause, von den gefangenen Billichen und dergl. gegeben, es hieß in 
einigen Bezirken schlechthin Zehentrecht. Aus dieser Bezeichnung 
kann man auf das zu reichende Quantum schließen. In der Beradt. BO. 
(1595) werden in einem besonderen Artikel am Schlusse des Textes 
einige Gebühren für den Verkauf oder Kauf der Weingärten sowie 
für die Umschreibung in bestimmten Beträgen angegeben®). Daß 
auch „Empfach“- und ‚„Toten-Gebühren“ (laudemium, mortuarium) 
bezahlt werden mußten, ist selbstverstandlich. Im Ainödter Bezirk 
wurden seit Ende des 18. Jahrh. die diesfälligen Vorschriften auf dem 
BT. wiederholt eingeschärft. 

Unter die Dienste, die der Weingärtner zu leisten hatte, gehörte 
die Pflicht, den Wein oder das Getreide aus dem Weingarten so weit 
zu führen, als man an einem Tage bis zum Sonnenuntergange ge- 
langen kann (Ari. 180%. Eine sonstige Vorschrift zur Leistung von 
Frondiensten ist in den Bergartikeln nicht vorgesehen. Die Erzwin- 
gung der Erfüllung einer dem Bergherrn schuldigen Leistung war 
dadurch ermöglicht, daß vorerst der saumige Weingärtner zum Berg- 
herrn oder Bergmeister zitiert wurde; sohin aber auch der Eingang 
in den Weingarten oder in den Keller durch Anbringung des Kreuz- 
zeichens verboten wurde (Art. 19)87). (Erst durch die Praxis kam 
auch das ,,Verpetschieren“ des Kellers auf.) 

d) Der größere Teil der Vorschriften der Bergartikel ist — im 
Sinne der heutigen Terminologie — strafrechtlichen Inhaltes®®). 
Nirgends wird angegeben, was als Grenze zwischen den causae 
maiores und minores gelten sollte. Allerdings sind schwerere 
Delikte ausgeschieden, da die Strafen nur bis zu 10 Mark gesebt 


82) Mell, Weinbergrecht, S. 130, 139, 126 f., 131, 132, 150, 119, 117, 119. 
83) Mell, Weinbergrecht, S. 127. 

&) Mell, Weinbergrecht, S. 120 f. 

es) Unten Anhang I. 

es) Mell, Weinbergrecht, S. 123. 

e) Mell, Weinbergrecht, S. 124 f. 

ee) Art. 33—43, Mell, Weinbergrecht, S. 136—140. 


541 


wurden. Fast durchgehends wurde zugleich mit der Strafsankhon 
auch die Entschädigungspflicht statuiert. Nur an zwei Stellen ist die 
Rede von Leibesstrafen. — Im Art. 36 heißt es, daß auf den Einbruch 
„in die preb oder keller“ eines Weingärtners, wobei der Tater auch 
„mit fravel auf in schlecht“ eine Strafe „an leib und guet” gesetzt 
wird. Darunter war u. E. keine „blutige Strafe“ (an Hals und Hand) 
zu verstehen; es konnte auch eine Prügel- oder eine spiegelnde 
Strafe bedeuten. Die zweite Strafe war die alternativ mit der Geld- 
strafe von 4 Schillingen statuierte Strafe des Ohrabschneidens (Art. 40). 
Auch hier wird bloß ein entehrendes Abschneiden des Ohrlappchens 
gemeint gewesen sein. So kommen wir zum Schlusse, daß in den 
Bergartikeln ungeachtet der beiden Leibesstrafen bloß causae 
minores gemeint waren. Nur bezüglich der Diebstähle, die im 
BRB. vorkommen, ohne daß auf die Wertbetrage, die die Straftat 
nach der Peinlichen Halsgerichtsordnung Karls V. zu einer causa 
maior stempelten, Rücksicht genommen ware, scheint es dem Er- 
messen der Bergtaidingsrichter anheimgestellt worden zu sein, ob die 
Sache an das Landrecht zu überweisen war oder in eigener Zu- 
ständigkeit zu verbleiben hafte). 

Die einzelnen strafbaren Handlungen wollen wir nicht anführen, 
wohl aber müssen wir betonen, daß die moderne Regel nullum 
crimen, nulla poena sine lege im BRB. nicht nur nicht zur Vor- 
schrift gemacht wurde, sondern daß es im Gegenteile aus dem 
Art. 29% — wenn seine Entstehungsgeschichte berücksichtigt 
wirds) — erhellt, daß die Volksrichter auch befugt waren, außer der 
„um ain jeglichen artikel begriffen“ Strafe, auch selbst solche Strafen 
urteilsmäßig zu statuieren. So finden wir denn auch in den slov. U. 
dem Original ganz unbekannte strafbare Handlungen mit ebensolchen 
Strafandrohungen (z. B. Diebstahl von Mist oder Kot in der Ain.-U.; 
Gotteslasterung in der Weißenst.-U.; Ehebruch, Kartenspiel, Lotter- 
wesen in der Weißenst.-U.; üble Nachrede über den Bergherrn im 
Wagensb.-Exz.). Man sieht sofort, daß sich darunter einige straf- 
bare Handlungen befinden, die auch in der CCC. vorkommen und 
dort als causae maiores qualifiziert waren (Art. 106, 129)*). Man 
muß jedoch auch das eine berücksichtigen, dag in den Berg- 
artikeln die strafbaren Handlungen gar nicht nach der Schuldart 
charakterisiert waren, weswegen man zur Annahme berechtigt wäre, 


ee) Art. 157—160, vgl. Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V., 
Constitutio Criminalis Carolina, herausgegeben von J. Kohler und W. 
Scheel (= Die Carolina und ihre Vor gängerinnen I), Halle a. S. 1900, 
S.85~—87. Vgl. betreffend den Grundsab: „Wo kein Kläger, da kein Richter“ 
für die CCC. insb. Radbruch, Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser 
Karls V., S. 119 nachf. 


do) Mell, Weinbergrecht, S. 134. 


n) Vgl. bei Mell, a. a. O. die textkritische Anmerkung B), die zeigt, 
daß in der Originalausfertigung durch einen Schreibfehler aus „gesaczi“ 
„gesagt“ geworden ist. 


ee) Kohler-Scheel, a a. O. S. 57 f., 66 f. 


542 


daß nur leichtere Fälle, etwa solche ohne ausgesprochenen bösen 
Vorsak, in die Zuständigkeit der BT. fielen. 

e) Von dem großen Komplexe der zivilrechtlichen Bestimmungen 
hat das BRB. auffallend wenige aufgenommen. 

In die Zuständigkeit der BT. fielen die Rechtsstreite um Ent- 
schädigung des Nachbarn wegen Tierschadens (Art. 31), wegen des 
ihm durch zu nahe stehende Bäume verursachten Schadens (Art. 46), 
um Grenzberichtigungen (Art. 47), Prozesse wegen des Einstands- 
rechtes (ius retractus, im Original wird der Ausdruck „Anfaillung“ 
gebraucht, Art. 50), und wegen Auflösung des Kaufvertrages, 
wenn die Kaufsumme in der bedungenen Frist nicht bezahlt 
wurde (Art. 41)*). Die Rechtsgeschäfte Kauf, Tausch, Bürgschaft, 
Verpfändung wurden zwar erwähnt, begrifflich aber nicht festgelegt 
(Art. 21, 41, 49)*). Allgemeine Bestimmungen aus dem Obligationen- 
rechte fehlen zur Gänze, die Ersigung von Grund und Boden wird 
aber geregelt (Ari. 45)*). 

Ð Schließlich gehörten in die Zuständigkeit der BT. die Siritte 
wegen der Gebühren oder der Bezahlung des Bergmeisters und der 
Tagwerker. Betreffend den Bergmeister haben das Original des 
BRB.®), die Beradt. BO. %, die Rezl-*), Kapsch-, Museal-U. fast 
übereinstimmende Vorschriften, nämlich daß ihm „von jedem Fall oder 
pueß“, die der Bergherr zu bekommen hat, zwölf Pfennige für seine 
Mühe zu bleiben haben. Die Stud.-Bibl.-U. schärft nur ein, daß der 
Bergmeister keine Strafe oder Buße der Bergbehörde gegenüber 
verheimlichen darf”). Die Weißenst.-U. hat den Bergmeisteranteil 
an der Geldsirafe auf einen Groschen eingeengt, die Layb.- und 
Ainödt.-U. sowie das Wagensb.-Exz. haben aber die entsprechende 
Stelle überhaupt — gestrichen! Die Übermurg.-U. stellt sich auf 
einen anderen Standpunkt; sie warf für viele besonders angeführte 
Geschäfte des Bergmeisters (hegymester) als auch Richters 
(esküt) besondere Honorare aus. Besondere Tagwerklohne werden 
im Original), in der Rezi-**) und Kapsch- U. angeführt, sonst aber 
in keiner anderen. 

Bei allen Ubersetzungen finden wir die Strafbetrage in verschie- 
dener Valuta angegeben. Das Verhältnis zwischen den Pfennigen, 
Marken, Kronen, Schillingen, „Denaren“ und kleinen Denaren (de - 
narič) wird bloß in der Kapsch- und Ain.-U. geregelt. In der 


ee) Mell, Weinbergrecht, S. 135, 142, 143, 144, 139. 
ea) Mell, Weinbergrecht, S. 129, 139, 143. 
e) Mell, Weinbergrecht, S. 142. 
es) Art. 48, Mell, Weinbergrecht, S. 143. 
07) Art. 4, unten Anhang l. 
Š 3 Rezi-U. Art. 48, ed. Oblak, a. a. O. S. 189, ed. Koblar, a. a. O. 
©) Stud.-B.-U. Art. 47, ed. Oblak, a. a. O. S. 305. 
100) Art. 52, Mell, Weinbergrecht, S. 145 f. 
8 fore Rezl-U. Art. 52, ed. Oblak, a. a. O. S. 190, ed. Koblar, a. a. O. 


545 


Beradt. BO. heißt es nur, daß eine Mark-Pfennig gleichbedeutend 
mit einem Golddukaten sei‘); die übrigen Ausdrücke fur die Geld- 
sorten sind in ihr nicht erläutert worden. 


§ 21. Zuständigkeitsfrageninder Praxis. 


Aus den BT.-Protokollen, aber auch aus den Quatemberrechts- 
protokollen gewinnen wir vor allem einen Rückblick in das Verhalt- 
nis zwischen dem Bergherrn und seinen Weingärtnern. Bezüglich 
der Quatemberrechtsprozesse müssen uns die vorhandenen Proto- 
kolle als die einzig zur Verfügung stehenden Wegweiser betreffs der 
Frage der Zuständigkeit dienen, da wir außer der oben im 8 18 
zitierten Vorschrift der Gerichtsordnung keine geseßliche Bestim- 
mung kennen. 

Bezeichnenderweise haben die Weingärtner selbst darauf ge- 
achtet, daß sich keine fremde Bergbehorde in die Angelegenheiten 
des eigenen Bergherrn einmischen durfte. So wurde auf dem BT. 
vom 10. März 1711 im Klingenfelser Gebiete beschlossen, die eigene 
Bergbehörde zu bitten, sie möge keinem fremden Bergherrn gestatten, 
sich ohne Vermittlung der BT.-Versammlung herauszunehmen, die 
Weinkeller zu ,,verpetschieren“ und ihr nicht untergebene Untertanen 
vor sich zu laden. Anderseits wurde noch am 20. März 1802 in dem- 
selben Gebiete beschlossen, ein jeder Weingärtner, der sein Recht 
bei der eigenen Bergbehörde mit Umgehung des BT. suchen würde, 
verfalle der Strafe von einem „Viertel“ Wein. Demselben Gedanken 
sind wir in der Übermurg.-U. begegnet (Art. 14), was schon oben im 
§ 10 am Schlusse erwähnt wurde. Die Tatsache, daß dieselbe Vor- 
schrift in zwei weit auseinanderliegenden Gebieten bis ins 19. Jahrh. 
lebendig erhalten blieb, kann wohl nur als Beweis dafür gelten, wie 
zähe das niedere Volk an seiner autonomen Gerichtsbarkeit festhielt. 
Es ist kaum anzunehmen, daß die Losungsworte der französischen 
Revolution die Bauernschaft in den slov. Gebieten schon zu dieser 
Zeit zu solchen Beschlüssen aufgestachelt hätten. Übrigens haben 
wir auch aus den vorherigen Jahrhunderten Beweise für den auto- 
nomen Charakter der Volksgerichte genug. Mußte doch der Berg- 
herr einige Male persönlich oder durch seinen Vertreter als Partei 
vor das BT. treten, und dies nicht nur in der Rolle eines Klägers, 
sondern auch eines Beklagten, um dortselbst das Urteil der seinem 
Bergstabe unterworfenen Weingärtner anzuhören! Da handelte es 
sich nicht etwa bloß um Beschwerden allgemeinen Charakters, son- 
dern um ganz konkrete Rechtsfragen, gleich wie die BT. auch ın 
Streitsachen fremder Adeliger und Nichtadeliger, Geistlicher, Pfarrer, 
Städter usw., mögen sie nun Kläger oder Beklagte gewesen sein, 
ihre Urteile schöpften. Hier galt es nicht, daß nur Angehörige eines 
höheren Standes den Angehörigen des gleichen oder tieferen Stan- 
des Recht sprechen durften, nicht aber umgekehrt: Das Band der 


103) Art.3, unten Anhang I. 


544 


Bergstabshoheit hat die Unterschiede der Standeszugehörigkeit ver- 
wischt. Die Kausalgerichtsbarkeit bezüglich der Bergrealitaten ge- 
hörte vor das Volksgericht, mag der Besitzer der Realität wer immer, 
ja selbst der Bergherr selbst gewesen sein, — nur daß die Urteile 
eines bestimmten BT. — wie einmal ausdrücklich iudiziert worden ist, 
bloß im Gebiete des eigenen Bergstabes Geltung haben durften. 

In der ersten Zeit nach der „stara pravda“, d. i. nach dem 
Bauernaufstande vom Jahre 1573, der ein für die Bauern so kläg- 
liches Ende gefunden hat, waren sogar die Bergherren selbst be- 
müht, die Autonomie der Volksgerichte zu schützen. Protokolle aus 
dem Ende des 16. und vom Anfange des 17. Jahrh. bekunden, daß die 
Äbte von Landstraß und die Superioren von Pletriach die Volks- 
richter selbst befragten, was in einem bestimmten Falle rechtens sei, 
z. B. wenn ein Weingärtner schon einige Jahre hindurch keine Berg- 
steuer entrichtet oder seinen Weingarten nicht ordentlich bearbeitet 
hatte. Dies entsprach übrigens dem Inhalte des BRB., weil dieses 
in beiden Fällen die Besikentziehung von dem ,,erkanninus der perk- 
genossen“ abhängig gemacht hat (Art. 17, 2600. Der Bergherr be- 
kam zuweilen auf solche Fragen Antworten, die ihm nicht gepaßt 
haben mögen. Ja, sozusagen ein Aufsichisrecht hat sich das BT. in 
Ansehung des Verhaltens des Bergherrn angemaßt. Ein Bergsuppan 
verklagte am 5. Oktober 1604 (Landstraßer Gebiet) vier Weingariner, 
daß sie die bergbehördlichen Petschaften abgerissen haben, und 
stellte das Verlangen, diese deswegen zu bestrafen. Die Richter 
haben aber die Bestrafung abgelehnt, denn der Bergherr hätte den 
Weinkeller verpetschieren lassen, ohne zuvor Klage vor dem BT. er- 
hoben zu haben. Daß es Gemeinurteile gab, die das Verhältnis der 
Bergbehörde kritisierten, ja sogar mit Drohungen kamen, wurde 
schon oben in 8 6, Il, angeführt. Den dortigen Fällen möge noch 
einer hinzugefügt werden: Die Klage verlangte von dem BT. — es 
handelte sich um die lekterwähnte Versammlung , es solle der Wein- 
gärtner, der den Bergmeister anläßlich der Abholung der Bergsteuer 
durchprügelte, aus dem Verbande der Weingartenbesiker ausge- 
stoßen werden. Der Täter bekam keine Strafe, sondern er wurde 
begnadigt; bloß den Auftrag gab man ihm, sich mit dem Bergmeister 
zu versöhnen. Fälle, in denen der Bergherr keinen Erfolg erzielen 
konnte, könnten noch mehrere angeführt werden. Zwei besonders 
charakteristische sollen hier kurz Erwähnung finden: Der Landstraßer 
Abt verklagt als Bergherr sämtliche Beisitzer eines BT., weil ein 
Weingärtner gegen ihr Urteil die Beschwerde an den Kellermeister 
in Laibach erhoben hat und tatsächlich mit ihr durchgedrungen ist. 
Der Abt verlangte nun von den Richtern, sie sollen ihm die entstan- 
denen Kosten wiedererstatten. Sie lehnten dies ab. Nun hat der 
Abt einen Befehl von der Landeshauptmannschaft erwirkt, daß die 
BT.-Richter den Beisitzern des Kellermeistergerichtes die Reisekosten 
zu ersetzen haben, weil sie vom Lande in die Stadt kommen mußten. 


108) Mell, Weinbergrecht, S. 122, 132 f. 


545 


(Nach Art. 6 BRB. mußten es „landleute und burger, so perkrechi 
haben oder dienen“ sein:, in der nächsten Umgebung von Laibach 
gab es aber keine Weingärten) Auch diesem Befehle gaben die 
BT.-Richter kein Gehör, vielmehr ließen sie protokollieren, man solle 
jene zum Kostenersabe verhalfen, die falsche Behauptungen in der 
Beschwerdeinstanz durchgesebt haben, „als ob etwas auf dem Wein- 
berge geschehen wäre, was in der Tat nie der Fall war“. Dies steht 
geschrieben in dem BT.-Protokolle vom 30. März 1606 bzw. vom 
10. September 1606, des unter Landstraß fallenden Weinbergs 
Jablangen. In einem anderen Falle wurde der Bergherr, der durch 
seinen Hofrichter vertreten war, am 11. April 1658 in Arch bei Land- 
stra von seinen Untertanen verurteilt, er habe einen Weingarten, 
den er an sich gezogen hatte, dem Sohne des verstorbenen Besigers 
auszufolgen. 

Zu den Gegenständen, die unter die Zuständigkeit der BT. fielen, 
gehörten auch Beschwerden wegen Nichtbezahlung der Steuern. In 
diesem Belange haben aber die Bergrichter in den weitaus meisten 
Fällen dem Bergherrn zu seinen Rechten verholfen; nur selten fanden 
sie sein Verlangen nicht gerechtfertigt und schützten die Be- 
klagten. Mehrmals sind Urteile gegen fremde Gufsbesizer oder 
Zehentherren ergangen. Es wurde z. B. ein Urteil geschöpft, daß die 
Zehentherren nicht berechtigt seien, ihren Zehent einzuheben, bevor 
der Bergherr sein Bergrecht eingebracht hat. Ein anderes Mal er- 
klärten die Bergrichter, der Zehentherr dürfe seinen Anteil nicht von 
dem ganzen Quantum einschließlich des Bergrechtweins, desgleichen 
nicht vom Geläger (aus Weintrebern gebrannter Schnaps) bestimmen 
und an sich nehmens). In gleicher Weise behaupteten sie die 
Kompetenz für sich in Ansehung der Beschwerden gegen die Berg- 
meister, Hofrichter und Zehentleute. Selbstredend urteilten sie auch 
über Vergehen der Beisitzer aus „dem Ringe“. 

Die Skizze möge genügen, um darzutun, welch weitgehende 
Autonomie die Volksrichter auf dem BT. für sich beanspruchten. Wie 
schon oben bemerkt, ist kaum anzunehmen, daß neben dem BT. auch 
noch besondere Grundobrigkeitsgerichte hätten existieren können, 
sofern sie nicht bloß vorbereitende oder ausführende Agenden ver- 
sahen. Wir glauben diese Erscheinung aus dem Umstande erklären 
zu können, daß bis zur Mitte des 17. Jahrh. vielleicht die meisten Bei- 


10) Mell, Weinbergrect, S. 112. 


108) In der Zehentordnung fiir Krain, Istrien und den Karst vom 27. Marz 
1575 ist nirgends die Rede von einem Zehent in Wein; reguliert wurde nur 
der Zehent in Getreide. In der steiermärkischen Zehentordnung vom 10. 
März 1605 wird aber auch vom Weinzehent gesprochen, nicht aber von 
einem Gelägerzehent. Nur in der Zehentordnung für. Niederösterreich vom 
25. März 1546 hieß es, daß der Zehent nicht von der ganzen Menge, sondern 
von jener, die nach Wegnahme des Bergrechtes verbleibt, berechnet werden 
darf. S. Ph. O.v. Ottenthal, Der Zehend, nach canonischem und öster- 
reichischem Rechte, Linz, 1825, S.64. Hierzu soll nochmals bemerkt werden, 
daß in einigen Gebieten im 18. Jahrh. auch das Bergrecht schlechihin Zehent 
heißt. (So in Seisenberg und Ainodt.) 


846 


sitzer — Mejaschen waren, also Leute, die persönlich gar nicht dem 
Bergherrn untertan waren. Jedenfalls empfanden es aber die Berg- 
herrn mit der Zeit als einen Hohn auf ihre Herrlichkeit, daß sie die 
Bauerngerichte neben sich dulden mußten, vermieden es, auf den- 
selben den Vorsi§f zu führen und blieben ihnen schließlich ganz 
fern’). Nun wollten aber auch die Gutsbesitzer als Mejaschen nicht 
mehr persönlich mittun; sie blieben auch aus. Die Bergholden nahmen 
allerdings ihre Richtersige ein, allein diesen gegenüber hatten die 
Vertreter des Bergherrn ein leichteres Spiel. Wenn es auch hinfort 
fast bis zur Wende des 19. Jahrh. in allen Weinberggebieten dennoch 
bei der Bergtaidingsgerichtbarkeit verblieb, so geschah dies haupt- 
sächlich darum, weil die Zusammensebung der Beisiterfafel die 
Gewähr bot, daß es zu sachlichen Gegensäben zwischen den Wein- 
garinern und der Bergbehörde nicht mehr kommen konnte. Tatsächlich 
gehören fortan Stellungnahmen wider die Bergbehörde zu den 
größten Seltenheiten. In einigen Gebieten, wie im Seisenberger und 
Ainödter Gebiete, verbanden übrigens die Bergherren die Stellung 
eines Vorsitzenden mit jener des Obmannes im Richterkollegium, wo- 
durch Konflikte überhaupt unmöglich gemacht wurden. So kam es 
also, daß die Quatembergerichte im Laufe des 17. Jahrh. hier früher, 
dort später, der Gerichtsbarkeit der Grundobrigkeiten, bei der 
anfangs auch noch Laien mitzuwirken hatten, wenn auch mit anderen 
Befugnissen, weichen mußten, wogegen die BT. konsequent ihre 
Zuständigkeit für alle Rechtssachen behaupteten, die sich auf das 
Leben in den Weingebirgen bezogen, mag es sich um Fragen aus dem 
Personen-, Sachen-, Erb-, Obligationen- oder Strafrecht gehandelt 
haben"). Das größte Kontingent lieferten die Straf- und Erbschafts- 


108) Johann Weikh. Valvasor, der Verfasser der „Ehre des Herzog- 
ums Krain“ (1689), ein glühender Verehrer seines Heimatiandes, führt im 
IX. Buche seines großen Werkes sieben verschiedene Gerichisinstanzen für 
Krain an, übergeht aber mit Stillschweigen die Bergtaidinge und das Keller- 
gericht, ja nicht einmal die Geltung der Ber el registrierte er. 
war aber Valvasor, wie wir urkundlich nachgewiesen haben, selbst Bergherr 
und als solcher über die Bergtaidingsjustiz auf seiner Herrschaft Wagens- 
berg und zweifellos auch bei anderen Grundherrschaften informiert. Es 
fällt auf, daß Valvasor wohl die „hölzernen Urteile“ der Volksgerichie 
Istriens und in der Windischen Mark, die schon Mitte des 16. Jahrh. abge- 
schafft worden sein sollen, einer beißenden Kritik unterwirft (a. a. O. Bd. M, 
S. 95), von der Existenz der noch funktionierenden Volksgerichte in Unter- 
krain aber keine Notiz nimmt. Wie wir im Glasnik Muzejskega DruStva za 
Slovenijo (Bulletin de l'Association du Musée de Slovénie) IX, Ljubljana 
1928, S. 98—106 in einer Abhandlung uber Valvasors Stellungnahme zu den 
slovenischen Volksgerichten (Valvasor in slovenska ljudska sodišča) aus- 
geführt haben, kann dies merkwürdige Verhalten nur damit aufgeklärt 
werden, daß er es als eine Schmach für die Landstände empfunden hat, daß 
sie diese Volksjustiz noch nicht abgeschafft haben, weshalb er sie der aus- 
wärtigen Leserschaft gegenüber lieber unerwähnt lassen wollte. 


107) Das angewendete Volksrecht weist vielfach ganz eigenartige Auf- 
fassungen auf. Auf Grund der aus drei Jahrhunderten stammenden Ge- 
richtsprotokolle lassen sie sich gut verfolgen. In dieser Abhandlung können 
wir allerdings nicht einmal eine Skizze davon geben, weil dies den Rahmen 
der Abhandlung zu sehr erweitern würde. 


547 


klagen. Bei Straffallen ging die Zuständigkeit manchmal so weit, daß 
die BT.-Richter darüber entscheiden zu sollen glaubten, ob eine Sache 
als causa maior vor den Bannrichter kommen müsse. Sogar in 
den Arrest steckten sie einen Beschuldigten für zwei Wochen, mit der 
Begründung, er solle in dieser Zeit seine Unschuld erweisen, widrigens 
werde er als „Malefizperson“ dem Landgerichte überstellt werden. 
(Beschluß vom 14. September 1601, Landstraßer Gebiet.) So zeigt sich 
auch hier die ausgesprochene Tendenz, die Autonomie der BT. zu 
behaupten. 

Auch den Stadigerichten gegenüber wollten die BT. keine Kon- 
zessionen bezüglich der Zuständigkeit zulassen. Hatte der Beklagte 
einen Weingarten, konnte nur das BT. in Weingartensachen ein Urteil 
fällen. Desgleichen konnte der Hofrichter der Herrschaft die Zu- 
ständigkeit der BT. lange nicht zum Wanken bringen, obschon er 
Klageaufnahmen besorgte, den Weingartenbesib evident führte usw. 
Erst im Laufe des 18. Jahrh. haben einzelne besonders angesehene 
und beliebte Hofrichter (wie z.B. Franz von Garzarolli in Landstraß) 
zunächst als Stellvertreter des Bergherrn, dann als Vorsitzende der 
Beisigertafel einen entscheidenden Einfluß auf die Gerichtsbarkeit in 
Bergrechtssachen gewonnen. Schließlich wußten die Hofrichter die 
BT. dem selbständigen Wirkungskreis des Grundobrigkeitsgerichtes 
einzugliedern, um zu guter Lebt die Mitwirkung der Volksrichter 
gänzlich auszuschalten. 


V. Das Verfahren bei den Volksgerichien. 
82. Prozeßeinleitung. 


Wie die Angelegenheiten ins Rollen gebracht wurden, die zu 
einem Gemein-Urteil führen sollten, wurde bereits besprochen (oben 
§ 15). Hier kommen nur mehr die Privatklagen von Person zu 
Person in Betracht. 

Das Original des BRB. enthält keine allgemeine Bestimmung dar- 
über, ob der Bergherr eine streitige Rechtssache allein ohne Mit- 
wirkung des BT. (,,erkanninus der perkgenossen“) entscheiden darf. 
Wohl hat das BRB. gleich im Art. 2 angeordnet, der Bergherr habe 
„denen, so umb erb zu clagen haben albeg in jar recht ergeen lassen, 
im schriftlich oder mundlich furpot thuen und in des zu ainer jeden 
zeit nicht verziehen, sonder furderlich recht ergeen lassen, dann dise 
recht nicht verzug leiden mugen“:®). Diese, fast an die Spike des 
BRB. gestellte Vorschrift stand in engster Beziehung mit einer andern 
in den Art. 44, also fast ans Ende gerückten Bestimmung, der Berg- 
herr solle „ainem jeden erben auf sein gerechtigkait, so ime aner- 
storben ist, leihen, was er ime von recht daran zu verleihen hat“. Die 
weitere daran anschließende Bestimmung besagt: wenn der Erbe im 
Beisein von zwei Berggenossen um die Verleihung des Erbes 
angesucht, aber durch drei Stunden vergeblich darauf gewartet hat, 


108) Mell, Weinbergrecht, S. 110. 


548 


kann er sich beim Kellermeister beschweren, und dieser hat die Ver- 
leihung binnen vierzehn Tagen schriftlich zu befehlen. Wenn aber 
der Bergherr glaubt, er sei dennoch nicht verpflichtet, diese zu voll- 
ziehen, so soll er binnen dieser vierzehn Tage „die perkgenossen 
nidersezen und erkennen lassen. thot er das nicht, so soll alsdann 
des Landsfursten kellermaister ime (sc. dem Erben) solch erb auf 
sein gerechtigkait verleihen und ime darzue zu recht schermen“:®). 
Der Sinn der zweitgedachten Vorschrift kann nur der gewesen sein, 
ein Streit, der zwischen dem Untertanen und dem Bergherrn ent- 
standen, soll durch einen Urteilsspruch des BT. aus der Welt geschafft 
werden; der Bergherr aber, der diesen Urteilsspruch nicht selbst 
anzuregen beliebt, sei dem Urteilsspruche des Kellermeisters unter- 
worfen. Dieser Gedanke kam in der Beradt. BO. noch klarer zum 
Ausdruck. Dort heißt es im Art. 2: „item soll ein Jeder Perkherr, 
denen so umb Erb zu clagen haben, die zwischen den Angestellten 
Perkthaiding angefallen währen, allerwegen im Jahr recht ergehen 
lassen, im schrüft oder mündlich Fürpitte thuen vund in daz zu einer 
ledenzeit nit verziehen, sondern fürderlich recht ergehen lassen“), 
Daraus geht hervor, daß der Bergherr im 16. Jahrh. nicht nur 
berechtigt, sondern verpflichtet war, selbst die Bergtaidingsrichter 
auch außerhalb der althergebrachten Versammlungstage zur Ver- 
handlung und Urteilschopfung einzuberufen. 

In ähnlicher Weise wird im Art. 13 des BRB. angeordnet: Wenn 
der Bergherr der Person, die ohne Erlaubnis Wein oder Getreide 
aus dem Weingebirge ausgeführt hat, nicht habhaft werden konnte, 
solle er sich die Geldbuße, der der Frächter verfallen, sowie den 
Wert des Frachiguies aus dem Grund und Boden verschaffen, — 
„doch das dasselb verpot in vierzehn Tagen darnach gerechtfertigt 
werde"). Wie die Rechtfertigung geschehen solle, ist hier nicht 
genauer angeführt; desgleichen auch nicht in der Beradt. BO.**) und 
in der Rezi-U.:1:). Doch hat die Kapsch-U. ausdrücklich bestimmt, dies 
müsse durch einen Prozeß binnen vierzehn Tagen erkannt werden. 
Selbstredend hat der Bergherr seine BT.-Richier zu einer außer- 
ordentlichen Versammlung einberufen müssen. Doch muß bemerkt 
werden, daß eben diese Vorschrift in einigen anderen Übersekungen 
überhaupt nicht mehr übersetzt oder sogar ins Gegenteil verkehrt 
wurde, z. B. im Wagensb.-Torso, wo es heißt, alles müsse dem Berg- 
herrn binnen vierzehn Tagen bezahlt werden***). 

Auch noch in einem dritten Falle konnte es zu einer außerordent- 
lichen Verhandlung der BT.-Richter kommen. Nach dem Art. 19 des 
BRB. kann der Bergherr den Weingarten wegen Nichibezahlung der 


100) Mell, Weinbergrecht, S. 140 f. 
110) Unten Anhang I. 
111) Mell, Weinbergredht, S. 117. 
113) Art. 13, unten Anhang I. 
3 oc Nezl-U. Art. 13, ed. Oblak, a. a. O. S. 183, ed. Koblar, a. a. O. 
114) Wagensberg-Torso Art. 13, ed. Dolene, a. a. O. S. 103. 


23 NF 6 349 


„fäll und wandel“ verkreuzigen lassen, womit der Eintritt in den 
Weingarten bei einer Geldstrafe verboten wurde. Bei jeder Ober- 
tretung dieses Verbots verfällt die Geldstrafe, so daß der Uberireter 
deren Summe zu bezahlen verpflichtet istus). Wenn aber diese 
Häufung der Strafbetrage nicht mehr genehm ist („wann das den 
perkherrn verdreust‘), dann mag er den Übeltäter vor einen Richter 
und die Berggenossen stellen, die ihn vor sich zu rufen und die Straf- 
betrage zusammenzuzählen haben, worauf sich der Bergherr seines 
Erbgutes für so lange bemächtigen darf, bis er Bezahlung bekomme). 
Diese Einberufung der Richter, die durch ihren Spruch dem Berg- 
herrn zu seinen Rechten verhelfen sollen, ist noch in der Beradt. BO. 
beibehalten worden’), fand auch eine richtige Aufnahme in der 
Rezi-11*), Kapsch-, Weißenst.- und Ain.-U. Die Mus.-U. lautet dahin, 
es können der Bergrichter selbst oder der Richter die Sache durch 
einen Spruch erledigen. In der Layb.-U. wurde aber eine Fassung 
gewählt, nach der mit der Erledigung der Sache bis zum nächsten 
BT. zuzuwarten ist. 

Wurde nun im Art.4 BRB. angeordnet, daß „ain jeglicher“ (scil. 
Berghold oder Berggenosse — Mejasch) sein ordentliches Gericht in 
erster Instanz vor dem BT. haben soll***), so muß damit nicht nur das 
ordentliche BT. als Gericht, sondern auch das außerordentlich ein- 
berufene Kollegium der BT.-Richter gemeint gewesen sein. Die Ein- 
berufung war stets vom Bergherrn anzuordnen. 

Allerdings wurde für zwei Fälle ausnahmsweise vorgesehen, daß 
eine Strafe vom Bergherrn selbst ohne Mitwirkung der Bergrichter 
verhängt werden dürfte. Nach Art. 21 straft mit einer Mark Pfennige 
der Bergherr, wenn ein Vermächtnis, Kauf, eine Pfandbestellung 
nicht „mit des perkherrn oder seines perkmaisters hand“ geschehen: !. 
Die zweite Ausnahme betrifft den dreimal nacheinander an den Tag 
gelegten Ungehorsam eines vor den Bergherrn oder Bergmeister vor- 
geladenen Weingariners. In diesem Falle war dem Bergherrn eine 
Strafe von drei Mark verfallen (Art. 25)*#1). Diese Vorschrift wurde 
in einigen slov. U. ausdrücklich dahin ergänzt, daß die Strafe zur 
Zeit des Ungehorsams, also sofort, ohne Bergrichterspruch verfällt. 
In der Layb- und Ain.-U. wurde sie noch weiter dahin verschärft, daß 
die Strafe schon nach dem ersten, und nicht erst nach dem dritten 
Ungehorsamsfalle zu verhängen sei. 

Allein von diesen leSigedachten Bestimmungen abgesehen, waren 
doch einige Angelegenheiten in Erb- und Strafsachen gegeben, die 
a ae 


118) Ganz vereinzelt heißt es in Art. 16 der Ain.-U, daß die Geldstrafe 
erst verfallen ist, wenn das Verbot schon zehnmal übertreten wurde. 


119) Mell, Weinbergrecht, S. 124 f. 
117) Art. 17, unten Anhang l. 
Š Er Rezl-U. Art. 19, ed. Oblak, a. a. O. S. 184 f., ed. Koblar., a. a. O. 


110) Vgl. oben 8 6, Il. 
130) Mell, Weinbergrecht, S. 129. 
121) Mell, Weinbergrecht, S. 132. 


550 


von der allgemeinen Vorschrift, daß alle Streitigkeiten sofort vor 
das ordentliche BT. zu kommen haben, ausgenommen waren. Der 
Bergherr war aber nicht befugt, sie selbst endgültig zu erledigen; 
ihm kam bloß die Befugnis zu, die Sache für die lurisdiktion der 
BT.-Richter dadurch vorzubereiten, dab er die seinem Bergstabe 
untergebene Person verhörte, ja sogar ihr Weisungen erteilte, allein 
sie hatte die Möglichkeit, sich an das Gericht des BT. zu wenden. 

Die Bestimmungen des BRB. sprechen nicht davon, daß Streit- 
sachen oder Klagen noch vor dem BT. bei der Bergbehörde anzu- 
bringen oder anzumelden gewesen wären, und daß diese befugt ge- 
wesen wäre, sie abzulehnen oder niederzuschlagen. Aus dem Art.5 
ist eher das Gegenteil zu erschließen, daß jedes eigenmächtige 
Zurückhalten der Streitsachen eine Beschwerde an den Kellermeister 
zur Folge haben kannn). Auch steht es in dem Art. 7, der fast in 
alle slov. U. sinngetreu aufgenommen wurde, daß auf den BT. alle 
Verlekungen der Bergfreiheiten anzuzeigen sind‘**). Nichtsdesio- 
weniger kann nicht angenommen werden, daß es einer betroffenen 
Partei verwehrt gewesen wäre, in dringlichen Angelegenheiten die 
Hilfe des Bergherrn oder seines Bergmeisters in Anspruch zu nehmen. 
In diesem Sinne möchten wir für die Rechtsgebiete, in denen das 
BRB. Geltung hatte, die Angaben Ferdinand von Rechbechs 
richtigstellen, daß eine jede Grundobrigkeit als erste Instanz in Zivil- 
sachen ihre Untergebenen entweder selbst oder durch einen unpar- 
teiischen Richter verhören und sentenzieren durfte**). Damit steht 
nicht im Widerspruche die Bestimmung des Art. 27, unfersfützt viel- 
mehr unsere Auffassung, daß der Bergherr oder der Hubmeister 
(siehe oben § 10) auf ein Begehren (sic!) „ain furpot“ erlassen kann, 
freilich gegen Bezahlung einer Taxe von 12 Pfennigen*™*). Die Stud.- 
B.-U. spricht hier von dem Begehren eines Briefes oder eines Siegels 
(Petschaft):*), dessen Übersendung als Vorladung gewertet werden 
mochte*#"). Doch waren diese Vergleichsversuche durch Inanspruch- 


132) Mell, Weinbergrecht, S. 112. 

133) Mell, Weinbergrechi, S. 113. 

1%) Siehe Ferdinand von Rechbach, Observationes ad Stylum 
curiae Graecensis et subordinatorum tribunalium Styriae, Carinthiae, Car- 
nioliae, Ooritiae, Tergesti, Fluminis et Anplety (Grab 1680), S. 115. VgL 
auch Nicolaus de Beckmann, a. a. O. S. 544, 545. In gleichem Sinne, 
wie oben, vertritt seine Anschauun in der Sache auch Polec, a. a. O. 
S. 34. Selbstredend ist die öglichkeit nicht auszuschließen, dag 
von Rechbach für die übrigen Gebiete, außer den Weingegenden, 
recht hatte. Vol. übrigens auch von Rechbach, a. a. O. S. 55-57, 
über das Bergrecht in Steiermark. 

138) Mell, Weinbergrecht, S. 133. 

138) Stud.-B.-U. Art. 26, ed. Oblak, a. a. O. S. 303. 

137) Vgl. über die ver cues des Ladungssiegels in den slavischen 
Sjedlunosgebielen M. von Sufflay, Az idézo pecsét a szláv források 
vilá világánál (Das Ladungssiegel im Lichte der slavischen Quellen), 
Századok (Jahrhunderte) XL, Budapest 1906, S. 203-312, im Auszug (Sigillum 
citacionis) auch Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichts- 
forschung XXVIII, Innsbruck 1907, S. 515—518. — Eine Vorladung wegen 


551 


nahme der Bergbehörde keineswegs obligatorisch gemeint. Eine 
solche Annahme würde mit der Bestimmung des BRB. in Widerspruch 
kommen, daß jedermann verpflichtet sei, persönlich oder durch seinen 
Stellvertreter an dem BT. teilzunehmen, damit er höre, ob der Berg- 
herr oder jemand anderer gegen ihn etwas zu klagen oder zu melden 
hat, mit der Begründung „dann man nit schuldig jedem besonder 
furzupieten“ (Art. 14). Auch wurde hinsichtlich der Erbansprüche 
ausdrücklich bestimmt, daß sie im BT. anzumelden seien (Art. 11}1®). 
U. E. war daher das Recht, Klage zu führen, ohne vorher die Berg- 
behörde als Vermittlerin anzurufen, von alters her so bekannt, dab 
es gar nicht im BRB. besonders statuiert zu werden brauchte. Was 
aber für die BT. recht war, mußte für die Quatember- und Billich- 
rechte gewohnheitsrechtlich für billig gelten. Wie aber die Parteien, 
wenn sie das persönliche Erscheinen der Gegenpartei unbedingt ge- 
sichert haben wollten, vorgehen mußten, das regelten in den einzelnen 
Weinberggebieten die bestehenden Gewohnheiten. 


§ 23. Hauptgrundsake des Prozeßverfahrens. 


Uber die Art des Prozeßverfahrens auf dem BT. erfahren wir 
aus dem BRB. fast gar nichts. Allerdings müssen wir annehmen, dab 
das fiskalische Interesse des Bergherrn die Prozeßführung stark 
beeinflußt hat. Es heißt im BRB., daß jede Partei, die in Erbsachen 
Klage zu führen hat, eine Taxe zu erlegen habe (Art. 1 10. Diese 
Vorschrift wurde in einigen Übersekungen ausdrücklich auf Klag- 
ansprüche jedweder Art ausgedehnt. Ähnliche fiskalische Bestim- 
murigen bestanden für das „Fürbol“, für die Übersendung eines 
Gerichisbriefes mit einer Urteilsausfertigung, für die Abfertigung 
eines „Dingnusses“ (Beschwerde an die höhere Instanz (Art. 27)***). 
Die slov. U. variieren untereinander in erheblichem Maße. Auch die 
Bestimmung des Art. 27 BRB., daß die Taxen gemäßigt werden sollen, 
wenn es sich bloß um eine geringfügige Sache handelt, kam in 
einigen Übersekungen gar nicht zum Ausdruck. 

Ober den Gang der Prozesse schreibt das BRB. nichts vor. Wohl 
wird das Verbot aufgestellt, bewaffnet zu erscheinen, und das Gebot, 
sich anständig zu benehmen und jeden Anlaß zu Prügeleien und 
dergl. zu vermeiden (Art. 3)***). Eine besondere Vorschrift über die 
Vertretung beim Prozesse ist allerdings darin zu erblicken, es dürfe 
sich keine Streitpartei einen „prokurator oder Redner“ selbst auf- 
nehmen, sondern sie könne ihn, wenn ein solcher erwünscht ist, beim 


einer gerichtlichen en, wurde in einigen Weinberggebieten auch 
„ genannt rimm, Deutsches Wörterbuch Il, Leipzig 
860 ; 


128) Mell, Weinbergrecht, S. 118. 
139) Mell, Weinbergrecht, S. 115 f. 
180) A. a. O. 

1851) Mell, Weinbergrecht, S. 131. 
183) Mell, Weinbergrecht, S. 115 f. 


352 


Ring, d. h. von der Beisikertafel begehren, und diese stellt ihn ihr 
bei (Art.30}**). Diese Vorschrift dürfte jedoch nur für die Bergtaidings- 
prozesse angewendei worden sein, da beim Quatember- und Un- 
parteiischen Rechte die Zulassung des Beistandsherrn aus Landstraß 
namens Dittrich Rab um 1639 urkundlich erwiesen ist. 

Weitere Vorschriften, wer als Partei aufireten kann, in welcher 
Reihenfolge sie während der Verhandlung zu sprechen haben, wie 
die Beweise aufzunehmen sind, wie die Beratung, wie die Urteils- 
Schöpfung zustande kommt — alles dies wird im BRB. nicht an- 
gegeben. Augenscheinlich war es jedermann nach mündlicher Über- 
lieferung bekannt. Nur in Ansehung der Hereinbringung der Taxen 
und der Geldbußen für den Bergherrn oder Bergmeister wird der 
Weg der indirekten Exekution durch Verkreuzigung des Weingariens 
festgesetzt (Art. 19; siehe oben § 13). 


82%4. Höhere Instanzen. 


Daß das BRB. eine zweite und dritte Instanz über den BT. vor- 
gesehen hat, wurde bereits oben erwähnt (8 9). Allein Verfahrens- 
vorschriften für diese Instanzen finden sich in den Bergartikeln nicht 
vor. Die zweite Instanz, der Kellermeister, erhielt allerdings Wei- 
sungen organisatorischen Inhalts, er habe in einem Richterkollegium 
zu iudizieren, das mit „landleuten und burgern, so perkrecht haben 
oder dienen“, zu besetzen sei (Art. 6). Die Kausalgerichtsbarkeit 
ist dadurch strenge betont, doch nicht angegeben worden, wer, wann 
und wie die Besekung anzuordnen hat. Wir müssen annehmen, daß 
dies alles gewohnheitsrechtlich allgemein bekannt war. 

Etwas mehr erfahren wir über die Fälle, in denen die zweite 
Instanz angerufen werden darf. Der erste Fall ist die Verzögerung 
bei der Erledigung eines rechtlichen Anliegens, an der der Bergherr 
schuld trägt. Der Beteiligte konnte Abhilfe suchen nach der Ur- 
schrift des BRB. beim Kellermeister (Art. 5)***), nach einigen Über- 
setzungen beim Landeshauptmann. (Auf den Grund dieser Divergenz 
kommen wir später noch zurück.) Ein zweiter Fall des Beschwerde- 
rechtes war gegeben, wenn die eine oder die andere Streitpartei mit 
dem Urteile oder Bescheide der Richter auf dem BT. nicht zufrieden 
war: Sie mußte sich vor dem Bergherrn oder seinem Bergmeister 
beschweren und das Urteil (haubturtl) von dem ersten und lekten 
Richter „gleich wol dingen für den landsfürsten kellermeister“ 
(Art. 28). Es soll hier sofort festgestellt werden, daß das Richter- 
kollegium nach den Vorschriften des BRB. nicht berechtigt erscheint, 
eine solche Beschwerde a limine abzuweisen. 

Von dieser zweiten Instanz sprechen außer dem Original und 


188) Mell, Weinbergrecht, S. 135. 
338) Mell, Weinbergrecht, S. 112. 
188) Mell, Weinbergrecht, S. 112. 
188) Mell, Weinbergrecht, S. 133 f. 


der Beradt. BO. noch die Rezl-, Layb.-, Stud.-Bibl.- und Ain. U. , 
die übrigen schweigen überhaupt von der Möglichkeit der Beschwerde 
an den Kellermeister gänzlich. 

Von der dritten Instanz, die über eine Beschwerde über das 
Urteil des Kellermeisters zu entscheiden hatte, wird außer im Original 
BRB. (Art. 28)***) und der Beradt. BO. (Art. 26)**) gleichfalls nur mehr 
in den Rezl-, Layb.-, Stud.-Bibl.-**) und Ain.-U. gesprochen. Die 
Rechtsprechung in dritter Instanz kommt dem Landeshauptmann selbst 
ohne weiteres, dem Landesverweser und Vizedom aber bloß dann 
zu, wenn ihnen dies von der königl. Majestät übertragen wurde. 
Einen besonderen Standpunkt nimmt die Mus.-U. ein. Sie laßt die 
Beschwerde gegen die Urteile der BT. zu, doch geht der Rechtszug 
nicht an den Kellermeister, sondern sofort an den Landeshauptmann. 

Betreffend die Zusammensegfung der dritten Instanz weist nur 
die Beradt. BO. einen besonderen Beisab auf, nämlich, wer sich 
gegen das Urteil des Kellermeisters beschwert, „der mag alsdann 
daz für den Herrn landshauptmann landsverwessern wund Vizedomb 
dingen, die als dan solche appellation vnd in bey sein des er herrn 
verordneten oder anderer herrn landleuth zu erledigen haben“ . 


825. Die Entwicklung in der Praxis. 


Die un vollkommene Darstellung der Verfahrensgrundsäße vor 
dem BI., insbesondere aber auch noch die Auslassung der ohnehin 
durftigen Vorschriften des Original-BRB. in den slov. U., beweisen 
zur Genüge, daß die Art und Weise des Prozeßbetriebes geradezu 
zu einer Domäne des Gewohnheitsrechtes geworden ist, wobei aller- 
dings einzelne Bestimmungen in den verschiedenen Weinberggebieten 
durchaus nicht gleichen Inhaltes zu sein brauchten. Ein wenig mehr 
Klarheit bringen die Gerichtsprotokolle, allerdings nur für die ersie 
Instanz. Für die zweitinstanzliche ludikatur sind uns bisher noch 
keine urkundlichen Quellen bekannt. In den nachstehenden Er- 
orterungen wollen wir die notwendigsten ergänzenden Bestimmungen 
kurz und ohne Einzelheiten anführen. 

a) Die Fälle, in denen der Bergherr die Bergrichter zu einer 
außerordentlichen Tagung einberufen hat, wurden sehr selten und 
ohne Anführung des Einberufungsgrundes angegeben. Es scheint, 


187) Beradt. BO. Art. 26, unten Anhan a Rezl-U. Art. 28, ed. 


Oblak, a. a. O. S. 186, ed. Koblar, a. a. S. 153, Stud.-B.-U. Art. 27, 
ed. Oblak, a. a. O. S. 304 
138) A. a. O. 
180) A. a. O. 
140) A. a. O. 


141) Art. 26, unten Anhang I. „Landileuih“ waren Mitglieder der Land- 
stände, die Verordneten Mitglieder der Verordnetenstelle. S. Rech- 
bach, a. a. O. S. 59 f., 79 f., 114. „Die Verordnetenstelle war auch berufen, 
in Sachen der Steuern, Tab- und Mauthgebühren sowie Kontributionen ia 
erster Instanz zu entscheiden.“ 


554 


daß diese Art des Vorgehens im praktischen Leben weder bei der 
Bergbehörde, noch bei den Volksrichtern beliebt war. Die Beisitzer 
sind wohl nicht gerne dem Rufe in das Herrschaftsschloß gefolgt, 
weil sie im Weingarten saßen, am liebsten vor dem versammelten 
Volke iudizierten, zumal hier die Garantien für eine unbeeinflußte 
Rechtsprechung gegeben waren, während sie dort aber zum min- 
desten zweifelhaft war. Auch über Vorladung und andere vorbe- 
reitende Schritte für die Bergrechtsklagen ist in den Protokollen 
kaum eine Erwähnung zu finden. Erst für die erste Hälfte des 
18. Jahrh. haben wir urkundlichen Beweis dafür, daß die Verwalter 
in Ainödt Klagen, die auf das BT. kommen sollten, in ein Verzeichnis 
aufgenommen haben, was wohl beweist, daß die Parteien — ob 
fakultativ, ob obligatorisch wissen wir nicht — ihre Streitfälle im 
voraus dem Bergherrn vorgebracht haben. Beschwerden gegen Ver- 
fügungen des Bergherrn betreffs der Strafen und Gebühren gab es 
keine; wohl aber sind einige gegen den Ausspruch, daß der Wein- 
garten verfallen sei, verzeichnet worden. 

b) Aus den Protokollen ersehen wir, daß vor der Klageeinleitung 
in Zivilrechtssachen eine Aufforderung zur gütigen Beilegung des 
Streites notwendig war; dies war das Rechtsinstitut „des Besuchens“, 
das von Person zu Person erfolgen mußte. Dafür wenigstens, dab 
diese außergerichtliche Mahnung vor der Prozeßeinleitung durch 
berggerichtsbehördliche Organe ausgeführt werden konnte, haben 
wir keine urkundlichen Belege gefunden. Nun hat eine solche Be- 
suchung, die die Gerichtsordnungen für Steiermark aus den Jahren 
1573 und 1618 ausdrücklich vorgeschrieben haben), in Unterkrain 
schon im Jahre 1590 existiert. In einem Protokolle vom 16. September 
1590 aus Strascha bei St. Margareten heißt es wörtlich, da „wider 
den landsbrauch geklagt vund der Kläger nit zu vor ersucht, ist der 
Beklagte derzeit der Klag und von der Antwort müßig erkanndt 
worden, ferner soll sy es it suchen, wie es recht ist“. Ein anderes 
Mal wurde angenommen, die ohne Besuchen angebrachte Klage 
werde nur als eine Ankündigung oder Meldung einer erst in Zukunft 
richtig anzubringenden Klagserhebung angesehen. Sogar im 18. Jahrh. 
ist dieses Institut gewiß noch gehandhabt worden. Anderseits sind 
uns aber unzählige Fälle aus den Gerichtsprotokollen bekannt, in 
denen auch ohne vorheriges Besuchen Klagen erst am BT. selbst 
angebracht worden sind, so insbesondere wegen strafbarer Hand- 
lungen und der dadurch bedingten Entschädigungsansprüche. 

c) Eine Anwendung der fiskalischen Bestimmungen über die 
Klagetaxen ist in den Gerichtsprotokollen nirgends verzeichnet 


142) Vgl. Ainer Ersamen Landschafft des Löblichen Fürstenihumbs Steyr 
new verfaßte Reformation des Landts me Hofrechts daselbst im MDLXXIll 
Jar aufigericht. Augsburg 1575. Art. 20, f. 10. — Des Loblichen Fürsten- 
thumbs Steyer Gerichtsordnung Wie ear der Landtshauptmanschafft und 
dem Schrannengericht Procedieret werden solle. Reformiert im Jahre 1618, 
Grab 1620, Art. 23, f. 17 v., 18 r. Vgl. darüber Schenk, Übersicht der 
österreichischen Gesetzgebung über Civilprozeßrecht bis zum Schlusse des 
XVI. Jahrhunderts, Wien 1864, S. 85. 


555 


worden. Vermutlich haben die Bergherren die Anhängigmachung 
der Prozesse nicht erschweren wollen, weil dies ja nur eine Min- 
derung ihrer Einkünfte aus den Geldstrafen zur Folge gehabt hätte, 
während der Abgang der Klagetaxen wirklich nicht schwer ins Ge- 
wicht fiel. Auch bei Appellationsanmeldungen wurden keine Taxen 
angemerkt; vielleicht sind sie in der Kanzlei des Guisherrn unmiitel- 
bar eingehoben worden. 

d) Die Entscheidungen sind zum weitaus größten Teile einhellig 
geschöpft worden; doch finden sich auch ab und zu Vermerke, daß 
eine Entscheidung nur mit Stimmenmehrheit erfolgte. Als Kläger 
traten nicht nur Weingariner, sondern auch der Bergherr, der Hof- 
richter, der Bergmeister, die Beisiker selbst, die ganze „Nachbar- 
schaft“, die „gesamte Beisikeriafel“ auf, desgleichen konnten aber 
alle diese auch Beklagte sein. Auch für den Bergherrn galt keine 
diesfällige Ausnahme, allerdings nur bis etwa Mitte des 17. Jehrh. 
Inhabilitat der Richter war nicht bekannt. 

Als Beweismittel wurden hauptsächlich Zeugenvernehmung und 
Lokalaugenschein in Anwendung gebracht. Es herrschte sozusagen 
absolute Mündlichkeit des Verfahrens. Von irgendwelchen Schrift- 
saben der Parteien war keine Rede. Die Urteile wurden nach der 
Beweisdurchführung beschlossen und „stehenderweise“ verkündet, 
es wäre denn, daß erst eine Beweisdurchführung außerhalb des Ge- 
richtes durch den Bergmeister oder die Schäkleute angeordnet wer- 
den mußte. Die Exekutionen geschahen durch Verkreuzigung oder 
Verpetschierung des Weingartens bzw. Weingartenkellers unter An- 
drohung weiterer Strafe für den Fall, daß der Anspruch nicht be- 
friedigt würde. 

e) Das Verfahren in Beschwerdesachen ging seine eigenen 
Wege, die irh BRB. nicht vorgesehen waren. Zunächst bestand wohl 
in allen Gebieten die Rechtsübung, daß es dem Ermessen des i u d e x 
a quo anheimgestellt war, den Beschwerdeweg an den iudex a d 
quem zuzulassen oder aber zu versagen. Allerdings sind auch 
einige Fälle der Beschwerde gegen die Versagung des Beschwerde- 
weges verzeichnet. Weiter ging aber der Beschwerdezug nicht nur 
an den Kellermeister, sondern ziemlich häufig an ein Unparteiisch- 
Gericht, ja sogar von dem BT. an das Quatemberrecht, wie auch um- 
gekehrt. Das Amt des Kellermeisters dürfte zu Anfang des 18. Jahrh. 
aufgelassen worden sein‘). im 18. Jahrh. finden wir, daß die Be- 
schwerden direkt an den Landeshauptmann erhoben werden, was 
den obangeführten Vorschriften der Mus.-U. entspricht. Allem An- 
scheine nach war der Kellermeister nicht genügend beschäftigt, sein 
Gericht aber zu kostspielig, weshalb man seine Entscheidungsbefug- 
nis sofort auf den vorher als dritte und lekte Instanz vorgesehenen 


143) Ferd. von Rechbach, op. cit., S. 56, 57, berichtet, daß die Be- 
schwerden an das Kellergericht von Bergherren "unmittelbar ebracht 
wurden, daß er sich, anderseits, wenn er etwas verschuldeie, vor dem ge- 
nannten Gerichte verantworten mußte —; dies galt also noch 1688. Siche 
auch Nicolaus de Beckmann, op. cit, S. 254, unter „Keller-Gericht”. 


856 


Landeshaupimann überiragen hat. Übrigens haben wir in den viele 
Tausende von Fällen verzeichnenden Protokollen eine förmliche Be- 
schwerde an die dritte Instanz nirgends erwähnt gefunden. 


Anhang L 


Beradihschlagte Pergrechts Ordnung In Crain vund der Windischen 
Marckh, Ysterreich vnd Kharst eic.) 


1595. 


1. Wan man die Perkhrechtthaiding halten soll. 


Anfenglichen sollen alle Pergkhthaiding im Lanndt Crain, vund 
der windischen Markh Ysterreich vund Kharst Erstens zwischen 
St. Gregorio vund St. Oeorgitag jahrlich bessessen vund gehalten, 
die annder aber Zum Herbst, wie es in Jedem Perkhg gebräuchig, an 
dem ort, wo es von olters herkomben ist, vnd ohne sondrer Ursache 
oder ehehafte noth an khein ander Ort nit gewendet werden, darzu 
soll ein jeder Perckchherr solich recht besetzen, mit seinen Perkch- 
holden, so Er aber deren nit souill hat, mag Er auß anderer Pergn 
Perkhholden nemben, vund die Perkh Thaiding besezen darzu soll 
ein Jeder Perckch holde zeitlich, vund aufs langest umb 9. Uhr vor 
Mitag persöhnlich Erscheinen, oder so daß genuegsambe Vrsachen 
zu khomben verhindert, einen anderen Eirbaren man an seiner Statt 
schicken vund wan sy alßdann zu den Rechten sizen sollen die Par- 
theyen fleißig hören vnd mit Einander, sich auch still vund vnuer- 
weißlich halten. 


2. Vie man umb Erb Klagen vnd recht ergehen 
lassen soll. 


Item es soll ein Jeder Perkhherr, denen so umb Erb zu Clagen 
haben (die zwischen den angestellten Perkgthaiding angefallen 
währen) alllerwegen im Jahr recht ergehen lassen, im schrüft oder 
Mündlich Fürpitte thuen vnd in daz zu einer Jedenzeit nit verziehen, 
sondern fürderlich recht Ergehen lassen, da diese recht nit Verzug 
leiden mig. 


J. Wie sich die Pergholden am Pergkhthaiding 
halten sollen vnd von Poen dern so sich unge- 
buerlich halten. 

Item an den angestelten Rechtstag, so lang man die Perkch- 


thaiding nit ausgesessen und alles abgehandelt hat, so sollen die 
Perkhholden sich ganzlichen enthalten und kheinen Likauf wein oder 


1) Wörtliche Abschrift aus dem Manuskripte: „Mein Hanngen Laybasser 
Formular Buech — Von sybendten Septembris des 1641 Jahrs“ — Seite 
93—99 — aus dem Archive des Laibacher Domkapitels. 


857 


r 


most aufiragen lassen, Sonndern daz biß daz gar verricht anstöllen, 
und welcher da khombt Zu dem Pergkhtaiding, solle jer jeglicher 
sein währ, von ihme thun, wo aber einer, ein währ hat, so solle er 
dis nicht müßbrauchen, auch sich mit worten gebürlich halten noch 
deshalb ainicherley Unzuecht treiben, vund nich Ursach geben, zu 
Auffrur, wo aber einer darwider thäth vnd sich mit worden vund in 
annder weg vngebürlich hielt, der soll gestrafft werden: vmb 72 D., 
zukht aber einer ain währ, soll die straff sein ein?) pfening: Darfur 
ain Ducaten in Goldt zu verstehen, vund so einer ain schlegt, solle 
die Straff sein Zwo Markh pfening, daz ist Zwoo Ducaten in Goldt, 
und nichts weniger, dem beleidigten sein schaden vnd Forderung 
vorbehalten sein. 


4. Wo man Erster Instanz handlen soll. 


Item es soll ein Jeglicher in der ersten Instanz vor seinem orden- 
lichen Gericht, wie von alter her khumben, alle sachen so das Pergkh- 
recht betrifft, fürgenomben, vnd gehanndelt werden. 


5. Wann ainem der Perkherr Recht verzeücht. 


Wo aber der Pergkherr einem das recht verzüg, oder der Jemand 
auf sein ersuchen khein gebürliches recht wolt her gehen lassen, daß 
wissentlichen wurde, als dann da derselb für des Landesfürsten 
Khellermaister bringen, vnd anzaigen, der soll sich des erkhundigen 
was sich befindt, vnd weißlich gemacht wirt als dann mag der Kheller- 
maister die billigkheit darinnen hanndlen ohne des solle der Kheller- 
maister die Partheyen nit für sich fordern. 


6 Wie der Khellermaister Recht Besetzen vnd 
handeln soll. 

Es soll auch der Khellermaister, so ein Sach für Ihme khombt, 
daß er mit Erkhandinus des Rechtes handeln soll, solich recht mit 
Landileuten vnd bürgern so bergrecht haben, oder dienen, besetzen 
vnd nach Lauth des Pergsbuechs darinnen handln. 


7. Was man erstlich an den Pergkhthaidung 
Anzaigen soll. 

An den Perkgthaiding soll man anzaigen alle Gerechtigkeit vnd 
freyheit des Perkhrechts, Eingrüff, einlauff, Frauel vnnd gewalt- 
geschehen, die Frauel vnd Pueß melden, vnd welcher Frauel oder 
gewalt verschweigt vnd nit meldet der ist dem Pergherrn 72 Pfenig 
verfallen. 


s) Ausgelassen: Mark. 


508 


8 Vonden weegen zun Weingärten. 


Alle unrecht weg zu den Weingärten, vnd von den Weingärten 
die von alter nit gewöhnlich herkhomben seindt, die sollen nach 
St. Matthiaßtag alle verpoten sein, welcher sich aber solichen ver- 
botnen weeg nach der gemeleten Zeit gebraucht, soll dem Perkh- 
herrn 72. Pf. verfallen sein. 


9 Von weeg Machen. 


Item so noth an den weegen zu den Weingarten Zu machen, vund 
zu bessern sein will, soll den Perkhgenossen darzue verkhündt vnd 
bey der Pues 4. Pf. denselben weeg machen vnd bessern, wellicher 
aber nit khombt, vnd jemandt ohn redliche Vrsach schicket, dauon 
soll die Pueß von jeglichen genomben versäumbten Tag wie obsichet 
genomben werden. 


10. Von Zeiner. 


Item man soll auch gemain Zäun vnd frieden bey den weingärten 
an fürhaubten, vnd allenthalben, wo es noth ist, zu stund nach 
St. Mathiastag machen, verzäunen vnd befrieden, welcher da schuldig 
war zu thun und das verbrach, der soll dem Perkherrn zu Pueß ver- 
fallen sein 72 Pf. vnd den anderen so schaden dardurch besehehen 
ist den schaden ablegen. 


11. Wie man vmb Erb Klagen soll. 

Item Es soll ein ieder Erb, der vmb Erblich Gerechtigkheit zu 
sprechen hat, das melden die Perkhthaiding vnd verlegen mit einem 
Pfening that er das nit so ist man Ime khein recht darüber zu 
sprechen, oder zu bessiezen schuld, außgenomben, Er were dan 
außguetten gegründten Vrsachen, aus dem landt geweßen. 


12. Wellicher ohn Vorwissen auk dem Land zeuchti. 

litem wellicher aber ohne Vorwissen seiner Grundiherren oder 
obrigkheit, auch ander redlich Vrsach aug den landt zeucht vnd 
seines Vaters sein Guetel nicht hilft pauen, der soll alßdan desselben 
Erbtheil verzigen sein, doch mag Ime gnadt gethan werden. 


13. Von denen so most ohne Erlaubnis aus dem 
Perg führen. 

Hem wellicher wein, most, oder Traidt vill oder wenig übers ver- 
bot, auß denn perkhrecht, ohne Vrlaub eins Perg Suppan fürt, so ist 
als dan der furman 72 Pf. zu Pueß verfallen, vnd der anndere den 
wein most, oder traidt dem Perkhherrn verfallen, wo aber der Perk- 
herr, den wein most, oder thraidt auf seinen griindten nicht betreten 
mag alb dan mag Er sein volligkheith aug den weingarten oder 


859 


Grundten haben vnd bekhenen doh das Verbot in 14 tagen darnach 
gerechtfertigt werde. 


14. Von denen so zu Pergthaing nicht khommen. 


Item es soll ein ieder Perkhold, auf den Tag wellichen man daß 
Perkhrecht oder Pergkhthaidung berueft vnd besitzt Persohnlichen 
sein, allein so denn genuegsambe Vrsach zu khomen verhindern, 
einen anderen Erbaren man an seiner statt darzue senden, da schen 
vnd hören ob der Perkhherrn oder Jemandt ander zu Ihme waß zu 
Clagen, oder zu melden hat, denen man nicht schuldig ein Jeden 
besonnder für zu puetten, wer aber darzue nicht khombt oder wie ge- 
meldt nicht sendet, der ist völlig dem Perkhherrn 72 Pf. schuldig. 


15. Wie man Pergkrecht geben soll. 


Item wer von einem weingarten Most dient der soll sein Herrn 
den vorlaß geben, vund soll ihn nicht auß den Tröstern gewehren, 
vnd soll den most nicht in ein stünkendes Assach güeßen, noch dan 
mit einerley zuesaz felschen, vnd soll den Most von Stunden aindt- 
worten, also sueßen, so Er also schierist mag. Er soll auch seinen 
Herrn gewehren auß dem weingarten, davon er ihme dient, wiert es 
Ime aber in dem weingarten nicht, so mueß er anderst wo khauffen 
an Enden, da also gueter wein wahst als in seinem weingarten, vnd 
weill in disem landt an etlichen orthen gebreuchig, das der Perkholdt 
seinem Perkhherrn des Perkhrechts anhaimbs, so weit er in einen 
Tag bey Sonnen schein fahren mag zu führen schuldig ist an den 
mehreren orthen aber ist es gebreuchig, demnach werde es noch- 
mallen also, wie es von alter herkhomen vnd an iedem orth ge- 
breuchig gewest, gelassen, vund soll darüber niemand gedrungen, 
oder beschwört zu werden. 


16. Wie ein Pergholdt des Pergrecht halben 

sein weingarten mag verwirkhen. 

Wo aber ein Pergholdt sein Perkherrn in dreyen Jahren nach- 
einander das Perkhrecht wie obgemelt ist nicht dient, so mag der 
Perkhherr, mit erkhanndinuß der Perkhgenossen sich des weingariens 
holz oder Akcher, am vierten Jahren woll vunterstehen, daselbst auch 
einziehen vnd leßen. 


17. Wie man Pfendten soll. 


Item es ist, vnd soll ein Jeder Pergherr oder Perkhmaister vmb 
sein verpoth frevel vnd wandl, Pfenndien auf den Pergen?), vmb sein 


8) Hier hat der Abschreiber einige Worte aus dem Original verseheni- 
lich ausgelassen. Im BRB. aus dem Jahre 1543 steht es „nach dem perk- 
taiding, mag er aber phandnuß auf den pergen” etc. Mell, Weinberg. 
recht, Art. 19, S. 124. 


560 


naw vo hf 


vorgemelt forderung vnd Pueß nicht gehaben, so soll er sein Creuz 
für die stig] oder eingang des weingartten, schlagen vund Im ver- 
bitten bey 72 Pf. wo Er aber jemandt seinetwegen in den wein- 
garten vnd darauß gehet, ist er alb oft schuldig vnd fällig 72 Pf: ist 
dan das verbrechen so groß, so mag dem Pueßfählichen darzue ein 
Kheller oder weingartien verpetschiert worden, bricht er das ab so 
ist er fällig 2 Margkh so das mehr mallen gesicht, vund wan daß 
den Perkh Pergkherrn verdrüßt, so soll er Ime einen richter vund 
seine Pergenossen darüber niderseten vnd in darauf fürfordern, vnd 
solche Pueß dan raiten vnd sumiren lassen, vnd sich dan des Erbs 
vnierwinden, vnnzi so lang Er darüber bezahlt werde, vnd solch recht 
suechen, mag der herr oder sein Pergmaister an seiner statt ihuen. 


18. Die so im Perg seßhaft sein betreffend: 


Item alle die so mit aignem Rukhen in Pergrechten wohnen, vnd 
gessessen sein, sollen darauß ziehen sich aufhiieben vnd güetier 
seben, vnd ohn sonderliche Vrsachen, alters vnd schwachheit halber, 
auch ohne zugeben des Pergherren darinen nicht gelassen werden, 
ausgenomen es were den das Pergrechf zu zins güelttern‘) widerum- 
ben ein weingartien gemacht wurde, alß dan mag der Pergh: darauff 
ein zimbliches Perkhrecht anschlagen, 


19. Wie Vermächt, Stift, khauff beschehen sollen. 


Item alle Vermächt, Stift, Kaiiff oder saz die auf Pergrechten 
beschehen, die sollen mit des Perkherrn oder: seines verwaliers 
handt eruolgen, auf geben, verliehen vund darüber bestannden wer- 
den, vnd von dem Pergherrn ein Vrkhundt nemen, sonnsten hat es 
khein Craft wellicher aber das Verpräch, soll dem Perkherrn, vmb 
ein Markh Pfenning, oder wie gehört einen Ducaten in golf gepücßt 
werden, vund solch veranderung khein Crafft haben vnd von wegen 
mehrer richtigkheit, so auch ein ieder Pergkh genoß wellicher khein 
Vrkhundt, aber seinen weingartien hat, da selb nochmallen, von dem 
Pergherrn Inner eines Jahrs, nach Publizierung dises Pergbüchleins, 
ersuchen vnd begehrn, die sollen Ihnen, die zugeben kheinesweegs 
nicht waigern, es wer den das dieselbe Pergrechisgiietier von andren 
anspriichig wären wenglich an seinen rechten vnuorgreiflich. 


20. Von Todts fallen. 


Hem wan ein Pergholdt, mit Todt abgehet, vund kheine ehelichen 
leibs Erben oder andre Erben, läßt, so ist daselbs dem Pergherrn 
mit recht ledig worden, doh was redlicher schulden darauff sein die 
sollen auß allen seinen guett bezalt werden, souer es erraichen mag. 


) Die Worte aus dem BRB. fehlen hier: „worden, wo aber aus dem- 
selben oder anderen“. Mell, Weinbergrecht, Art. 20, S. 127. 


861 


21. Vonendziechung der Gründe. 


Item wellicher Perggenoß sein herrn, sein Perkhrecht oder 
gründt endtzeucht, vnd einem anderen der im selbst aignet, zue sagt 
vnd gibt, vnd so das außfündig wiert so ist daselb Er seinem Perg- 
herrn ledig vnd verfallen. 


22. Von Abschneidung vnd Hauen der weingärtien. 


Item wellicher einen weingartten ein Jahr vngeschnitten läßt, das 
ist dem Pergherrn ein ander Jahr, mit recht heimbgefallen, vund 
wellicher aber ein Jahr in einem weingartien, die Erste haue vor 
Pfingsten nit hatt, der ist dem Pergherrn verfallen ein March-Pfen- 
nig, das andere zwo Marckh Pfenig vnd das dritte Jahr der wein- 
gartien gar verfallen, 


23. Von Fürfordern. 


Item wan der Pergherr oder Pergmaister einen fiirfordert vund 
zum dritten mall nit khombt ein fall drey Margkh Pfening. 


24. Von denen so die weingartten nit wesenlich 
halten. 


item wellicher Perkholdt sein weingartten, mit grüeben vnd allen 
andern nottürftigen, weingartien gebey, nicht wesenlich wie darzue 
gehört halt, soll der Pergherr solch sein versambnuß, den Perk- 
holden anzaigen, vnd sye dariiber erkhennen lassen, vmb ob solch 
sein versambnus zu nachil des grundts Im Pergrecht gelegen khombt 
so mag Ime der Perkherr gebietten den weingarten notturfilich zu 
pauen oder in ainem halben Jahr zu uerkhauffen, bey seinem faal, 
vier markh Pfening wo aber der Perkholdt dem auß trobigkheit oder 
aignen Muetwillen nicht nachkhäm, als dan mag der Pergherr 
darumen erkhennen, vnd schäzen lassen, dan in gleichen werth 
zuuerkhauffen. 


25. Waß man vmb fiirpott vnd behebnug geben soll. 

Item wer von Pergherrn, oder den Khellermaister ein furpott 
begehrt, der soll darfür geben drey Khreizer vmb ain gerichtsbrieff, 
da nit haubt vril zuen begriffen 3 K vnd vmb*) ain behebnuß 30 Kr: 
doch wo die khlein soll auch gleichmeßiger sach dauon genomen 
werden. 


26. Von dingnus vnd Appellationen. 


Item so sich ainer beschwort eines vriels vor dem Pergherrn 
oder seinem Pergmaistern, der mag von dem Ersten oder lezien 


s) Im Original (1593) „ain Dingnuß a. phenig”“ (Mell, Weinberg- 
recht, Art. 27, S. 133), was hier offensichtlich ohne Absicht ausgelassen 
wurde, weil schon der nächste Artikel von „Dingnis“ spricht. Auch wurde 
der Fehler im letzten Sage des letzten Artikels gutgemach. 


562 


rechtsprecher, das haubt vril dingen für des landts fürsten Kheller- 
maister, wellicher sich aber des Khellermaisters vril beschwört, der 
mag al dan daz, für den herrn landis haubtman landtsverwefern, 
vnd Vizdomb dingen die als dan solche appellation vnd in bey sein 
des der herrn verordneten, oder anderer herrn landtleuth zuerledigen 
haben. 


27. Vom Faal vnd wandl. 

Item die wandel vnd faall in Pergthaiding, die einem Pergherrn 
oder Pergmaister verfallen sein, bey der Pueß hernach geschriben, 
vmb im jeglichen Articel begrüeffen, auch die Perggenossen, selbst 
gesagt vund zu recht gesprochen haben darumb daz sy ihr erb vund 
guett auch den leib desto sicherer haben mögen. 


28. Redener. 


Item es kheinem khlager noh Andtwortter, der in Pergrechts- 
rechten zu Clagen, oder zu andtwortten hat gestatt werden, daz er 
sich einen redner Iren laß sundern so Er eines mangelt mag er im 
ring aines begehren der solle Ime alls dan verschafft werden. 


29. Vieschäden. 


Item wellicher mit Vieh einen schaden thuet in einem Weingarten 
oder Pergkhrecht, der ist den schaden schuldig wider zukhern vund 
dem Pergherrn von Jedem haubt 32 pfening es sey im Sommer oder 
Winder. | 


30. Die sich nit wöllen Pfendten lassen. 


Item ob sich einer nit wolf pfendien lassen, vund Ime daß frauen- 
lich wehren, oder wehrt der ist fallig das: Markh Pfenig 1.— 


31. Obstpaum. 


Item wellicher einem ein Pelzer oder obsipaum nimbt abhakht 
dert, der ıst fällig 3 markh Pfennig vund den Pelzer wider zu 
erstatten, 


32. Hey: Holtz. 


Item wellicher einem sein Hey: Holz, Im Pergrecht abschlecht von 
iedem Stamb 72 Pf. vund Ime so uill zui wider zu uerstatten oder zu 
herren nach erkhennditnuß der Perggenossen, 


33. Stekhen. 


Hem wan einer ein stekhen stillt, auch ein markh Pfening vnd 
dem so die siekhen geweßen zwiffach zuerstatten vnd zubezallen, 


565 


C 7 ˙ EEE N 


34. Kheller Prechen. 


Item wellicher einem einbricht in die Preß oder in Kheller vnd 
mit frauel auf Ihn schlecht, der soll am leib vnd guett gestrafft werden 


35. Uberlauffen. 


item schlecht oder überlaüfft einer den andern, vnd zeucht im 
schaden zu, Im Pergrecht, auch bey 5 March Pfenig vnd sein schaden 
wider zu kheren. 


36. Wild gaill. 


Item wellicher dem andern sein erdtrich auffhobt, vund zu wildt- 
gaill in seinem weingarten wegttregt oder füredt der ist fällig 72 df: 
vnd dem sein erdtrich widerzubezallen. 


37. Pidt markht. 


Item wellicher Pidtmarkht außhaut, oder den gemainen weeg zu 
nachet haut, der verwürkht die Pues 5 Markh Pfenig, vnd was an 
dem weeg gebräch denselben schuldig wider zumachen. 


138.1 Obst und weinbeer. 


ltem wer einem seine weinpres, oder allerley Obst wie es genent 
ist, stilt, der ist fällig zu ersten mall fünff markh Pfenig, zum andern 
ain ohr, zum dritten nach erkhandnuß der Pergkhgenossen, zu 
straffen, vund dem andern sein schaden abzulegen. 


39.1 Frist vmb verkhauffte griindt. 


Item wan einer ein weingartien verkaufft, vnd nimbi vmb die 
schuldt Pürgen, Er helt in die früßt nicht vnd gehet: hin, vnd vnier- 
windet sich, ohn sein, vund des Pergmaisters willen, des weingart- 
tens mit frauel, so soll der Perkhmaister, dem der weingartten ver- 
khaufft hat, wider einandtwortten vnd ob er Ichi darzue gearbeit hat 
das soll Er verlohren haben, vnd darnach dem Pergmaister fällig 
5 March Pfenig, vmb das er sich des gerichts unter wunden hat. 


40. Absegnen. 


Item wer mit absegnen, weingartten gehäger, oder bei holz ver- 
5 der ist völlig 10 M: Pf: vund anndern sein schaden wider 
ukhern, 


41. Wer Weinstegkh abhackt. 


Item wer mit frauel einen wein stagkh abschlecht, oder abhagkht, 
der ist völlig 3 Mr: Pf vund dem andern sein weinstakh wider Zukhern. 


564 


*r 
L 


* 


42. Angestorbene Erb Zu uerleichen. 


ltem ein Pergherr soll einem Jedem Erben auf sein gerechtigkheit 
so Ime anerstorben ist, Leyhen, was er ime von recht darann Zu- 
uerleichen hat, vund wan er Erb 3. stundt in beiwessen zweyer Perg- 
genossen an Ihne fordert, daz wissentlich ist, vund will Ihme darüber 
niht leyhen, so mag dann der Erb des landt fürsten Kheller maister 
darumb besuechen, der soll dem Perkherrn schreiben, vund beullchen, 
daz er den Perkhschaden, auf sein Gerechtigheit, in 14 tagen ver- 
gleiche wo aber der Pergherr daselb nicht schuldig zu sein vermaint, 
so soll er doch in den 14 tagen die Pergkhgenossen nieder setzen 
vund erkihennen lassen. Thäte Er das nicht so soll als dann des 
lanndisfürsten Khellermaister, Ime solch Erb auf sein gerechtigkheit 
verleichen vund Ime darzue zu recht schirmen, vund vergreiffen dem 
Pergherrn an sein Grundt Zins vnd Pergrecht, 


43. Poseß. 


Item welcher weingartien vund grundt in Pergrechi gelegen, Jar 
vnd tag vnuersprochen bey einem der Innef landts wonhaft ist, in 
nuz vnd gewehr gessessen ist, mag Er daz bezeugen als recht ist, 
vnd soll füran vnuerfochien bleiben außgenomen, vnuogtbare Khinder 
die nit Vormünder haben, oder Gerhaben, den soll es biß zu 16 
Jahrren zuersuchen beuorstehen. 


44. Holz zu nahendt bey den weingartten. 


Item so ainem, ein holz bey einem weingartien zu nahendt sichet, 
dardurch den weingartien schaden beschach, soll daselb durch die 
Perggenossen besichtigt werden, befindt es sich als dan, daz es Im 
zu nachendt stehet, oder zu nachtheill khumbi, so soll daselb ab- 
gestellt werden. 


45. Rain zuraumen. 


Item Gehäger vnd Rain zu raumen bey vund zwischen den wein- 
garten sollen baid anrainer mit einander außreuten vnd ob sy sich nit 
vergleichen so soll es nach erkhandinus der Perggenossen be- 
schechen, 


4. Des Perg supan oder Pergmeister gebür. 


hem in allen Puessen, fahlen vnd wandelen, wie vor angezeigt 
ist, soll einem ieden Pergsuppan oder Pergmaister, von Jeden fall 
oder Pueß so dem Pergherrn verfallen 12 Pf. vumb sein Mühe daz 
Er die dem Pergherrn einbringt, geben werden oder bleiben. 


47. Lechen zuempfangen. 


Item welcher ein weingartien oder ander griindt, in Pergrecht 
gelegen durch Erbschaft, Khauff, aug wexl, geschafft oder vermacht 


24 NF 5 365 


zu stende vnd in ein Monath von des Pergherrn, handen oder ainem 
andern, dem Ers beuilcht nit enpfieng, der ist dem herrn Pfahig 
4: Markh Pfening. 


48. Die Khauf anzubieten. 


Item so ein weingartien, oder ander Erb in Pergrechten faill ge- 
sezt wierdet, so soll der Pergherr, für all ander mit den Khauff, an- 
genath werden, doch daz der Pergherr solchen weingartien, in dem 
werth wie der vorkhäuffer, denselben einen ander geben meh, 
annemb, vund in dar wider nit beschwar, wo aber der Pergherr den 
nicht khauffen wolt, alß der nechst freundt, damit angenoth wo der 
selb auch nit khauffet, so soll der anrainer damit angenöth werden, 
vnd wo derselb auch nit khauffet al dan mag Er solchen wein- 
gartien oder Erb verkhauffen wem Er will, 


49. Vom Lesen. 


Item es wierdt auch mit dem Zeitlichen leßen großer miesbrauch 
gehalten, dardurch den Pauman Pergherrn vnd Zehendiherrn, 
schlechter most wierdet, daz all die weill man mag, die Weinper 
ohne nachil stehen lassen, daz Kheiner ohne erlaubnuß des Perg- 
herrn oder Pergmaisters nit leße, vnd ob es die notturfit erfordert, 
daz man geschworene Pauleit vnd Perggenossen zu besichtigen vnd 
zu erlauben daz lesen sezt, dardurch bessrer wein gemacht, vnd 
man desto Ehr verkhauffen mag. 


50. Markschillig. 


Vund nach dem in diser ordnung der Marchschilling etlich mall 
angezogen wierdet, vnd aber in disem landis Crain vnd der selben 
anrainundien herrschafften daselb nit gebreüchig so soll alg offt fur 
ein Marchschilling ein Ducaten in golt verstanden werden. 


Sondere gebreüch. 
Wen ainer ain weingartien verkhaufft, sol er dem diag are 


geben g En oy ae a ee e ee A wes a A A K 12 
der in khaufft . 8 „ 8 
der sich laßt ein schreiben oe ..... K3 
auch der sich last ausschreiben vnd einschreiben K 3 
72 Pf machen... . ... XK 8 
40 Pf machen e 10 


ain markh ist ein ducaten in golt 

Wan ein Perkholdt sein Perkrecht nit zalt mueß Ers daz andere 
Jahr topelt bezallen vnd für vnd für also zuraitten. 

Vmb ein dingnuß 60 Pfenig ist K 15 K. 


566 


Anhang Il. 

Actum Weinberg den 18ten May 18011). 
Bergdeutung. 
(Einleitung.) 
Gemeindurtheil. 


Der Bergmeister, Ausschuß und gesamte Bergholden haben sich 
zur Erhaltung guter Ordnung in dem Weingebirge folgende all- 
gemeine Anordnungen einverstanden, welche sonach von jedem 
Bergholden als ein unverbrüchliches, sich selbst gegebenes Gesek 
unter den nachgesezten Strafen beobachiet werden müsse. 

jress: Die alt gewöhnlichen Weingebirge Weege sollen jährlichens, 
und zwar, um die heil. Georgens, oder Si. Markus Zeit, für dieses 
Jahr aber in der Kreuzwoche im Herbst repariert, und hergestellt 
werden; hiezu ist jeder Berghold einen Arbeiter beizugeben schuldig, 
oder im Unterlassungsfalle 1 Quart Wein abzureichen. 

240: Jeder Berghold, der sich unterfängt einen anderen Berg- 
holden einen Rebenstock aus seinem Weingarten zu entwenden, ver- 
fallt nebst Schadenersatz für den Beschädigten 1 Quart Wein. 

3tio: Eben so, wenn ein Berghold dem andern Weintrauben, Obst 
oder sonstige Nuzfriichte bis auf den Werth von 5 fl oder darunter 
entwendet, verfällt nebst Schadenersa für den Beschadigten die 
Strafe von einem Landeimer Wein. 

4: Wenn jemand einen Reinstein heimlich, oder gewaltthätig 
herauswirfi, oder übersezt, verfällt nebst Ersaz aller Unkösten ein 
Landeimer Wein. 

Sto: Für jeden persöhnlich, oder realen Unfug, oder Gewalt ver- 
fällt der Beleidiger mit Vorbehalt aller Rechte für den Beleidigten 
den gesamten Bergholden die Strafe von ein Quart Wein. 

6°: Da in dem Weingebirge keine Waide zugestanden werden 
kann, sich aber vorzüglich die Inwohner das Waiden zum Nachteil 
anderer erlauben, so wird für jeden Beschädigungsfall dem Berg- 
meister für seinen Weeg, und die Abschäzung 1 Quart Wein, dem 
Beschädigten aber die wohl ausgemessene volle Entschädigung zu- 
erkannt; die Gaise aber sind so wie die Schweine in den Weingärten 
vor Jedermann schußfrey. 

7m0; Sind jene Bergholden, die an einem Fahrwege oder Ge- 
meinde Weingarten besigen, diesen längst bis Gregorn gehörig ein- 
zuzäumen schuldig, im Widrigen sie auf keine Entschädigung einen 
Anspruch zu machen haben. 

80: Nachdem die Geistlichkeit ihre Bergandachten und Messen 
gehörig und wie von jeher gewöhnlich verrichten, so sind auch aber 


1) Entnommen aus dem „Bergihaidungsprotocol bei der Herrschaft 
Klingenfels No 12“. Diese Herrschaft liegt in Unterkrain. In diesem Fo- 
lianten beginnen die Protokolle am 3. März 1777, schließen am 27. Mai 1806 
ab. Ganz ähnliche „Gemein Urteile“ wie das obige wurden am 12. Mai 1801 

in Slanzberg und am 13. Mai 1801 in Skurschowib gefaßt. 


567 


Bergholden im Gegentheile die ihr gebührenden Wutschen?) Most 
unweigerlich abzureichen verpflichtet. 

Hierüber übergeben die Bergholden dem Bergmeister und Aus- 
schußmänner die volle Executions Macht, und berechtigen sie mit 
diesen zum Besten des Bergs zu disponieren. 

.. . (Folgen noch 6 Klagsprotokolle, die erledigt worden sind.) 


3) „Wutschen”, slov. „buča“, ursprünglich pect Kürbis“, cucurbita 
pepo; dann Flaschenkürbis, ein daraus verfertigtes Oefäß; schließlich ein 
bauchiger Krug (Anm. des Verf.]. 


568 


DER KAISERTITEL PETERS DES GROSSEN 
UND DER WIENER HOF 


Von 
Emmerich Lukinich. 


Bekanntlich legte sich der russische Car, Peter der Große, im 
Jahre 1722 zu Moskau unter großen Feierlichkeiten den Kaisertitel 
bei. Mit dieser Tatsache endete ein langer diplomatischer Kampf, 
der damals die öffentliche Meinung Europas hauptsächlich aus dem 
Grunde recht lebhaft beschäftigte, weil die Annahme des Kaiser- 
titels nicht auf Grund eines Übereinkommens mit den europäischen 
Mächten, sondern durch einen einseitigen Willensakt des Caren er- 
folgt war. Im Nachsiehenden möchte ich eine Einzelheit des diplo- 
matischen Kampfes, der um den Kaisertitel geführt wurde, auf Grund 
archivalischer Forschungen, ausführlicher beleuchten. 

Car Peter machte schon im Jahre 1687 Schritte, um sich vom 
deutschen Kaiser Leopold l. den Kaisertitel zu erwirken. Die in Wien 
erschienene feierliche Gesandischaft erzielte aber keinen Erfolg, 
weil Leopold l. mit der Begründung, daß die Verleihung des Kaiser- 
titels nicht ihm, sondern den Kurfürsten des Reiches zusiche, 
die Entscheidung von sich abwalzte’). Jahre hindurch hatte es den 
Anschein, als hatte sich der Car mit dieser Stellungnahme des Wiener 
Hofes abgefunden; zumindest findet sich keine Spur in der Richtung, 
daß er, sei es bei Leopold l., sei es bei dessen unmittelbarem Nach- 
folger Josef I., weitere Schritte uniernommen hätte. Um so größere 
Überraschung rief daher am Wiener Kaiserhof die im Sommer 1710 
erfolgte Unterbreitung des neuen russischen Gesandten Baron 
Johann Urbich hervor, worin er mit Berufung auf seine Instruktion 
für seinen Herrn den Titel „Majestät“ und die Bezeichnung „Kaiser“ 
forderte, für sich selbst aber außer dem Exzellenztitel- feierlichen 
Empfang und Zollfreiheit verlangte, „Widrigenfalls er“ — wie Josef l. 
dem am Carenhof weilenden kaiserlichen Gesandien Graf Wilczek 
schriftlich mitteilte — „erklären sollte, daß vorgedachte Seine 
Liebden von uns keine Schreiben mehr annehmen und ferner alles 
commercium mit uns aufheben würden“ ). 


1) Grundmäßige Untersuchung von dem Kayserlichen Titul und Würde, 
1 auch von der Czarischen Titulatur etc. gehandell. Cöln, 1723, 
p. SE e 


2) Concept im Staatsarchiv Wien. Russica 1710, 28. Juni. 


Das kaiserliche Ministerium, dem die Lenkung der Politik des 
Reiches oblag, wurde durch diese Forderung des Caren in eine un- 
bequeme Lage versetzt. in Wien kannte man sehr wohl die un- 
berechenbare, launenhafte Natur des Caren und mochte von ihm 
voraussetzen, daß er eine allfällige Zurückweisung seiner Ansprüche 
nicht gleichmütig hinnehmen werde. Auch wußte man, daß zwischen 
dem Caren und dem gewählten Fürsten von Ungarn und Sieben- 
bürgen, Franz Rákóczi Il., seit 15. September 1707 ein bündnisartiger 
Verirag bestand, und war sich darüber im reinen, daß der Car 
diesen Fürsten in seinem Kampfe gegen den Kaiser bereitwillig zu 
unterstugen geneigt sei, wenn dies die politischen Ziele Rußlands er- 
fordern. Zwischen dem Caren und Rákóczi bestanden damals tat- 
sachlich rege diplomatische Verbindungen. Auf Grund der nach 
Wien gelangten Meldungen glaubte man zu wissen, Räköczis Diplo- 
maten seien bemüht, den Caren in den zwischen dem Kaiser und 
Räköczi im Gange befindlichen Krieg unmittelbar einzuschalten. Für 
den Wiener Hof gestaltete sich jetzt die Lage allerdings sehr heikel, 
weshalb die politische Klugheit erfordert hätte, daß die Eitelkeit 
oder Empfindlichkeit des Caren durch die ihm zu erteilende Antwort 
nicht verletzt werde. In Wien aber wollte man damit nicht rechnen, 
und so erteilte man dem am Carenhof weilenden kaiserlichen Ge- 
sandten die Weisung, er möge die Minister des Caren wissen lassen, 
daß der in der Titelfrage eingenommene frühere Standpunkt des 
en Hofes derzeit unverändert sei und es auch in Zukunft bleiben 
werde. 

Die Minister des Caren zeigten sich zur Annahme der vom 
Grafen Wilczek vorgebrachten Argumente nicht geneigt. Sie be- 
riefen sich darauf, daß doch der Kaiser jedem König Europas den 
Majestätstitel zuerkenne, weshalb es völlig unverständlich sei, aus 
welchen Gründen gerade die Person des Caren hievon ausge- 
schlossen bleiben solle, der doch auch von der Pforte „Majestät“ 
tituliert werde. Man fand sich demnach zu der Erklärung veranlaßt, 
daß, falls sich der Wiener Standpunkt in dieser Frage nicht ändern 
sollte, künftighin keinerlei von dort herstammende Zuschrift ent- 
gegengenommen würde). Die Lage des kaiserlichen Gesandten 
wurde auch noch durch die — wie es scheint — aus der Umgebung 
des Caren tendenziöserweise verbreitete Nachricht erschwert, daß 
der unterwegs befindliche preußische Gesandte Marschall die Zu- 
stimmung seines Königs zur Annahme des Titels „Kaiser von Ruß- 
land“ mit sich bringe’). Diese Nachricht erwies sich zwar als un- 
richtig, und später beeilte sich der preußische Gesandte sogar, dem 
Grafen Wilczek zu versichern, daß „sein König dem Zaren den Titul 
eines Kaisers von Rußland gewißlich nicht geben werde"), — zum 


s) Ebenda. 

4) Originalbericht des Grafen Wilczek v. 16. Juli 1710. Wiener Staats- 
archiv. Russica. 

s) Originalbericht des Grafen Wilczek v. 3. August 1710. Ebenda. 

€) Originalbericht des Grafen Wilczek v. 18. Oktober 1710. Ebenda. 


870 


besagten Zeitpunkt jedoch erschien besagies Gerücht wohl geeignet, 
den Standpunkt des Wiener Hofes vor der öffentlichen Meinung 
Rußlands als unfreundlich hinzustellen, wobei noch in die Wagschale 
fiel, daß auch England in seinen Korrespondenzen mit dem Caren 
den fraglichen Titel damals schon regelmäßig gebrauchte"). 

Graf Wilczek hatte bei seinen mit den Minisiern des Caren ge- 
pflogenen Verhandlungen wiederholt Gelegenheit sich zu überzeugen, 
dag er, falls er an die Wiener Instruktionen sich zu halten gezwungen 
wäre, die Interessen und den Standpunkt seiner Regierung mit Er- 
folg zu vertreten außerstande sei. Nach seinen, aus der Umgebung 
des Caren erhaltenen, am 27. August 1710 schriftlich gemeldeten 
Mitteilungen sei anzunehmen, daß „Seine zarische Majestät gewiß 
von der Praetension nicht ablassen, sondern den Titel Majestät von 
Ew. K. M. zu bekommen forthin verlangen, und daß ohne dessen 
allhier nichts zu negotiiren oder zu erhalten“. Dieser Meldung ist 
die Befürchtung hinzugefügt, es sei nicht unmöglich, daß sich der 
Car Frankreich nähern werde; „ob also nicht zuiraglicher bei der 
Sachen Beschaffenheit zu erachten, deßwegen zu traktiren und wegen 
dieser erteilenden Titeln einige Avantage zu suchen“]. 

Die Gegensätze der Standpunkte konnien wegen der Schroffheit 
beider Parteien auch durch die späteren Verhandlungen nicht über- 
brückt werden. So blieb auch die Konferenz vom 22. September 
1710, die zwischen Wilczek und den beiden Kanzlern des Caren vor- 
nehmlich zwecks Bereinigung der Titelfrage stattfand, völlig erfolg- 
los’). Wilczek war gleich den Vertretern der Gegenpartei durch die 
Instruktionen gebunden, und so kam es, daß die Titelfrage später 
mit stillschweigender Übereinkunft aus der Verhandlungsmalerie 
ausgeschaliet wurde. Von den zwei Kanziern des Caren wurde auf 
einer späteren Konferenz nur noch erwähnt, daß der Wiener Hof 
im Jahre 1704 keine Einwendungen gegen die Note des Fürsten 
Galicyn gemacht habe, worin dieser den Caren „Kaiser“ nannie*®). 
Das diplomatische Verhältnis der beiden Regierungen aber erkaltete 
zusehends. Wilczek konnte zu seinem nicht geringen Befremden 
alsbald wahrnehmen, daß die Emissäre des Fürsten Rákóczi in dem 
Carenreich, wohl mit stillschweigendem Einverständnis, jedenfalls 
aber mit Nachsicht des Carenhofes, eine lebhafte Tätigkeit zu ent- 
wickeln begannen. Demgegenüber hüllten sich die Minister des 
Caren in Schweigen, und obgleich sie dem kaiserlichen Gesandten 
ihre Verbindung mit Rákóczi ableugneten, war Wilczek überzeugt‘!), 
daß der Car und seine Minister Wien gegenüber eine doppelzüngige 
Politik trieben, deren Ziele einstweilen wohl unbekannt seien, den 
Bestrebungen der kaiserlichen Politik aber kaum entgegenkamen. 


7) Originalbericht des Grafen Wilczek v. 3. August 1710. Ebenda. 

®) Originalbericht des Grafen Wilczek v. 27. August 1710. Ebenda. 

o Protokoll. Ebenda. 

18) Originalbericht des Grafen Wilczek v. 3. November 1710. Ebenda. 
11) Originalbericht des Orafen Wilczek v. 15. Oktober 1710. Ebenda. 


571 


Inmitien dieser unsicheren und unfreundlichen Atmosphäre 
wurde dem Grafen Wilczek miigeteilt, daß „Ihro Carische Maiestat 
soviel als resolvirt haben sollen, in das Carlsbad zu gehen‘, seine 
Absicht indes vorläufig geheim zu halten wünschten. Dem Wiener 
Gesandten gelang es zunächst, bloß so viel in Erfahrung zu bringen, 
daß der Car „mit kleinerm Gefolge incognito gehen“ werde, wes- 
halb ihn die Gesandien der auswärtigen Höfe nicht begleiten 
würden). Die Nachricht wurde später auch von den Gesandien 
Preußens und Dänemarks bestätigt, nicht minder wußte davon und 
sprach darüber auch „die Fürstin von Gallicin, welche bei dem Car 
in seinem Pallast wohnet und mit ihm gar confident ist“). In Wien 
diente der einschlägige Bericht des Gesandien vorläufig zur Kennt- 
nis. Mit Rücksicht darauf, daß der Car die Karlsbader Heilquellen 
vor Jahren schon gebraucht hatte und auch Wilczek zu berichten 
wußte, daß seines Wissens der Gesundheitszustand des Caren eine 
Bäderkur tatsächlich geboten erscheinen lasse, wurden hinter der 
Karlsbader Reise keine verborgenen Zwecke und Pläne gesucht. 
Man sah auch keine Notwendigkeit, in der Titelfrage sich nachgiebig 
zu zeigen, und so wurde an der im kaiserlichen Erlaß vom 4. De- 
zember 1710 enthaltenen Erklärung, wonach der Kaiser dem Caren 
„den Titul Maiestät keineswegs geben können“ !“), auch nichts ge- 
ändert. Am Wiener Hof scheint man angenommen zu haben, die 
Karlsbader Reise sei zur Winterszeit ohnehin nicht aktuell, und sah 
demnach auch keine Ursache, sich mit deren etwaigen politischen 
Folgen zu beschäftigen. 

Während der Wintermonate erfolgte in der Titelfrage keinerlei 
Wendung. Der Car war durch die Vorbereitungen des bevor- 
stehenden Turkenkrieges und durch die Abwehr der Tatarenangriffe 
in Anspruch genommen, wodurch natürlicherweise alle persönlichen 
Angelegenheiten des Herrschers in den Hintergrund gedrängt wur- 
den. Größere Befürchtungen aber erweckte in Wien der Umstand, 
daß sich Fürst Räköczi seit 21. Feber 1711 in Polen aufhielt, und 
zwar „nicht allein unter Protection der Moscoviter, sondern jeder- 
zeit mit genugsamber Escorte von ihnen versehen“). Das hatte 
auf alle Falle so viel zu bedeuten, daß Rákóczi vom Caren derzeit 
nicht fallen gelassen wurde, obgleich die Macht des Fürsten in Un- 
garn während der Wintermonate bereits auf einige Komitate zu- 
sammengeschrumpft war. Möglicherweise war dem Fürsten Rákóczi 
und dem nach Polen gedrängten Ungartum vom Caren noch eine 
Rolle bei der Durchführung seiner vorläufig verborgen gehaltenen 
politischen Plane zugedacht; ebenso möglich aber ist auch die An- 
nahme, daß er Räköczi und die ungarische Emigration einfach bloß 
als Rückhalt betrachtete und ihre Inanspruchnahme von den Ge- 


12) Originalbericht des Grafen Wilczek v. 1. Dezember 1710. Ebenda. 

18) Originalbericht des Grafen Wilczek v. 11. Dezember 1710. Ebenda. 

14) Concept. Ebenda. 

18) Originalbericht des Grafen Joh. Ernest Herberstein v. 18. März 1711. 
Ebenda. Polonica. 


872 


staltungen der Zukunft abhängig machen wollte. Indes, mag der 
Standpunkt des Caren betreffs der ungarischen Frage im End- 
ergebnis welcher Arf immer gewesen sein, die Haltung Moskaus 
gegenüber dem Wiener Hof erfuhr keine Anderung. Car Peter 
konnte der kaiserlichen Regierung ihre in der Auffassung gezeigte 
Schroffheit nicht vergessen, und als er nun die Mitteilung erhielt, daß 
Josef I. am 17. April 1711 unerwartet gestorben war, da interessierte 
ihn zunachst weniger die von dem Thronwechsel etwa zu gewar- 
tigende Anderung des politischen Kurses, als vielmehr die Frage, 
was wohl der Standpunkt des neuen Regimes in der Titelangelegen- 
heit sein werde. Darüber nun sollte der Car nicht lange im unklaren 
bleiben. 

Die amiliche Note uber das Ableben Josefs I. wurde ihm erst 
in der Audienz vom 22. Mai 1711 durch den Grafen Wilczek über- 
reicht, wobei dieser des allerhochsten Beileids versichert und ihm 
gleichzeitig auch die Hoffnung und Überzeugung ausgedrückt wurde, 
daß der Car in dem neuen Herrscher, König Karl Ill. von Spanien, 
einen verständigen Freund finden werde**). Das alles war freilich nur 
leere Formsache, hinter der sich wenig Aufrichtigkeit barg. Worauf 
es dem Caren ankam, war die Art, wie ihm Josefs Ableben mitgeteilt 
wurde; mit anderen Worten: zunächst und eigentlich interessierte er 
sich dafür, ob der Wiener Hof auch bei der Mitteilung des Trauer- 
falles an dem früheren Standpunkt hinsichtlich der Titelfrage fest- 
halten oder angesichts der geänderten Lage seinem Wunsche ent- 
gegenkommen werde. Der Wiener Hof aber blieb — zumindest in 
dieser Frage — konsequent. Die Note führte nämlich folgende An- 
schrift: Serenissimo et potentissimo Domino Tzaro et magno duci 
Petro Alexievicio“ :) etc. 

Der Car zeigte sich über den Starrsinn des Wiener Hofes un- 
gemein entriiste?. Er nahm denn auch keinen Anstand zu erklären, 
es sei noch verständlich, daß sich der Kaiser geweigert habe, ihn 
„Majestät“ zu betiteln, unbegreiflich aber müsse es erscheinen, daß 
ihm dieser Titel auch zu einer Zeit vorenthalten werde, da es gar 
keinen Kaiser gebe und „nur eine Regentin“ die Herrschergeschafie 
leite; hätte er gewußt, was die Note enthalie, so wäre nicht einmal 
der Gesandte empfangen, geschweige denn das Schriftstück selbst 
entgegengenommen worden. Infolgedessen finde er sich veranlaßt, 
entweder jede Berührung mit dem Wiener Hof abzubrechen, oder 
aber werde auch er in seinen amtlichen Schriftstücken nur die An- 
sprache „Serenitas“ gebrauchen’®). 

Der Car entschied sich vorläufig für die letztere Art von Re- 
torsion. In seinem amtlichen Antwortschreiben vom 23. Mai, das 
außer den üblichen Beileidskundgebungen keine meritorischen Er- 
klärungen enthält und von ähnlichen Schrifistiicken nur insofern ab- 


16) Originalbericht des Grafen Wilczek v. 22. Mai 1711. Ebenda. Polonica. 
17) Original im Wiener Staatsarchiv. Russica. 1711—12. 
18) Originalbericht des Grafen Wilczek v. 12. Juni 1711. Ebenda. Polonica. 


575 


weicht, als er darin auch der unfreundlichen Haltung der Wiener 
Minister gedachte, wurde die Königinregentin Eleonore tatsächlich 
„Serenissima“ tituliert*®). 

Das Antwortschreiben wurde durch den russischen Gesandien 
Baron Urbich im Sinne seiner am 30. Mai ausgestellten Instruktion“ 
beim Wiener Hof überreicht, wo die ungewohnte Anschrift der Note 
selbsiverstandlich starken Anstoß erregte. „Die Kaiserin erscheint 
darin vom Zaren anstatt Maiestas nur als Serenitas tituliert, die am 
Schlusse des Briefes stehenden Worte „Serenitatis Vestrae’ aber 
seien nicht vom Zaren selbst, sondern vom Kanzler oder gar bloß 
von einem Konzipisten geschrieben, keines von beiden aber könne 
geduldet werden“, lesen wir in dem Ministerialkonferenzprotokoll. 
Die Minister erachteien die Lage als dermaßen schwierig, daß sie 
sich am 29. Juni im Palast des Fürsten Trautsohn zu einer Beratung 
versammelten, an der Graf Starhemberg, Graf Windisch-Grack, 
Baron Seilern, Graf Wratislaw, Graf Herberstein und der Geheim- 
schreiber Buol teilnahmen. In der Konferenz gab Starhemberg zu, 
daß sich die Minister in einer überaus heiklen Lage befänden, denn, 
würden sie das Schreiben dem Caren zurückstellen, so könne er sich 
dadurch dermaßen verletzt fühlen, daß mit der Gefahr eines Krieges 
zu rechnen wäre; werde aber das Schreiben behalten, so bedeute 
dies eine Verunglimpfung der Kaiserin, der der Titel Maiestas recht- 
mäßig gebühre. Darüber sei er im klaren, daß die erfolgte Be- 
leidigung nicht geduldet werden könne, vorläufig aber wisse er nicht, 
ob das Schreiben zurückgeschickt werden solle. Graf Windisch- 
Graetz trat für die Retournierung ein, doch sei Urbich über deren 
Gründe aufzuklären. Baron Seilern erachtiete die Rückstellung des 
Schreibens gleichfalls als wohlbegründet; wenn der Car in seiner 
jetzigen prekären Lage, vor Ausbruch des türkischen Krieges, so zu 
handeln sich erkühne, was sei von ihm erst dann zu gewartigen, 
falls sich seine Sache später zum Bessern wende? Eben darum 
wäre die Zuschrift unverzüglich zurückzustellen, was aber mit einer 
kurzen Motivierung geschehen solle. In ähnlichem Sinne äußerte 
sich auch Graf Wratislaw. Er hielt es für zweifellos, daß diesen 
Vorgang alle Welt guiheißen, eine solch einmütige öffentliche Meinung 
aber den Caren vom Kriegführen abschrecken werde. Auf alle Fälle 
sollte übrigens der Hof des Caren aufgeklärt werden, daß der 
Kaiserin der Titel Maiestas rechtmäßig gebiihre**). 

Im Sinne der Ministerkonferenz erhielt der Gesandte des Caren, 
Baron Urbich, am 7. Juli tatsächlich eine Einladung zum Grafen Wra- 
tislaw, bei dem damals bloß Baron Seilern und der Geheimschreiber 
Buol zugegen waren. Seilern erklärte vor allem, daß die Note 
des Caren für die Kaiserin, der der Majestätstitel nicht abgestritien 
werden könne, unbedingt verletzend sei. Die Kaiserin sei überzeugt, 


19) Abschrift im Wiener Staatsarchiv. Russica. 1711—12. Gedruckt bei 
St. Katona: Hist. crit. regni Hungariae. XXXVII. p. 686—87. 

se) Abschrift im Wiener Staatsarchiv. Russica. 1711—12. 

s1) Minist.-Konferenzprotokoll. Wiener Staatsarchiv. 1711. 


574 


© A eR ARS a 


daß die beleidigende Anschrift und Betifelung nicht auf Anordnung 
des Caren erfolgt, sondern einer Versäumnis der dortigen Hofkanzlei 
zuzuschreiben sei. Eben deshalb habe sie sich entschlossen, die 
Zuschrift dem Oberkanzler des Caren zurückzustellen, der gewiß 
dafür sorgen werde, daß die Ausstellung der Note in entsprechender 
Form erfolge. Nach dieser Erklärung überreichte Seilern die Note 
dem russischen Gesandten, der sie jedoch nicht übernahm, und zwar 
mit der Begründung, die beanstandete Anschrift der Note sei auf 
ausdrücklichen Wunsch des Caren als Erwiderung auf jene Zuschrift 
der Kaiserin erfolgt, worin sie den Caren nur „Serenitas“ und nicht 
„Maiestas“ betitelte, troßdem ihm der letztere Titel rechtmäßig ge- 
bühre. Vergebens sekte Seilern dem Gesandten auseinander, daß 
der Wiener Hof den moskowitischen Caren bisher noch niemals den 
Majestätstitel gegeben habe, obwohl zeitweilig ein solches Verlangen 
von mehreren Caren tatsächlich gestellt worden sei. Demgegenüber 
sei nicht abzuleugnen, daß der fragliche Titel der Kaiserin recht- 
mäßig gebühre, was bisher auch niemals irgend jemand in Zweifel 
gezogen habe. Urbich nahm die ihm wiederholt überreichte Note 
nicht entgegen. Graf Wratislaw schickte sie infolgedessen tags dar- 
auf in die Wohnung des russischen Gesandien. Dieser jedoch war 
zur Übernahme auch jekt nicht geneigt, weshalb der mit der Uber- 
gabe betraute Beamte die Note auf den Tisch des Gesandten legte 
und sich dann entfernte”). 

Die kaiserlichen Minister waren sich wohl bewußt, daß diese der 
Eitelkeit des Caren zugefügte neuerliche Verletzung gegebenenfalls 
ernste Folgen haben könne, hatte ja selbst Baron Urbich die Drohung 
fallen lassen, der Car werde sich schon mit dem Säbel Genugtuung 
verschaffen®). Offenbar aber hielt man es in Wien trok alledem für 
unwahrscheinlich, daß er gerade bei Ausbruch des Türkenkrieges 
die diplomatischen Beziehungen mit der kaiserlichen Regierung ab- 
brechen werde. Und so wagte das Ministerium die Folgen der 
Zurückweisung auf sich zu nehmen. 

Wie die späteren Geschehnisse zeigten, war die Annahme des 
kaiserlichen Ministeriums nicht grundlos. Des Caren Aufmerksamkeit 
zeigte sich im Sommer durch den türkischen Feldzug, über dessen 
Einzelheiten man in Wien hinlänglich unterrichtet war’), dermaßen 
in Anspruch genommen, daß dabei seine persönliche Empfindlichkeit 
völlig in den Hintergrund gedrängt erschien. Nach dem Friedens- 
schluß mit der Pforte hinwieder galt ihm die Karlsbader Badekur, 
deren Notwendigkeit er längst empfunden, offenbar für wichtiger 
und dringender, als eine damals aussichfslose Fortsetzung des um 
den Majestätstitel geführten diplomatischen Kampfes. Aber gerade 
sein vom 22. September bis 17. Oktober währender Aufenthalt in 


ss) Ebenda und Originalbericht des Grafen Wratislaw v. 11. juli 1711. 
Familienkorrespondenz A. 16. 

ss) Fürst Trautsohn zum Sinzendorf v. 11. Juli 1711. Wien. Staatsarchiv. 
Corresp. Fürst Trautsohn 1709—13. 

se) Wienerisches Diarium, 1711. Nr. 839, 840, 841, 846. 


875 


Karlsbad’) bot ihm neuerlichen Anlaß zum Aufwerfen der Titelfrage. 
Die böhmische Statihalterei wandte nämlich, offenbar auf höhere 
Weisung, im schriftlichen Verkehr mit dem Caren anstati des Ma- 
jestatstitels die Bezeichnung Serenitas an, was dann wieder die 
Repressalie zur Folge hatte, daß der Car seine Leibgarde nicht nur 
bei sich behielt, sondern sie durch Werbung sogar noch verstärkte. 
Zur Vermeidung weiterer Unannehmlichkeiten sah sich die Statt- 
halterei hierauf zur Nachgiebigkeit gezwungen und gab dem Caren 
„die Maiestät-Benennung“. Nun war, wie es im Theatrum Europaeum 
heißt, „Alles besser, seine Garde von ihm nach Sachsen geschickt 
und an deren Stelle die nötige Mannschaft gebrauchet worden*).“ 

Damit verschwand die Titelfrage auf lange Zeit von der Tages- 
ordnang. Erst zehn Jahre später fand sie endlich ihre Lösung, und 
zwar, wie schon früher erwähnt, auch dann nicht durch ein Über- 
einkommen mit dem Wiener Kaiserhaus, sondern durch einen Will- 
kürakt des Caren. 


ss) Wienerisches Diarium, 1711. Nr. 860. 
ss) Bd. XIX, p. 556. 


576 


MISCELLEN 


ZEHN JAHRE AUSSENPOLITIK DER SOVETS 


Von 
Leopold Silberstein. 


M. Tanin: 10 let vnešnej politiki SSSR (1917—1927). — Gosudar- 
stvennoe izdatel’stvo Moskva-Leningrad 1927. Vill, 260 S., 
1 Karte. — Desjat’ let sovetskoj diplomatü (akty i dokumenty). — 
Izdanie Litizdata Narkomindela, Moskva 1927. 124 S. 


Tanin hat sein Buch Anfang Oktober 1927, kurz vor dem Staatsjubilaum, 
abgeschlossen. Die Zeit war damals für die Sovetunion außenpolitisch 
sehr düster. England hatte im Sommer den diplomatischen Bruch voll- 
zogen, Frankreich zeigte durch unnachgiebiges Auftreten in der Rakovskij- 
Affäre betont seine Mißachtung, die Beziehungen zu Deutschland halten den 
1926 mit dem Berliner Vertrag erreichten Höhepunkt schon wieder über- 
schritten, die Ermordung Vojkovs gefährdete die Beziehungen zu Polen, 
der innere Kampf mit der Linksopposition begann auch die gefühls- oder 
interessenmäßigen Freunde der Union im Auslande zu kritischer Besinnung 
zu veranlassen. Ein Rück- upd Überblick mußte demgemäß von ernsten 
Untertonen durchklungen sein, andererseits durfte in einem Jubiläumswerk 
auch die Fanfare des Glaubens an den Endsieg nicht fehlen. Dieser sehr 
heiklen Aufgabe hat sich Tanin im ganzen mit Geschick entledigt. Nur 
selten tritt ein handgreiflicher Widerspruch zutage: etwa wenn er eine 
„isklju&itel'naja polititeskaja otstalost’ amerikanskogo rabodego klassa“ 
feststellt (S. 222) und einen wirtschaftlichen Aufschwung Amerikas noch 
auf 10—20 Jahre voraussagt (S. 225), gleich darauf aber pflichtschuldigst die 
Hoffnung ausdrückt, daß eine Gegnerschaft Amerikas gegen die Union 
schließlich doch dank wirtschaftlichen Krisen und Gegensäben Amerikas 
und dank dem dort aufgehauften „sozialen Zündstoff“ zusammenbrechen 
werde (S. 225). 

Echt sovetistisch laßt Tanin in seiner Darstellung die führenden Per- 
sonlichkeiten hinter den unpersonlichen Ereignissen, Situationen und Ten- 
denzen stark zurücktreten. Für uns, die wir uns politische Persönlichkeit 
und Milieu nur in unirennbarer Wechselwirkung denken können, wird das 
Bild dadurch unvollständig und schief. In merkwürdiger Undankbarkeit 
werden gerade diejenigen Männer totgeschwiegen oder unzureichend be- 
handelt, denen die Union nicht zulebt ihre erstarkte außenpolitische Po- 
sition verdankt: die Deutschen Rathenau, Malkan und Brockdorff sowie die 
Chinesen Sun-Yat-Sen und Feng-Yu-Hsiang. Tanin erwähnt weder Malbans 
langwierige Vorbereitung der Ostorientierung noch Rathenaus verantwor- 
tungsbewußte Gewissenskampfe in den Genueser Tagen, noch Brockdorfis 
unermüdliche Arbeit, ohne welche die Linie von Rapallo vermutlich schon 
längst infolge irgendeines Zwischenfalles oder infolge anderweitiger Bin- 
dungen Deutschlands verlassen worden wäre. Aber für Tanin scheint es 
schon fast das größte Lob zu sein, wenn er über einen nicht-bolschewi- 


877 


stischen politischen Partner schweigend -hinweggeht, ohne ihn zu tadeln. 
Ein Mac Donald z. B. wird so ungefähr wie ein hilfloser Schwachling hin- 
gestellt, der in der Affäre des sog. Zinov’jev-Briefes das ohnmächlige 
Werkzeug Gregorys Bye sei (vgl. hierzu die ganz andere Auffassung 
Miljukovs, „Rußlands Zusammenbruch“, Bd. I, S. 238). Etwas mehr Respekt 
hat Tanin schon vor Lloyd George und Wilson, aber auch ihnen bleiben 
hämische Bemerkungen nicht erspart. Wagt es ein Linkspolitiker, scharf 
antibolschewistisch zu sein, wie Masaryk oder Tschiang-Kai-Schek, so wird 
er geradezu beschimpft. Leidlich kommen von den gemäßigten Politikern 
noch Stresemann und Kemal-Pascha weg. Am besten aber schneiden die 
ausgesprochenen Rechten ab, namentlich die englischen Konservativen, vor 
denen als den energischsten und gefährlichsten Gegnern der Union Tanin 
allen Respekt hat. 

‚Die Darstellung der Ereignisse ist — abgesehen von einigen diplo- 
matischen Zwischenfällen, die verschwiegen, und Kulissenvorgängen, die 
zweckdienlich vereinfacht werden — als recht vollständig zu bezeichnen. 
Mit den Proportionen kann man sich allerdings nicht einverstanden er- 
klären. Gewiß ist es richtig, daß Tanin auch räumlich das Hauptgewicht 
auf den englischen Gegenspieler legt. Warum aber die Episode des Cur- 
zon-Ultimatums schärfer herausgearbeitet wird als die weitaus insiruktivere 
Vor- und Nachgeschichte des anglo-russischen Vertrages vom 8. August 
1924, vermag ich nicht einzuschen. Ebenso wird die militärische, maritime 
und geopolitische Bedeutung der Konferenz von Lausanne unzureichend 
gewürdigt. Die chinesische Frage erhält im Verhaltnis zur afghanischen 
und persischen zu wenig Raum. Die Vorgänge von Genua und Rapallo 
werden wohl nicht nur dem Deutschen als zu kärglich behandelt erscheinen. 
Uberbetont ist dagegen die Rolle des Proletariats der fremden Mächte, 
und auch die Frage der „Propaganda“ hätte wohl eine knappere Behand- 
lung ohne Schaden vertragen. 

Es braucht nicht erst erwähnt zu werden, daz Tanins Werturteile außer- 
halb der Union vielfach auf Widerspruch stoßen müssen. Man nimmt sie 
jedenfalls mit Interesse zur Kenntnis. Die Sovetdiplomatie sei aus dem 
Konflikt mit Curzon lin welchem sie bekanntlich in allen Punkten nachgab) 
mit Ehren hervorgegangen, da Curzon einen Bruch und eine neue Inter- 
vention habe provozieren wollen, dies ihm aber infolge des russischen 
Nachgebens nicht gelungen sei (S. 125). Der Locarno-Pakt sei nichts an- 
deres als eine Verschwörung gegen die Union, eine „veličajšaja po svoemu 
utoncennomu licemeriju i chanzestvu — — — komedija“ (S. 153). Schon mehr 
Hand und Fuß hat Tanins Aufdeckung egoistischer Motive und teilweiser 
Sabotage bei der Hilfsaktion für die Hungergebiete (S. 100 ff. . 

Von großem Interesse sind die Perspektiven, die Tanin Ende 1927 für 
die Zukunft geben zu müssen glaubte, obgleich die seitherige Geschichte 
einstweilen vielfach andere Wege gegangen ist. Tanin glaubte 1927 nicht 
an eine lange Lebensdauer einer evil. künftigen englischen Arbeiterregie- 
rung; diese werde vielmehr von der Bourgeoisie abermals über das rus- 
sische Problem hinweg zu Fall gebracht werden. Demgegenüber sei Hoff- 
nung nur auf das englische Proletariat zu seben, das — anders als 1914 — 
den Ausbruch eines Krieges, der sich diesmal gegen Rußland richten würde, 
vereiteln werde (S. 179 f.. Deutschland sieht er in schneller Erstarkung 
begriffen (S. 183). Seine Außenpolitik werde höchstwahrscheinlich zwischen 
London und Moskau hin- und herschaukeln (S. 184), ohne — trok seiner 
Mitgliedschaft beim Völkerbunde — mit Rußland zu brechen, da es konkrete 
Verpflichtungen gegen die Union vermutlich nicht eingegangen sei (S. 186). 
Allerdings — diese Ansicht Tanins ist besonders aktuell — werde eine 
Revision des Dawesplans Deutschlands politische Linie stärker derjenigen 
der Westmächte annähern (S. 187). Die französische Gefahr sieht Tanin 
durch den franko- englischen Gegensab paralysiert; ihre Aktualität fürchtet 
er nur für den Fall polnisch-russischer Verwicklungen (S. 189f.). Diesen 
Fall halt er allerdings fast für sicher, da die Person Pilsudskis, der die 
„fixe Idee“ der Grenzen von 1772 habe, den Krieg bedeute (S. 1% f.). Auch 
die Opposition der Nationaldemokraten werde Pitsudski von diesem 


578 


Kriegswillen nicht abbringen. Doppelt fällt eine so kategorische und bisher 
zum Gluck trügerische Prognose neben der Zurückhaltung auf, mit der von 
den übrigen Randsiaaten gesprochen wird. Auch beirefis Chinas will 
Tanin nicht mehr prophezeien, als daß die dortige Entscheidung die Ent- 
wicklung der Welt auf Jahrzehnte bestimmen werde (S. 213). Seine wider- 
spruchsvolle amerikanische Prognose haben wir schon erwähnt. Er ist sich 
nicht so recht klar darüber, ob er Amerika als Freund oder als Feind der 
Sovetunion anzusehen habe (in Wirklichkeit hat Amerika der Sovetunion 
gegenüber nie eine Politik pro oder contra, sondern eine rein amerika- 
nische, sich mit den Interessen und Prinzipien seiner eigenen Nation 
deckende Politik getrieben). Für die Zukunft glaubt Tanin infolge der eng- 
lisch-amerikanischen Annäherung an Amerikas ausgesprochene Feindselig- 
keit (S. 220), zumal Amerika mittels der „Dawesisierung“ Europas die Welt- 
herrschaft anstrebe und die Sovetunion als das ernsihafteste Hindernis auf 
diesem Wege vorfinde (S. 221). 

Das in jedem Falle reichhaltige, dem kritischen Leser zur In- 
formation sehr zu empfehlende, sich von einer früheren Arbeit Tanins stili- 
stisch vorteilhaft unterscheidende Werk endet mit einer im wesentlichen 
vollständigen und korrekten Zeittafel. 

Die gleichzeitige Jubilaumspublikation des Narkomindel „Desjaf let 
sovetskoj diplomatii“ ist von viel geringerem Umfange und muß sich außer- 
dem noch weitgehenderer Kürze befleißigen, weil ein wesentlicher Teil des 
Raumes von Originaldokumenten oder Auszügen aus solchen in Anspruch 
genommen wird. Der Titel ist irreführend: von der cigentlichen Diplomatie, 
d. h. den auswärtigen Bevollmächtigten und ihrer Arbeit mit den fremden 
Regierungen, bekommt man sehr wenig zu sehen; der richtige Titel müßte 
dem Taninschen gleichlautend sein. Der einzige Fall, wo man statt poli- 
tischer Fakta einen Einblick in das Wesen politischer Arbeit bekommt, ist 
das einleitende Kapitel „Desjat’ let žizni NKID“. Dieser Einblick ist freilich 
recht kärglich. Vieles, so die Schilderung der Umwandlung des NKID 
RSFSR in den NKID SSSR, hat rein formale Bedeutung und kann eigentlich 
niemanden interessieren. Wertvoller ist die Schilderung der Gefahren und 
Schwierigkeiten, unter welchen die erste außenpolitische Arbeit geleistet 
werden mußle. Lehrreich sind auch die wiederholt notwendig gewordenen 
Umorganisationen und Etatredukfionen, endlich die sichtbare Sorge um den 
apa — die erst gegen Ende des ersten Dezenniums nachzulassen 

ginnt. 

Die historische Darstellung ist nicht rein chronologisch, sondern sachlich 
gegliedert in die Abteilungen „Der Kampf um den Frieden“, „Die Entwick- 
lung der internationalen Beziehungen“ und „Die U.d.S.S.R. und der Völker- 
bund“. Diese Einteilung zwingt frotz des knappen Raumes zu Wieder- 
holungen; so wird vom Abrüstungsproblem zweimal ausführlich gesprochen. 
Im Jahre der Genfer Wirtschaftskonferenz unterstreicht die Publikation ganz 
besonders den auch seitens der russischen Delegierten in Genf vertretenen 
Standpunkt, daß nur die materielle Abristung den Frieden garantieren 
könne, in der sog. moralischen Abrüstung durch Nicht-Angrifis- und 
Schiedsverträge, die z. B. auf der Moskauer Konferenz von 1922 seitens 
der Randstaaten in den Vordergrund gestellt wurde, sieht das Buch nur 
einen Versuch der Ablenkung vom Wesentlichen (S. Bf., 116 f.). Die Frage, 
wer am Scheitern der Moskauer Konferenz die Schuld trägt, ist damit frei- 
lich nicht gelöst. 

Bei allem Verständnis für die notwendige Kürze muß doch die Dar- 
stellung der kriegerischen und politischen Vorgänge des Jahres 1920 als 
ganz lückenhaft bezeichnet werden. Dies gilt namentlich auch von der 
Dokumentensammlung, welche die nur zum Fenster hinausgesprochenen 
Friedensvorschläge an Polen enthält, von den entscheidenden diploma- 
tischen Vorgängen aber, die namentlich mit der Tätigkeit Kamenevs zu- 
sammenhängen, ebensowenig einen Begriff gibt wie die fortlaufende Dar- 
stellung. Von der langsamen Arbeit und Evolution, die zum Rapallo-Ver- 
trag führte, ist im Buche nichis zu merken, die politischen Wendungen 
platzen herein wie ein deus ex machina: man lese nur die Seiten 60, 64 und 


579 


66 nach. („Odnako prebyvanie sovetskoj delegacii v Genue ne okazalos’ 
besplodnym: ona zavjazala peregovory s delegacijami drugich stran, v per- 
vuju ocered’ s germanskoj, —“ S. 66.) In ebenso primitiver Weise platzen 
S. 68 die englischen Vorgan sige des Jahres 1924 zusammenhanglos aufein- 
ander, wobei wohl absichilich verschwiegen wird, daß auch Mac Donald 
eine Einmischung der Sovets in Englands innere Verhältnisse zu dulden 
nicht gewillt war. Eine ähnliche Kunst des Verschweigens finden wir auf 
> 71, wo vom Dementi der Beschuldigung, daß die russische Regierung den 
nglischen Bergarbeiterstreik unterstützt habe, gesprochen wird, ohne die 
Haltung des russischen Zentral-Gewerkschaftsverbandes zu erwähnen. 
Auffällig ist eine Abweichung von Tanin auf S. 72: während Tanin die 
Lösung des Voikov-Konfliktes pessimistisch beurteilte, meint der Nar- 
komindel, es sei gelungen, ihn glücklich zu liquidieren. Reichhaltiger als 
Tanin ist — trob der Kürze — das Buch im Kapitel „Die U.dS.S.R. und der 
Völkerbund“. Die Sovetunion verirete die ursprüngliche Wilsonsche Völker- 
bundsidee (Selbstbestimmungsrecht der Volker, demokratischer Frieden, 
Abrüstung usw.); der Volkerbund in seiner jebigen Gestalt sei aber ein 
„Bund der Kapitalisten gegen die Völker“, eine „diplomatische Börse, aut 
der die starken Mächte — hinter dem Rücken und auf Kosten der kleinen 
und schwachen Völker ihre Rechnungen begleichen” (S. 115). Deswegen 
habe es die Union — trob einladender Stimmen wie der Mottas und Mac 
Donalds — bisher immer abgelehnt, „nach Canossa zu gehen“ und dem 
Bunde freiwillig beizutreten (S. 114). Besonders empört ist die Publikation 
über die hervorragende Rolle, welche Finnland im Völkerbunde zugewiesen 
wird (S. 119 u. ö.). Die Aufzählung der einzelnen Fälle, in denen mannig- 
fache praktische Notwendigkeiten trozdem eine engere oder losere Be- 
rührung zwischen Union und Völkerbund erzwungen haben, ist recht voll- 
ständig und instruktiv. 
Ein einigermaßen richtiges Bild der russischen Außenpolitik der Jahre 
seit 1917 dürfte sich erst beim Vergleich der besprochenen beiden Werke 
mit Miljukovs Buch „Rußlands Zusammenbruch“ ergeben. 


BEITRÄGE ZU PREUSSENS STELLUNG GEGENÜBER 
DEM WARSCHAUER NOVEMBERAUFSTAND V. J. 1830") 


Von 
Manfred Laubert. 


Preußens Stellung gegenüber den polnischen Aufstanden von 1850 wie 
1865 war durchaus gegeben: es mußte die seinen eigenen Bestand be- 
drohenden Bewegungen an Rußlands Seite möglichst schnell zu ersticken 
bemüht sein. Diese Untersfützung wurde russischerseits von dem Verbün- 
deten auch ohne ned erwartet, wie eine Note des Berliner Ge- 
sandten Grafen Alopeus v. 19. Dez. 1830 an den Minister 
desAuswartigen, GrafenBernstorff, klar zum Ausdruck bringt: 


„Les Gouvernements de Prusse & d'Autriche auront sans doute, dès 
les premières nouvclles des événements qui ont eu lieu à Varsovie 
pris les mesures nécessaires à l'effet d'assurer la tranquillité de oun 
propres Etats et d'empêcher surtout que le feu de la révolte ne se 
page dans les provinces ci-devant polonais de ces deux Monar ies. 
Dans ce but et pour neutraliser en même temps les efforts du parti 
révolutionnaire en Pologne, il serait de la plus haute importance d’inter- 
dire autant que possible toute espèce de contact entre le Royaume et 
le reste de l'Europe et surtout d’intercepter toute communication que 
les rebelles polonais pourraient avoir avec les agitateurs francais, soit 
par correspondance, soit par l'intermédiaire de voyageurs. 

C'est done dans l'intérêt de la Prusse & de l'Autriche elles-mêmes, 
comme dans celui de l'ordre ef du repos en général: que S. M. l'Em- 
pereur a pris la résolution de réclamer de Ses augustes amis et alliés 

prompte adoption des mesures les plus énergiques à l'effet d'isoler 
autant que possible le Royaume de Pologne des autres Etats Euro- 
péens. Ces mesures, si elles étaient sans la moindre délai concertées 
entre les deux Gouvernements et soutenues avec une égale vigeur, 
semblent ne pas devoir manquer leur but. En présentant au Ministre 
du Roi et cette proposition de l'Empereur et l'exposé des réflexions 
qui Pont motivée, le soussigné... se félicite de pouvoir être convaincu 
d'avance de Faccueil favorable qu'elles trouveront après de S. M 
Prussien dont la sollicitude éclairée a déjà reconnu le danger du voi- 
sinage d'une rébellion et préparé les mesures de précaution que ce 
danger a rendues nécessaires. Il ne lui reste d'autre tâche à remplir 
que de solliciter du Gouvernement du Roi le développement prompt 
et entier de ces sages mesures, en Le priant de vouloir bien mettre le 
soussigné & même d'informer le Cabinet de l'Empereur des résolutions 
que celui du Roi pourrait adopter par suite de la présente communi- 
cation.“ 


Der Minister des Inneren und der Polizei, Frh. v. Brenn, erklärte 
sich mit der Auffassung von Alopeus einverstanden und verwies darauf, 
daß bereits in der Richtung seiner Wünsche verfahren war. Auch bestand 


1) Nach Rep. 77. 509. 9. Bd. I u. 10. Bd. I/II und A. A. Rep. IV Polizei- 


sachen 157. Bd. II im Geh. Staatsarchiv zu Berlin und Öberpräsidialakten 
IX. B. a. 8 u. 13a im Staatsarchiv zu Posen. 


25 NF 5 381 


in Berlin das Bestreben, die zu erlassenden Verfügungen möglichst dem in 
Wien befolgten Verfahren anzugleichen (an Bernstorff, 22. Dez). Die 
Reisenden wurden hinlänglich beaufsichtigt, jede Reise nach Polen ohne 
Paßvisitation durch die russische Gesandischaft in Berlin oder Wien unter- 
sagt. Bei Einzelfällen, wie Graf Plater und Prof. Szyrma, wurden besondere 
Anfragen gestellt. Durch Immediatbericht v. 8. Dez. hatte der Minister 
die Besorgnis ausgedrückt, daß Einwohner der Provinz Posen, vornehmlich 
aus der Kategorie der jüngeren exaltierten Köpfe, sich den Empörern 
anschließen würden. Darum erschien es ihm rätlich, in den Regierungs- 
amisblattern vor jedem derartigen Schritt unter Androhung der geseblichen 
Strafen zu warnen und zugleich die preußischen Untertanen, die sich in 
Polen befanden, mit derselben Verwarnung zu ungesaumter Rückkehr auf- 
zufordern. Weiter riet er zu einem Verbot der Ausfuhr von Waffen, Pferden, 
Pulver, Blei und anderen Kriegsbedürfnissen aller Art bei Strafe der Kon- 
fiskation. Der König stimmte un Kabinettsorder v. 10. Dez. den Vor- 
schlagen bei und genehmigte, daß Brenn sich wegen der Durchführung mit 
den Ministern der Finanzen und des Krieges ins Einvernehmen setzie. 
Finanzminister Maassen erließ am 23. Dez. an die Provinzialsteuerdirek- 
tionen der Grenzprovinzen den Befehl, sofort die Zollamter über das Export- 
verbot zu instruieren, während der Generalposimeister seine Behörden in 
gleicher Art zum Beistand aufrufen wollte. Bereitwillig leistete endlich der 
Kriegsminister v. Hake die erbetene Unterstützung und forderte die drei be- 
teiligten Generalkommandos auf, den Grenzbeamten Beistand zu leisten 
Syn gegen selbständig entdeckte Kontraventionen einzuschreiten (Verf. 
. jan. 1 š 

Um aber die wirtschaftlichen Beziehungen nicht zum Schaden der 
Posener Einsassen völlig zu unterbinden, hatte der dortige Oberpräsident 
Flottwell verfügt, daß im gewerblichen Grenzverkehr die Gespanne von ge- 
hörig legitimierten Reisenden gegen Kaution und Paßvermerk über die Zahl 
der Pferde die Grenze überschreiten dürften, was die Minister guthieken 
(Verf. 30. Jan. auf Ber. 16. Jan.). Ferner war er durch die täglich mehrmals 
gemachte Wahrnehmung von einem versuchten Schmu uggel mit Waffen, 
Pferden und Munition veranlaßt worden, von sich aus im Einverständnis mit 
dem kommandierenden General v. Roeder auf zweckdienliche Weise, wenn 
auch ohne öffentliches Verbot, diesen Unfug abzustellen (an d. Staatsmini- 
sterium 2.Jan.). Zu diesem Behuf war allen Kaufleuten innerhalb einer 2—3 
Meilen breiten Grenzzone ihr gesamter Vorrat an solchen Waren, auch an 
Sensen, gegen Empfangsbescheinigung abgenommen und ihnen bei Strafe 
der Beschlagnahme eine Wiederergänzung ihrer Bestände untersagt worden 
Der Oberpräsident bat deshalb, es bei dieser Anordnung zu belassen 
für seinen Bezirk die in Anlehnung an die Kabinetisorder v. 10. Dez. durch 
Maassen und Brenn am 23. an die Regierungen der Grenzprovinzen er- 
gangene, sich auf das Zollgeseh v. 26. Mai 1818 berufende Bekanntmachung 
aufzuheben. Die Entscheidung wurde schließlich dem Monarchen anheim- 
gestellt, der sie im Sinne Flottwells fällte. Um späteren zu hohen Entscha- 
digungsansprüchen vorzubeugen, wurde hierbei der Ankauf der Sachen 
durch den Staat empfohlen ( rder v.3. April an den Minister für Gewerbe- 
r v. Schuckmann, Maassen und Brenn auf Immedber. 

. Mär 

Es war natürlich, daß Preußen durch die ergriffenen Maßregeln eine 
Fülle von Ärger und Anfeindung seitens der Westmachte erwuchs, obwohl 
sein Verfahren keineswegs rigoros war. Beispielsweise wurde einem 
Grafen Łubieński nach langen Verhandlungen die Ausfuhr von Tuchen nach 
Russisch-Polen freigegeben. Aber dicke Aktenbande hauften sich an mit 
Korrespondenzen über die versuchte Einschwärzung von Gewehren aus 
Birmingham, über die Zufuhr von Pulver über Hamburg-Stettin oder auf 
anderen Wegen unter der Bezeichnung Pottasche oder Reis und dergi. mehr. 
Andererseits beklagte sich ungeachtet aller F Vorsicht die 
russische Regierung. Ihr Geschäftsträger v. Maltiz beschwerte sich über 
die Ausfuhr von Weißblech, obwohl solches in Preußen zur Kriegskonter- 


582 


bande gehörte, und über die anderer Waren nach Österreich und von dort 
nach Polen. Alopeus nahm Anstoß an der Durchlassung angeblicher Arzte, 
wenngleich französische Mediziner zurückgewiesen wurden. In seiner am 
1. April wegen der Überläufer überreichten Note heißt es: „Je viens d'être 
chargé par mon Empereur d'appeler l'attention du Ministère de Sa Mai. le 
Roi sur l'urgence des mesures que Sa Maj. Impériale désirait voir prendre 
à son Auguste Allié à l'égard des rebelles polonais qui viendraient se réfu- 
gier en Prusse, mesures qui seraient non seulement dans l'intérêt de la 
Russie, mais dans celui de tous les Gouvernements légitimes de l'Europe.“ 
Als besonders notwendig wurde es hingestellt, sich der Radelsfuhrer zu 
bemächtigen, die nach Preußen entweichen wollten. Wenn die Regierung 
energische Maßnahmen traf, um diese Individuen im Augenblick der Grenz- 
überschreitung bis zur Entscheidung des Caren unter strenge Aufsicht zu 
bringen, so leistete sie damit der kaiserlichen Sache einen werivollen Dienst. 
Nikolaus erwartete vertrauensvoll diesbezügliche Anordnungen seines 
Schwiegervaters, und die russische Regierung erklärte sich bereit, alle ent- 
stehenden Kosten zu übernehmen. 

Später forderte Alopeus, daß auch die im Gouvernement Wilna am Auf- 
stand beteiligten Flüchtlinge nicht nach Rußland zurückgelassen, sondern 
gleich ihren polnischen Leidensgefährten mit öffentlichen Arbeiten beschäf- 
tigt werden sollten. Brenn versicherte sofort, daß schon ein analoges Ver- 
fahren hinsichtlich der Litauer angeordnet sei. Trojdem überschritten in 
zwei Fällen russische Soldaten auf der Verfolgung polnischer Gegner die 
preußische Grenze, ungeachtet man hier ohnehin streng darauf sah, daß 
die ommlinge keine 12 Stunden in den Grenzkreisen geduldet wurden 
(Ber. d. Oberstleutnants und Fliigeladjutanten v. Lindheim an d. Ministerium 
d. Auswartigen, 7. Mai). 

Als unangenehm wurde es höheren Orts empfunden, daß die er gangenen 
Verfügungen trob aller Vorsicht doch häufig sehr bald in den Warschauer 
Zeitungen erschienen. Flottwell erwiderte jedoch lakonisch, daß in solchen 
Fallen auf Wahrung des Amtsgeheimnisses nicht zu rechnen ware und Nach- 
forschungen nach dem Angeber aussichtslos seien. Er brauchte nicht bei 
den Landratsamtern gesucht zu werden, denn auch in den Bureaus und 
Kanzleien der Regierungskollegien befänden sich unzuverlässige Elemente 
(Ber. 8. April), eine natürliche Folge der allgemein üblichen Verwendung 
von Polen. 

Erst am 12. Oktober erbaten die drei Minister die durch Kabinettsorder 
v. 24. erfolgende Wiederaufhebung des Ausfuhrverbots für Waffen usw. 
aber noch durch Note v. 13. April 1832 erbat die russische Regierung dessen 
Wiedereinführung, ein Verlangen, dem nun Schuckmann in seinem 
Votum v. 4. Juni kräftig entgegentrat. Er führte darin aus: „Zur Zeit der 
Revolution war das in unserem Handelsinteresse nicht begründete und nur 
durch die Politik gerechtfertigte Verbot ein Freundschaftsdienst. jetzt hand- 
habt Rußland seine Zollgesetze wie früher; es handhabt sie zum Nachteile 
unseres 5 nicht bloß in früherer Art, sondern es läßt täglich 
neue hinzutreten, und überdies fordert es von uns, daß wir in Dingen seines 
Interesses durch Ausfuhrverbote die Kontrolle seiner Einfuhrverbote über- 
nehmen und seine Mitwächter werden sollen. Ich habe diese Bemerkungen 
nicht unterdrücken können, weil die öffentliche Meinung sich ohnfehlbar dar- 
über aussprechen wird, und weil die Noten immer nur Anträge enthalten, 
sich gegen Rußland gefällig zu erweisen, ohne daß ich darin eine Spur von 
Gegengefälligkeit entdecken kann, ja sogar das Nationalgefühl verlehende 
Ungerechtigkeiten, wie z. B. die des Monopols für seine Dampfschiffahrts- 
gesellschaft mit stiller Duldung und Ergebung hingenommen werden sollen, 
damit wir nur ja die Großen in Rußland als Mitaktionairs nicht auf Preußen 
zürnen. Unter den nun einmal obwaltenden Umständen erkenne ich zwar 
an, daß der Antrag Rußlands, der selbst in der Fassung der Note des 
russischen Geschaftstragers v. 12. April d. J. nicht frei von Anmagung ist, 
nicht ganz wird von der Hand gewiesen werden können. Ich bin daher 
bereit, an einem Bericht an des Königs Majestät Teil zu nehmen, muß aber 


585 


bitten, dasjenige, was ich hier geäußert habe, in den Bericht aufzunehmen, 
damit S. M. endlich erfahre, daß Preußens Aufopferungen nur mit neuen 
Beeinträchtigungen von seiten Rußlands erwidert werden.” 

Erntete somit Preußen von seiten Rußlands nicht den ger . Dank, 
so ist es noch weit natürlicher, daß ihm seine Willfährigkeit schwere Ver- 
dachtigungen der Polen und Polenfreunde eintrug, denen eine gewisse Be- 
rechtigung nicht abgesprochen werden kann, wenn man den ideologischen 
Standpunkt vollkommener Neutralität als den gebotenen anerkennen will. 
Vor allem war die Förderung der militärischen Operationen bedenklich, die 
bei Paskiewitsch’ Weichselübergang wohl am deutlichsten zutage traf. 
Hierüber reichte das polnische Ministerium des Auswärtigen in Warschau 
eine 17 Seiten füllende Klageschrift ein, deren wichtigste Punkte folgende 
Angelegenheiten betrafen: 1. Beschränkung der individuellen Freiheit bei 
dem Grenzverkehr von Anfang Dezember 1830 ab. „Les communications des 
habitants du Royaume de Pologne avec les sujets Prussiens furent entra- 
vées de mille façons à la frontière, de la part des autorités prussiennes.” 
Besonders wurden aus der Fremde zurückkehrende Polen widerrechtlich 
festgehalten wie der maitre de requêtes Grzymała und die Gräfin Szembek. 
5. Erla von 2 Ordonnanzen, in denen den polnischen Einwohnern Schub 
zugesichert wurde, die mit ihrer Habe ihre Heimat verlassen und sich in 
Preußen ansiedeln wollien, und durch die die Einfuhr von Waren nach 
Preußen erlaubt wurde, deren Ausfuhr durch polnische Geseke verboten 
war, besonders Schlachtvich, selbst auf Richtwegen (chemins de traverse). 
10. Versorgung der russischen Armee schon im April 1831 durch die preu- 
Bischen Behörden mit Lebensmitteln und anderer Provision, Anlage von 
Magazinen und Ankäufe für russische Rechnung, was eine Verletzung der 
Neutralität bedeutet. 12. Entsendung von Spionen durch Preußen zur Be- 
obachtung der polnischen Bewegungen und Benubung der Cholera als Vor- 
wand zu der die Polen schädigenden Maßnahme der Orenzschließung. 
13. Sperrung der Grenze seit Errichtung des Sanitätskordons sogar für Ein- 
wohner, deren Güter vom Grenzzug durchschnitten werden, was eine Ver- 
letzung der Wiener Verträge bekundet. Auch diese Chikane wurde durch 
Spezialfälle belegt, mit dem bitteren Zusah, daß die preußischen Behörden 
ungeachtet des Sanitätskordons fur die Russen weiterhin tätig waren. 

Man nahm solche Anschuldigungen in Berlin keineswegs ganz leicht. 
Deshalb richtete am 20. Sept. Geheimrat Eichhorn im Ministerium des 
Auswärtigen an Flottwell das Verlangen, ihm bei einer Rechtfertigung be- 
hilflich zu sein. Er schrieb dazu: Von wie vielen Seiten unsere Regierung 
sich während der Dauer des polnischen Aufstandes wegen der den In- 
surgenten entgegengesebien Widerstandsmitte] und der hingegen der rus- 
zischen Armee angeblich gewährten direkten und indirekten Untersützung 
oder Erleichterung den heftigsten und leidenschaftlichsten Angriffen aus- 
gesebt gesehen hat, ist gewiß Ihrer Aufmerksamkeit nicht entgangen. Be- 
sonders haben die englischen und französischen Blätter sich gleichsam zu 
überbieten gesucht, was, z. T. wenigstens, wohl seinen Grund in dem 
Treiben und Wirken der in Paris und London anwesenden Abgeordneten der 
aufständischen „Machthaber“ ) in Warschau gehabt haben mag. Unsere 
Regierung konnte im Bewußtsein ihrer lediglich aus einer treuen Aufrecht- 
haltung der von ihr abgeschlossenen Staats- und völkerrechtlichen Verträge 
als notwendige Folgen sich ergebenden Motive, womit alle ihre Anordnungen 
und Zulassungen übereinstimmen, es um so mehr verschmähen, sich auf eine 
ausführliche Bekämpfung jener Ausfälle einzulassen, als diese aus der 
leidenschaftlichsten Befangenheit über die Weliverhältnisse ihren Ursprung 
nahmen und fortdauernd dadurch genährt wurden. Wenn sie gleichwohl 
einmal auf Veranlassung einer in den polnischen Zeitungen enthaltenen Be- 
schwerde und ein anderes Mal infolge eines in dem französischen journal 
„Le Messager des Chambres” befindlichen Aufsatzes sich zu berichtigenden 


2) Dieser Ausdruck ist zur typischen Bezeichnung des amtlichen Stils 
geworden. 


584 


Artikeln vermittelst der Staatszeitung verstanden hat, so geschah solches 
nur ganz allgemein und lediglich zu dem Zweck, um durch Schweigen bei 
Oelegenheit der Verbreitung ganz falscher Tatsachen in viel gelesenen 
öffentlichen Blättern dem Olauben an deren Richtigkeit nicht auch bei Un- 
befangenen Vorschub zu leisten. Hierbei würde es an und für sich nun 
allerdings sein Bewenden haben können, wenn es nicht vor einiger Zeit 
noch den inzwischen von der Bühne abgetretenen polnischen Machthabern 
gelungen wäre, einen sehr ausführlichen, in ebenso anmaßendem wie leiden- 
schaftlichem Ton abgefaßten Aufsatz in die Hände des Ministeriums des 
Auswärtigen gelangen zu lassen, worin jene früheren Beschwerden erneut 
und durch mehrere faktische Momente zu begründen versucht wird. Aller 
Wahrscheinlichkeit nach haben jene Machthaber ihrer Zeit auch Gelegenheit 
gefunden, diesen Aufsatz durch ihre Organe zur Kenntnis der Ministerien 
einiger anderer europäischer Mächte zu bringen und es kann sich daher 
früher oder später wohl fügen, daß im Lauf weiterer diplomatischer Ver- 
handlungen oder auch bei anderer Veranlassung von der einen oder an- 
deren Seite auf diesen Aufsatz Bezug genommen wird. Tritt ein solcher 
Fall wirklich ein, so ist es für das Ministerium von besonderer Wichtigkeit, 
sich in bezug auf jedes einzelne polnischerseits zur Sprache gebrachte 
Moment im Besitz ebenso gründlicher und vollständiger als zuverlässiger 
Materialien über den wahren Zusammenhang der diesfälligen Tatsachen zu 
wissen, um danach seine Erklärung zur N hl solcher falschen An- 
schuldigungen und zur Verwischung nachteiliger Eindrücke abzufassen. Da 
Flotiwell von seinem amtlichen Standpunkt aus unfehlbar die umfassendsten 
Mittel zu einer solchen genauen Feststellung der Tatbestände besaß, wurde 
ihm wie den Oberpräsidenten von Preußen und Schlesien ein Auszug des 
Aufsages zugestellt, um baldigst das Ergebnis seiner diesfälligen Recherchen 
einzusenden. 

Nach eigenhändigem Konzept genügte er dem Auftrag am 3. Okt. Er 
zweifelte nicht, daß es seinen Amisgenossen ebenso leicht werden würde, 
die leidenschaftlichen Beschwerden zu widerlegen. Er erbot sich, auf Ver- 
langen des Ministeriums noch spezielle Beweise für seine Darlegungen zu 
erbringen, die ihm zu dem angeführten Zweck indessen nicht erforderlich 

ienen. Zunächst prazisierte er den Standpunkt, von dem allein die 
vorgebrachten Klagen richtig gewürdigt werden konnten: Das Königreich 
Polen war durch seinen Aufstand und so lange es sich in den Händen der 
insurrektionellen Machthaber befand, keineswegs in die Reihe der euro- 
päischen Mächte getreten, die enseitigkeit anerkennen und durch Ge- 
sebe des Völkerrechts und Staalsverträge miteinander verbunden sind. 
Durch die Revolution hatte Polen seine Pflichten zu seinem rechtmäßigen 
Herrn sowie die Orundverfassung tief verletzt, die die anderen europäischen 
Staaten garantiert hatten. Der Ausbruch der Revolution geschah auf eine 
Weise und wurde durch Handiungen bezeichnet, die notwendig eine große 
Aufmerksamkeit Preußens auf seine ehemals polnischen Landesteile in An- 
spruch nehmen mußten. Schon nadr Ausbruch der französischen Revolution 
kamen in der hiesigen Provinz namentlich unter dem Adel viele unverkenn- 
bare Anzeichen einer feindseligen Aufregung und Stimmung gegen die 
Regierung vor. Die Trennung der Polen von den Deutschen in allen Be- 
ziehungen wurde bemerkbar. Vornehme Polen hielten sich längere Zeit 
an fremden Orten auf, ohne sich über einen unverdächtigen Zweck dieses 
Aufenthalts ausweisen zu können. Andere reisten nach Paris, ganz un- 
bezweifelt wegen der politischen Verhältnisse ihres Vaterlandes. Geheime 
nächtliche Zusammenkünfte fanden statt. An den Stragenecken fand man 

lage, die an Polens Wiederherstellung mahnten. Durch die War- 
schauer Ereignisse wurde die Ruhe und Ordnung der hiesigen Provinz in 

höherem Maße bedroht. Diesseitige Untertanen wurden ganz un- 
umwunden zur Teilnahme an den Unruhen im Königreich hinübergerufen 
und selbst die Bewohner Schlesiens wurden teilweise zu einer solchen Be- 
feiligung aufgefordert. Werber für die Sache Polens, die sich keineswegs 
auf die jebigen Grenzen des Königreichs beschränken sollte, zeigten sich 


585 


hier in allen Ständen unter allerlei Gestalten. Teilnahme an der Sache 
Polens und am Umsturz der bestehenden Regierungen wurde, soweit es 
irgend möglich war, ohne dem Richter zu verfallen, von Kanzeln und Lehr- 
stühlen gelehrt. An die besser gesinnten Einwohner ergingen fortwährend 
die dringendsten, unstatthaftesten Zumutungen, sich der polnischen Sache 
anzuschließen und sie auf alle Weise zu unterstüken. Vornehme Polinnen 
stifteten Vereine für ihr Vaterland, zogen durch das Land, um Geldbeiträge 
zu sammeln. Sehr bedeutende Geldsummen, Vorräte an Waffen, Munition, 
Tuch, eine große Zahl von Pferden wurden aus der Provinz nach Polen 
geführt. Gutsbesiber mit ihrem vollständig ausgerüsteten Gesinde, Hand- 
werker mit ihren Gesellen und Lehrlingen, Lehrer mit ihren Schülern, die 
vom Staat mit Wohltaten uberhauft waren, Geistliche und Beamte zogen 
nach Polen. Kinder wurden wider Willen und Wissen ihrer Eltern, die da- 
durch dem tiefsten Gram verfielen, fortgeführt. Mehrere Pläne, um einen 
offenen Aufstand im Posenschen hervorzurufen, wurden ausgesponnen und 
würden unfehlbar zur Reife gedichen sein, wäre nicht die Siimme ge- 
mäßigter Polen, die an der Spitze der Warschauer Regierung standen, über- 
wiegend gewesen und hatte man es ferner nicht bedenklich gefunden, bei 
den vorhandenen Mitteln damals schon den offenen Kampf gegen Preußen 
und Rußland gleichzeitig aufzunehmen, wäre die preußische Regierung 
minder weise und vorsichtig verfahren und hätten die Gutsbesiber an den 
unterdrückten Bauern, denen der Staat das Eigentum verlieh, einen besseren 
und sicheren Freund gefunden. 

Unzweideutige Beweise liegen in hinreichender Menge vor. Im allge- 
meinen kann die Antwort auf die Frage, was Preußen bei einer derartigen 
Sachlage zu tun hatte, nicht schwierig sein. Es kam zunächst auf die Siche- 
rung des eigenen Landes gegen die von allen Seiten heimlich und öffentlich 
versuchten Angriffe auf die gesebliche Ordnung und Ruhe darin an. Die 
Grundsätze, die Preußen in dieser Beziehung annahm und verfolgte, konnte 
es durch die Sophismen der Nichteinmischung in die Angelegenheiten eines 
anderen Staates nicht bestimmen lassen und der treuen Aufrechterhaltung 
der mit Rußland bestehenden Verträge nichts vergeben. Über diese sowie 
über die Rücksichten hinaus, die zur Erhaltung der Landeshoheits- und Re- 
gierungsrechte im eigenen Land notwendig waren, ist Preußen nie gegangen, 
hat sich nie unmittelbar in die Angelegenheiten Polens zu Rußland gemischt, 
hat jedes feindselige Bezeigen nach außen und jede aufreizende Maßregel 
im Inneren soweit wie tunlich vermieden, hat sich immer bestrebt, den 
erlaubten Verkehr mit dem Nachbarland, soweit irgend die Verhalinisse 
es gestalteten, aufrecht und ungestört zu erhalten. 

Zu den Einzelpunkten führte Flottwell aus: 

ad 1: Es ist wahr, aber durch die Verhältnisse des eigenen Landes und 
Rußland gegenüber sehr gerechtfertigt, daß die diesseitigen Behörden mit 
dem Ausbruch der Revolution in Warschau zur genausten Aufmerksamkeit 
auf die paßpolizeilichen Vorschriften und auf alle Reisenden aus und nach 
Polen und im Inneren des Landes aufgefordert wurden. Den vielen Polen, 
die aus Frankreich, Italien, der Schweiz und den Niederlanden, ausgebildet 
in den dortigen Schulen der Revolution, heimwärts eilten, um hier die mit- 
gebrachten Grundsätze in das Leben zu überführen, wurde der Durchgang 
durch Preußen nur nach sorgfältiger Prüfung ihrer Unverdächtigkeit und mit 
dem Visum des russischen Gesandten, nach dem 3. Dez. 1830 ausgestellt, 
gestattet. Reisenden aus dem Königreich wurde der Eintritt nur erlaubt, 
wenn sie in ihr Vaterland oder an ihren vorigen Aufenthalt zurückkehren 
oder gewerbliche Zwecke verfolgen wollten. Bei der Unzuverlassigkeit 
vieler Grenzbehörden wurde es nötig, derartige Reisende hierher oder nach 
Breslau zu dirigieren, um ihre Verhältnisse näher zu ergründen. Personen 
höherer Stände, die angeblich aus Polen flohen, um den Unbilden der Re- 
volution zu entgehen, wurde zur Vermeidung von Unruhen nicht erlaubt, in 
einer Grenzprovinz ihren Aufenthalt zu nehmen. Es war nicht abzuleugnen, 
daß durch diese von der aufgeregten Zeit gebotenen Maßregeln manchen 
Reisenden Weiterungen erwachsen sind und sich die Erreichung des Reise- 


886 


ziels verzögert hat. Alle Polen, die gekommen waren, um ein Asyl zu 
suchen, um gewerbliche Zwecke oder Familienangelegenheiten zu besorgen, 
konnten aber das Zeugnis nicht versagen, das ihnen bei Beglaubigung ihrer 
Unverdachtigkeit mit Milde und Schonung begegnet und keine ferneren 
Hindernisse in den Weg gelegt worden sind. Statt vieler brauchie nur er- 
innert zu werden an Graf Ossoliński, Major Machnicki, Gutsbesiker v. Dunin, 
die Damen Poniatowska und Brzostowska. Die Gräfin Szembek hatte ohne 
Schwierigkeit die Aufenthaltserlaubnis bei ihrem Schwiegervater im Schild- 
berger Kreis erlangt. Bei Graf Albert Grzymała, bei Handlungskommis, 
Bankageniten, Richtern und anderen konnte nicht geleugnet werden, daß sie 
von der revolutionären Regierung entsendet wurden, um die Ziele des Auf- 
standes zu fördern oder um Effekten der polnischen Bank, die als ein unter 
dem Schub und der Bürgschaft der kaiserlich russischen Regierung stehendes 
Eigentum zu betrachten waren, zu versilbern oder um Verbindungen im Aus- 
land zugunsten der Revolution anzuknüpfen. Grzymala wurde die Anwesen- 
heit in Berlin, wohin er mit Graf Mostowski reiste, gestattet. Er ist von da 
nach München und Paris gefahren. 

ad 5: Es wird durchaus in Abrede gestellt, daß seitens der preußischen 
Regierung Bekanntmachungen ergangen sind, wonach polnischen Untertanen, 
die mit ihrer Habe auf diesseitiges Gebiet kommen wollten, Schuß und Auf- 
nahme zugesichert worden ist, oder zur Einfuhr von Waren ermuntert 
wurde, deren Export die polnischen Gesebe und Verordnungen untersagien. 
Dagegen ist denjenigen polnischen Einsassen, die die Sicherheit ihrer Person 
gefährdet sahen, die wider Willen zum Waffendienst gegen ihren rechi- 
mäßigen Herrn gezwungen werden sollten und preußischen Schutz nach- 
suchten, lediglich aus Rücksicht der Menschlichkeit dieser gewährt worden. 
Derartige Flüchtlinge gemeinen Standes sind mit den notwendigen Geld- 
mitteln zu ihrer Subsistenz versehen worden, bis ihnen beim Festungs- und 
Chausseebau Gelegenheit gegeben werden konnte, ihren Unterhalt selbst 
zu verdienen. Der bei weitem größte Teil ist jetzt bereits in seine Heimat 
zurückgekehrt. 

ad 10: Im April sind im Großherzogtum keine Magazine zur Verpflegung 
der russischen Armee angelegt worden. Was in dieser Beziehung von der 
preußischen Regierung getan und zugelassen ist, scheint durchaus im Ein- 
klang mit den Verhältnissen zu siehen, worin Preußen zu Rußland und einem 
im Aufstand begriffenen Teil der Untertanen desselben sich befindet»). 

ad 12: Es ist wahr, daß unsere Regierung bei der großen Unsicherheit 
der in Polen öffentlich bekannt gemachten Nachrichten über die politisch- 
militärische Lage sich sicherer Leute bedient hat, um die notwendigen zu- 
verlässigen Nachrichten zu erlangen. Wird irgendeine Regierung in ähn- 
licher Lage dies nicht tun? Hat etwa Polen sich in letzter Zeit dieses Mittels 
in bezug auf Rußland und Preußen nicht bedient? Es ist gar nicht schwierig, 
nachzuweisen, wie viele Briefe und Nachrichten durch besondere Boten über 
die kleinste Bewegung unserer Truppen, über das unbedeutendste Ereignis 
nach Polen gegangen sind. Daß der im April-Mai bei dem Ausbruch der 
Cholera gezogene Grenzkordon den erlaubten und unerlaubien Verkehr 
noch mehr hemmte und Polen sehr unbequem war, ist cinleuchiend, aber 
nach staats- und völkerrechtlichen Grundsätzen nicht abzuleiten, daß des- 
halb von der Ergreifung dieser Maßregel abgestanden werden sollte, wenn 
die Möglichkeit vorhanden war, dadurch die verderbliche Seuche von der 
Grenze fernzuhalten, um so weniger als trob allem, was darüber gesprochen 
wurde, polnischerseits gar nichts geschah, um die Epidemie zu bannen 
und ihre Verbreitung zu verhindern, sondern alles dagegen. Die Unter- 
stellung, Preußen habe in der Überzeugung, die Cholera lasse sich nicht 
abwehren, lediglich aus politischen Gründen den Grenzkordon gezogen, ist 
so entblößt von jedem nur scheinbaren Grunde, daß man sie als ganz absurd 
durchaus von der Hand weisen muß 


3) Dieser nur durch die Staatsraison gerechifertigte Punkt wird offen- 
bar als etwas bedenklich empfunden und auffallend kurz abgetan. 


887 


ad 13: Ehe der Grenzkordon zur Ausführung kam, wurden den Orenz- 
bewohnern dessen Anordnungen und Bestimmungen bekannt gemacht und 
ihnen 48 Stunden Frist gewährt, um ihre dies- und jenseitigen Geschäfte zu 
regulieren. Ungeachtet aller n wurde von jenseitigen Einsassen 
die Grenzsperre nicht gehalten, worüber vielfache Beweise vorliegen. Es 
wurde unumgänglich nötig, durch ein Strafgesetꝭ dieserhalb etwas Näheres 
zu bestimmen, was am 15. Juni erfolgte. Dieses Gesetz wurde durch das 
preußische Konsulat in Polen zur öffentlichen Kenntnis gebracht. Die Grenz- 
truppen wurden mit genauer Anweisung versehen, wann und wie sie von 
ihrer Waffe bei unbefugter Grenzüberschreitung Gebrauch machen sollten. 
Nach den Akten liegen keine Beweise vor, daß ein unrechtmäßiger Waffen- 
gebrauch eingetreten ist und dadurch jenseitige Untertanen verletzt sind, 
wenngleich dies behauptet wird. Den Einzelfällen, wo dies geschehen sein 
soll, nachzuspüren, dürfte jest erfolglos sein. Es leuchtet wohl ein, daß die 
von den polnischen Behörden deshalb aufgenommenen procés verbaux nicht 
als gültige Beweise angesehen werden können. Dagegen zählen unsere 
Akten mehrere Vorkommnisse auf, wo polnische Einsassen Opfer einer 
Nichtbeachtung der ihnen bekannten gesetzlichen Bestimmungen wurden, so 
im Kreis Adelnau und Schildberg, wo Schreckschüsse nicht gefruchtet hatten. 
Aus derartigen Einzelfällen feindliches Betragen und Nationalhaß sowie Ver- 
letzung des Wiener Traktats herleiten zu wollen, ist bei unbefangener Be- 
trachtung nicht wohl möglich. Bei der ungünstigen Beschaffenheit der Landes- 
grenze gegen Polen war es unausbleiblich, daß dies- und jenseitige Unter- 
tanen durch den Militärkordon in ihrer Eigentumsbenubung gestört wurden. 
Ausnahmen von dem durchgreifenden System der Grenzsperre konnten in- 
dessen nicht zugelassen werden, und die Rücksicht auf einzelne mußte not- 
wendig der auf das Ganze weichen. Nie ist den jenseifigen Einwohnern 
verboten worden, sich der Grenze auf 100 Schritt zu nähern, wohl aber die 
Einrichtung getroffen, wo es die Ortlichkeit irgend gestattete, den polnischen 
Besitzern die Benutzung ihrer diesseits gelegenen Wiesen und Hutungen zu 
ermöglichen. Namentlich ist den Bewohnern von Bolestawice auf diese 
Weise geholfen worden. Allen übrigen Bewohnern wurde die Ausnußung 
ihrer Besibungen unter Quarantaincerleichterung frei gestellt. 

Daß gleich nach Revolutionsausbruch auf preußisches Gebiet ge- 
flüchtete russische Truppen wie die einer befreundeten Macht behandelt 
worden sind, ist in dem Verhältnis Preußens zu Rußland sehr wohi be- 
gründet. Quarantaine haben sie wie andere über die Grenze kommende 
Personen jeder Zeit durchgemacht. Die sonst hinsichtlich dieser russischen 
Truppen in der Beschwerde aufgeführten Tatsachen sind jedenfalls nicht in 
der Provinz Posen vorgekommen. Dasselbe gilt von der Anlegung rus- 
sischer Militärmagazine auf preußischem Boden und den nach Thorn ge- 
brachten preußischen Soldaten, die in der Schlacht bei Ostrolenka mit- 
gefochten haben sollen. Unter den zum angeblichen Studium der Cholera 
nach Warschau reisenden französischen Ärzten befanden sich nachgewie- 
senermaßen mehrere französische Offiziere, die am Aufstand teilnchmen 
wollten, so daß eine Prüfung ihrer persönlichen Verhältnisse vollauf gerecht- 
fertigt war. Wahr war es endlich, daß während der Revolution das Brief- 
geheimnis nicht geachtet wurde, aber die für Ruhe und Ordnung des Landes 
verantwortlichen Behörden wurden durch die herrschenden Zustände ge- 
zwungen, vom Briefwechsel verdachtiger Personen Kenntnis zu nehmen. 
Indessen darf versichert werden, daß dabei mit aller Schonung und Vor- 
sicht verfahren worden ist. Die polnischen Behörden konnten bei einiger 
Gewissenhaftigkeit die Behauptung nicht wagen, daß sie ein anderes Ver- 
fahren beobachtet hatten. Sonst konnten ihnen bei Vernehmung der damals 
in Warschau tätigen Postbeamten unfehlbar Beweise des Gegenteils vor- 
gelegt werden. 

Alles in allem ist aus den geschilderten Vorgängen deutlich zu er- 
kennen, daß Preußen aus staatlicher Notwendigkeit zwar weit mehr als das 
anfangs in seiner Haltung sehr reservierte Osterreich der Revolution gegen- 
über eine unbedingt ablehnende Stellung einnahm, andererseits aber die 


588 


Gebote der Humanität nie außer acht ta a und daß die von seiten des 
Polentums auch bei dieser Gelegenheit betriebene, in weiten Kreisen des 
deutschen Volkes begeistert aufgenommene Greuelpropaganda gegen den 
vermeintlichen Henker Rußlands®) jeder Orundla e entbehrt. Der Staat hat 
vielmehr das Licht der geschichtlichen Kritik a in der Frage seiner Stel- 
lung zur Warschauer Novemberrevolution in keiner Weise zu scheuen. 

Auffallend ist aber weiter der Unterschied zur Haltung Bismarcks i. J. 
1863, der damals unbekümmert um den Widerspruch des von Polenbegeiste- 
rung sprühenden deutsthen Liberalismus und des Landtags seine Politik 
folgerichtig und mit offenen Karten durchführte, und vermöge der Alvens- 
lebenschen Konvention nicht bloß die Westmächte ausschaliete, sondern die 
polnische Frage als außenpolitisches Instrument zur Bindung Rußlands an 
der Seite Preußens auszunutzen verstand. Hiergegen sticht die ängstliche 
und auf Halbheiten gegründete Taktik a Staatsmänner Friedrich Wil- 
helms Ill. allerdings wenig vorteilhaft 


«) Am bekanntesten ist unter n literarischen Ergüssen vielleicht 
Platens: „Diesen Kuß den Moskowitern .. 


589 


DER FUNDAMENTALE ANTEIL DES UKRAINISCHEN 
AN DER SLAVISTIK 


Von 
Stefan Smal Stockyi. 


(Vortrag, gehalten am 24. Mai an der Berliner Universität auf Einladung 
des Ukrainischen Wissenschaftlichen Instituts.) 


Die Slavistik wurde bekanntlich mit dem Studium des Kirchenslavischen 
begründet. Das Kirchenslavische wird noch immer, und mit vollem Recht, 
als Ausgangs- und Brennpunkt der slavischen Philologie angesehen, ob- 
wohl sich in der neueren Zeit ihr Interesse immer mehr ihrer eigentlichen 
Aufgabe, der vergleichenden Forschung der slavischen Sprachen und der 
Erforschung des Urslavischen, zuwendet. Jedenfalls bildet das Kirchen- 
slavische auch für diesen Zweck einen sehr festen Stüßpunki. Und so ist 
es begreiflich, daß der erste Kongreß slavischer Philologen, der für den 
Herbst d.]. nach Prag einberufen wurde, dem Andenken Dobrovskys ge- 
weiht ist, der mit seinen „institutiones linguae slavicae dialecti veteris“ 
1822, also vor hundert Jahren, den Grund für die moderne slavische Philo- 
logie gelegt hat. . ; . 

Die in ganz ausgezeichneter Weise vom Prof. Weingart durchgeführte 
Analyse dieses Werkes ergibt aber die Tatsache, daß die Slavistik vollauf 
Grund hätte, zugleich des dreihundertjährigen Jubiläums des Erscheinens 
der ersten vollständigen Grammatik der kirchenslavischen Sprache von 
Meletij Smotryckyj i. J. 1618 wenigstens pietatvoll zu erwähnen, da 
es feststeht, daß Dobrovsky nicht allein an diese Grammatik anknüpft, son- 
dern auch das von Smotryckyj geschaffene System vielfach befolgt und 
überhaupt Smotryckyj als seinen Lehrer im Kirchenslavischen ansieht, dessen 
Grammatik so recht eigentlich den Grund zu seinen institutiones gelegt 
hatte. Wir wollen dadurch keineswegs den sonstigen großen Unterschied 
beider Grammatiken verkennen, nur betonen möchten wir im vorhinein, daß 
die Grammatik Smotryckyjs, die der von Dobrovsky um zwei Jahrhunderte 
vorangegangen war, in der damaligen Zeit ganz gewiß eine große Leistung, 
eine epochale Erscheinung gewesen ist. Es ist daher Pflicht der Slavishk, 
zumindest Pflicht der ukrainischen Slavistik, des Mannes, seines Werkes 
und jener Zeit zu gedenken, in der die Ukrainer und ihr Geist schöpferisch, 
vorbildlich und für mindestens zwei Jahrhunderte führend aufleuchtete und 
befruchtend wirkte, bis dann zu Beginn des 19. Jahrh. die Führung an die 
großen Geister der Cechen überging. 

Die große geistige Bewegung im Westen Europas hatte nämlich im 
16. Jahrh. das Erwachen der ukrainischen Nation zu neuem geistigen Leben 
zur Folge, das sich in der Ubersebungstatigkeit der Bibel, in reger Orga- 
nisation des Schulwesens, in literarischer und wissenschaftlicher Tätigkeit 
manifestierte. Im Banne des westeuropaischen geistigen Lebens stehend, 
weist diese Tätigkeit dennoch große Selbständigkeit auf. Sie ist keines- 
wegs einfache Nachahmung und Übertragung fremder Muster auf eigenen 
Boden. Es galt vielmehr die Errungenschaften des Westens der eigenen 
nationalen Kultur, eigenen geistigen Bedürfnissen entsprechend, anzupassen 
und dies alles harmonisch auszubauen. In dieser eigenartigen Anpassung 


590 


und Harmonisierung äußert sich die Oröße des Geistes der ukrainischen 
ation. 

So war die jesuitische Schule das naheliegendste Muster für die Ein- 
richtung der ukrainischen Schulen. Es wurde aber von Ukrainern nur der 
äußere Rahmen dieser Schule übernommen und mit eigenartigem Inhalt 
ausgefüllt. Gegenüber dem vollständigen Übergewicht der lateinischen 
Sprache in der Jesuitenschule wurde in der ukrainischen auf die Pflege der 
griechischen Sprache und canz besonders des Kirchenslavischen das Haupt- 
gewicht gelegt. Demgemäß mute man für die entsprechenden Lehrbücher 
Vorsorge trefien. So entstand die erste griechische Grammatik in einer 
slavischen (ukrainischen) Sprache, nämlich Adelphotes im Jahre 1591 in Lem- 
berg, so zunächst die kleine kirchenslavische Grammatik von Lavrentius 
Zizanij 1596 und dann 1618 die große Grammatik des Kirchenslavischen von 
Meletij Smotryckyj, so die große vollständige kirchenslavische Bibel von 
Ostroh 1580/81, so zunächst das kleine kirchenslavisch-ukrainische Worter- 
buch von bereits genanntem Zizanij, dem dann 1627 das größere Wörter- 
buch von Pamva Berynda folgte, so schließlich in Kiev, gewissermaßen als 
Krönung der damaligen kulturellen Bestrebungen der Ukrainer, zwar in An- 
lehnung an westeuropäische Hochschulen, aber nichtsdestoweniger eine 
eigenartige erste slavische, speziell ukrainische Hochschule, die 
vom Metropoliten Peter Mohyla 1632 gegründete Akademie, eine Lehr- 
anstalt, die fast zweihundert Jahre die einzige Lichtspenderin für alle Slaven 
orientalischen Glaubens war, von ihnen fleißig aufgesucht wurde und ins- 
besondere nach Moskau die höhere Bildung vermittelt hatte. 

Indem wir aber von der großen Bedeutung und zivilisatorischen Wirk- 
samkeit der Kiever Akademie jetzt absehen, wollen wir unsere Aufmerk- 
samkeit der Grammatik des Kirchenslavischen von Smotryckyj zuwenden. 
Ihre Bedeutung ist zunächst daraus ersichtlich, daß sie viele Auflagen er- 
lebte, so gleich, wie dies Weingart mit großer Oründlichkeit auseinander- 
sekt, im nächsten Jahre (1619) in Jevie bei Wilna, ferner im Auszug 1621 in 
Wilna, eine neue Auflage 1638 in Kremeneb, 1648 in Moskau, in welcher 
Auflage ihre Sprache bereits russifiziert erscheint; noch mehr wurde sie 
russifiziert in der Ausgabe von Polikarpov, Moskau 1721; desgleichen ist 
die von Theodor Maximov bearbeitete, in Petersburg 1725 erschienene Aus- 
gabe stark russifiziert. Noch im Jahre 1794 erschien sie in Kiev in Bearbei- 
tung Apollos’. Aus Smotryckvi schöpfte Lomonosov, der Verfasser der 
ersten russischen Grammatik (Petersburg 1755), der Smotryckyj dort „das 
Tor der Gelehrsamkeit“ (vrata učenosti) nennt, dann noch die Petersburger 
Akademie der Wissenschaften 1802, ja sogar noch Rozanov (Moskau 1810), 
Vinogradov (Petersburg 1813) und Peninskij (Petersburg 1825). 

Die Grammatik Smotryckyis hatte aber auch großen Einfluß bei den 
Südslaven. Denn abgesehen davon, daß viele Serben in der Kiever Aka- 
demie studierten, wurde sie nachweislich in vielen Exemplaren nach Serbien 
gebracht und danach 1755 in Rimnik abgedruckt. Sie liegt auch der 1794 
und 1811 erschienenen Grammatik von Abraham Mrazovié zugrunde. Sie 
drang auch zu den Dalmatiner Kroaten durch Vermittlung des ukrainischen 
Bischofs Terleckyj aus Cholm durch, wo Levakovié und Karaman bei der 
Ausgabe von glagolitischen Kirchenbüchern (1648, 1741) nach ihr die kirchen- 
slavischen Texte ausbesserten und Sovič sie gar ins Lateinische ubersebte, 
welche Übersetzung im Manuskript beim Unterricht des Kirchenslavischen in 
den geistlichen Seminaren dort verwendet wurde. 

Ja sogar in nichtslavischen Ländern übte diese Grammatik ihren Einfluß 
aus. So findet sich in der Bibliothek von Upsala ein Exemplar dieser Gram- 
matik mit lateinischer Marginalübersetzung von Sparvenfeld, dem bekannten 
schwedischen Polyglotten (1655—1727) und Verfasser des großen kirchen- 
slavisch-lateinischen Wörterbuchs (Moskau 1686). — In Oxford erschien 1696 
Grammatica russica von Henr. Wilh. Ludolf, die nur die Formenlehre, und 
zwar nach Smotryckyj, enthält. Auch die 1706 erschienene Grammatik von 
Kopievié (einem Freund Peters des Großen) enthielt eigentlich nichts an- 
deres, als die Formenichre der Grammatik Smotryckyjs. 


591 


überdies gibt es auch noch handschriftliche kirchenslavische Gramma- 
tiken, wie z. B. die von Arsenij Kocak aus der 2. Hälfte des 18. Jahrh, 
die unverwüstliche Spuren der Smotryckyjschen Grammatik aufweisen, 
worüber Pankevyé in wissenschaftlichen Mitteilungen des Vereins Prosvita, 
Užhorod, 1927, berichtet. 

_ So war diese Grammatik volle zwei Jahrhunderte bis Dobrovsky die 
einzige Quelle der Kenntnisse des Kirchenslavischen, ohne daß sie durch 
eine 5 ersetzt werden konnte. Dem Unterrichte des Kirchenslavischen, 
den ich als Zögling des Stauropigianischen Institutes in Lemberg anfangs 
der 70er Jahre vorigen Jahrhunderts genoß, lag auch noch die Grammatik 
von Mrazovié, also eigentlich Smotryckvi. zugrunde. 

Es ist klar, daß das Kirchenslavisch, das Smotryckyj lehrte, das ihm 
geläufige Kirchenslavisch war, wie es in den in der Ukraine verwendeten 
Kirchenbüchern, sonstiger kirchlichen Literatur und insbesondere in der 
Ostroger Bibel vorlag. Es geht ferner aus der Grammatik auch vollkommen 
klar hervor, daß die in der Ukraine übliche Aussprache des Kirchenslavischen 
in ihr ihren Ausdruck fand, was auch anders nicht denkbar ist. Wer aber 
mit Rücksicht darauf, daß im 19. jahrh. in den Kirchen der Ukraine die 
russische Aussprache des Kirchenslavischen galt, noch Beweise hierfür ver- 
angi e, dem werden diese Tatsache die aus damaliger Zeit erhaltenen latei- 

en Transkriptionen des Kirchenslavischen bezeugen. Die russische 
Aussprache wurde in der Ukraine erst mit dem Ukas des Caren Peter d. Gr. 

v. J. 1721 verordnet, wurde aber nicht überall und nicht gleich befo olgt. Die 
ukrainische Aussprache des Ksl. betrifft nicht nur die rag pats der Zeichen 
für Nasalvokale als ja, ju, nicht allein den Lautwert der Zeichen für Halb- 
vokale, sondern insbesondere den Lautwert von e, i, v. &, desgleichen von 
g als h. Dazu kommen noch die dem Ukrainischen eigentümlichen verschie- 
denen Erweichungen der Konsonanten, seine Assimilations- und Auslaut- 
gese u. dergi. Leider ist diese Tatsache bei den Slavisten bis in unsere 
age unbeachtet geblieben. Dobrovský, verleitet durch die in seinen Hän- 
den befindliche Moskauer Ausgabe der Smotryckyjschen Grammatik v. J. 

1648 und durch die Art, wie er auf seiner russischen Reisc gewiß das 
Kirchenslavische im Munde der Russen gehört hatte, leistete dem Vorschub, 
daß man auch jet noch das Ksil, auch das Altkirchenslavische, öfters in 
russischer Art liest und von einer einheitlichen russischen Redaktion des 
Ksl. spricht. Es ist höchste Zeit, daß dieser Irrtum entsprechend unseren 
besseren Kenntnissen des Aksi, endlich ausgemerzt werde und daß die 
Slavisten sich dessen bewußt werden, daß mit Rücksicht auf die Aus- 
sprache, aber auch sonst, uns in der sogenannten russischen Redaktion des 
Ksi. mindestens drei oder gar vier Redaktionen vorliegen: die ukrainische 
(Kiever), die russische (Moskauer), die Pskover und wohl auch die weiß- 
russische Redaktion. In der Zeit, wo wir in der Slavistik endlich von Buch- 
staben, mit denen lange genug Wissenschaft getrieben wurde, zu Lauten 
vorgedrungen sind, ware es überhaupt angezeigt, auch noch manche andere 
damit zusammenhängende Ansichten in der Slavistik einer Überprüfung und 
Korrektur zu unterziehen. 

Hat die Slavistik bis jezt das Kirchenslavische als eine tote Sprache 
behandelt und auf Grund alter handschriftlicher Denkmäler studiert, so wird 
ihr durch die bei Smotryckyj festgestellte Forderung, daß es „in gewöhn- 
lichen Schulgesprächen von Schülern (also mündlich) angewendet werde“, 
und durch die Tatsache der Russifizierung seiner Grammatik in Moskau der 
Weg gewiesen, auch noch nach dieser Richtung hin die Studien zu ergänzen. 
Es dürfte gewiß nicht allein sehr interessant, sondern auch von großem 
Nuben für die Wissenschaft sein, das Kirchenslavische, wie es jetzt noch im 
Munde der Geistlichkeit, der Kirchensänger und des Volkes wirklich lebt, 
auf dem ganzen großen Gebiete eingehend zu studieren. Eine richtige 
phonetische Darstellung des noch „lebenden“ Kirchenslavisch aus verschie- 
denen, weit entlegenen Gegenden, wo es in Verwendung steht, würde uns 
nicht allein für die großen lautlichen, morphologischen und sonstigen Ver- 
schiedenheiten Augen und Ohren besser öffnen, nicht allein der Phonetik 


892 


einzelner slavischen Sprachen von Nugen sein, indem sie an der Aussprache 
des Ksi. gewissermaßen kontrolliert werden könnte, sondern auch in an- 
derer Richtung neue Horizonte eröffnen. Ich verspreche mir davon eine 
neue, auf Tatsachen aufgebaute Erkenntnis, die in jeder Richtung und Be- 
ziehung Licht verbreiten würde über das wirkliche Leben einer im Grunde 
einheitlichen und doch stark differenzierten Sprache. Auf Grund dieser 
Erkenntnisse könnten wir uns auch die Verhältnisse in der urslavischen Zeit 
besser und klarer vorstellen. Die Durchführung der Anregung, die, wie 
erwähnt, aus der in unzweifelhafter Weise festgestellten Tatsache fließt, 
daß der Grammatik des Kirchenslavischen von Smotryckyj die ukrainische 
Aussprache desselben zugrunde liegt, einer Arbeit, die freilich wohl orga- 
nisiert werden müßte, da sie von einem einzelnen nicht geleistet werden 
kann, wäre — abgesehen vom großen wissenschaftlichen Wert — zugleich 
auch eine Ehrung des Andenkens Smotryckyjs als des ersten wirk- 
lichen Slavisten, der uns auch jet noch für unsere Forschung neue 
Wege weist. 

Als wirklicher Slavist erscheint er uns auch dadurch, dak er als erster 
das Kirchenslavische öfters mit dem Ukrainischen vergleicht, ihre 


Unterschiede aufdeckt. Hiermit kann er uns auch als erster Grammatiker - 


des Ukrainischen gelten, ohne eine eigene Grammatik des Ukrainischen ver- 
faßt zu haben. Das Ukrainische galt ihm nämlich als die bei den Ukrainern 
allgemein bekannte, gebräuchliche Sprache, die keiner besonderen gram- 
matikalischen Behandlung bedarf. Das Ksi. dagegen, die Sprache der 
ukrainischen Kirche, war bereits den Ukrainern weniger verständlich. Daher 
war es notwendig, zum genauen Verständnis dieser Sprache eine Gram- 
matik zu verfassen, wie sie für Latein und Griechisch vorhanden waren. 
Wir sehen darin eine neuerliche Bestätigung der erfahrungsgemäßen Tat- 
sache, daß normalerweise die Grammatik einer Sprache entsteht, wenn das 
richtige Verständnis derselben Schwierigkeiten bietet. Aus dem Bestreben, 
zum vollen Verständnis der alten Phasen einer Sprache vorzudringen, ent- 
wickelte sich ja überhaupt die Wissenschaft, die wir Grammatik nennen, 
zunächst bei den Indern, um die altehrwürdige Sanskritsprache zu begreifen, 
ebenso auch bei den Griechen usw. Erst in der neuesten Zeit wurde der 
Begriff der Grammatik verallgemeinert und auf die Erforschung aller Phasen 
jeder einzelnen Sprache, sowie der Sprache überhaupt erweitert. So ent- 
stand die neue Sprachwissenschaft, eine Wissenschaft, die aber mit ihren 
Wurzeln weit zurück bis um die Mitte des ersten vorchristlichen Jahrhunderts 
reicht. So entstand speziell die Slavistik, die mit ihren Wurzeln denn doch 
auf Smotryckyj zurückgeht und erst nach zwei Jahrhunderten, von Dobrovský 
angefangen, weiteren namhaften Fortschritt macht, so daß sie nunmehr als 
ein eigener bedeutender Zweig der Indogermanistik und der allgemeinen 
Sprachwissenschaft gilt. 

Es erübrigt noch eine Bemerkung über den Namen der Sprache, des 
Volkes und des Landes zu machen, die wir hier stets, um jedem Mißver- 
ständnis vorzubeugen, als ukrainisch, Ukrainer, Ukraine bezeichnen. Wir 
müssen es um so mehr tun, da Smotryckyj diese Sprache ruskij jazyk, also, 
so meint man, „russische“ Sprache nennt. Aber nichts ware falscher, als 
sein „russisch“ mit russisch zu übersehen. Es muß „ukrainisch“ heißen. 

Mit dem Namen ukrainisch belegen wir gegenwärtig die Sprache des 
Volkes, das in geschlossener Masse den großen Raum von den Karpathen 
bis zum Don und Kaukasus ausfüllt und überdies bald in größeren, bald in 
kleineren Kolonien in Sibirien, Jugoslavien, Kanada, Vereinigten Staaten 
von Amerika, in Brasilien, Argentinien usw. lebt. Das geschlossene ukrai- 
nische ethnographische Gebiet gez mit einem solchen ethnographischen 
Gebiet der Slovaken, Polen, igrussen, Russen, tatarischen und kau- 
kasischen Völkerschaften, Rumänen und Magyaren. Das ukrainische eihno- 
Fare Gebiet nennen wir Ukraine, obwohl seine einzelnen Teile zur 

echoslovakei (Karpathorußland), zu Polen (Galizien, ein Teil von Wol- 
hynien und Polesien), zu Rußland (insbesondere Kubanland) und zu Ru- 
mänien (ein Teil von Bukowina und Beßarabien) gehören. Den Kern des 


895 


Territoriums bildet die Ukraine, die als eine eigene Republik dem Verband 
der Sovetrepubliken angehört. Das Volk, das dieses ganze Gebiet be- 
wohnt, nennen wir Ukrainer. 

Ich leugne nicht, daß diese einheitliche Nomenklatur selbst bei den 
Ukrainern erst neueren Datums ist. Doch ist sie, ganz besonders für die 
Wissenschaft, unumgänglich notwendig, um, wie gesagt, allen Mißverständ- 
nissen zu begegnen. 

Früher, ja sogar noch jetzt, wenn auch nur in den entlegensten Rand- 
winkeln, nannten sich die Ukrainer Russyny, Russnaky, also etwa Ruthenen. 
und ihre Sprache ruskyj, d.h. ruthenisch, ihr Land Ruś (Ruthenien). Es 
wurde ja das Wort Rutheni damals in lateinischen Urkunden u. dgl. zur 
Bezeichnung dieses Volkes verwendet. Eine Zeitlang benannte man sie 
mit einem Kunsinamen ukrainsko-ruskyj, sagen wir vergleichsweise ukrai- 
nisch-ruthenisch. Bei Sevcenko findet sich für die Ukraine der poetische 
Ausdruck kozackyj kraj, d.h. Kosackenland, und Ukrainer heißt dort einfach 
Kosack. Andere nannten die Ukrainer Kleinrussen, Ruthenen, Petite Russe, 
Ruthene, entsprechend dem russ. Malorossy, čech. Malorusové, poln. Rusini, 
und ihre Sprache kleinrussisch, südrussisch, ruthenisch, petite russe, ruthene, 
russ. malorusskij, juZnorusskij, Cech. malorusky, poln. ruski... Es muß aber 
festgestellt werden, daß jetzt in allen Sprachen die den Ausdrücken Ukraine, 
ukrainisch entsprechende Nomenklatur immer mehr Verbreitung findet. 

Der Name Kleinrußland (Malaja Ruś) ist bei den Ukrainern bis zu einem 
gewissen Grade historisch, aber von Anbeginn war er nur ein Kunstprod 
nie volkstümlich gewesen, Das ukrainische Volk hatte sich nie Kleinrussen 
genannt, noch hieß bei ihm seine Sprache kleinrussisch. 

Die Gelehrsamkeit Kiever Gelehrter zeigt sich in dem von ihnen er- 
fundenen, dem Griechischen nachgebildeten Namen Rossia, rossijskij, einem 
Namen, der später mit der ukrainischen Gelehrsamkeit nach Moskau ging 
und dort mit der Zeit zur Bezeichnung Rußlands ward. Dieser gräzisierte 
Ausdruck hätte den alten Namen Rus im hochtrabenden Stil vertreten 
98 Dune aber dann, wie erwähnt, zum alleinigen Namen für den Staat 

an 

Je mehr man in ältere Zeiten vordringt, desto allgemeiner waren aul 
dem ukrainischen Gebiet die Namen Ruś, Russyn, Russyé, ruskyj in 
Ten Andere Namen für Staat, Volk und Sprache kamen überhaupt 
nicht vor. 

So gelangen wir in Verfolg historischer Zeugnisse bis zum 10. und 9. 
Jahrhundert, in welcher Zeit zum ersten Male der Name Ruś als Name des 
um Kiev herum von einem skandinavischen (schwedischen) Volke, das sich 
eben Russen nannte, organisierten neuen Staatsgebildes auftaucht, — und 
das Eigenschaftswort ruskyj zur Bezeichnung der Zugehörigkeit zu 
diesem Staate diente. Wir gelangen also schließlich bis zum Zeit- 
punkt, da das Wort Ruś (ein Kollektivum) einen skandinavischen (schwe- 
dischen) Volksstamm bezeichnete und das hierzu gehörige Eigenschaftswort 
eine ethnologische Bedeutung hatte, d.h. die Sprache, die Sitten u. dgl. 
dieses Volksstammes als die ihm eigenen charakterisierte (so beim Con- 
stantinus Porphyrogenetos). 

Uber diese Periode hinaus kennt die sog. Nestorschronik nur noch sla- 
vische Stämme, die auf diesem Gebiet lebten und mit der Gründung des 
Kiever Staates Ruś in diesem Staate aufgegangen sind. Es waren dies 
zunächst Polanen, ferner Derevianen, Wolhynier (Duliben), Severjanen, 
Uhligen, Tiverzen. Sie bildeten vor allem den Staat Ruś, der infolge des 
Ubergewichtes des slavischen Elements und demgemäß auch der Slavi- 
sierung der skandinavischen Begründer dieses Staates, wenn nicht schon 
früher, so doch gewiß schon im 11. Jahrhundert ganz slavisch, und zwar mit 
Rücksicht auf die Eigentiimlichkeifen der Sprache der in ihm aufgegangenen 
slavischen Stämme — ukrainisch wurde. Mit der weiteren Verbreitung der 
staatlichen Macht dieses Kiever Staates auch auf die slavischen Stämme 

der Drehovicer, Krivi€er, Radimicer und Vjatiter, d.h. auf weiß- und groß- 
russische sowie auch auf die finnischen Stämme ging auch der Staatsname 


594 


Ruś und das Eigenschaftswort ruskyj zur Bezeichnung ihrer Staatsangehörig- 
keit auf sie über. Es ist sehr charakteristisch, daß bei den Russen auch 
jet noch das ursprünglich zur Bezeichnung der Staatszugehorigkeit die- 
nende Eigenschaftswort ruskyj als Hauptwort in der Bedeutung „russischer 
Staatsbürger“ und zugleich auch in der Bedeutung „Russe“ verwendet 
wird. Das Fehlen des entsprechenden Hauptworts deutet darauf hin, daß 
sie sich ehemals wohl nur als staatszugehörig, keineswegs aber als „Russen“ 
fühlten, was nur den ukrainischen, um den eigentlichen Kiever Staat ver- 
einigten Stämmen zukam. Darüber Näheres bei Hruševskyj. 

Auch die kirchliche Organisation nach der Christianisierung dieses 
Staates mit dem Metropoliten in Kiev an der Spitze stützte diese staatliche 
Nomenklatur insbesondere in der Zeit, als der ursprüngliche einheitliche 
Staat in Teilfürstentümer zerfiel, die nur die Oberhoheit des OGroßfürsten 
von Kiev anerkannten. 

So vergingen Jahrhunderte, Zeit genug, dab diese Ausdrücke sich 
überall im ganzen ehemaligen Reich einbürgerten. Da ist aber Mitte des 
13. Jahrh. der Kiever Staat Ru$ infolge des Ansturmes der Tataren zer- 
fallen. Die bereits ziemlich lockeren Bande zwischen den einzelnen Teil- 
fürstentümern haben sich ganz gelöst. Selbst die einheitliche kirchliche 
Organisation wurde bald nachher zerrissen. Man war sich zwar dessen 
bewußt, daß alle Teile orthodoxen Glaubens waren, aber darüber hinaus 
nichts mehr. Die weiteren Schicksale der einzelnen Teile gestalteten sich 
so, daß das russische (d.h. großrussische) Gebiet lange Zeit in tatarischer 
1 verblieb, inzwischen aber sich um Moskau Konsolidierte, das 
weißrussische und ukrainische Gebiet aber anfangs des 14. Jahrh. an 
Litauen a um dann mit Litauen eine Union mit Polen einzugehen. Um 
diese Zeit kam auch der Rest des ukrainischen Gebietes (Galizien) an Polen. 
Der Name Ruś, ruskyj blieb aber weiter bestehen. Es versteht sich von 
selbst, daß unter geänderten Verhältnissen sich seine Bedeutung ändern 
mußte. Vom staatlich-politischen Begriff wurde er zum ethnologischen oder 
gar kirchlich-religiösen Begriff. Man nannie überall seine Sprache, seine 
Sitte, seine Kirche, seinen Glauben „russisch“, wo doch evident ist, daß 
dieses „russisch“ hier soviel wie ukrainisch, dort soviel wie weißrussisch 
und überdies auch noch anderswo soviel wie tatsächlich russisch, nämlich 
großrussisch bedeutete. Dieser Zustand dauerte, solange das geistige und 
kulturelle Leben einzelner Teile in der Kirche aufging und solange das 
Kirchenslavische, das jeder in seiner Art aussprach, zugleich auch als 
Schrifisprache galt. Es änderte sich nichts daran auch dann, als die Er- 
fordernisse der neuen Verhältnisse, des neuen staatlichen Lebens es mit 
sich brachten, daß die Kirchensprache als Schriftsprache, neuen Bedürf- 
nissen entsprechend, immer mehr volkstümliche Sprachelemente in sich auf- 
nahm, um schließlich, wie im ukrainischen Teil, ganz der volkstümlichen 
5 Sprache Platz zu machen. Der alle Name blieb noch immer 

estehen 

Erst als nach dem großen Aufstand des ukrainischen Volkes gegen 
Polen unter Bohdan Chmelnyckyj sich ein bedeutender Teil des ukrainischen 
Gebietes von Polen freimachte und eine Personalunion mit dem mosko- 
witischen Caren 1654 einging, ergab sich als Ausfluß näherer Beziehungen 
desselben zu Moskau die Notwendigkeit, zur Bezeichnung des ganzen 
Landes. und Volkes den scit jeher bei der Bevölkerung wohl bekannten, 
aber nur zur Bezeichnung der Grenzgebiete dienenden Namen Ukraine und 
seine Ableitungen zu verwenden, weil die frühere einheitliche Nomenklatur 
Ruś, ruskyj wegen der Verschiedenheit der ihr bei den Ukrainern und 
Russen innewohnenden Bedeutung und des tatsächlich bewußten ethnischen 
Unterschiedes zwischen Ukrainern und Russen bei den Ukrainern nicht mehr 
erhalten werden konnte. Es stieß hier nämlich der verschiedene Be- 
deutungsinhalt derselben Wörter bei beiden Nationen scharf aneinander, 
und so gaben die Ukrainer, ihrer ethnischen Verschiedenheit von den Russen 
voll bewußt, den alten, ursprünglich ihnen zukommenden Namen um so 
leichter auf, als ihnen bereits ein neuer zur Verfügung stand. 


895 


Als nachher bei den weiteren Teilungen Polens auch noch der Rest des 
ukrainischen Gebietes an nunmehr Rossija (Rußland) heißendes Moskovien 
fiel, da bürgerte sich der Name Ukraine mit seinen Ableitungen auch in 
diesem Teil an Stelle des allen Ruś, ruskyj, Russyn ein. 

Nur in Galizien, das bei der Teilung Polens an Österreich fiel, und bei 
den damals in Ungarn wohnenden Volksgenossen erhielt er sich bis in die 
neuere Zeit, wo er schließlich infolge des wachsenden Stammes- und Ein- 
heitsbewuftseins mit den Ukrainern ebenfalls aufgegeben wurde. 

So heißt also ruskyj nunmehr nur soviel wie Russe, russisch, und die 
anderen Sprachen, die ursprünglich ebenso hießen, heißen nun ukrainisch 
und weißrussisch. Seitdem aber der Name Russe, russisch nur bei den 
Großrussen als ihnen allein zukommend verblieb, gab es nicht allein in der 
Politik, sondern selbst in der Wissenschaft Tendenzen, das Weißrussische 
und das „Kleinrussische”, an welcher Benennung des Ukrainischen in russi- 
schen Kreisen krampfhaft festgehalten wurde, als Dialekte eben dieses 
Russischen zu erklären. Der ausgezeichnete Sprachforscher Baudouin de 
Courtenay macht sich über solche Tendenzen (z. B. beim Budilovic) in 
seinem am 20. Mai 1922 an der Prager Cechischen Universität gehaltenen 
Vortrag sehr lustig. Es ist aber schr traurig und für die Wissenschaft ver- 
hängnisvoll, wenn die Politik in die Wissenschaft hineinpfuscht. Um so mehr 
verfochten die Ukrainer ihr Recht auf eigene Namengebung und ihren An- 
spruch, von allen mit ihrem eigenen Namen benannt zu werden. 

Ich erachtete es für meine Pflicht, die Entwicklung der nationalen Be- 
nennung der Ukrainer eingehender zu beleuchten, weil gerade anläßlich der 
vom Prof. Weingart vorgenommenen Analyse der Grammatik Smotryckyis 
die durch Benennung seiner Sprache als „russisch“ veranlaßte Konfusion 
erst recht ans Tageslicht gekommen ist. Ist diese Entwicklung an und für 
sich sehr kompliziert und selbst für die Ukrainer nicht leicht zu verfolgen, 
so trifft dies für alle, die weniger in die Sache eingeweiht oder gar von 
vorgefaßten Doktrinen von der Einheit und Einheitlichkeit alles dessen, was 
„russisch“ hieß, beeinflußt sind, in noch höherem Grade zu. „Kleinrussisch“ 
ist ja doch russisch, dachte und sagte man. Und dies war auch mit der 
Grund, daß das Ukrainische in das lebte Jahrhundert, in die Periode des 
eigentlichen Aufschwungs der Slavistik als eine unbekannte, als nicht 
existierende slavische Sprache eintrat. Dobrovský, der in seiner Einteilung 
der slavischen Sprachen das Kroatische vom Serbischen, das Slovakische 
vom Cechischen (bohemica) scheidet und zwei sorbische (wendische) Spra- 
chen unterscheidet, kennt nur eine russische (russica) Sprache, und dies 
hat für die weitere Forschung der Slavistik den Ausschlag poo Welch 
tragisches Schicksal. Die Sprache, in der die erste slavistische Arbeit bereits 
vor dreihundert Jahren erschienen ist, die damals als cigene Sprache 
existierte, existiert nun für die Slavistik nicht mehr. Trob Kopitar, Safaftk 
und hauptsächlich Miklosich, der in seiner monumentalen Vergleichenden 
Grammatik der slavischen Sprachen das Ukrainische ausdrücklich als eine 
eigene slavische Sprache von der russischen abgesondert behandelt, huldigt 
man sonst bis in die neueste Zeit in der Slavistik der Ansicht, daß es ein 
Dialekt des Russischen ist. Man will wohl darunter das Urrussische, das 
Gemeinrussische verstehen, das aus dem Urslavischen wie sonst jede 
andere slavische Sprache sich differenziert hatte und dann hauptsächlich 
in drei aace Großrussisch, Kleinrussisch und Weißrussisch sich spallete. 
Aber nicht immer nimmt man es so genau. Dann erscheint das Ukrainische 
ganz einfach als Dialekt des Russischen, d. h. als Dialekt der Sprache, die 
eben ganz allgemein in der ganzen Welt jetzt als russisch gilt. Unter solchen 
Umständen ist es nicht verwunderlich, daß man insbesondere in Rußland 
es Miklosich geradezu als ein Verbrechen angerechnet hat, das einheitliche 
Russentum gespalten zu haben, was auch hier und da in der Presse sogar 
als österreichische Intrigue ausgegeben wurde. Wie weit das gehen kann, 
beweist ein Beispiel aus der allerletzten Zeit. In der Ukraine hat man jebt 
Puškin ins Ukrainische übersetzt. Darüber berichtet nun das bedeutendste 
€echische Tagblatt Národní Listy in Prag vom 25. April 1929, Nr. 114, mit der 


896 


höhnischen Bemerkung, daß es „endlich ... der größte und echieste russische 
Dichter so weit gebracht hat, daß — um von den Ukrainern gelesen werden 
zu können, er erst ins „Ukrainische“ übersebt werden mußte, in jene 
künstliche, auf kaltem Wege mit Hilfe der Berliner 
Gelehrten (und auch mit Berliner Subventionen) her- 
gestellte Sprache, die der biedere kleinrussische Bauer nicht im 
geringsten versteht (aber gewiß ausgezeichnet Puškin verstehen wird, frei- 
ich, wenn er gebildet ist)*! 

Die Slavistik war also nicht imstande, solche Irrtümer und plumpe 
Tendenzschrullen selbst bei den Slaven auszumerzen. War sie ja doch 
selbst in ihren größten Vertretern nicht recht im klaren, was sie mii der 
ukrainischen cag die stets immer mehr an ihre Tore anklopfte, an- 
fangen soll. Denn tr a ae Leugnung und: direkter staatlicher Verbote in 
Rußland war sie da. Eine Zeitlang schwankte man. Miklosichs Autorität 
war doch nicht leicht wegzudisputieren. Andererseits stellte Schleicher 
seine Stammbaumtheorie auf, die bei den Anhängern der von Miklosich 
verworfenen Gruppentheorie großen Gefallen fand. Immerhin behandelten 
Maxymovyé, Sreznevskij, Potebnia, Ogonovskyj und Zyteckyj das Ukra- 
inische als Sprache. Aber schlie ich erscheint bei Sobolevskij (1888) die 
Einheitlichkeit der „russischen“ (groß-, klein- und weifrussischen) 
Nation und Sprache als ein anthropologisch und linguistisch fest- 
stehendes Axiom. Später (1907) wagt er zwar nicht mehr, die Anthro- 
pologie fur seine These anzurufen, aber an der sprachlichen Einheit halt 
er fest. faci ließ das Ukrainische nur in Österreich, wo es öffentliche 
Rechte hatte, als Sprache gelten, in Rußland dagegen war dieselbe Sprache 
ihm trob der namhaften Literatur nur ein Dialekt, weil es eben dort keine 
öffentlichen Rechte hatte, vielmehr — selbst die schöne Literatur — direkt 
verboten wurde. Übrigens auch Jagić behauptete (1898) folgendes: „Daß 
alle russischen Dialekte gegenüber den übrigen slavischen Dialekien...., ein 
Ganzes bilden... das bildet unter Sprachforschern keine Streitfrage” — 
dies in einer Arbeit, die „Einige Streitfragen“ betitelt ist. Kulbakin (1913) 
laßt selbst Kaschubisch und Slovakisch eigenen urslavischen Mundarten 
entsprießen; das Ukrainische kennt er aber nur als eine der drei Haupt- 
mundarten des „Russischen“. Dasselbe selbstverständlich auch Vondräk. 

Ein solches Axiom hat sich also die Slavistik zu eigen gemacht. Dem- 
gemäß wurde das Ukrainische in der Slavistik nur noch als Dialekt berück- 
sichtigt und abgetan. Und da ich in meiner Grammatik der ukrainischen 
Sprache (1913) dagegen anzukämpfen wagte und forderte, daß die Gruppen- 
theorie überprüft und die Ansichten über die Stellung des Ukrainischen 
innerhalb der slavischen Sprachen korrigiert werden mögen, wurde ich zum 
Keber gestempelt. Das Dogma wurde für unfehlbar erklärt. Es wurden 
mir sogar von Sachmatov, der, offenbar durch meine Grammatik veranlaßt, 
nunmehr als der größte Streiter für die russische Einheit erschien (1914, 
1915, 1916), in feiner Weise unlautere Motive zugemutet. Nun ist aber seit- 
her diese Einheit, nämlich die politische, um die es sich — sagen wir es 
aufrichtig — offenbar handelte, tatsächlich in Brüche gegangen, die ukra- 
inische Sprache ist Staatssprache geworden, es erstand die Ukrainische 
Akademie der Wissenschaften. Da dürfte es wohl für die Slavistik viel 
leichter sein, auch die Frage der genetischen verwandtschaftlichen Be- 
ziehungen des Ukrainischen zu allen slavischen Sprachen, speziell zum 
Russischen, einer Überprüfung zu unterziehen und die irrtümlichen Ansichten 
zu korrigieren, um so mehr, als ich seither noch einige Beiträge zur Klärung 
dieser Frage beigesteuert habe. Ich freue mich auch feststellen zu können, 
daß in slavistischen Arbeiten der lebten Zeit eine gewisse Ernüchterung 
merklich ist. Wichtig ist aber der Umstand, daß die slavistischen Arbeiter 
in der Ukraine, die zumeist als mittelbare und unmittelbare Schüler Sach- 
matovs im Banne seiner Lehre standen, nunmehr sich kritisch ihr gegen- 
überstellen und sich bereits von vielen Irrtiimern lossagten. Wir wollen 
hoffen, daß durch intensivere Arbeit der Ukrainer selbst die Frage der 
Stellung des Ukrainischen innerhalb der slavischen Sprachen bald zur 


26 NF 5 897 


vollen Klarheit gebracht werden wird. Wir wollen hoffen, daß die schöpfe- 
rische Kraft der ukrainischen Nation, zu neuem Leben geweckt, den ukra- 
inischen Geist, wie im 16. und 17. Jahrhundert, in seiner eigentlichsten 
Wesenstiefe wieder einmal enihüllen wird. Es wird dies um so leichter 
geschehen, da gewisse, früher bestandenen Hemmungen für alle entfallen 
sind. Es wird dies auch für die Slavistik von ganz besonderem Nuben sem 
Denn die ukrainische Sprache ist doch die Sprache des zweilgrö 
slavischen Volkes, die von rund vierzig Millionen, und zwar in der 
des slavischen Spra 1 pai ty und in der mutmaßlichen Urheimat der 
Slaven gesprochen wird. Sie ist deshalb für die geschichtliche und ver- 
gleichende Erforschung der slavischen Sprachen ganz besonders wichtig. 
Sie blickt auf jahrhundertelange, ganz eigenartige Entwicklung als Schrift- 
sprache zurück. Ihr gründliches Studium wird für die Slavistik gewiß 
segenbringend sein. : 

Nach dem Gesagten brauche ich kaum zu betonen, daß es sich bei 
meinem Kampf um die Anerkennung des Ukrainischen als selbständige 
slavische Sprache keineswegs um eine gewöhnliche BIS ier rik Nigga 
noch etwa um die Rangerhebung eines Dialekts zur Sprache hand 
Sache geht viel tiefer. Es handelt sich um die richtige oder vielmehr rich- 
tigere theoretische Erkenntnis der Sprachentwicklung, der Sprachgeschichte, 
des eigentlichen Wesens der Sprache überhaupt, um die Sprachphilosophie. 
Es handelt sich darum, daß die Slavistik sich die neuesten Erkenntnisse und 
Errungenschaften der 5 zunutze macht und sie bei sich 
zur Geltung bringt. Es handelt sich hier speziell um die richtigere Vor- 
stellung vom Leben des Urslavischen und dessen Entwicklung in einzelne 
slavische Sprachen. Hierin liegt also — abgesehen von der ersten slavisti- 
schen Arbeit Smotryckyjs — die fundamentale Bedeutung des Ukrainischen 
für die Slavistik, weil der theoretische Streit sich eben um das Ukrainische 
dreht, und weil er geeignet ist, sie auf neue Bahnen zu leiten. 

Mit dieser geläuterten Erkenninis möge die Slavistik nun, unter besse- 
ren Auspizien für ihre Forschung ins zweite Jahrhundert ihrer Entwicklung 
tretend, die schönsten Erfolge erzielen. 


Il 
LITERATUR BERICHTE 


NEUERE UKRAINISCHE WISSENSCHAFTLICHE 
LITERATUR ZUM DEKABRISTENAUFSTANDE 


Von 
Dr. J. Lo ss k y (Berlin). 


Das hundertjährige Jubiläum des sog. Dekabristenaufstandes 
hat, wie bekannt, eine reiche Literatur auf dem ganzen Gebiet der 
Sovjetunion hervorgerufen, die mit jedem Jahre umfangreicher wird. 
Wir möchten hier eine kurze Übersicht der wichtigsten Literatur, die 
anläßlich des Dezemberaufstandes in der ukräinischen Sprache er- 
schienen ist, geben. Obwohl quantitativ die Ukraine hier mit der 
R. S. F. R. nicht wetteifern kann, ihrer wissenschaftlichen Bedeutung 
nach räumen dieser Literatur sogar die strengen russischen Kritiker 
einen ehrenvollen Platz ein. (Vgl. z. B. den Aufsatz v. M. V. N&éékina 
„Die ukrainische Jubilaumsliteratur über die Dekabristen“, in „Istorik- 
Marxist“ 1927, 1.) 

Wir kommen in erster Linie auf die drei größeren Sammelschrif- 
ten zu sprechen, die von der A. d. W. in Kiev, vom Ukrainischen 
Zentralarchiv in Charkov und von dem Lehrstuhl zur Erforschung der 
ukrainischen Geschichte daselbst herausgegeben worden sind. 

Die erste von ihnen (Die Dekabristen in der Ukraine, hrsg. v. der 
Ukr. A. d. W., Red. v. S. Efremov und V. Mijakov$’kyj. Kiev 1926. 
206 S.) beginnt mit dem Aufsag des bekannten Literaturhistorikers 
S. Efremov — „Von der Legende zur historischen Wahrheit“. Verf. hebt 
hier die bedeutende Rolle, die in der gesamten revolutionären Be- 
wegung in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrh. dem Süden, d. h. der 
Ukraine zufällt, hervor. Die öffentliche Meinung interessierte sich bis 
jetzt mehr für die effektvolle Szene, die am 14. Dezember 1825 auf dem 
Senafsplat in Petersburg sich abspielte, und vergaß dabei den 
zweiten Akt der Revolution — den Aufstand des Cernihover in Va- 
silkov im Kiever Gouvernement stationierten Regimentes (Ende De- 
zember 1825), unter Führung eines der hervorragendsten Dekabristen- 
Führers S. Murav’ev-Apostol. In der Ukraine hatten ihren Sif zwei 
geheime Gesellschaften — die „Südliche“, an deren Spitze der Verfasser 


599 


der „Russischen Pravda“ Pestel stand, und die „der vereinigten Slaven“, 
welcher meistenteils die nicht titulierten, aus ärmeren, ja sogar aus 
bürgerlichen Kreisen stammenden Offiziere angehörten. Dieser Um- 
stand bedingte den demokratischen und radikalen Charakter der 
„Slaven“ im Gegensab zu den aristokratischen Nördlichen und Süd- 
lichen Gesellschaften. Nach Meinung des V’s. entstanden diese ge- 
heimen Gesellschaften aus den früheren Freimaurerlogen, von denen 
die bedeutendste in der Ukraine die „der vereinigten Slaven“ war, 
zu deren Mitgliedern die zukünftigen Führer der Dekabristen, wie 
die Fürsten Volkonskij und Trubeckoj, der Pole Graf Olizar und die 
ukrainischen Autonomisten wie V. LukaSevyé zählten. Der letztere, 
als ukrainischer Patriot bekannt, sollte der Verfasser des „Ukraini- 
schen Katechismus“ sein, er war auch der Führer der sogenannten 
„Kleinrussischen Gesellschaft‘, die die Emanzipation der Ukraine an- 
strebie. Verf. findet einen gewissen, wenn auch nur ideologischen 
Zusammenhang der Loge „der vereinigten Slaven“ mit der gleich- 
namigen geheimen Gesellschaft, deren Mitgliedern, wie gesagt, eine 
bedeutende Rolle in dem Dezemberaufstand in der Ukraine zufiel. 
Das Programm dieser Gesellschaft soll, wie eines ihrer Mitglieder, 
Gorbalevskij, in seinen Memoiren angibt, einen panslavistischen 
Charakter gehabt haben. Die Zukunft der slavischen Völker dachten 
sich die Mitglieder der Gesellschaft als eine Föderation slavischer 
Republiken. Die weitere Entwicklung dieser Ideen finden wir 20 Jahre 
später bei der Cyrillo-Methodischen Gesellschaft, die einen aus- 
gesprochen national-ukrainischen Charakter hatte und der die her- 
vorragendsten ukrainischen Schriftsteller — Sevéenko, Kuli3 und 
Kostomarov — angehorten. Alles das berechtigt uns dazu, die ukrai- 
nischen Dekabristen als Vertreter der ukrainischen nationalen Be- 
wegung zu betrachten. 

In derselben Sammlung finden wir die ukrainische Übersetzung 
einer, für die Geschichte des Aufstandes des Cernihover Regimentes 
sehr wertvollen Quelle, und zwar die Übersekung des Tagebuches 
eines Augenzeugen — des Öutsbesikers I. Rulikowski. Im Zusam- 
menhang damit steht eine biographische Skizze über Rulikowski v. L. 
Dobrovol'Skvi. 

Es wäre noch der Aufsa v. Olga Bahalij über die Rolle, die in 
dem Dezemberaufstand in der Ukraine der Soldatenmasse zufiel, zu 
erwähnen. In erster Linie kommt sie auf die revolutionäre Pro- 
paganda, die unter den Soldaten von den aufständischen Offizieren, 
hauptsächlich den Mitgliedern der Gesellschaft der vereinigten Slaven, 
betrieben wurde, zu sprechen. Weiter behandelt sie die Stimmun- 
gen, den Widerhall, den der Aufstand später unter den Soldaten 
gefunden hat. 

Den weiteren Inhalt des Bandes bilden kleinere Aufsätze: von 
Basylevyé über den Schaden, welchen der Aufstand der Bevölkerung 
brachte, v. L. Dobrovol’Skyj über die Deportation der Soldaten, die 
am Aufstande teilgenommen haben, nach dem Kaukasus, eine ver- 


400 


gleichende literarische Studie v. Fylypovyé; „Ryleev und Derzavin“, 
und noch einige kleinere Artikel. 

Es wären noch zu erwähnen aus demselben Bande Publikationen 
von Dokumenten: so 3 Briefe an den Obersten L. O. Dubelt von der 
Schwesier seiner Frau, publiziert von V. Gancova-Bernikova, Briefe 
der Generale Sterbatov und Tal über den Aufstand des Cernihover 
Regiments; von gewissem Interesse sind die Aussagen zweier Sol- 
daten, die während des Aufstandes des Cernihover Regiments von 
Murav&v-Apostol mit dem Fähnrich Mozalevskij nach Kiev gesandt 
waren, um dort den von Muravév verfaßten Katechismus zu ver- 
breiten; Aussagen eines Unferofſiziers des aufständischen Regi- 
mentes, schließlich ein bis jetzt nicht veröffentlichter Brief des Mit- 
gliedes der Gesellschaft der Vereinigten Slaven, |. I. Suchinov an den 
Caren und ebenso zum ersten Male erscheinende Aussagen des 
Obersten V. Tiezenhausen über seinen Eintritt in die geheime Ge- 
sellschaft. 

Die zweite der genannten Sammelschriften, die vom Lehrstuhl 
zur Erforschung der Geschichte der ukrainischen Kultur in Charkov 
unter dem Titel „Aufstand der Dekabristen in der Ukraine“ heraus- 
gegeben wurde, beginnt mit einem Aufsak von M. Javorskyj — „Die 
Grundlagen des Dekabrismus in der Ukraine“. Als Marxist versucht 
Verf. den Dezemberaufstand auf Grund der Klassen- und Wirt- 
schaftsverhalinisse zu erklären; auf diese Weise ukrainisiert er, 
wenn man sich so ausdrücken darf, das Schema, das bereits von 
M. Pokrovskij in der „offiziellen“ russischen Geschichtsschreibung 
eingeführt ist. Dabei gerät er in die üblichen Widersprüche, die 
jedem begegnen, der einen komplizierten historischen Vorgang in 
den orthodox-marxistischen Rahmen hineinzuzwängen bestrebt ist. 

Den wertvollsten Teil dieser Veröffentlichung bildet der von 
L. Dobrovol’Skyj verfaßte Aufsatz — „Der Aufstand des Cernihover 
Regiments“. Hier ist zum ersten Male eine ausführliche, zum größten 
Teile auf neues Material gestützte Geschichte der kühnen Tat des 
S. Murav&v-Apostol und seiner nächsten Freunde dargestellt. Eine 
wertvolle Ergänzung zu dem Aufsatz v. Dobrovol’skyj bietet der 
dritte und leķte Aufsatz dieser Sammelschrift von O. Bahalij-Tatari- 
nova unter dem Titel „Die Teilnehmer des Aufstandes des Cernihover 
Regiments vor dem Militärgericht in Mohilev“, in dem das weitere 
Schicksal eines Teiles der Offiziere und Soldaten, die an dem Auf- 
stande teilnahmen, geschildert wird. 

Die dritte der von uns erwähnten Sammelschriften ist vom 
Ukrainischen Zentralarchiv in Charkov herausgegeben worden. Die 
Redaktion und Einleitung gehört dem Akademiker Bahalij. Den 
zweiten, größeren Teil dieser Sammlung bilden die von V. Mijakov- 
Skyj, V. Basylevyé und L. Dobrovol’Skyj publizierten Dokumente aus 
dem Kiever Zentralarchiv über den Aufstand des Cernihover Regi- 
ments, mit einer Einleitung von V. MijakovSkyj. Der erste Teil des 
Buches beginnt, wie gesagt, mit einem Einleitungsartikel vom Aka- 
demiker Bahalij: „Uber die Genese der Dekabristenbewegung“. Verf. 


401 


gibt darin eine Analyse der damaligen sozialen und wirtschaftlichen 
Verhältnisse, die seiner Meinung nach den Grund für die allgemeine 
Unzufriedenheit mit dem herrschenden Regime bildeten und schließ- 
lich mit einem Versuch, dieses Regime zu stürzen, endeten. Dabei 
sieht Verf. in den ukrainischen nationalen Bestrebungen einen der 
Gründe, die den Aufstand verursachten, obwohl er den letzteren 
keine so wichtige Rolle zumutet, wie es der Akademiker S. Efremov 
in dem von uns zuerst besprochenen Artikel getan hat. Ebenso wie 
andere Forscher, hebt auch Verf. die Gesellschaft der „Vereinigten 
Slaven“ hervor, in der er einen wirklichen Demokratismus und Revo- 
lutionismus, im Gegensab zu anderen geheimen Gesellschaften, sieht. 

Aus der Sammelschrift des Zentralarchivs wären weiter folgende 
Artikel zu erwähnen: Die Studie v. Rjabinin Skijarevskyj über die 
geheimen Gesellschaften im Süden der Ukraine in der Zeit des De- 
zemberaufstandes. Es liegen hier die Materialien des historischen 
Archivs in Odessa zugrunde. Odessa mit seinem regen Verkehrs- 
leben war damals ein geeigneter Boden für verschiedene geheime Ge- 
sellschaften, in welchen alle mit dem damaligen russischen „status 
quo“ unzufriedenen Elemente ihre Zuflucht fanden. Verf. schildert 
hier die Freimaurer, die Angehörigen der griechischen Hetärie, die 
sog. Filareten (Mitglieder der polnischen Gesellschaft der Filareten, 
von denen ein Teil nach der Auflösung der Gesellschaft durch die 
russische Regierung nach Odessa verbannt war, und die „Frei- 
denker“). Besonders was das südliche Freimaurertum anbelangt, 
steht hier viel Wertvolles und Neues; ebenso werden hier manche 
interessante Tatsachen über die Filareten, denen ja auch Mickie- 
wicz angehörte, erwähnt. Demselben Verf. gehört hier ein Aufsaß 
über den Aufstand des Cernihover Regiments und die Publikation 
eines Gedichtes vom Dekabristen Bobritev-Pu3kin, das von ihm 
1827 in Sibirien geschrieben wurde. 

E. Trefiljev und V. Straten geben einen Auszug aus dem Ma- 
terial über den Dekabristenaufstand aus dem Archivfonds des Ge- 
neralgouverneurs von Novorossijsk; aber unter diesem Material ist, 
wie es der Redakteur der Sammlung in seiner Einleitung selbst zu- 
gibt, wenig von Bedeutung. Unter den kleineren Aufsätzen der 
Sammlung des Zentralarchivs finden wir einen Aufsak von V. Basy- 
levyé, in welchem Verf. Einzelheiten aus dem Leben einiger De- 
kabristen nach ihrer Amnestierung unter dem Caren Alexander Il. 
behandelt; weiter ein Aufsatz von Bahalij über den Widerhall, den 
der Dezemberaufstand in Charkov fand. Wir finden schließlich in 
dieser Sammlung zwei Briefe des Fürsten Volkonskij und seiner Frau 
an die Mutter Volkonskijs, publiziert von A. Kozaéenko, und einen 
Brief des Kurators des Charkover Schulkreises an den Caren. 

In einer Reihe mit den genannten Sammelbänden muß man auch 
das 5. Heft der Zeitschrift „Ukraina“ v. ). 1925 erwähnen, welches 
fast ausschließlich dem Dezemberaufstand gewidmet ist. In seiner 
kurzen Einleitung zu diesem Hefte hebt der Redakteur der Zeitschrift, 
Akademiker M. HruSevSkyj, die wichtigste Aufgabe hervor, die, seiner 


402 


Meinung nach, vor der weiteren Erforschung der Quellen: des ukrai- 
nischen Dekabrismus steht. Diese Aufgabe soll darin bestehen, die 
richtige Lösung für die Frage zu finden, inwiefern der Dezember- 
aufstand mit der nationalen ukrainischen Bewegung im Zusammen- 
hange steht. „Ukrainische Dekabristen — oder bloß Dekabristen in 
der Ukraine“ — so wird diese Frage von HruSevSkyj formuliert. In 
dem gleich auf die Einleitung folgenden Aufsab von I. Rybakov „Das 
Jahr 1825 in der Ukraine“ wird diese Frage negativ gelöst, indem 
Verf. dem nationalen Moment, obwohl das national-politische Selbst- 
bewuBtsein bei dem ukrainischen Adel stark entwickelt war, eine 
etwaige Rolle in den Dezembervorgängen abspricht. „Die Führer 
der Dekabristen in der Ukraine blieben immer Vertreter der all- 
russischen revolutionären Jugend der Zeit.“ Rybakov leitet weiter 
die Genesis des Dezemberaufstandes von dem Standpunkte des 
historischen Materialismus ab, indem er zu beweisen versucht, daß 
die wichtigste Ursache des Aufstandes der wirtschaftliche Antagonis- 
mus zwischen dem Landadel und dem staatlichen bürokratischen 
System, das auf das wirtschaftliche Gedeihen des ersten hemmend 
wirkte, war. 

In weiterem Aufsake von O. Hermajze „Die Dekabrisien- 
bewegung und das Ukrainertum“ befaßt sich Verf. mit dem von 
HruSevSkyj gestellten Problem über das Verhältnis zwischen dem 
Aufstande und der nationalen Bewegung. Dabei hebt er, wie auch 
viele andere, besonders die schon erwähnte „Gesellschaft der ver- 
einigten Slaven“, in deren Mitgliedern er die Vertreter der ukrai- 
nischen revolutionären Intelligenz sieht, hervor. 

Dem Aufsatze v. Hermajze folgen einige Dokumente anläßlich der 
Verhaftung Alekseev’s, des Adelsmarschalls von Katerynoslav, dem 
die Mitgliedschaft in der bereits erwähnten „Kleinrussischen Gesell- 
schaft“ vorgeworfen wurde, veröffentlicht von T. Slabèenko. V. Mija- 
kovSkyj gehören drei kleinere Aufsätze: über Fournier und die Fa- 
milie RaevSkyjs, über den Widerhall, den die Hinrichtung Ryleevs in 
der Offentlichkeit in Charkov und Kiev gefunden hat, und schließlich 
ein vom Verf. gefundenes Verzeichnis der Personen, die im Zusam- 
menhange mit dem Dezemberaufstand im Kiever Gouvernement ver- 
haftet wurden — größtenteils Angehörige der polnischen geheimen 
Gesellschaft. Daselbst finden wir eine Skizze von L. Dobrovol’Skyj 
über das Echo, das der Dezemberaufstand in den ukrainischen Volks- 
liedern fand, und schließlich Eindrücke über Tuléyn, das ehemalige 
Stabsquartier der Südlichen Gesellschaft, von A. Popov. 

Mit den erwähnten drei Sammelschriften und der Sondernummer 
der „Ukraina“ wäre das Wichtigste, was in ukrainischer Sprache über 
den Dezemberaufstand erschienen ist, erschöpft. Wir erwähnen hier 
noch die Broschüre von Basylevyé „Die Dekabristen im Kiever Gou- 
vernement“ (Kiev 1926). Anläßlich des Jubiläums des Dekabristen- 
aufstandes erschienen in den Zeitschriften viele Aufsätze, die aber 
meistenteils populären Charakters sind. Einige kürzere, dem De- 
kabrismus gewidmete Artikel finden wir in der Sammelschrift zu 


405 


Ehren Bahalijs, darunter eine bibliographische Notiz von Dobrovol’- 
$kyj uber die neuere Literatur über den Dekabrismus im Süden. Wir 
schließen unsere Übersicht mit der Erwähnung einer wertvollen 
literarischen Skizze von Fylypovyé „Ševčenko und Dekabristen“, Kiev 
1926, über die Nachklänge des Dezemberaufstands in den Werken 
des Dichters. 


DIE LITERATURGESCHICHTE IN DER UKRAINE 


Von 
Dr. M. Hnaty3ak (Berlin). 


Als charakteristisches Merkmal der ukrainischen Literatur- 
geschichte ist das große Übergewicht der die älteren Perioden der 
Literatur behandelnden Arbeiten hervorzuheben. Das Schrifttum des 
10.—17. Jahrh. wurde ausführlicher wissenschaftlicher Bearbeitung 
unterworfen. Die grundlegenden Studien hervorragender ukraini- 
scher:), russischer?) und anderer Gelehrten’) trugen viel zur ziemlich 
genauen Kenntnis und zeitgemäßen wissenschaftlichen Beherrschung 
der älteren ukrainischen Literatur bei. Es entstand dabei, besonders 
in den Arbeiten gewisser russischer Forscher, manche tendenziöse 
Entstellung, manches hartnäckige Vorurteil — aber im ganzen kann 
die ukrainische wissenschaftliche Literatur auf diesem Gebiete viel 
Beachtenswertes und Gutes verzeichnen. 

Im Gegensatz zum älteren Schrifttum war die neuere ukrainische 
Literatur des 18. und besonders des 19.—20. Jahrh. in wissenschaft- 
lichen Kreisen stiefmütterlich behandelt. Die wenigen Arbeiten, welche 
dieses Thema synthetisch zu erfassen versuchen, sind meistenteils 
recht fehlerhaft und unzureichend. Abgesehen von den ersten, 
sporadischen Versuchen, die Übersicht der neueren ukrainischen Li- 
teratur in einzelnen Zeitschriftenartikeln zu geben, ist als erstes 


wissenschaftliches Werk auf diesem Gebiete die Arbeit N.Petrovs | 


„Abriß der Geschichte der ukrainischen Literatur des 19. Jahrh.“ ] zu 
betrachten. Die solide, das ziemlich vollständige Material der ukrai- 
nischen schönen Literatur vom Ende des 18. Jahrh. bis zu den 80er 
Jahren beherrschende Arbeit litt aber unter der unrichtigen Ein- 
stellung des Verfassers gegenüber den Tatsachen. Petrov wollte die 
sämtliche neue ukrainische Literatur in ein der Entwicklung der neuen 
russischen Dichtung analoges Schema hineinzwängen und machte 
durch solches Anpassen der Tatsachen an seine aprioristischen An- 


1) z. B. M. Kostomarov, I. SreznevSkyj, O. OhonovSkyj, M. Drahomanov, 
M. Sumcov, M. Hruševśkyj, O. Kolessa, V. Pere, I. Franko, B. Lepkyj u. v. a. 


3) z. B. E. Aničkov, Th. Buslajev, A. Galachov, E. Golubinskij, V. Ikonni- 
kov, N. Keltujala, A. Pypin, A. Sobolevskij, A. Sachmatov, N. Tichonravov 
u. v. a. 


3) z.B. A. Brückner, V. Jagić u. v. a. Die ausführliche Literatur im 
A eens a M. Vozňak: Istorija ukrajinskoji literatury. Lemberg 1920. 


4) N. Petrov: Očerki istoriji ukrajinskoj litératury 19. słol. Kiev 1884. 


405 


sichten seine Arbeit wissenschaftlich unzulänglih. Diesen Fehler 
Petrovs berichtigte durch Hinweise auf andere, nichtrussische Fak- 
toren, welche den Entwicklungsgang der ukrainischen Literatur be- 
einflußt haben, N. DaSkevyé in seiner Rezension über das Werk 
Petrovs, die sich zu einer selbständigen, die Arbeit Petrovs in jeder 
Hinsicht übertreffenden Studie über die neue ukrainische Literatur 
ausgestaltetes). Eine umfangreiche Zusammenstellung des Materials 
gab daraufhin O. OhonovSkyj in seiner „Geschichte der ruthe- 
nischen Literatur‘). Dieser großen und bibliographisch sehr wert- 
vollen Arbeit fehlt aber die historische Einstellung, sie kann als 
Literaturgeschichte nicht in Anspruch genommen werden. Sie 
bleibt vielmehr, allen Bemühungen des Verfassers zum Troß, nur ein 
fast unerschöpflicher Behälter der in unrichtiger Perspektive ge- 
zeigten literarischen Tatsachen. 

Mit diesen drei großen Arbeiten ist das Wertvollste, was in 
ukrainischer Wissenschaft des 19. Jahrh. an zusammenfassenden Dar- 
stellungen der neueren ukrainischen Literatur geleistet wurde, er- 
schöpft. Alle übrigen, verhältnismäßig zahlreichen Übersichten und 
Darstellungen”) können in dieser kurzen Übersicht nicht berücksichtigt 
werden. 

Im 20. Jahrh. gaben die erwähnenswertesten Arbeiten l. Franko 
und S. Jefremov. Der erstere veröffentlichte im Jahre 1910 in Lemberg 
seinen „Abriß der Geschichte der ukrainisch-ruthenischen Literatur 
bis zum Jahre 1890), welcher eine gute, aber nicht immer von allzu 
subjektiven und kategorischen Werturteilen des Verfassers und von 
polemischem Geiste freie Übersicht bietet. Die populärste ukrainische 
Literaturgeschichte ist das Werk von S. Jefremov „Geschichte der 
ukrainischen Literatur‘), welches aber mittels einseitiger, soziolo- 
gisch-publizistischer Methode bearbeitet ist und deshalb die Ent- 
wicklung der rein literarischen Eigenschaften, die schließlich bei der 
Behandlung der schönen Literatur doch das Wichtigste sein sollien, 
außer acht läßt. In den letzten Jahren erschien endlich auch eine 
beträchtliche Anzahl guter Übersichten zum Volks- und Schulgebrauch, 
geschickt zusammengestellter Chrestomatien und kurzer Konspekte 


8) N. DaSkevyé: Otzyv o sodinéniji g. Petrova: Oterki istoriji ukr. hi. 
x = A m »Otéet o 29. prisužděniji nagrad gr. Uvarova“, Petersburg 1888. 


x 1 RA Ohonovśkyj: Istorija literatury ruśkoji. 6 Bande, Lemberg 1887 
is . 


7) wie z. B. in Pypin-Spasoviés „Istorija slavjanskich litératur™, 2. Aufl, 
Petersburg 1879, I. Band, S. 357—447; in „Istorija vs&mirnoj litératury”, 1881, 
III. Band; in Herbels „Poezija slavjan“, 1871, S. 157—186, und viele andere 
Arbeiten, besonders aus den 90er Jahren. 


8) |. Franko: Narys istoriji ukrajinsko-ruskoji literatury do 1890 roku. 
Lemberg 1910. 


e S. Jefremov: istorija ukrajinskoho pySmenstva, 3. Aufl. Kiev 1917, 
4. Aufl. in 2 Banden Leipzig 1924. 


406 


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der Literaturgeschichte**), die selbstverständlich nur wenig zur Be- 
reicherung der wissenschaftlichen Forschung auf diesem Gebiete bei- 
getragen haben. Wenn wir also die rein wissenschaftliche Seite der 
bisherigen zusammenfassenden Darstellungen der neueren ukraini- 
nischen Literatur betrachten, müssen wir ihre Unzulänglichkeit kon- 
statieren. Im Vergleich mit der älteren Literatur ist die neue Periode 
viel zu wenig wissenschaftlich bearbeitet. 

Diese anomalen und von der heutigen Einstellung des mensch- 
lichen Geistes auf alles Aktuelle, Moderne so grell abstechenden 
Zustände werden, leider, auch von der augenblicklichen Lage auf 
diesem Gebiete bestätigt. Die zwei besten neuen Werke aus dem 
Bereiche der Geschichte der ukrainischen Literatur behandeln wieder 
nur den Zeitabschnitt vom 10. bis zum 17. Jahrh. — und es gibt, leider, 
wenig Aussichten auf die Fortsetzung dieser groß angelegten Arbeiten 
bis ins 19. und 20. Jahrh. Der obengenannte Mangel im Stofflichen 
wird hier aber wenigstens durch die modernen Methoden der For- 
schung und Darstellung wetigemacht — so daß diese Werke durchaus 
interessant und aktuell sind. Ich spreche von den Arbeiten von 
M. Vozitak und M. Hru3evskyj. 

Die bis jetzt dreibandige „Geschichte der ukrainischen Literatur“ 
von M. Voz aku) gibt eine sehr instruktive, vollständige und 
in den ersten zwei Bänden auch übersichtliche Darstellung der 
älteren ukrainischen Literatur. Den äußerst praktischen, kurzgefaßten 
Vorbemerkungen über die Ukraine, ihr Volk, dessen Geschichte und 
Sprache folgt im l. Bande die ausführliche Übersicht des Schrifttums 
bis zum Ende des 15. Jahrh.; das ungeheuere Material ist in folgende, 
sich organisch aus den Tatsachen ergebende Gruppen eingeteilt: 
1. Die Grundlagen der alten Periode der ukrainischen Literatur 
(hauptsächlich das Christentum, die alibulgarische Literatur usw.]. 
2. Die Ubersegungsliteratur. 3. Die originelle religiöse Literatur. 
4. Die geschichtlichen Chroniken (welche auch als eine Sammlung 
des sehr wertvollen alten poetischen und belletristischen Materials 
in Betracht kommen). 5. Die Poesie (hauptsächlich die Analyse des 
Heldenliedes über den Feldzug Ihors). Der 6. Abschnitt schildert den 
Verfall des literarischen Lebens in der Ukraine im 14.— 15. Jahrh. 

Der Il. Band behandelt in einer, in zusammenfassender Arbeit 
seltenen Ausführlichkeit die literarische Wiedergeburt der Ukraine 
im 16. Jahrh. Die großen Abschnitte sind der nationalen Wieder- 
belebung in der unter Polenherrschaft verbleibenden Ukraine und in 
ihren kulturellen Zentren (Ostroh, Lemberg, Kiev), dem Eindringen 
der neuen westeuropaischen geistigen Strömungen in die Literatur, 
der literarischen Polemik zwischen den orthodoxen Ukrainern und 


19) z. B. neue Auflagen der sehr populären Literaturgeschichte und 
Chrestomatie von Barvinskyi, weiter Arbeiten von DoroSkevyé, eine eigen- 
artige Chrestomatie mit Angabe der wissenschaftlichen Literatur über jeden 
Autor von Plevako, Konspekte von Radzykevyé, Sulyma usw. 


11) M. Vozitak: Istorija ukrajinskoji literatury. 3 Bände, Lemberg 1920, 
1921, 1924. 


407 


den Anhängern der Union mit dem Katholizismus, und der Kiever 
Scholastik gewidmet. 

Im umfangreichsten Ill. Bande endlich finden wir cine vollstän- 
dige, aber ziemlich chaotische und durch ihre Ignorierung der chrono- 
logischen Reihenfolge verwirrende Darstellung des Schrifttums 
des 17. und 18. Jahrh. Das Material wird hier nicht dem historischen 
Entwicklungsprinzip gemäß, sondern nach den literarischen Arten 
behandelt. Diese manchmal sehr empfehlenswerte, aber gerade im 
vorliegenden Falle, angesichts der Buntheit und Ungleichmäßigkeit 
des in Frage kommenden literarischen Materials dieser zweier jahr- 
hunderte, unpraktische Art der Darstellung führt zum Verlust des 
Bewußtseins der historischen Zusammenhänge, so daß dieser Band 
in wissenschaftlichem Sinne der schwächste ist. Die einzelnen Ab- 
schnitte behandeln: das ukrainische Material und die ukrainischen 
Schriftsteller im Dienste der Literaturen der Nachbarvölker, weiter 
die Belletristik (hauptsächlich die Ritterromane), das Schuldrama, die 
Anfänge der Komödie, die humoristische, parodistische, satirische 
und realistische Dichtung (die Weihnachts- und Ostergedichte, Ne- 
kraSevyé, Lobysevyé usw.], die religiöse und weltliche Lyrik, das 
nationale historische Schrifttum und endlich das historische Volks- 
lied und die Kosakendumen. Die Fülle des gesammelten und aus- 
führlich behandelten Materials trägt dazu bei, daß auch dieser Band 
der Arbeit Vozňaks, troķ der methodischen Unzulänglichkeit, eine 
wesentliche Bereicherung der diesbezüglichen wissenschaftlichen 
Literatur bedeutet. 

Jedem Bande sind praktische synchronistische Tabellen, schr 
ausführliche Verzeichnisse der Literatur des Gegenstandes und gute 
Namen- und Sachregister beigefügt. Das ganze Werk verrät pein- 
liche, philologische Genauigkeit und das Streben zur Vollständigkeit, 
so daß diese sonst lobenswerten Eigenschaften manchmal sogar die 
übersichtlichkeit der Darstellung beeinträchtigen und das große Ma- 
terial in etwas schiefen Perspektiven darlegen. 

Obzwar das Werk Vozňaks mit Hilfe der neuen wissenschaft- 
lichen Methoden bearbeitet wird, liegt ihm doch das traditionelle alte 
Schema der Literatur, ihrer Einteilung in bestimmte Perioden und 
ihrer Bearbeitung zugrunde. Einen Umsturz auch in diesen Be- 
ziehungen bedeutet aber die bis jetzt fünfbändige „Geschichte der 
ukrainischen Literatur“ von M. HruSevSkyj#). Der Verfasser, 
welcher zugleich der bedeutendste ukrainische Historiker der Gegen- 
wart ist, legt alle fertigen Schemen ab und versucht, auf Grund der 
neuesten westeuropäischen theoretischen Errungenschaften auf dem 
Gebiete der Literaturwissenschaft, das Material in gänzlich neuer 
Weise einzuordnen und zu beleuchten. Das entscheidende Novum, 
welches Hru3evskyj nicht nur für die ukrainische Wissenschaft, 
sondern einigermaßen auch für die Literaturforschung überhaupt 


13) M. HruSevSkyj: Istorija ukrajinskoji Sat Bände I—IIl, Lemberg 
1923; Bande IV, V/1 und V/2, Kiev 1925, 1926 


408 


bringt, ist die parallele Bearbeitung des folkloristischen und 
literarischen Materials, welches der Verfasser als ein organisches 
Ganzes auffaßt und in seinen Wechselwirkungen einheitlich behandelt. 
So geschieht es, daß diese ,,Literatur“-Geschichte (eigentlich Dich- 
tungsgeschichte) mit bedeutend früheren Zeiten als die bisherigen 
Geschichten des Schrifttums anfängt. 

Im l. Bande gibt der Autor, unterstiigt von den neuesten theo- 
retischen Resultaten der Anthropologie, der Eihnographie und der 
Philologie, das Bild der primitiven Anfänge der Kunst und der all- 
mählichen Absonderung der Dichikunst von dieser synkretischen 
Urkunst. Weiter finden wir in diesem Bande eine sehr feinsinnige 
und sireng wissenschaftliche, mittels der Analyse des vorhandenen 
folkloristischen Materials erreichte Rekonstruktion der ältesten 
Schichten der ukrainischen Volkspoesie. Diese zerfällt bei ihm in 
die älteste Poesie der gemeinsam-slavischen Epoche und der ersten 
Zeiten nach der Abtrennung vom slavischen Stamme — und in die 
schon viel differenziertere und lebendigere Poesie der Epoche der 
Steppenkultur und der Anfänge der Kiever Staatlichkeit. Die größten 
Überreste dieser beiden ersten Perioden der ukrainischen Dichtung 
erhielten sich hauptsächlich in den alten Gebeten, magischen Formeln, 
Trauerliedern und in der sehr verbreiteten und beachtenswerten 
rituellen Poesie. Der wissenschaftlichen Darstellung dieser dichte- 
rischen Formen und Inhalte ist der größte Teil dieses ersten Bandes 
gewidmet. Ein besonderer Abschnitt behandelt die ältesten Schichten 
in der Prosadichtung. 

Erst im Il. und Ill. Bande finden wir das, was wir bis jetzt für die 
Anfänge der ukrainischen Literatur zu halten gewohnt waren, und 
zwar die Geschichte des Schrifttums der Kiever und der Galizisch- 
Wolhynischen Fürstenepoche (10.— 14. Jahrh.). Aber auch hier weicht 
die Darstellungsweise sehr stark von der bis jet üblichen Art ab. 
Nach der griindlichen Behandlung der Rolle des Christentums im 
Entstehungs- und Entwicklungsprozesse des ukrainischen Schrifttums 
berührt der Verfasser flüchtig die kirchliche Übersekungsliteratur und 
geht zur gründlichen Wurdigung des originellen Schrifttums des 
11. und 12. Jahrh. über. Manche veraltete Ansicht wird korrigiert, 
manche literarische Erscheinung in neuem Lichte gezeigt. Weiter 
sehen wir, als Ubergang zur Darstellung der Literatur des 12. bis 
13. Jahrh., die gründliche Würdigung des berühmten Heldenliedes 
über den Feldzug Ihors. Die Hauptmasse des dichterischen Materials 
dieser Zeit sieht der Verfasser in den altukrainischen Chroniken, in 
welchen sehr viele Überreste des Heldenepos, der Heldensagen und 
Ritterromane zerstreut sind. Hier finden wir die erste diesbezüg- 
liche genaue Analyse aller wichtigeren altukrainischen Chroniken. 
Es folgt der Überblick des ganzen übrigen, schon von früher wohl- 
bekannten literarischen Materials des 12., 13. und 14. Jahrh. 

Der umfangreichste IV. Band ist der Helden- und Volksdichtung 
der Fürstenepoche und der weiteren Ubergangsperiode bis zum 
17. Jahrh. gewidmet. Der Verfasser sondert hier aus der Volks- 


409 


dichtung die heroischen Elemente der Fürstenepoche und die christ- 
lichen Schichten der religiösen Sage ab. So finden wir hier die 
ebenfalls erste vom ukrainischen literarischen Standpunkte vor- 
genommene wissenschaftliche Analyse des in Rußland erhaltenen 
altukrainischen Heldenepos (byliny). Besonders lehrreich ist auch 
die Absonderung der christlichen dichterischen Elemente in der 
ukrainischen Volkspoesie. 

Im V. Bande endlich sehen wir die Übersicht des Schrifttums 
vom Ende des 14. Jahrh. bis zum Jahre 1610. Die neue, lebendige 
Auffassung der ukrainischen Literatur wirkt sich hier in der Negie- 
rung der bis jetzt üblichen Ansicht, daß die Epoche vom 14. bis zum 
16. Jahrh. für die ukrainische Literatur die Zeit des unbedingten Ver- 
falls bedeutete, aus. Der Autor liefert schlagende Beweise und 
überzeugendes literarisches Material dafür, daß auch in dieser Zeit 
die ukrainische Literatur existierte und sich entwickelte, die ideolo- 
gischen Vorbedingungen zur ersten ukrainischen literarischen Wieder- 
geburt in der 2. Hälfte des 16. Jahrh. in sich aufnehmend. Dieser 
„ersten Wiedergeburt“, d. h. vornehmlich der ungemein interessanten 
ukrainischen polemischen Literatur des 16.— 17. Jahrh., ist der zweite 
Teil des V. Bandes gewidmet. 

HruSevSkyj trachtet das Material immer sub specie seiner aus- 
gesprochen literarischen, dichterischen Eigenart zu beurteilen. Doch 
nimmt oft die starke soziologisch-historische Einstellung des Autors 
überhand, und er läßt sich zu den bei der literarhistorischen Betrach- 
tung überflüssigen, viel zu genauen historischen Exkursen und Aus- 
fuhrungen verleiten (so immer bei der Schilderung des Milieus, weiter 
bei der Analyse der Chroniken usw.). Trotzdem bleibt dieses Werk 
ein sehr bedeutender Versuch streng wissenschaftlicher Behandlung 
der ukrainischen Dichtung unter Berücksichtigung der neuesten Er- 
gebnisse der modernen Literaturwissenschaft und sämtlicher Hilfs- 
disziplinen. Die Hauptverdienste des Autors sind: daß er als Erster 
die Dichtung als ein großes Ganzes, ungeachtet der äußerlichen, for- 
malen Merkmale der schriftlichen bzw. mündlichen Tradition, betrach- 
tet — und daß er die erste genauere Darstellung der ukrainischen 
Volkspoesie in historischer Perspektive lieferte. Diese zwei 
Eigenschaften seiner Arbeit werden sicher der jungen Generation der 
Literaturforscher viele neue Anregungen geben — und somit wird 
dieses Werk einen großen Schritt auf dem Wege zur Freimachung 
der literargeschichtlichen Studien aus den Fesseln des als Selbst- 
zweck betriebenen, öden, pedantischen Philologisierens bedeuten. 
Schon deswegen verdient die Arbeit HruSevSkyjs die Beachtung auch 
seitens der nichtukrainischen Wissenschaft. Obzwar der alten Lite- 
ratur gewidmet, ist das Buch, methodologisch und auch stofflich, viel 
aktueller und moderner als die vorhandenen Übersichten der 
neueren ukrainischen Literatur. Hoffen wir also, daß der Verfasser 
sein vorireffliches Werk zu Ende führen und somit auch das Gebiet 
der neueren und neuesten Dichtung beleben wird. 


410 


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BOCHERBESPRECHUNGEN 


Franz Grivec, Die heiligen Slavenapostel Cyrillus und Methodius. 
Olmütz 1928. In Kommission bei dem Matthias Grünewald-Verlag, 
Mainz. 173 S. 


Die Literatur über die Slavenapostel, die bis zum Jahre 1903 etwa 1580 
Nummern aufwies, enthielt bisher keine den wissenschaftlihen Anfor- 
derungen entsprechende Heiligenbiographie. Gr., der durch verschiedene 
Abhandlungen über die Theologie der Slavenapostel bekannt ist, hat die in 
slovenischer Sprache verfaßte Biographie nunmehr auch den deutschen 
Lesern zugänglich gemacht. Dem Buche, dem ein Quellen- und Literatur- 
verzeichnis sowie 40 Bilder Saflichem sind, ist die weiteste Verbreitung 
zu wünschen. Von wissenschaitlichem Geiste getragen, erfüllt es seine 
Aufgabe, ein Volksbuch zu sein, im besten Sinne des Wortes. Daß auch 
hier viele Probleme ungelöst bleiben, liegt an dem Quellenmaterial, das 
bekanntlich nur zu einem kleinen Teil glaubwürdig ist. Auch G. ist deshalb 
gezwungen, die Legenden heranzuziehen. Den größten historischen Wert 
schreibt er den altslavischen Legenden zu. Der italienischen Legende 
steht er, wie Zu Brückner und Naegle, skeptisch gegenüber. Polemik 
a 1 vermieden, die feindliche Haltung der deutschen Bischöfe 

en Aposteln wird objektiv geschildert. Einige Fragen würde man gern 
ausführli er behandelt wünschen, z. B. das Motiv der Reise des Method 
nach Konstantinopel. Gr. kann allerdings hierzu sagen, daß wir etwas 
Zuverlässiges hierüber nicht wissen, daß man über Motive nur Vermutungen 
aussprechen kann. Für ein Volksbuch mußte natürlich die Behandlung rein 
wissenschaftlicher Streitfragen ausscheiden. Aber ich bemerke ausdrücklich, 
daß das Buch auch für den Wissenschaftler von Interesse ist. 

Breslau. F. Haase. 


Georg Jacob: Arabische Berichte von Gesandien an germanische 
Fürstenhöfe aus dem 9. u. 10. Jahrhundert. — Walter de Gruyter 
u. Co., Berlin und Leipzig, 1927. 


Als erstes Heft ge von V. v. Gera mb und L. Mackensen heraus- 
gegebenen „Quellen zur deutschen Volkskunde“ liegen die 
ins Deutsche übertragenen und mit vortrefflichen Fußnoten versehenen 
gen Berichte” vor. Eine „Einleitung“ (S. 1—7) beleuchtet die Uber- 

ieferung der Quellen mit Angabe ihrer bisherigen Bearbeitungen. Die 
Würdigung, 4 die hier angeführten Reiseberichte finden, eröffnen, 
naturgemäß, dem Nicht-Arabisten vielfach ganz neue Gesichtspunkte. Wenn 
das Heft auch der deutschen Volkskunde dienen will, so wird es aber 
ge dem Historiker Osteuropas sicherlich wertvollste Dienste leisten: 
;hmen, Polen, Bulgaren, Russen, Chazaren u. a. m. sind doch diesen Rei- 
senden des 9. u. 10. Jahrh. bekannt geworden. Was z. B. ein Ibn Jagüb uns 
bedeutet, hat ja die von Holzmann im 25. Bd. der „Zeitschrift des Vereins 
f. Gesch. Schlesiens“ wieder eröffnete Untersuchung der poln. u. bohm. Ge- 
schichte im 10. Jahrh. allenthalben von neuem gezeigt. Es ist äußerst dan- 


411 


kenswert, daß J. uns in so lege: Weise diese wissenswerten Be- 
richte im vorliegenden Heft so leicht zugänglich gemacht hat. 
Breslau. Erdmann Hanisch. 


Dr. Stepan v. Smal-Stoékyj: „Rozvylok pohljadiv pro semja 
slovjanskych mov i jich vzajimne sporidnennja“. (Die Entwick- 
lung der Ansichten über die Verwandischaftsverhalinisse in der 
slavischen Sprachenfamilie.) — Prag 1927. 


Das vorliegende Buch ist eine umgearbeitete Ausgabe der gleich- 
namigen Arbeit, die schon im J. 1925 in den Mitteilungen der Ukrainischen 
Wissenschaftlichen Sevéenko-Gesellschaft in Lemberg (Bd. 141—143, Album 
Societatis Scientiarum Sevéenkianae Ucrainensium Leopoliensis ad solem- 
nis sua decennalia quinta 1873—1923) erschienen ist. Der Verfasser, welcher 
schon im J. 1913 eine vortreffliche wissenschaftliche Grammatik der ukraini- 
schen Sprache deutsch erscheinen ließ, behandelt hier eine viel umstrittene 
Frage über die Verwandtschaftsverhaltnisse zwischen den einzelnen slavi- 
schen Sprachen und gibt eine klare kritische übersicht der Entwicklung dies- 
bezüglicher Ansichten der bedeutendsten Slavisten seit Dobrovsky bis auf 
den heutigen Tag. 

Es gibt in der Slavistik noch sehr viele Streitfragen, deren Lösung 
durch verschiedene mehr oder weniger phantastische Theorien sehr er- 
schwert wird. Bei der Klassifikation der slavischen Sprachen spielt. noch 
heute die sogenannte Stammbaumtheorie eine wichtige Rolle. Sehr lange 
hat in der Wissenschaft die Ansicht geherrscht, daß zwischen dem heutigen 
Zustand und der Periode der urslavischen Einheit noch eine Mittelstufe an- 
zunehmen ist, wo die ganze slavische Sprachfamilie nur teilweise differen- 
ziert erschien und nur drei einheitliche Ursprachen, d. i. eine west-, süd- 
und ostslavische oder „russische“ Ursprache, umfaßte. i , 

Von einer westslavischen und südslavischen Ursprache spricht man in 
der heutigen Wissenschaft nicht mehr. Heute herrschen schon andere An- 
sichten über die Verwandtschaftsverhalinisse zwischen den einzelnen Spra- 
chen, was vor allem dem guten Einflusse der J. Schmidischen Wellentheorie 
zu verdanken ist. Nur noch die früher vorausgesetzte Existenz der sog. „ur- 
russischen Sprache”, aus der sich später die drei heutigen ostslavischen 
Sprachen (russische, weißruihenische und ukrainische) entwickelt haben 
sollen, wird sehr hartnäckig verteidigt, vor allem von den Slavisten, die der 
russischen Schule angehören. Die meisten Forscher unterliegen außerdem 
der Suggestion der Terminologie (Ruś, russisch), deren wahre Bedeutung 
nur von wenigen gut verstanden wird. 

Die vorliegende Arbeit samt der obenerwähnten Grammatik bedeutet 
für die Slavistik einen großen Schritt nach vorwärts und wird auch ihre 
aufmerksamen Leser finden. 

Dem Buche ist eine kurze Bemerkung über Weingarts falsche, d. i. der 
wirklichen damaligen ukrainischen Aussprache nicht entsprechende Tran- 
skription der kirchenslavischen Texte der ukrainischen Redaktion und eine 
andere über die Arbeit van Wijks: „Remarques sur le groupement 
langues slaves“ beigefügt. 

Berlin. K. Cechovyé. 


Giovanni Maver: Leopardi presso i croati e i serbi. — Roma, 
Istituto per l’Europa Orientale, 1929, 69S., 8°. (Piccola biblioteca 
slava. 4.) 

Maver hat seine Untersuchungen über die Übersekungen Leopardischer 
Werke ins Kroatische und Serbische zu einer interessanten Studie er- 
weitert über grundsäßliche Fragen nach der kulturellen und sprachgeschicht- 
lichen Bedeutung, die Übersekungen aus einer alten und reifen Literatur 
in eine jüngere und noch weniger ausdrucksfähige Sprache haben können. 
Er stellt fest, daß von allen slavischen Literaturen die serbisch-kroatische 


412 


am reichsten ist an Übersekungen aus dem Italienischen, was bei dem 
starken kulturellen Einfluß, den Italien auf das benachbarte Küstenland aus- 
geübt, auch nicht wundernehmen kann. Es kommt aber noch dazu, daß es 
gerade Überseber als eine lohnende Aufgabe reizen kann, sich an Uber- 
setzungen zu wagen, für die der eigene Sprachschatz noch nicht reich genug 
ist, wo es ihnen also überlassen ist, sich wortbildnerisch zu betätigen. M. 
führt hier einen typischen Fall an. Trotzdem also die Bedingungen für 
Ubersebungen aus dem Italienischen ins Kroatische günstig waren, ist es 
doch nur in den seltensten Fällen dazu gekommen, daß ganze Bände eines 
italienischen Dichters übersetzt worden sind, vielmehr treten Übersetzungen 
italienischer Dichtungen meistens sporadisch auf als Beiträge in Zeitschriften 
usw. Diese Art der Aufnahme hat neben manchem Nachteiligen auch wieder 
ihre Vorzüge. Ist erst einmal ein fremder Dichter in einer gesamten Aus- 
gabe in eine andere Sprache übersetzt worden, dann wird sich nur in den 
seltensten Fällen ein anderer Überseber für ihn finden, und die einmal ein- 
gebiirgerte Übersekung mit ihren eventuellen Mängeln behält dann ge- 
wissermaßen das Monopol. M. erwähnt hier einen typischen Fall in einer 
anderen slavischen Literatur, nämlich die Übersetzung Leopardis durch 
Vehlicky. Die Cechen besitzen durch ihn eine vollkommene, aber .teils an- 
fechibare, teils veraltete UÜbersekung, während im Serbo-Kroatischen 
manche Dichtungen Leopardis unübersebt geblieben sind, einige von ihnen 
aber dafür in Übersekungen vorhanden sind, die dem neueren Sprach- 
zustand besser entsprechen. 

M. verfolgt das Auftreten von Übersebungen nach Leopardi in chrono- 
logischer Reihenfolge, die erste fällt in das stürmische Jahr 1849 und 
stammie von Orsat Police, später genannt Medo Pucié. Er hafte in der 
„Danica Ilirska“ die Ubersekung von „Amore e Morte“ veröffentlicht und 
damit zum erstenmal das sonst für Übersekungen aus dem Italienischen 
ins Kroatische beliebte Gebiet arkadisch-anakreontischer Poesie verlassen, 
und vermutlich wird der schwierige Gedankengang der Leopardischen Dich- 
tung den Kroaten Dalmatiens und Kroatiens sehr verwunderlich erschienen 
sein. Pudcié war ausgezeichneter Kenner des Italienischen. M. unterzieht 
die einzelnen später folgenden Ubersebungen von Pučić eingehender Kritik 
und kommt zu dem Schluß, daß er im großen und ganzen den Originalen 
gerecht geworden ist und Leopardi nicht ın veränderter Gestalt wieder- 
gegeben hat. Im Verlauf der weiteren Untersuchungen kann M. feststellen, 
daß nicht jeder Überseber die nötige Kenninis des Italienischen besessen 
hat, um diesem so ungewöhnlich schwer verständlichen Dichter gerecht zu 
werden, ja, es kommen grobe sprachliche Schnitzer vor, und der Charakter 
des großen Atheisten und Pessimisten wird durch manche Übersekung 
grundsätzlich verkehrt wiedergegeben, so bei Buzolié, der als Geistlicher 
Leopardi gewissermaßen „für die Jugend“ bearbeitet hat. Interessante 
Schlaglichter fallen auch auf die dialektischen Neigungen mancher Uber- 
seber, die es fertig brachten, den nichts weniger als volkstümlichen, eher 
antidemokratischen Dichter im Geschmack des Folklore ihren Landsleuten 
mundgerechter zu machen. Auch an Versuchen, seine tiefgründige Dichtung 
ins Kanzonettenhafte umzukneten, hat es nicht gefehli. Im allgemeinen 
verdienen die dalmatinischen Überseber das meiste Lob, die ihrer ganzen 
kulturellen Einstellung nach auch am ehesten imstande waren, eine so 
schwierige Aufgabe zu leisten. Eine Ausnahmestellung nehmen die Über- 
sekungen von Tresié-Pavicié ein, er ist unter allen bisherigen kroatischen 
und serbischen Übersebern Leopardis derjenige, der ihm kongenial genannt 
werden kann. Er hat sich auch vom einheimischen Zehnsilber frei gemacht 
und es versucht, den Metren der Originale zu folgen. Auch der Dalmatiner 
Sibe Miličić hat Ausgezeichnetes geleistet, der 1914 „La sera del di di 
festa“ meisterhaft übersetzte. M. sieht in dieser Leistung nicht nur das 
Verdienst des Ubersefers, sondern rechnet es auch dem allgemeinen 
sprachlichen Fortschritt an, der durch Generationen von Ubersebern erreicht 
worden ist. Ein Besserwerden ist fortab durchschnittlich zu verzeichnen. 
Gerade in dieser entwicklungsgeschichilichen Betrachtung liegt ein großes 


27 NF 5 413 


Verdienst Mavers, er versteht es, durch diese Untersuchungen über einen 
einzelnen italienischen Dichter und seine Aufnahme in der Literatur eines 
anderen Volkstums interessante Schlaglichter auf die gesamte geistige Ein- 
stellung von Generationen zu werfen. 

_ Es sei nur beiläufig erwähnt, daß ein Irrtum im Text unberichtigt ge- 
blieben ist. Die auf S. 16 zitierte Stelle „Troppo mite decreto quel che 
sentenzia ogni animale a morte..." ist nicht, wie angegeben, aus „Amore 
e morte“, sondern aus „Il tramonto della luna“. 

Breslau. Emmy Haertel. 


Hans Koch: Die russische Orthodoxie im Peftrinischen Zeitalter. 
(Osteuropa-Institut in Breslau. Quellen und Studien. Abteilung: 
Religionswissenschaft. Neue Folge: Erster Band). — Priebatsch’ 
Buchhandlung Breslau und Oppeln 1929, 191 S. 


Peter d. Gr. hätte sein Reformwerk wohl nicht so rasch durchführen 
können, wenn nicht führende Geister in Rußland den abendländischen Kul- 
tureinflüssen Tür und Tor geöffnet hätten. Selbst die russische Theologie, 
die bis dahin ganz abhängig von der griechischen Mutterkirche gewesen 
war, geht jezt in die abendlandische Schule. Mit Recht kann deshalb Koch 
seine Untersuchung einen Beitrag zur Geschichte westlicher Einflüsse auf 
das osfslavische Denken nennen. 

Er gibt zunächst einen geschichtlichen Überblick über die Stellung der 
russischen Orihodoxie zum westlichen Christentum; der Katholizismus 
wurde grundsäßlich abgelehnt, der Protestantismus bedingt bekämpft. In 
der Mariologie und der Abendmahlslehre rage sih aber, besonders bei 
den Kiever Theologen, frühzeitig katholischer Einfluß. In den großen Zeit- 
genossen und Mitarbeitern Peters an seiner Kirchenreform wird die rus- 
sische Theologie entscheidend in abendländische Systeme gefaßt. Stephan 
Javorskij ist der Vertreter der katholischen, Theophan Prokopovič der Ver- 
treter der protestantisierenden Richtung. Koch zeigt dies an der Stellung- 
nahme der beiden Theologen zum Schrift- und Traditionsprinzip, ın der 
Lehre des Kirchenbegriffes, der Erlösung und Rechtfertigung. Literarisch 
sind dabei beide Theologen mehr oder minder stark von ihren abend- 
ländischen Vorlagen abhängig. Das reiche Quellen- und Literaturverzeich- 
nis zeigt die außerordentliche Belesenheit und Kenntnis des Verfassers. 
Die nachstehenden Ausführungen sollen einige Ergänzungen zu den 
interessanten Problemen, die Koch behandelt hat, geben. In der Ein- 
leitung gibt Koch eine Charakteristik Javorskijs und des Prokopovič. 
Für das Verständnis dieser Männer und ihrer Theologie ist es durchaus 
notwendig, ihren Erziehungs- und Bildungsgang zukennen, da den deutschen 
Lesern diese beiden Theologen wohl ziemlich unbekannt sein werden. Bei 
der Schilderung der Stellung Rußlands zur kath. Kirche wäre die rein 
chronologische Anordnung der systematischen unbedingt vorzuziehen. Denn 
die Stellung war tatsächlich im Laufe der Geschichte verschieden. Auch 
kommt bei Koch nicht zum Ausdruck, daß Nordrußland zum Katholizismus 
eine andere Stellung eingenommen hat als Südrußland oder Weißrußland. 
Viel wichtiger als die äußerliche Stellungnahme Rußlands zu den westlichen 
Kirchen wäre ein Überblick über die Entwicklung der russischen Theologie 
gewesen. Die Bedeutung eines Maxim Grek für die russische Dogmatik 
muß für das Verständnis der russischen Theologie hervorgehoben werden. 
Koch behandelt eigentlich nur drei Probleme der damaligen russischen 
Theologie: Schrift und Tradition, Kirchenbegriff, Erlösung und Rechtferti- 
gung. Die S. 50—73 behandelte Mariologie und Abendmahlslehre ist nur 
unter dem Gesichtspunkt des Kryptokatholizismus betrachtet. Diese streng 
systematische Anordnung halte ich nicht für richtig. Denn es ist doch klar, 
daß der katholisierende Javorskij ganz andere Stoffe behandelt als der 
protestantisierende Prokopovié. Bei der Darstellungsweise Kochs erhalten 
wir deshalb keinen vollständigen Überblick über die gesamte Theologie 
dieser Männer, sondern nur über einen Ausschnitt. Es sieht so aus, als 


414 


wenn die vom protestantischen Gesichtspunkte aus angeordnete Systema- 
tisierung auch bei Javorskij die leitende Idee wäre. Der Leser, der einen 
Gesamtüberblick über die russische Orthodoxie im Petrinischen Zeitalter 
sucht, wird auch die Frage stellen: Hat die damalige Theologie sich nicht 
mit den alten Streitfragen des filioque, des päpstlichen Primates befaßt? 
Wenn der Verfasser so ausführlich die Lehre von der Epiklese in der grie- 
chischen Kirche und bei den Ostslaven behandelt, so kann man die weitere 
Frage stellen: Weshalb sind nicht auch die zu fast dogmatischer Bedeutung 
erhobenen Lehrmeinungen über die Verwendung des Ungesäuerten bei den 
hl. Gaben, das Fastengebot behandelt? Koch hat sich ferner damit be- 
gnügt, die obenerwähnten Hauptpunkte aus den Werken des Javorskij und 
Prokopovič darzulegen. Aber bilden diese beiden Gelehrten die russische 
Orthodoxie jener Zeit? Die gesamte theologische Literatur der Petrinischen 
Zeit hätte untersucht werden müssen, um ein vollständiges Bild der rus- 
sischen Orthodoxie zu geben. Überhaupt bin ich der Meinung, daß die 
dogmengeschichtliche Behandlung und Bearbeitung der dogmatisch-systema- 
tischen vorzuziehen wäre. Allerdings wäre dann die Arbeit bedeutend 
umfangreicher geworden. Denn Koch hatte dann noch die gesamie neuere 
russische Theologie untersuchen und feststellen müssen, ob und inwieweit 
ein Einfluß der Theologie des Petrinischen Zeitalters sich nachweisen läßt. 

Auch bezüglich der Vorlagen, welche Javorskij und Prokopovič be- 
nutzten, finden wir bei Koch keine abschließenden Untersuchungen. Die von 
ihm selbst angeführte Tatsache (S. 175, Anmerkung 1), daß die literarischen 
Vorlagen Javorskijs genauer behandelt sind als die von Prokopovič, hatte 
ihn veranlassen sollen, sein Urteil vorsichtiger zu fassen. Nur eine ein- 
gehende Quellenuntersuchung kann den Nachweis liefern, ob und inwieweit 
wir es mit Plagiaten zu tun haben. 

Ich möchte noch ausdrücklich betonen, daß Koch durchaus objektiv 
urteilt, wenn er auch aus seiner Sympathie für Prokopovič kein Hehl macht. 
Diese besondere Hervorhebung der Objektivität halte ich für nötig, weil 
einige Stellen leicht gegen diese ausgewertet werden können. So schreibt 
er S. 157: „Es ist für den protestantischen Historiker erhebend und er- 
schütternd zugleich, wie das Theophansche System — und seine Schule — 
die Säulen des amtlichen Verdienstbegriffes in der Orthodoxie der eigenen 
Kirche ablehnt und stürzt.“ Von orthodoxer Seite wird dagegen einge- 
wendet werden, daß schon die russischen zeitgenössischen Theologen den 
Prokopovič als Häretiker abgelehnt haben. Ob und inwieweit durch Pro- 
kopovié tatsächlich „ein Sieg des protestantischen Glaubens in der sla- 
vishen Welt“ (S. 186) zu verzeichnen ist, könnte nur die oben gewünschte 
dogmengeschichiliche Bearbeitung zeigen. 

. Breslau. F. Haase. 


Denkmäler altrussischer Malerei. Russische Ikonen vom 12.— 18. 
Jahrhundert. Ausstellung des Volksbildungskommissariats der 
RSFSR und der deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas 
in Berlin, Köln, Hamburg, Frankfurt a. M., München. — 3. Auflage 
1929 Osteuropa-Verlag, Berlin und Königsberg. 38 S. 


_ „Die Heiligenbilder standen jahrhundertelang im Mittelpunkt der rus- 
sischen Frömmigkeit. Gerade in Westeuropa ist aber das Vorurteil herr- 
schend, daß in der russischen Ikonenmalerei die byzantinische Versteine- 
rung und Einförmigkeit so weit gegangen sei, daß die Kunst darunter ge- 
liten hatte. Es ist deshalb sehr zu begrüßen, daß die in den obengenannten 
Städten veranstaltete Ausstellung weiten Kreisen Gelegenheit gegeben hat, 
die Schönheiten der russischen Ikonen kennen zu lernen. Der bedeutendste 
Forscher auf dem Gebiete der russischen Ikonenmalerei, Igor Grabar, weist 
in der Einleitung darauf hin, daß die zerstörende Macht der Zeit und die 
Menschen selbst die ursprünglichen Denkmäler oft bis zur völligen Un- 
erkennbarkeit entstelt haben. Mit größter Sorgfalt hat Grabar einen 


415 


großen Teil der Ikonen in derjenigen Gestalt, die ihnen ihre Schöpfer ge- 
geben haben, wiederhergestellt. Das Verzeichnis der ausgestellten Ikonen 
und eine Auswahl von 16 Bildern werden auch denjenigen, welche die 
stellung nicht besichtigen konnten, sehr erwünscht sein. 

Breslau. F. Haase. 


Karl Nötzel, Wladimir Solowjow: Von der Verwirk- 
lichung des Evangeliums. Eine Botschaft aus seinem Gesami- 
werk ausgewählt, übersetzt und erläutert. — Hans Harder-Ver- 
lag, Wernigerode am Harz. 125 S. 

F. Goetz: Der Philosoph W. Solowioff und das Judenium. — Riga 
1927. 87 S. 


Nößel ist bekannt durch seinen Eifer, das geistige und religiöse Rub- 
land dem Abendlande verständlich zu machen. Ich halte es für besonders 
verdienstlich, daß er weiteren Kreisen die russischen Quellen durch Uber- 
sebungen zuganglich macht. Denn nur diese können einen unmittelbaren 
Einblick in die schwer verständliche Geistesrichtung der russischen Religions- 
philosophie geben. In der vorliegenden Auswahl hat er eine Reihe von 
Texten zusammengestellt, welche die Bedeutung Solov’evs für die modernen 
Kulturprobleme zeigen. Ich nenne nur: Die Bedeutung des Rechtes, der 
Sinn der Strafe, die Heilung des Verbrechers, die Todesstrafe, die soziale 
Frage, Nationalismus und Christentum, Vaterland und Universalismus, 
Judentum und Christentum. S. zeigt hier, daß er, wie sein großer Lands- 
mann und Zeitgenosse Tolstoj, über nationale und religiöse Vorurteile 
erhaben ist und daß er vor einem halben Jahrhundert Probleme behandelt 
hat, die haute im felpunkte stehen. 

Eine dieser Sonderfragen hat Goeb näher dargesiclit. Es ist aber 
nicht richtig, daß S. als Apologet des Judentums in Deutschland völlig 
unbekannt sei. Bereits i. J. 1911 hat Ernst Keuchel die Schrift Solov’evs 
„Judentum und Christentum” übersetzt. Goeb, ein langjähriger Freund 
Solov’evs, hat im Jahre 1901 in den „Fragen der Psychologie und Philo- 
sophie”, einer von Fürst S. Trubebkoi herausgegebenen Zeitschrift, einen 
Artikel über die Beziehungen Solov’evs zur jüdischen Frage veröffentlicht, 
der mit einigen wesentlichen Ergänzungen nunmehr den deutschen Lesern 
zugänglich gemacht wird. S. hielt die Verteidigung des Judentums gegen 
unwahre Angriffe für eine religiöse und patriotische Pflicht, er widerlegt 
die nationalen, ökonomischen und politischen Beschuldigungen und behandelt 
das Verhältnis des Judentums zum Christentum, die Beziehungen der 
Evangelien zum Talmud. Wenn auch in erster Linie die Lage des Juden- 
tums in Rußland in den achtziger und neunziger Jahren des vorigen jahr- 
hunderts den Anlaß zu dem Artikel Goebens gegeben hat, so verdient er 
doch auch heute noch wegen der grundsätzlichen Stellungnahme Solov’evs 


zum Judentum Beachtung. 
Breslau. F. Haase. 


Nicolas von Arseniew, Die russische Literatur der Neuzeit 
und Gegenwart in ihren geistigen Zusammenhängen. — Dios- 
kuren-Verlag, Mainz 1929. 410 S. 


Das Buch des Königsberger Privatdozenten und früheren Professors 
an der Universität Saratov ist in der von Otto Forst-Battaglia heraus- 
gegebenen Buchreihe „Die Literaturen der Gegenwart” erschienen. Diese 
Buchreihe tragt den Obertitel „Well und Geist“. Damit ist die Tendenz 
klar herausgestellt; die Literatur soll nicht nach ihrem formalen Charakter 
geschildert werden, sondern der weltanschauliche Gehalt bildet Ziel und 
Inhalt. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, hat Arseniew seine Auf- 
gabe vorzüglich gelöst. Es ist selbstverstandlich, daß bei einer solchen 


416 


Darstellung die subjektive orure ung Starr hervortritt. Für den Anfänger 
empfiehli es sich daher, vorher die Geschichte der russischen Literatur von 
A. Luther zu lesen, die auch A. als ganz unentbehrliches „Standardwerk“ 
bezeichnet. Die Eigenart der Literaturgeschichten von Luther und Arseniew 
kann man am besten durch zwei Vorgänger klarmachen: Die Geschichte 
der russischen Literatur von A. von Reinholdi, Leipzig 1886, und von 
Brückner. R. legt ebenso wie Luther den Hauptwert auf möglichst voll- 
ständige Darstellung der Gesamtepochen, der Schilderung des Lebens 
und der Werke der Schriftsteller und Dichter, Brückner und Arseniew 
suchen den geistigen Gehalt klarer herauszustellen. Arseniew hat hierbei 
den Vorzug, daß er als griechisch-orthodoxer Christ die religiose Grund- 
tendenz viel tiefer und besser versteht. Die Vorliebe des Verfassers für 
die religiöse Einstellung führt ihn allerdings dazu, daß er ausführlich Gegen- 
stände behandelt, die mehr theologischen als literarischen Charakter 
tragen. (Chomjakovs Lehre von der Kirche.) In dem Abschnitt über 
Dostoevskij zeigt es sich aber am klarsien, daß dieser tiefrcligiose Dichter 
nur durch religiöse Einfühlung richtig verstanden werden kann. Nicht ganz 
zufreffend ist dagegen die Beurteilung D.s in seiner Stellung zu den west- 
europäischen Völkern. Seine eigenartige Auffassung des Wahrheitsbegriffes 
zeigt ja am besten, daß er mit dem westeuropäischen Geist keine Gemein- 
schaft haben will, seine haßerfüllten Ausfälle gegen Deutschland und das 
deutsche Volk können schwerlich mit brüderlichem Verständigungswillen 
in Einklang gebracht werden. 

Es kann hier nicht auf die einzelnen Kapitel eingegangen werden. 
Ich möchte nur noch bemerken, daß gerade für die religiöse Welt- 
anschauung Dichter wie Maikov und Nadson von größerer Bedeutung sind, 
als es A. annimmt. Bei der Behandlung der bol3evistischen Literatur muß 
hervorgehoben werden, daß A. trob seiner entschiedenen Ablehnung des 
BolSevismus eine V der Schriftsteller gibt. Die Dar- 
stellung der neuesten russischen Literatur und die weltanschauliche Be- 
urteilung ist zu begrüßen. , f 

Im Anhang gibt A. eine Auswahl der in Betracht kommenden Literatur. 
Auch hier will der Verfasser in erster Linie diejenige Literatur geben, die 
für das weltanschauliche Verständnis beachtenswert ist. Dies muß hervor- 
gehoben werden, weil Literarhistoriker die Angabe von nicht streng wissen- 
schaftlichen Aufsätzen beanstanden könnten. 

Ich freue mich, daß die weltanschauliche Charakteristik der russischen 
Schriftsteller und Dichter, die ich in meinem Buche „Die religiöse Psyche 
des russischen Volkes“ nur kurz schildern konnte (S. 226—238), von A 
eingehend behandelt worden ist. Für das Verständnis des russischen 
Volkes ist deshalb sein Buch gerade in der jebigen Zeit sehr willkommen. 

Breslau. F. Haase. 


Maxim Gorki: Gesammelte Werke in Einzelausgaben, deutsch. — 
Malik-Verlag, Berlin, o. J. 


Seiner Tolstoj-Ausgabe hat der Berliner Malik-Verlag nun auch die 
Werke Gorki’s zu annehmbaren Bandpreisen folgen lassen. Die Ubersetzer 
sind als solche wohlbekannt: Fred M. Balte, Erich Boehme, 
Klara Brauner, Adolf Heß, August Scholz, Siegfried 
von Vegesack. Auch neueste Schriften Gorkij’s finden wir in dieser 
Ausgabe, die in gleich guter Ausstattung wie die Tolstoj-Ausgabe heraus- 
gebracht wurde. Uber den literarischen Wert Gorkij’schen Schaffens kann 
man ja verschiedener Au u sein. Immerhin wird auch für den, der, 
wie der Schreiber dieser Zeilen, Gorkij eine nur relative literarische Geltung 
zuerkennen kann, seine unzweifelhaft, schon durch den schwierigen Lebens- 
gang, interessante und bedeutsame Persönlichkeit größter Beachtung sicher 
sein. So wird die Beschreibung seines Werdeganges, welche Ilja Grus- 
dew in dem beigegebenen Bande „Das Leben Maxim Gorkis“ ent- 


417 


wirft, allgemeinem Interesse begegnen, wie gleicherweise der Band 
„Maxim Gorki: Erinnerungen an Zeitgenossen”. 
Breslau. Erdmann Hanisch. 


Ilja Ehrenburg: Die Verschwörung der Gleichen. Das Leben 
des Gracchus Babeuf. — Berlin, Malik-Verlag 1929, 8°. 290 
Seiten. Aus dem Russischen von Hans Ruoff. 


Nun dringt die „Vie romancée“, dieses charakteristische Produkt der 
bürgerlichen Weltordnung, bis in die Bezirke der proletarischen Dichtung. 
Dort, wo nur die Masse Mensch gefeiert, besungen, verherrlicht wird, hat 
einer das Leben eines anderen zum Roman gestaltet, der so weit Ge- 
schichte bleibt, daß die beigegebenen Faksimilia, die Anmerkungen und 
Kommentare gar nicht störend wirken. Dieser eine heißt freilich Ilja Eren- 
burg (oder wenn man will Ehrenburg), abkommandiert nach Paris, Mont- 
marire, in die feindliche kapitalistische Feste, als Pacemaker des literari- 
schen Bolschewismus; der andere Babeuf (Francois), später genannt Grac- 
chus, der Tribun. Ahnherr aller künftigen Sozialisten und Sozialismen. 

Über das Buch, welches so entstand, haben wir mancherlei zu sagen. 
Erstens, um mit dem Angenehmen zu beginnen: es ist hinreißend ge- 
schrieben (im Original). Zweitens, es ist unzulänglich übersebt. Drittens, 
die Aufmachung scheint es aus der Literatur ausscheiden und zum Agi- 
tationsmittel stempeln zu wollen. Viertens: das Zweitens und Drittens 
müssen wir aufrichtig beklagen, denn selbst dann noch verdiente Erenburgs 
„Zagovor rovnych“ auch von der reaktionaren Masse gelesen und nach Ge- 
buhr bewundert zu werden. 

Nicht als ob wir einem ewig-gültigen Meisterwerk ‚gegenüberstünden. 
Da ist nichts von der überlegenen Ruhe und der souveränen Durchdringung 
des Stoffes, wie in Anatole Frances unsterblichem „Les Dieux ont soif". 
Doch beschwingter Rhythmus, leidenschaftlicher Haß, beißende Ironie, ge- 
schickte Zeichnung und ein Hauch der historischen Größe, der jedem kon- 
genialen Werk über die Zeit der Französischen Revolution anhaftet. Vor- 
trefflich, ob auch überspibt, die Kontrastwirkung zwischen dem grandiosen 
Beginnen und dem klä apie Ausgang einer Volkserhebung, von der wir 
heute, nach Taine, und zumal nach Cochin, Gaxotte, genau wissen, wie 
wenig erhebend, wie wenig Volkeswerk ihre Urspriinge gewesen sind. 
Vortrefflich die Gegeniiberstellung von Narren und Schwarmern wie Babeuf 
und satten Schuften wie die Directeurs. 

Die Figuren der Tragikomödie Babeuf — Erenburg behält ständig den 
geziemenden halbironischen Ton bei, erst die Bearbeitung will Pathos in 
die Sache hineinbringen — sind im allgemeinen richtig portratiert. Babeuf 
zuförderst, der blutarme, erst delirierende, dann rasende Prophet, ein 
Pariser Knipperdolling und Arnold von Brescia, Savonarola (er hat eine 
stattliche Ahnenreihel. Babeuf, fanatisch, monoman, mit den Zügen von 
Anatole Frances Evariste Gamelin, und mild, zartlich, wie Camille Des- 
moulins. Dann Fouché, Barras, Kanaillen, wenn es je ‘Kanaillen gab. Ein 
wenig ungerecht kam die lebenslustige Madame Tallien davon, die besser 
war als ihr Ruf. Energischer Protest muß gegen die Karikatur Carnots 
erhoben werden, dessen edle Gestalt der parteimäßigen Besudelung ent- 
rückt sein sollte. 

Die Technik der Erzählung ist virtuos. Ein mächtiger Auftakt: nach dem 
Ende der Terreur. Hernach Rückblick auf Babeufs klägliches Dasein. Im 
ununterbrochenen Fluß hierauf die Verschwörung des Volkstribunen mit 
Buonarroti, Darthé. Der Verrat Grisels. Die Gefangennahme, der Prozeß 
und das Ende auf dem Schafott. (1797.) 

Ein Wort dem Register, das „der deutschen Ausgabe vom Verlag bei- 
gegeben wurde“ und die gleichmütige Skepsis Erenburgs mit einem Anhang 
bolschewistischer Pathetik versieht. Es verherrlicht den verleumdeten (7 
Carriére. Er hat ja nur Gegenrevolutionäre ins Wasser werfen oder sonst 
für das Verbrechen ihrer zu hohen Geburt bestrafen lassen! Marie Char- 


418 


lotte Corday: „ermordete Marat und wurde guillotiniert“. Das feige Scheu- 
sall Während hingegen Marat „einer der glühendsten und konsequentesten 
revolutionären Politiker... sich mit unbarmherziger Schärfe gegen die 
Halbheiten und Kompromisse der führenden Revolutionsmänner wandte“. 

Necker: „deckte... die zügellose Verschwendung des Hofes... rück- 
sichislos auf“ (und hätte eigentlich eine gute Zensur zu erwarten), jedoch 
„er... versuchte die Monarchie zu retten, und er mußte, allgemein ver- 
achiet, seinen Abschied nehmen“. Ich habe von der Ehrlichkeit und An- 
ständigkeit der Leitung des Malik-Verlags eine hohe Meinung. Trob der 
mich von ihm frennenden Verschiedenheit der Gesinnung, weiß ich seine 
bedeutenden Verdienste um die Literatur zu schätzen, deren russischen 
Meisterwerken er in Kreisen Eingang verschafft, welche sonst der Kol- 
portage gehören. Es ist auch nichts einzuwenden, wenn kommunistische 
Geschichtspropaganda betrieben wird. (Während bürgerliche Geschichts- 
propaganda allerdings im bolschewistischen Rußland todeswürdig erscheint). 
Nur sei alsdann, um reinlihe Scheidung durchzuführen, das betreffende 
Buch mit dem Vermerk gestempelt: Werbeschrift der K.P.D. oder irgend- 
wie in den Anmerkungen den zahlreichen Lesern, die den Zusammenhängen 
fremd und preisgegeben sind, mitgeteilt: dies ist unsere, der bewußten 
Kommunisten, subjektive Ansicht. Die Ubersetzung Könnte freilich auch 
dann noch, bei aller Abneigung gegen die Mittelklasse, wenigstens Mittel- 
klasse sein. 

Womit, ich wiederhole es, nichts wider das Werk Erenburgs gesagt sei, 
das ich — mein größtes Kompliment für Autor und Verlag — sogar in 
diesem Deutsch und mit diesem Kommentar auch außerhalb der Partei- 
kreise für lesenswert und wertvoll erkläre. 

Wien. Otto Forst-Battaglia. 


Dr. Hans Koch: Die Ukraine. — „Zeitwende“, München 1929. 
Heft 1 u. 2. 


. Daß die Ukraine so lange aus der Karte Europas verschwunden war, 
ist nicht ganz Schuld des ukrainischen Volkes. „Russischer und polnischer 
Staatsidee entsprach es, eine „ukrainische“ Frage verschwinden zu lassen; 
daher wußte bald auch die der Politik gefügige Wissenschaft durch Jahr- 
hunderte hindurch nur von „Kleinrussen“ oder „Ruthenen“, gelegentlich 
auch von „Kleinpolen“ zu berichten.“ 

_ Schon diese Worte verraten im Verf. einen guten Kenner der Verhält- 
nisse im Osten Europas, die durch die tendenziose Beleuchtung und irre- 
führende Terminologie auch für die Gebildeten schwer verständlich 
bleiben mußten. Diese Arbeit will über das ukrainische Land und Volk in 
kurzen Worten ganz objektiv informieren. Neben den statistischen Daten 
über die Größe der ukrainischen Nation und ihres Siedlungsgebietes finden 
wir hier eine klare Übersicht der Schicksale dieses zweitgrößten slavischen 
Volkes und seiner Bestrebungen um einen eigenen Staat, die auch manch- 
mal zur wirklichen Souveränität geführt haben. In der Schilderung der 
einzelnen Staatsversuche der Ukrainer hat es der Verfasser verstanden, 
in aller Kürze das Wichtigste und für die deutschen Leser Interessanteste 
zu geben. 

Berlin. K. Cechovyé. 


Ivan Ohijenko: Ukrajinska kultura, korotka istorjia kulturnoho 
Tytija ukrajinskoho naroda. (Ukrainische Kultur. Geschichflicher 
Überblick über das kulturelle Leben des ukrainischen Volkes.) — 
Katerynoslav-Leipzig 1923. 

Verf. bemüht sich, in diesem Buche eine ziemlich schwere Aufgabe zu 


lösen, und zwar das Problem der ukrainischen Kultur in seiner ganzen Tiefe 
und Breite in Form populärer Vorträge, welche seinerzeit an der ukraini- 


419 


schen Volksuniversität in Kiev abgehalten wurden, einem Durchschnittieser 
vor Augen zu führen. Die Motive, welche den Verfasser zu diesem Schritt 
veranlaßt haben, lagen in seinem Wunsche, dem Bewußtsein weiterer Kreise 
des ukrainischen Volkes im Momente der Wiederaufrichtung des ukrainischen 
Staates den Wert und die Originalität seiner kulturellen Leistungen einzu- 
prägen. „Welche Seite des Lebens wir auch untersuchen, überall sehen wir, 
wie originell und eigenartig das ukrainische Volk sich seine Kulturwelt schuf. 
Auf allen Gebieten seiner geistigen Produktion kommt die Originalität 
seiner reichen Kultur und seine hervorragende intellektuelle Begabung klar 
zum Ausdruck.“ ; 

Das ganze Material zerfällt bei Ohijenko in vier große Gruppen, jede 
derselben wieder in eine stattliche Anzahl von selbstandigen Kapiteln. Die 
erste Gruppe umfaßt, abgesehen von kurzen Bemerkungen allgemeinen 
Charakters, alle Erscheinungen der ukrainischen Kultur bis zum Ende des 
XVII. Jahrh. In der zweiten Gruppe hat der Verfasser den Einfluß der 
ukrainischen Kultur auf die moskovitische“ in einer im Verhältnis zum Um- 
fang des ganzen Buches sehr erschöpfenden Weise untersucht. Dieses 
Thema, welches bereits im Zeichen der neuen Zeit behandelt wird, weist 
eigentlich keine große Literatur auf, nachdem es früher, also im XIX. Jahrh. 
schwer möglich war, die Grundlagen der überaus mächtigen russischen 
Literatur auf ukrainische Quellen zurückzuführen. Die dritte Gruppe bildet 
die ukrainische Kultur des XIX. Jahrh., also die Epoche ihres Tiefstandes 
sowie die Zeit der langsam einsetzenden schwachen Wiedergeburt. Der 
lebte Teil endlich, „der Leidensweg des ukrainischen Volkes“, führt jene 
folgenschweren Schläge auf, welche dem ukrainischen Volke im Laufe der 
Geschichte seitens Moskaus nicht nur in politischer Hinsicht, sondern auch 
auf kulturellem Gebiete versetzt wurden, und welche in dem bekannten Ukas 
des Caren Alexander Il. vom Jahre 1876 endeten, auf Grund dessen die 
ukrainische Sprache in Wort und Schrift im ganzen russischen Imperium 
verboten wurde. Es wurde strengstens untersagt, ukrainische Bücher aus 
dem Auslande nach Rußland einzuführen, originale Werke oder Uber- 
setzungen in ukrainischer Sprache zu drucken, Theateraufführungen zu ver- 
anstalten, musikalische Werke mit ukrainischem Texte zu singen. Es ist 
nun ganz begreiflich, daß der Verfasser unter dem unmittelbaren Einfluß 
der unserem Bewußtsein bereits langsam entrückenden Ereignisse dem 
il. und IV. Abschnitt des Buches besondere Aufmerksamkeit widmete, so 
daß diese Teile auch rein räumlich die Hauptrolle in der ganzen Darstellung 
spielen. Als Materialiensammlung verdient das Buch unbedingt Beach 
um so mehr, als es außerdem auch eine große Anzahl guter und inter- 
essanter Illustrationen aufzuweisen hat. 

Berlin. J. Mirtschuk. 


M. Hru3evskyj: Kulturno-nacionalnyj ruch na Ukrajini v XVI i 
XVII stol. (Kulturell-nationale Bewegung in der Ukraine im XVI. 
und XVII. Jahrh.) — 2. Aufl., Wien 1919. 


Verf., der bekännteste zeitgenössische Geschichtsschreiber der Ukraine, 
gibt in diesem Buche einen zusammenfassenden Uberblick über alle wich- 
tigsten Erscheinungen in dem geistigen und kulturell-nationalen Leben dieses 
Landes aus der Zeitperiode um die Wende des XVI. Jahrh. Dieses Buch, 
in Wirklichkeit nur ein Auszug in ziemlich populärer Form aus dem grund- 
legenden, dokumentalen Werke, der achtbandigen Geschichte der Ukraine 
desselben Autors, sowie aus seinen früheren Spezialarbeiten, wurde schon 
zum großen Teile im Jahre 1909 in dem Journal „Literaturno — naukovyi — 
Vistnyk“ veröffentlicht; nur die lezten vier Kapitel kamen erst später hinzu. 

Die hier behandelte Epoche, und zwar das Ende des XVI. und der An- 
fang des XVII. Jahrh., bilden einen ungemein interessanten Abschnitt in der 
geistigen Geschichte der Ukraine, denn gerade in diese Zeit fallen die Be- 
strebungen der ukrainischen Gesellschaft, angesichts der Expansionspolitik 
der katholisch-polnischen Hierarchie, den Verfall der eigenen orthodoxen 


420 


Kirche aufzuhalten, im Zeichen der Konkurrenz mit den Jesuitenschulen, das 
bis nun vernachlässigte nationale Schulwesen nach neuen Mustern zu reor- 
ganisieren, das durch die Flucht der Magnaten ins polnische Lager ge- 
schwächte eigene Volkstum zu stärken, mit einem Worte, eine Wiedergeburt 
auf allen Gebieten des ukrainischen öffentlichen Lebens herbeizuführen. 
Nachdem das ukrainische Territorium damals beinahe in Gänze dem polni- 
schen Staate angehörte und infolgedessen selbstverständlich den dort herr- 
schenden Einflüssen ausgesetzt war, wird das vorliegende Buch in erster 
Linie die Reaktionserscheinungen der ukrainischen Gesellschaft auf die Ein- 
wirkungen der staatlichen katholischen Kirche und der westlichen, lateinisch- 
deutsch-polnischen Kultur behandeln. Die durch außenpolitische Motive her- 
vorgerufene Differenzierung der ukrainischen Intelligenz in konservative, 
der Orthodoxie, als dem „Glauben der Väter“, treu ergebenen Elemente, 
und in fortschrittliche Kreise, welche durch die Aneignung der wesi- 
europäischen Kultur und des neuzeitlichen Schul- und Bildungswesens 
der Not der Zeit entgegenarbeiten wollten, — die Ideen der natio- 
nalen Bildung, die Gründung und die Tätigkeit der Akademie in Ostroh, 
die Bemühungen der Brüderschaften auf dem Gebiete der nationalen 
und kulturellen Wiedergeburt, der Streit um die Kalenderreform, die Ur- 
sachen und Folgen der unionistischen Bestrebungen, das Kosakentum als 
ein neuer Faktor im politischen und religiös-nationalen Kampfe, die Ver- 
legung des kulturellen Schwerpunktes aus Lemberg nach Kiev, die Organi- 
sierung der Kiever Akademie durch Peiro Mohyla, das sind die Haupt- 
themen, deren Bearbeitung die einzelnen Kapitel des Buches gewidmet sind. 
Daß der Verfasser dieser Bearbeitung HruSevSkyj ist und daß hier an die 
Behandlung dieser Themen mit dem ganzen Apparat der wissenschaftlichen 
Analyse geschichtlicher Tatsachen herangetreten wurde, verleiht dieser 
Arbeit nur noch einen besonderen Wert, welcher durch zahlreiches Illustra- 
tionsmaterial zur Er. wicklung der Buchdrucker- und Graveurkunst dieser 
Zeit unter Verknüpfung alter byzantinisch-ukrainischer Traditionen mit 
neueren deutschen und italienischen Einflüssen erhöht wird. Geradeso wie 
im Texte liegt auch der Schwerpunkt der künstlerischen Produktion in den 
lebten Dezennien des XVI. und ersten Jahrzehnten des XVII. Jahrh., also in 
den Kupferstichen aus den Lemberger, Halycer und Ostroher Publikationen, 
welche durch einige Muster der Kiever Graveurkunst aus dem XVII. und 
XVIII. jahrh. ergänzt werden. Wenn wir außerdem die dort befindlichen 
Reproduktionen der alten Malerei und Architektur erwahnen, bekommen 
wir ein vollständiges Bild der Mannigfaltigkeit und des Reichtums der 
materiellen Kultur, was in Verbindung mit dem oben besprochenen Texte 
dieses Buch einem jeden Historiker und Erforscher des slavischen Ostens 
wertvoll erscheinen lassen muß. 
Berlin. J. Mirtschuk. 


Prof. D. Doroschenko: Schewischenko, der große ukrainische 
Nationaldichter. — Verlag E. Wyrowyi, Berlin SW 47. (1929. 
S. 48. kl. 8°. 


Diese kleine, geschmackvoll ausgestattete Neuerscheinung auf dem Oe- 
biete der deutschen Ucrainica, ursprünglich ein Vortrag am Ukrainischen 
Wissenschaftlichen Institute in Berlin, ist der Persönlichkeit und dem dich- 
terischen Schaffen des unbestritten bedeutendsten ukrainischen Dichters des 
19. Jahrhunderts gewidmet. Der Verfasser schildert recht plastisch das be- 
wegte Leben Sev&enkos und gibt eine gute, aber mehr die historischen Zu- 
sammenhänge, als die rein literarische Beschaffenheit der Werke beachtende 
Übersicht seiner Dichtung. Im Büchlein finden wir, an entsprechenden 
Stellen, auch kurze, aber sehr instruktive Schilderungen der literarischen 
und der historischen Entwicklung der Ukraine, so daß es zu den erst- 
klassigsten und inhaltsreichsten Erscheinungen auf dem Gebiete der auf 
streng wissenschaftlicher Basis beruhenden, das kulturelle Leben der 
Ukraine betreffenden Schriften informativen Charakters gezählt werden 


421 


kann. Den Abschluß des Büchleins bildet eine Würdigung der ungeheueren 
kulturellen und nationalen Bedeutung des Dichters, und die Probe einer 
selbständigen, von den üblichen, populären Ansichten abweichenden Cha- 
rakierisierung der sozialen, moralischen und religiösen Seite der Welt- 
anschauung Sevéenkos. 

Berlin. M. Hnaty3ak. 


Prof. Dr. O. Eichelmann: Reforma miscevoho samourjado- 
vannja, na pidsiavi dem.-respubl. derZavnosty (Die Selbsiver- 
waltungsreform im Lichte des demokratisch-republikanischen 
Staatsgedankens.) — Dnistrianskyj-Jubiläumsalmanach, S. 159 — 
237, Prag 1923. 


_ In der gegenwärtigen Epoche der Krise des Parlamentarismus ist nun 
die Abhandlung des namhaften Spezialisten, der sich mit den einschlägigen 
Fragen mehr als 50 Jahre lang sowohl theoretisch als auch in seiner Amts- 
praxis befaßte und dieselben auf weiten Studienreisen gesammelt hat, be- 
sonders bemerkenswert und enthält wertvolle und kühne Anregungen, die 
nicht bloß für Selbstverwaltungen, sondern auch für die Volksvertretungen 
allgemein verwendet werden könnten. ; 

Was nun die autonomen Verwaltungsorgane anbelangt, so bekennt sich 
der Verfasser zu der sogenannten Gesellschafistheorie, die im Gegensabe 
zu der staatlichen die Selbstverwaltung der Staatsgesebgebung nicht unter- 
ordnet, sondern sie nebeneinanderreiht. Dieses Prinzip entwickelt er jedoch 
konsequent viel weiter im Sinne einer wirklichen Demokratisierung. Die 
Ortsbevolkerung soll nämlich schon in der Wahl des Selbstverwaltungs- 
sysiemes quasi souverän sein, weiter soll das Referendum nicht nur in allen 
wichtigeren Angelegenheiten angerufen werden, sondern auch selbst ein- 
zugreifen berechtigt sein. Über dem geschäftsführenden Gemeinderate soll 
es noch einen weiteren geben, der die wichtigen Entscheidungen zu treffen 
hätte und aus welchem der geschäftsführende periodisch zweckmäßig er- 
neuert werden soll. 

Von noch weiterem Interesse sind aber die Ansichten des Verfassers 
über die Wahimethoden überhaupt, die er in einer kritischen Untersuchung 
der geltenden Anschauungen zum Schlusse seiner Darlegungen bringt. Einem 
allgemeinen Wahlrechte widersebt er sich grundsäßlich nicht, verweist aber 
auf die festgestellte Tatsache, daß sich durch die Frauenstimmen die 
früheren Wahlresultate bloß verdoppelt haben, empfiehlt weiter einen 
reiferen Alterszensus, etwa von 25 Jahren, und spricht sich gegen den Wahl- 
zwang aus. In den indirekten, auch mehrstufigen Wahlen sieht er keine 
Gefährdung der Reinheit von Ergebnissen und hält die heutige Öffentlichkeit 
für reif genug, auch das System von Pluralstimmen (je nach Alter, Familien- 
stand, Bildungsgrad und sonstigen Rücksichten) ernst in Erwägung zu ziehen. 
Das proportionale Wahlsystem bedürfe auch einiger Reformen. Vor allem 
soll der Wahlkoeffizient in bezug auf alle berechtigten Stimmen berechnet 
und bereits vor den Wahlen öffentlich bekannt gegeben werden. Weiter 
sollen zur möglichen Vermeidung von Restzahlen die heutigen Wahlbezirke 
ganz aufgehoben, also die Resultate von allen Wahlstätten zusammen- 
gezählt werden. Wenn durch etwaige Wahlabsentierungen die vorgesehenen 
Mandate auch nicht voll, jedenfalls aber mindestens zur Mehrzahl besebt 
wären, so sollen doch nur diejenigen Kandidaten als gewählt angesehen 
werden, die mindestens eine dem Koeffizienten gleiche Stimmenanzahl auf 
sich vereinigt haben, und eventuell nur die Kadenz entsprechend verkürzt 
werden. Zur Wiederherstellung des persönlichen Verhältnisses von Wah- 
lern und Gewählten sollen die gebundenen Listen ganz aufgelassen werden, 
und diejenigen Abgeordneten, welche den Koeffizienten mehrfach erreicht 
haben, dementsprechend auch mehrere Stimmen zuerkannt bekommen, da 
ja ohnehin nur solche wirkliche Vertrauensmänner in den Parlamenten den 
Ton angeben, während ihre Kollegen, die ihre Wahl bloß der Aufnahme in 


422 


4 


eren un 


dieselbe Liste verdanken, sich von den Beratungen meistenteils absentieren. 
Für den Fall der Verhinderung von Abgeordneten sollen gleichzeitig deren 
Vertreter gewählt werden, ihre Wahlresultate jedoch und ihre Stimmenzahl 
in den Vertretungskorpern ganz unabhängig von den ersteren berechnet 
werden. Der mögliche Einwand einer Kompliziertheit der vorgeschlagenen 
Reformen bildet kein Argument gegen deren Durchführung, ebenso wie auch 
die weiteste Autonomie der Selbstverwaltung nur deren Belebung und 
sichere Prosperität, keinesfalls aber eine Anarchie im Staate bedeutet. 
Berlin. A. Hladij. 


S Cakacichin: Narysy z gistoryi belaruskaga mastaziva (Studien 
aus der Geschichte der weißruthenischen Kunst.) Bd. 1. — Minsk. 
Verlag: Inst. Belarus. Kul’tury. 1928. 280 S. 


Das vorliegende Werk bildet den ersten Band einer groß angelegten 
Geschichte der weißrussischen Kunst, die voraussichtlich fünf Bände um- 
fassen wird. 

Der 1. Band dieser Publikation umfaßt die Altertiimlichkeiten der Grab- 
hügel Weißrußlands, die kirchliche Baukunst des 11.—12. Jahrhunderts, die 
militärische Baukunst Westweifruglands im 13.—16. Jahrh. sowie die weiß- 
russische Gotik im 15.—16. Jahrh. 

Die vorliegende Arbeit ist aus den Universitatsvorlesungen des Verf. 
entstanden und bildet den ersten Versuch der systematischen Darstellung 
der Geschichte der weißrussischen Kunst, daher macht Verf. selbst keinerlei 
Anspruch auf Vollständigkeit und Abgeschlossenheit der Darstellung, da es 
noch an mancherlei Vorarbeiten fehlt. 

Wesentlich sind an der Arbeit zweifellos die neuen Gesichtspunkte, 
unter denen das bisher von russischen und polnischen Forschern, die das 
Land als russisches resp. als polnisches Gebiet betrachteten, gesammelte 
Maicrial gesichtet wird. 

Niemand hat es bisher versucht, das typisch Weißrussische in der 
Kunst des Landes herauszuschälen. Die russischen Forscher versuchten, 
ihre Analyse der älteren Kulturformen Weißrußlands zum Beweis der 
apriorischen These von der Einheit dieser Kultur mit der älteren Kultur des 
Kiever und Moskauer Rußlands zu verwenden, indem sie den Einfluß der 
byzantinischen Kunst überschätzten. Verf. ist der Ansicht, daß die byzanti- 
nischen Einflüsse nicht einmal in der Kirchenkunst Weißrußlands vorherr- 
schend waren. Andererseits ließen die russischen Forscher die Einflüsse 
der westeuropäischen Kunstformen in der Kunst Weißrußlands unbeachtet. 
Indessen spielten diese Einflüsse eine bedeutende Rolle. Es ist bemerkens- 
wert, daß selbst das kapitale Werk des berühmten russischen Kunsthisto- 
rikers Grabar’ „Die Geschichte der russischen Kunst", das selbst die 
jüdische Holzbaukunst in Rußland mit behandelt, von Weißrußland über- 
haupt keine Notiz nimmtl Anscheinend fand Grabar’ in Wei rußland nichts 
für die Geschichte der Kunst in Rußland Beachtenswertes! 

Die polnischen Kunsthistoriker widmeten der Kunst Weißrußlands mehr 
Beachtung, behandelten aber Weißrußland als Teil Polens und hoben daher 
die Unterschiede zwischen der Kunst des eigentlichen Polens und der Kunst 
des Großfürstentums Litauen nicht klar genug hervor. Die ersten Entdecker 
der weißrussischen Kunst waren deutsche Gelehrte während des Welt- 
krieges, als Westweißrußland von deutschen Truppen besetzt war: der 
Jenaer Professor Paul Weber und der Berliner Studienrat Dr. Albert Ippel 
waren die Kolumbusse der weißrussischen Kunst. Sie wurden bei diesen 
Entdeckungen allerdings von ortsansässigen Forschern (Brüder Lutkevi&, 
Lastovski u. a. m.) sekundiert. Prof. Weber veröffentlichte 1917 eine Mono- 
graphie „Wilna, eine vergessene Kunststätte“, Dr. Albert Ippel organisierte 
in Wilna und Minsk Ausstellungen und veröffentlichte in dem 1919 er- 
schienenen Sammelwerk „Weißruthenien“ einen beachtenswerten Beitrag 
„Zur weißrussischen Kunst“. 


425 


So wurde das Problem der weißrussischen Kunst von deutschen Ge- 
lehrten aufgerollt. Dr. Ippel fand Schemas des griechischen Theaters und 
Tempels in gewissen Wirtschaftsgebauden Weißrußlands, verwics auf das 
Schema der hellinistisch-römischen Villa in den Bauernhöfen des Gouver- 
nements Mohilev (bei Rogacev) u. a. m. 

Verf. knüpft an diese Vorarbeiten deutscher Forscher an und zeigt an 
Hand von Abbildungen die Evolution der Kirchenbaukunst in Weißrußland. 
Mit der Bildung des Großfürstentums Litauen verblassen allmählich die ur- 
sprünglichen byzantinischen Einflüsse, es entstehen neue politische und 
kulturelle Zentren. . 

Der militärische Kampf gegen die 8 Kreuzritter wirkt sich in 
der Baukunst des Landes aus. Der Burgbau der Ordensritter wird zur 
Grundlage der späteren stilistischen Entwicklung der Baukunst in Weißruß- 
land, und zwar nicht nur lediglich der militärischen, sondern auch der 
zivilen und sogar kirchlichen Baukunst. Verf. weist nach, daß trob Uber- 
nahme dieses Stils die 5 Baukunst doch eine große Eigenart 
offenbarte, und zwar in Gestalt der eigentiimlichen „weißrussischen Gotik“. 

Hervorragende Muster dieser militärischen Burgbaukunst sind die 
Burgen in Nowogrudek (13. Jahrh.), Lida, Kreve, Troki (14. Jahrh.), Grodno 
(15. Jahrh.), Wilna (15.—16. Jahrh.) und als vollkommenster Abschluß die 
Burg in Mir. 

Der Anfang des 16. Jahrh. bringt den Übergang von der Burg zum 
offenen Edelsig des Adels, von der Gotik zur romanischen Renaissance. 
Dieser Übergang erfolgt jedoch ohne Uberbruch, er entwickelt sich 
organisch aus der weißrussischen Gotik. Die zweite Hälfte des 16. rh. 
steht im Zeichen der ruhigen und erhabenen Schloßkbaukunst, der weiß- 
russischen Renaissance strengen und ruhigen Stils, die den Abschluß der 
staatlichen Baukunst Weißrußlands bedeutet, auf dem Höhepunkt der Feier- 
lichkeit und der Pracht — kurz vor dem folgenden Niedergang nach dem 
Verlust der staatlichen Unabhängigkeit. 

Verf. untersucht die Altertümlichkeiten der Grabhügel Weißrußlands 
und kommt zu dem Ergebnis, daß viel stärker als die Einflüsse Skan- 
dinaviens und von Byzanz auf die alte Kultur Weißrußlands die Kultur- 
einflüsse des syrisch-persischen Orients gewirkt haben, mit dem das Land 
bereits seit dem 6. Jahrh. durch Vermittlung der Chasaren und Bulgaren in 
regen Handelsbeziehungen stand. Aus dem Orient kam nach Weißrußland 
der mächtige Strom der dekorativen Formen mit der Vorherrschaft arabisch- 
syrischer Typen, deren Reichtum in den Ausgrabungen in Weißrußland so 
überraschend wirkt. Aus dem Westen drangen auf zwei Wegen (uber das 
Baltikum und über Ungarn) römische Kultureinflüsse ins Land. Der Mangel 
an chronologischen Daten macht die genaue Geschichte der Form der Grab- 
hügel unmöglich, daher beschränkt sich Verf. auf die Systematisierung des 
vorhandenen Materials. Die meisten Funde führt Verf. auf orientalische 
Kultureinflüsse zurück. Sie wurden aber fast alle im Lande umgearbeitet 
und ergaben selbständige Typen. Verf. weist Zusammenhänge zwischen 
der Ornamentik der Ausgrabungen und der modernen völkischen Or- 
namentik Weißrußlands nach, was für die traditionelle Beständigkeit der 
vom Volk übernommenen Motive der Ornamentik spricht. 

Die byzantinischen Einflüsse machen sich im verstärkten Maße erst im 
16. Jahrh. geltend. Verf. weist darauf hin, daß bei der Übernahme der 
byzantinischen Formen der Kirchenbaukunst Smolensk, Polock und Vitebsk 
eine große Rolle bei der Übermittlung dieser Formen an den Norden ge- 
spielt haben. 

Während die Baukunst von Novgorod im 10.— 13. Jahrh. die übernom- 
menen byzantinisch-kiever Formen unverändert beibehält, hat die Baukunst 
von Smolensk, Polock und Vitebsk die erst im 12. Jahrh. übernommenen 
byzantinisch-kiever Formen selbständig weiterentwickelt, indem sie für die 
Motive der Ornamentik und Elemente der Konstruktion das reiche Kapital 
an östlichen und westlichen Kultureinflüssen und örtlichen Traditionen ver- 
wertete, das in Weißrußland bereits vorhanden war. Hier, in den weiß- 


424 


russischen Kulfurzentren, wurden bereits im 13. Jahrh. jene bewunderns- 
werten Vereinfachungen der byzantinischen Kompliziertheit vorgenommen, 
die als charakteristisch für die Baukunst von Novgorod angesehen werden, 
in Wirklichkeit aber von Novgorod aus Weißrußland übernommen wurden, 
das die kulturelle Metropole Novgorods und Pskovs gewesen ist. Dies 
verleiht der weißrussischen Baukunst außerordentliche Bedeutung für die 
Gesamigeschichte der osteuropäischen slavischen Kunst. l 

Wenn bis zum 16. Jahrh. man von weißrussischer Gotik nur im terri- 
torialen Sinne reden konnte, so erhält dieser Ausdruck, wie Verf. nach- 
weist, im 16. Jahrh. bereits eine formal-stilistische Bedeutung. 

Nicht das Schema des deutsch-gotischen Tempels, sondern das von 
der weißrussischen Gotik gewandelte Schema der preußisch-gotischen 
Ritterburg lag dieser Baukunst zugrunde. 

Diese Verbindung von Burg und Tempel ist auch in anderen Ländern 
bekannt, aber nur in Weißrußland entwickelte sich diese Verbindung in 
eine ständige stilistische architektonische Aquivalenz der ständigen Re- 
ligionskriege im Lande... = 

Verf. gibt eine vorzügliche Analyse der bemerkenswerten Original- 
schöpfungen der weißrussischen Gotik im Lande (Bernardinerkirche in 
Wilna, die Kirchen in Sinkovici, Malo-Mozéikovo und Suprasl’), sowie eine 
Gesamicharakteristik der architektonischen Eigenart der weißrussischen 
Gotik. Die vorzügliche Arbeit verrät umfassendes Wissen und Liebe zu 
dem Gegenstand der Betrachtung. Selbst die kühnsten Hypothesen des 
Verf. wirken überzeugend durch die immanente Logik der Entwicklung der 
architektonischen Formen. 

Wilna. Vladimir Samojlo. 


L S’ven’cicki: Rozkwit kulturna-nazionalnago iittia schidnü 
Belorusi. — Lemberg 1929. . 


S’ven’cicki interessiert sich bereits seit längerer Zeit fiir das Leben 
und Schaffen des weißrussischen Volkes. Bereits 1908 erschien sein erstes 
Werk über die Weißrussen. Im vorliegenden Werk stellt Verf. sich die Auf- 
gabe, eine Übersicht dessen zu geben, was auf literarischem Gebiet Weib- 
rußland in den letzten 20 Jahren geleistet hat. Besonders beschäftigt sich 
Verf. mit dem literarischen Schaffen der lebten 10 Jahre in der so 
Sovetrepublik. Verf. ist der Ansicht, daß die lebten 10 Jahre „die Periode 
des Aufblühens des sozialen und nationalen Selbsibewußiseins bei allen 
unterjochten Völkern” gewesen sind. Verf. ist cin glühender Verehrer des 
Leninismus, insbesondere in bezug auf dessen Nationalitätenpolitik. In dem 
Vorwort sucht er den Nachweis zu führen, daß nur die 3. Internationale das 
Selbstbestimmungsrecht der Völker gewährleistet. Nach diesem Vorwort, 
das sich von den üblichen Leitartikeln kommunistischer Blätter wenig unter- 
ane gelangt er zu einer Erörterung der neuesten weigrussischen 

eratur. 

Die neue Ara habe die alte Sklavenpsychologie aus der Welt geschafft. 
So beschäftigt sich denn die neue weißrussische Literatur mit den Außen- 
seitern, die in den neuen sozialen Bedingungen keinen geeigneten Plab 
finden konnten. Diese Außenseiter werden von dem Leben als unnölige, 
z. T. schädliche Elemente beiseite geschoben, vernichtet. Verf. gibt cine 
Reihe positiver Gestalten aus der neuesten weißrussischen Literatur, die 
die ideale Synthese der Persönlichkeit und des Kollektivs im neuen Weiß- 
rußland darstellen sollen. Verf. gibt eine Charakteristik der weißrussischen 
Dichter der Gegenwart und glaubt versichern zu können, daß es in der 
Seele des weißrussischen Dichters, des Schilderers des Lebens im neuen 
Weißrußland, keinen so abgrundtiefen nal zu den „polnischen Herren“ gibt, 
wie in der Seele dieser Herren gegen die weißrussischen Bauern, die es 
wagten, sich Land und Freiheit zu nehmen. Selbst in der Schilderung der 
dramatischen Höhepunkte des sozialen Befreiungskampfes der weiß- 
russischen Bauern erstickt der Triumph über den Sieg seines Volkes in der 


425 


Seele des weißrussischen Dichters nicht das Gefühl der Humanität gegen- 
über den Besiegten. ae . 

Verf. charakterisiert wie folgt die künstlerischen Methoden und den 
Stil weißrussischer Dichter der Gegenwart: „Die Weißrussen gehen mit den 
Worten sparsam um, sie lieben die Schablonen nicht, sie verabscheuen den 
Phrasenschwall, markischreierische Unterstreichungen der Wichtigkeit des 
Dargestellten sind ihnen verhaßt, langatmige Schilderungen der Schönheit 
der Natur liegen ihnen nicht. Der weißrussische Dichter begnügt sich mil 
einer knappen Darstellung der Tatsache. In einigen Strichen offenbart sich 
das Ereignis von selbst ... In dieser Art der künstlerischen Einfachheit 
und Knappheit der Darstellung folgen die weißrussischen Dichter dem Bei- 
spiel der besten Meister der Weltliteratur.“ Verf. verzeichnet mit Genug- 
tuung, daß es bei den weißrussischen Dichtern keinerlei byzantinische Be- 
geisterung für die Sovetordnung gibt. Nicht einmal bei den „getreuen 
Dichtern“ der literarischen Gruppe „Molodnjak“ sei Speichelleckerei und 
Unterwürfigkeit zu finden. 

Die weißrussischen Dichter der Gegenwart haben die große revolutio- 
näre Umgestaltung des Lebens in Sovetweißrußland geschildert, die Um- 
gestaltung, die den Weißrussen Schule, Wissenschaft, Politik und Staats- 
verwaltung in ihrer Muttersprache brachte. Die einfache Bauernsprache 
wurde zur Staatssprache erhoben — dies ist die größte und tiefste Revo- 
lution in der Geschichte Weißrußlands. Fraglos sei, daß das weißrussische 
Volk aus diesem Erlebnis hinaus wic ein Mann die Eroberungen der Revo- 
lution verteidigen würde. Verf. glaubt dies auch für die anderen nationalen 
Sovetrepubliken behaupten zu können. Das Buch ist auf Grund persön- 
licher Eindrücke in der u ee Sovetrepublik geschrieben worden. 
Man kann das nationalbolschewistische Credo des Verf. ablehnen, fraglos 
hingegen ist die Liebe des Verf. zum weißrussischen Volk, seinem Schaffen 
und seiner Seele. Diese Liebe geht einen anderen Erkenntnisweg als der 
diskontierende Verstand des Wissenschaftlers. Immerhin bietet dies Buch 
wertvolles Material für das Verständnis Weißrußlands, auch dem, der sich 
dem nationalbolschewistischen Olaubensbekenntnis des Verf. nicht anzu- 
schließen vermag. 1 

Wilna. Vladimir Samojlo. 


Die polnische Literatur der Gegenwart: Ferdinand Goetel: 
Menschheit. Zwei Erzählungen. — 185 Seiten. Julius Kaden- 
Bandrowski: Novellen. — 209 Seiten. Beide Bände im 
Horen-Verlag. Berlin-Grunewald 1928. 


Daß es ein glücklicher Gedanken war, die in Deutschland so gut wie 
unbekannte polnische Schöne Literatur der Gegenwart durch gute Uber- 
sebungen zu verbreiten, bedarf keines langen Beweises. Ich habe in zahl- 
losen Artikeln dafür mich eingesetzt und bin stolz darauf, daß der hoffentlich 
auch vom Erfolg begleitete Versuch des Horen-Verlags auf meine Initiative 
zurückgeht. Die Auswahl der Autoren ist in Polen sehr leicht. Es mußte 
mit kleineren Erzählungen begonnen werden, und da wäre, neben Kaden- 
Bandrowski und Goetel eigentlich nur noch an die Frauen Rygier-Nalkowska 
und Kossak-Szczucka zu denken. Doch in der Literatur gilt die Galanterie 
für nichts, und so sei den beiden ausgezeichneten polnischen Novellisten 
der Vortritt eingeräumt. Goetels Erzählungen schöpfen ihren Stoff aus 
dem Kriegserlebnis, genauer, aus der Erinnerung an die vom Autor ım 
russischen Zentralasien verbrachte Gefangenschaft. In ihrer Mischung 
von unterdriickter Emotion und zur Schau getragener Brutalität der Hand- 
lung, der Sprache, geben sie ein getreues Bild der schriftstellerischen Per- 
sönlichkeit Goetels, eines Realisten, in dem zu tiefst die Sehnsucht nach 
dem Außerordentlichen, also nach dem alten romantischen Land schiummert. 

Die Auswahl aus den Erzählungen, die Kaden-Bandrowski im Zyklus 
der „Stadt meiner Mutter“ vereint hatte, scheint mir nicht so glücklich. Ich 


426 


vermisse den herrlichen Kuckuck“, meiner Ansicht nach die schönste No- 
velle, die Kaden-Bandrowski je geschrieben hat, und die entzückende 
„Schule“. Dafür hätte ich „Götter“ nicht ungerne vermißt. Sonst erscheint 
auch in diesem Band das Gebotene zu rühmen. Die beiden Erzählungen 
„Politik“ und „Der letzte Namenstag“ werden dem großen polnischen 
Schriftsteller sicher die Bewunderung der künstlerisch Reizsamen und die 
herzliche Liebe der großen Masse gewinnen, die ich ihm als Lesergemeinde 
wünsche und vorhersage. Die Übertragung der beiden Bücher durch 
Alexander von Guttry ist nach jeder Hinsicht vortrefflich. 
Wien. Otto Porst-Battaglia. 


GiovanniMaver: Alle fonti del romanticismo polacco. — Roma, 
Istituto per l'Europa Orientale, 1929. 21 S., 8°. (Piccola biblio- 
teca slava. 5.) 


_Es ist eine wenig beachtete Episode aus der polnischen Literatur, die 
M. in dieser Broschüre behandelt, um — im Gegensatz zu polnischen Ur- 
teilen — nachzuweisen, daß in ihr einer der wichtigsten Ausgangspunkte 
der polnischen Romantik zu suchen ist, nämlich die Gesänge der Kon- 
föderierten von Bar. In diesen patriotischen Gedichten findet sich neben 
Minderwertigem vieles künstlerisch Wertvolle, Gedichte, die nach Mickiewicz’ 
Urteil Ivrischen Eingebungen gleichkommen. M. findet, daß die von der 
»Dibljoteka Narodowa“ herausgegebene „Poezja Barska“, in der Kazimierz 
Kolbuzewski reiches bisher unveröffentlichtes Material veröffentlicht hat, 
allerhand enthält, was den bereits bekannt gewordenen Dichtungen an Wert 
bedeutend nachsteht. Es ist zu bedauern, daß M. seinen Untersuchungen 
nicht eine bibliographische Übersicht über die einschlägige Literatur bei- 
gegeben hat. Sehr interessant sind seine Bemerkungen über die übliche 
Methode, große geistige Bewegungen im Gebiet der Literatur, die auf 
viele Nationen übergegriffen haben, nur durch Bestatigungen des ihnen 
Gemeinsamen zu erforschen, er findet, dab es dabei nur auf die 
Beobachtung der Nachahmungen und Entlehnungen herauskommt, während 
gerade das nicht Gleichartige innerhalb solcher Literaturstromungen 
dazu führt, das jeder Nation Charakteristische zu erfassen. So handelt 
es sich auch hier für ihn zumeist darum, das der polnischen Romantık 
Ureigene zu erfassen. Er kommt zu der Überzeugung, daß das der 
patriotische Gehalt in höchster Potenz ist, er hat in der Blüte der 
Romantik bei den Polen den Höhepunkt erreicht. Von diesem Gesichts- 
punkt aus betrachtet, gewinnen die Gesänge von Bar eine ganz hervor- 
ragende Bedeutung als erste Stimmen, die von einem solchen glühenden 
Patriotismus getragen waren. M. prägt das Wort „ethische Romantik“, sie 
ist aufs engste mit den Schicksalen Polens verknüpft. Die Konföderation 
von Bar wurde vier Jahre vor der ersten Teilung Polens geschlossen. 
M. verfolgt die Jahrzehnte umfassende Zeitspanne bis zum Auftauchen der 
polnischen Legionen, innerhalb deren die polnische Literatur, trob der 
schweren Schicksalsschläge die das Land betroffen, keine patriotischen 
Dichtungen aufzuweisen hat; auch die Legionen selbst, deren abenteuer- 
liches Leben so viel Romantik in sich trug, haben nichts Nennenswertes an 
dieser Art Dichtung hinterlassen. In der Zwischenzeit nährte sich Polen 
von europäischen Litcratureinfliissen. Und doch hat, nach der Meinung 
Mavers, Mickiewicz recht gehabt, als er behauptete, die Poesie von Bar 
habe unsichtbar über der Epoche des Stanislaw August geschwebt und sei 
dann in die Scharen der Legionen übergegangen. Einen direkten Beweis 
freilich kann M. dafür nicht erbringen, und so wird es dem Skeptiker un- 
benommen sein zu behaupten, daß hier nicht ein Übergang von einer Epoche 
zur anderen vorliegt und daß die Gesänge von Bar zeitlich zu weit von 
der polnischen Romantik abliegen, um als ihre Quelle gelten zu können. 

Breslau. Emmy Haertel. 


427 


Adam Galiński: Młoda Polska. Poezja i Dramat, Antologja i 
Literatura. — LödZ 1928, Ksieg. Karola Neumillera. 


Das Buch will, nach dem Vorwort, als Handbuch für Mittelschulen und 
fur Interessierte zu eigener Information betrachtet werden. Die kurze Vor- 
rede äußert sich weiterhin über das gesteckte Ziel: das Buch soll dem 

weck dienen, als Anthologie ein Bild der poln. Literatur nach 1890 zu 
geben. wobei, um den Einfluß des Westens anschaulich zu machen, auch 
dieser mit wichtigen Proben (in poln. Übersekufg) aus Verlaine, Rimbaud, 
Mallarmé, Morceaux, Rodenbach, Verhaeren, Maeterlinck vertreten ist. Dann 
aber will das Werk auch als literarisches Handbuch für die „Mioda Polska“ 
dienen und gibt die dementsprechende literarische Zusammenfassung, unter 
Betonung der wichtigen Merkmale und Eigenarten dieser Stromung und 
ihrer Entwicklung, sowie die Beziehungen und das Verhältnis zu anderen 
Richtungen. So ist im 6. Abschnitt „Młoda Polska i Romantyzm“, im 7. dann 
speziell „Młoda Polska i Słowacki“ usw. behandelt. Wichtigste Literatur- 
angaben und ein guter Index fehlen nicht. 

Wenn der Verf. auch nicht unmittelbar wissenschaftlihen Zwecken 
dienen will und mehr das pädagogische Interesse verfolgt, so wird doch 
seine geschickte und alles Wissenswerte instruktiv zusammenstellende Ar- 
beit als eine willkommene Zusammenfassung begrüßt werden, besonders 
außerhalb Polens, wo doch die vorhandene Literatur nicht ohne weiteres 
so leicht zur Hand ist. 

Breslau. Erdmann Hanisch. 


Janina Koztowska-Studnicka: Katalog rękopisów pol- 
skich (poezyj), wywiezionych niegdy$ do Cesarskiej Bibljoteki 
Publicznej w Petersburgu, znajdujących sie obecnie w Biljotece 
Uniwersyteckiej w Warszawie. [Katalog der polnischen Hand- 
schriften (Dichtung), die einst in die Kaiserliche Offentliche Bi- 
bliothek nach Petersburg ausgeführt wurden und jekt sich in der 
Universitäts-Bibliothek in Warschau befindenl. — Kraków, Polska 
Akademja Umiejętności, S. IV + 132. 


Frau Dr. Kozłowska hat ihren Katalog noch vor dem Wellkriege be- 
arbeitet und den Druck begonnen, aber durch die Kriegsereignisse ist die 
Handschrift verloren gegangen. jetzt hat die Krakauer Akademie der 
Wissenschaften die Vollendung des Katalogs durchgeführt, da er an Ak- 
tualität für die polnische Literaturwissenschaft gewonnen hatte, als die 
Handschriften selbst auf Grund des Rigaischen Friedensvertrages nach War- 
schau zurückgegeben wurden. 

Die Verfasserin hat nur die Abteilung „Polonica XIV. Poesie“ bearbeitet, 
welche aus 194 Handschriften besteht. Diese Abteilung umfaßt jedoch nicht 
das ganze Material der Sammlung; man kann noch viel Stoff in anderen 
Teilen finden, vor allem in der Abteilung „Diversae linguae“. Die im Ka- 
talog beschriebenen Manuskripte stammen aus allen Sammlungen, die von 
Warschau und anderswo nach Rußland konfisziert wurden. Chronologisch 
gehören die meisten dem XVII. und XVIII. Jahrhundert an, unter ihnen hat 
Professor Brückner seine besten Funde auf dem Gebiete der altpolnischen 
Literatur gemacht. (Potocki, Twardowski u. a.) Viel Material wird sich auch 
für den politischen Historiker in verschiedenen Dithyramben, Oelegenheits- 
dichtungen, Satiren usw. finden. Die pseudoklassische Literatur ist gut ver- 
treten durch den Kreis der Warschauer Gelehrten Gesellschaft (Towarzystwo 
Przyjaciół Nauk). Obzwar keine Revelationen hier zu erwarten sind, be- 

ommen wir doch viele neue Quellen zur polnischen Literaturgeschichte in 
der Periode des Verbluhens, des Unterganges und der Regeneration im 
XVIII. Jhdt., die noch sehr wenig beleuchtet und bearbeitet sind. 

Lemberg. K. Tyszkowski. 


428 


Jakob Jatzwank: Wendische (Sorbische) Bibliographie (= Ver- 
öffentlichungen des Slavischen Instituts an der Friedrich-Wilhelms- 
Universität Berlin, herausgeg. v. Max Vasmer, Nr. 2). — 1929, 
in Kommission bei Markert u. Petters, Leipzig. 


Max Vasmer hat dem ersten Heft seiner „Veröffentlichungen”, wel- 
ches die, wohl allenthalben (trob Brückners Einwendungen in Slavia 
Occidentalis VII 73) als bedeutsam mit bestem Recht anerkannte Arbeit 
Pircheggers über die slav. Ortsnamen im Mürzgebiet 1927 brachte, 
im vorliegenden zweiten Heft von Jakob Jatzwank, der nach seiner 
Stellung als Landesbibliothekar in Dresden wie durch die liebevolle Hin- 
gabe an die literarische Produktion seines Volkes am berufensten für eine 
solche mühevolle Aufgabe war, eine wendische (sorbische) Bibliographie 
folgen lassen. 

Eine eingehende Gliederung des Stoffes in clf Teile und die beige- 
gebenen 4 Register ermöglichen eine gute Übersicht und rasche Orien- 
tierung. Das Schicksal aller solcher Bibliographien ist ja immer eine nur 
relative Vollständigkeit: Verf. hebt selbst in den einleitenden Worten die 
diesbezüglichen Mängel seines Werkes hervor. Da ihm bibliographische 
Studien im Auslande beruflich nicht möglich waren, war es seiner Arbeit 
sicherlich sehr förderlich, der Unterstützung eines Fachkundigen, wie es 
Päta ist, sich erfreuen zu können. Vielleicht hatte J. seine grundsätzliche 
Ablehnung, ein Verzeichnis der wendischen Handschriften zu geben, in dem 
besonderen Falle des Wendischen revidieren können. Vielleicht wäre ihm 
dann, bei einer solchen Zusammenstellung, auch das Mißgeschick nicht 
uniergclaufen, daß die Trautmannsche Ausgabe des Wolfenbuttler Psalters 
v.).1928 bei ihm nicht verzeichnet ist: weder unter dem Stichwort „Psalmen“ 
noch im Autorenregister habe ich wenigstens diese Ausgabe finden können. 
Allerdings ist die Ausgabe des Warichius auch nicht unter dem Namen des 
Herausgebers K. H. Meyer, sondern nur unter „Varichius“ im Verfasser- 
register zu suchen. 

Breslau. Erdmann Hanisch. 


28 NF 5 429 


ZEITSCHRIFTENSCHAU 


BULGARIEN 


A. B. Michajlov: K voprosu o vremeni proischoZdenija Uüitel’nogo 
Evangelija Konstantina Bolgarskogo. — Slavia 7, 2 (1928). S. 284 
— 297. 


Verf. prüft an der Hand eingehender chronologischer Untersuchungen 
und unter Anführung einer die Jahre 880-907 umfassenden Tabelle, welche 
die zeitlichen Abstände des Datums der Sonntage zwischen Ostern und dem 
Fest der Kreuzeserhöhung usw. aufweist, und bei deren Zusammenstellung 
thm der Mathematiker Bju3gens behilflich gewesen ist, nach, daß die bis- 
herigen Annahmen über die Datierung des Evangeliums als nicht zutreffend 
anzusehen sein dürften, nachdem eine bestimmte Datierung der Schrift 
selbst bei allen in Betracht kommenden Deutungsmöglichkeiten sich als un- 
möglich herausstellt. Außerdem hält er dafür, daß die drei Abschriften des 
Ucitel’skoe Evangelie von einem Original herrühren, welches entweder im 
J. 946 oder i. J. 1136 erschienen war, nicht früher und nicht später. 

Emmy Haertel. 


Renato Poggioli: I poeta bulgaro Péo K. javorov. — Rivista 
di letterature slave. 3, 4—6 (1928), S. 317—337. 


_ Javorov ist einer der Ersten gewesen, welcher den französischen Sym- 
bolismus und somit den Geist der jüngsten Dichtergeneration des Westens 
aufnahm und ihn in die noch junge bulgarische Literatur einführte. Seine 
Größe besteht darin, daß er sich von bloßer Nachahmung fecrnhielt und die 
empfangenen Eindrücke in seiner eigenen tiefempfundenen Dichtung zu 
Fleisch und Blut werden ließ. Diese Einfühlung in die Moderne stellt den 
Gipfel seines Schaffens dar, seine frühesten Dichtungen, die „Stichot- 
vorenije“ v. J. 1901, welche in der Gesamtausgabe seiner Werke unter dem 
Titel „Antologija“ stehen, sind ungleich an Wert und in sich selbst mit- 
unter unausgeglichen. Neben mittelmäßigen Dichtungen sozialpolitischen 
Inhalts stehen temperamentvolle patriotische Lieder, von echter Lyrik durch- 
drungene Naturstimmungen — die Esenni motivi — und äußerst originelle, 
dem bulgarischen Folklore verwandte Schöpfungen, die bereits den künf- 
tigen Meister ahnen lassen. Gerade eine Dichtung der letzigenannten Kate- 
gorie „Kaliopa“, womit Javorov sich zum ersten Male vor die Öffentlichkeit 
wagte (veröffentl. in „Misül“, 10., 1900), erregte Pento Slavejkovs Aufmerk- 
samkeit. Javorov hat trob dieses Erfolges späterhin diese Dichtungsart 
aufgegeben und sich Stoffen zugewandt, die in ihrer Verarbeitung erkennen 
lassen, wie der Dichter bereits auf dem Wege zu seiner eigensien Welt 
war. Hier ist die Dichtung „Armenci“ besonders charakteristisch. Die von 
ihm besungenen und beklagten Armenier sind nicht nur Flüchtlinge, für die 
sein patriotisches Herz Mitleid hat, sondern sie repräsentieren für ihn die 
aus dem Eden verjagte Menschheit. Diese Idee, das Gefühl des Verbannt- 


450 


seins aus anderen Wellen, wird später typisch für Javorovs Lyrik, und 
ebenso die Vorstellung, daß die menschliche Seele ein Echo, eine Art Zuruf 
augerwelilicher Seelen sei. In einer seiner frühesten Dichtungen erbittet 
er für sich von Gott einen Stern und cine Stimme, und sei es auch die 
eines Nachtvogels. Auch das wird spaterhin typisch für seine Lyrik: für 
ihn wird die Well, in räumlicher Ausdehnung vorgestellt, zum bestirnten 
Himmel, zeitlich gefaßt, zur Nachtstunde. 

Im zweiten Bande seiner Dichfungen, in den „Bezsünici“ und „Podir 
sénkité na oblacité“, zeigt Javorov bereits den reifen Künstler und Men- 
schen, aus ihnen spricht ein Oeist, welcher das Alltagsleben und die All- 
lagsmenschen nicht begreifen kann, dem aber in den Träumen eines Halb- 
schlafes, mit fast mediumaler Deutlichkeit, ätherische Welten vor die Seele 
treten, in denen er cinmal glaubt gelebt zu haben und nach denen seine 
Seele sich sehnt. P. vergleicht die Psyche Javorovs mit einem zu Fleisch 
und Blut et Engel, der dazu verurteilt ist, das menschliche Leben, 
als gleichfalls sündiger Mensch, zu durchleben, in dem aber die Erinnerung 
an seine überirdische Heimat fortlebi, und es wird für ihn zur Qual, daß 
er sich ihrer nicht mehr klar erinnern kann. Aus dieser ewigen Ungewiß- 
heit entsteht ihm zugleich ein Todessehnen und Todesfürchten. Immer aber 
fühlt sich der Dichter gleich einer Stimme „clamans in deserto“. 

In dieser Verlassenheit trostet ihn nur die Erinnerung an die Mutter- 
liebe. Aber auch hier versagt der Trost, denn aus diesem Liebessehnen 
erwacht die geschlechtliche Liebe, die ihn enttäuscht. P. glaubt dieses 
Schwanken zwischen Wunsch und Enttäuschung, welches in dem Dichter 
schließlich das Bewußtsein des Altwerdens erweckte, autobiographisch 
wiedergegeben in der Dichtung „Toma“, er mißt deshalb diesem Werk 
eine ganz besondere Bedeutung bei. In dieser Episode aus dem Leben 
des altgewordenen Apostels Thomas findet P. fast die gesamte Summe 
dessen wieder, was Javorov in seinem bisherigen Schaffen zum Ausdruck 
gebracht: das nächtliche Dunkel, in das diese Szene getaucht ist, der Zuruf 
der Apostel aus diesem Dunkel heraus, die Thomas an den Sternen ent- 
zündete Fackeln bringen wollen, dessen Klage, daß das Alter ihn blind 
gemacht habe, dann das Verlöschen der Fackeln usw. Das Motiv der 
Blindheit, das hier zum ersten Male anklingt, kehrt dann häufig wieder in 
Javorovs Dichtungen, in dieser Vorstellung wird die Qual der Vereinsamung 
noch bilterer. Aus der Verzweiflung, die nur noch nach einem Nirvana zu 
streben scheint, bildet sich jedoch die Vorstellung einer Flamme, die als 
Symbol des Lebens und als das Streben nach einem Opfertode zu deuten 
ist. In „Dvě duši“ kommt die Identität von Leben und Feuer am deutlichsten 
zum Ausdruck. Die Flammen ihrerseits identifizieren sich für Javorov 
weiterhin mit dem Begriff der Hölle, des Dämonischen. Dem Leben selbst 
aber bleibt Javorov fremd. In einer seiner schönsten Dichtungen „Maska“ 
bringt er das zum Ausdruck, in „Smürt’ta“, das nicht zu seinen schönsten 
Dichtungen zu zählen ist, aber zu denen, die für seine Gedankengänge 
besonders typisch sind, ersteht dann die Vorstellung des allbeherrschenden 
und allvernichtenden Todes, der „Allmuffer“, wie javorov sagt. Ihm, dem 
jeder sonstige Glauben fehlt, wird der Tod schließlich zu Olauben und 
Hoffnung, aber wieder schleicht sich der Zweifel ein, und der Dichter kehrt 
zur sichtbaren Natur zurück und klammert sich liebend an ihre bescheiden- 
sten Schöpfungen, die Veilchen „Temenugi“. Javorov endete durch Selbst- 
mord, nachdem ein mißlungener Selbstmordversuch zur Erblindung geführt. 

P. widmet noch der formalen Schönheit der Dichtungen einige Worte. 
Die Sprache folgt den wechselnden Seelenzuständen mit wunderbarer 
Feinheit. Züge, die an Maeterlynck erinnern: Ritornelle und Wieder- 
holungen, scheinen der adäquate Ausdruck für diesen „Dichter des Viel- 
leicht und des Wer weiß?“ zu sein. Es liegt in seiner Sprache eine äthe- 
rische Leichtigkeit, sie schafft visionäre Vorstellungen, wie sie der Opium- 
raucher haben mag. Diese Dichtung ist aber prophetisch zugleich. P. denkt 
hierbei an die zwei Leitmotive der Javorovschen Dichtung: Blindheit 
und Tod. Emmy Haertel. 


451 


RUSSLAND 


N. K. Piksanov: Griboedov als Meister. — Novyj Mir, Marz 1929, 
S. 141—156. 


Dieser Artikel („Griboedov-Master“) entstand anläßlich des 100. Todes- 
tages des Autors von „Verstand schafft Leiden“. Piksanov, Verfasser einer 
Spezialarbeit „Die Schaffensgeschichte von Verstand schafft Leiden“ (Tvor- 
ceskaja istorija Gorja of uma“, M. 1929), untersucht hier auf Grund unver- 
öffentlichter Manuskripte die imene Entstehungsgeschichte der Griboedov- 
schen Komödie. Er weist nach, cn dieser damals so ungewöhnlichen 
Natürlichkeit und Leichtigkeit der dichterischen Sprache, die Zeitgenossen 
wie Puškin, A. BestuZev, N. Greé u.a. entzückte, eine langwierige und harte 
Arbeit des Dichters zugrunde lag. Die berühmten Verse, die heute noch als 
Sprichworte gebraucht werden, kosteten dem Verfasser Anstrengung und 
Mühe. Die ersten lyrischen und dramatischen Werke Griboedovs sind un- 
beholfen und sprachlich klanglos und künstlich. Bereits die erste Redaktion 
der Komödie sticht von ihnen vorteilhaft ab. Die zahlreichen Varianten der 
einzelnen Verse zeugen von einer bewußten Arbeit, die der Einfachheit, 
Volkstümlichkeit und rhythmischem Klang der Sprache galt. Auch ganze 
Szenen wurden einer vollkommenen Umarbeitung unterworfen, die jedoch 
an der Gesamtheit des dichterischen Planes, der von vornherein feststand, 
nichts änderte. Die Komödie zeigt Griboedov als einen reifen Meister, den 
geborenen Dramaturgen, der alle künstlerischen Mittel beherrschte und sich 
über die Wichtigkeit der dramatischen Elemente — Knappheit und Lebendig- 
keit der bildvollen Sprache, schneller Entwicklung der Handlung — voll- 
kommen im Klaren war. Eugenie Salkind. 


IL. Trockij: Der erste professionelle Verräter (Pervyj provokator- 
professional). — „Novyj Mir“, Februar 1929, S. 182— 192. 


Mit dem Namen von Ivan Servud (John Sherwood), des Verraters 
der Dekabristen, beginnt die lange Liste der politischen Verräter in Ruß- 
land. — Im Ausgange des 18. Jahrh. und im Anfang des 19. wird in Rugland 
der Mangel an ausgebildeten technischen Kräften besonders spürbar. Unter 
den zahlreichen Ausländern, die der Einladung Pauls I. Folge leistefen, be- 
fand sich auch der Vater Servuds, ein Mechaniker aus Kent. Die Jugend- 
jahre Servuds sind noch immer in ein tiefes Dunkel gehüllt, das auch seine 
stark aufgebauschte Autobiographie nicht zu lüften vermag. Man begegnet 
dem 22jährigen Servud zunächst in den Militärkolonien im Süden Rußlands, 
wo er bereits als geheimer Polizeiagent zu wirken scheint. Hier gelingt es 
ihm auch, der Südlichen Gesellschaft der Dekabristen auf die Spur zu 
kommen und das Vertrauen eines Mitglieds (Vadkovskij) zu gewinnen. 
Danach kommt die Glanzepisode seiner Karriere: der persönliche Bericht 
en I.: dieser Verrat hat ihm später Adel, Geld und Stellung ein- 
gebra 

Nach der Unterdrückung des Dekabristenaufstandes wurde die berüch- 
tigte Ill. Abteilung ins Leben gerufen. Dabei wurde in erster Linie an 
Servud gedacht, der bereits eine Probe seiner Begabung und Initiative ge- 
liefert hat. Anfang 1827 wird Servud, mit geheimen Instruktionen ausge- 
rüstet, nach dem Süden Rußlands als Revisor geschickt. Hier spielt er 
einen Revisor vom Chlestakov’schen Schlage. ü eibt seine Vollmacht 
und wird schließlich abberufen. Jedoch im Jahre 1828 erscheint er wieder in 
Kiev, gründet hier auf eigene Gefahr eine selbständige Polizeiorganisation 
und bereitet eine neue Provokation vor: cr versucht aus den Resten der 
Freimaurerkreise eine neue geheime Gesellschaft zu bilden. Der Plan wird 
rechtzeitig entdeckt; der Gendarmenchef Graf Benkendorff vermerkie un- 
gg auf dem ihm zugesandfen Bericht: „Eine reine Pest ist dieser 

ervudi“ Er muß nun seinen Dienst quittieren, und es ge allmählich bergab 
mit ihm: nach vielen zweifelhaften Spekulationen, Betrugsversuchen und 


452 


neuen Provokaltionen landet er in der Schlüsselburger Festung, nachdem er 
eine verleumderische Anklage der Ill. Abteilung an seinen alten Gönner, den 
Großfürsten Michail Pavlovic gerichtet hat. Im Jahre 1851 verließ S. die 
Festung und starb 1867 als gebrochener hilfloser Mann; er erhielt jedoch 
bis an sein Lebensende eine Unterstützung vom Hofe. — Diese Abenteurer- 
karriere trägt die typischen Züge der Epoche: das Rußland Nikolaus’ I. war 
ein Land der unbegrenzien Möglichkeiten für einen Mann, der gleich Servud 
die Tradition des westlichen Abenteurertums in Rußland fortsebte und keine 
Mittel scheute, um seine dunklen Zicle zu erreichen. Eugenie Salkind. 


G. Steklov: N. O. CernySevskij. — Krasnaja Nov’. August 1928. 
S. 154— 170. 


Der bekannte bolSevistische Forscher der russ. revolutionären Be- 
wegung widmet hier einen. Artikel über C. zum Andenken an seinen 100- 
jährigen Geburtstag (12./24. Juli 1828). C. wurde durch den Einfluß der revo- 
lutionaren Stimmung im Europa von 1848, durch die Lektüre der französi- 
schen Utopisten und deutscher materialistischer Philosophie zum Revo- 
lutionar geformt. — Seine Bedeutung für das revolutionäre Rußland war 
enorm. war hier der erste Prediger der materialistischen Philosophie 
Feuerbachs und Bekämpfer der idealistischen Doktrin. Unabhängig von 
Marx, den er vor seiner Verhaftung nie gelesen hatte, kam C. zum histo- 
rischen Materialismus. Auch er sieht nur ökonomische Ursachen im histo- 
rischen Prozeß und im Klassenkampf das Grundprinzip der Geschichte. 

Als Nationalökonom treibt er ähnlich wie Marx scharfe Kritik der 
bürgerlichen Wissenschaft. Obwohl der Autor Č. zu den Utopisten zählt, 
da er in seinen nationalökonomischen Anschauungen die russische Ge- 
meinde als zukünftiges revolutionäres Grundprinzip sieht, so nennt er ihn 
doch den ersten revolutionären Kommunisten. C. hoffte, daß Rußland durch 
die Gemeinde eine verkürzte kapitalistische Periode durchzumachen hatte, 
daß die zukünftige Revolution eine Bauernrevolution sein werde, die durch 
die Revolution des westlichen Proletariats unterstützt werden würde. 

Seit 1858 stand C. an der Spitze der russ. radikalen Intelligenz und 
führte auf den Seiten des Sovremenniks Kampf für eine radikale Durch- 
führung der Bauernreform und gegen den gemäßigten Liberalismus. Nach 
der Auffassung C.’s glaubt Verf. behaupten zu können, daß nach dem Um- 
schwunge in Rußland eine radikale revolutionäre Partei die Macht ergreifen 
würde und mit energischen Maßnahmen, rotem Terror, politischer Entrech- 
tung der besitzenden Klassen, Enteignung von Land und Kapitalien die 
Prinzipien der Revolution ins Leben einführen müßte. Andererseits muß 
der Autor zugeben, daß C. für den Moment sich mit einer demokratischen 
Konstitution zufrieden gegeben hätte. 

Die Gruppe um C. gab Proklamationen heraus, von denen einige von 
C. selbst verfaßt wurden. Nun aber wurde C. auf Orund einer anonymen 
Denunziation und des Verrats eines gewissen Kostomarov verraten; ohne 
jegliche Beweise für eine Schuld verurteilt, kam er in die Verbannung. 
Aus Sibirien kehrte er als müder und erschöpfter Oreis zurück, aber seine 
revolutionäre Gesinnung war nicht zermürbt, und sein wissenschaftliches 
Interesse war lebendig. 

Nach seinem Tode waren in ganz Rußland e für 
sein Andenken. Sein Name wurde zum Symbol für alle Kämpfer für ein 
neues Rußland Nadežda Jaffe. 


Autobiographische Bekundungen M. F. Gratevskij’s. — Krasnyj Archiv 
Bd. 18, S. 149— 162. 


Zur Biographie Gracevskij’s und zur Geschichte sai revolutionären 
Bewegung der siebziger jahre bringt S. Valk die „Avtobiogra- 
ficeskie pokazanija M. F. Oralevskogo". Es sind das Auf- 


455 


zeichnungen, die Gracevskij (geb. 1849, gest. 1887) 1882 auf Verlangen der 
Gendarmerie niederschreiben mußte und die zu seinen a gingen. 


Schreiben A. P. Stapov’s an Alexander IL im Jahre 1861. — Krasnyj 
Archiv Bd. 19, S. 150—156. 


Aus Anlaß der Bauernbefreiung kam es im Jahre 1861 zu Unruhen m 
Dorfe Bezdna, Gouvernement Kazań, die zu Erschießungen von Bauern 
dieses Dorfes führten. An der Bahre dieser Opfer wurde eine demon- 
strative Totenmesse abgehalten, über die der Krasnyj Archiv Bd. 17, 
S. 181—185, einen Beitrag brachte. Beteiligt hatte sich an der Totenmesse 
auch der junge Geschichtsprofessor an der Kazaner Universität Afanasg 
Séapov und wurde hierfür seines Amts entsetzt und nach Petersburg ver- 
bannt. Hier in Petersburg ist von ihm das ,PiSmo A. P. S€apova 
Aleksandru Il v 1861 godu“ geschrieben worden, das A. Si- 
doro nach dem Original im Moskauer Archiv Revoljucii 1 Vnešnej Poli- 
tiki mit kurzem Begleitwort hier publiziert. ae 

Stapov, der nach friedlicher Evolution sucht und dem die politischen 
Zustände Englands lockend vorschweben, entwirft dem Caren einen Plan, 
wie von der Hebung des Bildungswesens und seiner Befreiung von allen 
Fesseln ständischer Ungleichheit der Weg zur Selbstverwaliung der Pro- 
vinzen und von da zum zentralen Selbstverwaltungsorgan des Reichs, eben- 
falls unter Aufhebung ständischer Ungleichheit, führen soll. Für die Frei- 
heit des Worts und der Presse, die selbstverständlich kommen muß, sicht 
er ebenfalls eine allmähliche Entwicklung vor. Eine besondere Note b 
seine Vorschläge zur wirtschaftlichen Verselbständigung der einzelnen Ge- 
biete Rußlands, er verweist dabei als abschreckend auf die Zentralisierung 
des Bankwesens in Frankreich. 

Diese Vorschläge schließt Scapov mit der Bitte um Wiederzulassung 
zu stiller Gelehrtenarbeit, die ihm bekanntlich nicht mehr zuteil wurde. 

Harald Cosack. 


Seton-Watson: „Pobedonoscev and Alexander III.“ — Slavonic 
Review. Juni 1928. 


Verf. behandelt hier die Beziehungen Pobedonoscev’s zu Alexander Ill. 
in dessen Kronprinzenzeit. f 

Als Hauptquelle dienen die Briefe P.’s an die beiden Schwestern 
Tjutéev, Töchter des berühmten Dichters. Mit der jüngeren, Anna, hatte P. 
in den 60er Jahren bei Hofe Bekanntschaft geschlossen, wo sie Erzieherin 
einer der Prinzessinnen war. P. war damals Erzieher des früh verstorbe- 
nen Kronprinzen Nikolai Aleksandrovič. Als Anna 1865 den berü 
Slavophilen Ivan Aksakov heiratete, den oft Meinungsverschiedenheiten von 
P. trennten, trat die jüngere Schwester, Katharina, als P. s Vertraute an 
ihre Stelle; von den 550 jebt veröffentlichten Briefen sind 40 an Anna, die 
anderen an Katharina gerichtet. Katharina fand mit P. ein gemeinsames 
Terrain in slavophilen und religiösen Anschauungen. 

P. war, wie man es aus den Briefen an die Schwestern Thutéev ersieht, 
zuerst dem Oroßfürsten Nikolai Aleksandrovič freu ergeben und übersah 
den jüngeren Bruder vollkommen. Auch nach dem am 12. April 1865 er- 
folgten Tode Nikolai Aleksandrovic's blieb der durch das Unglück gebeugte 
P. dem Andenken seines früheren Lieblingsschülers treu, und erst 1867 
näherte er sich dem neuen Kronprinzen. Er entdeckt in ihm ein russisches 
Herz und ist von dem idealen Familienleben im kronprinzlichen Hause be- 
geistert. Er berät und leitet das etwas unbeholfene Kronprinzenpaar, 
und seine Stellung ist die eines erwachsenen Freundes halbwüchsigen 
Kindern gegenüber. Der Kronprinz unternimmt nichts, ohne seinen Lehrer 
um Rat zu fragen. 


454 


Was war es, was den Kronprinzen zu P. zog? Erstens scine kirchliche 
Gesinnung. Alexander hatte starke religiöse Interessen von seiner hessi- 
schen Mutter geerbt, deren Haus sich scheinbar damit auszeichnete. Die 
Briefe des Kronprinzen an P. enthalten oft Danksagungen für geschenkte 
Ikonen. Zweitens waren slavophile Sympathien dem Kronprinzen und P. 
pemanan, oft nicht im Einklang mit der herrschenden Politik. Der 

uthene ee wurde im e 1875 durch P. s Vermittlung am Kron- 
prinzenhofe emp fangen, obwohl die herrschenden Kreise gegen einc anti- 
Österreichische Politik waren. Der bekannte Slavenforscher Lamanskij hielt 
vor dem Turkenkriege, dem Kronprinzenpaare von P. empfohlen, bei ihnen 
Vorträge über die s avide Frage. Drittens war es das innere Zerwürfnis 
zwischen Vater und Sohn, das P. auszunutzen verstand. Der Kronprinz 
hatte sich dem Vater durch das Verhältnis des Caren zur Fürstin Dolgorukij, 
die nach dem Tode der Carin morganatische Gemahlin Al. Il. wurde, be- 
sonders entfremdet. P. ist aber immer ein Feind Al. Il. gewesen, ein Feind 
seiner losen Sitten, seiner unentschlossenen Politik, sogar seiner Reformen, 
wie er es selbst in einem Briefe vom Jahre 1864 an Anna Tjutéev zugibt. 
Auch während des Türkenkrieges hat P. nur Worte der Verachtung für die 
zaghafte Politik des Kaisers. Dieses gemeinsame Frondieren der Regie- 
rungspolitik ist es, was den Kronprinzen und P. mit unsehbaren Fäden ver- 
knüpft. Beide sind sie, wie man aus der Korrespondenz ersieht, durch die 
Entlassung extremer Nationalisten aus dem Wilnaer Distrikt empört, beide 
sind sie mit der russischen Politik im Türkenkriege unzufrieden. 

Und wir sehen, wie allmählich P. gegen den schwachen Monarchen im 
Kronprinzen eine starke Säule der Reaktion erzieht, und wir wundern uns 
nicht, daß während der Regierung seines politischen Schülers die Gestalt 
P.s als die des größten Machthabers auftaucht. Nadežda Jaffe. 


Zur Geschichte der „Zemlja i Volja“ der 70er jahre. (Das Pro- 
gramm der Niederlassung der Zemlevol’cen im Gouv. Tambov). 
— Krasnyj Archiv Bd. 19, S. 166—177. 


In diesem Aufsatz unter dem russischen Titel „K istorii Zemli i 
Voli 70-ch godov (Programma tambovskogo poselenija 
zemlevol’cev)" behandelt B. P. Koźmin den Übergang der sozial- 
revolutionären Intelligenz vom ,,choZdenie v narod“ des jahres 1874 und 
der „fliegenden“ Propaganda zur dauernden Niederlassung innerhalb der 
Bauern und zur politischen, auf lange Sicht abgestellten Erziehung der 
eieren und bringt im Anhang das Programm der Zelle, die sich für diesen 
Zweck Anfang 1878 im Gouv. Tambov bildete. Koźmin stellt fest, daz der 
Sozialismus und die soziale Revolution wohl das endliche Ziel blieben, von 
aber dieses ganz weil in den Hintergrund gerückt wurde und die Tatigkei 
im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten an die Stelle trat. Wie Krav- 
Einskij das in Nr. 1 der „Zemlja i Volja“ formulierte, sollte „sich der So- 
zialismus des deutschen Gewandes entledigen und den Bauernkittel an- 
legen“. Koźmin verweist auf die Gegensäßlichkeit zwischen der revolu- 
tionären Intelligenz jener Zeit in Stadt und Land, auf die Gegensäßlichkeit 
zwischen den hier behandelten Bestrebungen und dem Terror, der alsbald 
in Blüte kam, und konstatiert, daß die „Dereven3£iki” (die im Dorf Wir- 
kenden) die in den 80er jahren einsezende Form der langsamen politi- 
schen Aufklärung antizipierten. An sich war den „Derevenščiki“ kein Er- 
folg beschieden, weil die Verfolgung durch die Regierung zu wirksam war; 
so wurde die Tambover Niederlassung bereits 1879 vernichtet. 

Harald Cosack. 


A. Bem: Gogoľ i Puškin v tvortestve Dosioevskago. — Slavia 7, 1 
(1928). S. 63—86. 


1. Gogols „Nos“ und Dostoevskijs „Dvojnik“. — Die vorliegende Arbeit 
soll die Studien über Dostoevskijs Beeinflussung durch Gogol an dem Punkt 


455 


weiterführen, wo die Vorgänger Bemi aufgehört hatten. Die Ahnlichkeit 
zwischen beiden Werken hat schon beim Erscheinen des „Dvojnik“ Ver- 
wunderung erregt, eine Kritik v. J. 1847 spricht von Nachahmung, wobei 
Gogols Originalität Dostoevskij gegenüber besonders hervorgehoben wird. 
„Wir verstehen einfach nicht, wie diese Erzählung erscheinen konnte,” sagt 
der Kritiker. B. teilt diese Anschauung, die ja in der kritischen Literatur 
mehrfach geäußert worden ist, und ergänzt in einer Reihe von Textgegen- 
überstellungen aus beiden Erzählungen „Poemen“, wie sie auch überein- 
stimmend heißen (?), das früher gesammelte Material. Aus diesen Bei- 
spielen geht deutlich hervor, dab der junge Dostoevskij sich nicht im minde- 
sten geschcut hat, dem Leser die Ahnlichkeit mit Gogols „Nos“ klarwerden 
zu lassen. Sollte der junge Schriftsteller aus bloßer Unbeholfenheit das 
geian haben? B. meint, daß „Dvojnik“ im gesamten Schaffen Dostoevskijs 
ein wichtiges gedankliches Bindeglied darstellt. _Dostoevskij selbst hat im 
„Dnevnik pisatelja" gesagt, die Erzählung sei zwar mißlungen, aber die thr 
zugrunde liegende Idee sei klar ausgedrückt, ja er sagt, daß er eine ernstere 
Idee kaum je behandelt habe. Tatsächlich findet B., daß in den späteren 
Werken Dostoevskijs immer wieder der gedankliche Wert dieser frühen 
Arbeit zu erkennen ist. So erinnert man sich ihrer z. B. in der bekannten 
Szene von dem Älpdruck Ivan Karamozovs. Die Ähnlichkeit der Ideen ist 
auch von anderer Seite erkannt worden. Es bleibt nur die Frage: warum hat 
Dostoevskij den Ideengehalt seiner Erzählung gerade mit Gogols „Nos“ zu- 
sammengebracht und dazu in so herausfordernder Weise? Und auf diese 
Frage soll die vorliegende Studie Antwort geben. B. weist darauf hin, daß 
von den beiden Teilen, in die Gogols Erzählung zerfällt, nämlich die Szene 
beim Friseur und Kovalevs Erwachen ohne Nase usw., Dostoevskij nur der 
lebtere interessiert zu haben scheint, er fängt seine Erzählung mit dem 
Erwachen des Helden an, beide, Kovalev und Goljadkin blicken zuerst in 
den Spiegel. Es folgt dann eine Zusammenstellung bei B. all der zahl- 
reichen Redewendungen im „Dvojnik“, die das Wort „Nase“ metaphorisch 
angewandt zeigen, was im allgemeinen russischen Sprachgebrauch nicht 
üblich ist. Mag also die Nasengeschichte an sich für Dostoevskij viel Ver- 
lockendes gehabt haben, so hat er doch die Unmöglichkeit gefühlt, seine 
eigene Erzählung ım Geiste Gogols durchzuführen, bei ihm wurde das phan- 
tastische Verschwinden der Nase zur Tragödie seines Helden. Wenn er 
aber auch davon absah, sein Sujet so zu behandeln wie Gogol das seine, 
so hat er doch dem Gegenstand nach eine Menge Gogols alu ähnlicher 
Momente beibehalten. So z. B. die Figur des Arztes, die bei Gogol eine 
rein komische Episode bildet, bei Dostoevskij aber zum tragischen Moment 
wird. Auch die Figuren der Diener, die in „Nos“ und „Dvojnik“ vorkommen, 
zeigen den grundsätzlichen Unterschied zwischen komischer und tragischer 
Bestimmung. B. führt noch andere ähnliche und doch grundverschiedene 
Szenen beider Werke an. 

Grundverschieden in beiden ist der Begriff der Schuld gefaßt, bei Gol- 
jadkin handelt es sich um eine Tragödie des Gewissens, eine Tragödie des 
unklaren Schuldbewuftseins eines kleinen, aber in seinem Schicksal tra- 
gischen Menschen, während bei Gogol in „Nos“ der Begriff der Schuld nicht 
verinnerlicht ist. Doch stimmen hier beide Erzählungen wieder in einer 
Außerlichkeit überein. In der einen wie in der anderen führt die Frage 

der Schuld zu einem Briefwechsel, also wieder ein und derselbe Kunst- 
kniff bei verschiedener innerlicher Bedeutung. Wollte sich Dostoevskij von 
der Nasengeschichte frei machen, die nicht in sein Konzept paßte, so fand 
er bei Gogol den Weg dazu angedeutet: Kovalev sagt in der Szene im 
Redaktionsbüro, er wolle seiner Nase wegen inserieren, d. h. gewisser- 
maßen um seiner selbst willen. Hier zeigt sich also bereits de: Grund- 
gedanke des Doppelgangertums! Bem behandelt nun eingehend den schon 
bei Gogol zu ver folgenden Prozeß des „samozvanstva”, welcher bei Dostoev- 
skij bis zu den äußersten Grenzen weitergebildet ist. In der ersten Fassung 
des „Dvojnik“ war dieser Begriff sogar noch schärfer ausgeprägt, wie aus 
dem Brief an Bachrameev zu sehen ist, der später fallen gelassen wurde. 
Dostoevskij ist später in den „Besy“ und den „Bratja Karamazovy” noch 


456 


einmal zu diesem Thema zurückgekehrt. Bedeutungsvoll in psychol 

Hinsicht wird bei Dostoevskij auch der bei Gogol nur flüchtig angede Kern 
Gedanke des Sich-über-seinen-Stand-erheben-Wollens, der in „Prestu lenie 
i nakazanie“ zum Grundmotiv werden sollte. Auch hierüber enthielt der 
Brief an Bachrameev aufschlußreiche Stellen. Wo aber dieses Feuer der 
Unzufriedenheit im Innersten brennt, ohne sich nach außen zu dokumentieren, 
da drängt es zu einer innerlichen Usurpation, zum Traumen davon, und hier 
liegen wieder die Keime zum Leben im ,,podpol’e“, dessen Held sich schließ- 
lich als Zentrum des Weltgeschehens fühlt. Nach der Ansicht Bems hat 
Dostoevskij bei der Übernahme einer solchen Menge von Einzelmomenten 
aus „Nos“, die er seinem innersten Wesen nahestehend empfand, dann aber 
in einer ihm nicht eigenen stilistischen Form gestaltete, den Wunsch gehabt, 
Gogols „Nos“ seinen „Dvojnik“ gegeniiberzustellen. Das Vorhandensein 
der Beeinflussung ist nicht anzuzweifeln, aber es war ein Einfluß nicht an- 
ziehender, sondern abstoßender Art, und so ist man berechtigt, den „Dvoinik“ 
als eine originelle Beantwortung von Gogols „Nos“ zu betrachten. 

Emmy Haertel. 


Vjačeslav Polonskij: „Tolstoj i marksistskaja kritika.“ — 
Pečať i Revoljucja, 1928, Sentjabr (S. 7—49). 


Verf. bringt in seinem Artikel eine Kritik des marxistischen Kritikers 
Olminskij, der die Werke Tolstoj’s als reaktionär und daher schädlich und 
gefährlich charakterisiert hat. — P. sicht den Fehler Olminskij's darin, dab 
er Tolstoj den Denker von Tolstoj dem Dichter nicht differenziert. Ganz 
anders Lenin, der viele Artikel vor der Revolution Tolstoj widmete. 
Für ihn war Tolstoj der Ideologe des Bauerntums, der die Ideen dieser 
Gesellschafisschicht in vollkommener Weise ausdriickte. Lenin schabt die 
glänzende Kritik, mit der Tolstoj gegen die bürgerliche Gesellschaft hervor- 
tritt, sehr hoch ein, beschuldigt ihn aber eines vollkommenen Unverständ- 
nisses für die inneren Ursachen dieser Mißstände, die für einen Bauern 
natürlich wären, für einen europäisch gebildeten Schriftsteller aber un- 
begreiflich seien. Er halt den künstlerischen Protest T.s, seine geniale 
Kritik für den Proletarier für sehr wertvoll. Seine Predigt aber — des 
Nichtwiderstehens dem Übel — ist ein Gift, ähnlich wie die Religion. Für 
Lenin ist Tolstoj ein Mann der Zeitperiode 1864—1904, als alles Alte zer- 
trümmert wurde, die neuen Ideale aber noch sehr dunkel und unvollkommen 
waren. Auch Plechanov befaßte sich mit T. Ein glühender Verehrer des 
künstlerischen Genies IT. s, hält P. ihn für einen sehr schwachen philosophi- 
schen Denker, für einen vollkommenen Metaphysiker. Das, was für den 
Proletarier bei T. wertvoll ist, ist sein Haß gegen die Unterdrücker, seine 
Verachtung der bürgerlichen Gesellschaft. Seine Philosophie aber, als eine 
religiöse, ist für das Proletariat unannehmbar. Aber auch in I. s philo- 
sophischen Werken schätzt Plechanov den hohen künstlerischen Wert seiner 
zerschmetternden Kritik. 

Ein anderer marxistischer Kritiker, L. Axclrod, sicht in Tolstojs Seele 
die faustische Tragödie: „Zwei Seelen wohnen — ach — in meiner Brust.“ 
Die cine Seele war heidnisch und liebte das Leben, die andere war christ- 
lich und rief zum Asketentum. Je mehr der Christ in T.s Seele Sieger 
wurde, desto schwächer wurde sein künstlerisches Genie. Und zulebt 
brachte ihn das Christentum zu der alten religiösen Rechtfertigung der 
sozialen Ungleichheit. 

Polonskij bedauert, daß nur das philosophische Denken T.s durch die 
marxistische Kritik berührt wurde, daß sein gewaltiges künstlerisches Werk von 
der marxistischen Methode noch nicht untersucht wurde. Nadežda Jaffe. 


M. Aldanov: „über Tolstoj.“ — Sovremennyja Zapiski, Okt. 1928, 
S. 264—273. 
Verf. hebt die sehr glückliche literarische Laufbahn Tolstoj’s hervor. Mit 
einem Meisterwerk fing er an — mit einem Meisterwerk endete er. 


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Vielleicht nicht so seine Romane, wie seine eigentiimliche phische 
Lehre brachten ihm europäische Berühmtheit. Aber doch ging de Mensch- 
heit an seiner Moralphilosophie vollkommen gleichgültig vorüber. Als Ant- 
wort auf seine Lehre kamen der blutige Krieg, die Revolution, die Ceka: 

„Die Männer der Tat“ haften immer nur 3 für seine Gedanken. 
Clemenceau hätt ihn für einen ei ee Witte nennt seine Gedanken 
„Kindereien”. Die größte Verachtung er Lenin ein, der von seiner 
Lehre schreibt: „Es ist die Predigt einer der verruchtesten Sachen, die es 
in der Welt gibt, nämlich der Religion; ein Versuch, die jebigen Pfaffen 
mit Moralpredi gem zu erseben, d. h. ein utopistisches und darum besonders 
ekelhaftes Pfaffentum in die Welt zu seben.“ Tolstoj war der Dichter einer 
bestimmten Klasse. Er kannte und liebte nur die Aristokratie und das 
Bauerntum. Er haßte die Bourgeoisie und die Intellektuellen. Daher ist er 
vielleicht so besonders groß im historischen Roman, da er hier nur mit den 
Kreisen in Berührung kommen muß, die er kennt und liebt. In den lebten 
Tagen vor seinem Tode schrieb Tolstoj in seinem Tagebuch: „Es fällt mir 
schwer, in diesem Irrenhause zu leben.“ Er dachte wohl an die aja 
Poljana, vielleicht auch allgemeiner. Nadežda Jaffe. 


V. Friče: Lenin über das Klassengesicht Tolsioj’s. — Proletarskaja 
Revoljucja, N. 4. April 1928. S. 3— 12. 


Fr. nennt T. den Mann des alten Rußland — Lenin des neuen. — 
Lenin hatte das größte Interesse für das Genie T.s. Er sah in ihm die 
Kraft und die Schwäche des russischen Bauerntums: — einerseits den 
scharfen Protest, andererseits die volle Hoffnungslosigkeit. L. sieht etwas 

östliches, indisches in der Kampfunlust T.s, in seinem „Nichtwiderstehen 
dem Übel“. — Aber nach 1905 erwachten revolutionäre Stimmungen auch 
in der Bauernschaft, und T. hatte recht weon er zu Goldenveiser sagte: 
Die werden jebt alles zertrümmern, au 
ie war Lenins Stellung zu Tolstoj nach der Oktober-Revolution, als 
die russische Revolution tatsächlich alles zertrümmert hatte? or über- 
raschte einst Lenin, als er gerade „Krieg und Fricden“ las. L. sagłe zu 
Gorkij: „Was ist das für ein Kiinstler! Wer in Europa kann mit ihm ver- 
gaien werden? Keiner.“ — Für den Denker Tolstoj, der gegen die Grün- 
ung der Roten Armee, gegen den Kampf mit der Bourgeoisie protestiert 
hätte, hatte aber Lenin auch damals wahrscheinlich kein Verständnis. 
Nadežda Jaffe. 


Frankreich und Tolstoj. — Novyj Mir, Januar 1929, S. 248—255. 


Boris Pesis behandelt in seinem Artikel „Francija i Tolstoj“ das Ver- 
haltnis Frankreichs zu dem Künstler und Moralisten Tolstoj. Der Name des 
russischen Dichters begann in den achtziger Jahren des vorigen Jahrh. in 
Frankreich bekannt zu werden. Bereits 1875 erschien seine Erzählung „Zwei 
Husaren“ in französischer Übersekung; vier Jahre darauf folgte „Krieg und 
Frieden“ und erregte fast unmittelbar nach seinem Erscheinen Aufsehen in 
den literarischen Kreisen. Turgenev übernahm die Sorge für die Ver- 
breitung des Werkes, das er ausnehmend hoch schäbte: er schickte Re- 
zensionsexemplare an die prominentesten Kritiker und Schriftsteller, u. a. 
auch an Flaubert. — Das große Publikum zeigte zunächst wenig Verständnis 
für Tolstojs Werk. Erst 1888, als „Krieg und Frieden“ in einer neuen Aus- 
gabe, gleichzeitig mit einer umfassenden u des Kritikers M. de 
Vogué erschien, wurde das Interesse des Publikums plötzlich wach. Der 
Erfolg war überraschend, Uberseber und Verleger rissen sich um die 
Manuskripte Tolstojs; in diesen Jahren erschienen „Krieg und Frieden”, 
„Anna Karenina“, „Die Kindheit“, „Polikuska“, „Der Tod des Ivan IPic™ 
u. a. m. — Dieser beispiellose und auf den ersten Blick unbegründete Er- 


458 


he rone einen Teil der Kritik zum Widerspruch: man beschuldigte das 
likum des an zum Exotischen, ja man warf ihm sogar Mangel an 
Patriotismus vor. e 1 fanden jedoch die Ursache der Be- 
geis erung für T. in de eaktion, die nach der Herrschaft des Naturalismus 
eintreten mußte. Der Kritiker André le Breton verglich Tolstoj mit Hugo 
und fand bei den beiden Dichtern, trob des Unterschiedes der Schule und 
Epoche, die gleiche Tendenz der „sozialen Barmherzigkeit“. Was die for- 
melle Bewertung von neg, und Frieden“ anbetraf, so waren sich alle 
Kritiker darüber einig, daß die klassische A eschlossenheit und Klarheit, 
die die französische Dichtung auszeichnen, Tolstoj vollkommen fehlten. In 
„Anna Karenina” dagegen begrüßte man den „fast westeuropäischen 
Roman“. Der Moralphilosoph und Soziologe Tolstoj fand eine begeisterte 
Aufnahme in den intellektuellen Kreisen der jungen Generation. Man ver- 
glih die Wirkung seiner Schriften mit dem Eindruck, den seinerzeit 
»Contrat social“ auf das vorrevolutionare Frankreich machte. — Der 
heutigen französischen Jugend ist Tolstoj und seine Ideale fremd: das 
moderne Epikuräertum hat nichts in der Predigt der Askese zu suchen. Die 
. brachte vornehmlich Erinnerungen der älteren Tolstoj- 
erehrer, wie Rolland und Jean-Richard Bloch. Die beste Charakteristik 
Tolstojs gehört Anatole France („Hommage à Tolstoj“, 1910): „T. ist die 
Seele und Stimme des großen Volkes, eine Quelle, aus der jahrhundertelang 
Menschenkinder und Hirten der Menschheit schöpfen werden.“ 
Eugenie Salkind. 


Die marxistische Presse 1896-1906. — Krasnyj Archiv Bd. 9, 
S. 226—268, Bd. 18, S. 163— 194. 


Unter dem Titel VN periodileskaja pečať 
1896-1906 g. g.“ bringt V Poljanskij die Geschichte, der Zeit- 
schriften „Samarskij Vestnik“, „Novoe Slovo“, „Načalo“, » »Naučnoe 
Obozrenie“, „Mir Bozij* und der „Pravda“ in Moskau. Der Schwerpunkt 
der Übersichi ruht in den Personalien der Redakteure und Mitarbeiter und 
im fast für alle Zeitschriften aussichtslosen Kampf mit den Organen der 
staatlichen Zensur. Das Jahr 1906 ist als Grenze gesetzt. weil sich mit 
diesem Jahr die Zensurverhältnisse änderten. Harald Cosack. 


Popov, A.: Die englische Politik in Indien und die russisch-indi- 
schen Beziehungen 1897 1905. — Krasnyj Archiv Bd. 19, S. 53— 63. 


In der Hauptsache an der Hand von Berichten der Londoner Botschaft 
und des Generalkonsulats in Bombay gibt A. Popov in „Anglijskaja 
politika v Ind ii i russko-indijskie otno3enija v 1897 
do 1905 gg.“ ein Apercu der Gegensablichkeiten zwischen Rußland und 
England, wie sie bekannt sind. Zu bemerken ist, wie hellhörig die russi- 
schen Vertreter im Auslande in bezug auf jede antienglische Regung 
in Indien und wie empfänglich die russische Regierung und der Car für 
die Berichterstattung dieser Vertreter waren. Hervorzuheben ist auch, daß 
Popov die Versuche der Russen, auf dem indischen Markt Fuß zu fassen, 
berücksichtigt. Naphtha ist das Hauptmitte! dazu, wird aber durch die 
Standard Oil Company verdrängt; Zucker und Textilien werden von den 
Engländern erfolgreich abgewehrt, kaum daß sie sich auf den indischen 
Markt vorwagen. Harald Cosack. 


Die carische Diplomatie über die Aufgaben Rußlands im Orient im 
Jahre 1900. — Krasnyj Archiv Bd. 18, S. 3—29. 
Mit einem Vorwort M. Pokrovskij’s gibt A. Popov aus der Ab- 
teilung „Sekreinyj archiv ministra“ im Archiv der Revolution und auswär- 


tiger Politik folgende Aktenstücke heraus, die in der hier eingehaltenen 
dnung in einer Mappe mit der Aufschrift „1900 Personnel et trés secret, 


459 


Nr. 29° liegen: 1. Die Kopie des Berichts des Außenministers Murav'ev an 
den Caren, der alle Aufgaben russischer Politik von Ceuta und dem Bos- 
porus über Persien und Afghanistan bis Korea behandelt, vor jeder gewali- 
samen Handlung warnt und am 25. Januar 1900 das Plazet des Caren er- 
halt. (S.4—18); 2., 3. und 4. die Stellungnahme des Verwesers des Marine- 
ministeriums P. Tyrtov (S.18—21), des Kriegsministers Kuropatkin (S. 21 — 22) 
und des Finanzministers Witte (S. 22—25) in der Form von Schreiben aa 
den Außenminister; 5. der Bericht des letzteren an den Caren mit dem 
Resümee der Stellungnähme der obengenannten Minister. Den Ausschlag 
für Rußlands Passivität während des Burenkrieges dürfte Witte gegeben 
haben, der die Anspannung der Finanzen des Reichs ablehnt. Einig sind 
sich alle drei ministeriellen Gutachten darin, daß die Festsetzung am Bos- 
porus wichtig sei. Während Witte die Realisierung dieses Zieles nur durch 
einen europäischen Krieg für möglich hält, sieht Kuropatkin den Weg in der 
Erneuerung alter Abmachungen mit Deutschland. Im Interesse der zentral- 
asiatischen Probleme plädiert Kuropatkin für ein Abkommen mit England 
on. Tyrtov wünschte primo loco die Besibergreifung eines Hafens in 
üdkorea. 

Pokrovskij wendet sich gegen die übliche Auffassung, als hätten die 
Probleme der Politik Rußlands im Nahen und Fernen Osten unvermitich 
nebeneinander bestanden, und verweist auf die hier publizierten Dekumente 
als Beweis des Gegenteils. Harald Cosack. 


Briefe Wittes an Sipjagin aus den Jahren 1900 und 1901. — Krasnyj 
Archiv Bd. 18, S. 30—48. 


Aus den Archivalien des ehemaligen Innenministers Sipjagin entnimmt 
B. Romanov die von ihm hier publizierten 15 „Piś ma S. Ju. Vitte k 
D. S. Sipjaginu“, deren Datierung er bis auf den Brief Nr. 1 feststellt. 
Als Witte seine Memoiren schrieb, hat er diese Briefe von der Witwe Sip- 
jagins erbeten und erhalten, was nicht ohne Interesse ist, da ihre Benutzung 
sich an Wittes Memoiren nicht nachweisen läßt. B. Romanov folgert aus 
dem Zurückgreifen Wittes auf diese Briefe, dab Witte sie wohl schon im 
Hinblick auf ihren Wert als zukünftige Quelle geschrieben hat. 

Der erste Brief enthält eine Auseinandersekung über die Stellung des 
Caren, die Briefe Nr. 2—13 von Anfang Juli—Ende Oktober 1900 drehen 
sich in der Hauptsache um den Boxeraufstand und den Gegensab zwischen 
Witte und Kuropatkin in Sachen der russischen Politik im Fernen Osten. 
Brief Nr. 14 v. 7. Juli 1901 behandelt allerlei, die finnlandische Frage und 
die Mißernte und die Wühlarbeit Bezobrazovs. Brief Nr. 15 v. 12. Juli 1901 
zeigt die Intrigen Bezobrazovs und Genossen schon in voller Blüte und den 
Caren in torichtster Empfänglichkeit für sie. Schon in früheren Briefen läßt 
Witte die Unsicherheit seiner Position durchblicken, im lebten ist er am 
deutlichsten. Harald Cosack. 


Die Korrespondenz zwischen Witte und Kuropatkin 1904—1905. — 
Krasnyj Archiv Bd. 19, S. 64—82. 


Im Archiv der Oktoberrevolution, Abt. Sturz des alten Regimes, befinden 
sich sowohl das Archiv Wiftes als das Kuropatkins. Die hier u. d. T. 
„Perepiska S.Ju.Vitte i A. N. Kuropatkina v 1904-1905 gg.“ 
veröffentlichten und von G. Stopalov mit einem Begleittext versehenen 
Briefe Wittes sind im Original, die Kuropatkins in Kopie erhalten. Sie 
beginnen mit dem 28. März/10. April 1904 und laufen bis zum Ende Juni/An- 
fang Juli 1905. Wittes Datierungen sind von außerordentlicher Nachlässig- 
keit und Unvollständigkeit, die Kuropatkin sorglich emendiert. _ ; 

Witte, Lamdsdorff, Kuropatkin waren alle drei gegen den japanischen 
Krieg gewesen, daher eine gewisse Solidaritat zwischen Witte und Kuro- 
patkin, die sich in den Briefen kundgibt. Beide stehen auf dem Stand- 
punkt, daß die Westgrenze und die innere Ordnung die Hauptaufgaben 


440 


seien. Beide glauben zu Anfang des Krieges an Rußlands Sieg, sind sich 
aber über die Kriegsziele nicht einig und gehen seit Januar 1905 in ihren 
Ansichten über Krieg und Frieden auseinander, weshalb Kuropatkin die 
Korrespondenz von Januar bis Anfang Juni 1905 n. St. unterbricht und in 
dieser Zeit nur eine abweisende kurze Nachricht vom 27. März/9. April Witte 
zukommen läßt. Auch nach Zusima ist Kuropatkin für die Fortführung des 
Krieges (Brief Nr. 10), auf den Witte sofort mit einem umfangreichen Brief, 
der die Vorgänge seit Kurino’s Vorschlägen von Ende Juli 1905 rekapituliert, 
die Lage innen- und außenpolitisch schildert und für den sofortigen 
Frieden und einen 20—25jshrigen nachfolgenden Friedenszustand ein- 
trit. Bereits um die Wende vom Mai zum juni 1904 faßt Witte die 
Situation so zusammen: „Überall ist das Umgekehrte von dem geschehen, 
was man wollte. Sie wollten nicht angreifen und sogar zurückgehen, 
um später vorzugehen, was nach meiner ausgesprochenen Ansicht viel 
besser gewesen ware, als was geschehen, und es ereignete sich das 
Gegenteil — Sie begannen anzugreifen. Herr Plehwe dagegen war 
überall bereit, alles niederzuschlagen und alles anzugreifen, und zieht sich 
jezt auf der ganzen Linie feige zurück.“ Ausgerechnet Plehwe, meldet 
‚hierbei Witte, hat sich für die Erweiterung der Rechte der Juden ein- 
gesebt. Bereits nach Plehwes Ermordung ist Witte „für eine radikale 
Anderung des Regimes“. Als das Manifest vom 12.25. Dezember 1904 
zustande kommt, gratuliert Kuropatkin Witte aufs wärmste, der aber bei 
Beantwortung dieses Schreibens mit der wohltuenden Wirkun ngar dieses von 
Nikolaus Il. persönlich verstümmelten Manifests nicht mehr re 

Diese Skizze erschöpft keineswegs den Inhalt der Briefe. Das Miß- 
trauen Wittes gegen Deutschland findet seinen Ausdruck; ebenso die Tat- 
sache, daß er erst nach Plehwes Tod von den engen Beziehungen zwischen 
Plehwe und den Bezobrazov, Abaza und den übrigen Kriegstreibern 
authentische Beweise erhält, und was dergl. mehr ist. Harald Cosack. 


Aus den Bekundungen N. J. Rysakov’s. — Krasnyj Archiv Bd. 19, 
S. 178—194. 


S. Valk fügt zu den in „Byloe“, 1918 Nr. 10/11, bekanntgewordenen 
ease Rysakov’s, des Narovol’cen, der um des vergeblichen Ver- 
suches willen, sein Leben zu reiten, alles preisgab, was er wußte, bisher 
unbekannte Bekundungen hierzu, die sich nicht mehr auf die Tat selbst, 
sondern auf die Organisation und Tätigkeit der „Narodnaja Volja“ im all- 
gemeinen bezogen. Uber diese Aussagen vom 18., 19., 20. Marz 1880, hier 
zusammengefaßt unter dem russischen Titel „iz pokazanij N. J. Ry- 
sakova“, ist nur cin Hinweis auf die Bekundung vom 19. d. M. im Bericht 
Plehwes vom gleichen Datum bekannt geworden, der die Tätigkeit unter 
dem Militär hervorhebt (Byloe ibidem S. 41). Die Mitangeklagten haben 
seinerzeit nur ganz beschränkt von der Preisgabe ihrer und ganzundgar- 
nicht von der Preisgabe der Partei Kenntnis gehabt, doch das genügte, 
wie Vera Figner in ihren Erinnerungen erzählt, daß sich Sofja Perovskaja, 
als sie auf dem Schafott ihre Genossen umarmte, von Rysakov abkehrte. 
S. Valk betont die Wichtigkeit der von ihm veroffentlichten Bekundungen 
fur die Geschichte der „Narodnaja Volja“. Harald Cosack. 


Das Tagebuch G. O. Rauchs. — Krasnyj Archiv Bd. 19, S. 83— 109. 


_ Georg Ottonovié Rauch, seit dem 27. Oktober 1905 Generalquartier- 
meister und seit dem 22. Dezember d. J. Chef des Stabes der Garde und 
der 8 des Petersburger Militärbezirks, 1908—1912 Kommandeur der 
10. Kavalleriedivision, während des Weltkrieges Chef des 3. Gardekorps 
und nach dem Kriege in Kiev bei Skoropadskij als Anhänger der deutschen 
Orientierung, hat ein Tagebuch geführt und Erinnerungen .geschrieben. 
Das Tagebuch reicht vom 28. Nov./15. Dez. 1905 bis zum 24. Jan./6. Febr. 
1906, während die Erinnerungen, die Sommer 1908 verfaßt wurden, in der 


441 


Hauptsache der Zeit vom 9./22. Jan. bis 26. Okt./8. Nov. 1905 gelten. Beide 
Aufzeichnungen befinden sich im Leningrader Historischen Zentralarchiv. 
B. Krugljakov gibt hier den „Dnevnik O. O. Raucha“ vollständig 
heraus, während A. A. Silov die Anmerkungen dazu schreibt, in denen 
Auszüge aus den ,Vospominanija Raucha“ inseriert sind. 

Das Tagebuch und die Erinnerungen sind voll der interessantesten 
Nachrichten über Personen und Vorgänge auf der Seite der Regierung 
in der Revolution von 1905. Einiges sei herausgegriffen. Witte ist der 
gehaßteste Mann, von der Carin über Rauch bis zu dem Schwarzen Hun- 
dert, dessen Führer Dubrovin nicht müde wurde, Witte als Freimaurer und 
Spielball des Judentums zu denunzieren. Auch Aehrenthal beteiligt sich 
an der Herabsetzung Wittes. Mit Befriedigung stellt Rauch fest, daß Witte 
tatsächlich nach dem 17. Oktober, wie Dedjulin und Trepov auch, zeit- 
weilig den Kopf verloren hat. Trepov erscheint als schwankende Person- 
lichkeit mit liberalen Anwandlungen, Durnovo als der festeste Mann, der 
Retter der Situation. Den Nikolaj Nikolaevié nennt Rauch „nicht klug” 
und ist daher manchmal von seinen „nüchternen und richtigen Ansichten“ 
überrascht, so z.B. im Falle Wittes, den er erst die Duma zustande bring 
lassen will, um ihn dann zu stürzen, weil Witte als Opposition zu gefährlich 
ware. Nicht uninteressant ist das Urteil über Birilev, den kontrasignieren- 
den Minister beim Björkoe-Vertrag, Rauch nennt ihn eine Null (nictozestvo), 
Schwaber und Lügner, der die Carin für sich gewonnen, weil er mit den 
Carenkindern spielt und unter Tisch und Stühlen herumkriecht. Leise an- 
gedeutet ist die Agitation, Michail Aleksandrovič an Stelle des Caren auf 
den Thron zu setzen. Von der eigenhändigen Übergabe von 100000 Rbi. 
durch den Caren an Nikolaj Nikolaevié zur Finanzierung der Zeitungen 
„Golos Pravdy“ des Musselius und „Zofka“ des Jarmonkin hören wir 
Authentisches. Desgleichen uber die Erledigung des Kutler’schen Projekts 
der Landabgabe an die Bauern durch Nikolaj Nikolaevic. Einen breiten 
Raum nimmt die Bekampfung des Aufstandes in den baltischen Provinzen 
ein. Als kulturhistorisches Detail möchte ich noch erwähnen, daß Rauch 
bei seiner Ernennung zur Suite des Caren diesem die paar Mal 

arald Cosack. 


Die Aufzeichnungen F. A. Golovin’s. — Krasnyj Archiv Bd. 19, 
S. 110— 149. 


Im jahre 1912 hat Golovin, Zemstvovertreter, Kadett und Präsident 
der 2. Duma, die hier von M. Pokrovskij nach dem Original im Mos- 
kauer Archiv der Oktoberrevolution veröffentlichten ,Zapiski F. A. 
Golovina“ niedergeschrieben. Diese Aufzeichnungen gehen auf Notizen 
zurück, die der Verfasser sich unter dem frischen Eindruck der von ihm 
behandelten Vorgänge gemacht hat. Der eine Teil der nungen 
hat Golovins Begegnungen mit dem letzten Caren, der andere die Er- 
fahrungen mit Stolypin während der zweiten Duma zum Gegenstande. 
Den Caren stellt er als einen nicht begabten, aber eigenwilligen und hinter- 
hältigen Menschen dar, den man von der Verantwortung für die Gescheh- 
nisse unter seiner Regierung zu Unrecht freisprechen will. Stolypin beur- 
teilt er als einen Mann, der mehr Gouverneur einer russischen Provinz 
als Staatsmann ist, und vindiziert die Initiative am Agrargeseb nicht 
Stolypin, sondern Krivošein. Pokrovskij macht hierbei aufmerksam, daß 
Golovins Urteil über Stolypin in seinen Aussagen vor der Außerordent- 
lichen Untersuchungskommission von 1917 im 5. Bande des „Padenie car- 
skogo režima“ viel günstiger lautet als 1912. Aus beiden Teilen erfahren 
wir Neues über den Fall des Armeniers Zurabov, eines ehem. Offiziers 
und Mitglieds der Sozialdemokratischen Partei und der 2. Duma, der eine 
Rede zum Heeresetat 14 Tage etwa vor dem Staatsstreich des Caren und 
Stolypins vom 3./16. Juni 1907 hielt, die die Regierung im ganzen zum Aus- 
gangspunkt für die sofortige Auflösung der Duma machen wollte, nicht 
aber Stolypin. Bis hierher hat nach Golovin Stolypin aus Selbsterhaltungs- 
trieb auch die Duma erhalten wollen. Harald Cosack. 


442 


Die chinesische Revolution von 1911. — Krasnyj Archiv Bd. 18, 
S. 49—104. 


Nach einem Aperçu über die Aufstandsbewegungen in der Geschichte 
Chinas und einer Besprechung des Inhalts der unter dem Sammeltitel 
„Kitajskaja revoljucije 1911 goda“ zum Abdruck gelangenden 
Akten durch A. Ivin folgen 43 Dokumente aus der Zeit vom 16./29. Sept. 
1911 bis zum 28. April/11. Mai 1912, die aus dem Moskauer Archiv der Re- 
volution und der auswärtigen Politik stammen und von A. Popov für den 
Druck vorbereitet sind. Die Akten verraten eine relativ oberflächliche 
Kenntnis der Vorgänge in China, wie lvin hervorhebt, jedoch illustrieren sie 
gut die Absichten der russischen Regierung, sich aus Anlaß der Wirren an 
Chinas Nordgebieten zu bereichern. Zu diesem Zwecke ist die carische 
Diplomatie bereit, mit dem revolutionären Süden in freundschaftliche Be- 
ziehungen zu treten (Nr. 23) und dort, wo sie zögert, wie in der Frage der 
Annexion des Uriyanghai-Gebiets, ist es der Car persönlich, der das Vor- 
dringen wünscht (Nr. 37). Frankreich unterstübt alle Aspirationen Rußlands, 
nicht nur in der Mandschurei und Mongolei, sondern auch in Chinesisch- 
Turkestan (Nr. 29), während Sazonov alles vermeiden will, was Rußlands 
Kräfte im Fernen Osten binden könnte (Nr. 40). Harald Cosack. 


Produgol’. Zur Frage des Finanzkapitals in Rußland. — Krasnyj 
Archiv Bd. 18, S. 119—148. 


_ Im Vorwort zu seinem Beitrag ,Produgol. K voprosu o 
finansovom kapitale v Rossii“ stellt A. J. Gajster fest, 389 
die Meinungen über die Zusammensetzung des Finanzkapitals in Rußlan 
weit auseinandergehen. Als die beiden Pole im Streit der Meinungen 
zitiert er Kricmans Vorwort zu Ronin, Inostrannyj kapital v Rossii, 1926, 
und Finn-Enotaevskij, Finansovyj i proizvoditel'nyj kapital. Kricman an- 
erkennt „kein System des russischen Finanzkapitals“ und sieht nur „eine 
Erweiterung des Exploitationsbereichs des ausländischen Kapitals“, während 
Finn-Enotaevskij gegen die Auffassung polemisiert, dab „am Vorabend 
des Weltkrieges das französisch-englische und z. T. auch das deutsche 
Finanzkapital die russische Industrie beherrscht und dadurch denationali- 
siert hat“. Zur Klärung dieser Frage bringt Gajster Aktenmaterial aus 
dem Prozeß des größten Steinkohlensyndikats Rußlands „Produgol“, der 
Gesellschaft zum Vertrieb des mineralischen Heizmaterials des Donez- 
bassins, gegen zwei ausgeschiedene Mitglieder, das JuZno-Russkoe Dne- 
provskoe Metallurgiceskoe ObScestvo und das ObS¢estvo Gosudarevo- 
Bajrakskich kopej. Aus dem Material geht die monopolistische Stellung 
dieses Syndikats und die Ausnubung dieser Monopolstellung ebenso klar, 
wie seine Abhängigkeit vom französischen Kapital hervor. Nicht weniger 
als zwanzig Franzosen, alle in Frankreich, unter ihnen Doumer, sollten in 
den Prozeß hineingezogen werden, doch wurde dieser Riesenskandal ver- 
hindert. Verhindert durch die Einmischung des französischen Botschafters 
Paléologuc und des russischen Auswärtigen Amis. Abgespielt hat sich 
diese Aktion Paléologues zu Kriegsbeginn, definitiv niedergeschlagen 
„mangels von Beweisen“ wurde die Angelegenheit Marz 1915. 

Harald Cosack. 


Zur Geschichte der Konferenz von Jassy. — Krasnyj Archiv Bd. 18, 
S. 105—118. 


Im Anschluß an eine längere Darlegung des Verlaufs der Konferenz 
von Jassy, die im November 1918 von den Vertretern der Allierten in Ru- 
mänien und allen antibolschewistischen Parteien Rußlands veranstaltet 
wurde und ihre Fortsetzung in Odessa fand, veröffentlicht Al. Gukovskij 
unter dem Titel „K istorii Jasskogo soveSéanija“ das Protokoll Nr. 21 der 
russischen Delegation, datiert Odessa 17./30. Nov. und 18. Nov./i. Dez. 1918 
und unterzeichnet von Meller-Zakomel’skij und Gri3in-Almazov. 


445 


Das Protokoll enthält den Bericht des Generals GriSin-Almazov über 
die Lage im Osten des Europäischen Rußlands und in Sibirien, wo die ver- 
schiedenen Regierungen einander befehdeten und die Cecho-Slowaken 
agierten. Der kritische Apparat am Schluß stellt eine Reihe von Fehlern 
Gri$in-Almazovs zurecht. 

An Literatur zieht Gukovskij heran Margulies, God intervencii, Bd. 1 
Berlin 1923, dessen einschlägiges Material über Jassy erstmalig in der 
„Letopi$ Russkoj Revoljucii, ersch. bei GrZebin, veröffentlicht wurde; Gurko, 
Iz Petrograda čerez Moskvu, Pariž i London v Odessu 1917—1918 gg. in 
Archiv Russkoj Revoljucii Bd. 15, Berlin eg Astrov, Jasskoe soveSéanie in 
Golos Minuv3ago na čužoj storoné, Nr. 4, Paris 1926; und von sovetrus- 
sischer Seite den Aufsatz von Rjabinin „Jassy i sojuznaja okkupacija na 
Ukraine“ im Sammelwerk „Cernaja kniga“, Sbornik state} i materialov 
intervencii Antanty na Ukraine v 1918—1919 gg. pod red. A. G. Slichtera, 
Gos. Izd. Ukrainy 1925, S. 31—50. Harald Cosack. 


Zur Geschichte der französischen Intervention im Süden Rußlands 
vom Dez. 1918 bis zum April 1919. — Krasnyj Archiv Bd. 19, 
S. 3—38. 


D. Kin veröffentlicht hier „K istorii francuzskoj inter- 
vencii nach juge Rossii Dekabr’ 1918—aprel’ 1919 g.“ 
Mitteilungen an Admiral Koléak, die ihm in der Zeit vom 10./13. Februar bis 
zum 10./23. März 1919 aus der Freiwilligen Armee zugingen. Sie stellen 
nur einen Auszug aus dem im Archiv der Oktoberrevolution ruhenden 
Material dar. Der Berichterstatter stand dem 5 Nationalen 
Zentrum (JuZno-Russkij Nacional’nyj Centr), V. Sul’gin und Grišin— Al- 
mazov nahe und ist absolut Feind dem Rat der 5 Einigung (Sovet 
Gosudarstvennogo Ob-edinenija). Wie gut unterrichtet er war, bezeugt, 
worauf Kin hinweist, ein Vergleich mit dem Buch des Ob-edinevie-Mannes 
M. S. Margulies, God intervencii, Berlin, Moskau, Orzebin, 1925. Den Angel- 
punkt der Berichte bildet die Fra e des Verhaltens der Franzosen zur 
Denikin’schen Freiwilligenarmee und zum Direktorium Petijuras. Mit dem 
Erscheinen Franchet-d’Esperey’s in Odessa am 20. März triumphiert die 
antidenikinsche Linie des französischen Obersten Freydenberg, die Fran- 
zosen übernehmen, voller Verachtung für die Russen, die gesamte 
in Odessa, doch geschieht das in einem Moment, wo die Franzosen ihr 
Militär nicht mehr in der Hand haben und selbst machtlos sind. Die rus- 
sische Hilflosigkeit tritt in den vielen Details der Berichte deutlich zutage. 
Der Schlüssel für das Verhalten der Franzosen fehlt. Harald Cosack. 


Die Engländer im Norden 1918—1919. — Krasnyj Archiv Bd. 19, 
S. 39—52. 


Aus 2 Stücken, die sich im Archiv der Oktoberrevolution, und 
13 Stücken, die sich im Archangelsker Gouvernementsarchiv befinden, be- 
steht der Beitrag „Angli kane na severe (1918-1919 gg.“ von 
I. Minc. Im kurzen Vorwort macht der Herausgeber darauf aufmerksam, 
daß nirgends die Intervention so international aufgezogen war, wie in 
Archangelsk. Engländer, Franzosen, USA-Truppen, Italiener, Serben, Kana- 
dier, Australier und sogar die „neutralen“ Dönen waren dabei. Am 
1. August 1918 kamen sie, Herbst 1919 verschwanden sie, während die 
konterrevolutionäre Regierung, die ihr Dasein der Intervention verdankte, 
diese nur deshalb bis Februar 1920 überlebte, weil die Rote Armee im 
Süden Rußlands eingesetzt wurde. Die Abhängigkeit der Archangelsker 
Regierungen von der Entente wird durch die Akten nachdrücklich illustriert, 
wirksam unterstützt durch die Voranstellung der phrasenhaften „Proklama- 
tion an das russische Volk“ bei Ankunft der Interventionstruppen. Die 


444 


Ausschau nach wirtschaftlicher Exploitation des befreiten Ruglands wird 
beleuchtet, u. a. das Konzessionsbegehren des Polarforschers Shackleton 
behandelt. Harald Cosack. 


Aus dem Merkbuch des Archivars. — Krasnyj Archiv, Bd. 18, S. 195 
bis 227; Bd. 19, S. 195— 221. 


Der erste der Beiträge „iz zapisnoj kniZki archivis fe“ be- 
handelt „A. J. 2 eljabov in Aleksandrovsk“ und stammt von 
S. Valk. Zeljabov gen 1851, hingerichtet 3. April 1881), das aktivste 
Mitglied des Exekutivkomitees der „Narodnaja Volja“, ist Organisator 
dreier Attentate auf Alexander ll. gewer des nicht zur Ausführung 
gelangten Attentats auf den Eisenbahnzug des Caren vom 18. November 
1879 in Aleksandrovsk, der Explosion im Winterpalais vom 5. Februar 1880 
und der Ermordung des Caren am 1. März 1881. Hier werden, worauf der 
Titel hinweist, einige Daten zum ersten Attentat beigesteuert (S. 195197). 

N. Sergievskii gi bt in „Die 55 Sendung von Schrif- 
ten seitens ruppe ,Osvoboidenie Truda (Be- 
freiung der 4 beit" aus dem Auslande Materialien zum miß- 
lungenen Versuch von 1884, an dem der preußische Staatsangehörige Otto 
Stolz beteiligt war (S. 197—201). 

E. Tarle bringt aus der „Korrespondenz V.K.Plehwe's mit 
A. A. Kireev“, einem slavophilen General, die in Bruchteilen im Archiv 
Plehwe’s sich erhalten hat, einen Brief vom 31. August/13. September 1903, 
etwa 14 Tage, nachdem es Bezobrazov und Plehwe gelungen war, Witte 
aus seiner beherrschenden Stellung zu verdrängen. Der Brief enthält 
nichts Uberraschendes. Plehwe weiß, daß die Forderung einer konstitutio- 
nellen Verfassung besteht, weil „die schnell eingefretene Evolution der 
sozialen Verhältnisse die Arbeit des Staates im Ordnen der neuen Ver- 
hältnisse überflügelt hat“, doch glaubt er, daß der „historische Carismus“, 
und nur dieser, der Nation Wege weisen kann, die die Konstitution über- 
flüssig machen, und daß hierfür eine straffe Staatsautoritat nötig ist. 
Das Interessanteste ist, was der Brief verschweigt. Tarle macht darauf 
aufmerksam, daß Plehwe sein Mittel zur Stärkung der Staatsautoritat, 
den 1 Krieg mit Japan, nicht nennt. (S. 201 — 208.) 

Ja. Zdravomyslov veröffentlicht „Aus Konzepten K. P. 
Bebedonc scevs“ drei Stücke, die unter losen Papieren der Kanzlei 
des Oberprokureurs des Synods gefunden worden sind. Das erste Stück 
ist ein erster Entwurf jener Rede, die der lebte Car 1895 beim Empfang 
der Vertreter des Adels, der Zemstvoverwaltungen, der Städte und der 
Kosakenheere aus Anlaß des Thronwechsels gehalten und in der er alle 
Wünsche nach einer Verfassung schroff abgewiesen hat. Der wesentlichste 
Unterschied zwischen diesem Entwurf, der nur mit Repräsentanten des 
Adels rechnete, und der tatsächlich gehaltenen Rede liegt im Fehlen jener 
übelberüchtigten Worte von „den sinnlosen Träumereien“, von denen einige 
behaupten, sie seien nie gesprochen worden; statt ihrer hätte Nikolaus Il. 
von „nicht zu verwirklichenden Träumereien“ geredet. Der offizielle Text 
befindet. sich, nebenbei bemerkt, im Pravitel’stvennyj Vesinik Nr. 14 vom 
ine Januar 1895, eine gute Beschreibung des Vorgangs in den Erinne- 

en des Zemstvovertreters A. A. Savel’ev unter dem Titel „Zwei Thron- 

steigungen russischer Caren“ in „Golos MinuvSago" 1917, Nr. 4, S. 91 
55 104. Die beiden anderen Stücke haben Bezug auf die im Verden 
begriffenen Manifeste vom 18. Februar/3. Marz und 17./30. April 1905, 
Pravitel’stvennyj Vestnik Nr. 39 und Nr. 86 vom ]. 1895, von denen das 
erste alle treuen Russen zum Schutze des Thrones aufrief und den Vor- 
laufer des Reskripts über die Einsekung der Bulyginschen Spezial- 
kommission zur Ausarbeitung eines Dumagesebes bildete, während das 
zweite die Rechte der nichtorihodoxen Bekenntnisse erweiterte. Dem 


29 NF 5 445 


ersten Manifest spendet Pobedonoscev mit geringen Ausstellungen Lob 
und trostet den Caren mit dem kirchenfrommen russischen Vo beim 
zweiten bekämpft er, um das Wesentlichste herauszugreifen, die Gleich- 
stellung aller Bekenntnisse und erficht hier seinen letzten großen Sieg. 
Die Frage der Stellung der russischen Kirche wird auf Befehl des Caren 
bereits am 13./26. März 1905 dem Ministerkomitee entzogen und dem S 
überwiesen. (S. 203—207.) , i : 
in Memorandum, das der Aufmerksamkeit wurdig 
ist“, betitelt M. Paozerskij seinen Beitrag, der sich auf die brennendste 
Frage von Ende 1916/Anfang 1917 bezieht, auf die Aufnahme des Kampfes 
gegen den Progressiven Block in Duma und Staatsrat und die hinter ihnen 
stehenden großen Organisationen in Stadt und Land durch die Auflösung 
der Duma. Da die Duma durch die Alliierten gestützt wurde, so sollte aus 
der Duma resp. der Wählerschaft die Forderung der Auflösung kommen, 
um eine Zwangslage der Regierung zu konstruieren. Eine solche Rolle 
war dem Memorandum der „orihodox-russischen Einwohner Kievs“ zu- 
gedacht, das Steglovitov, der Vorsizende des Staatsrats, dem Caren zu- 
leitete, das der Car mit der Resolution, die den Titel dieses Beitrages 
bildet, versah und der lebte Vormende des Ministerkomitees Golicyn seinen 
Maßnahmen zugrunde legte, die dann von der bürgerlichen Februarrevo- 
lution überholt wurden. Von der Existenz dieses Memorandums hatte man 
seit Anfang Januar 1917 gewußt, kannte aber weder den Inhalt, noch den 
Autor, noch seine Folgen. Das wird jetzt durch die hier veröffentlichten 
Dokumente bekannt, die neben dem Memorandum aus einem Schrei 
Séeglovitovs an den Caren und aus einem Bruchstück des Golicyn’schen 
Berichts an den Caren vom 20. Januar 1917 bestehen. (S. 207—214.) 

In die Zeit Ende juni / Anfang juli 1917, als an und hinter der Front die 
Reaktion anwuchs, führt V. Meller unter dem Titel „Das Allrus- 
sische Zentralexekutivkomitee (VCIK) im Juli 1917°. Er 
publiziert die wenigen im Archiv der Oktoberrevolution erhaltenen Befehle 
des aus Menschevisten und Sozialrevolutionären bestehenden VCIK über 
55 von Truppen nach Petersburg zur Unterdrückung der Bol3eviki 

214—2 

Fünf Dokumente aus dem Polizeidepartement, ones as den Aaa 

„Über die Gewerkschaften“, die übrigen vier aus den Akten „Uber die 
Vorbereitung von Maßnahmen zur Verhinderung der Wiederholung der 
revolutionären Bewegung von 1905“, gibt M. Korbut als Zusammen- 
fassung der Erfahrungen von 1905 durch das Polizei- 
departement” heraus, um die Arbeit der Polizei im Jahre 1913 zu 
illustrieren, soweit das) Proletariat in Frage kommt. Im zweiten Dokument 
vermerkt die Polizei, daß in Parallele mit der steigenden Unzufriedenhed 
der Massen auch die liberalen bürgerlichen Kreise größere Aktivität an den 
Tag legen, so auf dem Stadtetag in Kiev von 1913. Korbut macht hierzu 
im Begleittext die Bemerkung, daß die bürgerliche Aktivität nach anderen 
Dokumenten des Polizeidepartements gleichfalls Gegenstand größter Auf- 
merksamkeit war, so z. B. die geheime Konferenz der Kadetten in Moskau 
vom 5.—6. Oktober 1913. (S. 219—227.) 


Die Miszellen „iz zapisnoj knizki archivista“ im 
19. Bande eröffnet E. Korol' & uk mit drei Briefen „Aus der Korre- 
spondenz S. M. Kravéinskij-Stepnjak’s” aus dem ]. 1878, 
von denen zwei kurz vor, einer kurz nach dem Attentat auf den Chef der 
3. Abteilung N. Mezencov vom 4. Aug. geschrieben sind. Die Adressaten 
sind der Reihe noch Vera Zasuli¢, A. Ep3tein, die Gattin von D. Klemenc, 
der zu den Cajkovskij-Leuten gehörte und sich später einen Namen als 
Eihnograph gemacht hat, und Vera Zasuli¢ und das Ehepaar Klemenc ge- 
meinsam. Diese Briefe sind bereits im Aufsak von V. Ja. Boguéarsky 
„V 1878 godu (Im Jahre 1878)“, Golos Minuv3ego 1917, Nr. 9—10, S. 119—120, 
behandelt worden, doch waren sie bisher im Wortlaut nicht gedruckt. Die 


446 


Herausgeberin hat die Briefe mit biographischen Noten der in ihnen ge- 
nannten Personen versehen (S. 195—202). 

Den nie zur Verbreitung gelangten „Bericht über die Aus- 
hebung der Druckerei in der Sappeur-Oasse“ in Peters- 
burg, Januar 1880, bringt N. Sergievskij. Die vier Insassen der 
Druckerei ließen es bei der Aushebung auf ein heftiges Feuergefecht mit 
Polizei und Militär ankommen, um soviel als möglich Aufsehen zu machen, 
damit die anderen geheimen Druckereien gewarnt würden. Der Bericht 
über den Hergang, gedruckt in der Petersburger Druckerei des Cernyj 
Peredel kam nicht zur Versendung, weil auch diese Druckerei ausgehoben 
und hierbei der Bericht konfisziert wurde. Dieser ist jebt in den Akten 
des Justizministeriums entdeckt worden (S.202—203). | 
. Valk veröffentlicht zwei „Erste-Mai-Reden in Odessa 
im Jahre 1895“ aus dem Archiv der Polizeidepartements. Das Haupt- 
interesse an ihnen besteht nicht darin, daß solche Reden bislang nur wenig 
bekannt sind, auch nicht darin, daß diese Reden noch nicht den realpoli- 
tischen Ton des nördlichen Rußlands finden, sondern in der Tatsache, daß 
sie Spuren der Verbindung zwischen der sozialdemokratischen Arbeiter- 
bewegung und der revolutionären Propaganda der 70er Jahre unter den 
Arbeitern erkennen lassen (S.205—207). 

Gezeichnet M. B-v., folgt „Die Antwort der (Kiever) Ra- 
bocaja Gazeta’ 1898) an G. V. Plechanov“. Es handelt sich 
um den Vorwurf Plechanov’s, die Genossen vergäßen häufig den Gedanken 
Marx’s, daß jeder Klassenkampf ein politischer Kampf sei. Weil die Zeitung 
diese Ansicht Plechanov’s und im Hintergrunde Axelrod’s für ungerecht- 
fertigt hält, lehnt sie den Abdruck der diesbezüglichen Zuschrift Plecha- 
nov’s ab. Das ablehnende Schreiben wurde von der Polizei beschlagnahmt 
und wird hier nach einer Kopie aus dem „Istoriko-Revoljucionnyj Archiv“ in 
Kiev reproduziert. (S.207—209). 

Anonym werden ,Zwei Dokumente zur Geschichte der 
Zubatoviade” herausgegeben. Das erste handelt von Marja Vil’- 
buSevié und von Zubatov’s Plänen in bezug auf die Arbeiter; das zweite 
ist eine Beurteilung des Buchs von S. N. Prokopovič, Rabocee dvizenie na 
zapade (Die Arbeiterbewegung im Westen) durch Zubatov, der dieses 
Werk für seine Zwecke brauchbar findet. (S.210—211). 

„Vor 20 Jahren“, anonym wie das voraufgegangene Stück, behan- 
dell in zwei Dokumenten den Fluchtversuch der politischen Gefangenen 
aus dem Gefangnis in Irkutsk im Oktober 1906 und seine grausame Nieder- 
schlagung. Das erste Dokument ist der offizielle Bericht des Chefs der 
Irkutsker Gendarmerie, das zweite eine Beschreibung aus der Zeitung 
„Saratovskij Dnevnik“. (S.212—215.) 

Den Schluß_bildet der Beitrag P. Sadikovs über „P. A. Stoly- 
pin unddie Todesstrafeim Jahre 1908.“ General Hasenkampff 
hatte von Nikolaj Nikolaevi© den Befehl, alle Todesurteile der Militär- 
gerichte zu überprüfen, und folgte, wie er selbst feststellt, dem Prinzip, 
erbarmungslos Todesurteile bei politischen und gewöhnlichen Mordtaten zu 
bestätigen, sonst aber die Strafen zu mildern. Das erschien Stolypin 
falsch, und er klagt gegen Hasenkampff’s Nachsicht beim Großfürsten 
Nikolaj Nikolaevié im Schreiben vom 27. Januar/9. Februar 1908. Dieses 
Schreiben, Hasenkampfis Replik vom 4/17. Februar und ein zweites 
Schreiben Stolypins vom 10./23. Februar, das auf Hasenkampffs Replik 
Bezug nimmt und mit Marginalien Hasenkampfis versehen ist, werden hier 
veröffentlicht (S. 216—221). Harald Cosack. 


A. Sestakov: An der historischen Front. — Novyj Mir, Februar 
1929, S. 236—242. 


In diesem Artikel (Na istoričeskom fronte) wird über die erste All- 
unionistische Konferenz der Historiker-Marxisten berichtet, die im Dezember 
1928 in Moskau stattfand. In seiner Eröffnungsrede betonte der Vorsitzende, 


447 


Professor M. N. Pokrovskij, die prinzipiellen Unterschiede zwischen der 

marxistischen und der „bourgeoisen“ historischen Schule; letztere aa 

gerade während des lebten Kongresses in Oslo ihre nati 

2. I. chauvinistischen Tendenzen zur Schau getragen. Auch die morxistische 

Historikerschule steht mit der Politik des Tages im engsten Zusammenhang; 

Be gaben decken sich aber mit den politischen Aufgaben des Pro- 
ariats. 

Die Arbeit der Konferenz stand im Zeichen des Moltos: „poli 
Kampf an der historischen Front“. In diesem Sinne lautete auch das Mani- 
fest der Konferenz: „die marxistische Geschichtswissenschaft nimmt einen 
wichtigen Platz im Kampf des Proletariats für den Sozialismus ein“. Man 
dürfe bereits von einer Soveischule der marxistischen Historiker sprechen, 
die auch andere Wissenschaftszweige (Philologie, Archäologie) zu beein- 
flussen versteht. Diese Schule hat nicht nur lokal-russische Bedeutung; sie 
stellt gleichsam die erste „Zelle“ der revolutionären Geschichiswissenschaft 
dar, der sich auch ausländische Historiker-Marxisten anschließen werden. 
Deshalb wurde auch der Beschluß gefaßt, in 2—3 Jahren einen inter- 
nationa Kongreß der marxistischen Historiker zusammenzuberufen. 

r die praktische Bedeutung der Konferenz läßt sich nach ihrer „Re- 
solution" ein Urteil bilden. Die Gesellschaft der marxistischen_ Historiker 
wird danach zu einer allunionistischen Organisation mit einer Zentralver- 
waltung umgebildet. Es wurde ferner beschlossen, lokale Sektionen der 
Gesellschaft zu gründen, eine populäre historische Zeitschrift herauszu- 
‘geben, die Arbeit der verschiedenen wissenschaftlichen Institute zu koordi- 
nieren usw. 

Die wissenschaftliche Arbeit der Konferenz fand ihren Ausdruck in den 
zahlreichen Vorträgen, die dort abgehalten wurden. Den „cliou“ des Pro- 
gramms bildete der Vortrag von Prof. Pokrovskii — „Der Leninismus und 
die russische Geschichte“ — eine Analyse der Leninschen Auffassung der 
Geschichtsmethodologie. Zu erwähnen sind auch die Arbeiten von A. Pan- 
kratova „Die Grundprobleme der Erforschung der Geschichte des Proletariats 
in UdSSR“, N. Vanaga — „Über den Charakter des Finanzkapitalismus in 
2 nd“, Janéevskij — ,Die SE Kad die im 5 in Beziehung zur 

onisationsgeschichte“ u. a. m. — ortrage, die die Geschichie 
N behandelten, trugen einen . politischen“ Cha- 
rakter, was auch mit dem Prinzip der Bevorzugung der aktuellen Tages- 
fragen bei der Wahl historischer Themen im Einklang steht. Zum Vortrag 
von N. M. Lukin „Probleme der Erforschung der imperialistischen Epoche”, 
machte Professor Pokrovskij einige interessante Bemerkungen: . . im 
Westen wollte man die Kriegsschuld auf Deutschland abwälzen; wir stehen 
auf einem entgegengesekten Standpunkt, nicht um Deutschlands Interessen 
zu wahren, sondern, um den Imperialismus zu entlarven. Der englische Im- 
perialismus ist gegenwärtig der gefährlichste; wir wollen ihn entlarven und 
hoffen es durch unsere letzte Veröffentlichung der Kriegsdokumente zu er- 
reichen.“ — In den zahlreichen Plenar- und Sektionssisungen fanden nach 
den Vorträgen lebhafte Diskussionen statt. Mit grober Leidenschaft wurden 
auch die Probleme der idealistischen Geschichtsauffassung umstritten, die 
verdächtigen opportunistischen Tendenzen verfolgt und gebrandmarkt. „Wir 
sind kampfende Marxisten,“ lauten die Schlugworte der Resolution, „unsere 
erste Pflicht ist der Kampf mit den Ideologien, die dem Marxismus fremd, 
den Klasseninteressen des Proletariats feindlich sind. Dieser Kampf ge- 
pinn besonders heute an Bedeutung, im Augenblick, wo die Vertreter dieser 

deologie ihre Köpfe erheben und zum Angriff rüsten!“ 
Eugenie Salkind. 


L1l’inskij: Bemerkungen über die Hochschule (Zametki o wysšej 
škole). — Novyj Mir Nr. J, S. 225—232. 


Früher staunte man darüber, daß die Jugend über Politik ihr Studium 
vergaß. Heute politisiert die Hochschuljugend nicht, sie studiert — weil 


448 


Politik und Wissenschaft Hand in Hand gehen. Doch ist es um die 
Jugend nicht gut bestellt; Gesellschaft und Presse bekümmern sich wenig 
darum; nur sensationelle Gerichtsfalle rufen von Zeit zu Zeit ihr Interesse 
dafür hervor. i , 

Die große Masse der Studierenden setzt sich heute aus der Arbeiter- 
jugend zusammen; darunter sind mindestens 60% Parteimitglieder und Kom- 
somolen. Ihre Klassenabstammung läßt sich an vielen wichtigen und neben- 
sächlichen Merkmalen erkennen: so z. B. an dem allgemeinen „Du“ und an 
der „schicken“ Manier, die brennende Zigarette an der schwieligen Hand- 
fläche zu löschen. Diese Jugend kommt in die Hochschulen mit dem 
ernsten Wunsch, sich für den zukünftigen Beruf vorzubereiten. Daß ihr das 
Studium sehr schwer fallt, liegt z. T. an der ungenügenden Vorbildung: eine 
ganze Welt von Bildern und Vorstellungen, mit welchen die früheren Stu- 
denten vertraut waren, bleibt ihnen verschlossen. Dasselbe gilt auch von 
historischen Kenntnissen: für die russische Jugend von heute beginnt die 
Weltgeschichte mit der Oktoberrevolution. So bildet es keine Ausnahme, 
wenn eine Siudentin auf die Frage, wann und wo Plato gelebt hätte, die 
prompte Antwort gor in Frankreich, im 18. Jahrh. — Auch die Hochschule 
gibt keine Möglichkeit, diese Lücken der Bildung auszufüllen: der Student 
ist mit der Arbeit ungeheuer iiberlastet; abgeschen von Vorlesungen und 
Seminaren, hat er noch 3—4 Stunden täglich der sozialen Arbeit, Sitzungen 
usw. zu widmen. Es nimmt daher nicht wunder (wenn man diese Uber- 
ansirengung und die drückende materielle Not in Betracht zieht), daß die 
lebenslustigen, gesunden Provinzjungen nach einigen Semestern in Moskau 
zu anamischen Neurasthenikern werden und zu der ihnen bevorstehenden 
Berufsarbeit oft von vornherein untauglich sind. 

Auch die Professoren befinden sich in kaum besserer Lage: die Pflicht 
der sozialen Arbeit lastet auch auf ihnen; außerdem sind sie gezwungen 
(dies gilt hauptsächlich für die technischen und naturwissenschaftlichen Be- 
rufe), an zahlreichen Sitzungen wirtschaftlichen Charakters teilzunehmen; 
aus materiellen und sozialen Gründen dürfen sie auf diese Mitarbeit nicht 
verzichten; durch diesen Zeitmangel wird natürlich ihre wissenschaftliche 
Arbeit gefährdet, da ihnen ja kaum Zeit bleibt, um sich zu den Vorlesungen 
vorzubereiten. — Eine besondere Stellung nimmt im akademischen Leben 
die „rote Professur” ein. Ihre Vertreter sind in ihrer Mehrzahl noch junge 
Leute, und die Eroberung des wissenschaftlichen Namens fällt ihnen nicht 
leicht. Vom Marxisten-Akademiker wird wissenschaftliche Arbeit verlangt, 
Entdeckungen auf den Gebieten, die von der marxistischen Wissenschaft 
noch nicht berührt wurden. Hier kann noch vieles geleistet werden, und 
wenn die Arbeit langsam vor sich geht, so ist die Ursache in den schon 
erwähnten Gründen zu suchen: Armut, die den Gelehrten zwingt, populäre 
Broschüren zu schreiben, Mangel an Büchern und Verlegern, endlich auch 
überlastung durch administrative und konsultative Arbeit hemmen die Ent- 
wicklung der marxistischen Wissenschaft. | Eugenie Salkind. 


CECHOSLOVAKEI 


A. Petrov: M. Bel. Jak jej ocenuji soucasnici a polomsivo. — 
Slavia 7, 1 (1928). S. 120—127. 


Der Slovake Matej Bél, geb. 1684, war evangelischer Pfarrer und später 
Gymnasialdirektor in Bratislava. Sein Hauptwerk sind die ,,Notitiae Hunga- 
riae novae historico-geographicae“. Er wurde im 18. Jh. „magnum decus 
Hungariae“ genannt, und im 19. Jh. hat M. J. Hurban seinem großen Wissen 
und seinem klassischen Stil Bewunderung gezollt. Bél hat 1722 gemeinsam 

D. Krman eine slovakische Bibel in Halle herausgegeben und ein Vor- 
wort dazu geschrieben. Vitek in „Dejiny literatury slovenskej“ hat seine 
Vielseitigkeit anerkannt. Aber sowohl Hurban wie Vitek verurteilen Bels 
diplomatisch-schlaue schmeichlerische Wesensart. Sein Zeitgenosse Pater 


449 


Horanyi dagegen lobt ihn als Menschen von klarem Sinn und verfeinerten 
Sitten, der aber beständig in seiner Meinung war (staly vo svojom). Woher 
wollen Hurban und Vlöek Kunde haben von den dunklen Seiten in Bélis 
Charakter? P. untersucht die Wechselfälle im Leben Béls daraufhin, wo 
der Erfolg seiner diplomatischen Weliklugheit zu schen wäre. Er hat sein 
Leben lang Unannehmlichkeiten gehabt und ist nie Bischof oder Senior ge- 
worden, sondern als einfacher Pfarrer gestorben. Es scheint so, als hätten 
diese beiden Kritiker Bél etwas als Charakterfehler angerechnet, was nur 
Zeitmode war, nämlich Mäzene mit Lob zu überschüften. Hurban wirft Bél 
auch Kosmopolitismus vor, was unverträglich ist mit seinem eigenen Urteil, 
daß Bél nämlich der Gesinnung nach slovakisch gewesen sei. Als Beweis 
für seinen Kosmopolitismus wird auch angeführt, daß Bél nach Belieben 
bald lateinisch, bald altvaterisch deutsch oder magyarisch geschrieben habe. 
Er wirft ihm also die Vielsprachigkeit des Ungarn vor. Nach Petrovs Meı- 
nung war Bél eingefleischter Patriot, und zwar nicht Magyare, sondern Ungar, 
er ließ unter sein Bildnis die Worte schreiben „o cara patria, quae me 
genuisti, dulcis Pannonia“. Bel hat diejenigen getadelt, welche von den 
Sitten der Vater ließen. Während des 18. und 19. Jhs. hat man Bél als Ge- 
lehrten den gebührenden Zoll entrichtet, ohne an seiner slovakischen Ge- 
sinnung zu zweifeln, erst das 20. Ih. hat sich ihm gegenüber anders ein- 
gestellt. Skulfety wirft Bél vor, er sei magyarisiert gewesen und habc der 
slovakischen Sache sehr geschadet. Dabei ist der Begriff der Magyarisie- 
rung ja erst ein Produkt der neuesten Zeit! Nach der Meinung Skultetys 
soll Bel schuld haben, daß sich die Meinung verbreiten konnte, die ältesten 
Einwohner Ungarns seien Magyaren gewesen, und die Slovaken seien mit 
anderen Slaven aus dem oberen Ungarn übergesiedell. P. führt nun zum 
Beweise des Gegenteils Stellen aus den geographischen Schriften Béls an, 
so über die Komitate Bratislava, Neutra, Trenčin usw., die keineswegs ma- 
gyarisierende Tendenzen zeigen. Außerdem hat sich Bel über gewisse 
Schwächen der Magyaren, ihre körperliche Untüchtigkeit und Trägheit mehr- 
fach ausgesprochen und sagt, daß sich bei magyarisierten Slovaken noch 
die sympathischen Züge erhalten: Friedfertigkeit, Freundlichkeit und Froh- 
lichkeit. P. hofft aus dem Gesagten genügend Beweise dafür erbracht zu 
haben, daß Bel die Sympathien des Slovakentums vollauf verdiene, dessen 
Geschichte er geschrieben. Emmy Haertel. 


Wolfango Giusti: L’opera di Giorgio Wolker e gli elemenh 
della sua personalità. — Rivista di letterature slave. 3, 4—6 
(1928), S. 360—377. 


Die Dichtung Wolkers ist auf das engste mit den Traditionen der 
&echischen Dichtung verbunden und doch zugleich von einer über die 
«echischen Grenzen hinausgehenden Weltweite; will man sie analysieren, 
so muß man die gesamte Cechische Dichtung von Erben und Celachovsky 
an bis in die Zeit nach dem Weltkriege durchmustern. Es wäre aber ein 
großer Irrtum, etwa in Celachovsky einen „Vorläufer“ Wolkers schen zu 
wollen, es gehört jeder von beiden in seine eigene Zeitepoche. Wolker, als 
moderner Mensch, wird von sozialen Problemen gequält, die Celachovsky 
nie gekannt, troßdem klingt bei beiden in den dem Folklore nahestehenden 
Dichtungen Verwandtes an. Bei beiden läßt sich hie und da russischer Ein- 
fluß erkennen, während aber bei Celachovsky das traditionelle Rußland mit 
seinen melancholischen Liedern und der alten Sagenwelt auflebt, steht 
Wolker unter dem Einfluß des neuen revolutionären Rußland. Zwischen 
den Volksliedern Erbens und Wolkers besteht unleugbar ein gemeinschaft- 
licher Zug, Erben stand Wolker entschieden näher als die moderne west- 
europäische Dichtung. Interessant sind Vergleiche zwischen Volksdichtungen 
beider über verwandte Themen, so zieht hier Giusti Erbens „Dcefina kletba“ 
heran und stellt ihr Wolkers „Balada o nenarozeném dítěti“ gegenüber. 

Wolker hat bei der Kürze seiner Lebenszeit den vollen Abschluß seiner 
Entwicklung nicht erreichen können, er hat aber, was ihm an Zeit fehlte, an 


450 


Intensität und Tiefe der aufgenommenen Eindrücke ersetzt. Die erlittenen 
Leiden — Wolker starb als Vierundzwanzigjähriger an Lungenschwindsucht — 
werden zu einem integrierenden Bestandteil seiner Dichtung. Wolker ist 
vielleicht der am meisten Leopardi ähnliche unter den Cechischen Dichtern. 
Das Leitmotiv seiner Dichtung besteht in der Klage um die Ungleichheit des 
Willens zu weitem Fluge und der körperlichen Schwäche, die ihn hindert; 
am deutlichsten spricht sich dieser Gedanke aus in dem Gedicht „Večer“. 
Wolker wird als derjenige angesehen, welcher die &echische soziale Lyrik 
zur höchsten Vollendung gebracht hat. Um den Charakter dieser Art Lyrik 
zu verdeutlichen, gibt G. einen Rückblick auf die sozialen Verhältnisse Böh- 
mens unter der habsburgischen Herrschaft, welche selbst in den schwär- 
zesten Zeiten des Metternichschen Absolutismus nie zu Zuständen geführt 
hat, wie sie z. B. im caristischen Rußland für die Polen oder andere Minder- 
heiten bestanden. Während für Bezruč die soziale Dichtung zugleich einen 
ausgesprochen nationalistischen Charakter annehmen mußte, veranlaßt durch 
die Vormachtstellung der reichen deutschen Intellektuellen gegenüber der 
armen Cechischen Bevölkerung, trägt bei Wolker die soziale Dichtung aus- 
schließlich den Charakter des Klassenkampfes; die nationale Frage bedarf 
keiner Förderung mehr. Wolker trägt diese soziale Dichtung hinein in das 
Getriebe der Großstadt und ihrer Industrie, kleidet sie aber, dem modernen 
Milieu zum Troß, in die Form der Ballade, wie z. B. in „U Rontgenu”. 
Wolker hat in seinem zeitlich so beschränkten Lebenswerk eine Syn- 
these der čechischen Dichtung erreicht; ein Bewunderer der slavischen 
Volksdichtung, hat er es verstanden, mit Hilfe ihres alten Materials Keime 
einer modernen Dichtung zu schaffen. Man braucht nicht zu bedauern, daß 
die Cechische Dichtung bald nach dem Tode Wolkers im „Poetismus“ ganz 
andere Wege ging wie er; sie folgte dabei nur zeitgemäßen Instinkten, und 
man wird annehmen können, daß späterhin aus der von Wolker hinter- 
lassenen Saat neue Keime aufsprießen werden. Emmy Haertel. 


Otto F. Babler: Jakub Demi (zum fünfzigsten Geburtstag). — 
Rivista di letterature slave. 3, 4—6 (1928), S. 351—359. 


Das hier gebotene Lebensbild zeigt, welche Kämpfe Demi innerhalb 
der katholischen Welt der Cechoslovakei, zu deren Hauptvertretern er ge- 
hört, zu bestehen hatte: zuerst Kämpfe an der Seite Josef Florians gegen 
die Lauheit des katholischen Modernismus, dann die Anfeindungen der 
Hierarchie und schließlich die Meinungsverschiedenheiten gegenüber Florian 
selbst, der ein Widersacher jeder individuellen poetischen Leistung war, 
den einzigen Zweck der Literatur in ihrer religiösen Mission sah und sogar 
von Ubersebungstatigkeit nichts wissen wollte. Demi ging infolge all 
dessen seinen cigenen Weg weiter. Das Vortrefflichste, was unter seinen 
bisherigen Werken zu nennen ist, sind die in dem Bändchen „Mojí pfatele“ 
enthaltenen Gespräche mit den Blumen, für die Demi mit einer seraphischen 
Liebe erfüllt ist. Paul Eisner, der Ubetsetzer und Entdecker dieses Flori- 
legium, schrieb darüber am 2. März 1928 in der Prager Presse: „Ist das 
Buch schon in allen Cechischen Schulen obligatorisch? Es verdiente in 
allen europäischen Schulen eingeführt zu werden.“ Diesem Buch waren 
zwei Gedichtssammlungen und Prosastücke voraufgegangen: „Notantur 
lumina“ und „Hrad smerti“ (1907 und 1912). Später folgte „Danec smerti“. 
Hier verarbeitet der Dichter die Eindrücke, die der Tod von Mutter und 
Schwester in ihm hervorgebracht. Demi hat in dieser Welt sich nicht nur 
nach dieser einen Schwester gesehnt oder nach einem Bruder, sein Sehnen 
ließ ihn nach einem Geschwisterkreis im weitesten Sinne suchen, nach einer 
magischen Kette der Vereinigung. Er glaubte eine solche in den &echischen 
Sokolverbanden zu finden, wurde aber bitter enttäuscht, als er in ihnen 
einen antiklerikalen Geist vertreten fand. 

Im J. 1924 erschien von ihm ein neues Meisterwerk „Cesno“ (teslo — 
Flugloch der Bienen), auf dessen Titelblatt František Bílek die Worte 
schrieb: „Seelisch das erleben, was die Bienen körperlich erleben, heißt die 


451 


Erde zum Himmel machen.“ Jaroslav Durych schrieb aus Anlaß dieses 
Buches: „Man hört selten unsere Sprache unter den Cechischen Dichtern von 
einer solchen originellen Frische... Hier erinnert in der Tat nichts an eine 
fremde Sprache“, (gemeint ist die deutsch- & echische Abstammung und 
Zweisprachigkeit Demis). B. schließt mit der Bemerkung, Deml könnte die 
Cechische Sprache nicht so meisterlich beherrschen, wenn er sie nicht liebte. 
Die vielen Leiden seines Lebens haben seine Fähigkeit zur Liebe genahrt. 
Emmy Haertel. 


POLEN 


Matuszyfiski Marian: Próba analizy bitwy pod Plowcami 
(Versuch einer Analyse der Schlacht bei Plowce). — Przeglad 
historyczno-wojskowy. Heft I. 61—84. — Warschau 1929. 


Auf Grund der Quellen und mit Berücksichtigung der Grundsäabe der 
mittelalterlichen Taktik rekonstruiert Verf. den Verlauf der Schlacht, welche 
der polnische König Ladislaus Lokietek den Truppen des Deutschen Ordens 
am 27. September 1331 bei dem Dorfe Plowce geliefert hat. Die bisherige 
wissenschaftliche Literatur, sowohl die deutsche wie auch die polnische, 
unterschied in dem Verlaufe dieser Schlacht zwei voneinander getrennte 
Phasen. Zuerst fand das Gefecht zwischen den Polen und der Abteilung 
des Ordensmarschalls Dietrich von Altenburg, welcher dabei eine völlige 
Niederlage erlitten hatte, statt. Kurz darauf kehrte der Hauptteil der 
Ordenstruppen, welche in der Richtung von Brześć vorgerückt waren, auf 
das Schlachtfeld zurück, und es entbrannte aufs neue ein Kampf, dessen 
Ausgang, infolge der einander widersprechenden Quellenzeugnisse, in 
Literatur verschieden aufgefaßt wird. Verf. nimmt noch eine dritte Phase 
der Schlacht an: er läßt nämlich die von Brześć zurückkommenden Truppen 
zuerst den in den polnischen Händen sich befindenden deutschen Wagen- 
park wiedererobern und erst später den Kampf mit der königlichen Armee 
aufnehmen. Diese Annahme scheint jedoch willkürlich zu sein, da sie von 
keiner der vorhandenen Quellen beglaubigt wird. Im Gegensatz zu der 
deutschen wissenschaftlichen Literatur und auch zum polnischen Forscher 
Kaniowski, welcher sich zuletzt eingehend mit dieser Frage beschäftigt hal, 
behauptet Verf., der Ausgang des lebten Treffens sei taktisch unentschieden 
gewesen, bedeute aber in strategischer Hinsicht einen Erfolg der pol- 
nischen Truppen; die Ordensritter seien nämlich gezwungen worden, so 
schnell als möglich den Rückzug nach Thorn anzutreten. 

S. Zajączkowski. 


Kazimierz Tyszkowski: Kopitar a Ossolineum. Z powodu 
100-letniego jubileuszu otwarcia zakładu (1827—1927). — Slavia 
7, 1 (1928). S. 128—139. 


Innerhalb der slavistischen Studienwelt in Wien um die Wende des 
18. Jhs. hat Kopitar durch seine Beweglichkeit und Vielseitigkeit als ein 
Bindeglied gedient. Hier näherte er sich dem polnischen Mäzen, dessen 
bevorzugter Stellung in der Gesellschaft, Liebhaberei als Sammler, beträcht- 
lichem Vermögen es zu danken war, daß er eine führende Rolle spielte. 
Im J. 1810 erhielt Kopitar durch die Vermittlung des Grafen Ossoliński die 
Sekretärstellung in der Hofbibliothek, in der er 34 Jahre hindurch verblieb, 
von denen er 16 unter der Führung Ossolitiskis verbringen konnte, was ihm 
ermöglichte, seine bibliothekdrischen Fähigkeiten auf eine allen Zeitgenossen 
imponierende Höhe zu bringen. Ossolinski seinerseits erhielt durch die Ver- 
mittlung Kopitars den Kontakt mit der slavistischen Gelehrtenwelt aufrecht. 
Kopitar hat auch viel zur Bereicherung der Bibliothek Ossolifiskis bei- 
getragen. Er besaß auch für dessen wissenschaftliche Beschäftigungen viel 
Interesse, warf ihm aber Mangel an philologischer Kritik und geringe Kennt- 


452 


nis auf sprachwissenschaftlichem Gebiet vor, in diesem Sinne hat er sich 
brieflich gegen Dobrovský geäußert. Die Freundschaft zu Ossoliński über- 
trug Kopitar auch auf dessen gro e Büchersammlung, die er genau 
kannte. Er wurde deshalb na em Tode Ossolifiskis von dem neuen 
Präfekien der Kaiserl. Bibliothek, Dietrichstein, aufgefordert, an der Kom- 
mission teilzunehmen, welche das Testament Ossolifiskis erfüllen sollte, und 
wo es darauf ankam, diejeni ‚gen Bücher zurückzuerlangen, die sich Osso- 
linski auf Lebenszeit aus der Kaiserl. Bibliothek entliehen hatte. Die Arbeiten 
an der Inventarisierung der Bibliothek, die nach Lemberg übergeführt werden 
sollte, zogen sich über ein Jahr hin. Kopitar wurde späterhin von dem 
Leiter der Ossolineumbibliothek, Slotwitski, häufig in Fällen irgendwelcher 
Komplikationen mit Behörden und Zensur ins Vertrauen gezogen. Slotwitski 
hätte es gern gesehen, wenn Kopitar der Zensor der Veröffentlichungen des 
Ossolineums 5 wäre, diesen Plan lehnte dieser aber bei seiner 
großen Vorsicht entschieden ab. Ohne diese Vorsicht wäre es ihm sicher 
nicht möglich gewesen, sich so lange auf seinem leicht gefährdeten Posten 
zu halten. Im übrigen hat Kopitar guten Rat und Mitteilungen in reichem 
Mage an Slotwinski gelangen lassen. Kopitar hatte gern den Florianer 
Psalter im Ossolineum herausgegeben, doch wurde ihm dieser Plan durch 
Borkowski vereitell. Diese ganze Angelegenheit wird aus dem im Anhang 
enthaltenen Brief Kopitars an Siotwiński klar. Nach der Verhaftung Siot- 
winskis i. J. 1854 hörten die lebhaften Beziehungen zu der Stiftung Osso- 
linskis von seiten Kopitars auf, hochstwahrscheinlich hat der Prozeß Slot- 
wifiskis wegen Staatsverbrechen den eifrigen Sohn Österreichs abgeschreckt. 
Diesem kurzen Überblick uber die Beziehungen Kopitars zum Ossolineum 
sind sechs Briefe, welche zwischen Kopitar und dem Grafen Lubomirski 
über die Ernennung Slofwinskis und diejenigen, welche zwischen diesem 
letzteren und Kopitar gewechselt worden sind, beigegeben. 
Emmy Haertel. 


Das Ende der Studentenverbindung „Polonia“ in Breslau. — Schle- 
sische Geschichtsblätter, Jahrgang 1929, Nr. 2, S. 30—37. 


Manfred Laubert schildert aus der Zeit der Verfolgung und 
Unterdrückung der akademischen Freiheit hier eine Episode aus der Ge- 
schichte der Universität Breslau. Der Universitatsrichter Neumann war im 
Sommer 1830 der Fortdauer der ehemaligen Verbindungen Arminia, Bo- 
russia, Silesia und Polonia und der Feier des herkömmlichen Zobten- 
kommerses auf die Spur gekommen. Er wendete sich sogleich zur weiteren 
Veranlassung an den Rektor Steffens und den Universitätsrichter Behrends. 
Die angestellte Untersuchung verlief aber im Sande. Der Ausbruch des 
Warschauer Aufstandes brachte dann im November eine scharfe Kontrolle 
der aus Posen stammenden Studenten, bei denen insbesondere festgestellt 
werden sollte, ob sie zu den polnischen Insurgenten ubergetreten wären. 
Am 14. Mai war bei dem Minister Alfenstein eine offensichtlich gut infor- 
mierte Denunziation des Breslauer student. Verbindungswesens eingelaufen, 
und auch gerade über die „Polonia“, welche nicht nur polnische, sondern 
auch aan. Mitglieder der Provinz Posen zu ihren Mitgliedern 
zählte. Die von der Universitätsbehörde daraufhin eingeleitete Untersuchung 
ergab kein belasiendes Material gegen die „Polonia“. Ein mit den polni- 
schen Verschwörern in guter Beziehung stehender älterer polnischer Stu- 
dent, Adam Kasimir v. Koczkowski, der bald wegen schwerer strafrecht- 
licher Delikte ins Zuchthaus kam, von dort jedoch entwich, hatte am 
17. Januar 1830 die „Polonia“ gegründet, ohne aber deren Mitglieder der 
poln. Propaganda zuführen zu können, vielmehr hielten die Polonen alles 
Politische geflissentlich fern. Das ist eben erklärlich, da ja auch Deutsche 
aus der Provinz Posen der „Polonia“ angehörten. So verlor Koczkowski 
das Interesse an der „Polonia“. Seine Aussagen bei seiner Inhaftierung 
belasteten das Breslauer Verbindungsleben stark. Und wenn auch die an- 
gestellte Untersuchung die Mitglieder der „Polonia“ so entlastete, daß die 


455 


Angelegenheit mit ihrem Freispruch endete, so veranlaßte Altenstein doch, 
daß den freigesprochenen Studenten die Unfähigkeit zur Bekleidung öffent- 
licher Ämter wegen Verstoßes gegen den Bundesbeschluß v. 18. t. 1819 
vermerkt wurde. — Lauberts Studie ist eine Ergänzung zu seinen und 
A. Kerns Ausführungen in der „Zeitschr. d. Ver. f. Gesch. Schlesiens“, 
Bd. 45, S. 139 ff. und 71 ff. E. Hanisch. 


Piłsudski Joseph: Zarys historji militarnej powstania siycz- 
niowego (Kurzgefaßte Militärgeschichte des Janner-Aufstandes). 
— Przegląd historyczno-wojskowy. Heft I. 1—60. — Warschau 
1929. 


Die vorliegende Arbeit enthält eine genaue Analyse der Umstande, 
unter welchen der Aufstand in Kongre§-Polen gegen die russische Regie- 
rung im Jänner 1863 ausgebrochen ist, und der Ursachen, infolge deren sein 
Verlauf von Anfang an für die Polen ungünstig gewesen ist. Der Aufstand 
wurde nämlich in militärischer Hinsicht ungenügend vorbereitet, die Frage 
des Oberkommandos wurde sogar im vorhinein nicht geregelt, im Momente 
des Ausbruches, den die russische Regierung provoziert hatte, herrschte 
unter den Aufständischen eine völlige Verwirrung usw. Infolgedessen miß- 
langen meistenteils die ersten Angriffe der Aufständischen gegen die rus- 
sischen Truppen, später führte jede Abteilung der Aufständischen den Kampf 
ganz selbständig, was den Polen unmöglich machte, eine revolutionäre 
Armee unter einheitlichem Oberbefehl zu schaffen und die Initiative in den 
Kriegsoperationen zu ergreifen. Der Aufstand nahm also den Charakter 
eines hoffnungslosen Kampfes an, dessen Zweck war, nicht den Sieg über 
den Feind zu erfechten, sondern solange als möglich auszuharren. Endlich 
ernannte im Herbst 1863 die revolutionäre Regierung Romuald Traugutt, 
einen gewesenen Stabsoffizier der russischen Armee, zum Diktator. Der- 
selbe, in Warschau, also im Mittelpunkte des Kriegsgebietes verweilend, 
bemühte sich, die einzelnen Abteilungen der Aufständischen in militärischer 
Hinsicht zu reorganisieren und seiner einheitlichen Leitung zu unterwerfen. 
Alle diese Maßnahmen wurden aber zu spat vorgenommen und der Auf- 
stand erlag, nach der Dauer von über einem Jahr, der russischen Ubermacht. 

S. Zajaczkowski. 


Wolfango Giusti: Le leitere dalla prigione di Rafael Kra- 
jewski. — L’Europa Orientale. 8, 9—10 (1928), S. 307—312. 


Krajewski war einer der Haupträdelsführer im polnischen Aufstand 
v. J. 1863, die Briefe, die er an die Seinigen aus dem Gefängnis geschrie- 
ben, sind, chronologisch geordnet, in dem von Agaton Giller 1875 heraus- 
gegebenen Werk „Polska w walce“ abgedruckt. G. gibt Auszüge aus 
diesen Briefen und leitet sie durch eine biographische Skizze Krajewskis 
ein. Er charakterisiert die Stellung Krajewskis innerhalb der übrigen An- 
hänger der Insurrektion und schließt mit der Schilderung seiner Hinrichtung. 

Emmy Haertel. 


Enrico Damiani: l narratori della Polonia d’oggi. — Rivista di 
letterature slave. 3, 4—6 (1928), S. 403—437. 


Damiani gibt in Übersekung Proben aus den Werken der hauptsach- 
lichsten Vertreter der polnischen Prosa der Gegenwart und läßt diesen eine 
kurze Charakteristik des betreffenden Schriftstellers voraufgehen. Er ver- 
sucht es, auf diese Weise dem italienischen Leser Berent, Orkan, Kaden- 
Bandrowski, Makuszynski, Goetel, Kossowski, Wiktor und Grabinski nahe 
zu bringen. Als Vertreter der älteren Generation unter den noch lebenden 
Schriftstellern bespricht er noch kurz Sieroszewski, Weißenhof, Pzrerwa- 
Tetmajer und Strug. Zum Schluß sucht er die Tendenzen dieser modernen 


454 


AFG 


ag & 


1 . H ST 


polnischen Prosa kurz zu charakterisieren. Sie weist Talente auf, aber 
keine Genies. Als ein neuer Zug tritt in ihr das humoristische Element her- 
vor, wie z. B. bei Makuszyfiski. Die früheren Generationen haben während 
der Zeit der politischen Knechtschaft Vz ects ihren Schöpfungen die 
Intonation des Schmerzes gegeben. Eine Literaturgattung, welche in der 
älteren polnischen Literatur zu höchster Blüte gelangt war, fehlt: der 
historische Roman. Auch das ist erklärlich. Während früher im polnischen 
historischen Roman das patriotische Feuer wachgehalten werden sollte, fällt 
dieses Motiv jekt fort, auch mögen die großen Ereignisse der letzten Zeit 
die Erinnerung an die alte etwas haben zurücktreten lassen. Geblieben ist 
auch in dieser neuen polnischen Literatur ihre Tendenz zum Guten und 
Schönen, zu Vaterlandsliebe, Familiensinn usw. Romane, denen — aus- 
gesprochen oder unausgesprochen — ein moralischer Inhalt dieser Art fehli, 
sind in der polnischen Literatur unbekannt. Und darin besteht, nach der 
Meinung Damianis, eine der stärksten Kräfte dieser Literatur, ohne Rück- 
sicht auf den künstlerischen Wert der einzelnen Schöpfungen. 
Emmy Haertel. 


Wolfango Giusti: Relazioni tra la poesia popolare polacca 
e quella Cecoslvacca. — Rivista di letterature slave. 3, 4—6 
(1928), S. 378—385. 


Die Vergleiche, die G. zwischen der polnischeu und čechoslovakiscthen 
Volksdichtung anstellt, gründen sich auf Untersuchungen an Liedern aus der 
Rogerschen Sammlung „Pieśni ludu polskiego w Górnym Śląsku“ und aus 
Erbens ,,Prostonérodni české písně a řikadla“. Es sind meistens Liebes- 
lieder der bekannten bilderreichen Gestalt von G. zitiert worden, zwischen 
denen bei Polen und Cechen eine auffallende Ahnlichkeit der Texte fest- 
zustellen ist. Häufig bringt die čechische Version nur eine Anderung durch 
die Beziehung auf eine bestimmte Persönlichkeit, einen in den Text ge- 
stellten Eigennamen, der in dem entsprechenden polnischen Text fehlt. » Es 
kommt auch vor, daß zwei getrennte Cechische Texte im Polnischen zu 
einem einzigen Lied verschmolzen sind. Dann wieder zeigt ein Lied in 
beiden Sprachen unverändert denselben Inhalt. G. schließt mit der Be- 
merkung, cab, wenn man in der Kunstliteratur der Slaven nicht von einer 
„slavischen“ Literatur sprechen darf, ebensowenig wie von einer slavischen 
Philosophie oder Kunst, trosdem aber zugegeben werden muß, daß die 
Ahnlichkeit des slavischen Folklore größer ist als in den übrigen Zweigen 
der indoeuropäischen Volker. Emmy Haertel. 


Waclaw Lednicki: „Poland and the Slavophile Idea“. — Sila- 
vonic Review. Juni 1928. S. 128— 140. 


Der bekannte poln. Slavist, früher Prof. d. slav. Lit. in Brüssel, jebt 
Prof. d. russ. Lif. in Krakau, befaßt sich hier mit der wenig erorterten Frage 
des poln. Slavophilentums. Auf einem der lebten panslavistischen Kongresse 
der Vorkriegszeit sprach der Pole Stasiak den Gedanken aus, die panslav. 
Idee sei schon im 11. Jahrh. vom polnischen König Boleslaw Chrobry ver- 
wirklicht worden, der unter seinem Zepter Polen, Russen und Cechen ver- 
einte und sie, wie es auch fremde Quellen zugeben, zu ihrer Zufriedenheit 
regierte. Die Rede rief, besonders von russischer Seite, Empörung hervor. 
L. will die Geburt des polnischen Slavophilentums erst im 19. Jahrh. sehen, 
obwohl schon das 18. Jahrh. ein solches Zeugnis bringt, wie das Manifest 
der Sandomirer Konföderation von 1733. Hier schlägt Polen den Russen 
als Stammbrüdern Freundschaft und Bündnis vor. 

Im 19. Jahrh. wurde das Slavophilentum in Polen von den deutschen 
Denkern der Romantik beeinflußt. Staszic schrieb 1815 ein Werk, in dem 
er die Erlösung des Menschentums durch die Slaven erhoffte. Den Vorrang 
vor allen slav. Nationen gab er aber dem mächtigen Rußland. Der Krieg 


455 


v. 1812 sei ein slav. Krieg gewesen. Hier hätten die Slaven Europa gezeigt, 
was sie vermochten. Die feindlichen Beziehungen Rußlands zu Polen wären 
nur Folgen der deutschen Hetze. Diese Ideen wurden von Staszic vor 
Aksakov, Chomjakov und Samarin gepredigt, was die völlige Selbständig- 
keit des poln. Slavophilentums bezeugt. 

Ein anderer Autor, Jaroszevicz, behandelte in einem 1826 erschienenen 
Werke besonders die kirchliche Frage. Er war an Verehrer der griechisch- 
kath. Religion, die eine weitere Entwicklung der Oesetzgebung und der 
Historiographie in der Volkssprache ermöglichte. Polen ist daher durch 
den romisch-kath. Glauben zur untreuen Tochter des Sy eg orden. 
Eine echte slav. Nation sind für J. nur die Russen. — Spätere Slavophilen 
erscheinen in den 40er Jahren. gewisser Grabowski, Verräter an der 
polnischen Sache, der von den Russen Gelder bezog, offenbarte sich in 
zwei 1841 und 1846 erschienenen Werken als großer eutschenhasser. der 
in Rußland den einzigen Erlöser von den Teutonen sehen wollte. Auch 
er war Apologet des mens CH kal, Glaubens, zu dem er später tibertrat. 
Der Fürst Sviatopolk irskij, der 1843 zur 1 Kir che 
ubertrat, nanni¢ sie „die einzige natürliche Religion aller Slaven”. — Waclaw 
Jablonowski ging von einem efwas anderen Gedankengang aus. Er halt 
die Slaven für ein mehr asiatisches als europäisches Volk und hält daher 
einen Anschluß an Rußland für die Westslaven erforderlich. Seine Ge- 
num den Ideen der jetzt so modernen Eurasierbewegung sehr 
verwandt. 

Der bedeutendste unter den poln. Slavophilen ist zweifellos der Philo- 
soph Hoene-Wronski. Seine Ideen sind folgende: Frankreichs Rolle in der 
Geschichte ist das Vervollkommnen des Staates, Deutschlands — der Kirche, 
Rußlands aber in der Erfüllung der Union von Kirche und Staat. So ist 
er ein Vorgänger Vladimir Solovjev's in der Idee des Cäsaropapismus. 

will im poln. Slavophilentum ediere Seiten erblicken als im russischen. 

Die Russen wollten die Herrscher in der zukünftigen slavischen Union sein, 

die Polen aber wollien sogar ihre eigene politische Unabhängigkeit opfern. 

Aber der gesunde Instinkt des polnischen Volkes, das im Kampf für diese 

Unabhängigkeit sein kostbarstes Gut sah, lehnte die Gedanken der Slavo- 
philen ab, und sie hatten keinen Erfolg in der polnischen Gesellschaft. 
Nadežda Jaffe. 


OSTEUROPA-INSTITUT IN BRESLAU 


JAHRBÜCHER 


FÜR 


KULTUR UND GESCHICHTE 
DER SLAVEN 


IM AUFTRAGE DES OSTEUROPA- INSTITUTS 
HERAUSGEGEBEN VON 


PAUL DIELS-BRESLAU, FELIX HAASE-BRESLAU, 
ERDMANN HANISCH-BRESLAU, ROBERT HOLTZ- 
MANN-HALLE, JOSEF MATL-GRAZ, HEINRICH 
FELIX SCHMID-GRAZ, KARL STÄHLIN-BERLIN, 
KARL VÖLKER-WIEN, WILHELM WOSTRY-PRAG 


SCHRIFTLEITUNG: 
ERDMANN HANISCH 


* 


N. F. BAND v. HEFT IV 
1929 


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BRESLAU, RING 58, UND OPPELN 


Beiträge und Mitteilungen sind zu richten entweder an das 
Osteuropa-Institut in Breslau oder an die Anschrift 
des Schriftleiters: Prof. Dr. Erdmann Hanisch, 
Breslau 15, Körnerstraße 5/7. 


| 
ABHANDLUNGEN 


DIE AGRARVERHALTNISSE IN WEISSRUSSLAND 
VOR DER UMWALZUNG IM JAHRE 1917 


Von 
Dr. S. Kaleko. 


Vorwort. 


Das in der vorliegenden Arbeit untersuchte Gebiet ist eines der 
Gebiete Rußlands, das von der Wissenschaft und Literatur am wenig- 
sten behandelt worden ist. Weißrußland konnte, infolge seiner Armut 
und Rückständigkeit, niemals einen wichtigen Faktor im Leben Ruß- 
lands darstellen. Weder auf landwirtschaftlichem oder industriellem 
Gebiete, noch politisch oder kulturell zeichnete sich das dürftige 
Weißrußland aus und bot somit keinen besonderen Reiz zur Erfor- 
schung. Die Erforschung dieses Gebietes wurde auch dadurch er- 
schwert, daß das Carenregime jegliche Forschungsarbeit privater Art, 
die irgendeinen Zusammenhang mit der weißrussischen Nationalitäten- 
frage haben könnte, untersagt hatte. 

Das einschlägige Material, auch die amtliche Statistik sind un- 
zureichend, da sie von verwaliungspolitischen Momenten beeinflußt 
und nicht frei von Tendenzfärbung sind. Nur hie und da sind knappe 
Darstellungen für einzelne Gouvernements und für verschiedene Er- 
scheinungen im wirtschaftlichen Leben Weißrußlands zu finden. Eine 
umfassende Behandlung dieses Gebietes, seiner Verhältnisse usw. ist 
weder in der russischen noch in einer anderen Sprache vorhanden. 
Erst in den Nachrevolutionsjahren hat eine intensive Forschungsarbeit 
über Weißrußland eingesetzt. Die Erfolge dieser Arbeit machen sich 
jetzt schon allmählich bemerkbar, jedoch ist diese noch lange nicht 
abgeschlossen. Und gerade Weißrußland erweist sich als ein be- 
sonders interessantes Forschungsgebiet, da es in vieler Hinsicht eine 
Ausnahmestellung innerhalb des Russischen Reiches einnimmt und 
infolgedessen eine besondere Beachtung seiner Verhältnisse ver- 
dient. Diese Ausnahmestellung Weißrußlands gegenüber dem ge- 
samten Rußland wird wohl aus nachstehender Abhandlung ersichtlich 
werden. 


457 


Infolge der genannten Ursachen war es recht schwierig, aus den 
verschiedensten zerstreuten Quellen das geeignete notwendige Ma- 
terial aufzutreiben und zu sichten. 

Und nun einige Bemerkungen über die Einteilung der vor- 
liegenden Arbeit: 

Die Arbeit umfaßt die Behandlung der Agrarverhältnisse in 
Weißrußland im Zeitabschnitt von der Aufhebung der Leibeigenschaft 
bis zur Oktober-Revolution (1861—1917), wobei zwei in diese Zeit- 
spanne fallende Wirtschaftsperioden einzeln behandelt werden. Die 
erste Periode (1861— 1905) umfaßt den Zeitraum der vorherrschenden 
Naturalwirtschaft, einen Zeitabschnitt, in welchem die Beziehungen 
der Agrarproduktion zum Markt sehr locker waren, und die Betriebs- 
formen der Landwirtschaft auf allerprimitivster Stufe standen. 

Mit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts bricht die alte Wirt- 
schaftsform in Weißrußland zusammen, der sich ausbreitende rus- 
sische Kapitalismus dringt in zunehmendem Maße auch in das weiß- 
russische Dorf ein. Das Dorf proletarisiert sich, es tritt das Wande- 
rungsproblem in aller Schärfe zutage, es beginnt die zweite Periode 
in a weißrussischen Landwirtschaft, die bis zur Revolution von 1917 
anhält. 


Kapitel 1. 


Das Gebiet Weißrußland. 
Kurze ethnogr.-demographische Ubersicht. 


A. Territorium. 


Vor dem Weltkriege pflegte man dasjenige Gebiet Ruglands als 
„Weißrußland“ zu bezeichnen, das im Nordwesten des Riesenreiches 
gelegen ist: nämlich das Gebiet zwischen dem Njemen und der west- 
lichen Dwina und zwischen Dnjepr, Pripet und Beresina. Es gab 
jedoch keine absolut festen Grenzen, da Weißrußland schon seit 
langer Zeit kein selbständiges Staatswesen darstellte, sondern an- 
deren Staatskorpern angegliedert war: erst dem Großfürstentum 
Litauen:), später dem Königreich Polen?) und zulegt der russischen 
Monarchie“). 

Der häufige Wechsel der Staatsgewalt in Weißrußland und seine 
Zersplitterung durch die gleichzeitige Abhängigkeit von verschiede- 
nen Staatssouveränen sowie auch die Bestrebungen der jeweiligen 
Regierungen, die Bevölkerung Weißrußlands mit dem staatlichen 


1) Durch den GOroßfürsten Gedimin (1315—1340) und seine Nachfolger 
Olgad. und, Witold, die ganz Weißrußland dem Oroßfürstentum Litauen ein- 
verlei en. 


2) Durch die Lubliner Union zwischen dem Oroßfürstentum Litauen und 
dem Königreich Polen im Jahre 156. 


s) Durch die Aufteilung Polens (1772—96). 


458 


Mehrheitsvolke zu vermischen, hatten zur Folge, daß sich die Grenzen 
Weißrußlands nach und nach völlig verwischten. 

Man pflegte diejenigen Gouvernements als Weißrußland zu be- 
zeichnen, in denen die Mehrheit der Bevölkerung weißrussisch sprach. 
Diese Annahme stand jedoch mit der der administrativen Einteilung 
nicht im Einklang. Nach den Ergebnissen der Volkszählung in Ruß- 
land von 1897 sind als Bezirke mit vorherrschender weißrussischer 
Sprache festgestellt worden: sieben Kreise des Gouvernements Wi- 
tebsk (80% weißrussisch Sprechende), sämtliche Kreise der Gouver- 
nements Minsk (76,4%), Mohilew (82,6%), Wilna (56%) und Grodno 
(66,7%), ferner ein Kreis des Gouv. Smolensk (Krasnin, 90%). 

Die obengenannten Gebietsteile umfaßten insgesamt eine Fläche 
von 203 734 Quadrat-Werst (231 850 qkm) und eine Bevölkerung von 
7080041 Seelen, wovon 5310461 (75%) weißrussisch sprachen’). 
Nichtsdestoweniger wurden nur die vier Gouvernements Minsk, Wi- 
tebsk, Mohilew und Smolensk in den offiziellen Angaben als weiß- 
russisches Gebiet bezeichnet’). Die benachbarten Sprachgebiete 
sind die der Polen im Westen, der Litauer im Nordwesten, der Letten 
im Norden, der Großrussen im Osten und der Ukrainer im Süden. 

In der vorliegenden Arbeit sollen im Einklang mit der offiziellen 
Statistik nur die vier Gouvernements Minsk, Witebsk, Mohilew und 
Smolensk als Weißrußland behandelt werden. 

Das weißrussische Gebiet bildet eine Ebene, die etwa 150—200 m 
über dem Meeresspiegel liegt. Der höchste Punkt befindet sich nord- 
lich von Minsk — die sogenannte „Lyssa-Gora“ —, sie erreicht eine 
Höhe von 343 m über dem Meeresspiegel. 

Das Klima in diesem Gebiet ist feucht und ungesund, insbeson- 
dere in den Gouvernements Minsk und Witebsk, wo sich weite Sumpf- 
flächen erstrecken. Die Niederschlagsmenge beträgt etwa 500 bis 
600 mm. Das „Polesje“ (Kreis Pinsk und Mozyr im Gouv. Minsk) 
sowie der nördliche Teil des Gouvernements Witebsk, der sich in der 
Nahe der Ostsee befindet, zeichnen sich durch besondere Feuchtig- 
keit aus (in den Sommermonaten etwa 200-300 mm, in den Winter- 
monaten etwa 75—100 mm). Die Zahl der Regen- und Schneetage 
beläuft sich auf etwa 150—160 (Schneetage 110—120) jährlich. Die 
Eisdecke hält etwa 120—130 Tage an. 

Weißrußland zeichnet sich durch einen Reichtum an Flüssen 
aus. Der Dnjepr mit all seinen Nebenflüssen, wie Pripet, Beresina, 
Dejsna u. a. m., der Njemen, die westliche Dwina sind die Haupfflüsse, 


) Weißrussisch Sprechende befanden sich auch im Gouv. Pskow und 
Tschernigow. 


8) Die übrigen Gouvernements waren als litauische anerkannt. Später 
wurde das Gouv. Smolensk in, das zentrale Industriegebiet einbezogen. In 
der heutigen Sowjetunion bilden sechs Kreise des ehemaligen Gouv. Minsk, 
fünf Kreise des Gouv. Witebsk, das ganze Gouv. Mohilew (z. Zt. Gomel) und 
ein Kreis des Gouv. Smolensk die weißrussische sozialistische Sowjet- 
Republik. Dieses Gebiet umfaßt eine Fläche von 125,7 Tausend gkm mit 
einer Bevölkerung von 4979,7 Tausend Köpfen (laut der Volkszählung von 
1926) und ist in 12 Bezirke und 118 Rayons eingeteilt. 


30 NF 5 459 


die das Land bewässern. Außerdem gibt es hier noch eine Anzahl 
von anderen kleinen Flüssen und Seen (allein im Gouv. Witebsk mehr 
als 20 solcher Wassersiraßen). 

Die meisten Flüsse sind schiffbar und für den Wasserverkehr 
gut geeignet. 

Was die Bodenarten anbetrifft, so waren im Jahre 1877: Acker- 
land 278%, Wiesen- und Weideland 14,4%, Wald 37,6%, Brach- 
land 16,9% der gesamten Bodenfläche. Der Prozentsak des Acker- 
landes war hier also viel geringer als der im gesamten europäischen 
Rußland (das Nordgebiet nicht mitgerechnet). Auffallend ist hier 
auch der hohe Prozentsatz des anbauunfähigen Bodens. Das Ver- 
hältnis hat sich jedoch in den letzten Jahren geändert, erstens durch 
die Trockenlegung der Sümpfe (Expedition Zelinsky), die ungefähr 
2000000 Quadrai-Deßjatinen Sumpfflache in Trockenland ver- 
wandelt hat, sowie dadurch, daß große Waldsirecken ausgerodet 
und anbaufähiger Boden gewonnen wurde (z. Z. bestehen etwa 25% 
Waldland). 

Das Ackerland besteht zum größten Teil aus Sandboden, die 
anderen Bestandteile sind lehmiger Sandboden und Lehmboden. Im 
großen ganzen ist der Boden von niedriger Qualität, so daß nur be- 
stimmte Arten von Pflanzenkulturen durchgeführt werden können. Die 
meist verbreiteten Kulturen sind: Roggen, Gerste, Hafer, Erbsen, 
Flachs und dergl. mehr, in manchen Gebieten wird auch Tabak an- 
gebaut. Das Pripet-Polesje-Gebiet weist einen größeren Reichtum 
an Kulturpflanzen auf; wir finden hier 25 verschiedene Pflanzenarten. 

Der Wälderreichtum des weißrussischen Gebietes besteht zum 
größten Teil aus Nadelwald (Kiefern, Fichten, Tannen), jedoch findet 
man auch weite Strecken von herrlichen Laubwäldern (Eichen, Birken, 
Espen u. a. m.). Im allgemeinen trägt die Flora Weißrußlands alle 
Züge eines Übergangstyps, und zwar gleicht sie im westlichen Ge- 
bietsteile der des Baltikums, im Osten erinnert sie an die Flora der 
Moskauer Zone. 


B. Die Bevölkerung. 


Die Bevölkerung Weißrußlands ist seit der Aufhebung der Leib- 
eigenschaft bis zum Ausbruch des Weltkrieges fast auf das Dreifache 
gewachsen. Im Jahre 1861 betrug die Bevolkerungsziffer 3 839 000 
Köpfe, 1897 bereits 5 367 000 und 1914 9618000. Dieser hohe Zu- 
wachs ist nur auf die natürliche Zunahme, die hier 1,82% ausmachte, 
zurückzuführen. Von einer Einwanderung nach Weißrußland kann 
kaum die Rede sein; im Gegenteil, wir stellen sogar eine starke Ab- 
wanderung, sowohl nach den südrussischen und sibirischen Gouver- 
nements als auch nach dem Westen und nach den überseeischen 
Ländern fest. 

Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung lebte auf dem 
Lande. Von den 5 367 000 Seelen im Jahre 1897 waren nur 595 120 
— d. s. 11,1% — in den Städten ansässig. Zwar stieg kurz vor Aus- 


460 


— 


bruch des Krieges die absolute Zahl der Stadtbevolkerung auf 
1,1 Million Köpfe, jedoch bildet sie relativ auch zu dieser Zeit nur 
11,4% der Gesamibevölkerung Weißrußlands. Die Städte vergrößer- 
ten sich hier hauptsächlich infolge des natürlichen Zuwachses, eine 
Zuwanderung vom Dorfproletariat, wie es in Westeuropa der Fall 
war, konnte in Weißrußland kaum stattfinden, da Industrie und Handel 
in den Städten schwach entwickelt waren. Die Wanderung vom 
Dorfe in die Stadt ging hauptsächlich während der Wintermonate 
vor sich, zu welcher Zeit die Bauern in der Stadt verschiedene Aus- 
hilfsarbeiten übernahmen, sich dort jedoch nicht fest niederließen, 
sondern zum Frühjahr in ihre Dörfer zurückkehrten. Diese Tatsache 
ist aus den Ziffern der Geschlechterverteilung in Stadt und Dorf nach 
der im Winter 1897 durchgeführten Zählung klar ersichtlich. Während 
im Dorfe auf je 100 Männer 103,4 Frauen kamen, waren es m der 
Stadt 94,2 Frauen, d. h. in der Stadt war die Zahl der Männer eine 
größere als die der Frauen, und im Dorfe war das Verhältnis 
umgekehrt. 

Es muß jedoch gesagt werden, daß der Überschuß der Frauen im 
weißrussischen Dorfe nicht bei allen bäuerlichen Schichten vorkam. 
Meist herrschte er in den landarmen oder landlosen Wirtschaften, 
hingegen überstieg die Zahl der Männer in den großbäuerlichen Wirt- 
schaften erheblich die der Frauen. So z. B. kamen hier in den Wirt- 
schaften bis zu 2 Deßjatinen Saatflache auf je 100 Männer etwa 102 
Frauen; dagegen in den Wirtschaften mit 20—30 Deßjatinen Saat- 
flache nur 88 Frauen. 

Die überwiegende Mehrheit der Dorfbevölkerung waren Weiß- 
russen. Jedoch ist es schwer, die genaue Zahl und den Prozentsatz 
des weißrussischen Elements, insbesondere in den Städten, fesizu- 
stellen. Bekanntlich strebte die caristische Verwaltung danach, das 
weißrussische und ukrainische Element mit dem großrussischen zu 
verschmelzen, um das Bestehen verschiedener Nationalitäten inner- 
halb des russischen Volkes zu vertuschen. Aus diesem Grunde 
wurden auch bei den Volkszählungen viele Weißrussen als „Russen“ 
eingetragen. 

Laut den Angaben vom Jahre 1897 war die Verteilung der Be- 
völkerung nach Nationalitäten in Weißrußland wie folgt: Etwa 
65% der Gesamibevölkerung bildeten Weißrussen, 18% Großrussen 
(besonders im Gouv. Smolensk), etwa 10% Juden, 4,5% Letten und 
etwa 2% Polen. In den Städten stellten die Juden den größten 
Prozentsat der Bevölkerung dar. In den westlichen Kreisen Weiß- 
rußlands finden wir unter der Dorfbevölkerung auch einen bedeuten- 
den Prozentsatz von Polen. 

Was die berufliche Verteilung der Bevölkerung Weißrußlands 
angeht, so waren etwa 80% der Bevölkerung in der Landwirtschaft 
tätig (davon Weißrussen 90,8%), 8,5% waren in der Industrie beschäf- 
tigt (Hausindustrie und Handwerker), etwa 2% im Handel, 1,5% in 
freien Berufen usw. 


461 


Und nun einige Worte über das weißrussische Volk). Die Weiß- 
russen bilden einen der drei wichtigsten Stämme, aus denen sich das 
russische Volk zusammenseft. Bis heute werden sie von der Wissen- 
schaft als der am ursprünglichsten erhaltene Stamm der östlichen 
Slaven angesehen. Tatsächlich haben sich bei den Weißrussen uralie 
Sitten und Gebräuche bis auf den heutigen Tag erhalten, viel mehr 
als bei den anderen slavischen Stämmen. Dagegen fehlte den Weiß- 
russen die kolonisatorische Fähigkeit der Großrussen, sowie der 
Freiheitsgeist der Kleinrussen, der sich bei diesen infolge der fort- 
währenden Kämpfe mit Wanderstammen (Polovcy) herausgebildet 
hat. Der weißrussische Bauer war und blieb konservativ, unemp- 
fänglich und etwas apathisch. 

Die Begründung hierfür ist wohl in folgenden Tatsachen zu 
suchen. Erstens in der natürlichen Beschaffenheit des weißrussischen 
Bodens. Weißrußland ist, wie gesagt, arm an Naturschönheiten, die 
die Bevölkerung innerlich hätten anregen können. Wegen der großen 
Sümpfe und Walder lagen die Dörfer verstreut und waren verhali- 
nismäßig dünn besiedelt. Da keine Verkehrsmittel vorhanden waren, 
war ein Dorf vom anderen fast abgeschnitten, es konnte sich daher 
kein reges Gemeinschaftsieben entwickeln. Zweitens spielte die 
politische Abhängigkeit Weißrußlands von anderen Staaten eine be- 
deutende Rolle. Weißrußland hat nur während ganz kurzer Zeit- 
räume ein selbständiges politisches Leben geführt, es konnte daher 
bei den Weißrussen von einem patriotischen Gefühl und von poli- 
tischer Aktivität kaum die Rede sein. Das Gefühl für Freiheit und 
nationale Selbständigkeit wurde bei ihnen schon im ersten Keim 
von den Völkern, die sie beherrschten, erstickt. Besonders stark 
bemühte sich die polnische Regierung, dieses Gebiet zu annektieren. 
Durch eine schlaue Politik gelang es den Polen, den weißrussischen 
Adel, dessen persönlicher Eitelkeit die Würde eines polnischen Pan 
schmeichelte, auf die Seite der polnischen Regierung zu ziehen. Da- 
durch hat der polnische Einfluß im Lande immer mehr zugenommen. 
Die polnischen Sitten und Gebräuche fanden in den Kreisen des 
weißrussischen Adels große Verbreitung. Dies hatte zur Folge, 
daß erstens der weißrussische Adel sich immer mehr vom Volke 
trennte, und daß zweitens jede Weiterentwicklung der weißrus- 
sischen Kultur und Sprache erschwert wurde’). Auch die groß- 
russische Herrschaft hat die politische Freiheit der Weißrussen völlig 
unterdrückt. Sie trieb eine Politik, die zu einer raschen Russi- 
fizierung der Bevölkerung führen mußie. 1804 wurde das „Litauische 
Statut“, das jahrhundertelang als glänzendes Zeugnis weißrussischer 
Staatskunst das Gerichtswesen und die Verwaltung im Lande ge- 


©) Nach Dovnar-Zapolski rührt die Bezeichnung „Weißrussen” daher, 
daß die Weißrussen zur Zeit der Tatarenherrschaft im 13. Jahrhundert nicht 
tributpflichtig — also „weiß“ waren. 

7) Laut Gesetz von 1697 wurde die weißrussische Sprache als Amts- 
sprache durch die polnische ersetzt. (Dovnar-Zapolski „Die Grundlagen des 
Staatswesens in Weißrußland“. Grodno 1919.) 


462 


regelt hatte, aufgehoben. 1839 wurde der Gebrauch der weißrussi- 
schen Sprache in Schule und Kirche verboten. 1865 erfolgte das 
Verbot jeglichen Druckes und der Verbreitung von weifrussischen 
Schriften. Kurz, die russische Regierung verfolgte den Grundsak, 
jeden Funken eigenvölkischen Lebens zu löschen. Drittens war die 
fruhe Einführung der Leibeigenschaft in Weißrußland von großer 
Bedeutung. Der weißrussische Bauer ist viel früher als seine Brü- 
derstämme der Leibeigenschaft verfallen, und zwar finden wir diese 
hier in ihren ersten Anfängen bereits unter Kasimir im 15. Jahr- 
hundert®). Kasimir veröffentlichte ein „Privilej“, wonach den Bauern 
der freie Übergang von den herrschaftlichen Besitztümern zur Selbst- 
ansiedlung und umgekehrt verboten wurde, er unterwarf auch die 
Bauern der Jurisdiktion des Gutsherrn. Das Joch, das sein „Dan“ 
ihm auferlegte, drückte den Bauern derart, daß er zwangsläufig in 
den engen Grenzen seines primitiven Wirtschaftslebens einge- 
schlossen blieb, was nicht ohne Wirkung auf seine geistige Eigen- 
art bleiben konnte. 


Kapitel 2. 
Verteilung des Bodenbesiges in Weißrußland. 


Allgemeine Übersicht. 


Bevor auf die Frage der Verteilung des Bodenbesigfes in Weiß- 
rußland, wie auch auf das Problem des während der von uns behan- 
delten Periode vor sich gegangenen Bodenbesikwechsels, näher ein- 
gegangen wird, soll zunächst einmal die Landwirtschaft in Weiß- 
rußland, ihr Stand unmittelbar nach der Aufhebung der Leibeigen- 
schaft und ihre weitere Entwicklung sowohl in agrartechnischer als 
auch in sozialwirtschaftlicher Beziehung untersucht werden. 

Die Aufhebung der Leibeigenschaft im Jahre 1861 hatte für die 
weißrussische, insbesondere aber für die bäuerliche Landwirtschaft, 
durchaus negative Folgen. Den Bauern wurden große Bodenfeile, 
die ihnen früher gehörten, besonders Wiesenland, das sie für thre 
ärmliche Viehhaltung unbedingt brauchten, entzogen. Außerdem 
wurde ihnen, wie aus den Berichten der Lokalkomitees ersichtlich, 
Boden von ganz schlechter Qualität zugeteilt. Es wurde eine Schicht 
von „Beitelländlern“ geschaffen, eine Klasse von fast landlosen 
Bauern hergestellt). Die Zahl dieser „Bettelländler‘“ betrug etwa 
7% aller Leibeigenen. Gänzlich ohne Landanteil blieben auch die 


_ 8) Endgültig eingeführt wurde die Leibeigenschaft in Weißrußland durch 
die Lubliner Union (1569). 


1) Das konnte geschehen auf Grund des 8 123 des Manifestes vom 
19. 2. 1861, wonach dem Gutsbesiber das Recht zustand, nach „freiwilliger 
Übereinkunft“ (die jedoch meist aufgezwungen wurde) mit dem Bauern, 
diesem % des Maximalanteils unentgeltlich zu überlassen, dafür aber den 
verbliebenen Rest des Anteillandes für sich zu behalten. Der Minimal- oder 
Beitelanteil machte oft nicht mehr als eine Deßj. aus. 


465 


sogenannten ,,Dworowyje“ (Hofdienerschaft), deren man in Weiß- 
rußland etwa 100 000 zählie. 

Auf diese Weise hat sich die Klasse der Gutsbesitzer bei der Ab- 
schaffung der Leibeigenschaft zum großen Teil auf Kosten der Bauern 
bereichert. Hinzu kommt die große Summe „Lösegeld“, womit die 
Bauern ihre „Freiheit“ erkaufen mußten (die Auslösungssumme in 
Weißrußland war etwa um 40% höher als der Gesamtwert des An- 
teillandes) und dies bei Verhältnissen, wo die 3—4 Deßj. pro Re- 
visionsseele nicht einmal ausreichten, um den Bauern den kärg- 
lichsten Lebensunterhalt zu ermöglichen. 

Sehr richtig kennzeichnet W. Simkhowitsch die Auslösungs- 
zahlungen in seinem Werke „Die Feldgemeinschaft in Rußland“ 
(Jena 1898) wie folgt: „Diese Zahlungen enthielten nicht nur eine Ent- 
schädigung für den gutsherrlichen Boden, sondern auch eine Ent- 
schädigung für die Befreiung der Person der Bauern.“ 

Die Bauernschaft litt auch unter einem großen Mangel an hn- 
ventar und Arbeitsvieh, das ihnen entweder überhaupt nicht oder im 
besten Falle in sehr geringem Maße zugeteilt worden war. Durch 
die hohen Steuerlasten wurde ihnen jede Möglichkeit zur Neu- 
anschaffung von Inventar und Arbeitsvieh entzogen, vielmehr ver- 
ringerte sich der Inventarbestand des Dorfes alljährlich, wie wır 
später sehen werden. Der Bauer war mit allen Kräften bemüht, seinen 
gesamten Landanteil zu bebauen, es fehlten ihm jedoch die elemen- 
tarsten Produktions- und Düngemittel, was zu einer extensiven Be- 
wirtschaftung des Bodens führte und die Ertragsfahigkeit der bauer- 
lichen Landwirtschaft stark beeinträchtigte. 

Nach den Berechnungen von Prof. S. N. Marres (, Getreide- 
produktion und Konsumtion in den Bauernwirtschaften“, Petersburg 
1897) hatten mehr als 90% der bäuerlichen Bevölkerung Weißrußlands 
jährlich von ihrem Anteillande unter 19 Pud Getreide pro Kopf 
(„Esser“), was damals als Minimum angesehen wurde, d. h. daß mehr 
als 90% der Bauernschaft von dem Ertrag ihres Bodenanteils nicht ihr 
eigenes Existenzminimum beziehen, geschweige denn noch Viehfuiter 
aufbringen konnten. (Für das europäische Rußland machte der 
Prozentsab dieser Wirtschaften nur 70,7% aus.) 

Die Aufhebung der Leibeigenschaft wirkte jedoch in der ersten 
Zeit nicht nur auf die Entwicklung der bäuerlichen, sondern auch auf 
die der gutsherrlichen Wirtschaften hemmend ein. Zunächst war die 
Verringerung der billigen Arbeitskräfte daran schuld. Andererseits 
war die gutsherrliche Wirtschaft durchaus noch nicht für eine kapi- 
talistische Betriebsform vorbereitet. Es fehlten ihr noch alle Voraus- 
setzungen dafür — in erster Reihe: der Markt und die entwickelte 
Geldwirtschaft. Zwar fand ein Verkauf von Wald, Vieh, manchmal 
auch von Getreide statt, dies geschah jedoch nach wie vor selten und 
in ganz unerheblichen Mengen. Die Kauftätigkeit des Adels be- 
schränkte sich auf wenige Schmuck- und Luxusgegenstände oder 
Metallwaren, die in der eigenen Wirtschaft nicht hergestellt werden 


464 


konnten. Es blieb wie zuvor das System der Arbeitspacht als einzige 
Betriebsform auf den gutsherrlichen Wirtschaften bestehen. Dieses 
Wirischaftssystem wirkte sehr hemmend auf die Einführung von 
Neuerungen und Verbesserungen in der Wirtschaft. Außerdem be- 
stand ein Mangel an geschulten landwirtschaftlichen Hilfskräften, wie 
Agronomen, Technikern und dergl. Selbst in den Fällen, in denen 
die Gutshöfe mit gemieteten Arbeitskräften bewirtschaftet wurden, 
war die Naturalwirtschaft vorherrschend. Geld wurde nur für Steuer- 
zahlungen gebraucht, der Arbeitslohn wurde in Naturalien beglichen, 
wobei die Markipreise außer acht gelassen wurden. Der Gutshof 
war von unnötigem Personal überfüllt?). 

Die Folge dieser Zustände war, daß große Mengen von Acker- 
land entweder überhaupt nicht bestellt oder bestenfalls noch in 
Waldland verwandelt wurden. Und tatsächlich ist hier alljährlich eine 
Verringerung der Ackerbaufläche von den sechziger bis zu den neun- 
ziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zu konstatieren. So z. B. be- 
trug die Anbaufläche in Weißrußland im Jahre 1860 etwa 7 839 000 
Deßj. (35,8% der Gesamtfläche), während sie im Jahre 1888 nicht mehr 
als 5328000 Deßjatinen (26,8% der Gesamtfläche), also 62% der 
Flache von 1860 ausmachte. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts 
seht eine Steigerung der Anbaufläche ein. 

Diese Verringerung der Anbauflache fällt hauptsächlich auf das 
guisherrliche Land. Sehr bezeichnend für die Größe der Anbauflache 
in den verschiedenen Wirtschaften in den achtziger Jahren ist nach- 
stehende Tabelle: 

Der Prozentsatz der Anbaufläche vom gesamten Landbesitz bildete 
in den Wirtschaften bis zu: 


Gouvernement 


Minsk 145 
Witebsk . 12,8 
Mohilew . 12,8 

ensk 85 


Es gab auch keinen Saatplan und keine systematische Verteilung 
des Wiesenlandes usw. Auf dem bäuerlichen Anteillande war das 
Verhältnis bedeutend besser. Hier bildete die Saatflache im Gouv. 
Minsk 62,9%, Witebsk 61,9%, Mohilew 65,53%, Smolensk 61,1% der 
Gesamtfläche. 

Der Boden wurde entweder gar nicht, oder nur in ganz geringem 
Maße verbessert. Nach den Angaben von Rajewsky wurde das Land 
nur einmal im Verlauf von 9—12 Jahren gedüngt (100—150 kleine 


) Charakteristisch für die Lage der guisherrlichen Wirtschaft zur da- 
maligen Zeit ist der Bericht von Sulgin („Das alte und neue Rußland“, 
staraja inovaja Roccija, N. 6. 1869), aus dem zu ersehen ist, dab der weiß- 
russische Adel etwa 34 Millionen Rubel dem Staat an Steuern schuidete 
(„Nedoimki”), woraus man auf den Stand der gutsherrlichen Landwirtschaft 
schließen kann. 


465 


weißrussische Wagen Stallmist auf je 1 Deßjatine). Der Bodenertrag 
pro Deßjat. war sehr gering. Auf dem Boden der Adligen war er etwa 
um das 6—7fache geringer als in den westeuropäischen Ländern und 
auf dem bäuerlichen Anteillande noch um 20% geringer als auf dem 
gutsherrlichen. (So z. B. machte in Weißrußland der Bodenertrag 
pro Deßjat. auf dem bäuerlichen Lande etwa 30 Pud’), auf dem guts- 
herrlichen Boden etwa 35—40 Pud aus, während er in derselben Zeit 
in Dänemark etwa 200 Pud beitrug.) 

Diese Tatsachen mußten auch auf die Auswahl der Saatkulturen 
einen Einfluß ausüben. Es wurden hauptsächlich nur diejenigen Kul- 
turen angebaut, die für die Bedarfdeckung der Wirtschaft notwendig 
waren, nämlich Brotgetreide, besonders Roggen. Von den Sommer- 
kulturen wurden am meisten Kartoffeln angebaut, welche der Bevol- 
kerung als Brotersaß dienten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts 
gestaltete sich die Lage günstiger. Es fand eine Ausdehnung der 
Saatflache statt (von 1887—1905 stieg die Saatflache um etwa 24%), 
hier und da trat eine Verbesserung der landwirtschaftlichen Technik 
ein, der Bodenertrag stieg um etwa 15—20%, gleichzeitig ist auch eine 
Anpassung der Wirtschaft an den Markt zu konstatieren. Besonders 
kam dies durch den verstärkten Anbau von technischen Kulturen zum 
Ausdruck. 

Im großen und ganzen jedoch sette der Aufschwung der weiß- 
russischen Landwirtschaft erst nach der Stolypinschen Agrarreform 
(1906) ein; aber darüber wird noch zu sprechen sein. 


A. Die Bodenverteilung in Weißrußland nach den 
Hauptgruppen. 
(Privater Bodenbesik.) 


Wenn wir den Bodenbesis Weißrußlands gemäß den drei in Ruß- 
land üblich gewesenen Hauptgruppen behandeln, nämlich: I. Gruppe: 
privater Bodenbesik, Il. Gruppe: bäuerliches Anteilland, und IIL. 
Gruppe: Staats- und Apanagenboden, so bemerken wir hier eine 
starke Abweichung der Zahlenverhältnisse von denen im euro- 
päischen Rußland. Nach der offiziellen amtlichen Statistik für das 
Jahr 1877 war der Bodenbesi5 folgendermaßen verteilt: 


Gruppe! Gruppe II Gruppe lll 


Weißrußland. . 56,9% 36,1% 70% 
europ. Rußland . 24,9% 31,0% 44,1% 


Wir sehen also, daß, während im europäischen Rußland der 
größte Prozentsatz des Bodenbesikes auf Gruppe Ill (Staats- und 
Apanagenland) kam, er hier auf Gruppe I (privater Bodenbesitz) ent- 


3) Der Ernteertrag pro Deßjat. auf dem bäuerlichen Anteillande machte 
1889 in Minsk 29,9 Pud, Witebsk 28,2 Pud, Mohilew 26,7 Pud und in Smolensk 
32,0 Pud aus. (Materialien zur Erforschung der Notlage der Landwirtschaft, 
Petersburg 1889.) 


466 


fiel. Dagegen ist hier der Prozenfsat der Gruppe Ill ganz unbe- 
deutend; nur der Besi5anteil der Gruppe Il (bäuerliches Anteilland) 
entspricht hier ungefähr den Verhältnissen des übrigen Rußlands“). 
Die Ursachen hierfür waren erstens historisch-politischer und zwei- 
tens agrogeologisch-wirtschaftlicher Art. Die Polen, die dieses Ge- 
biet im Laufe der Jahrhunderte beherrscht hatten, wandten alle Mittel 
an, um es zu polonisieren. Außer den bereits obenerwähnfen rein 
administrativen Maßnahmen wurde von ihnen auch eine wirksame 
Bodeneroberungspolitik betrieben. Große Landflachen, die früher 
den weißrussischen Fürstenhäusern gehört hatten, wurden dem pol- 
nischen Adel zuerteilt, so daß im Laufe der Zeit sich eine derartige 
Lage ergab, daß die Polen, die höchstens 2% der Bevölkerung 
ausmachten, den größten Prozentsa& des Bodens in Händen hatten. 
So z. B. machte im Gouv. Minsk laut den Berichten der „Kommission 
zur Hebung der Landwirtschaft‘ die Zahl der polnischen Güter noch 
im Jahre 1903 50% aller Besitzungen (8689 insgesamt, davon polnische 
4551) und die Zahl der Güter mit mehr als 1000 DeBjatinen sogar mehr 
als 60% (640 insgesamt, davon polnische 384) aus. Außerdem ver- 
teilte die polnische Regierung an den weißrussischen Adel große 
Staatsgiiter als Belohnung fur den Übertritt zur Staatskirche®). 

Außer diesen wichtigen historischen Ursachen spielte auch die 
Tatsache eine bedeutende Rolle, daß das weißrussische Gebiet etwa 
60% Wald-, Wiesen- und Weideland enthält, das zur Zeit der Auf- 
hebung der Leibeigenschaft nur in ganz unbedeutendem Maße in die 
Hände der Bauern gelangte, jedoch im großen ganzen bei seinem 
früheren Besiker — dem Adel — verblieb. 

Dies hatte zur Folge, daß in Weißrußland der private Bodenbesiß 
einen so hohen Prozentsa& der gesamten Bodenfläche bilden mußte. 
Dieses Verhältnis blieb auch im Jahre 1905 relativ fast unverändert. 
Nach den amtlichen Zahlen für dieses Jahr verteilte sich der Boden- 
besitz wie folgt: 


Privatboden- Staats- und 


Apanagenländereien 


Bäuerliches 


Gouvernement Anteilland 


Mink 24.3% 

Witebsk. sk 59,5% 8.1% 
Mohilew . . . . . 59.5% 4.4% 
Smolensk.. . . 40,7% 4,0% 


4) Es ist jedoch hierbei zu bemerken, daß der Prozenfsab der Gruppe 
Ill fur das europ. Rußland deswegen so hoch ist, weil darin auch das Nord- 
gebiet, das bekanntlich fast ausschließlich (91 6%) aus Staatsboden besteht, 
mit inbegriffen ist. Ziehen wir das Nordgebiet ab, erhalten wir folgende 
Verteilung des Landbesitzes für das europ. Rußland: Gruppe I: etwa 35%, 
Gruppe Il: etwa 45% und für Gruppe Ill: nur 20%. Aber selbst bei diesen 
Zahlen waren die Verhältnisse in Weißrußland anders. 


) Auf die Besibergreifung des Bodens seitens des polnischen Adels 
in den neu eroberten Gebieten weist auch M. Sering in bezug auf die 
Verhältnisse in Litauen hin („Bericht über die eroberten Gebiete des Nord- 
westens“ auf Grund seiner zweimonatigen Reise, Berlin 1916). i 


467 


Wie verteilte sich nun der private Bodenbesif auf die einzelnen 
Schichten der Bevölkerung? Aus den vorher angeführten Tatsachen 
ist nicht schwer zu erraten, daß der überwiegende Prozentsab des 
privaten Bodenbesiges sich in den Händen des Adels konzentriert 
hatte. Im Jahre 1877 befanden sich in seinem Besitze 818% des ge- 
samten privaten Bodenbesitzes. Auf die anderen Schichten entfiel 
ein ganz geringer Prozentsatz, nämlich: Kaufleute 7,1%, Bauern 6,6% 
und auf die städtischen Einwohner (,,mjeSéanje") 3,7%. im Vergleich 
zu den Verhältnissen im europäischen Rußland können wir hier eine 
Abweichung der Zahlenverhältnisse feststellen. Dort kamen auf den 
Adel nur 68,5%, auf die Bauernschaft 13,1% und auf die übrigen 
Schichten der Bevölkerung 18,6%, d. h. daß der Anteil der anderen 
Schichten im europäischen Rußland fast um 50% höher war als in 
Weißrußland. Der geringe Anteil der Bauernschaft an privatem 
Bodenbesi in Weißrußland ist nur durch die geringe Zahl der „freien 
Bauernhöfe“ zu erklären (im Jahre 1877 waren es nur 14586), während 
die überwiegende Mehrheit der Bauernschaft in Weißrußland leib- 
eigen war und Anteilland erhielt. 

Der geringe Anteil der Kaufleute am privaten Bodenbesif ist durch 
die zur damaligen Zeit noch schwach entwickelte weißrussische Indu- 
strie zu erklären. Dagegen befanden sich im Besitze der städtischen 
Einwohner größere Bodenflächen, die zu Garten- und Gemüsebau 
benuft wurden. Im Laufe der Zeit jedoch fand infolge verschiedener 
Ursachen (wie wir später noch sehen werden) eine starke Boden- 
mobilisation statt. Im Jahre 1905 verteilte sich der private Boden- 
besitz unter den verschiedenen Schichten wie folgt: 


Wir stellen also einen starken Rückgang des adligen Boden- 
besitzes (von 81,8% i. J. 1877 auf durchschnittlich etwa 68% i. J. 1905) 
und ein Anwachsen des Bodenbesigfes der anderen Bevölkerungs- 
schichten fest. Auch die durchschnittliche Größe des adligen Besifes 
hat sich im Laufe der Zeit verringert, so z. B. schrumpfte diese im 
Gouv. Minsk von 1003 De). i. J. 1877 auf 580 De§j. i. J. 1905, im Gouv. 
Witebsk von 703 Deßj. auf 409 Deßj., im Gouv. Mohilew auf 419 Dei. 
usw. zusammen. Dagegen ist die durchschnittliche Größe der Bauern- 
wirtschaften von etwa 25 Defj. i. J. 1877 auf 36 DeBj. i. J. 1905 ge- 
stiegen. Im allgemeinen war die Verteilung der Wirtschaften i. J. 1905 
nach der Größe folgendermaßen: Wirtschaften mit einer Fläche bis 
zu 100 Deßj. machten 83,1% aller Wirtschaften aus (hiervon waren 
94,2% Bauernwirtschaften), Wirtschaften mit einer Fläche von 100 bis 


468 


EN ee — — »àr᷑— r 


1000 DeBj. bildeten 13,8% (davon Bauernwirtschaften 6,5%), und Wirt- 
schaften mit einer Fläche von mehr als 1000 Deßj. waren 3,1% aller 
Wirtschaften. Nach ihrem Bodenanteil dagegen gehörten den Wirt- 
schaften bis zu 100 Deßj. nur etwa 10% des gesamten privaten Boden- 
besifes, den Wirtschaften von 100-1000 Deßj. gehörten etwa 30% 
und den Wirtschaften mit über 1000 Deßj. etwa 60%, d. h. also, daß 
3,1% der Großwirtschaften etwa 60% des gesamten Privatboden- 
besigfes innehatten, und 83,1% der Kleinwirtschaften nur 10% des 
Privatbodenbesitzes besaßen. Ferner verteilten sich die Wirtschaften 
bis zu 100 Deßj. pro Wirtschaft (insgesamt rund 58000) mit einer 
Gesamifläche von 1388 Tausend Deßjatinen nach der Größe wie folgt: 


Die Wirtschaften bis zu 10 Dekj. waren 38% und machten 9% 


ý „ von 10, „ 20 „ „ 22% „ „ 13% 
LL pe LL 20 LL vp 30 „ » 12 % LL » 13 % 
99 LL vp 30 LL 29 40 vp LL 8 % LL LL 12 % 
DP 7 LL 40 LL oD 50 LL » 5 % 92 uP 1 1 % 


L oD ap » „ 100 » 99 14 % ve » 41 % 
des gesamten Privatbodenbesikes der 1. Kategorie aus. 


Dies ist in allgemeinen Zügen die Verteilung des Bodens der 
Gruppe I in Weißrußland bis zum Jahre 1905. Die etwaigen Ande- 
rungen, die durch die Stolypinsche Agrarreform eingetreten sind, 
werden wir weiter unten behandeln. 


B. Das bäuerliche Anteilland in Weißrußland. 


Unter den Begriff „Bäuerliches Anteilland“ fällt bekanntlich der 
gesamte Boden, den die Bauern sämtlicher Kategorien (Gutsbauern, 
Staatsbauern, Kronsbauern-Apanagen und dergl. mehr) nach der 
Aufhebung der Leibeigenschaft bekommen hatten. Das bäuerliche 
Anteilland bildete in Weißrußland mit Ausnahme des Gouv. Minsk 
einen höheren Prozentsatz der gesamten Bodenfläche, als es im 
europäischen Rußland der Fall war (36,1% in Weißrußland, und 31,0% 
durchschnittlich im europäischen Rußland). Hingegen war hier der 
Prozentsa& des bäuerlichen Anteillandes im Vergleich mit einzelnen 
Gebieten bedeutend niedriger, so z. B. bildete er im Zentral-Acker- 
bau-Gebict 48,5%, im Dongebiet 57,5% usw. 

Wie verteilte sich nun das Anteilland unter den verschiedenen 
Kategorien der Bauernschaft? 

Gemäß ihrer Zahl hatten die Gutsbauern den größten Prozentsatz 
des Anteillandes inne (von der Gesamtsumme des Anteillandes 
— 6516881 DeBj. i. J. 1877 — waren 4900 354 Deßj. im Besitze der 
Gutsbauern, also eiwa 75%, dagegen war der Bodenanteil pro 
Wirtschaft oder pro Kopf („Esser“) bei den Staatsbauern größer als 
bei den Gutsbauern. So war die Verteilung des Anteillandes nach 
Größe lin Deßj.) im Jahre 1877 wie folgt: 


469 


Gouvernement 


Weißrußland 


Dieser Tatbestand hat sich auch in späteren Jahren kaum ge- 
ändert. Zwar hat sich der Bodenbesiß der Gutsbauern von 1877 bis 
1905 um 0,5 Mill. Deßj. vergrößert (bei den Staatsbauern nur um etwa 
100 Tausend Deßj.), die Größe des Anteillandes pro Wirtschaft ist 
jedoch nicht gewachsen, da die Zahl der Wirtschaften bei den guts- 
herrlichen Bauern in viel höherem Maße gestiegen ist als bei den 
Staatsbauern. So wuchs die Zahl der guisherrlichen Bauernhöfe von 
380,9 Tausend im Jahre 1877 auf 624,2 Tausend im Jahre 1905, also 
um 63,8%, während die der Staatsbauern sich nur von 95,4 Tausend 
im Jahre 1877 auf 142,5 Tausend im Jahre 1905, also um 49,3% ver- 
größert hat. 

Die Bodenverhältnisse im Jahre 1905 waren wie folgt: 


Staatsbauern 
Durchschn. 


Gutsbauern 


Gouv. en Deßj. pro 
er irts 
Wirtschaften PA 


Minsk... 
Witebsk . . 
Mohilew . . 16,1 10,5 
Smolensk . 28,0 11,5 
Weißrußland | 774 | 88 18,6 22,6 11,2 


Also 18,6% der Höfe der Staatsbauern umfaßten 22,6% des An- 
teillandes und 81,4% der Hofe der Gutsbauern nur 77,4% des Anteil- 
landes. Pro Bauernhof kamen bei den Gutsbauern nur 8,8 De j., bei 
den Staatsbauern 11,2 Deg). 

Im allgemeinen sah die Verteilung der Bauernhöfe in Weißruß- 
land nach dem Besitze an Anteilland folgendermaßen aus: Es bildeten 
die Bauernhöfe bis zu 5 Deßj. 7,9% (Gouv. Minsk 12,3%) der Gesamt- 
zahl der Bauernhöfe, von 5—10 Deßj. 63,8% (Gouv. Witebsk 47,5%) 
und mehr als 10 Deßj. 28,3% (Gouv. Witebsk 50%). Für das euro- 
päische Rußland bekommen wir für die Bauernhöfe mit einer Boden- 
fläche bis zu 5 Deßj. 23,8%, von 5—10 Deßj. 42,3% und mehr als 
10 Deßj. 33,9%. Innerhalb der Gruppe bis zu 5 Deßj. machten die 
Bauernhöfe mit einer Bodenfläche von 2—3 Deßj. den größten Pro- 
zentsak aus. Es fehlte noch etwa über ½ der vorhandenen Boden- 
flache, damit auf jeden Hof 5 De§j. fallen. 


470 


C. Staats-, Kirchen- und Kronsbodenbesis,. 


Wie bereits erwähnt, war der Anteil der Gruppe Ill am gesamten 
Bodenbesis in Weißrußland sehr gering. 

Im Jahre 1877 betrug der Prozenfsat der Gruppe Ill etwa 7% 
(genau: Minsk 13,4%, Witebsk 7,9%, Mohilew 4,0%, Smolensk 2,9%). 
Im Laufe der Zeit ist der Prozentsak relativ gesunken, absolut da- 
gegen ist er etwa um 2000 Dekj. gestiegen. 

Wie gesagt, umfaßte diese Gruppe den Bodenbesif des Staates, 
der Krone, der Kirchen wie auch den Boden der öffentlichen In- 
stitutionen (Staatsverwaltung und dergl.). Der überwiegende Anteil 
fiel auf den Staatsboden. 

Es verteilte sich der Boden der Gruppe Ill folgendermaßen 
un % %): 


o Boden 

Gouv Staats- Kirchen- Kloster- 9 der 
boden boden boden Städte öffentlichen 
Institutionen 

Minsk. . . 91,6 4,0 0,2 4,0 — 

Witebs . . 82,8 7,0 0,9 9,1 0,2 

Mohilew . . 68,0 17,0 2,4 12,0 — 

Smolensk . 55,5 26,1 1,2 17,5 — 

Weißrußland| 84.4 79 | o6 | 70 | — 


Wir sehen also, daß in allen Gouvernements Weißrußlands der 
Staatsboden den größten Prozentsak bildet. Eine Abweichung ist 
im Gouv. Smolensk zu konstatieren, wo der Prozentsatz des Kirchen- 
besikes verhältnismäßig hoch ist. Dies ist auf folgendes zurück- 
zuführen: Die Kirchen hatten ursprünglich die Funktion von Dar- 
lehenskassen erfülle). Die in Not geratene Bauernschaft mußte sich, 
um ihre Wirtschaft erhalten zu können, an die Kirche wenden, um 
das notwendige Geld durch Verpfändung ihres Bodens als Darlehen 
zu erhalten. Da aber die meisten Bauern infolge der hohen Zinsen 
nicht imstande waren, den verpfändeten Boden auszulösen, so verfiel 
er der Kirche. Auf diese Weise haben sich im Laufe der Jahrhun- 
derte große Bodenflächen im Besitze der Kirche konzentriert, so daß 
die Moskauer Regierung unter Iwan dem Schrecklichen, wie auch 
unter Peter dem Großen spezielle Ukasy zur Einschränkung des 
Kirchenbodenbesiges erließ. Diese Erscheinung finden wir meist bei 
der griechisch-orthodoxen Kirche, die im Gouv. Smolensk und Mohi- 
lew vorherrschend war. 

Der Bodenbesiß der Staatsverwaltungen war im Gouv. Smolensk 
und Mohilew ziemlich ausgedehnt. Das hatte seinen Hauptgrund 
wohl darin, daß Smolensk und Mohilew von den litauischen Groß- 
fürsten „das Magdeburgische Recht“ empfangen hatten, welches 
ihnen die Möglichkeit gab, durch die damit verbundene Selbstver- 


©) P. Archangelski „Geschichte der Bodenverfassung Rußlands“, 
Kazan 1920. 


471 


waltung größere Bodenflächen zu gesellschaftlichen und Wohlfahrts- 
zwecken zu erwerben (dem Gouv. Witebsk stand dieses Recht eben- 
falls zu, es war ihm jedoch durch Sigismund August Mitte des 17. 
Jahrhunderts entzogen worden). 

Diese Sachlage hat sich bis zum Jahre 1905 nur wenig geändert, 
und zwar finden wir, daß der Staatsbodenbesifg auf 79% (statt 84,4% 
im jahre 1877) gesunken ist. Dagegen ist der Bodenbesik der 
Kirchen- und Stadtverwaltungen gestiegen (Kirchenbesif auf 9,4% 
und Stadtverwaltungsbesib auf 7,2%), auch der Besitz der öffentlichen 
Anstalten ist auf 1,1% gestiegen. 

Der staatliche Bodenbesif in Weißrußland bestand hauptsächlich 
aus Waldflachen, so wies z. B. das sehr waldreiche Gouv. Minsk 
mehr als 721 Tausend Deßj. an staatlichem Waldbesif auf. Län- 
dereien der Udjely-Apanagen gab es früher in Weißrußland nicht. 
Erst später hat sich die Krone im Gouv. Witebsk etwa 28 Tausend 
Deßj. Boden angeeignet. Meist waren es konfiszierte Güter des pol- 
nischen Adels, der an den Aufstanden von 1830/31 und 1863/64 teil- 
genommen hatte. Die konfiszierten Güter waren entweder an den 
Staat oder an russische Majorate verfallen. Der Besitz der öffent- 
lichen Institutionen und Anstalten ist auf 12 Tausend Deßj. gestiegen. 


Kapitel 3. 
Die Formen der Bodennutzung in Weißrußland. 


Weißrußland wies zwei Hauptarten der Bodennukung auf: die 
kollektive und die individuelle Bodennutzung. Zur ersten Art gehörte 
die feldgemeinschaftliche Bodennukung des Anteillandes in den 
Kreisen Weißrußlands, in denen eine periodische allgemeine Um- 
teilung des Landes stattgefunden hatte*), ferner bäuerliche und nicht- 
bauerliche Genossenschaften und Gesellschaften und die bäuerlichen 
Servitutenrechte. Zur zweiten Art gehörte die Bodennutzung des 
Großgrundbesikes, die bäuerlichen Einzelwirtschaften (Chutor, Otrub 
und sonstiger bauerlicher Privatbodenbesib) wie auch das Pachtland. 

Diese beiden Arten der Bodennukung waren sowohl bei den 
privaten Grundbesikern aller Stände als auch bei den Anteilland- 
besikern zu verzeichnen. So z. B. konnte man häufig finden, daß 
private Grundstücke von Bauern, Kaufleuten und Bürgern gemein- 
schaftlich in Form von Gesellschaften und Genossenschaften benubi 
wurden, es kam auch vor, daß das Anteilland privatwirtschaftlich in 
Form von Pachtwirtschaft und anderem benutzt wurde. 

Betrachten wir nun die verschiedenen Formen der Bodennubkung 
in Weißrußland. 


1) Ich möchte dabei betonen, daß bei der Feldgemeinschaft selbst 
dort, wo eine Umfeilung stattfand, eher von einem „gemeinschaft- 
lichen Bodenbesi§“ als von einer „gemeinschaftlichen Bodennukung“ die 
Rede sein kann, da die zuerteilten Bodenstücke ganz individuell genubt 
wurden. Der Ausdruck „Bodennutzung“ trifft also hier nicht ganz zu, ich 
gebrauche ihn jedoch, weil er in der russ.-wissenschaftlichen Literatur von 
jeher eingebürgert ist. 


412 


A. Die Formen der kollektiven Bodennukung 
in Weißrußland. 


Wie bereits erwähnt, ist unter kollektiver Bodennutzung jeglicher 
Bodenbesitz, sowohl bäuerlicher als auch nichtbauerlicher, solcher 
physischer oder juristischer Personen, der gemeinschaftlich resp. ge- 
sellschaftlich benutzt wurde, zu versfehen. 


1. Die bauerliche Feldgemeinschaft 
in Weißrußland. 


Es liegt völlig fern, im Rahmen dieser Arbeit eine grund- 
legende Betrachtung über Wesen, Form, historische Entstehung und 
Auswirkung der Feldgemeinschaft auf das russische Bauerntum zu 
geben. Wir wollen uns nur auf die tatsächlichen Verhältnisse sowie 
auf ihre Entstehung und historische Entwicklung in dem hier behan- 
delten Gebiet beschränken. 

Bei der Betrachtung der statistischen Zahlen von 1905 über die 
Dimensionen der bäuerlichen Feldgemeinschaft in Weißrußland fallt 
besonders der große Unterschied zwischen dem östlichen und west- 
lichen Teile Weißrußlands auf. Während in dem östlichen Teile (Gouv. 
Smolensk, östliche Kreise des Gouv. Mohilew und Witebsk) die Feld- 
gemeinschaft stark verbreitet war, wird sie seltener, je mehr wir uns 
den westlichen Teilen nähern (Gouv. Minsk und die westlichen Teile 
des Gouv. Witebsk). 

Die Feldgemeinschaft im Jahre 1905 umfaßte: 


*/o der Gesamtzahl | / der Gesamtzahl 9 des 
Gouvernement der Gemeinden der Bauernhöfe Anteillandes 


Diese Erscheinung ist keineswegs ein Zufall, sondern wurzelt 
in der historischen, politischen und ökonomischen Entwicklung der 
einzelnen Gouvernements resp. der einzelnen Kreise Weißrußlands. 
Ich möchte mich daher bei der Behandlung der Entwicklung der ein- 
zeinen Gouvernements etwas länger aufhalten. 

Wie bereits erwähnt, ist das Gouv. Minsk erst am Ende des 
18. Jahrhunderts zu Moskau übergegangen. Im Laufe der Jahrhun- 
derte befand sich dieses Gebiet unter der Herrschaft Polens, wo die 
Formen der Leibeigenschaft von denen in Großrußland sehr ab- 
wichen. Die Bauern waren hier nicht nur Leibeigene, sondern 
wurden als Knechte (,, Chlopie“] des Gutsherrn behandelt. Sie hatten 
überhaupt keinen Besitz; sie arbeiteten auf dem qgutsherrlichen 
Hofe und erhielten hierfür ihren kärglichen Lebensunterhalt, selbst 
die armseligen Wohnhütten gehörten den Gutsherren. Sie hatten 
also gar kein Eigentum (mit Ausnahme von vielleicht einer Kuh oder 


475 


einem anderen Haustier), und es fehlte ihnen daher völlig sowohl 
die psychologische als auch die wirtschaftliche Grundlage fur eınc 
Entstehung der Feldgemeinschaft. Andererseits finden wir, daß 
die Bauernbefreiung in diesem Gebiet anders vor sich ging als m 
den großrussischen Gouvernements. Schon bei der Gründung des 
Herzogtums Warschau durch Napoleon I., als die Aufhebung der 
Leibeigenschaft verkündet wurde, galt dies, zwar nicht offiziell, auch 
für das Gouv. Minsk. Napoleons Absicht war bekanntlich, sich 
durch die Verkündung der Freiheit eine ihm freundlich gesinnte Be- 
völkerung zu sichern, damit ihm dieselbe im Falle eines Krieges mit 
Rußland keine Hindernisse in den Weg stellte. Der polnische Adel, 
der in diesem Gebiete die Mehrheit der Gutsbesiser ausmachte, mußte 
nolens volens seine Bauern befreien und sie noch dazu mit Boden 
versehen, um sie dadurch für die Sache Polens zu gewinnen. Das 
„Sichbeliebtmachen“ der Gutsbesitzer bei den Bauern nahm noch 
prägnantere Formen während der polnischen Aufstände in den Jahren 
1830/31 und 1863/64 an. Diese — ich möchte sagen — „Versöhnungs- 
politik“ war besonders in den litauischen und weißrussischen Gou- 
vernements verbreitet, wo die Bauernbevolkerung keine rein pol- 
nische war und die Gutsbesiker auf eine Gegnerschaft rechnen 
konnten, was sich auch zum Teil wirklich bestätigt hat. Die Feld- 
gemeinschaft im Gouv. Minsk konnte auch nicht zu der Zeit ent- 
stehen, als die Leibeigenschaft in Rußland aufgehoben und die Feld- 
gemeinschaft zwangsweise eingeführt wurde, wie es in den Gouv. 
Witebsk und Mohilew der Fall war (was wir weiterhin sehen werden), 
da den Gutsbesißkern in diesen Gouvernements der Gedanke einer 
Feldgemeinschaft fernlag und sie dieselbe nicht anstrebten. Außer- 
dem bestand auch seitens der Bauernschaft nicht der Wunsch, die 
Feldgemeinschaft einzuführen, da sie sich schon in Sonderbesikungen 
angesiedelt hatten und von jeher der westeuropaischen Agrarverfas- 
sung näher standen als der großrussischen. Sehr treffend charak- 
terisiert den Zustand in den litauisch-polnischen Gouvernements, der 
auch für Weißrußland zutrifft, M. Sering lin seiner Einleitung zum 
Werke „Westrußland in seiner Bedeutung fur die Entwicklung Mittel- 
europas“, Leipzig 1917) wie folgt: 

„Von der Ostsee bis zu den Karpathen bildet schon vom Mittel- 
alter her das Privateigentum an Ackerland die Grundlage der gesell- 
schaftlichen Verfassung und gab ihr den individualistischen Zug, der 
Westeuropa von Großrußland scheidet... Im ganzen Gebiet ist die 
russische Herrschaft nicht älter als 100—140 Jahre. Sie hat trok aller 
Verfolgungen und Unterdrückungen das Westeuropäische nicht aus- 
zulöschen vermocht. Der Wegfall würde keine zivilisatorische Lücke 
hinterlassen und nur von wenigen bedauert werden.“ 

Alle gemachten Versuche, sowohl durch Zwang als auch frei- 
willig die Feldgemeinschaft einzuführen, mußten ohne Erfolg bleiben. 
So z. B. sehen wir, daß, während im Jahre 1877 noch 3,6% des Anteil- 
landes der Feldgemeinschaft angehörten, selbst diese geringe Zahl 
im Jahre 1905 auch schon ganz verschwunden ist. Die Dinge lagen 


474 


in diesem Gouvernement genau so wie in den übrigen Gouvernements 
des ehemaligen Litauen (Wilna, Grodno, Kowno). Etwas anders ver- 
lief die Entwicklung der Feldgemeinschaft im Gouv. Witebsk. 

Hier bestand ein großer Unterschied zwischen den östlichen und 
westlichen Kreisen. In einer amtlichen Forschungsarbeit vom Jahre 
1907 wurden folgende Unterschiede bezüglich der Verbreitung der 
Feldgemeinschaft festgestellt: in den östlichen Kreisen war der 
Prozentsatz der Feldgemeinschaft etwa 90%, dagegen in den west- 
lichen Kreisen kaum 10% des gesamten Anteillandes (Kreis Weliž 
99,5%, Witebsk 87,6%, Drissa 6,3% und Luzin 4,7%). Die Verschieden- 
heit der Formen der bäuerlichen Bodennukung in diesen Gouverne- 
ments ist ebenfalls aus historischen Ursachen zu erklären. Das 
Gouv. Witebsk besteht aus zwei vom ethnographischen und geschicht- 
lichen Standpunkte aus scharf abgegrenzten Teilen. Während die 
vier Ostkreise ursprünglich rein russisch waren (die Stadt Witebsk 
wurde im 10. Jahrhundert von der russischen Groffirstin Olga er- 
baut) und eine Zeitlang dem Smolensker Fürstentum angehörten, ge- 
hörten die vier Westkreise (bekannt unter dem Namen Infland) dem 
deutschen livonischen Orden). Einen großen Prozentsatz der Bevöl- 
kerung bildeten hier die Deutschen und die Letten. Der östliche Teil 
des Gouvernements ging an Litauen über zu Beginn des 14. Jahr- 
hunderts (1320) durch die Heirat des litauischen Großfürsten Ol gerd: 
mit der Tochter von Jaroslav Wassiljewitsch. Die Kultur und Sprache 
der Weißrussen blieb troß der vielen Jahrhunderte litauischer und 
polnischer Herrschaft vorherrschend. Der westliche Teil des Gouv. 
Witebsk aber blieb bis zur zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts unter 
der Herrschaft des deutschen Ordens. Erst infolge des Olivaer 
Friedensvertrages von 1660 fiel dieses Gebiet Polen zu. Die deutsche 
Kultur und Wesensart, die sich im Laufe der Jahrhunderte fest ein- 
gewurzelt hatte, blieb auch unter polnischer und später russischer 
Herrschaft bestehen, so daß hier von einer Feldgemeinschaft gar 
keine Rede sein konnte. Der vorhandene geringe Prozentsatz der 
Feldgemeinschaften ist in einem viel späteren Zeitabschnitt ent- 
standen, und zwar nach Aufhebung der Leibeigenschaft (1861). Die 
russischen Gutsbesiker in diesem Gebiete haben die Feldgemein- 
schaft nach russischem Muster durch Zwang eingeführt, um eine 
Sicherheit dafür zu haben, daß die Bauern ihre Leistungen ihnen 
gegenüber pünktlich erfüllen werden. Ein Beweis hierfür ist die Tat- 
sache, daß die Feldgemeinschaft in diesem Gebiete fast nur aus 
Gutsbauern bestand; eine Erscheinung, welche in Großrußland gerade 
umgekehrt war. Das zeigt, daß der Gedanke einer Feldgemeinschaft 
den Bauern selbst fernlag, daß sie sich nur den Gutsherren, die die 
Feldgemeinschaft zwangsweise einführten, fügen mußten. Eine 
zwangsweise Einführung der Feldgemeinschaft finden wir auch im 
Gouv. Mohilew. Hiervon zeugt ein Bericht des Statistischen Amtes 
im Gouv. Mohilew vom Jahre 1884, der lautet: 

„Die Guisbesig§er sahen in der Feldgemeinschaft eine zwar nicht 


SINFS 475 


genügende, aber einzig mögliche Garantie für die pünktliche Er- 
füllung der Verpflichtungen seitens der Bauern.“ 

Also, die Feldgemeinschaft ist nach Aufhebung der Leibeigen- 
schaft unter dem Drucke der Gutsbesitzer entstanden. 

Aus dem Bericht ist auch ersichtlich, daß die aus Zwang ent- 
standene Feldgemeinschaft im Gouv. Mohilew und Witebsk eigentlich 
nur auf dem Papiere stand, in Wirklichkeit jedoch betrachteten die 
Bauern das Anteilland als ihren Besitz und bewirtschafteten es nach 
ihrem persönlichen Gutdünken, verpachteten, verkauften und ver- 
a es ohne die Zustimmung des „Mir“. Im erwähnten Bericht 

eißt es: 

„In der gesamten Bodenordnung und Verfassung (hier) sind 
keinesfalls die Zeichen einer gemeinschaftlichen Bodennukung und 
die Obrigkeit des Mir zu merken, obwohl juristisch das Recht über 
das Anteilland nur der Gemeinde zusteht.“ 

Allgemeine Umteilungen fanden in diesen Gouvernements ent- 
weder überhaupt nicht oder in sehr langen Zeiträumen statt (von 18 
bis 20 Jahren), woraus man auch auf eine sehr schwache Autorität 
der Feldgemeinschaft schließen kann. Die laue Beziehung der Bauern 
zur Feldgemeinschaft hatte auch zur Folge, daß von dem im Jahre 
1906 proklamierten Recht des freien Austrittes aus der Gemeinde 
großer Gebrauch gemacht wurde, was wir noch sehen werden. 

Ganz anders waren die Verhältnisse im Gouv. Smolensk. Wie 
wir aus obenstehender Tabelle ersehen, war hier die Bodennukung 
der Bauern fast nur feldgemeinschaftlich. Die Feldgemeinschaft 
zeichnete sich in diesem Gouvernement durch besondere Festigkeit 
und Dauerhaftigkeit aus. Hier lebten die großrussischen Traditionen 
noch in einstiger Frische. Schon die Tatsache, daß hier die Groß- 
russen einen bedeutenden Prozentsatz der Dorfbevölkerung bildeten, 
bedingte eine starke Verbreitung der Feldgemeinschaft. Hier ging 
die Entwicklung der Bodenverfassung eine entgegengesefie Rich- 
tung als in West-Weißrußland. Während sie sich dort der Boden- 
verfassung des Westens näherte, paßte sie sich hier der der Groß- 
russen an. Äber selbst bei den Großrussen hat die Feldgemeinschaft 
nur aus historischen Gründen so umfangreiche Dimensionen an- 
genommen. Laut den allerletzten Forschungsergebnissen bestand die 
Bauernbevölkerung im Gouv. Smolensk aus den Erben der ehe- 
maligen „Viertelrechtsbesißer‘‘ (Cetwertnyje). Diese Kategorie der 
Bauernschaft war adligen Ursprungs. Ihre Ahnen waren Dienstadlige 
am Moskauer Zarenhofe gewesen. Ihnen wurden Ländereien an 
den meistbedrohten Grenzgebieten des Moskauer Staates als 
„Dienstgüter“ verliehen, und ihre Pflicht war es, die Ankunft feind- 
licher Truppen zu erkunden und das Land nach Möglichkeit vor deren 
Eindringen zu beschüßen. Das Gouv. Smolensk befand sich gerade 
an der Grenze des ihm feindlich gesinnten Landes, nämlich Litauens, 
das sich in einem fortwährenden Kampfe mit Moskau befand. Auf 
diese Weise entstand in Smolensk die große Zahl dieser „Dienst- 
güter“. Durch die Ausdehnung der Grenzen des Moskauer Staates 


476 


verloren die „Viertelrechtsbesiser“ ihre Bedeutung, was auch zur 
Anderung ihrer sozialen Stellung führen mußte. Bei der Registrierung 
des russischen Adels (1719) wurde ein Teil der besser situierten 
Viertelrechtsbesiger in den Adelsstand erhoben; die übrigen nannte 
man von dieser Zeit ab „Odnodworcy“, d. i. „Einhöfer“. Zehn Jahre 
später wurden sie zu einfachen Staatsbauern degradiert. Katharina Il. 
trachtete danach, ihnen, gleich allen anderen Staatsbauern, die Feld- 
gemeinschaft aufzuzwingen, um dadurch die Sicherheit zu gewinnen, 
daß sie ihre Pflicht dem Staate gegenüber erfüllen werden. Auf der 
Seite der Regierung stand auch das Dorfproletariat®), das durch die 
Verwandlung der Viertelrechtsbesiger in Staatsbauern für sich inso- 
fern einen Vorteil erhoffte, als es glaubte, daß ihm dadurch Land 
zufallen würde. Auf diese Weise gelang es der Regierung, einer 
großen Anzahl von Einhöfern die Feldgemeinschaft aufzuzwingen. 
Zählen wir noch die Staats- und Gutsbauern hinzu, denen es mit der 
Einführung der Feldgemeinschaft ebenso ging, dann verstehen wir, 
woher es kommt, daß die Feldgemeinschaft in diesem Gouvernement 
so starke Dimensionen annahm. 

Wie wir aus dem bisher Gesagten ersehen, hatte jedes der vier 
weißrussischen Gouvernements eine andere historische Entwicklung 
durchgemacht, woraus sich die Verschiedenheit der in ihnen herr- 
schenden Verhältnisse erklärt. 

Gemeinsam aber war ihnen allen die gemeinschaftliche Benutzung 
der Wälder, Weiden und in manchen Fällen auch der Wiesen, was 
selbst für das Gouv. Minsk zutrifft. Diese Tatsache erklärt sich 
daraus, daß für die Viehzucht eine Verteilung des Weidelandes in 
kleinere Bodenmengen ungünstig ist. Überdies hielten es die Bauern, 
die das Weideland häufig vom Gutsherrn gepachtet hatten, für viel 
lohnender, gemeinschaftlich eine größere Weidefläche zu pachten und 
zu benufen. Das brachte ihnen um so mehr ein, als sie, außer dem 
viel geringeren Pachtzins, auch noch den Vorteil hatten, daß nur ein 
Hirt für die gesamte Herde genügte. 


2. Landwirtschaftliche Genossenschaften 
und Gesellschaften. 


Zur zweiten Form der kollektiven Bodennukung in Weißrußland 
gehört die der landwirtschaftlichen Genossenschaften und Gesell- 
schaften. In Wirklichkeit gab es derlei landwirtschaftliche Genossen- 
schaften und Gesellschaften nicht nur bei den Bauern, sondern auch 
bei anderen Schichten, besonders unter den Kaufleuten. Ich werde 
mich jedoch nur mit den bäuerlichen Genossenschaften und Gesell- 
schaften beschäftigen, da diese den überwiegenden Prozentsab 
(93,5%) ausmachten. 


2) Die Bezeichnung „Stadt- oder Dorfproletariat“ bekam in Rußland 
ihre richtige Bedeutung (im westeuropäischen Sinne) erst nach der Auf- 
hebung des „Familienbesißes“ durch das Gesek der dritten Duma (Siehe: 
Hoebsch „Die innere Entwicklung Rußlands seit 1905“ im Sammelwerk „Ruß- 
lands Kultur und Volkswirtschaft” von M. Sering, Berlin 1913). 


477 


Der Uinterschied zwischen der bäuerlichen Feldgemeinschaft und 
den bäuerlichen Genossenschaften und Gesellschaften besteht erstens 
darin, daß letztere im Gegensak zur Feldgemeinschaft, die gewisser- 
maßen eine aufgezwungene Einrichtung war, ein freiwilliger Zusam- 
menschluß der Bauern zur gemeinschafilichen Nutzung ihres privaten 
Bodens war. Ferner basierte der Bodenbesib des einzelnen Bauern 
in den freien ländlichen Genossenschaften und Gesellschaften auf 
privatrechilicher Grundlage, d. h. jedes Mitglied der Genossen- 
schaften und Gesellschaften konnte zu jeder Zeit (oder nach ver- 
einbarter Frist) aus der Gesellschaft freiwillig ausscheiden und seinen 
Bodenanteil zuerteilt erhalten, was bei der Feldgemeinschaft nicht 
der Fall war. Der Boden gehörte, bekanntlich, nicht den einzelnen 
Mitgliedern, sondern dem „Mir“, der Gemeinde. Das einzelne Mit- 
glied hatte nur das Recht auf einen Anteil, solange es innerhalb der 
Gemeinde blieb; beim freiwilligen Austritt hatte es keinerlei Anspruch 
auf. seinen Anteil oder auf irgendeine Entschädigung. Ein großer 
Unterschied zwischen bäuerlicher Feldgemeinschaft und bäuerlicher 
Genossenschaft und Gesellschaft bestand auch darin, daß, während 
bei ersterer der Bauer den Ertrag des ihm zugewiesenen Boden- 
anteils durch persönliche Arbeit als persönlichen Besik hatte, bei der 
Genossenschaft und Gesellschaft der Boden gemeinschaftlich bestellt 
und der Ertrag gleichmäßig oder proportionell verteilt wurde). 

Ich habe in einem andern Zusammenhang bereits darauf hin- 
gewiesen, daß der private kollektive Bodenbesi5 in Weißrußland im 
Jahre 1905 13,6% des gesamten privaten Bodenbesifes ausmachte. 
In den einzelnen Gouvernements war der Prozentsatz verschieden. 
Den höchsten Prozentsatz hatte das Gouv. Smolensk mit 23,7%, dar- 
auf folgt Mohilew mit 193%, Witebsk mit 9,0% und an letzter Stelle 
Minsk mit 8,0%. In Deßj. gerechnet machte der kollektive Boden- 
besitz eine Fläche von 1680,2 Tausend Deßj. (rund) aus. Von dieser 
Flache gehörten den Bauern 1572,1 Tausend Deßj. (rund) oder 93,5%, 
der Rest war in den Händen der Kaufleute, die den Boden für in- 
dustrielle Zwecke benuzten. Dieser bäuerliche kollektive Privat- 
bodenbesitz bildete etwa ?/, des gesamten bäuerlichen Privatboden- 
besifes in Weißrußland. 

Dies erklärt sich aus der Tatsache, daß die bäuerlichen Privat- 
besiker, wie schon erwähnt, meist besser situiert waren als die An- 
teillandbesiger und in ihrem Besitze meist eine Fläche bis zu 30 Deßi. 
pro Hof war, und sie es für rentabler hielten, ihre Besitztümer zu- 
sammenzuschließen und sie in Form einer Genossenschaft oder Ge- 
sellschaft zu bewirtschaften. Und in der Tat handelte es sich in den 
‚meisten Fällen um gemeinsame Wiesen und Weiden, wie auch Mol- 
kereien, Flachs- und Hanfverarbeitungsgenossenschaften und dergl. 
mehr, während es nur wenige Ackerbaugenossenschaften im eigent- 


s) Eine gemeinschaftliche Teilung des Bodenertrages fand auch manch- 
mal in der Feldgemeinschaft statt, nämlich bei dem nicht teilbaren Wiesen- 
en das gemeinschaftlich bearbeitet und dessen Ertrag ebenfalls geteilt 
wurde. 


478 


lichen Sinne des Wortes gab. Daraus erklärt sich auch die stärkere 
Verbreitung des Genossenschafts- und Gesellschaftswesens in den 
östlichen Teilen Weißrußlands als in den westlichen. Im Gouv. Mohi- 
lew war der Flachs- und Hanfanbau sehr stark verbreitet (Gouv. 
Mohilew nimmt hierin den ersten Plak im gesamten europäischen 
Rußland ein), im Gouv. Smolensk waren Weide- und Waldgenossen- 
schaften vorherrschend. In den Gouv. Minsk und Witebsk hingegen 
konnte sich das Genossenschaftswesen nur sehr schwach entwickeln, 
da die Verschiedenheit der Bodenqualitäten sowohl des Ackerlandes 
als auch der Wiesen für die Entstehung von Genossenschaften ein 
nicht zu uniterschäßendes Hindernis darstellte. Als ein wichtiger 
Faktor ist — last not least — noch zu erwähnen die niedrige Kultur- 
stufe des Bauern in den beiden obengenannten Gouvernements und 
seine asoziale Veranlagung, entstanden aus seiner jahrhundertealten 
Lebensart in seiner einsamen Hütte zwischen weiten Wäldern und 
Sümpfen. Die geringe kollektive Bodennutzung in diesen Gouver- 
nements erstreckte sich hauptsächlich auf Waldgenossenschaften. 

Den größten Prozentsatz der kollektiven Privatbodennukung in 
Weißrußland hatten die Genossenschaften aufzuweisen. Von dem 
1572,1 Tausend Deßj. umfassenden bäuerlichen kollektiven Privat- 
bodenbesi& gehörten nur 462,0 Tausend Deßj. den bäuerlichen Gesell- 
schaften an, der Rest verteilte sich auf die Genossenschaften. 

Die bäuerliche kollektive Bodennutzung in den einzelnen Gouver- 
nements Weißrußlands verteilte sich im Jahre 1905 folgendermaßen: 


B&uerliche Gesellschaften Bäuerliche Genossenschaften 


Minsk... 
Witebsk . . 
Mohilew. . 
Smolensk . 


Weißrußland 


Die Größe der Gesellschaften beitrug durchschnittlich über 175 
Deßj., während die genossenschaftlichen Betriebe durchschnittlich 
120 Deßj. besaßen. Wir haben es hier also mit einem bäuerlichen 
Grogbetrieb zu tun. Die Größe der Betriebe war, wie aus der obigen 
Tabelle ersichtlich, in den vier Gouvernements verschieden. Am 
größten war sie im Gouv. Minsk (Gesellschaften über 1000 DeBj., Ge- 
nossenschaften etwa 250 Deßj. durchschnittlich), da wir es hier meist 
mit Waldgenossenschaften zu tun haben. 


3. Das bäuerliche Servitutenrecht. 

Zur dritten Hauptform der bäuerlichen kollektiven Bodennukung 
gehört das Servitutenrecht, obgleich dies nicht immer rein kollektive 
Formen annahm. 

Was verstehen wir unter Servitutenrecht? 


479 


Streng juristisch betrachtet, versteht man darunter das Recht, 
ein fremdes immobiliares Gut bis zu einer bestimmten Grenze fur 
persönlichen Bedarf benuken zu dürfen. Im russischen Recht findet 
man keine klare und bestimmte Definition dieser Rechtsform. Es 
sind von Zeit zu Zeit nur Verordnungen und Ukasy von der russi- 
schen Regierung erlassen worden. Während der Leibeigenschafts- 
epoche konnte das Servitutenrecht keinesfalls die Bedeutung von 
„Nußnießung an fremden Gütern“ haben, da bekanntlich sowohl der 
Boden als auch die Bauern selbst Eigentum des Gutsherrn waren, 
und dieser das Recht der Nußniezung zu jeder Zeit zurückziehen 
konnte. Erstnach Aufhebung der Leibeigenschaft kam das Servituten- 
recht zu seiner richtigen Anwendung. 

Wie ist nun in Weißrußland das Servitutenrecht entstanden? 

In den Gouv. Minsk, Witebsk, Mohilew (teilweise auch Smolensk), 
die früher dem Großfürstentum Litauen angeschlossen waren, wurde, 
wie erwahnt, die Leibeigenschaft durch die Lubliner Union (1569) 
zwangsweise eingefuhrt. Durch diese politische Union trat auch eine 
völlige Veränderung in der wirtschaftlichen Lage der verhältnismäßig 
freien weißrussischen Bauern ein. Den Bauern wurden nach den 
Gesefen des polnischen Staates der Bodenbesik, ihre persönliche 
Freiheit und die bis dahin bestehende Gemeindegerichtsbarkeit ge- 
nommen. Diese Entrechtung führte zu großen Aufstanden. Die pol- 
nische Regierung versuchte, diese Aufstände auf administrativ-poli- 
zeilichem Wege zu unterdrücken. Die Maßnahmen der Regierung 
hatten eine starke Emigration, die sich nach den benachbarten grob- 
russischen Gouvernements richtete, zur Folge. Durch diese Massen- 
flucht der Bauern entstand für die Gutsherren die Gefahr, ohne Ar- 
beitskräfte zu bleiben. Die Gutsbesiker waren daher gezwungen, 
den Bauern gewisse Konzessionen zu machen, und zwar bestanden 
diese Konzessionen darin, daß den Bauern das Recht gewährt wurde, 
„bis auf weitere Verordnung des Gutsherrn“ ihren Boden frei zu 
bewirtschaften. Es wurden ihnen von den Guisherren sogenannte 
„inventare“ (Gutscheine) ausgehändigt. In diesen Inventaren wurde 
die Größe des Bauernbesiktums und die Höhe der dem Gutsherrn 
zu entrichtenden Leistungen festgesetzt. Diese Gutscheine sollten 
den Bauern angeblich eine Garantie dafür bieten, daß nach Auszah- 
lung der gesamten Summe der Boden völlig in ihren Besitz über- 
gehen würde®). 

Diese Garantie nahm aber eine andere Wendung mit dem Uber- 
gang dieses Gebiets an Moskau. Die Gefahr der Bauernaus- 
wanderung wär bereits behoben, nun hatte man die Bauern voll- 
kommen in den Händen, und man zwang sie wieder unter das Joch 
der Leibeigenschaft — sie wurden enteignet, und ihre Inventare ver- 
loren vollkommen ihre Gültigkeit. Man überließ ihnen nur ganz un- 
bedeutende Rechte, wie z. B. das Recht, das Vieh auf den guisherr- 
lichen Ländereien weiden zu lassen, wie auch das Sammeln von Wald- 
fruchten und dergl., was man als Servitutenrechte bezeichnete. 


) L. S. Ligékov „Die Servitutenrechte", Petersburg 1900. 


480 


ee —— —— —— 


Im Jahre 1847 veröffentlichte die russische Regierung einen Ukas, 
worin den Inventaren ihre Gültigkeit wieder verliehen wurde, was 
sich aber wieder nur auf die Servitutenrechte beschränkte. Das 
Manifest vom 19. Februar erwähnte das Servitutenrecht mit keinem 
Worte. Es entstanden infolgedessen verschiedene Mißverständnisse 
und Streitigkeiten zwischen Bauern und Gutsherren, so daß die Re- 
gierung gezwungen war, einen Ukas (4. April 1865) zu erlassen, in 
dem das Servitutenrecht geregelt wurde. Laut diesem Ukas be- 
schrankte sich das Servitutenrecht auf die „Toloka“, d. h. das ge- 
meinsame Recht sowohl der Bauern als auch der Gutsherren, die 
Herden auf dem Brachland und den abgemähten Feldern weiden zu 
lassen. In Wirklichkeit machten nur die Bauern, für die dieses Recht 
eine große wirtschaftliche Bedeutung hatte, von ihm Gebrauch. 

Im Laufe der Zeit mußte sich das Servitutenrecht immer mehr 
einengen. Dies war erstens die Folge des Übergangs von der Drei- 
felderwirtschaft zur Fruchtwechselwirtschaft auf den herrschaftlichen 
Gütern, wodurch eine Verringerung des Brachlandes erfolgte. Zwei- 
tens wurde überhaupt eine intensivere Wirtschaft mit Frühsaat und 
Spaternte betrieben, wodurch ebenfalls die Möglichkeit einer Brach- 
landnukung begrenzt wurde. Außerdem wurden viele Wälder im 
Laufe der Zeit abgeholzt und in Ackerland verwandelt. 

In dieser neu entstandenen Situation kam es sehr häufig zu 
Streitigkeiten zwischen den Gutsherren und den Bauern, und bei 
jeder Gelegenheit wurde deswegen von den Gutsherren allerseits 
die Aufhebung des Servitutenrechtes gefordert. 

Leider fehlt es an Materialien über die Formen und die zahlen- 
mäßige Verbreitung des Servitutenrechts in den weißrussischen Gou- 
vernements. Eines aber steht fest, daß es in den Gouv. Minsk, 
Witebsk und Mohilew Servitutenrechte gegeben hat, während man 
dafür im Gouv. Smolensk keine Beweise finden kann. Aber selbst 
für das Gouv. Mohilew sind die betreffenden Materialien nur sehr 
mangelhaft. Im Jahre 1889 hat die russische Reichsbank, unter deren 
Aufsicht die ,Auslosungsakten“ der Bauern zur Zeit der Auf- 
hebung der Leibeigenschaft standen, einen Bericht über das Ser- 
vitutenrecht im Gouv. Minsk und in den östlichen Kreisen des Gouv. 
Witebsk herausgegeben. Sicherlich haben sich die Ziffern im Laufe 
der Jahre geändert. Im großen und ganzen jedoch sind sie noch 
maßgebend. 

Laut diesem Bericht der Reichsbank waren in den 9 Kreisen des 
Gouv. Minsk 3041 Auslösungsakten eingetragen, wovon 2894 im Be- 
sige der Reichsbank waren. Diese 2894 Auslösungsakte erstrecken 
sich auf 83 168 Bauernhöfe, von denen 49 248 das Servitutenrecht in 
Anspruch nahmen. In den vier östlichen Kreisen des Gouv. Witebsk 
waren 252 Auslösungsakten vorhanden, wovon 428 im Besitze der 
Reichsbank waren, sie repräsentierten 18 211 Bauernhöfe, und 8401 
von ihnen hatten Servitutenrechte. 

Wie wir sehen, haben fast 50% der Gutsbauern das Servituten- 


481 


recht in Anspruch genommen. Fast das selbe Verhältnis finden wir 
auch im Gouv. Mohilew. 

Wie gesagt, äußerte sich das Servitutenrecht in verschiedenen 
Formen. Die meistverbreitete Form war das Recht der Bauern, das 
Brachland und die abgemahten Felder als Weide zu benutzen, wäh- 
rend sich das gleiche Recht bezüglich des Waldbodens nur selten 
vorfindet. Eine beträchtliche Zahl der Bauern hatte gleichzeitig 
mehrere Servitute. Die Nußnießung erstreckte sich in den meisten 
Fällen auf ganze Gemeinden, es waren jedoch auch Dörfer zu finden, 
in denen sie einen individuellen Charakter trug; sie wird daher in 
die Rubrik der bäuerlichen kollektiven Bodennugung eingereiht. 


B. Die Formen der individuellen Bodennufung 
in Weißrußland. 


Eine Bodennugung auf individueller Grundlage in Weißrußland 
kam vor allem auf dem gutsherrlichen Großgrundbesitz, auf dem 
bäuerlichen Privatbesitz und auf dem Großgrundbesitz der Industrie 
in Anwendung. Ferner wurde auch das bäuerliche Pachiland in den 
meisten Fällen individuell bewirtschaftet. Auch auf dem bäuerlichen 
Anteillande war die Bodennukung individuell, besonders in den Dorf- 
gemeinden, wo keine allgemeine Umteilung des Terrains stattge- 
funden hatte. 5 

Was nun den Großgrundbesitz anbetrifft, so wurde er entweder 
nach den alten überlieferten Prinzipien der Leibeigenschaftsepoche 
(Teilpacht oder Arbeitslohn in natura) oder kapitalistisch betrieben 
(gemietete Arbeitskräfte, die Produktion war nicht für die Bedarfs- 
deckung, sondern für den Markt bestimmt usw.), insbesondere dann, 
wenn der Betrieb ‘nicht allein auf Ackerbau eingestellt war. Etwas 
alte war die Nubungsart auf dem bäuerlichen privaten Boden- 

esik. 

Der bäuerliche private Bodenbesi5 (859794 Deßj.) verteilte sich 
auf 21485 Bauernwirtschaften, so daß auf jede Wirtschaft durch- 
schnittlich 40 Deßj. kamen. Diese Wirtschaften waren entweder in 
kleine Gruppen von 10—20 Höfen geteilt oder lagen zerstreut als 
Einzelhofe (,,Jednosialiby“). Letztere Form findet man sehr häufig 
in den westlichen Kreisen Weißrußlands, in den östlichen Kreisen 
dagegen war der bäuerliche persönliche Bodenbesitz oft mit dem 
Anteilland vermengt. Aber sowohl bei den Einzelhöfen als auch bei 
den Bauern, die in kleinen Hofgruppen lebten, war der Besitz in Ge- 
mengelage verstreut. Abgerundete Sonderbesike, wie ihn der 
Chutor und Ofrub darstellen, waren nur selten zu finden. Erst zu 
Ende des 19. Jahrhunderts wurde hierher aus den benachbarten 
litauischen (Gouv. Kowno) und lettischen (westlicher Teil des Gouv. 
Witebsk) Kreisen die Bestrebung „auf einen Chutor und Otrub uber- 
zugehen“ übertragen (besonders im Gouv. Minsk und Witebsk), jedoch 
trug diese Bewegung einen begrenzien Charakter und kann keines- 
falls als Massenerscheinung angesehen werden. Aber selbst in den 


482 


wenigen Fällen, wo eine „Verkoppelung“ der Wirtschaft (wie der 
fachtechnische Ausdruck lautet) stattgefunden hatte, beschränkte sie 
sich ausschließlich auf das Ackerland, dagegen unterlag das Wiesen- 
und Weideland wie zuvor der gemeinschaftlichen Benutzung. überall 
war der Streubesitz und Flurzwang vorherrschend, insbesondere in 
den Gemeinden, wo der bäuerliche Privatbesitz mit dem Anteillande 
vermengt war. 

In der Betriebsart der bäuerlichen privaten Wirtschaften handelte 
es sich meist um bäuerliche Großbetriebe, die sich immer mehr dem 
kapitalistischen Betriebe näherten. Es waren zwar der Besifer wie 
auch seine Familienmiiglieder im Betriebe tätig, aber es wurden auch 
gemietete Arbeitskräfte beschäftigt. 

Außer dem individuellen bäuerlichen Besitzer nutzten auch die 
Besitzer des Anteillandes in den Kreisen, wo keine allgemeine Um- 
teilung stattfand, z. B. im Gouv. Minsk, in den westlichen Kreisen des 
Gouv. Witebsk usw. ihre Bodenfläche auf individueller Grundlage. 
Zwar war auch hier eine gemeinschaftliche Benutzung des Wald- und 
Wiesenlandes zu konstatieren, die Wirtschaften blieben überall der 
Dorfgemeinde angegliedert und waren von ihr gewissermaßen ab- 
hängig, das Ackerland wurde jedoch ganz individuell genuft. 

Eine besondere Art der individuellen BodennukungbildetediePacht- 
wirtschaft, die ich einer besonderen Behandlung unterziehen möchte. 


Die Pachtwirtschaft. 


In Weißrußland bestanden zweierlei Hauptarten von Pachtwirt- 
schaft: Die erste war die großbäuerliche Pacht (die sogenannte 
„Unternehmungspacht“), die als ein Mittel zur Geldeinnahme durch 
Vergrößerung des Ackerlandes angesehen wurde. Diese Art der 
Pacht trug also einen Unternehmungscharakter in mehr oder weniger 
kapitalistischem Sinne. Das gepachiete Land wurde in den meisten 
Fällen von gemieteten Arbeitskräften bebaut und der Bodenertrag 
für den Markt bestimmt. Die zweite Art der Pachtwirtschaft war die 
sogenannte „Ernährungspacht“, die von den ärmeren Bauernschichten 
als ein Mittel, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, betrachtet wurde. 
Meist handelte es sich um ganz kleine Bodenstreifen, die von den 
Bauern selbst bestellt wurden, und deren Ertrag für den person- 
lichen Bedarf des Bauern bestimmt war. Selbsiverstandlich gab es 
unter diesen beiden Hauptarten der Pachtwirtschaft noch verschiedene 
Zwischenstufen. Der Unterschied zwischen den beiden angeführten 
Pachtarten lag nicht nur in den bereits erwähnten Merkmalen, es 
spielte hierbei auch die Höhe des Pachtzinses eine bedeutende Rolle. 
Der kapitalistische Pächter, der in der Regel größere Bodenflächen 
und auf eine längere Frist pachtete, zahlte einen viel niedrigeren 
Pachizins als der arme Pachter, der aus Mangel an Kapital nicht in 
der Lage war, größere Bodenflachen zu pachten und langfristige 
Pachivertrage abzuschließen. Der Kleinpächter mußte daher seine 
Arbeitskraft niedriger einschätzen, um den hohen Pachizins zahlen 
zu können, was zur Folge hatte, daß er durch die Pacht sogar seine 


485 


Familie nicht ernähren konnte und die Ernährungspacht zur sogenann- 
ten „Hungerpachf“ herabsank. 

Noch ein Unterschied zwischen den beiden Pachtarten liegt darin, 
daß, während der Zins bei der kapitalistischen Pacht ein in bar ge- 
zahlter Geldzins war, er für die Ernährungspacht in vielen Fallen, 
besonders in den Kreisen, wo ein Mangel an landwirtschaftlichen 
Arbeitskräften herrschte, durch Arbeitsleistung gezahli wurde. Dieser 
»Arbeitspachizins“ war gewöhnlich bedeutend höher als der Geld- 
pachizins. 

Der Arbeitspachizins wurde den Bauern vom Gutsherrn-Ver- 
pächter aufgezwungen, der dadurch eine viel höhere Rente erzielte 
als durch Geldzahlung. Im statistischen Jahrbuch von 1899 finden wir 
darüber folgenden Saf: „Geldpächter gibt es sehr wenig, nicht nur 
deshalb, weil die Bauern kein flüssiges Geld besitzen, sondern auch, 
weil die Gutsbesitzer durch die Verpachtung ihres Bodens sich ein 
genügendes Kontingent von Arbeitskräften sichern wollen.“ 

Der Arbeitspachtzins hatte für die Bauern noch einen großen 
Nachteil insofern, als sie vom Gutsbesitzer völlig abhängig wurden. 

Der Kleinpächter bebaute sein gepachietes Land extensiv, da ihm 
ersiens zu einer intensiven Bearbeitung die Mittel fehlten, und zwei- 
tens, da die Kurzfristigkeit der Pacht eine wesentliche Rolle spielie. 
Der Kleinpächter, der nicht die Sicherheit dafür hatte, später den 
durch ihn verbesserten Boden benußen zu können, suchte daher mög- 
lichst viel aus dem Pachtland bis zum Fristablauf herauszuschlagen. 

Infolgedessen verringerte sich der Bodenertrag, und die wirt- 
schaftliche Lage des Kleinpachters verschlimmerte sich. Die kapita- 
listische oder die Unternehmungspacht war, wie bereits erwähnt, zum 
größten Teil unter den wohlhabenden Bauern und Kaufleuten ver- 
breitet. Diese Art der Pacht konnte nur in denjenigen Gebieten 
größere Dimensionen annehmen, in denen die Kleinpacht infolge der 
besseren Lage der Bauernschaft nur schwach vertreten war. 

Verfolgen wir nun die Pachtverhältnisse im einzelnen in Weiß- 
rußland. 

Zuerst sei vorausgeschickt, daß die bäuerliche Pachtwirtschaft in 
Weißrußland erst zu Ende des 19. Jahrh. sich zu entwickeln und all- 
mählich größere Dimensionen anzunehmen begann. So berichtet 
Prof. Janson, daß zu Anfang der achtziger Jahre im Gouv. Minsk 
die bauerliche Pachtwirtschaft eine seltene Erscheinung war. Das 
gleiche ist über die Gouvernements Smolensk und Mohilew zu lesen. 
Eine bäuerliche Pachthaltung ist erst in den neunziger Jahren des 
vorigen Jahrhunderts festzustellen. Prof. Jastremsky gibt uns 
für das Gouv. Minsk folgende Ziffern für das Jahr 1894 an: Insgesamt 
wurden gepachtet etwa 274 000 Deßj., davon 108000 Dekj. durch 
Bauern. 

Die durchschnittliche Größe einer Pachtwirtschaft war 15,8 Deß;i. 
Der Pachtzins machte 2,75 Rubel pro Deßjatine aus. Laut den amt- 
lichen Angaben von 1902 wurden im Gouv. Minsk 125000 Deßj. von 
den Bauern gepachtet. Der Pachtzins wurde in den meisten Fällen in 


484 


a 
6 


Geld beglichen (94%). Dagegen war die Unternehmungspacht im 
vorigen Jahrhundert hier sehr stark verbreitet (1887 waren 6243 adlige 
Guishofe mit einer Bodenfläche bis 1 Million Deßjatinen verpachtet). 
Im 20. Jahrhundert verringerte sich die Unternehmungspachi, was auf 
eine gewisse Besserung in der wirtschaftlichen Lage des Adels in 
Weißrußland schließen läßt. 

Im Jahre 1904 wurden hier 6828 Pachivertrage über eine Boden- 
flache von insgesamt 106 247 Dekj. in den ,,Wolosten“ (Bezirksver- 
waltungen) abgeschlossen. Es wurden außerdem noch 4363 Pacht- 
verträge über eine Bodenfläche von insgesamt 157 826 Deßj. notariell 
eingetragen. Wir haben es also mit 11 292 Pachivertragen über cine 
Gesamtfläche von 264 072 Dei. zu tun, die 13,6% des gesamten Anteil- 
landes beträgt (laut den Ergebnissen der Zählung vom Jahre 1905). 
Die Pächter gehörten fast ausschließlich dem Bauernstand an. 68,6% 
der Pächter pachteten das Land vom Adel, 16,1% von den Stadiver- 
waltungen und 7,6% vom Staate. Der Rest verteilte sich auf sonstige 
Verpächter. Der Fläche des gepachieten Bodens nach bildete der 
des Adels 92% des gesamten Pachtlandes. Die gepachteten Arealien 
betrugen zum größten Teil nicht mehr als 10 Deßj., stellten also 
Ernährungspachten dar. Der Pachtzins war hier bedeutend höher 
als in den großrussischen Gouvernements. So z. B. betrug der 
Geldpachizins im Gouv. Moskau im Jahre 1900 2,6—3,0 Rubel pro 
Deßjatine, im Gouv. Wladimir 2,6—2,7 Rubel pro Deßjatine, während 
er hier 3,6—3,9 Rubel pro Deßjatine ausmachte. Am höchsten war 
der Pachtzins für Pachtungen bis zu 5 Deßj. Bemerkenswert ist auch 
die Erscheinung, daß, obwohl die Gutsbesifer in diesem Gouverne- 
ment fast die alleinigen Verpächter waren, der Pachtzins meist in 
Geld gezahlt wurde (94%). Der Arbeitspachtzins machte nicht mehr 
als 3% und der Teilpachtzins (Anteil an der Ernte) nicht mehr als 
28% aus. Das ist, glaube ich, dadurch zu erklären, daß die Guts- 
besitzer hier keinen Mangel an Arbeitskräften halten, dagegen 
einen großen Mangel an Bargeld. Der verhältnismäßig hohe Pacht- 
zins in diesem Gouvernement trok der schlechten Bodenqualitat ist 
dadurch zu erklären, daß die Gutsherren als einzelne Verpachter auf- 
traten und außerhalb jeder Konkurrenz standen. 

Die Pachifrist war abhängig von der Art der Pachtung — die 
Unternehmungspacht war eine langfristige bis zu 9 Jahren (etwa 30%). 
Die übrigen Verpachtungen waren kurzfristig von 1—3 Jahren, und 
von dieser Zahl betrug die einjährige Frist 34%. 

Im Gouv. Witebsk wurde im Jahre 1907 von 28 319 Bauern (16,5% 
aller Bauernhöfe) eine Gesamtfläche von 150426 DeBj. (12,2% des 
Anteillandes) gepachtet. Von dieser Bodenfläche waren 68 642 Def). 
(5,5%) Anteilland und 81 784 (6,7%) Privatboden. Die Bauern waren 
hier jedoch nicht die alleinigen Pächter. Es wurden auch von anderen 
Schichten, besonders vom Bürgerstand, 0,4% des Anteillandes ge- 
pachtet. Die Zahl des gesamten Pachtlandes belief sich also auf 
12,6% des gesamten Anteillandes. Auch in diesem Gouvernement 
haben wir es überwiegend mit Kleinpächtern zu tun. Die durchschnitt- 


485 


liche Größe eines Pachtareals betrug 3,5 Deßj. Der Pachtzins war 
hier noch höher als im Gouv. Minsk, er machte 3,3—4,6 Rubel pro 
Defjatine aus. Aus diesem hohen Pachizins ist zu schließen, daß die 
Nachfrage nach Pachtland eine sehr starke war. 

Noch schlimmer lagen die Verhältnisse im Gouv. Mohilew. Leider 
fehlen genaue Angaben über die Zahl und Menge des gepachteten 
Landes; aber schon der hohe Pachizins (im Jahre 1900 erreichte er 
die Höhe von 9,9 Rubel pro De j.) läßt vermuten, daß auch in diesem 
Gouvernement die Nachfrage nach Pachtland außerordentlich stark 
gewesen war. Allerdings ist hierbei auch zu berücksichtigen, dag 
große Bodenflächen hier nicht nur für den Anbau von Getreide, 
sondern auch für den Anbau von Hanf und Flachs, die nicht für den 
eigenen Verbrauch, sondern für den Markt bestimmt waren, gepachtet 
wurden. Die Bauern bauten diese Kulturen an, obwohl in der Regel 
der Reinertrag aus ihnen niedriger war als aus Getreide, weil sie 
bestrebt waren, ihre überschüssigen Arbeitskräfte voll auszunutzen. 
Bekanntlich erfordern ja diese Kulturen einen viel größeren Aufwand 
von Arbeit als Getreide. 

Die höchsten Ziffern der Verpachtungen sowohl absolut als auch 
relativ hatte das Gouv. Smolensk aufzuweisen. Hier wurde im Jahre 
1901 eine Bodenfläche von 530 Tausend Deß;j. (rund) gepachtet, was 28% 
des Anteillandes (oder 19% des gesamten anbaufähigen Bodens) 
ausmachte. Der höchste Prozentsab der Pachtungen kam auf die 
östlichen Kreise. So z. B. wurden im Kreis Wjazma 34%, im Kreis 
Syéev 28% des Anteillandes gepachtet, die Pachtungen von 
Weideland, die hier 37% des gesamten Pachtlandes bildeten, sind 
hierin nicht inbegriffen. Der Pachizins stellte sich hier wie folgt: 
51% des gesamten Pachtlandes wurden gegen Geldleistungen ge- 
pachtet, gegen Arbeitsleistung 16,6% — gegen Teilpacht 3% , gegen 
gemischten Pachtzins 29,4%, wobei der Zins für das von Privat- 
besitzern gepachtete Land meist in natura beglichen wurde. 

Das Anteilland wurde langfristig gepachtet (etwa zu 75%), bei 
Nichtanteilland dagegen war die Pacht ausschließlich kurzfristig und 
zu % nur einjährig. 

Die Höhe des Pachtzinses pro Deßjatine war hier fast die gleiche 
wie in den großrussischen Gouv. Moskau, Kaluga u. a.: von 2,5—2,9 
Rubel pro Deßjatine. 

Im Vergleich mit den Verhältnissen im europäischen Rußland 
muß für Weißrußland (außer Gouv. Smolensk) eine geringe Entwick- 
lung der Pachtwirtschaft festgestellt werden (im europäischen Rub- 
land bildete das Pachtland etwa 20% des Anteillandes, und 37% der 
Bauernwirtschaften waren Pächter). 


Kapitel 4. 
Die Stolypinsche Agrarreform (1906—11) in Weißrußland. 


Bekanntlich gehörte Weißrußland zu denjenigen Gebicten Ruß- 
lands, in denen die Reformarbeiten sehr große Dimensionen an- 


486 


genommen hatten. Bevor wir jedoch auf die einzelnen Maßnahmen 
der Reformarbeit und auf ihre Auswirkungen näher eingehen, soll 
zunächst nur der Stand der bäuerlichen Landwirtschaft in Weißruß- 
land kurz vor der Stolypinschen Agrarreform skizziert werden. 


A. Die bäuerliche Landwirtschaft in Weißrußland 
vor der Stolypinschen Ägrarreform. 


Die weißrussische Bauernschaft hatte, wie erwähnt, unter einem 
großen Bodenmangel zu leiden. Bereits zur Zeit der Aufhebung der 
Leibeigenschaft bildeten die Wirtschaften, die bis zu 2 Deßj. pro 
männliches Familienmitglied Anteilland erhalten hatten (was bei den 
damaligen Verhältnissen als äußerst geringer Anteil angesehen 
wurde), 8% der Gesamtzahl. Zählen wir noch die Wirtschaften der 
„Beffelländler“ hinzu, die, wie erwähnt, völlig landlos aus der Leib- 
eigenschaft kamen, so finden wir, daß fast 15—20% der Wirtschaften 
bereits damals entweder landlos oder landarm waren. Zu Ausgang 
des vorigen Jahrhunderts stieg ihre Zahl infolge der Bevölkerungs- 
vermehrung und Zerstückelung der Wirtschaften (die Zahl der Bauern- 
wirtschaften in Weißrußland hat sich von 1877—1905 fast um 60% 
vergrößert) auf das Funffache und in manchen Kreisen sogar höher. 
So z. D. berechnete für Weißrußland Prof. Marres die Verteilung des 
bäuerlichen Bodenbesibes im Jahre 1896 pro Revisionsseele wie folgt: 
bis zu 1 Deßj. pro Revisionsseele hatten 14,5%, von 1—1,5 DeBj. 
56,2%, von 1,5—2 DeBj. 19,1% und mehr als 2 Deßj. pro Revisions- 
seele 10,2% der Gesamtzahl der Bevölkerung, d. h. daß etwa 90% 
der Bauernschaft in Weißrußland weniger als 2 Deßj. pro Revisions- 
seele besaßen, welcher Besik, wie gesagt, unter den damaligen Ver- 
hältnissen als gering angesehen wurde. Laut der Zählung von 1905 
war die Zahl der landarmen Wirtschaften noch höher gestiegen. 
Die Wirtschaften mit einem Bodenbesif bis zu 5 Deßj. umfaßten etwa 
eine halbe Million Köpfe. Außerdem waren etwa 250 000 Dorffamilien 
(oder 1,3 Millionen Seelen) überhaupt landlos, d. h. daß etwa % der 
Dorfbevölkerung in Weißrußland entweder überhaupt landlos oder 
im besten Falle landarm war. Und dies, nachdem die Bauernschaft 
Weißrußlands mehr als 2,6 Millionen Deßjatinen Boden im Laufe der 
Zeit erworben hatte’). Die Bereicherung an Bodenbesitz konnte also 
bei der Bauernschaft mit dem enormen Bevölkerungszuwachs keines- 
falls Schritt halten. 

Diese Schar der landiosen und landarmen Bauern in Weißrußland 
bildete einen ungeheuren Überschuß an Arbeitskräften im Dorfe. 
Nach den Berechnungen von S. A. Korolenko lim Auftrage des da- 


1) Im Jahre 1877 waren im Besitze der Bauern aller Kategorien (Besitzer 
von privatem Boden und von Anteilland) 6851 Taus. Debi., während sie 1905 
9526 Taus. Deßj. besaßen. Es ergibt sich somit ein Zuwachs von 2675 Taus. Dei. 
oder 9%. Aber trob dieses großen Zuwachses war im Besibe der Bauern- 
schaft i. J. 1905 nicht einmal die Hälfte der gesamten Bodenfläche, wie es 
in anderen Gouvernements der Fall war. 


487 


maligen Ministers für Landwirtschaft) betrug dieser in den achtziger 
Jahren des vorigen Jahrhunderts in: Minsk = 33,9%, Witebsk = 46,1%, 
Mohilew = 41,5%, Smolensk = 38,9% der gesamten Dorfbevölkerung. 

Sehr charakteristisch für den Zustand im weißrussischen Dorfe 
zu Beginn dieses Jahrhunderts sind die Angaben des Gesefprojektes 
der Regierungsbevollmächtigten vom 21. Dezember 1905?). Die Zahl 
der landarmen Bauern („Seelen“) in den vier weißrussischen Gouver- 
nements wird dort mit 2967 Tausend angegeben. Diesen Bauern 
fehlten 7940 Tausend Deßj. Boden zur Größe einer normalen bäuer- 
lichen Wirtschaft vom Jahre 1861. 

Der überschüssige Landfonds bei der Bauernbank bestand hier 
aus 3377 Tausend Deßj. anbaufähigen Bodens (davon gehörten dem 
Staate nur 27 Tausend Deßj.). Außerdem war noch ein Waldboden- 
fonds von 6639 Tausend Deßj. vorhanden, also, selbst wenn man den 
Staatsboden und 25% des Waldbodenfonds urbar gemacht und den 
Bauern übergeben hätte (wodurch man eine Bodenfläche von 1687 
Tausend Deßj. hätte gewinnen können), so hätte dies noch lange nicht 
ausgereicht, um den Bodenmangel der Bauernschaft zu befriedigen. 
Es wurde daher die logische Konsequenz gezogen, daß außer dem 
gesamten Staatsboden noch ein Teil des privaten Ackerlandes (50%) 
enteignet werden müsse, um ihn unter den Bauern zu verteilen. Aber 
selbst dann, wenn die Bauernschaft nur 4111 Tausend Deßj. Boden 
bekäme, würde sie dennoch die Norm vom Jahre 1861 nicht erreichen. 

Laut den dort angeführten Zahlen kamen pro männliches 
Familienmitglied (Boden in Deßjatinen): 


Urbarmachung 
Alte des] von 2. des 
Waldbodens 


Minsk 

Witebsk . . 9 
Mohllew . . 28 
Smolensk . 55 


Diese Zahlen sind zwar nicht kritiklos hinzunehmen, da sie nicht 
ohne Tendenz zusammengestellt sind, aber immerhin werfen sie ein 
Licht auf die damalige Lage im weißrussischen Dorfe. 

Ziehen wir noch in Betracht, daß in Weißrußland der Prozentsatz 
des anbaufähigen Bodens geringer als in dem übrigen europäischen 
Rußland war, und berücksichtigen wir die Tatsache, daß der Boden 
in Weißrußland für den Anbau von stoffreichen Kulturen nicht be- 
sonders geeignet war, so ist es verständlich, daß die Lage der Mehr- 
zahl der Bauernschaft eine schlechte sein mußte. Noch ein wichtiges 
Moment zur Verschlechterung der Lage der Bauernschaft war auch 
die fortwährende Verminderung des Arbeitsviehes. So z. B. bildeten 
die pferdelosen Wirtschaften folgende Prozentsätze der Gesamtzahl 
der Wirtschaften: 


2) „Die Agrarreform im Ministerrat” (Geheimakten), Moskau 1924. 


488 


Also, außer im Gouv. Minsk ist mit jedem Jahre ein Steigen 
der Zahl der pferdelosen Wirtschaften zu konstatieren. Die größte 
Gruppe (fast bis 50%) bildeten die Wirtschaften mit einem Pferd, 
und nur einen geringen Prozentsatz der Wirtschaften bildete die 
Gruppe mit mehr als vier Pferden lim Jahre 1900 = 6,7%, 1893 — 8%). 
Im Vergleich zum europäischen Rußland fiel der Prozeß der Ver- 
armung des Dorfes an Arbeiisvieh (Pferde) in Weißrußland ganz 
anders aus. So z. B. bildeten die pferdelosen Wirtschaften im euro- 
päischen Rußland im Jahre 1900 = 24,7%, während sie in Weißruß- 
land etwa 16% ausmachten, dagegen ist in Weißrußland der Prozent- 
sak der Wirtschaften mit 2—3 Pferden bedeutend niedriger als im 
europäischen Rußland, was auf cine größere Zahl der wohlhabenden 
bäuerlichen Wirtschaften in Rußland schließen lagt’). 

Die Mehrzahl der Bauern mußte auf ihrem Boden Broigetreide, 
besonders Roggen anbauen, und es fehlte ihr die Möglichkeit, 
Viehfutter anbauen zu können, was andererseits zur Folge hatte, daß 
die Produktivität der Landwirtschaft durch den Mangel an Arbeits- 
vieh und Diingemitteln zurückging?®). 

Als Illustration der Lage des weißrussischen Dorfes möchte ich 
noch zwei offizielle Dokumente hier zitieren. Von großem Interesse 
ist vor allem der Bericht über die westlichen Kreise des Gouv. Smo- 
lensk, der in den siebziger Jahren durch die „Kommission zur Er- 
forschung der Landwirtschaft“ herausgegeben wurde. Dort heißt es 
u. a., daß fast überall das Anteilland nicht genügend Mittel für die 
Erhaltung der Bauernwirtschaften gebe. Die Lage der Bauernschaft 
sei bei weitem nicht gut, die Bodenerträge seien schlecht, und die 
Bauern müßten bereits im Januar Brot kaufen. Diejenigen Bauern- 
wirtschaften, die ihr eigenes Brot für das ganze Jahr haben, bildeten 
hier eine Seltenheit und seien in der ganzen Gegend bekannt. Sehr 
ergreifend ist eine Petition der Bauernschaft des Gouv. Witebsk 
an die Regierung vom Jahre 1904/05, in der es heißt: 

...„Wenn unser Leben unter den jetzigen Bedingungen fort- 
dauern soll, so sind wir innerhalb von 15—20 Jahren sämtlich 

Hungers gestorben. Womit wir uns ernähren? — das weiß nur 


. ) Auf die Viehzucht im allgemeinen komme ich noch später ausführ- 
licher zu sprechen. 

„ J Prof. P. Wichlajev sagte darüber folgendes: „Alle Bauerngruppen 
näherten sich der Gruppe der pferdelosen Wirtschaften, da die Vichhaltung 
nur unter der Reduzierung der menschlichen Bedürfnisse vor sich gehen 
kann.“ („Verteilung der landwirtschaftlichen Betriebe nach dem Arbeits- 
vieh“, Petersburg 1900.) 


489 


Gott! Besonders in der Fastenzeit. Um gar nicht erst von den 
Reicheren zu sprechen, eines mittleren Stadibürgers Hund sogar 
würde das verschmähen, womit wir uns erhalten müssen. Im 
Frühjahr wird ein Stück harten schwarzen Brotes unter die 
Kinder als Leckerbissen verteilt...“ 

Fast dieselbe Lage war auch in den anderen Gouvernements Weiß- 
rußlands zu verzeichnen. Im Gouv. Mohilew z. B. betrugen die Ein- 
nahmen eines Bauern fast nur die Hälfte der Summe, die er als 
Steuern zu zahlen hatte. 

So war die Lage der weißrussischen Landwirtschaft zu Beginn 
des Jahrhunderts kurz vor der Agrarreform. 

Und nun zu den Ergebnissen der Reformarbeif in Weißrußland. 


B. Die Reformarbeiten in Weißrußland. 


Wie gesagt, gehörte Weißrußland zu den Gebieten Rußlands, in 
denen die Agrarreformarbeiten große Dimensionen angenommen 
hatten. Die Reformarbeiten erstreckten sich hier auf folgende drei 
Hauptgebiete: Erstens auf die Landeinrichtungsarbeiten (Auflösung 
der Feldgemeinschaft und Verkoppelung der Grundstücke in Sonder- 
besitzel, zweitens auf den Erwerb von Bodenflächen seitens der 
Bauern und drittens auf die Ubersiedlung nach Sibirien. Ich möchte 
auf diese Maßnahmen einzeln eingehen. 


1. Die Landeinrichtungsarbeiten. 


In Weißrußland herrschte in den Reihen der Bauernschaft noch 
vor der Entstehung des Gesetzes von 1906 eine Bewegung für die 
freiwillige Auflösung des Gemeindebesigfes und für die Verkoppelung 
der Sonderbesike. Schon im Jahre 1877 war in den nordwestlichen 
Gouvernements (darunter auch Weißrußland) eine Auflösung des 
Gemeindebesiges, der eine Gesamtfläche von 200 Tausend Deßj. aus- 
machte, vor sich gegangen. Der Durchführung der Landeinrichtungs- 
arbeiten stellten sich in Weißrußland verhältnismäßig weniger Hinder- 
nisse enigegen als in anderen Gebieten, und dies aus folgenden 
Gründen: 

In Weißrußland war der Gemeindebesib, wie wir bisher gesehen 
haben, bedeutend schwächer vertreten als in Großrußland. Wir haben 
auch feststellen können, dak sogar der bestehende Gemeindebesib 
seinen Ursprung nicht in der Psyche und Tradition der weißrussischen 
Bauernschaft hatte, sondern eine Erscheinung der lezten Zeit ge- 
wesen ist; wir haben auch gesehen, daß in den Gemeinden entweder 
gar keine oder eine Umteilung in sehr weiten Zeitspannen statt- 
gefunden hatte, so daß die Gemeinde hier nur eine „pro forma An- 
gelegenheit“ war, und nur für die Behörden galt, z. B. bei Steuer- 
entrichtungen und dergl. 

Das Gesek von 1906 bedeutete also für die Bauern Weißrußlands 
lediglich eine Legalisierung der bislang bestehenden Nukungsform 
des Anteillandes. Es ist deshalb sehr verständlich, daß die Austritie 


490 


aus der Gemeinde einen starken Umfang annahmen. Sehr charak- 
teristisch für die Verhältnisse in Weißrußland ist die Aussage des 
Generalrevisors der Agrarorganisation, A. Koefoed. Er schreibt: 

„Schon zur Zeit der Einsetzung der Landeinrichtungskommissionen 
hatte es sich gezeigt, daß die radikale Auseinandersekung mit voll- 
ständiger Absonderung vom Gemeindebesik und dem Aufbau der 
individuellen Gehofte dem Geiste des westrussischen Bauern voll- 
kommen entspricht.“ („Die russische Agrargesekgebung und ihre 
Durchführung in der Praxis“ im Sammelwerk „Rußlands Kultur und 
Volkswirtschaft“, Leipzig 1913.) 

Laut den Angaben von Prof. P. N. Per3in (in seinem Werke 
„Die einzelwirtschaftliche Bodennutzung in Rußland und die Entwick- 
lung der Chutora und Otruba im Laufe des Jahrzehntes 1907 — 1916“, 
Moskau 1922) sind in den weißrussischen Gouvernements im Laufe 
dieser Jahre folgende Bodenmengen verkoppelt worden: Insgesamt 
wurden 1520,9 Tausend Deßj. in Form von „Chutora“ und ,,Otruba“ 
verkoppelt. Davon entfielen auf das Anteilland 1302,5 Tausend De j. 
(oder 18,53% des Gesamtanteillandes im Jahre 1905), 216,0 Tausend 
Deßjatinen auf den bei der Bauernbank neu erworbenen Boden und 
3000 Deßj. auf den Staatsboden. 

Die Zahl der verkoppelten neuen Wirtschaften ist nur bei den 
auf dem Anteillande entstandenen angegeben, und zwar machten 
sie aus: 


Prozentsatz Durchschn 
Absolute 
der verkopp. Größe 
Gouv Zahl der einer 


verkopp. 


Smolensk . 
Weißrußland | 1017897 


Den ersten Plak, sowohl relativ als auch absolut, nahm also das 
Gouv. Witebsk ein, wo die lettischen und die deutschen Wirtschafts- 
formen der benachbarten Gebiete als Vorbild dienten. Außerdem 
war im Gouv. Witebsk ein größerer Prozentsak besser situierter 
Bauern vorhanden (im Jahre 1905 kamen auf über 50% der Bauern- 
wirtschaften mehr als je 10 Deßj. Boden auf eine Wirtschaft), für 
die es leichter war, eine Chutorwirtschaft zu gründen als für die 
landarmen Bauern. An zweiter Stelle steht das Gouv. Smolensk und 
zuletzt das Gouv. Mohilew. Der geringe Prozentsaf der Landeinrich- 
tungsarbeiten für das Gouv. Minsk erklärt sich aus den ungünstigen 
agrogeologischen Bedingungen: der Sitreubesik war im Gebiete der 
großen Sümpfe und weiten Wälder unvermeidlich. 

Nach Durchführung der Reform war der frühere Streubesib all- 
mahlich beseitigt, und fast überall, wo es nur irgendwie möglich war, 


32 NF 5 491 


wurden Sonderbesitze in Form von Chutors und Otrubs gegründet. 
Das ganze Gelände änderte seine Physiognomie. Anstelle der 
früheren Dörfer begegnen wir nach der Agrarreform überall ver- 
streuten Einzelhöfen oder kleinen Gruppen von Gehöften, die gleich- 
mäßig über die Felder verteilt sind. 

Auch der Prozeß der Auslösung des Anteillandes seitens der 
Bauern war hier verhältnismäßig intensiv. Laut den Angaben von 
N. Karpow („Die Agrarpolitik Stolypins“, Moskau 1925) hatten in 
Weißrußland seit dem 9. November 1906 bis zum 1. Januar 1917 etwa 
169,7 Tausend Wirtschaften die Auslösung des Anteillandes gefordert 
(Gouv. Minsk nicht miteingerechnet). Davon haben bis 1917 145,9 Tau- 
send Wirtschaften eine Bodenfläche von 1149,3 Tausend De§j. aus- 
gelöst. Interessant dabei ist, daz von diesen Wirtschaften 122,3 Tau- 
send die Auslösung des Anteillandes freiwillig durch die Dorf- 
gemeinde vollzogen haben. Das beweist, daß die Agrarreform in 
den breiten Schichten der weißrussischen Dorfbevölkerung Sympathie 
gefunden hatte. Der Prozentsatz der ausgelösten Wirtschaften er- 
reichte damals etwa 18—20% der Gesamtzahl der bäuerlichen Wirt- 
schaften (Witebsk 33,8%, Smolensk 19,0% , Mohilew 14,6%, Minsk 8,4%). 

Die Durchführung der Landeinrichtungsarbeiten in Weißrußland 
stieß jedoch auf große Schwierigkeiten. In erster Reihe standen ihr 
die Servitutenrechte im Wege. Durch die Aussonderung einer Wirt- 
schaft aus der Gemengelage wurden oft die Ländereien getroffen, 
die bis dahin dem ganzen Dorfe als Servitut dienten. Die Entschädi- 
gung der servitutenberechtigten Dorfgemeinde oder Einzelpersonen 
konnte daher bei der Abschaffung der Servituten durch die Land- 
einrichtungsarbeit nur auf dem Schäbungswege vor sich gehen, meist 
durch Tausch von Ländereien untereinander. Dies wurde aber in 
Weißrußland besonders durch die Tatsache erschwert, daß hier die 
Bodengualitaten in verschiedenen Orten große Unterschiede auf- 
wiesen, und man mußte daher fast ausnahmslos Kompensationen und 
Vergütungen verschiedenster Art vornehmen, um die Streitigkeiten 
aus der Welt zu schaffen. Später hatte man bei den Ausgleichungen 
den Weg der Verauktionierung eingeschlagen, d. h. die Bauern, die 
eine bessere Bodenqualität erwerben wollten, mußten im Wege der 
Auktion eine größere Menge von ihrem qualitativ schlechteren Boden 
dafür hergeben oder statt dessen Barleistungen bieten. Diese 
Methode der Ausgleichung führte jedoch in vielen Fallen zu sehr 
unwirtschaftlichen Tauschgeschaften, welche die Bauern schwer 
schädigten. Eine weitere große Schwierigkeit für die Durchführung 
der Reform in Weißrußland erwuchs daraus, daß hier ein bedeutender 
Prozentsatz der Bauern ihren Privatbesitz im Gemenge mit dem Anteil- 
land hatten und bekanntlich der Privatbesitz erst nach dem Gesek 
vom 29. Mai 1911 in die Auseinandersekungsarbeiten mit hinein- 
gezogen werden durfte. Es ergaben sich natürlich Reibungen 
zwischen den Privatbesikern und Gemeinden, wodurch die Reform- 
arbeit sehr erschwert wurde. 

Diese Schwierigkeiten, die in der praktischen Arbeit entstanden 


492 


und vom Gesek nicht vorausgesehen werden konnten, waren voll- 
kommen von der Arbeitsfahigkeit der Lokalkommissionen abhängig. 
Durch eine gewisse Vorsicht und Geschicklichkeit konnten alle diese 
Streitigkeiten auf friedlichem Wege erledigt werden. 


2. Der bauerliche Bodenerwerb. 


In einem der vorhergehenden Abschnitte ist bereits auf die Mo- 
bilisation des Bodenbesitzes in Weißrußland bis zum Jahre 1905 hin- 
gewiesen worden. Die Mobilisation ging aber viel stärker in den 
Jahren nach der Agrarreform vor sich, da sie durch die Tätigkeit der 
Bauernbank begünstigt wurde. 

Die im Jahre 1883 gegründete Bauernbank hatte zwar bereits 
zur Zeit ihrer Entstehung offiziell die Aufgabe zugewiesen erhalten, 
den Bauern die Möglichkeit zum Bodenankauf zu geben. In der 
Praxis jedoch verfolgte sie Ziele nach einer ganz anderen Richtung 
hin. In dem Sammelbericht der Bauernbank über ihre Tätigkeit in 
den Jahren 1883— 1904 finden wir unter anderem auch die folgende 
Motivierung ihrer Gründung: erstens, daß diese Maßnahme dazu 
geeignet sei, den „phantastischen Traumereien“ von einer zweiten, 
ergänzenden Landaufteilung, die bis heute in den Köpfen der Bauern 
spukt, ein Ende zu bereiten, und zweitens, um den Mittel- und Groß- 
grundbesitzern zu einer „vorteilhaften Liquidation ihres Besitzes zu 
verhelfen“. Außerdem ersirebte die Regierung mit Hilfe der Bank, 
große Güter des polnischen Adels in den Westgebieten anzukaufen, 
um dieselben später unter die örtlichen russischen Regierungs- 
beamten zu verteilen und auf diese Weise einen rein russischen 
Großgrundbesitz in den polnischen Gouvernements zu schaffen und 
damit „die Ordnung im Lande zu sichern‘“®). 

Dies also waren die Tendenzen der Tätigkeit der Bauernbank, 
und in diesem Geiste, im Interesse des Adels und somit bisweilen im 
Gegensatz zu den Bedürfnissen der Bauernschaft wurde sie bis zum 
Jahre 1905 geleitet. Bis dahin hatte nur eine beschränkte Anzahl 
von wohlhabenden Bauern die Möglichkeit, den Kredit der Bauern- 
bank in Anspruch zu nehmen. Im Laufe von 22 Jahren (1883 — 1904) 
wurden von den weißrussischen Bauern mit Hilfe der Bauernbank 
folgende Käufe getätigt: 1427,9 Tausend Deßj. insgesamt, davon: 
Minsk 44,3 DeBj., Witebsk 144,2 Deßj., Mohilew 418,2 Deßj., Smolensk 
420,2 Deßj.), von denen nur 20% auf die ärmere Schicht der Bauern- 
schaft fielen. 

Im November 1905, als die Befugnisse der Bauernbank er- 
weitert wurden, begann sie tatsächlich eine lebhafte Tätigkeit. Sie 
kaufte große Bodenmengen bei den verarmten Gutsbesifern an, 
um sie später an die Bauern zu verkaufen. Zwar erwuchs durch 
diese großen Bodenankaufe der Bauernbank den Gutsbesifern 
wiederum ein Vorteil, insofern, als die Bodenpreise dadurch eine Er- 


5) Diese Bestrebung der Regierung ist in der Tat in den polnischen 
Gouvernements zum Teil erreicht worden. 


495 


höhung erfuhren, was wir später noch sehen werden; aber nichts- 
destoweniger hat sich die Bauernbank der Bauernschaft gegenüber 
große Verdienste erworben. Dank der Erleichterung der Kredit- 
gewährung und infolge ähnlicher Maßnahmen zugunsten der Bauern- 
schaft, gelang es den Bauern, größere Bodenflächen zu erwerben. 

Im Vergleich mit anderen Gouvernements war die Tätigkeit der 
Bauernbank in Weißrußland nicht besonders rege. Dies kann man 
folgendermaßen erklären: Erstens war hier der Prozentsatz des zum 
Verkauf stehenden Bodens aus den in einem vorherigen Kapitel er- 
wähnten Ursachen bedeutend niedriger als in den übrigen Gouver- 
nements, und zweitens zogen es hier die polnischen Gutsbesiber- 
Bodenverkäufer vor, ihren Boden direkt an die Bauern oder 
Bodenspekulanten ohne Vermittlung der Bauernbank zu verkaufen. 
Der Verkauf an die Bauernbank war für sie (abgesehen von dem 
nationalen sowie wirtschaftlichen Standpunkt) nicht lohnend genug. 
Zunächst, weil durch die damit verbundenen Formalitäten der Ge- 
schäftsabschluß sich lange verzögerte, und ferner, da sie bei pri- 
vatem Verkauf an Spekulanten höhere Preise und Barzahlung er- 
zielen konnten. Sehr charakteristisch für die Einstellung der Boden- 
verkäufer ist folgende Stelle aus dem Vortrag des Vorsitzenden des 
„Gouvernement-Komitees für Landwirtschaft“ in Mohilew, N. A. 
Latz: 

„Die Mehrzahl der Gutsbesitzer vermeidet es, ihre Güter un- 
mittelbar an die Bauern oder selbst durch die Vermittlung der 
Bauernbank zu verkaufen. Sie bevorzugt vielmehr den Verkauf 
durch Bodenspekulanten und Bodenhändler, die sozusagen den 
„ganzen Saft aus dem Boden aussaugen“, bis endlich der Boden an 
die Bauern selbst gelangt... Die Bauernbank ist eine Regierungs- 
institution und — vielleicht — allzu stark Regierungsinstitution.” 
(Materialien der „Ortskomitees für Landwirtschaft“, Petersburg 1903, 
Band 22.) 

Auf diese Weise konnte die Bauernbank kaum 50% der durch die 
Bauern gemachten Bodeneinkäufe vermitteln. Insgesamt wurden in 
den Jahren 1906—1915 durch die Bauernbank in Weıßrußland fol- 
gende Bodenflächen an die Bauern verkauft: Minsk 261,5 Tausend 
Deßj., Witebsk 124,4 Tausend Deßj., Mohilew 321,2 Tausend Deßi., 
Smolensk 408,9 Tausend Deßj. = 1116,9 Tausend Deßj. Es sind also 
während des Jahrzehnts 1906—1915 ganze ?/; derjenigen Bodenfläche, 
die in den vorhergehenden 22 Jahren (1883 — 1904) durch die Bauern- 
bank gegangen ist, durch sie vermittelt worden, was auf die wach- 
sende Aktivität der Bauernbank schließen laßt. 

Wie verteilten sich nun diese Bodenankäufe in Weißrußland 
unter den verschiedenen Schichten der Bauernbevolkerung ? 

Nach den Berichten der Bauernbank beteiligten sich auch jetzt in 
der Regel die besser situierten Schichten des weißrussischen Dorfes 
am Bodenkauf. Dies können wir erstens an Hand der Angaben über 
die Größe der gekauften Grundstücke ersehen. Ankäufe von Grund- 


494 


stücken bis zu 10 De§j. bildeten nur 23%, während solche von 10—40 
Deßj. etwa 40% der Gesamtzahl der Kaufoperationen ausmachien. 
Ferner waren die Käufer durchweg mit Arbeitsvieh und eigenen Ar- 
beitskraften verhältnismäßig gui versorgt. So z. B. hatten 29,3% der 
Käufer 1 Arbeitstier, 38,3% 2 Arbeitstiere und 26,5% sogar mehr 
als 2 Pferde. Der Prozentsak der pferdelosen Bodenkäufer bildete 
nur 5,9% der Gesamtzahl der Käufer. Dasselbe Verhältnis stellen 
wir auch bezüglich der Zahl der eigenen Arbeitskräfte fest. Durch- 
schnittlich kamen auf je eine Wirtschaft des Käufers 3,4 eigene 
menschliche Arbeitskräfte, d. h. daß sich hauptsächlich diejenigen 
Wirtschaften am Ankauf beteiligten, die sowohl mit menschlichen als 
auch mit tierischen Arbeitskräften reichlich versehen waren. Der 
landarme oder landlose Bauer hatte nach wie vor nicht stets die 
Möglichkeit, Boden zu kaufen. Nur in den ersten Jahren nach der 
Agrarreform (1906—07) ist eine Beteiligung auch seitens der armen 
Schichten des Dorfes zu bemerken, später jedoch verringert sich 
diese Beteiligung von Jahr zu Jahr. So sehen wir z. B., dag, wäh- 
rend in den Jahren 1905—07 die landlosen und die landarmen Wirt- 
schaften (bis zu 3 Deßj. pro Wirtschaft) 62,5%, die mittleren Wirt- 
schaften (bis zu 9 Deßj. pro Wirtschaft) 29,3% und die reichen Wirt- 
schaften (mehr als 9 Deßj. pro Wirtschaft) 82% der Gesamtzahl der 
Käufer bildeten, im Jahre 1909 die landlosen und landarmen Wirt- 
schaften nur noch 20,9% ausmachten, dagegen stieg der Prozentsab 
der mittleren Wirtschaften auf 52,7% und der der reichen Wirt- 
schaften auf 26,4% (die durchschnittliche Größe des Bodenbesifes 
aller Käufer betrug in diesem Jahre 8,3 Deßj. pro Wirtschaft). Im 
Jahre 1913 stieg der Prozenisatꝭ der bodenreichen Wirtschaften noch 
höher, nämlich auf etwa 37% der Gesamtzahl der Käufer. 

Was nun die Bodenpreise anbetrifft, so waren diese in Weib- 
rußland erheblich höher als im übrigen Rußland. Besonders schnell- 
fen sie nach der Agrarreform in die Höhe, nachdem die Bauernbank 
intensiv zum Bodenankauf geschritten war. Zur Hlustration seien fol- 
gende Zahlen angeführt: 

Wenn wir den Bodenpreis pro Deßj. in den Jahren 1854— 1858 
als 100 annehmen, dann ergibt sich folgende Steigerung®): 


Mohilew Smolensk 


Also, während zu Beginn der Banktätigkeit (1883) die Boden- 
preise seit der Aufhebung der Leibeigenschaft nicht einmal um das 
Doppelte gestiegen waren, haben sie 1909 fast das Siebenfache er- 


„ In absoluten Zahlen ausgedrückt, war der Bodenpreis pro Debi. in 
Weißrußland zu Beginn der achtziger Jahre: Minsk 38 Rub., Mohilew 28 Rub, 
Smolensk 39 Rub. usw. 


496 


reicht (durchschnittlich für Weißrußland). Besonders stark gestiegen 
sind die Preise bei Ankäufen bis zu 10 Defj. (die Ankäufe seitens 
der armen Schichten des Dorfes). Sicherlich spielten bei der Stei- 
gerung der Bodenpreise noch andere Momente mit wie die allge- 
meine Preissteigerung, jedoch ist diese Erscheinung hauptsächlich 
auf die starke Kauftatigkeit der Bauernbank zurückzuführen. 

Es wurde bereits betont, daß die Bodenverkäufer meist den 
Reihen der Gutsbesigker entstammten. Es traten jedoch auch die 
Bauern als Verkäufer auf den Markt und besonders diejenigen 
Bauern, die zwar einer Dorfgemeinde angehörten, aber in der Tat 
nicht mehr im Dorfe lebten. Durch die Stolypinsche Agrarreform 
war ihnen die Möglichkeit gegeben, aus der Dorfgemeinde auszu- 
scheiden und dennoch ihren Bodenanteil zugeteilt zu bekommen. Sie 
verkauften nun diesen Boden. Dasselbe war auch bei den auswan- 
dernden Bauern der Fall. Es haben in den Jahren 1907—1917 uber 
eine Million Bauern eine Bodenfläche von 3% Millionen Deßj. ver- 
kauft, wobei auf jeden Verkauf durchschnittlich 3% Deßj. kamen. 
Mit anderen Worten: Es verkauften ihren Boden nur die ganz armen 
Schichten der Bauernschaft, die ihn infolge der obenerwähnten Ur- 
sachen nicht bestellen konnten oder wollten. 


3. Die Ubersiedlung nach Sibirien. 


Die Ubersiedlung aus den weißrussischen Gouvernements nach 
Sibirien setzte bereits in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhun- 
derts ein. Im Jahre 1897 wanderten aus den weißrussischen Gouver- 
nements 9750 Personen (beiderlei Geschlechts) (Minsk 916, Witebsk 
3490, Mohilew 3602, Smolensk 1742) nach Sibirien aus. Die Aus- 
wanderungsbewegung stieg in den folgenden Jahren in stärkerem 
Maße. Leider gibt es außer den Unterlagen über Reisepässe der 
Auswanderer keine anderen ziffernmäßigen Angaben, die uns Auf- 
schluß über den Umfang der Auswanderung geben könnten. Jeden- 
falls steht fest, daß die Zahl der nach Sibirien ausgewanderten weiß- 
russischen Bauern nach der Stolypinschen Agrarreform erheblich ge- 
stiegen ist. So z. B. betrug die Zahl der Ubersiedler aus dem Gouv. 
Mohilew im Jahre 1908 7,6% aller Ubersiedler nach Sibirien. Ins- 
gesamt wanderten aus Weißrußland im erwähnten Jahre 105,6 Tausend 
Seelen (etwa ½ der Gesamtzahl) nach Sibirien aus. Laut amtlichen 
Angaben wanderten aus den vier weißrussischen Gouvernements von 
1896— 1915 nach Sibirien 642 Tausend Seelen aus, oder 13,9% der 
Gesamtzahl der Ubersiedler (4650 Tausend). 

Vergleichen wir nun die Ergebnisse der Auswanderung aus 
Weißrußland mit denen anderer Gebiete Rußlands, so stellen wir eine 
stärkere Emigration aus Weißrußland fest. So zählen wir im zentral- 
russischen Industriegebiet (6 Gouvernements) nur 66 Tausend, im 
Schwarzerdgebiet (ebenfalls 6 Gouvernemenis) 266 Tausend Emi- 
granten. Nur die Ukraine übertraf die weißrussische Auswanderung 
nach Sibirien um 200 Tausend Kopfe. 


496 


C. Das weißrussische Dorf nach der Agrarreform. 


Wenn man das gesamte Ergebnis der Agrarreform in Weißruß- 
land zusammenfaßt, so muß man einsehen, daß diese Reform eine 
sehr große Bedeutung für die Entwicklung der weißrussischen Land- 
wirtschaft im allgemeinen und der der bäuerlichen im besonderen ge- 
habt hat. Diese Bedeutung war jedoch mehr prinzipieller als okono- 
mischer Art. Die Agrarreform schlug sozusagen die Brücke zu einer 
neuen Basis für die gesamte Volkswirtschaft in Weißrußland, die 
Bauernfrage im großen und ganzen zu lösen jedoch vermochie sie 
nicht. 

Die ärmere Schicht der Bauernschaft hat durch die Agrarreform 
kaum eine Besserung ihrer Verhältnisse erfahren”), wenn wir die 
Verkoppelung der Streubesike in Chutor und Ofrub nicht berück- 
sichtigen. Das Recht zur Ausscheidung aus der Dorfgemeinde wurde 
fast nur von demjenigen Teil der Bauernschaft ausgeübt, der scinen 
Besitz im Dorfe hatte, aber selbst dort nicht mehr wohnte, oder 
auch von denjenigen Dorfbewohnern, die im Begriff waren, auszu- 
wandern. Diese Schichten der Bauernschaft schieden aus der Dorf- 
gemeinde aus, nicht um die Möglichkeit zur intensiven Bewirtschaf- 
tung ihres Bodens zu erlangen, sondern um ihre ihnen zugeteilten 
Anteile zu verkaufen. Diese Erscheinung tritt klar bei der Feststel- 
lung zutage, daß in der Gesamtzahl der am Bodenverkauf beteiligten 
Bauern 53% derjenigen enthalien sind, die aus der Dorfgemeinde 
ausgetreten waren. Das selbe finden wir auch bei den ausgewan- 
derten Bauern. Fast 58% von diesen bildeten die aus der Dorf- 
gemeinde Ausgeschiedenen, d. h. also, daß ihr Austritt aus der Ge- 
meinde nur zum Zwecke des Verkaufs des ihnen zugeteilten Bodens 
geschah. Zieht man außerdem in Betracht, daß die Feldgemeinschaft 
in Weißrußland (außer Gouv. Smolensk) schon seit jeher nur eine 
offizielle, aber keinesfalls praktische Bedeutung gehabt hatie, so 
muß man einsehen, daß die Zerstörung der Dorfgemeinde für die 
weißrussischen Bauern keine wesentlichen Erfolge haben konnte, und 
für diejenigen Bauern, die noch auf ihrer Scholle blieben, schon ganz 
und gar nicht. Dabei ist noch zu bemerken, daß die Zahl der Bauern, 
die den Austritt aus der Dorfgemeinde beantragt hatten, im fort- 
währenden Sinken begriffen war. So haben z. B. ın den Jahren 1911 
bis 1915 die Bauern viel weniger Anträge zum Austritt aus der Ge- 
meinde gestellt als in dem einen Jahre 1908. 

Betrachten wir die Wirkung der Agrarreform auf das Gedeihen 
der bäuerlichen Wirtschaften und den damit verbundenen Wohlstand 
des Dorfes. Im allgemeinen ist ein gewisser Aufschwung in der 
weißrussischen Landwirtschaft nach der Agrarreform festzustellen. 
Das Wirtschaftssystem der bäuerlichen Landwirtschaft änderte sich 
und erfuhr eine wesentliche Verbesserung. Die bäuerliche Wirtschaft 


1) Prof. Auhagen charakterisiert dies durch den unter den russischen 
Bauern sehr verbreiteten Volksausspruch: „Die Reform ist gut für die 
Oroßen, — aber schlimm für uns, die wir nur einige Deßjatinen besiben.“ 
(„Rußlands Kultur und Volkswirtschaft”, Berlin 1919.) 


497 


hörte auf, reine Bedarfsdeckungswirtschaft zu sein und begann all- 
mählich, sich den Marktverhältnissen anzupassen. Eine steigende 
Intensivierung der Landwirtschaft ist selbst in den ärmsten Wirt- 
schaften festzustellen, eine Intensivierung, die besonders in besserer 
und planmäßigerer Viehhaltung, wie wir noch später sehen werden, 
zum Ausdruck kam. Aber auch in der reinen Landwirtschaft hat sich 
die Intensivierung bemerkbar gemacht. Es stieg die Größe der Saat- 
fläche von 1899—1913 um 4%, von 1913—1916 um weitere 12%. 

Zwar nahm auch nach der Agrarreform der Roggenanbau, der 
für den eigenen Konsum bestimmt war, fast die Hälfte der Saatfläche 
(von 46—49,3%) ein, jedoch machte sich auch ein wachsender Anbau 
von Handelskulturen (Flachs u. a. m.) bemerkbar. 

Der Kartoffelanbau wurde eifrig betrieben, nicht nur des Brot- 
ersakes wegen, wie es früher der Fall gewesen war, sondern auch 
zwecks Verkaufs auf dem Markt, wobei man die überflüssigen Ar- 
beitskräfte zu beschäftigen suchte®). Es stieg die Höhe des Ernte- 
erirages. So z. B. bekommen wir, wenn wir die Bodenerträge pro 
Deßi. in den Jahren 1883—1900 als 100 annehmen, für die Jahre 1911 
bis 1915 folgende Zahlen: 


Es stieg auch die Heuernte im Jahre 1913 im Vergleich zu 1901 
bis 1905 (Minsk um 0,1%, Mohilew 1,1%, Smolensk 3%), obwohl die 
Wiesenfläche sich verkleinert hatte. Witebsk bildete eine Aus- 
nahme, da dort das Wiesenland im Jahre 1913 um 5,5% verkleinert 
wurde, und deswegen ist die Heuernte (allerdings nur um 2,6%) ge- 
sunken. Vergleichen wir jedoch den Zuwachs der Bevölkerung mit 
dem Wachsen der bäuerlichen Wirtschaft, so sehen wir überall, daß 
die Bevölkerung viel rascher wuchs, als es der Fortschritt der Wirt- 
schaft erlaubte. Mit jedem Jahre wuchs die Zahl der Wirtschaften, 
es vergrößerte sich auch die Zahl der Arbeitskräfte, es stieg der 
Grad der Bedürfnisse des Dorfes usw. Laut den Angaben vom Jahre 
1916 bestanden in Weißrußland 1017,9 Tausend bauerliche Wirtschaften 
mit einer Saatflache von 3972,2 Tausend Deßj. (90,8% der gesamten 
Saaftflache), d. h. also, daß mehr als 90% des anbaufähigen Bodens 
durch die Bauernschaft bestellt wurde (das bäuerliche Pachtland in- 


s) Laut einer späteren Untersuchung von F. Dzerzinski stieg der Kar- 
toffelanbau in Weißrußland in den Jahren 1906-1910 gegen den der an: 
1893—1905 um 32,7%. („Aus der Volkswirtschaft der Union der S.S.S.R.” 
Berlin 1924). Der Kartoffelüberschuß ging hauptsächlich in die Spiritus- 
produktion, etwa 21 Millionen Pud (oder 14%) im Jahre 1909/1910. 


498 


begriffen). Pro bäuerliche Wirtschaft jedoch kamen nicht mehr als 
3—4 Deß&j. (Minsk 3,5, Witebsk 4,8, Mohilew 3,8, Smolensk 3,8 De§j. 
pro bäuerliche Wirtschaft durchschnittlich) Ackerland und etwa 1,5 
Deßj. Wiesen- und Weideland, was bei 5—6 Essern pro Wirt- 
schaft als sehr kleiner Anteil angesehen werden muß. Ziehen wir 
noch in Betracht, daß etwa 18% der bäuerlichen Wirtschaften pferde- 
los waren und pro Wirtschaft nur 1,28 Stück Arbeitsvieh kam (nach 
der Zählung von 1916 waren in Weißrußland 1308,7 Tausend Arbeits- 
pferde und -ochsen), so sehen wir, daß die Lage des Dorfes durch- 
schnittlich keinesfalls besser wurde, sondern sich sogar verschlim- 
merte (1880 kamen etwa 2,1 Pferde pro Wirtschaft). 

Troßdem der Haushalt des Bauern dürftig war, seine Haupt- 
nahrung sich auf Schwarzbrot, Kartoffeln und Gemüse beschränkte, 
seine Kleidung einfach und billig war, fiel es ihm sehr schwer, sich 
die Mittel selbst zu einer so bescheidenen Existenz zu beschaffen. 
Es nimmt daher auch nicht wunder, wenn man sowohl vor als auch 
nach der Agrarreform in der weißrussischen Bauernschaft die Be- 
strebung findet, neue Erwerbszweige zu suchen, um ihre Existenz zu 
verbessern. 


Kapitel 5. 
Bäuerliche Nebenerwerbszweige in Weißrußland. 


Das Bild vom Leben und Wirken der weißrussischen Bauern wäre 
unvollständig, wenn man die Nebenerwerbszweige, die eine un- 
geheuer große Rolle in ihrem Leben spielten, unberücksichtigt lassen 
würde. 

Die Nebenerwerbszweige der Bauern lagen auf dem Gebiete der 
häuslichen oder Gelegenheits-Arbeiten, die außerhalb des Dorfes 
verrichtet wurden. Zu den häuslichen Nebenerwerbsarten gehörte 
die Tier-, Vieh- und Gefliigelzucht*), die Hausindustrie und dergl. mehı. 
Unter Gelegenheitsarbeiten sind zu verstehen: Landwirtschaftliche 
Tagelöhnerarbeit und Wandergelegenheitsarbeiten. 


1. Tier-, Vieh- und Geflügelzucht. 


Weißrußland gehörte zu den vieharmen Gebieten Rußlands. In- 
folge des geringen Prozentsagfes Ackerland war der weißrussische 
Bauer gezwungen, sein ganzes Ackerland mit Brotgetreide zu 
bestellen. Viehfutter wurde daher wenig angebaut. Der weiß- 


1) Ich sebe die Viehzucht unter die Rubrik „Nebenerwerbszweige“, da 
dieser landwirtschaftliche Erwerbszweig in Weißrußland fast bis in die leb- 
ten Vorkriegsjahre als Haupterwerbszweig kaum angeschen werden kann. 
Die bäuerliche Viehhaltung war hier überwiegend eine Arbeitsvichhaltung, 
oder diente der Deckung des Bedarfs an Milch und Fleish. Auf dem 
Markte wurde nur eine ganz geringe Menge abgesebt. 


499 


russische Bauer siand, wie erwähnt, außerdem auf einer sehr niedri- 
gen kulturellen Entwicklungsstufe, und es fehlte ihm die Bildung 
und Erfahrung des westeuropäischen Bauern, um die Viehzucht 
rentabler zu gestalten. Das Haupifutter bestand aus dem als schlecht 
bekannten Gras des weißrussischen Landes. In den Sommermonaten 
weidete das Vieh auf den. sumpfigen Weideflächen oder in den 
Wäldern, im Winter wurde es mit trockenem Stroh und Heu gefüttert. 

Infolge der schlechten Qualität des Futters gedieh das Vieh, 
insbesondere die Kühe, die hier „Goremycka“ = Armselige genannt 
wurden, sehr schlecht. Nur auf den Gutshöfen konnte man bessere, 
ausländische Vieharten antreffen. 

Betrachten wir nun die Entwicklung der weißrussischen Viehzucht 
in Zahlen. Die Zahl des Hornviches ist bei der Dorfbevölkerung vom 
Jahre 1883—1913 absolut um etwa 80% gestiegen (Minsk 115,1%, 
Witebsk 45,9%, Mohilew 78,2%, Smolensk 84,3%). Dieselbe Erschei- 
nung sehen wir auch bei der Pferdehaltung. Wir finden einen Pferde- 
zuwachs in den bäuerlichen Wirtschaften zur selben Zeit um etwa 
30% (Minsk 55,6%, Witebsk 20,7%, Mohilew 21,9%, Smolensk 26,1%). 
Auch in der Schweinezucht können wir einen Zuwachs von etwa 30% 
durchschnittlich konstatieren (besonders stark war der Zuwachs im 
Gouv. Smolensk). Etwas anders ist es mit der Schafzuchi?). Hier 
können wir sogar eine absolute Verminderung feststellen. So z. B. 
zählte man im Gouv. Minsk im Jahre 1900 785 Tausend Stück, wäh- 
rend im Jahre 1913 nur noch 634 Tausend Stück gezählt wurden. Im 
Gouv. Witebsk verringerte sich die Zahl der Schafe vom Jahre 1900 
bis 1913 von 618 Tausend auf 476 Tausend, Smolensk von 8% Tausend 
auf 629 Tausend Stück usw. 

Diese Verminderung ist vielleicht auf die Einführung von inten- 
siven Wirtschaftsformen im Ackerbau zurückzuführen, die für die 
Schafhaltung ungünstig sind. 

Dieses Steigen der Viehhaltung in Weißrußland war nur absolut, 
relativ jedoch (d. h. zum Bevölkerungszuwachs) sehen wir ein fort- 
währendes Sinken des Viehbestandes im Dorfe. Zur Illustration seı 
die nachstehende Tabelle angeführt. 

Wir sehen also daraus, daß mit jedem Jahre der Viehbestand 
pro Kopf der Dorfbevölkerung geringer wurde. 

Im Vergleich mit den Verhältnissen im gesamten europäischen 
Rußland konstatieren wir, daß dieses Gebiet sehr arm an Vieh war. 
Nur die Schweinezucht war mehr verbreitet als in Gesamtrußland. So 
z. B. kamen im europäischen Rußland 1915 auf je 100 Köpfe der Dorf- 
bevölkerung 22 Pferde, 34 Stück Hornvich, 53 Schafe und 10 Schweine. 

Außer der Viehzucht wurde in Weißrußland auch Gefliigel- und 
Bienenzucht getrieben. Auch der Fischfang bildete eine Einnahme- 
quelle, besonders in den wasserreichen Gegenden. 


2) In der Zahl der Schafe sind auch Ziegen inbegriffen, die in Weiß- 
rußland eine ganz erhebliche Zahl ausmachten. Der Ziegenmilch wegen war 
diese „Kuh des armen Mannes“ in Weißrußland sehr verbreitet. 


500 


— 


ee — — — — 


Es kamen auf je 100 Köpfe der Dorfbevölkerung: 


P 


Minsk 15 
87 

40 

Witebsk 15 
35 

44 

Mohilew 20 20 
50 29 

58 65 

Smolensk | Pferde........... o7 26 24 | o4 | 21 
Hornvieh.... ..... 46 40 55 35 29 

Schafe und Schweine .. 85 61 45 49 45 


2. Die Hausindustrie. 


Der zweite häusliche Nebenerwerbszweig ersireckte sich auf die 
Hausindustrie oder die sogenannten „Kusfargewerbe“. Die Haus- 
industrie ermöglichte den Bauern die Ausnugung der für die Land- 
wirtschaft ungeeigneten Wintermonate. Gerade in Weißrußland, wo 
die Industrie sehr schwach entwickelt war, konnten die Hausindustrie- 
fabrikate guten Absaf finden. 

Der Hauptzweig der Hausindustrie in Weißrußland war die Holz- 
verarbeitungsindustrie. Der weißrussische Bauer schnifte aus Holz 
verschiedene haus- und landwirischaftliche Geräte, wie auch Spiel- 
zeug und dergl. Aus der Baumrinde verfertigte er Schachteln, Büch- 
sen und dergl. Dinge mehr, aus den Weidenruten flocht er Korbe, 
Stühle usw. Auch die Frauen beteiligten sich sehr eifrig an dieser 
Arbeit. Sie beschäftigten sich hauptsächlich mit Spinnen, Weben und 
Stricken aus Flachs und Wolle. Sehr verbreitet war auch die Lehm- 
und Erdindustrie, z. B. Ziegeleien und Töpfereien. 

Die im Hause verfertigten Gegenstände brachte der Bauer auf 
den Markt der benachbarten Städte, der allwöchentlich an einem be- 
stimmten Tage stattfand. Außer dem Wochenmarkt (Kermasch = 
„Kirmes“] fanden in den größeren Städten auch Jahrmarkte (,,Jar- 
mark“) statt, die ihre speziellen Bezeichnungen nach den Warenarten 
führten, z. B. Holzmarkt, Topf- und Ziegelmarkt u. a. m. 

Die Zahl der damals in der Hausindustrie beschäftigten Personen 
ist leider sehr schwer festzustellen. Alle diesbezüglichen Zahlen in 
der russischen Statistik sind nur schätzungsweise angeführt. 

In Weißrußland ist die Lage noch weniger erforscht worden als 
in anderen Gebieten. Aus den wenigen Materialien, die uns zur Ver- 
fügung stehen, ist zu ersehen, daß im Gouv. Minsk im Jahre 1890 
etwa 20000 Kustare fast nur männlichen Geschlechts registriert 


501 


> 


worden sind. Diese sind in 25 Arbeitsgruppen verteilt, was auf eine 
schwache Gliederung der Arbeitsgruppen und auf einen primitiven 
Stand der Arbeitsteilung in der weißrussischen Hausindustrie hin- 
weist. Derselbe Kustar, der die Feige herstellt, verfertigt auch die 
Speichen, wie auch das Rad und zuletzt den ganzen Wagen. Aus 
den obenerwähnten Materialien ist zu ersehen, daß, je kleiner das 
bäuerliche Anteilland in einem Kreise, desto größer der Prozentsatz 
der in der Hausindustrie Beschäftigten war. 

Der Verdienst einer Person in der Hausindustrie war sehr gering 
In manchen Fällen betrug er nicht mehr als 15—20 Rubel jährlich. So 
z. B. bekam der Bauer für einen Holzlöffel nicht mehr als 2 Kopeken 
(etwa 5 Pfennige), während die Arbeit dafür mindestens eine Stunde 
in Anspruch nahm. Höher war der Arbeitslohn der Möbeltischler und 
Stellmacher, deren Verdienst oft bis zu 20 Rubel monatlich betrug. 

Im Gouv. Witebsk waren zur selben Zeit 2232 bäuerliche Wirt- 
schaften in der Hausindustrie beschäftigt. Hier waren dieselben 
Zweige wie im Gouv. Minsk verbreitet (68% entfielen auf die holz- 
verarbeitende Hausindustrie und 20% auf Topfereien). Außerdem 
war hier auch die Herstellung von Kähnen verbreitet. Hier ist auch 
eine große Zahl von „hauslosen“ Kustaren festzustellen, d. 3. solche 
Heimarbeiter, die durch die Dörfer wanderten und ihren Beruf unter- 
wegs ausübten (hauptsächlich Schneiderarbeiten). Der Verdienst eines 
Kustaren machte hier etwas mehr als im Gouv. Minsk aus, nämlich 
durchschnittlich 28 Rubel jährlich. 

Dieselben Ergebnisse‘ gelten auch für die Gouv. Mohilew und 
Smolensk, wo jedoch die absolute Zahl der Kustaren bedeutend 
höher war. 

In den letzten Jahren ist eine gründliche Erforschung der Haus- 
industrie durch Prof. Rybnikow erfolgt („Die Hausindustrie Ruß- 
lands“, Moskau 1924), dessen Angaben das Gouv. Minsk im Jahre 
1900 und die übrigen Gouvernements im Jahre 1910—1912 betreffen. 

Es waren nach Rybnikow in der Hausindustrie beschäftigt: 


Art der 
Industrie Minsk Witebek Mohilew | Smolensk | Zusammen 


Holz- 

verarbeitung 2117 9655 24862 
Textil- 

verarbeitung 562 1285 5596 
Fell- u. Haut- 

verarbeitung 145 655 4168 
Mineral- 

verarbeitung 916 1192 5565 
Metall- 

verarbeitung — 655 2855 
Sonstige 

Zweige — 6 118 
Insgesamt . 3758 15872 45156 


502 


Diese Angaben sind zwar nicht ausreichend, so z. B. fehlen hier 
solche Zweige wie die Herstellung von Acker- und Pfluggeraten 
oder Fischneken, die bekanntlich in den weißrussischen Gouverne- 
ments sehr stark verbreitet war (die Herstellung von Acker- und 
Pfluggeräten war besonders stark in den Gouv. Minsk und Mohilew 
verbreitet, Fischneke stellte man im Gouv. Witebsk her), jedoch kann 
man sich eine mehr oder weniger klare Vorstellung über den Bestand 
und die Entwicklung der weißrussischen Hausindustrie machen. 

Die Regierung kümmerte sich lange Zeit überhaupt nicht um die 
Hausindustrie. Erst nach der Agrarreform von 1906 trat auch hierin 
eine Änderung ein. Die Regierung gewährte den in der Hausindustrie 
Beschäftigten eine Unterstükung von 1% Millionen Rubel, auf fünf 
Jahre (1909—1913) verteilt. Es wurden Lehrwerkstatten eröffnet, 
außerdem wurden von der Regierung verschiedene Handbücher und 
Musteralben zur Verbesserung der Arbeitsgerate der Heimarbeiter 
herausgegeben. Im Jahre 1913 wurde mit Hilfe der Regierung eine 
Heimarbeitsausstellung veranstaltet. Die Hilfe der Regierung jedoch 
war im Verhältnis zu der notwendigen Unterstükung sehr gering, 
was sie selbst zugab. So z.B. lesen wir in der offiziellen Denk- 
schrift der Regierung von 1914: 

„Die Ausgaben für die amtliche Unierstüßkung der Heimarbeiter, 
damit sie ihren Platz im Wirtschaftsleben des Landes neben der 
Fabrik behaupten können, sind groß und erst kaum berührt.“ 

In erster Reihe benötigte die Hausindustrie Kredite, die ihr die 
Regierung nicht gewährt hatte, zweitens war die Aufgabe der Re- 
gierung, den Absat der Erzeugnisse zu organisieren, was auch nicht 
getan wurde. In den letzten Vorkriegsjahren kam die Hausindustrie 
in immer stärkeren Verfall, in der Hauptsache durch die stark an- 
wachsende Industrie Rußlands, wie auch durch die Entwicklung des 
Handels mit dem Auslande, wodurch viel billigere Waren besserer 
Qualität die Fabrikate der Hausindustrie verdrängten, so daß viele 
der „Kustari“ gezwungen waren, ein neues Gebiet für die Ver- 
wendung ihrer Arbeitskraft zu suchen. 


3. Landwirtschaftliche Tagelöhner. 


Wie wir in einem der vorhergehenden Abschnitte gesehen haben, 
war der Grogfgrundbesif in Weißrußland sehr stark verbreitet. Diese 
Großbetriebe, die genötigt waren, Arbeitskräfte zu beschäftigen, 
fanden im weißrussischen Dorfe ein großes Reservoir von solchen. 
In erster Reihe kamen die landlosen und landarmen Bauern dafür in 
Frage, die entweder nur mit ihrer eigenen Arbeitskraft oder, was 
auch vorkam, mit „Pferd und Wagen“ gemietet wurden. Die Ein- 
stellung dieser Arbeitskräfte trug einen Saisoncharakter und be- 
schränkte sich zumeist auf eine jährliche, monatliche, wöchentliche 
und sogar tägliche Frist. In jährliche Dienste gingen die vollkommen 
landlosen Bauern oder die jungen Knechte und Mägde, die außer 
Entgelt Freikost und Wohnungen erhielten. Die landarmen Bauern, 


505 


die eine eigene kleine Wirtschaft hatten, konnten nur wöchentlich, im 
besten Falle monatlich, ihre Arbeitskraft vermieten. Diese bekamen 
ihren Lohn bar ausgezahlt und blieben nur tagsüber in der Arbeits- 
stelle. 

Die landwirtschaftlichen Tagelöhnerarbeiten waren für die 
Bauern schon deswegen bequem, weil sie in der Nähe ihrer Heimat- 
dörfer arbeiten und jederzeit nach Hause zurückkehren konnten. 
Mit dem Bevolkerungszuwachs stieg auch die Zahl der Tagelöhner 
und das Angebot der Arbeitskräfte. 

Infolge des großen Angebots von landwirtschafilichen Arbeits- 
kräften ist der Arbeitslohn außerordentlich gesunken. Aus den An- 
gaben, die wir in den „Materialien der Kommission zur Erforschung 
der Notlage der Landwirtschaft“ vom Jahre 1889 finden, ist zu ersehen, 
daß in Weißrußland in diesem Jahre der Arbeitslohn eines Land- 
arbeiters etwa 47 Rubel jährlich betrug (Minsk 45 Rubel, Witebsk 50 
Rubel, Mohilew 47 Rubel, Smolensk 46 Rubel). Im Jahre 1903 stand 
der jährliche Arbeitslohn eines Landarbeiters noch niedriger (viel- 
leicht infolge der Mißernte dieses Jahres), erst in den lebten Vor- 
kriegsjahren ist eine Steigerung des Arbeitslohnes festzustellen („Der 
Finanzbote“, Nr. 23, 1903). 

Dabei ist zu bemerken, daß die oben gebrachien Zahlen für den 
Durchschnitt des jährlichen Arbeitslohnes hauptsächlich aus den An- 
gaben der Gutsherren selbst stammen, in Wirklichkeit jedoch stand 
der Arbeitslohn noch niedriger. Diese Annahme bestätigt auch 
P. Maslow („Die Agrarfrage in Rußland“), der die Angaben der 
Bauern nennt, wonach der jährliche Arbeitslohn um 5—6 Rubel 
niedriger war als nach Angaben der Gutsherren. Aber nehmen wir 
an, diese Zahlen seien richtig, so reichte diese Summe dennoch 
keinesfalls als Existenzminimum einer Person in der damaligen Zeit. 
Als notwendige Summe zur Erhaltung der physischen Existenz einer 
Person und Aufrechterhaltung der kleinsten Wirtschaft wurden von 
F. Schtscherbina („Die Bauernbudgets‘) 53,79 Rubel jährlich 
für einen landlosen Bauern genannt, wovon 33,78 Rubel zur Deckung 
seiner persönlichen und 20,01 Rubel für die Bedürfnisse der Wirt- 
schaft gerechnet wurden. 

Ziehen wir noch in Beiracht, daß die Lebenshaltung in Weißruß- 
land etwas teurer war als im übrigen europäischen Rußland infolge 
der Abhängigkeit Weißrußlands vom Brotimport*), so werden wir 
verstehen können, wie weit die Entlohnung der weißrussischen Land- 
fagelohner vom realen „standard of life“ abwich. 


4. Wandergelegenheitsarbeiten. 


Der Überschuß an Arbeitskräften zwang die Bauernschaft, aus 
ihren Heimatdörfern auszuwandern und sich nach den entlegenen 


s) Die Brotpreise stiegen in Weißrußland von 0,53 Rubel pro Pud im 
Jahre 1895 auf 1,30 Rubel im Jahre 1907 und 1,27 Rubel im Jahre 1908. In 
den letzten Vorkriegsjahren ist der Brotpreis wieder um etwa 20% zurück- 
gegangen. 


504 


Ländern und Gouvernements auf die Arbeitssuche zu begeben. Diese 
Art der Arbeitssuche in der Fremde, die in Rußland unter dem Namen 
„Otchozyje promysly“ Id. h. auswärtige Arbeiten) bekanni war, um- 
faßte Tausende und Abertausende von weißrussischen Bauern. Sie 
verließen ihre Heimatdörfer und begaben sich scharenweise in weit 
entfernte Gouvernements, zogen manchmal auch über die Grenze 
nach fremden Ländern hin, um ihr tägliches Brot zu verdienen. Die 
wandernden Arbeiter schlossen sich oft in „Artels‘‘ zusammen und 
führten jede Arbeit, die sie unterwegs bekamen, aus, sowohl land- 
wirtschaftliche, als auch Bau- und Erdarbeiten. Wenigen von ihnen 
gelang es auch, ständige Arbeit zu finden (die sogenannten „Batraki“), 
die Mehrzahl jedoch war auf Gelegenheitsarbeiten angewiesen. 

Die Auswanderung aus den weißrussischen Gouvernements rich- 
tete sich entweder nach dem Osten, in das Schwarzerdgebiet, oder 
nach dem Westen auf die polnischen Gouvernements. Die Zahl der 
aus den weißrussischen Gouvernements auswandernden Arbeiter 
nahm große Dimensionen an. Schon in den achtziger Jahren des 
vorigen Jahrhunderts belief sich ihre Zahl in manchen Gouvernements 
auf etwa 40% der männlichen Dorfbevölkerung, und in den lebten 
Vorkriegsjahren hat sie sich nicht verringert). Die Zahl der Aus- 
wanderer vergrößerte sich später dadurch, daß fruher nur Männer 
auf Wanderarbeit gegangen waren und nunmehr auch Frauen sich 
daran beteiligten. Ebenso begannen auch die Jugendlichen diesen 
Weg der Arbeitssuche zu gehen. Diese neu hinzugekommene Wander- 
arbeiterschaft fand in den lebten Vorkriegsjahren eine bedeutend 
bessere Verwendung ihrer Arbeitskraft als die erwachsenen Männer, 
da im Laufe der Zeit sowohl die landwirtschaftlichen als auch die 
industriellen Betriebe in größerem Maße Maschinen benutzten und 
man sich daher mit der billigeren Arbeitskraft der Frauen und der 
Jugendlichen begnügen konnte. 

Ihren weiten Weg legten die Wanderarbeiter meist zu Fuß 
zurück. Im Laufe von Monaten durchschritten sie Hunderte und 
manchmal auch Tausende von Wersten. Obgleich sie jede dar- 
gebotene Arbeit ausführten, um nicht zu verhungern, lebten sie unter 
den miserabelsten Bedingungen, immer unterwegs, sich mit der not- 
dürftigsten Nahrung begnügend. Bei der ungeheuer großen Kon- 
kurrenz ist es selbstverständlich, daß der Arbeitslohn ein nur sehr 
geringer war. Manchmal überstieg er nicht 15—20 Kopeken pro Tag. 
Ziehen wir noch die durch die Wanderung verlorengegangenen Ar- 
beitstage in Betracht, so sinkt der Lohn auf ein lächerliches Minimum 
herab. Eine Übersicht über die Menge der verlorenen Arbeitstage 


4) Laut L. Kirilow („Wanderarbeiten“, Petersburg 1899) nahm Weißruß- 
land betreffs der Zahl jährlich auswandernder Arbeiter die dritte Stelle im 
gesamten europäischen Rußland ein. Nach seinen Angaben sollten die weib- 
russischen Wanderarbeiter überwiegend nicht direkt in der Landwirtschaft 
beschäftigt sein. Ferner bezeichnete Kirilow diese Wanderung als „innere 
Ar Migration“, welche Bezeichnung meiner Meinung nach nicht mehr 
zutrifft. 


506 


gibt uns eine Untersudiung aus dem Jahre 1895, die im Gouv. Cher- 
son gemacht wurde. Es wird darin festgestellt, daß von 56 500 ein- 
gewanderten Arbeitern etwa 83,6% den Weg von ihren Heimats- 
dörfern hierher zu Fuß zurückgelegt hatten, 13,2% teilweise zu Fuß 
und bei 3,2% war er unbekannt. Durch den weiten Weg hatten diese 
Auswanderer insgesamt eine Zahl von 12% Millionen Arbeitstagen 
verloren, die mindesiens eine Summe von 4 Millionen Rubel Arbeits- 
lohn ausmachien. 

Unterwegs erkrankten viele von ihnen, so daß sich die von der 
Einwanderung betroffenen Gouvernements gezwungen sahen, Ba- 
racken und Küchen zu errichten, wobei ihnen die Regierung nur sehr 
geringe Hilfe leistete. 

Ich führe zur Illustration einige Ziffern an: Im Jahre 1898 wan- 
derten aus dem Gouv. Smolensk 104 724 Bauern aus, wnvon 77 265 
Männer und 26 459 Frauen waren, im Jahre 1899 wanderten abermals 
117000 Bauern aus. Aus dem Gouv. Witebsk gingen im Jahre 1898 
19000 Männer und 17000 Frauen auf Wanderarbeit. Aus dem 
Gouv. Minsk gingen im selben Jahre 6000 Männer auf die Wan- 
derung aus. Besonders für das Gouv. Mohilew sind genaue Zahlen 
für die Wanderarbeit vorhanden. Dort führten die Gouverneure eine 
genaue Statistik auf Grund der ausgegebenen Pässe. So sehen wir, 
daß im Jahre 1897 im Gouv. Mohilew 25,5 Tausend Bauern als Flößer 
beschäftigt waren und 15,5 Tausend auf Wanderarbeit in andere 
Gouvernements gingen. Im Jahre 1899 stieg hier die Zahl der Flößer 
auf 40 Tausend und die der Wanderarbeiter auf 23 Tausend. Laut 
den Angaben für das Jahr 1910 ist hier die Zahl der Wanderarbeiter 
ungeheuer gestiegen. In diesem Jahre waren etwa 145 Tausend 
Bauern in nichtlandwirtschaftlichen Berufen tätig. Außerdem gingen 
auf Wanderarbeiten 46 086 Bauern. Auch im Gouv. Witebsk ver- 
ließen im selben Jahre 42 882 Bauern ihre Heimatsdorfer. 

Sehr charakteristisch für die Verhältnisse im Gouv. Witebsk ist 
auch die Untersuchung aus dem Jahre 1907, bei der fesigestellt wurde, 
daß von den 170 Tausend Bauernwirischafien etwa 70 Tausend Wirt- 
schaften oder 115 Tausend Personen in nicht bäuerlichen Berufen 
tätig waren. Von diesen 115 Tausend Personen waren 41 Tausend 
Männer und 18 Tausend Frauen „Schwarzarbeiter“ außerhalb des 
Dorfes, 10 Tausend Floßarbeiter und dergl. 

Zwar sind die vorhandenen Materialien nicht systematisch geord- 
net, jedoch ist aus ihnen zu ersehen, daß die Auswanderung aus dem 
weißrussischen Dorfe eine gewaltige war. Mit jedem Jahr wurden 
die Arbeitsmoglichkeiten in Weißrußland geringer im Verhältnis zum 
Zuwachs der neuen menschlichen Arbeitskräfte, und der weiß- 
russische Bauer mußte das Dorf verlassen. 

Die Auswanderung war oft mit dem Ruin der gesamten Wirt- 
schaft verbunden. Viele Bauern verkauften ihr Hausvieh, um da- 
durch die Reisespesen decken zu können. Der Verdienst durch 
Wanderarbeit reichte nicht einmal dazu aus, die eigenen Lebens- 
unterhaliskosien notdürftig zu decken, geschweige denn so viel zu 


506 


erübrigen, um die im Dorfe zurückgebliebene Familie mit versorgen 
zu können. Das Resultat war, daß jedes einzelne Mitglied einer 
solchen Familie gezwungen war, selbst auf die Arbeitssuche zu 
gehen, so daß Unmengen von Familien dadurch zerrissen wurden. 


Zusammenfassung. 


Aus dem bisher Gesagien ist folgendes zu entnehmen: 

Infolge einer Reihe von Ursachen historischer, agrogeologischer 
und ökonomischer Natur hat sich die wirtschaftliche Lage der weiß- 
russischen Bauernschafti in der Vorrevolutionszeit anders gestaltet 
als in den übrigen Gebieten Rußlands. Alle Epochen in der Entwick- 
lung der russischen Agrarverfassung haben hier infolgedessen einen 
anderen Verlauf genommen und ganz andere Resultate gezeitigt. 

Wir haben gesehen, daß eine große Masse der weißrussischen 
Bauernschaft unter den polnischen adligen Gutsbesigern lebte und 
arbeitete. Zur Zeit der Aufhebung der Leibeigenschaft wurde den 
Bauern wenig Boden zugeteilt, und selbst dieser war nur sehr 
schlechier Qualität. Der überwiegende Prozentsatz des Bodens be- 
fand sich in den Händen des Adels; Staais- und Kronsboden gab es 
in Weißrußland sehr wenig. Die bodenarmen Bauern führten meist 
Sonderwirtschaften und hatten nur Wiesen und Weiden, in manchen 
Fällen auch Wälder gemeinsam. Die ihrem Wesen fremde und nur 
von oben aufgezwungene Feldgemeinschaft konnte hier nicht Wurzel 
fassen; sie existierte nur auf dem Papier. Nur im Gouv. Smolensk 
hat sich die Feldgemeinschaft infolge historischer Ursachen ent- 
wickeln und erhalten können. Im Gouv. Mohilew, wo wir es mit 
einer großen Zahl von Großbauern zu tun haben, entwickelte sich die 
Bauerngenossenschaft. 

Die überwiegende Mehrheit der Dorfbevölkerung bildeten die 
landarmen und landlosen Bauern, die bei der schlechten Boden- 
qualität und bei den geringen Ernten das Existenzminimum nicht er- 
langen konnten. Sie suchten Boden von den Gutsherren zu pachien, 
wofür sie einen sehr hohen Pachizins zahlen mußten, so daß die 
Ernährungspacht zur Hungerpacht degradiert wurde. 

Der Bevölkerungszuwachs ging mit raschen Schritten vor sich, 
und dadurch entstand ein ungeheurer Überschuß an Arbeitskräften. 
Das Dorf war nicht mehr in der Lage, seine Bewohner zu ernähren. 
Die Industrie in den Städten war sehr schwach entwickelt, und der 
Bauer konnte hier auch keine Unterkunft finden. Andererseits ver- 
laßt der weißrussische Bauer, der an seiner Scholle mit Liebe hängt, 
sein Dorf sehr ungern und sucht jeden irgendwie möglichen Neben- 
erwerb, um in seinem Heimatdorfe oder in dessen Nähe bleiben zu 
können. Er beschäftigte sich daher in der primitiven Hausindustrie, 
er schnigte Geräte und Geschirr aus Holz, er flocht, wob und spann. 
Er ging in die benachbarten Adelsgüter, um seine Arbeitskraft für 
einen lächerlich geringen Lohn zu vermieten. Seine Not wuchs von 
Tag zu Tag. Die Maßnahmen der Regierung konnten auch nicht 
mehr viel helfen. 


SINF 8 507 


Erst mit Beginn des 20. Jahrhunderts und mit der Stolypinschen 
Agrarreform sekt eine Besserung der Lage im weißrussischen Dorfe 
ein. Durch die umfangreichen, segensreichen Landeinrichtungs- 
arbeiten, durch die Errichtung von neuen Einzelwirtschafien in der 
Form von Chutors und Otrubs, wie auch durch die Beseitigung 
der Gemengelage konnte eine Intensivierung der bäuerlichen Be- 
triebe eintreten, was die Erhöhung des landwirtschafilichen Ertrags 
und eo ipso die bessere Gestaltung des bäuerlichen „standard of 
life“ zur Folge hatte. Von entscheidender Bedeutung war auch die 
erweiterte Tätigkeit der Bauernbank, mit deren Hilfe sämtliche 
Schichten des weißrussischen Dorfes (wenn auch in verschiedenem 
Umfange) Boden erwarben. 

Die Wirkung der Stolypinschen Agrarreform hatte aber auch 
ihre Schatienseite: sie verstärkte die schon von früher bestehende 
Kluft zwischen den verschiedenen Schichten des Dorfes. Während 
die besser situierten Wirtschaften in dieser Periode einen Auf- 
schwung erfuhren, blieben die armen bäuerlichen Wirtschaften, die 
im weißrussischen Dorfe die überwiegende Mehrzahl bildeten, nach 
wie vor in sehr gedrückter Lage. 

Durch den starken Bevölkerungszuwachs im weißrussischen 
Dorfe und durch die rasche Parzellierung der bäuerlichen Wirt- 
schaften infolge der Vererbung und der Einheiraten nahm die Über- 
bevölkerung im weißrussischen Dorfe ungeheure Dimensionen an — 
das Dorf konnte seine Bewohner nicht ernähren, und die Bauern 
verließen massenweise ihre Dörfer, zogen in die Stadt, wohin sie 
die durch das ferne Pfeifen einer Fabrik hie und da entstandene 
schwache Hoffnung auf eine Arbeitsmöglichkeit zog; sie wanderten 
auch nach dem Osten in das Schwarzerdgebiet, nach dem fernen 
Sibirien, wie auch zum Westen hin, in das Weichselgebiet, nach Polen 
und Preußen und teilweise auch in die Neue Welt jenseits des Atlan- 
tischen Ozeans. 

So lagen die Verhältnisse bis zum Ausbruch des Weltkrieges 
und der Revolution von 1917, als Weißrußland zusammen mit dem 
gesamten Rußland in eine neue politische und ökonomische Ara 
eintraf. 


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510 


BOLESLAW PRUS 


Von 
O. Forst-Battaglia. 


Während die großen Namen der russischen Literatur dem deut- 
schen Leser längst vertraut sind und die wesentlichen Werke der 
erzählenden Prosa eines Gogol, Turgenev, Dostoevskij, Tolstoj, 
Čechov und Gorkij zum geistigen Besitztum der Welt gehören, hat 
von den polnischen Dichtern des letzten Jahrhunderts einzig Sienkie- 
wicz Verbreitung hinaus über den engsten Kreis berufsmäßiger 
Kritiker und literarischer Feinschmecker gefunden. Die Romane der 
Orzeszkowa, Kraszewskis, einst viel gelesen, sind vergessen; die 
Erzählungen der Zapolska und Weyssenhoffs haben kaum durch ein 
paar Jahre das deutsche Publikum beschäftigt. Selbst Reymonts 
Meisterwerk, die „Bauern“, zeugt in den Ziffern seiner Auflagehohe 
keineswegs für einen Erfolg bei der Masse. Zeromski aber und 
Berent sind in so übler Form vorgestellt worden, daß man es weder 
beklagen noch sich darüber wundern kann, wenn ihre ins Deutsche 
übertragenen Bücher keine größere Beachtung genossen. Es sind 
nun freilich nicht bloß äußere Umstände, die der polnischen Literatur 
den Weg nach Deutschland versperrten. Hinter der Unzulänglichkeit 
des Dolmetschers erblicken wir zwei Tatsachen, die entscheidend 
waren: den politischen Gegensab zwischen Deutschen und Polen (der 
auch noch nicht den Ausschlag gab) und als Letztes, daß die polnische 
Literatur einen streng nationalen Inhalt hat, der, im Gegensatz zum 
universellen des russischen Schrifttums, auch dem an sich ewig- 
gültigen Kunstwerk die Reichweite mindert. Wer vermöchte ohne 
UnterlaB von den polnischen Leiden und Freuden zu lesen, wenn er 
nicht ... selbst Pole war. Das polnische Milieu war zu wenig 
exotisch, um durch seine Fremdartigkeit Anteilnahme zu wecken; zu 
sehr vom deutschen, westeuropäischen verschieden, um als Spiegel- 
bild der vertrauten Wirklichkeit hingenommen zu werden. So emp- 
fanden denn beide Schichien der Kritiker und Leser, die nach einem 
literarischen „Pays de cocagne“ verlangenden Romantiker und die 
unerbittlichen Realisten, wenig Neigung, zu erfahren, wie sich pol- 
nische Dichter die polnische Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft 
vorsiellien, deuteten und schilderten. 

Daß nun ein ganzes Volk den Blick wie hypnotisiert auf sich 
selbst gerichiet hatte, während andere glücklichere Nationen ihre 


511 


Augen frei über die Erde schweifen ließen, dafür bietet die Ge- 
schichte rasch Erklärung. Durch das Diktat der rohen Gewalt seiner 
politischen Existenz beraubt, unfähig, seine schöpferische Energie im 
eigenen Staat zu betätigen, kehrte sich der Pole jenem Reich zu, 
uber dem keine Knute wütete; in dem er schalten und gestalten 
konnte: dem Lande der Phantasie. Die sich enge im vom Unter- 
drücker beherrschten Raum stoßenden Gedanken wirkten frei: dort, 
wo die Sonne des Geistes nie unterging. Das nationale Leben wählte 
sich, in den bösesten Jahren der Knechtschaft, die Literatur zum 
Schauplatz: und es regierte über sie als ein eifersüchtiger Gott, der 
kaum einen Nebenbuhler neben sich duldete. 

Trotzdem vermochte sich diese so leidenschaftlich ihrem Volkstum 
verhaftete Kunst nicht völlig dem Einfluß der Zeit zu entziehen. 
Neben dem Genius loci haben auch in Polen die allgemein europai- 
schen Strömungen ihren Einfluß geübt, so daß die nationale Dominante 
von den wechselnden Motiven des Zeitgeschmacks begleitet wurde. 
Der Romantik danken die Polen die herrliche Blüte ihrer Lyrik 
(Mickiewicz, Słowacki, Krasiński, Norwid), ihres Epos (Mickiewicz, 
Malczewski) und das einzige Drama ihrer Literatur, das fur Europa 
von Geltung ist, Krasinskis ,Ungottliche Komödie“. Der Realismus, 
jene Form der siegreichen Bürgerlichkeit, die das siegreiche Bürger- 
tum seit der Jahrhundertmitte der Kunst aufzwang; der Realismus, 
welcher in Frankreich die unsterblichen Romane von Stendhal, Balzac, 
Flaubert, in Deutschland die Gustav Freytags, Storms, Fontanes und 
Gottfried Kellers, in Rußland seine vollkommensten Schopfungen her- 
vorgebracht hatte, zeitigte auch in Polen repräsentative Werke der 
erzahlenden Prosa. Die Ungunst der damals herrschenden Verhalt- 
nisse hat diese Bücher auf ihre Heimat beschränkt. Indes, da ıhnen 
die universelle Gültigkeit innewohnt, der sonst die polnischen Dich- 
tungen entbehren, da ihre Form des Inhalts würdig und dieser Inhalt 
lebendig und lebensvoll ist wie am ersten Tag, der in Polen noch die 
Nacht der Unfreiheit bedeutet hatte, ziemt es, daß verspätet, doch 
nicht zu spät, die Leistungen des polnischen Realismus der Welt ver- 
kundet werden. Müssen, können und werden sich die Romane, in 
denen diese Leistungen gipfeln, ein Publikum erobern, dem damit 
das lebte noch ungekannte Gebiet erschlossen wird, an dem die 
Sucher nach verborgenen Schätzen bisher vorubereilten. 


Eine Gestalt, ein Name, in dem sich der heimliche Glanz, der 
nun erstrahlen soll, verkörpert: Bolestaw Prus. Er hieß, als er 
am 20. August 1847 das Licht einer sehr verfinsterten Welt erblickte, 
Alexander Głowacki und entstammte einer ehrenhaften 
Familie des Kleinadels, in der die Gaben des Herzens reicher vor- 
handen waren als die goldeswerten Schätze. Des Knaben Jugend 
war von Sorgen umdüstert. Nur mit Mühe fand er den Weg durch 
die Mittelschule zu Lublin. Er kämpfte mit der Not, mit dem Wissens- 


512 


kram, der sich auf sein Hirn legte. Und schon mit dem Feind, der 
überall im Lande gegenwärtig drohte: wider den russischen Zwing- 
herrn. Die Jahre der Pubertät verrannen unter dem lähmenden Ein- 
druck des hoffnungslosen Ringens einer enirechteten und unbot- 
mäßigen Nation mit ihrem mächtigen Peiniger. Männer und Frauen 
trugen Trauer als Kleid des jammervollen Alltags und um die Opfer, 
die endios und scheinbar zwecklos für die nationale Sache fielen. 
Sechzehn Jahre zählte Glowacki, als die Verzweiflung zu den unzu- 
langlichen Waffen griff. Am polnischen Aufstand von 1863 hat er, 
der Schulbank eniflohen, aktiv teilgenommen. Ein älterer, geliebter 
Bruder verlor über das Unglück der Insurrektion das einzige, was 
er besaß, den Verstand. Alexander Glowacki zog aus dem tragischen 
Abenteuer die Lehre, seinen Verstand zu hegen und zu pflegen, 
damit nicht wieder, in ihm und in seiner Nation, das Herz lenke und 
das Herz in schmerzlichem Beben erzitiern müsse. 

Der Insurgent schleppt sich zurück in die bürgerliche Fron, be- 
quemt sich noch einmal zur Schule. Siedelt, nachdem er das Gym- 
nasium beendet hat, in die Kapitale uber. An der „Szkoła główna“, 
wie man die Warschauer Universität etwas despektierlich von Amis 
wegen nannie, an der „Hauptschule“, hörte er die Vorlesungen be- 
rühmter Professoren, die zugleich ausgezeichnete Gelehrte und 
warmfühlende Patrioten waren, freute er sich des Umgangs mit 
gleichgestimmten Kameraden, die alle danach sirebten, auf und aus 
den Trümmern der im Aufstand niedergeiretenen Romantik ein Neues 
zu erbauen. An jener Hochschule bildeten sich Männer wie Sien- 
kiewicz und Świętochowski. Głowacki sollte mit diesen beiden der 
geistige Fuhrer der Generation werden, die ihr traumerisches, emp- 
findsames Polenium in sich erstickie, ersticken wollte, um erst eine 
gesunde, wirtschaftlich gekräftigte Gesellschaft und dann damit die 
Grundlage des von keiner Brutalität” der Bajonette gefährdeten 
nationalen Seins zu schaffen. Vom Westen her kam das Evangelium 
nach Comte, Buckle, Taine: der Positivismus. Mit Feuereifer, mit 
dem Ubereifer der Proseliten verkiindeten die polnischen Apostel 
der neuen, und nur im romantisch-urkatholischen Polen unerhorten, 
ungehörfen Lehre, daß die Ara des flatternden Helmbusches dahin sei; 
daß man die Schwärmerei des Herzens der Erkenntnis des Ver- 
standes unterordnen und vor allem eines müsse: arbeiten, arbeiten 
und nicht verzweifeln. Ein Volk von märchenhaft reichen und ent- 
nationalisierfen Magnaten, bettelarmen und überstolzen Adeligen, die 
in Schönheit zu sterben, doch nicht in Häßlichkeit pflichtergeben zu 
leben verstehen, von dumpfen, tragen Kleinbürgern und gequalten 
Bauern-Tieren soll sich, die wertvollen andersnationalen Elemente, 
Deutsche und Juden, amalgamierend, in eine moderne Gemeinschaft 
Gleichberechieier, gleich Fühlender verwandeln, unter denen nur das 
Talent und die Leistung Unterschiede begründen. Wo gewaltige 
Flächen nuglos brachliegen oder dem schalsten Vergnügen mit ihren 
spärlich geernteten Früchten dienen, wo die harte Fron dem emsigen 


515 


Landmann kaum das animalische Dahinbrüten sichert, sollen sich 
Fabriken erheben, die neue Bedürfnisse schaffen, befriedigen; die 
Wohlstand wecken und nahren. 

Das klang sehr westlich, utilitaristisch, revolutionär. War gewiß 
sehr westlich, utilitaristisch, revolutionär gemeint. Eine Reihe von 
Zeitschriften predigie eindringlich die Trägheit des Herzens und die 
Regsamkeit der Vernunfi. Głowacki, alsbald zum Schriftsteller 
Bolesław Prus geworden, betrat 1871 die literarische Arena. Er hatte 
die Hochschule nicht vollkommen beendet. Sein Los war dem so 
vieler armer intellektueller ähnlich, die sich vor der offiziellen Kro- 
nung durch das Diplom nach Broterwerb umsehen mußten. Głowacki 
verdiente sich das Notwendige als Beamier und einen mageren Zu- 
schuß durch Artikel, die auf dem Markt der Warschauer literarischen 
Eitelkeiten bald sehr begehrt waren. Swietochowski weilte in den 
höheren Regionen der allzu reinen Vernunft, Sienkiewiczs Genie 
hatte sich noch nicht entfaltet; vor einer Legion anderer längst ver- 
schollener Publizisten hatte Prus den liebenswürdigen Humor voraus 
und die Leichtigkeit, mit der er die schwersten Probleme vor einem 
Publikum erörterie, dem die feine geistige Kost um so trefflicher 
mundete, je weniger es sie gewohnt und je verdaulicher sie war. 
Fur die positivistischen Ideale — nur keine Enirüstung über diese 
sehr richtige contradictio in adjecto — siritt Prus je nach den Um- 
ständen und den Umstehenden, mit gesiräubter, mit verbindlich und 
sanft aufdrückender, mit selisam karikierender Feder. 

Seit 1874 in der größten Warschauer Zeitung, dem „Kurjer War- 
szawski“, dem er, mit kurzen Unterbrechungen bis ins Alter freu blieb, 
ob ihn auch das behutsame Blatt gelegentlich und ungelegentlich 
verleugnete, wo sich nur ein Anlaß bot. In den Prus’schen Feuilletons 
las der Bürger „de omnibus rebus ef quibusdam aliis“, doch stets 
vom Fortschritt und seiner Heilsamkeit, stets Dinge, die der gesunde 
Hausverstand begreifen konnte oder zu begreifen glaubte. Und 
wenn der rasflose Sitienrichtier, den der „Kurjerek“ so wacker 
brauchte und mißbrauchte, die Zugeknopfien zur Unterhaltspflicht 
aufforderte, da vergaß er nie seine Pflicht zu unterhalten, um da- 
durch zu nützen. Als Chronist des Warschauer Lebens sammelte Prus 
einen Schatz von Erfahrung, den er schließlich nicht mehr an den ver- 
gänglichen Zeitungsartikel verschwenden mochte. Während seiner 
Journalistentätigkeit hatte er nie aufgehört aus den Spalten unter 
dem Strich zu verdammen, was ihm an der Welfordnung gegen den 
Strich ging. Nun predigte er durch Novellen, Geschichten, die von 
irgendwelchen „faits divers“ den Anlaß nahmen, im Schema den 
französischen Naturalisten nacheiferten, dabei der polnischen 
Schranken bewußt waren und im Grunde mit ihrer herzlichen Naivität 
eher an die Madame de Segur als an Zola oder Goncourt erinnerten. 
Auch Erzählungen aus der Kinderwelt schrieb Prus gerne, der selbst 
ein großes, gütiges Kind blieb, das mit dem heiligen Feuer spielte. 
Die traurigen Schicksale der kleinen Anielka, die zwischen einem 


614 


leichtsinnigen Vater und einer lebensuntüchtigen Mutter dahinwelkt, 
des Proletariers Lachowicz Aufstieg zum Künstlerruhm und Reichtum 
(,,Anielka“ 1880 und „Dusze w niewoli“, „Seelen in der Gefangen- 
schaft“ 1877) seien als die am besten gelungenen Versuche des Er- 
zählers erwähnt, der lange sich mühte, ehe er die angeborenen 
Gaben recht zu verwenden lernte. 

Prus zählte bereits 38 Jahre, und er war, nach einem gescheiterten 
Extempore als Zeitungsherausgeber, wieder zum „Kurjer Warszawski“ 
zurückgekehrt, als er den ersten seiner großen Romane veröffent- 
lichte, die „Placówka“ (Schildwache). Der Erfolg stellte sich sofort 
ein, und er ist dem Buche bis heute beschieden. Nicht nur um der 
beträchtlichen künstlerischen Vorzüge willen, die hier eine unver- 
hehlte nationalpädagogische Tendenz adeln, sondern auch gerade 
wegen der politischen Färbung des Stoffes. 

Indes erst das nächste Werk des nun völlig gereiften Autors 
sprengt den polnischen Rahmen. In zwei umfangreichen Erzäh- 
lungen, der „Lalka“ (Die Puppe, 18%) und ,,Emancypantki“ (Die 
Emanzipierten, 1894) setzt sich Prus mit sozialen Zeitproblemen aus- 
einander, die, mochten sie auch durch ihre fein beobachtete Szenerie 
an Warschau geknüpft sein, darum nicht minder universell waren: 
mit der Verkommerzialisierung der untergehenden agrarisch-adeligen 
Gesellschaft und mii der Frauenfrage, die sich gebieterisch der neuen 
Generation aufdrangi. Wohl hatte der Dichter schon in seinen 
Feuilletonen und Novellen der Umschichtung, die sich vor seinen 
Augen vollzog und nach seinem Wunsch auch vollziehen sollte, seine 
Aufmerksamkeit gewidmet, auch in einem Roman, der wie eine Vor- 
studie zu den späteren, bedeutenderen Büchern anmutet, in der 
„Powracajaca Fala“ (Die zurückkehrende Welle) die Rolle des in- 
dustriellen Kapitals im veränderten Polen erörtert. Doch in den Er- 
zählungen aus den fruchtbaren Neunzigerjahren sprach er. sein de- 
finitives Urteil über die Vielfalt des Geschehens umher, fand er die 
endgültige Form für seine unvergänglichen Zeitgemälde. Er über- 
traf sie und schuf sich die Bürgschaft noch höheren Ruhmes durch 
den Roman aus dem alten Ägypten „Faraon“ (Pharao, 1897), welcher 
ganz unerwartet den glänzenden Publizisten, der ganz dem Augen- 
blick zu gehören schien, als einfühlsamen Deuter einer verklungenen 
Epoche, als hinreißenden Schilderer von durch Ort und Zeit ent- 
fernten Menschen zeigte. Die literarische Stellung des allverehrten 
Mannes war damit in Polen jedem Zweifel entrückt. Man betrachtete 
ihn als ebenbürtigen Genossen des weit mehr populären Sienkiewicz 
Auch die inzwischen heranwachsenden Nachfolger der seit den Sieb- 
zigerjahren herrschenden Positivisten, ein Zeromski und Reymont, 
schabien in Prus den Künstler und den Menschen, empfingen von ihm 
wichtige und dankbar anerkannte Anregungen. 

Prus schrieb weiter seine Artikel, er freute sich über die leisen 
Anzeichen der Besserung im Politischen und des starken Fortschritts 
in der sozialen Entwicklung. Stets respektvoll vernommen, ertönte 


515 


seine Stimme, um zu warnen und um zu mahnen, wenn er Gefahren 
seinem geliebien Volke nahen sah. Was er aus seiner Jugend als 
positive und negative Erfahrung mitgebracht hatte, ist ihm unanfast- 
bare Wahrheit: nur ernste, organisierte, friedliche Arbeit tut not. 
Vor allem aber, seid einig, einig, einig. Das Jahr 1905, die furchi- 
bare Katastrophe, von der das russische Reich erschüttert ward, ent- 
fesselt in Kongreßpolen einen förmlichen Guerillakrieg von Banden, 
die sämtlich nationalen oder klassenpolitischen Schlagworten ge- 
horchen, indes nicht immer von den vorgegebenen Motiven geleitet 
sind. Prus, der sich entsefensvoll der Insurrektion von 1863 und 
ihres Zusammenbruchs erinnert, mißbilligt den regellosen oder ıhm 
regellos scheinenden Aufruhr, der mühsam erzielte Werte zerstört; 
er brandmarkt die moralische Verwilderung, die sich unter dem Deck- 
mantel des Patriotismus oft bemerkbar macht; empfindet wohl dazu 
die instinktmäßige Abneigung des Szlachcicen, des, sei es auch ver- 
birgerlichten und demokratisierten Adeligen, gegen die Proles. Daß 
der Moment gekommen war, wo die Waffen sprechen durfien und 
mußten, hat er nicht erkannt, und eine Kluft dehnte sich, zum ersten- 
mal, zwischen ihm und der Jugend. Sein Roman „Dzieci“ (Die 
Kinder), den er 1910, nach dreizehn Jahren des Schweigens, veröffent- 
lichte, bot dafür den schmerzlichsten Beweis. Indes selbst das teil- 
weise künstlerische Mißlingen dieses Versuches einer dichterischen 
Abrechnung mit der revolutionären Bewegung tat den Gefühlen keinen 
Abbruch, mit denen die gesamte Nation an ihrem gütigen, besorgten 
Lehrer hing. Als Bolestaw Prus, zwei Jahre später, am 19. Mai 1912 
starb, zu Warschau, in den Sielen, wenige Tage, nachdem er seinen 
lebten Artikel für die Wochenschrift „Tygodnik Ilustrowany“ verfaßt 
hatte, die sich mit dem „Kurjer Warszawski“ im Ertrag seiner publi- 
zistischen Tätigkeit teilte; als das müde Herz stillstand, das nur für 
hohe und edle Ziele geschlagen hatte, da trauerte ganz Polen um 
den Dahingeschiedenen. 


Die schönsten menschlichen waren mit den Eigenschaften eines 
ausgezeichneten Schriftstellers in ihm vereint: Güte, Klugheit, Heiter- 
keit spiegelten sich im literarischen Werk als wahre Humanität der 
Gesinnung, als scharfe Beobachtung und Logik, als bezwingender 
Humor wider. Die scheue Zurückhaltung, das keusche Empfinden 
des Mannes wachten über die Grenzen, die vom Autor nie über- 
schritten wurden, so sehr auch bei manchen heiklen Stoffen und an- 
gesichts der realistischen Tendenzen die Versuchung dazu lockte. 
über diese Grundtatsachen hinaus ist Prus eine Mengnis der wider- 
sprechendsten Zuge gewesen, ja es scheint, daß selbst die eben ge- 
schilderten Umrisse seines Antliges zum Teil nur Maske gewesen 
sind. Wenigstens sehen wir, nach den posihumen Aufzeichnungen 
des Dichters, seine Bescheidenheit in neuem Licht, als Folge eines 
ungern, doch würdig eriragenen Zwanges. „Es zieht mich zu hohen 
Stellungen, ja sogar zum Glanz. Das ward aus meiner ununter- 


616 


brochenen Träumerei“. Dem armen Literaten, dem Angehörigen 
einer tyrannisch regierten, unterdrückten Nation wäre wirkliche 
Macht, wäre jeglicher Glanz nur um den Preis des Verrats an seinem 
Volke beschieden gewesen. Und diesen Preis zu zahlen, hat Prus 
abgelehnt. So blieb ihm nur: Prophetentum, Diktatur, staats- 
männisches Walten auf dem geduldigen Papier. Der zum Vollbringen 
befähigte Tatenmensch wandelte sich zum Prediger, zum Dichter, 
zum Publizisten: zum Meister der Feder und des Wortes, da er nicht 
der des Weltgeschehens werden konnte. 

An diesen Kontrasti von hohem Wollen und begrenztem Können 
reihen sich weitere Gegensätze. Wie in Prus’ Helden Wokulski (aus 
der „Puppe“) verschmolzen in ihm zwei Menschen, der Romantiker 
von vor 1860 und der Positivist der Siebzigerjahre. Der eine horchte 
sorgfältig auf seine, auf die allgemeine Vernunft, der andere lauschie 
ängstlich seinen Träumen. 

Es ist bei Prus das Kindliche dem Kindischen nahe, vom Er- 
habenen zum Belachbaren (ich will nicht sagen zum Lächerlichen) nur 
ein Schritt; wirkt die Gelehrsamkeit oft als papierener Kram, die 
Originalität als Schrulle, die Bedachtsamkeit als Pedanterie. Und 
unvermittelt sind Bücher, Ideen da nebeneinander, die der Weihe- 
stunde gereiften, inspirierten Schaffens den Ursprung danken, bei 
anderen die in ihrer naiven Unbeholfenheit den Spott des gesunden 
Hausverstandes entfesseln. Wir werden das noch genauer bestätigt 
finden, wenn wir uns in die Weltanschauung, in die Probleme des 
Dichters versenken. Doch bereits im Technischen enthüllt sich uns 
das Ungleichmäßige der Leistung. Sie war am vollkommensten, wo 
der Reporter und wo der Lyriker zu Wort gelangten. Der Staats- 
mann hatte sich auf den Posten eines Journalisten zurückziehen 
müssen und aus seinem aufgezwungenen Beruf die Vertrautheit mit 
tausend „fait divers“ gewonnen. Der Poet verstummte nie, auch 
dann nicht, wo die nüchternsten Dinge vorgetragen wurden. Drama- 
tische Kraft und die Geschicklichkeit des Erzählers hat Prus sich erst 
mühsam erworben. In seinen vor dem „Pharao“ erschienenen Wer- 
ken ist die Komposition stets anfechibar, wenn auch der Fortschritt 
in den neunziger Jahren offenbar wurde. Tagebücher, kapitelweise 
Einschübe überflüssiger Episoden, belehrende Gespräche unter- 
brechen die Handlung. Die Langwierigkeit der Fabel stört, ermiidet, 
und es ist iroßdem zumeist die Geschichte auch mit dem Schluß noch 
nicht zu Ende. Nach der letzten Seite der „Puppe“ und der „Eman- 
zipierten“ haben wir das Gefühl, die eigentliche Erzählung, der inter- 
essantere Teil des Romans, müsse nun erst beginnen. 

Die Ursache dafür ist nicht weit zu suchen. Sie lag in der Ar- 
beitsweise des Autors, der unter äußerem Muß für Zeitungen in 
Fortsetzungen schrieb, lange zur feilenden Sorgfalt keine Frist hatte. 
Wir erblicken die engste Verwandischaft zum französischen Roman- 
Feuilleton, die sich noch vielfach, z. B. in der geschraubten Aus- 
drucksweise der „feinen“ Leute, in dem Auftreten von gelegen 
herabschwebenden dii ex machina äußert. Dann in den Beschreibun- 


617 


gen, die mit den primitivsten Mitteln arbeiten, und obendrein den 
Stempel des Unerlebten eingeprägt haben. Als Landschaftsschilderer 
ist Prus ganz unzulänglich, banal, konventionell. Nur scheinbar 
malerisch, offenbar unplastisch und stets papieren. Besser steht es 
mit der Charakteristik der Personen, am besten um die Wiedergabe 
von bewegten Szenen. Da kommt der Reporter zum siegreichen 
Durchbruch, und es ergibt sich ein an den Film anklingendes lücken- 
loses, rasches Nacheinander von Momentaufnahmen, die den Ein- 
druck des wirklichen Lebens erzeugen. Szenen wie die Versteige- 
rung, der Auszug der Studenten, der Prozeß um die Puppe in der 
„Puppe“, der Tod Frau Latters, das Konzert in den „Emanzipierten“, 
die Erschießung des jungen Terroristen in den „Kindern“ prägen sich 
unauslöschlich dem Gedächtnis ein. 

Die hier geruhmien Beispiele stammen aus den großen Romanen 
von Prus, in denen entschieden die Vorzüge weitaus die Schatten- 
seiten überwiegen. In diesen späteren Werken ist ferner die 
Komposition besser geraten. Zwar bleiben noch die Tagebücher 
Rzeckis, die philosophischen Diskurse Professor Debickis als schwer 
abzuwälzende Sieine des Anstoßes in der „Puppe“ und in den 
„Emanzipierten“, indes dafür bereiten uns die glanzvolle Exposition, 
die nie erlahmende Spannung ein fasi physisches Wohlbehagen oder 
das Lusigefiihl, das eine gut aufgehende Gleichung bei mathematisch 
Empfindsamen auslöst. Mit kräftigen Strichen wird die Situation 
eingangs skizziert (der Anfang der „Emanzipierten‘ erinnert in seiner 
prachtvollen Sachlichkeit an den berühmten Beginn der „Anna Ka- 
renina“). Es folgt das Bild des Helden, meist inmitten seiner, ihn 
uns erklärenden Umgebung, hernach, ebenso gezeichnet, das des 
Gegenspielers. Und nun setzt die Aktion ein, der nur die beklagens- 
werten Einschübe Hindernisse bereiten und die gespreizten Dialoge 
gelegentlich das Interesse mindern. Den „Faraon“ habe ich bei 
dieser Kritik geflissentlich außer Betracht gelassen, denn er überragt 
die anderen Bücher von Prus so hoch wie das Genie das Talent, wie 
die Erfüllung die Verheißung. 

Auch was ich jekt über die Charaktere bei Prus sagen will, gilt, 
ob auch Paradigmen aus dem „Faraon“ herangezogen werden, im 
allgemeinen nur für diesem vorangehende Werke. Die Gestalten der 
„Puppe“ und der ,,Emanzipierten“,in noch höherem Grade die der frühe- 
ren Erzählungen, sind von einer Unkompliziertheit, die ihresgleichen 
sucht und die man im Roman-Feuilleton wiederfindet. Schon zur 
Schilderung des Außeren verwendet der Autor die einfachsten Mittel: 
summarische Angabe der Korperdimensionen, Beschreibung der (in 
ehrbarer Gesellschaft aufzählbaren) Körperteile, besondere Kenn- 
zeichen, zu denen, um mehr als die im Paß enthaltene polizeiliche 
Akribie zu erzielen, der Hinweis auf die Ticks der verschiedenen 
Helden tritt. Der beklagt das arme Vaterland, das ihm bei Tag’ 
und Nacht viel Müh’ und Plag’ macht, weshalb er zu den Maximi der 
Nation geht (mit denen er sehr intim ist), um bei ihnen Trost zu 
suchen. Jener klappert mit den Fingern auf seinem Rock. Ein hauch- 


518 


zartes Mädchen flüstert in regelmäßigen Abständen und bei regel- 
mäßig wiederkehrenden Enttäuschungen. daß sie sterben wolle und 
so dumm sei. 

Figuren spazieren mit sogenannten redenden Namen als Aus- 
hängeschilder herum. Ein Raufbold heißt Herr von Säbeln (Palasz- 
kiewicz), eine Emanzipierte Pantoflewicz, ein Bierbrauer Korkowicz 
(übersekung ist bei diesen beiden kaum nötig). Die Personen sind 
eben zumeist Schauspieler aus der Commedia dell’ arte, und nicht 
aus einer Balzacschen Comédie humaine; allein es sind vollendete 
Kreationen aus dieser etwas konventionellen Welt, in der eine jede 
Gestalt ihre Etikette hat. So wie die schöne Izabela ın der „Puppe“ 
für ihre Bekannten stets die Inschrift fertig hatte, der sich dann das 
Urteil anpaßte, so geht es ihrem Schöpfer. Wir können etwa drei 
Dutzend Charaktere unterscheiden, die in den Erzählungen wieder- 
kehren, Manner und Frauen, Kinder und...Tiere. Da ist der Idealist, 
der im Kampfe für den Fortschritt und die Idee gegen die Reaktion 
und die Materie untergeht, halb Volksfeind, halb Josef ll., also des 
Volkes Freund und einer, der seine Pflicht als Mensch und Monarch, 
beziehungsweise Großindustrieller, Großkaufmann getan zu haben 
glaubt, wenn er, da er die Gerechtigkeit geliebt und das Unrecht 
gehat hat, in der Verbannung aus dem Reiche der individuellen 
Glückseligkeit stirbt: Wokulski, später Ramses XIII. im „Faraon“. 
Eine zweite Spielart des Reformators, die gesündere Nerven hat und 
der Regel nach hohe Geburt mit ebensolcher Intelligenz und daher 
ditto Einnahmen vereinigt: Solski in den „Emanzipierten“, Ochocki in 
der „Puppe“, schon früher Grodzki im „Verfluchten Glück“ und 
Sielski in den „Seelen in der Gefangenschaft“. Ein dritter Typus, 
mehr Theorie, professoral, Erfinder, Genie, bedürfnislos, Vorläufer, 
dem zu Lebzeiten niemand und hernach alle nachlaufen, so etwa 
Gregor Mendel und Schneider von Ulm, Diogenes und Professor 
Mirakel: der Geist, der stets bejaht — und seinen Namen mit sehr 
primitiver Symbolik spazieren führt — in der „Puppe“, der greise 
Menes im „Faraon“ und auch Professor Debicki in den „Emanzipier- 
ten“. Der steht freilich mit einem Fuß bei den Raisonneuren, die in 
jedem der repräsentativen Romane von Bolestaw Prus die Handlung 
mit ihren Kommentaren zu einem sehr bürgerlichen Gesetzbuch des 
Weltgeschehens begleiten, sich von den geistigen Genies durch geist- 
reichen Zynismus unterscheiden, doch im übrigen ganz wackere Zeit- 
genossen sind: Dr. Szuman in der „Puppe“, Zdzistaw Brzeski in den 
„Emanzipierten“, Dr. Debowski in den „Kindern“, ein wenig auch der 
weise Herhor im „Faraon“. 

Es gibt ferner: tüchtige Söhne des Volkes, die sich aus der Nacht 
zum wärmenden Licht emporarbeiten: Lachowicz, der Maler in den 
„Seelen in der Gefangenschaft“, Kotowski in den „Emanzipierten“, 
Wiadek Linowski in den „Kindern“, sicherlich die Studenten aus der 
„Puppe“ und als sublimierte Form dieses Typus der Priester Pentuer; 
Emporkömmlinge zweiter, moralisch minderer Kategorie: die Fabri- 
kanten Adler (Die zurückkehrende Flut), Korkowicz (Die Emanzipier- 


519 


ten), Suzin (Die Puppe), und zuriickiransportiert ins Altertum der 
Phonizier Dagon, von dem wieder der Weg zu den köstlichen juden- 
typen der beiden Szlangbaum (in der „Puppe“), zum Pfeferman in 
den „Kindern“ führt. Von da aber weiter zu den Originalen: den 
Betriigern und irrenden Industrierittern, den Jumart und Maruszewicz 
in der „Puppe“, den bösen Wirten, Advokaten und Kaufleuten, den 
alien, erbärmlichen, erbarmungswürdigen Trunkenbolden der „Seelen 
in der Gefangenschaft“ und der „Sünden der Kindheit“. 

Eine Galerie von leichisinnigen Liebhabern und falschen Helden- 
tenoren folgt: verführerische Jugend noch unbefangen genießend, wie 
die Starski (Die Puppe) und Morski (Die Emanzipierten) zusami dem 
antiken Incroyable Tutmosis; nach durchstürmiem Frühling im noch 
immer recht windigen Sommer ihres schrankenlosen Vergnügens (Jan 
in „Anielka“) oder im Winter ihres Mißvergnügens (Lecki in der 
»Puppe"). Diese Portraits werden zum Portraii-charge: des alten 
Steigers (Krukowski, Dalski in den ,,Emanzipierten“ bzw. in der 
»Puppe“) und jenes Ober-Steigers Krzeszowski (Die Puppe); der den 
Mädchenherzen gefährlichen Bohémiens Rossi (Die Puppe), Sataniello 
(Die Emanzipierten) und Lykon (Faraon). Mit besonderer Liebe ver- 
weilt dagegen Prus bei den tugendhaften Gegenstücken dieser 
schwarzen Schafe und Hammel: den braven Männern aus dem Volk 
(der Bauer Karbowy in „Anielka“, die Wysocki in der „Puppe“, Slimak 
in der „Schildwache“, der unglückliche Horige im „Faraon“], bei der 
kernigen alten Szlachta: Rzecki, Wokulski père in der „Puppe“, der 
Major Mielnicki in den „Emanzipierten“, der Förster Linowski in den 
„Kindern“, dieser aller Widerspiel in Agypten, Nitager. 

Hier ist der Autor mit seinem ganzen Herzen und mit seinem 
ganzen künstlerischen Vermögen. Und noch bei den zarten Mädchen- 
gestalten, Kindern, die — kein Engel ist so rein — deiner Huld, 
o Leser, nachdrücklich empfohlen sind. Eine liebliche, liebenswürdige 
Galerie von Seraphim und Cherubim, bedeutet, physisch so appetit- 
lich, wie den Mephistopheles die himmlischen Heerscharen, in den 
Erzählungen von Prus die auf ihrem Gewissen als sanftem Ruhe- 
kissen ruhenden Polinnen in der Erscheinungen Flucht. Anielka, mit 
den sprechenden Kinderaugen und dem sprechenden Namen, Helena 
Wilska im „Verfluchten Glück“, Frau Stawska in der „Puppe“, Madzia 
in den „Emanzipierten", Sara im „Faraon“, Jadwiga in den „Kindern“ 
sind, wie Nestroys Judith, Töchter (oder Frauen) aus einem sehr guten 
polnischen (oder israelitischen) Haus und kennen sich vor Unschuld 
gar nicht mehr aus. Die unnaturliche und übernatürliche Güte dieser 
unwahrscheinlich holdseligen Gestalten wird uns indes von Prus so 
glaubhaft gemacht, es umgibt sie so viel zarte Poesie, daß, was 
sonst als künstlerisches Manko in einem programmäßig realistischen 
Werk zu rügen wäre, hier zum Ruhmestitel wird. Zauberhaft durch- 
schweben die anmutigen Wesen eine düstere, graue seelische Land- 
schaft, da sie doch in einen lachenden Hain Botticellis oder der 
britischen Präraffaeliten gehörten. Auf sie konzentriert sich unsere 
Sympathie, und wir haben nichts mehr fur die Koketten übrig, denen 


520 


sonst, im Buch und in der Wirklichkeit, der Erfolg vor den zuchfigen 
Jungfrauen in den gut verwerteten Schoß fällt. Die Isabella Lecka, 
heiter-traurige Titelfigur der „Puppe“, die Helena Norska aus den 
„Emanzipierten“, nebst ihren blasseren Repliken, Eveline und 
Eufemja, zusamt ihren antiken Gegenstücken, Kama und Hebron, 
könnten uns, würde nur ihre Tragik erfaßt und teilnehmend geschil- 
dert, auch menschlich nahekommen. Boleslaw Prus, der Muster- 
schüler und Musterlehrer, steht diesen welischulordnungwidrigen Zog- 
lingen einer literarischen Besserungsanstalt mit verständnisloser Ab- 
neigung gegenüber. Wir werden gleich sehen, warum. Höchstens 
wenn eine die Kokette mimt, aber eigentlich gar nicht so ist, wird ihr 
Absolution erteilt und vom Leser erwirkt, wie für Frau Wasowska 
aus der „Puppe“, die in „Anielka“ jüdin ist und Weiß genannt wird, 
schon vordem in den „Seelen in Gefangenschaft“ als Leontine ums 
Morgenrot aus schweren wollüsfigen Träumen fuhr. Oder dann, wenn 
die böse Lust durch ein klägliches Ende gebüßt ward, wie bei Frau 
Mincel, requiescat in pace. Endlich, Konzession an die Zeit, der 
Dirne, Komodiantin, Idiotin (in der „Puppe“, den ,,Emanzipierten“, der 
„Schildwache“], die Opfer sozialer Ungerechtigkeit sind. Auf der 
schwarzen Liste stehen weiter die heimlich mannstollen Emanzipier- 
ten, wie die Howard, die Walentyna, die Meliton, drei photographisch 
getreue Bildnisse des einen Typus der Gouvernante à la recherche 
du spasme perdu; die böse Sieben — Herod-baba heißt man der- 
gleichen süße Weiblichkeit in Polen — unübertrefflich verkörpert in 
den beiden Damen Krukowska (Die Emanzipierten) und Krzeszowska 
(Die Puppe). Dafür als Ideale, nach den schon gepriesenen Engels- 
mädchen: die „Mafka- Polka“, eine sarmatische Abart von sparta- 
nischer Mutier und mére de famille, tadelfrei als Frau Linowska in 
den „Kindern“, etwas verblendet als die Mutter der Stawska in der 
„Puppe“, maniakisch mütterlich und sonst beinahe von moral insanity 
behaftet, Frau Latter in den „Emanzipierten“, in agyptischer Verklei- 
dung die Konigin Nikotris. Dann begegnen uns, wiederum Kabinett- 
stücke feiner Portratkunst, die prächtigen alten Damen, die Frau 
Prasidentin Zastawska, die Tante der Solski und die Großmutier 
Mincel (Die Puppe). Schließlich die Bäuerinnen, zäh, einfaltig, 
wacker, in ihrer Beschränktheit wenigstens des Hauses Meister und 
zu Hausmeisterinnen in den Chäteaux d’Espagne bestimmt, die Prus 
in der polnischen Zukunft erbauen möchte: die Slimak als Grund- 
typus, die Karbowa (Anielka) als Variation. 

Reizend, aus innigster Seelenverwandtschaft heraus begriffen, 
die Kinder. Derbe Bauernburschen, wie die Sohne der Slimak, ver- 
zogene Herrchen, die einmal zu Norskis und Starskis werden, die 
Jözio (Anielka), Stiefkinder des Schicksals, wie Jasia (Waisenlos) und 
der wunderholde Naturknabe Psujak im Faraon. Am Ende der Skala 
aber, die vom geistesmächtigen Entdecker zum primitiven Instinkt- 
wesen hinabgleitet, unter den Kindern und Bauern, die Tiere, der 
Menschen geringere, gequaltere Brüder und Opfer, Karusek und 
Cäsar, die unter einem üblen Stern geborenen Hunde. 


521 


Wenn wir die vortreffliche Leistung des Porträtisten bestaunen, 
der so viel von einander verschiedene Typen, zwar nicht geschaffen, 
doch scharf gezeichnet hat, so müssen wir am Schluß die Einschrän- 
kung wiederholen, die stets von konventionellen, stilisierten Figuren 
gilt: es bleibt beim äußerlichen Umriß, beim — naturgetreuen — 
Kolorit, beim Versuch, innerseelisches Geschehen durch geschilderte 
Gebärden, Äußerungen, allenfalls noch auf dem undankbaren Weg 
des Tagebuches und des Selbsigesprächs zu erfassen. „Eher ver- 
mag der Mensch zu erblicken, was sich in einem Felsen birgt, als 
daß er fremde Herzen erforschte“, heißt es im „Faraon“, und Bolestaw 
Prus hat aus diesem resignierten „Ignorabimus“ die Folgerungen 
gezogen. Was sich tief auf dem Grund des Halbbewußten, Unter- 
bewuBten, Unbewußten birgt, blieb ihm völlig verschleiert. Sein 
kindliches, ahnungsloses Gemüt sah nicht in diese Abgründe. Und 
jest kommt das Geniale dieser geraden, bescheidenen Künstlernatur. 
Bei näherer Betrachtung entdecken wir in des Dichters Werken dort, 
wo er gar nicht meinte, diese scheinbar unergründlichen Geheimnisse 
der Psyche zu entratseln, daß sein Unterbewußtsein um das alles 
wußte. Da öffnet sich unter der schüßenden Hülle der Kon- 
vention, die er freiwillig nie verletzte, ein Pandamonium von Leiden- 
schaften, Trieben, Tücken, vor denen er zurückgeschaudert hatte; 
treten hinter der bürgerlichen und romantischen Tragik seiner er- 
guickend anstandigen Biicher Probleme hervor, von denen man nicht 
spricht, zu seiner Zeit nicht sprechen durfte. 

Prus hat den Hauch des Eros kaum verspürt. Seine Liebes- 
episoden — ich denke nur an die, welche sich in den Werken finden — 
haben entweder etwas von der wohlerzogenen Unsinnlichkeit der 
Marlitt, der englischen Gesellschaftsromane und, wo es lustig zu- 
ging, der „Fliegenden Blätter“ an sich, oder es geht um zurück- 
haltend gestreifte, grob-physische und sehr normgemäße Bedurf- 
nisse. Wo sich ein wenig perverse Parfüme in den Lavendel- oder 
Stallduft mengen, merkt man sofort, daß ihr Geruch und Gebrauch 
dem Autor ungewohnt ist und nur der Mode zu Gefallen geschah. 
Diese anerotische und regelgemäße Veranlagung ist die Ursache, 
daß Prus so wenig Mitgefühl mit seinen „bösen“ Gestalten hatte und 
so wenig in die Urgründe hineinleuchtete, warum denn eine Isabella 
Lecka guisituierte Großkaufleute auf dem Wege zur zweiten Million 
straucheln ließ; warum ein Starski sich mit der häßlichen reichen 
Erbin und nicht mit dem finanziell minderwertigen Engel verehelichte. 

So müssen wir denn selbst erst konstatieren, daß in den „Eman- 
zipierten“ die Hollenqualen des unbefriedigten Weibes das Haupt- 
motiv bilden. Daß die „Puppe“ nicht etwa oder bloß den Konflikt der 
gutsherrlichen und kaufherrlichen Sphären, die üblen Folgen einer 
leeren Salonerziehung oder was sonst für eine moralische Lektion 
darstellt, sondern mit erschütternder Tragik, die wie stets das 
sexuelle Trauerspiel die Grotesk-Komödie streift, das Ringen eines 
alternden Mannes, der seine Geschlechtskräfte vergeudet oder unter- 
jocht hatte, um den seligen Rausch, die Torschlußpanik eines, der am 


522 


Gastmahl des Lebens nicht die rechten Speisen genießen durfte und 
nun fürchtet, von dannen zu müssen, ehe er sich ergößen durfte. 
Des Pharaonen Ramses Gluck und Ende dagegen, diese Erzählung 
ist ihrem Problem nach, iroßk enigegengesesten Anscheines ganz 
unsexuell, zeigt uns unter dem Deckmantel der vom Autor beabsich- 
tigten Historie vom Widerstreit des geistlichen und des weltlichen 
Schwertes, mit kaum faßbarer furchtbarer Lebenswahrheit ein wirk- 
liches Kapitel aus der Weltgeschichte in ganz anderen Zeiten und 
Breiten. 

Diese verdeckten, unbewußten Molive machen in weit höherem 
Grad den Wert seiner Leistung aus als die ins Auge springenden 
didaktischen. Bolestaw Prus war kaum dessen gewahr, was er an 
künstlerischer Größe in sich trug. Er wollte nur der Denker und 
Lehrer sein. Die beabsichtigten Motive seiner Erzählung 
streben ausnahmslos danach ridendo dicere verum, lächelnd heilsame 
Wahrheit zu predigen und verderbliche Lüge zu züchtigen; der Ge- 
rechtigkeit und Gute die Bahn zu ebnen, der rohen Gewalt und der 
Arglist ein abschreckendes Spiegelbild vorzuhalten. Prus hat sich 
ein philosophisches System zurechigelegt, und er schrieb zu diesem 
Evangelium exemplifizierende Bucher der Chronik. Da kämpfen Un- 
glaube und Skepsis, Eigensucht und Gemeinempfinden, Geld und 
Liebe, Kapital und Arbeit, Urteil und Vorurteil, Herz und Hirn mit- 
einander. Dem unverbesserlichen Optimisten und Romantiker Glo- 
wacki haben wir den stets errungenen Sieg zuzuschreiben, den die 
geistigen Kräfte sub specie aeternitatis erringen; der nüchterne 
Realist und Beobachter Prus laßt dafür hienieden das lebenstüch- 
tigere Bose, die Materie triumphieren, so daß man unter diesem Ge- 
sichtspunkt unseren Autor einen Pessimisien schelten konnte. Kon- 
sequenzen dieser Zweiheit: daß die Echtheit, die objektive Wahrheit 
des Berichteten von keiner falschen Illusion zerstört, daß anderseits 
dem idealen Glauben sein Recht gewahrt ist. Denn es tragen die 
erliegenden Streiter für das Gute, Große, Zukünftige das Bewußt- 
sein hinüber: Non omnis moriar: es kann die Spur von meinen Erden- 
tagen nicht völlig untergehen. 

Wie der Künstler, so strebte auch der Denker Prus nach har- 
monischer Vereinigung von unerbittlicher Tatsache und befreiender 
Dichtung, von Geist und Materie, sittlicher Forderung und praktischer 
Möglichkeit. Er strebt, damit zu tiefst als Optimist erwiesen, nach 
dem Kompromiß zwischen den in uns, um uns einander widerstreben- 
den Urkräften. Ein wenig, wie es im polnischen Sprichwort heißt, 
so, daß der Wolf satt und die Ziege unversehrt sein möge. Das 
Grundproblem unseres Seins: der Logik, Ethik, Psychologie und 
Metaphysik, reduziert sich darauf, dem Willen, dem Gefuhl und der 
Vernunft ihre Befriedigung zu schaffen, die im Erreichen der Voll- 
kommenheit, des Glücks, des Nußens besteht. Einen, den besten er- 
reichbaren Grad von Vollkommenheit, Gluck, Nußlichkeit zu erringen, 
obliegt jeder, ersirebt jede Kreatur; soll die Gemeinschaft ihren Mit- 
gliedern, müssen die Mitglieder ihre Gemeinschaft sichern. Das Leben 


34 NF 5 525 


wird, für den frommen Mathematiker Prus, zu einer Gleichung mit 
drei Unbekannten, wo für x, y und z jeder beliebige positive Wert 
eingesetzt werden kann. Spinnen wir den mathematischen Vergleich 
fort: x, der Willen, y, das Gefühl, z, die Vernunft, sind Produkte aus 
O und œ, aus dem nichtigen irdischen und aus dem unendlichen 
ewigen Faktor. Und man erinnert sich, daß bei diesem Produkt das 
Resultat völlig unbestimmt ist. 

Prus zieht also noch eine weitere Größe in den Bereich seines 
Problems: die positive Religion, beileibe nicht die Religion des Po- 
sitivismus. Sie offenbart uns, welche der zahllosen Lösungen die 
einzige für uns anwendbare ist, wobei der tolerante Rechenmeister 
noch immer insgesamt die verschiedensten Möglichkeiten zuläßt; im 
Hause unseres Vaters sind viele Wohnungen. Sehe jeder, wohin es 
ihn treibe, wenn es nur in eine Zelle des Göttlichen Weligebaudes 
hintreibt. „Die Religion ist eine große und wohlfäfige Macht. Sie 
zeigt den Menschen überirdische Richtungen, die verfolgend, man 
dennoch irdisches Glück und den Frieden finden kann.“ Nur so er- 
tragt man den Schauder, der uns sonst vor dem Nichts ergreifen 
würde, das, bei gröblichstem Materialismus, überall hinter dem ver- 
gänglichen Augenblick uns entgegendroht. „Wo ist die Seele?“ laßt 
Prus einen Vertreter des philosophischen Nihilismus im deutlichen 
Anklang an einen Ausspruch Virchows fragen. „Die Gelehrten ent- 
deckten im Hirn nur Fett, Blut, Phosphor, Millionen Zellen, Faserchen, 
aber keine Seele.“ Und die Antwort des Autors an seine Kreatur: 
„Welch ein ungeheuerlicher Gedanke, eine Weile zu existieren, um 
hernach ein Nichts zu werden!“ „Alles ist eitel und Staub, ärger 
noch, Täuschung... Eines nur ist groß und wahr, der Tod“, heißt es 
im „Faraon“, und die zweite Entgegnung lautet: „Sehet, wie klaglich 
sind der Menschen Hoffnungen vor der Weltordnung, vor den Urteils- 
sprüchen, die mit Flammenschrift der Ewige aufgezeichnet hat.“ 

Die Überwindung eines törichten, schädlichen, primitiven Ma- 
terialismus durch die Gewißheit einer höheren Sende ist die Vor- 
aussetzung dafür, daß die sonst unentwirrbaren Konflikte der inter- 
essen geschlichtet werden, ohne daß einer Partei eine Unbill wider- 
führe. Der Sozialismus von Bolestaw Prus, sein warmes Fühlen mit 
den Enterbten, wurzelt nicht etwa in der marxistischen, positivistischen 
Theorie des Klassenkampfes, sondern in Überzeugungen, die an 
Albert de Mun, Péguy, Marc Sangnier in Frankreich, an Vogelsang, 
Ketteler in Deutschland gemahnen. Nach den Grundsätzen eines 
christlichen Solidarismus will er das Zusammenwirken der Bevol- 
kerungsschichten und der einzelnen, nach denen der christlichen 
Moral das Tun und Handeln geregelt wissen. 

Manche stark betonte Außerlichkeiten täuschen indes uber die 
seiner Epoche so fremden Hauptideen des polnischen Positivisten 
hinweg. Prus nahm von den damals im Westen herrschenden Lehr- 
meistern die Argumente für eine revolutionäre Umwälzung in der 
Organisation der ihn umgebenden Gesellschaft. Daß er die in ihrer 
sozialen Entwicklung schier beim Mittelalter stehengebliebene pol- 


524 


nische Nation anders, wirtschaftlich differenzierter, und den Methoden 
des modernen Lebens gewachsen machen wollie, nahm man als an 
sich revolutionäres Bestreben; die Betonung der Rolle des mobilen 
und industriellen Kapitals für eine Bejahung des Materialismus, den 
Protest gegen die Auswüchse des kapitalistischen Systems für ein 
Bekenntnis zum orthodoxen Sozialismus, die Anleihen bei Comte, 
Buckle, Spencer, Taine für Vasallenschaft gegenüber der positi- 
vistischen Antikirche und vollends manche Außerungen wider die 
Geistlichkeit für eine Absage an den Katholizismus. 

In Wirklichkeit wiederholt Bolestaw Prus im 19. Jahrhundert nur, 
was sich im 18. schon einmal vollzogen hatte, die Polonisierung einer 
gänzlich anders gearteten, anderen Vorbedingungen entstromenden 
Weltansicht. Sowie die Krasicki und Naruszewicz unter Stanisław 
August Poniatowski scheinbar die Lehren von Voltaire und Rousseau 
verkündet hatten und trojdem den jahrtausendalten Zusammenhang 
der Begriffe Polentum und Katholizismus nicht zerrissen, so gab Prus 
dem Positivismus der Atheisten, Skeptiker und Kirchenfeinde des 
19. Jahrhunderts eine polnische, katholische Form. 

Das sagt schon, wie wir über die Bedeutung des Denkers ur- 
teilen. Der Autor des „Faraon“ gehört nicht in die erste Reihe der 
selbständigen Schöpfer und Bahnbrecher. Doch gleich hernach, bei 
den hervorragenden Gestaltern, die aus schon vorhandenem Material 
ein Neues und Betrachtliches formten, müssen wir ihm den Plak ein- 
räumen. Wenn wir jebt einige der Quellen aufsuchen, die seine 
Ideen befruchtet, gespeist haben, so heißt das nicht, als wollten wir 
mit der Originalität auch den Wert der Prus’schen Leistung leugnen. 
Unser Dichter hat zeit seines bienenfleißigen Lebens rastlos an seiner 
Kenntnis und Erkenntnis gearbeitet. Seine literarische Kultur war 
ungewöhnlich groß und vielseitig. Kaum einer der genialen Weg- 
weiser oder der dominierenden Zeitgenossen, dem er nicht irgendwie 
verpflichtet ware. Cervantes und Moliére, Voltaire und Rousseau, 
Victor Hugo, Balzac und Flaubert, Zola und Alphonse Daudet, Sue 
und Olmet, Comte und Taine; Zschokke, Gustav Freytag, Spielhagen 
und Ebers; Spencer und Buckle, Thackeray und Dickens, Bulwer und 
Edgar Poe; Gogol, Dostoevskij und Tolstoj konnen wir als Vorbilder, 
Anreger bald hier, bald dort feststellen. 

Der grundsätzliche Optimismus, der Glauben an die Güte im 
Menschen rührt von Rousseau her, gelegentliche Ausfälle gegen den 
Priestertrug hat Voltaire auf dem Kerbholz. Taine lieferte die Milieu- 
theorie, einen der Grundpfeiler von Prus’ Weltanschauung (,,Starski, 
Isabella, Eveline sind nicht vom Mond gefallen, sondern in einer 
bestimmten Sphäre, Epoche, unter bestimmten Ansichten erzogen 
worden“). Der Kult des Nüßlichen als Triebfeder unseres Verstandes 
stammt von Buckle, Spencer und älteren englischen Ufilitarisfen. 
(Zu den Angelsachsen, mit ihrer diesseitsbewußten Religiösität zieht 
es Bolestaw Prus immer wieder; nicht infolge einer gar nicht vor- 
handenen Seelenverwandischaft, sondern à rebours seiner Wesen- 
heit, weil er gerne so sein möchte wie jene). Die übrigen von mir 


525 


erwähnten Schriftsteller, Große, minder Große und ganz Kleine, 
haben Szenerien, Szenen, Charaktere, technisches Rüstzeug bei- 
gesteuert. Man kommt bei Prus haufig zu unerwarteten Ergebnissen. 
Wer würde z. B. im Ehepaar Korkowicz in den „Emanzipierten‘ eine 
Umkehrung des Bourgeois gentilhomme und seiner handfest-klugen 
Gattin vermuten? Und doch ist der Zusammenhang so gewiß wie 
der zwischen Wokulski in der „Puppe“ und George Dandin. Die 
„Misérables“ Victor Hugos erscheinen auf Schritt und Tritt, auf die 
Anklänge an „Notre Dame“ wird noch später, beim „Faraon“ hin- 
zudeuten sein. Dort begegnen wir auch den Reminiszenzen an Bul- 
wers „Letzte Tage von Pompei“, an Flauberts „Salammbö“, während 
diese vier, Balzac, Zola, Dickens und... Sue im gesamten Werk des 
polnischen Dichters gegenwärtig sind. Von Balzac die dämonische 
Rolle des Geldes, an dem alles hängt, von dem alles abhängt. Von 
Balzac die ins Weibliche und Polnische transponierte „Mama Goriot‘“, 
Frau Latter in den „Emanzipierten“, die Reihe der polnischen Ra- 
stignac und auch M. Arnold, ein Warschauer Colonel Chaberl, von 
Balzac der Professor Geist, auch ein „Rechercheur de l'Absolu“. Von 
ihm und von... Ohne der arme, reiche Wokulski, der so gerne eine 
Hütte besigen möchte, um sein spätes bürgerliches Gluck mit der 
begehrten arıstokratischen Puppe zu genießen. Dickens: die gut- 
mütige Realistik der Prus’schen Zeitromane, die Wunderlichkeiten 
braver Fossilien, die in schlechte neue aus der guien alten Zeit 
hineinragen. Zola: die naturalia, wo sie turpia sind. 

Die „Schildwache“ hat mit der „Terre“, „Seelen in Gefangen- 
schaft“ haben mit „L’CEuvre“ das Thema und mehr als das gemein- 
sam. In der „Puppe“ und in den „Emanzipierten“ vernehmen wir 
das Echo von einem Dukend Zolascher Romane, so hauptsächlich von 
„Une Page d’Amour“, „Au Bonheur des Dames“. Alphonse Daudets 
„Jack“ ist noch in der polnischen Verkleidung als Vorbild der erbar- 
menswerten kleinen Kreaturen erkennbar, durch deren Schicksal uns 
Prus so oft rührt. Die philosophischen Dialoge in den „Emanzipier- 
ten“ verleugnen nicht, daß ihnen die des Pfarrers Bournisien und des 
Apothekers Homais in „Madame Bovary“ vorangegangen waren. 
Eugene Sue aber war das verkörperte Roman-Feuilleton und darum 
überall Helfer in der Not, wo Prus einmal die eigene und die fremde 
Erfindung ausging. (Es im einzelnen und dubendfach nachzuweisen, 
sollte Aufgabe einer gelehrten und kann nicht die unserer flüchtigen 
Untersuchung sein.) 

Von den Deutschen Gustav Freytag und Spielhagen entichnte 
der Pole zweifelsohne den Rahmen zu seiner Kaufmannserzählung 
„Die Puppe“. Das Personal im Warenhaus Wokulskis ist eine Kopie 
nach einem Original, das „Soll und Haben“ heißt. Und dazu stehen 
die meisten Figuren „In Reih’ und Glied“. Georg Ebers war, neben 
Flaubert und Bulwer, der Anlaß, freilich nicht das Vorbild, für den 
„Faraon“. Den guten alten Zschokke habe ich nur hergesetzt, um an 
einem sonst nicht beachteten Exempel zu zeigen, wie weite Umschau 
Prus bei seiner Stoffwahl hielt. In der Erzählung „Seelen in Ge- 


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fangenschaft“ spielt die schelmische Leontine auf einem Ballfest die 
Rolle, welche beim „Abenteuer einer Neujahrsnacht“ dem geist- 
reichen, spöttischen Prinzen zukam. 

Der russische Einfluß war stark. Merkwürdigerweise nicht so 
sehr in der Ideenwelt als auf die Motive und auf die Komposition. 
Wir haben schon erwähnt, wie z. B. der Anfang der „Emanzipierfen“ 
an „Anna Karenina“ erinnert. Deren Spuren verrät in der „Puppe“ 
die Szene, in der Wokulski den Tod auf den Schienen sucht, während 
wiederum die Gestali des ihm Lebensmut predigenden Weichen- 
stellers die eines richtigen „Bo2ij Celovék“ Dostoevskijs und Tolstojs 
ist. (Der Lakai im „Tod des Ivan ll'i&“ !) Rzeckis Tagebuch mutet 
fast wie eine Fortsetzung des von Gogol verfaßten, jenes merkwürdi- 
gen Titularrates an, der sich so lange mit der hohen Politik beschäf- 
tigt, bis er von einer Deputation der spanischen Granden ins Irren- 
haus gebeten wird. Die „Briider Karamazov“ haben die ersten Seiten 
von „Sünden der Kindheit“ angeregt. 

Die Analogien ließen sich verhundertfachen. Freilich gebietet 
dem leidenschaftlichen Einfluß-Forscher der Umstand Vorsicht, daß 
manchmal der Zufall seltsames Spiel treibt und Gemeinsamkeiten 
hervorruft, die durch keinerlei Abhängigkeit zu erklären sind. Ver- 
gleicht man so die Worte, mit denen Prus den Tod Rzeckis berichtet, 
mit der wundervollen Erzählung vom Tod Bergottes bei Marcel Proust, 
so staunt man über das Spiel des Zufalls, der obendrein noch die 
Namen des Polen und des Franzosen einander zum Verwechseln 
ähneln ließ. 

Auf festem Boden stehen wir dagegen, wo wir Prus in seiner 
Abhängigkeit von älteren polnischen Autoren untersuchen. Dreien 
ist er zunachst verpflichtet: Ignacy Krasicki, dem polnischen Voltaire, 
Józef Korzeniowski und J. I. Kraszewski, die vor den Positivisten die 
besten polnischen Erzahler waren. Krasicki, der Fiirstbischof von 
Ermland und Günstling Friedrichs des Großen, der Zögling der fran- 
zosischen Enzyklopadie und polnische Patriot, hat den Typus des 
Romans in staatsbürgerlicher Absicht für seine Heimat geschaffen. 
Der „Herr Untertruchse§“ und „Herr Doświadczyński“ waren zugleich 
vorzügliche Sittengemälde und politische Predigt mit stark national- 
okonomischem Einschlag. Von Krasicki geht eine gerade Linie zur 
„Puppe“ und zu den „Emanzipierten“. Die Übereinstimmung kommt 
bei einzelnen Szenen besonders zum Bewußtsein, so, wenn der Gast 
auf dem Gut der Präsidentin Zaslawska die Spuren der sorgsamen 
Wirtschaft bewundert. Korzeniowski hat im „Spekulant“ und in 
anderen Romanen ebenfalls Prus’sche Themen und Situationen vor- 
weggenommen. Am augenfalligsten erscheint uns hingegen die 
Identität der Stoffe, wenn wir Kraszewskis „Zwei Welten“ und „Mori- 
turi“ der „Puppe“ gegeniberstellen. Zu den Sternen zweiter Größe 
am polnischen Literaturhimmel bei Prus Analogien herauszubekom- 
men, ist nicht schwer, doch hier kaum geboten. Wenn wir noch auf 
die ideologische Abhängigkeit von Mickiewicz hinweisen (z. B. von 
dessen herrlicher „Ode an die Jugend“ und ihren Preis des Gemein- 


527 


schaftssinnes, ihre Verdammung der Ichsucht), haben wir über Prus 
Beziehungen zu seinen Vorfahren genug gemeldet. Es erübrigt uns 
nur, zu berichten, wie nachhaltig sein Einfluß auf die Späteren war. 
Sienkiewicz — dem der Zeitgenosse oft zu billiger Parallele gegen- 
übergestellt wurde und von dem er wohl den Anstoß zur „Schild- 
wache“ in der Novelle „Bartel, der Sieger“ empfing — hatte die 
„Familie Polaniecki“ kaum geschrieben, ohne daß ihr die „Puppe“ 
vorhergegangen war. Reymont nahm zu seinen „Bauern“ von der 
„Schildwache“ den Ausgang. Zeromskis gesamtes Schaffen ist wie 
eine Fortsetzung des Werks von Bolesław Prus. Aus Madzia (zu der 
Zeromskis erste Gattin Modell gestanden hatte) wird die Joasia der 
„Heimatlosen Menschen“, Wokulski lebt in einem halben Dubend 
Zeromskischer Gestalten. Den „Kindern“ reiht sich der „Kampf mit 
dem Satan“ des jüngeren Dichters an. Der „Faraon“ schuf die Tra- 
dition des polnischen, die heimatlichen Grenzen überschreitenden 
Romans, den heute Berent glanzvoll repräsentiert. 

An den Früchten kann man erkennen, daß die Saat von Bolesiaw 
Prus eine gute und heilsame war. An der Lebendigkeit seines Werkes, 
das, trob veränderter äußerer Verhältnisse, nichts von der ursprüng- 
lichen Frische eingebüßt hat, dessen inneren Wert. Es gewährte ihm 
Achtung und Liebe einiger kommender Generationen, wäre nicht ein 
Buch, das ihm Unsterblichkeit verbürgt. Von dem, vom „Faraon“, 
sei nunmehr einiges gesagt. 


Der Dichter hat sich zu seiner Aufgabe durch gründliche Studien 
vorbereitet. Um den Plan einer ägyptischen Erzählung zu verwirk- 
lichen, irat Prus, trok seiner fast krankhaften Abneigung gegen Orts- 
veränderung, eine lange währende Reise nach Mittel- und West- 
europa an, wo er die Museen von Berlin, Dresden und Paris besuchte. 
Zu Ende 1895 war er mit den Vorbereitungen fertig. Das Buch ist 
im folgenden Jahre niedergeschrieben und alsbald veröffentlicht 
worden. 

Prus verfolgte die doppelte Absicht, ein historisches Fresken- 
gemalde zu zeichnen, eine dahingeschwundene Kultur vor unseren 
Augen wieder erstehen zu lassen und durch das den Leidenschaften 
entrückte, zeitlich wie örtlich ferne Beispiel wie stets für seine Ideen 
zu werben. Er wählte den Pharao Ramses Xill. zum Helden, der nur 
wenige Monate regiert hatte, in der Weltgeschichte kaum eine Spur 
hinterließ und nur durch die Kunst des Dichters zur großen Gestalt 
erhoben wurde. Mit diesem Herrscher verknüpfte Prus eine Episode 
ewiger Kämpfe: der zwischen Sacerdotium und Imperium, der zwischen 
den Klassen, der des einzelnen gegen die Gesellschaft. Wir sollen 
beides, uns an der Erzählung ergößen und aus ihr den auch unserer 
Epoche unverlierbaren Nuken ziehen. Unter diesem doppelten Ge- 
sichtspunkt wollen wir an die Lektüre des Buches herantreten. Die 
Handlung ist folgende: Im 33. Jahre der Regierung seines schwachen, 
kranken Vaters Ramses XII. soll der junge, feurige Thronerbe der 


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Pharaonen seine Eignung zur Befehlsgewalt erproben. Herhor, der 
Hohepriester und Kriegsminister, ein altägyptischer Richelieu, herrscht 
unumschränkt über den Pharao und damit über das Land. Zwischen 
dem Günstling und dem künftigen Regenten besteht offene Feind- 
schaft. Herhor ist die inkarnierte Staatsraison, ein leidenschaftsloser 
Hüter der Interessen des Reichs. Der Prinz gehorcht den Launen 
seines übersprudelnden Temperaments, den Regungen seines warmen 
Herzens. Er möchte das Los der gedrückten Bauern bessern, ohne 
viel zu fragen, wie das Land den Umsturz vertriige. Er lechzt ander- 
seits nach Kriegsruhm, ohne sich Rechenschaft abzulegen, mit wieviel 
Elend und mit welcher Katastrophe sein Triumph erkauft werden 
müßte. Höher als das Staatsinteresse ist ihm das der Menschen, 
höher als das der Untertanen seine augenblickliche Lust. So ver- 
nachlässigt er die militärischen Pflichten, um eine Liebesidylle mit der 
schönen jüdin Sara zu genießen, der er während des Manövers be- 
gegnet ist. Darob Entrüstung des priesterlichen Ministers, des Pha- 
raos und Entiäuschung der Wünsche des Thronfolgers, der sich 
wieder um seine Träume von der Macht betrogen sieht. Herhor ver- 
sucht indessen, dem dereinstigen Herrscher Gelegenheit zu anderen 
Lorbeeren zu verschaffen. Der Prinz wird nach Oberägypten zur 
Inspektion der dortigen Provinzialverwaltung entsandt. Diese Reise 
soll den verschiedensten Zwecken dienen: erproben, ob sich nicht 
doch der künftige Pharao, wie sein Vater, der von Herhor geführten 
Geistlichkeit unterordnen möchte; das Terrain für eine Haupt- und 
Staatsaktion frei machen, die den etwaigen kriegerischen Absichten 
der aufgehenden Sonne einen Riegel vorschöben; endlich die Liebes- 
bande des ägyptischen Fürsten mit der Volksfremden zerreißen. 

Die Absicht glückte beinahe, hätten nicht die Phönizier, in deren 
Händen der ägyptische Handel lag und denen vor nichts so sehr 
graute als vor der von den Priestern betriebenen friedlichen Ver- 
standigung mit dem mächtigen Nachbarreich Assyrien (dessen Opfer 
alsdann die phönizischen Städte würden); hätten nicht Dagon, der 
Hofbankier, und Hiram, das Oberhaupt der fremden Kaufleute, durch 
den Verrat eines ehrsüchtigen Priesters von den Verhandlungen mit 
Assyrien Nachricht erhalten. Sie stachelten nun den Thronfolger, der 
nahe daran war, sich der Geistlichkeit zu ergeben, zum Widerstand 
gegen die seine Glorie gefährdenden Projekte. Indem sie an alle 
Triebe des Königssohnes appellieren. An seine Ruhmbegierde, die 
vom lahmenden, entehrenden Frieden gehemmt würde; an seine Liebe 
zu Ägypten und zum Volk, denen die geplante Anlegung eines Kanals 
zwischen Mittellandischem und Rotem Meere den Weg nach Indien 
und damit unendlichen Reiditum bringen sollte; an seine ungezügelte 
Sinnlichkeit, der in der Hierodulen Kama ein verlockendes Objekt 
dargeboten wurde, das mit seinem perversen Reiz schnell die ein- 
faltige Sara ausstach. 

Herhor findet seine Hoffnung vereitelt und weiß den in die 
Hauptstadt heimgekehrten Prinzen, um die Verträge mit dem assy- 
rischen Gesandten Sargon unter Dach und Fach zu bringen, nochmals 


529 


zu entfernen. Diesmal an die Westgrenze, wo die aus Sparsamkeits- 
rucksichten verabschiedeten lybischen Söldner plündern und sengen. 
Der Thronfolger erficht einen glänzenden Sieg. Doch er bezahlt ihn 
teuer: mit dem Tod seines von Sara geborenen Knäbleins, das Kama 
aus Eifersucht und als unbewußtes Werkzeug der Priester, ermorden 
ließ. Und ihm bleibt zum Schmerz keine Zeit. Den Sieger über die 
gedemutigten Lybier ruft die Kunde vom nahen Tode seines Vaters 
zurück. Als Pharao betritt er Memphis. 

Es beginnt der kurze entscheidende Kampf um die wahre Mach! 
zwischen Ramses XIII. und der um Herhor gescharten Priesterschafl. 
Alle Schäße sind in deren Besi, doch die Staatskassen leer: ein 
erstes und ernstes Hindernis gegen alle weitreichenden Pläne des 
Pharao. Zum Kriegführen gehört Geld und ein starkes Heer. Die 
bisherigen Inhaber der tatsächlichen Gewalt weigern sich, dem Herr- 
scher diese Instrumente des gebietenden Waltens in die Hand zu 
geben. Ramses unternimmt auf den Rat des Phöniziers Hiram einen 
Handstreich wider das Zentrum der priesterlichen Macht, das Laby- 
rinth. Dort liegen, seit vielen Jahrhunderten angesammelt, die un- 
ermeßbaren Reichtumer der Geistlichkeit. Derselbe Verräter, dessen 
Mitteilung den Vertrag mit Assyrien enthüllt hatte, bietet sich an, 
den Weg zu den verborgenen Schätzen zu finden und zu zeigen. Es 
gelingt ihm, einzudringen. Doch von den wachsamen Hiitern des 
Labyrinths überrascht, entzieht er sich durch freiwilligen Tod der 
grausamen Strafe. Nun will Ramses offenen Krieg gegen seine 
Widersacher. Er haßt sie als die Mörder seines Kindes, seines 
Ruhmes, seiner Macht und seiner Illusionen. Mit den treuen Truppen 
gebietet er seinem Günstling Tutmosis das Heiligtum anzugreifen, 
in dem Herhor seinen Sitz aufgeschlagen hat. Die Umsicht und die 
höhere Einsicht der Erfahrenen siegen. Menes, ein greiser Denker, 
hat in einer entlegenen Klause das Herannahen einer Sonnenfinster- 
nis berechnet. Dem Pharao bot er Belehrung. Der schiebt den un- 
nützen gelehrten Kram mit einer verächtlichen Handbewegung bei- 
seite. Nicht also Herhor. Mit kluger List hetzte er die dem Mon- 
archen ergebenen, für die Obhut über ihr Elend dankbaren Massen 
gerade zum rechten Augenblick gegen den Tempel. Schon sind die 
Sturmenden nahe. Da friff der erwartete Moment ein. Die Sonne, 
vom Hohenpriester laut zum Schutz wider die Ruchlosen angerufen, 
die Sonne, Agyptens Gottheit, verfinstert sich. Entsetzen lähmt die 
Frevler. Doch der Mittler zwischen dem Volk und dem Gotte übt 
Erbarmen, erbittet von der Sonne, daß sie wieder scheine! Ramses 
hat seinen Rückhalt bei der Menge verloren. Die Krone, ja das 
Leben sollen dem Feind der Priester nicht lange verbleiben. Ein 
griechischer Sänger, den Kama, die Phönizierin, dem Pharao vor- 
gezogen hatte, aus Eifersucht und in der Hypnose Herhors williges, 
blindes Werkzeug, lauert Ramses auf und tötet ihn durch den Stoß 
eines vergifteten Dolches, als der Monarch sich aus den Armen einer 
neuen Geliebten nach Memphis an die Spitze der Armee begeben 


550 


will, um selbst den Troß der Geistlichkeit zu brechen. Herhor be- 
steigt danach den ägyptischen Thron. 

Wird die Fabel des „Faraon“ nüchtern erzählt, so könnte man 
meinen, einem der zahlreichen antiquarischen Romane begegnet 
zu sein, wie sie die Achtziger und Neunzigerjahre des verflossenen 
Sakulums in peinlicher Fülle hervorbrachten. Eine polnische ,,Agyp- 
tische Konigstochter“ verlohnte nicht die Mühe verspateter Bekannt- 
schaft. Bolestaw Prus’ Werk ist jedoch weit mehr als eine ägyptisch 
kostümierte Liebesintrige oder ein in die Erzählform gebrachtes 
Handbuch der Agyptologie. Wir lesen die ewig gültige Geschichte 
des tragischen Reformators auf dem Thron, des Revolutionärs 
malgré lui, den fieberhafte Unstetigkeit und glühende Sinne gleich 
Dämonen zum frühen Ende, zum Verderben treiben. Dieses Sich- 
Einfühlen und Sich-Einsfiihlen mit dem seine Bahn durchrasenden 
fürstlichen Umstiirzler, der wie ein Komet aufgeht, von den einen 
als Licht begrüßt, von den anderen als drohendes Verhängnis ge- 
fürchtet, und wieder in der Nacht versinkt, als sei nichts geschehen, 
während die alte Ordnung unerschuttert fortdauert: dieses Ver- 
schmelzen von zwei Persönlichkeiten, der imaginationsgesättigten 
des Dichters und der imaginären des Helden, in eine ist unheimlich, 
großartig, ein sichtbares Zeichen der künstlerischen Gnade. 

Die Fülle dieser Gnaden aber erhebt den „Faraon“ zum die 
Zeiten überhöhenden Denkmal. Nicht, daß Prus die historischen 
Quellen sehr gewissenhaft studiert und ein farbiges Bild des Pha- 
raonenreiches uns geschenkt hat, in dem der Fachmann diesen oder 
jenen Zug verwerfen mag, nicht die nunmehr vollkommen beherrschte 
Technik der meisterlich komponierten Erzählung stempeln dieses 
Buch zum dauernden Kunstwerk. Geschichtliche Treue ist eher ein 
Vorzug des Gelehrten, geschickte Technik ruhmen wir am ange- 
nehmen Talent. Eine Lebensdeutung wie diese konnte nur ein 
genialer Dichter geben (der auch das Zeug zum großen Historiker 
besessen hatte). In der „Verlorenen Handschrift“ schildert Gustav 
Freytag, wie es den Fürsten mit kaltem Graus anpackt, als ihm der 
Professor die Taciteische Charakteristik der Cäsaren vorträgt und 
der deutsche Duodeztyrann im römischen Kaiser seinen Spiegel- 
menschen und den Gefangenen des Wahnsinns erkennt. Im Prus- 
schen „Faraon‘ würde mancher moderne Herrscher und Diktator sein 
Bildnis finden, und es ist besonders eine Analogie, die sich uns auf- 
drängt, die mit Josef II. Ich habe die Geschichte des „Schäßers der 
Menschen“ aus den Quellen studieren können, Tausende gedruckte 
und ungedruckte Dokumente von, über, gegen, für den Sohn Maria 
Theresens durch meine Hände gehen lassen. Prus wußte von ihm 
kaum mehr, als was ein gebildeter Pole aus dem ehemals russischen 
Anteil zu wissen pflegte: soviel wie nichts. Und dennoch erschaudere 
ich, wie im „Faraon“ die geheimsten Seelenregungen des Romisch- 
Deutschen Kaisers aufgedeckt und die wesentlichen Phasen seines 
hoffnungslosen Kampfes geschildert sind. Das gehört in jenes Ka- 
pitel vom Unbewußien, von der zwischen den Zeilen zu suchenden 


551 


Bedeutsamkeit des Mannes, der nur Prediger, Publizist sein wollte, 
als tüuchtiger Erzähler galt, zumeist auch nur beides war, einmal aber 
seine Löwenklauen zeigte. Die Tragödie Ramses XIII. ist ja auch die 
des heimlichen Führers Bolesiaw Prus, seines geträumten Ringens 
gegen die Tradition, der er doch wieder verhaftet ist. 

überhaupt sollen wir nie das Doppelte Antlitz der ägyptischen 
Erzählung für ein einfaches (oder gar einfalliges) nehmen. Vie in 
Sienkiewiczs „Quo vadis“ hinter den Römern, Lygiern, Christen und 
Heiden das polnische Volk und seine Peiniger sich bergen, so ist, 
ohne daß dadurch die Harmonie des Buches gestört würde — einen 
historischen Roman dürfen wir nicht mit Historie schlechtweg ver- 
wechseln —, die Anspielung auf dem Dichter zeitgenössische polnische 
Dinge sehr häufig. Bei manchen Personen gilt, was eine Figur aus 
den „Seelen in Gefangenschaft‘ einmal von sich sagt: „den Instinkten 
nach bin ich eher eine moderne Amerikanerin als eine alte Ägyp- 
terin“. Noch häufiger trifft man bewußte und liebenswürdige 
Anachronismen in den humoristischen Szenen. Wenn Ramses als 
Thronfolger mit Dagon, dem Phönizier, um ein Darlehen verhandelt, 
so glauben wir einem großangelegten Pumpversuch irgendeines ver- 
schwenderischen polnischen Magnaten bei seinem Hausjuden bei- 
zuwohnen. Dagon und Hiram mengen in ihr Gespräch jüdische Anek- 
doten, die uralt und ewig neu sind. Asarbadon, der Gastwirt und 
der Zehntmann einer ägyptischen „Ochrona“ (oder Defensywa) sind, 
der phönizisdi-ägyptischen Kostüme entledigt, bekannte Warschauer 
Typen. Wenn von den Beziehungen Agyptens zu Assyrien die Rede 
geht, so haben wir uns die zwischen Polen und Deutschen vor- 
zustellen. 

Strittig bleibt, ob wir den Konflikt von geistlicher und weltlicher 
Gewalt, wie es der polnische Kritiker Graf Tarnowski will, auf Polen 
unmittelbar übertragen sollen. Für Polen, für alle Epochen und 
Nationen aktuell ist das Grundproblem des ,,Faraon“, das ich in dem 
durchs biographische Beispiel erhärteten Saß erblike: Nur wer 
frei von persönlichen Rücksichten, Leidenschaf- 
ten der Allgemeinheit dient, ist zu deren Führer 
berufen. An der Vermengung seiner eigensten Begierden mit 
den großen, überindividuellen Zielen, die er sich steckte, geht Ramses 
zugrunde. Herhor, die Verkörperung der unpersönlichen Staats- 
raison, triumphiert. Wir können noch ein weiteres herauslesen: die 
Warnung vor der überhasteten Umwälzung, der unorganischen Re- 
form, dem torichten Bruch mit ehrwurdigen Traditionen. Wieder er- 
scheint Josefs Il, Schatten vor unserem geistigen Auge Und er 
weicht nicht von uns, wenn wir das Charakterbild des unseligen 
Agypterfursten betrachten. 

Ramses XIII. leidet unter dem Mißverhältnis zwischen hoher Ge- 
burt und geringer Macht. Sein Vater, gütig, verehrt, weil er dem 
Herkommen und dessen Hütern im geistlichen Kleid sich fügt, wehrt 
ihm den wirklichen Einfluß auf die Staatsgeschafte. Die angesam- 
melte Energie des jungen Prinzen, der sich wie ein edler Renner 


552 


wider die aufgezwungene Rast baumt, entlädt sich in sexuellen Ex- 
zessen, über deren wahren Beweggrund — physische und verdrängte 
geistige Kräfte — dem Thronfolger kein klares Bewußtsein wird: er 
glaubt zu lieben, der Liebe zu bedürfen oder sich seiner befriedigten 
Triebe zu freuen. Zug um Zug, die Geschichte des von Maria 
Theresia gehemmten Josef. Brennender Ehrgeiz, genährt von den 
Erzählungen der nach ihrem künftigen eigenen Glanz lüsternen Höf- 
linge, sucht sein Betatigungsfeld in Krieg, Landerwerb und eine 
Stiige in den unteren Schichten, die im Grunde verachtet, durch Für- 
sorge fürs materielle Wohl geködert werden, beim Militär, das der 
friedlichen Ara grollt; brennender Ehrgeiz haßt die einzige Klasse, 
die in einer absoluten Monarchie den Willen des Regenten hemmen 
und mit ihrem Besitz den Neid des in seinen Mitteln beschränkten 
Monarchen herausfordern kann: Josef ll., der Schirmherr des Land- 
manns und dessen Zuchtrute, sobald der Untertanenverstand sich zur 
Kritik erdreistet oder Gut und Blut schont; der Freund Lacys und 
Widersacher des friedliebenden Kaunik. Ramses duldet keine Wider- 
rede: „Mein Zorn ist wie ein des Wassers übervoller Krug... Wehe 
dem, über den er sich ergießt.“ Doch er selbst hat wenig Rückgrat 
gegenüber den eigenen Hemmungen, wechselt rasch und sprunghaft 
die Entschliisse. „Von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag stieg 
empor und sank seine Seele wie die Nilwasser im Verlauf eines 
Jahres.“ In den Worten seines priesterlichen Feindes: „Ein Feuer- 
kopf, Schürzenjäger, Abenteurer, doch ein starker Charakter“ liegt 
nur scheinbar ein Gegensab zu der Wandelbarkeit, die aus jedem von 
Ramses-Josefs Schritten hervorleuchtet. Die Charakterstärke war 
ihnen nicht wesenhaft, sittliches Muß, sondern nur Eigensinn, Eigen- 
wille, Eigennuz. Ramses weiß alles, und er weiß es dazu besser. 
Er nippt von jeder Kenntnis und hat zu keinem gründlichen Studium 
Ausdauer. Zuletzt überwirft er sich mit allen — die paar Favoriten 
und Favoritinnen abgerechnet —; auch das gehätschelte und in seinen 
Traditionen, in seinem Glauben und Aberglauben beleidigte Volk 
verläßt den Monarchen. Krank und gehetzt, darob nicht weniger 
gewiß, das Gute gewolli und gewirkt zu haben, stirbt Ramses. Ein 
kluger, herzenskalter Nachfolger sondert die Spreu vom Weizen. 
Das Unfruchtbare verdorrt, und die Blüte verheißende Saat wird von 
einem anderen gehegt, entfaltet, geerntet. 

Herhor kann man ganz gut mit Leopold Il. zusammenstellen. Das 
Priestertum ist für diesen ägyptischen Staatsmann nur die zeitübliche 
Verbeugung vor dem Herkommen, das die berufsmäßige Leitung der 
hohen Politik dem geistlichen Stande vorbehielt. List, Selbstzucht, 
Überlegung kennzeichnen den Gegenspieler Ramses XIII. und vor 
allem, was dem Beherrscher ziemt, die Beherrschung. Denn es ware 
falsch, in diesem Gefäß der kritischen Umsicht eine seelenlose 
Regiermaschine zu wähnen, etwa einen anderen Franz Josef oder 
Franz Il. Ein Vulkan ist Herhor, unter dessen Lavaschicht die ver- 
heerendste Glut nistet; einer von den großen Ehrgeizigen, die zum 


555 


Unterschied von ihren kleineren Genossen sich Zaume anlegen, um 
andere um so fester die Zügel spüren zu lassen. 

Die übrigen Gestalten des „Faraon“ treten hinter den zwei Pro- 
tagonisten zurück. Nicht, daß sie an sich unbedeutend wären. Sie 
nähern sich nur den uns bekannten Bildnissen der Prus’schen Galerie. 
So prächtig ihre Farben sind, es mangelt ihnen der Zauber des Ein- 
maligen, und es sind Porträts, nicht grandiose geschichtliche, zeitlose 
Wirklichkeit. Ramses XII.: ein Ludwig XIII. neben Herhor, seinem 
Richelieu; ein Wilhelm I. neben Bismarck. Die Priester: Menes, 
ägyptische inkarnation des Prus’schen Forscher-Propheten. Mefres, 
ein guimütig-beschränkter Fanatiker. Pentuer, der durch Fleiß, Ver- 
stand und Ansiändigkeit arrivierte Proletariersohn. Samentu, ein 
machigieriger Verräter. Nach polnisch-jüdischen Vorbildern glan- 
zend gezeichnet die Phönizier: Hiram, jeder Zoll ein politisierender 
Bankprasident. Dagon, einige Stufen fiefer, ein glücklicher In- 
flationsgewinner, der bereits in mehreren Verwaltungsräten sibi. 
Konventionell und blaß die Feldherren Nitager, Patrokles, der 
Günstling Tutmosis. Gute Chargen der assyrische Gesandte Sargon, 
der Lybierhauptling Musawara. Völlig blutlos hingegen: der Som- 
nambule Lykon, ein Überbleibsel aus dem Roman-Feuilleton und 
der Hintertreppenromantik; Beroes, der Chaldäer, halb agyptisches 
Traumbüchel, halb Deserteur aus Bulwers „Letzten Tagen von Pom- 
pei“. Lieblich, anmutig und echter Prus das Knablein Psujak. Von 
den Frauengestalten ist nicht viel zu melden. Sara, die opferwillige, 
selbstlose Geliebte, Kama und Hebron, die ägyptischen Pupperin, 
und die Königin Mutter Nikotris sind nicht besser und nicht schlechter 
als Hunderte ihrer literarischen Vorgängerinnen. 

In einem Buch, das über dem prinzipiell erotischen Roman turm- 
hoch steht, weil es zugleich wirkliches Leben und dessen ewige 
Stilisierung, Typisierung bedeutet, hat die Liebesintrige — die ganz 
sekundären, amurösen Zwischenfälle im „Faraon“ sind nur fluchtige 
Episoden; wie in der Wirklichkeit, die von den Romanciers und 
Romantikern immerdar gefälscht wird — kaum Plak. Deshalb ver- 
dämmern die weiblichen Figuren in einem wenig belichteten Halb- 
dunkel; nur der Mann, die Mannestat, der homo politicus sirahlen in 
völliger Helle. 

Im Grunde stehen alle außer Ramses XIII. und Herhor im Schatten 
dieser beiden. Dafür herrscht zwischen den einzelnen Seiten des 
Buchs mehr demokratische Gleichheit. Es gibt im „Faraon“ keine 
Längen und keine toten Punkte. Vom prächtigen Auftakt bis zum 
gewaltigen Finale. Überall Spannung, Fluß, Bewegung. Nie erlahmt 
unsere Teilnahme. Mit logischer Notwendigkeit entquillt ein Ereignis 
dem anderen. Zuruckschauend auf die lokalen und historischen Vor- 
aussekungen, auf Menschen und Zustände, begreifen wir, daß es 
nicht nur so kommen konnte, sondern auch so kommen mußte. Welche 
Szene sollen wir vor den anderen preisen? Der bedrängte Bauer 
vor Herhor und hernach im Angesicht des Höchsten Rıchters; der 
Thronfolger und die Schergen des Bankiers Dagon; die Schlacht 


554 


gegen die Lybier; Ramses XII. Tod und Begräbnis; Samentu im 
Labyrinth, und doch der alles überragende Gipfel, der Sturm gegen 
das Heiligtum. 

Unsere Bewunderung gebührt noch vielem, ja beinahe jeder 
Einzelheit. Die Beschreibungen der Landschaften haben nichts von 
der Herkömmlichkeit, die ihnen in den älteren Werken des Dichters 
anhaftet. Der gesamte Aufbau ist von der Schönheit eines elegant 
bewiesenen mathematischen Theorems, einer zweckstrebig kon- 
struierten Fabrik. Eine raffinierte Exposition halt unsere Erregung 
bis zuleķt wach. Wie spät wird Samentu als der Motor enthüllt, 
durch den die Aktion ins Rollen kommt. Erst wenn am Schlusse 
Herhor den Thron besteigt, ahnen wir, daß die Königin Nikotris mit 
ihm eine etwas verzerrte Hamlet-Tragödie inszeniert hat, deren 
Opfer Ramses XIII. und, wer weiß, Ramses XII. wurden. Die Pathetik 
der schicksalswendenden Geschehnisse greift uns ans Herz, und wo 
sich, zwischen die Akte der Tragödie, ein lustiges Intermezzo ein- 
schiebt, lachen wir vergnügt, wie nur je, wenn Prus seinem ernst- 
- haften Humor die Zügel schießen laßt. Suchen wir nach irgendeinem 
Einwand, so fände ich nur den — mit einiger Mühe zu widerlegen- 
den —, daß die Ökonomie des Buches nicht dem Titel entspricht: 
Ramses erscheint durch zwei Bände als Thronerbe, und seine Erleb- 
nisse als Pharao bilden bloß den kleineren Teil der Erzählung. 

Der Rest ist Weisheit, Schönheit, Maß, bewährt an einem der 
seltenen Werke des Romans, das sich den unvergänglichen Lei- 
stungen anderer Genres ebenbürtig heißen darf. Nicht die, wie stets 
bei Prus, in beliebiger Zahl nachzuweisenden Vorbilder — auf die 
Bulwer, Ebers braucht man nur hinzublicken, um den Abgrund zu 
ermessen, der sie von dem Polen trennt; der Vergleich mit ,,Sa- 
lammbö“ fallt nicht unbedingt zum Nachteil des „Faraon“ aus — nicht 
die Verstöße gegen die Authentizität, die anzukreiden ich Agyp- 
tologen überlasse, vermögen irgendwie den menschlichen, künst- 
lerischen Wert einer Leistung zu vermindern, die uns beglückt, er- 
hebt, bereichert; die einem grandiosen Stoff die adäquate Gestal- 
tung lieh; die, den engen Rahmen des Polnischen, Allzupolnischen 
sprengend, universell und dennoch in der besten Überlieferung der 


Heimat wurzelnd, mit gebieterischer Hoheit Aufnahme ins Pantheon 
der Weltliteratur verlangt. 


BÜCHERBESPRECHUNGEN 


Fr. Bulié, Li. Karaman: Der Palast Kaiser Diokletians in Split. 
(Palača Cara Dioklecijana u Splitu.) MCMXXVII, Zagreb, Malica 
Hrvatska. 


Mit drei Gruppen von Sehenswürdigkeiten ist der Name des großen 
kroatischen Archäologen Don Frane Bulić unlösbar verbunden: mit 
dem kolossalen Gemäuer- und Gebäudekomplex, der die Altstadt Spa- 
lato (Split) in sich faßt und durchsetzt; — mit den weiten, von freigelegten 
Denkmalern antiken und frühchristlichen Lebens und Sterbens übersäten 
Ruinenfeldern Salonas (Solin) und einer erheblichen Zahl anderer Aus- 
grabungsstätten, die — über das dalmatinische Küstenland und die dazu- 
gehörigen Inseln verstreut — außer ähnlichen Funden auch prähistorische 
Reste und kostbare Zeugnisse zur Geschichte der altkroatischen Fürsten 
und Könige geliefert haben; — mit dem arhäologischen Museum 
in Split, das seine Schätze aus Stein und Metall nun in würdiger Weise 
umschließt, hutet und offenbart, und zu alledem mit der Zeitschrift: Bulletino 
di archeologia e storia dalmata, 1878—1920 (seither Vjesnik za arheologiju 
i historiju dalmatinsku), worin ihr Herausgeber Monsignore Bulić die meisten 
sciner Forschungsberichte und Resultate niedergelegt hat. So ungeheuer 
diese Arbeitsleistung des lebensvollen, geistsprühenden Gelehrten, der 
heute sein 82. Jahr überschritten hat, sein mag, so läßt sie sich doch fest- 
stellen und überblicken. Unzahlbar aber, unmeßbar und unabschabbar 
sind die Wirkungen, die von Don Franes knaben- und volkserzieherischer 
Wirksamkeit — er war lange Jahre Professor und Gymnasialdirektor — und 
von den Unterweisungen ausgingen und ausgehen, die Tag um Tag, jahr- 
aus jahrein auch jeder fremde Besucher der Sehenswürdigkeiten Splits 
und Solins von ihm empfing und empfängt. Die prachtvolle Rechtlichkeit 
dieses Mannes, sein helläugiger Enthusiasmus, sein urgesunder Humor, sein 
unermudliches, mit einer köstlichen Dosis gewollt durchsichtiger Schlauheit 
gewürztes Kämpfertum, die Herrscherbegabung dieses „christlichen 
Freundes“ des Christenverfolgers Diokletian, die Frische und Beweglichkeit 
seines Denkens ... jeder fluchtige Gast fühlt sich dadurch berührt, Jünger 
und Schuler bleiben davon durchdrungen. Fast kein Ort in Dalmatien, wo 
nicht ein Priester, ein Richter, ein Arzt, ein Künstler, ein Lehrer . , dessen 
Wissen, Kulturtätigkeit und Interessenkreis uns in Erstaunen setzt, dankbar 
der Förderungen gedenken würde, die er aus Don Franes Persönlichkeit, 
Unterricht, Gesinnung und Forschungsweise erhielt. 

Eine Synthese seiner Arbeitsergebnisse an der ersten der eingangs 
genannten Denkmalergruppen hat Monsignore Buli& im Verein mit seinem 
jungen Kollegen, dem Kunsthistoriker und Konservator Dr. Lj. Karaman 1927 
unter dem Titel: Palača Cara Dioklecijana u Splitu in den Ausgaben der 
Matica Hrvatska veröffentlicht. Das relativ umfangreiche (284 S.) mit hundert 
und einem Vollbilde geschmückte Werk legt in seiner Widmung der 


556 


Stadt, die in und um Diokletians Palast entstanden ist, den Schub ihrer 
Bau-, Skulptur- und Ruinenschätze ans Herz. Auf die stimmungsvolle Ein- 
leitung folgt ein Abschnitt über Lage und Ortsbezeichnung, 
Bauzeitund Material des Kaiserpalastes. Der Name Spa- 
lato kommt zuerst auf Peutingers Tafel vor, die nach Agrippas choro- 
graphischer Karte des Römerreiches (12 v. Chr.) hergestellt wurde. Bei 
Schriftstellern des 4. und 5. Jahrhunderts findet sich neben Spalato auch 
Aspalatho. Inschriften fehlen. Bulić neigt zur Meinung, die Benennung 
Spalato käme von Aspalathos; so nach einem am Balkan häufigen Gesträuch, 
werde ursprünglich das Fischerdorf geheißen haben, wo Kaiser Diokletian, 
der im Jahre 245 unfern davon, auf dem Hügel Libovac bei Salona, zur Well 
gekommen war, die Palastvilla erbaute, in die er sich — nach seiner frei- 
willigen Abdankung (1. V. 305) wieder „Diokles“ geworden — ruhebedürftig 
zurückzog, und wo er eigenhändig Gemüsekultur betrieb. 

Keine Büste, keine Statue hat sich von diesem großen Kaiser erhalien, 
nur Münzen zeigen uns sein Profil. Den Bau, den er zu seinem Ruhesibe 
bestimmte, dürfte Diokletian erst gegen das Ende seiner langen Regierungs- 
zeit ausgeführt haben. Im Palaste selbst wurden wohl viele Steinmebk- 
zeichen und griechische Buchstaben entdeckt, auch eines griechischen Ar- 
beiters Name (Zotikös) und als Geheimbekenntnis eines andern das christ- 
liche Fischsymbol, darunter OA, das der Innenseite eines Mauersteines an- 
vertraut war, doch ist man über die Herkunft der Baumeister des Palastes 
auf Kombinationen angewiesen. Das Baumaterial kam größtenteils aus den 
staatlichen Steinbrüchen der benachbaıten Insel Brač (Brazza, Brattia), wo- 
selbst auch die Säulen, die man ägyptischen Bauten entnahm, zugerichtet 
wurden. Auch Tuffstein und Ziegel aus der nächsten Umgebung fanden 
Verwendung. 

Kapitel IM, Diokletians Palast in der Literatur, bringt 
auf 20 S. eine chronologisch geordnete Übersicht und kritische Wertung der 
diesen Gegenstand betreffenden oder behandelnden Angaben, Schriften und 
Werke. Der V. Abschnitt enthält die Beschreibung des Palastes, seiner 
Umfassungsmauern, Türme und Tore, der südwärts im Innern gelegenen 
Partien und Gebäude (Peristyl, Mausoleum und Palasttempel), der kaiser- 
lichen Wohnräume (Vestibul, Tablinum_und Kryptoportikus) und der Dio- 
kletianischen Wasserleitung. Manche Zweifel und Streitfragen, zu denen 
besonders die sakralen Gebäude, das prächtige Mausoleum (die jetzige 
Domkirche) und der Tempel (das Baptisterium Splits) Anlaß gaben, kommen 
dabei zur Sprache. 

Dr. Li. Karamans Abhandlung: Der Diokletianische Palast in 
der Kunstgeschichte (V.Kap.63S.) beantwortet zunächst die Frage: 
Was ist — seiner Grundform und seinen Dispositionen nach — Diokletians 
Palast eigentlich? Castrum, Villa oder Stadt? dahin, daß er 
gleichzeitig all dies sei: Festung durch seine Wehrmauern, Türme und 
Tore, Villa in seiner Südfront und Städtchen in der Anordnung seiner 
Gassen und Innenbauten. Besonders erörtert werden der Grundplan, das 
Wehrsystem, die Straßenhallen, die Südfassade. Die Architektur des 
Palastes wird unter dem Gesichtspunkt behandelt, ob in ihr eine Dekadenz 
der Kunst in Erscheinung trete. „Neben großer konstruktiver Solidität, 
reicher und üppiger Dekoration und einer Archifektonik, die neuen Zielen 
zuschreitet, finden wir in ihr auch sichtliche Zeichen eines Niedergangs 
handwerklicher Geschicklichkeit“, sagt Karaman und bespricht nach ver- 
gleichender Betrachtung und Prüfung der technischen Prozeduren und der 
architektonischen Dekoration im allgemeinen und besondern die Be- 
deutung des Palastes in der Entwicklung der Kunst. Das wichtige 
Stilmotiv des Archikolonnats, der unmittelbar, ohne Zwischenstück, von den 
Säulen aufsteigenden Bogenreihe, wird entwicklungsgeschichtlich behandelt, 
das Typische wie das Eigenlümliche anderer Dekorations- und Bauformen 
des Palastes, stets unter Heranziehung reichen Vergleichsmaterials unter- 
sucht und zu den Meinungsverschiedenheiten uber den Plab, den der Palast 
zwischen der Bauwelt des Westens und der des Orients einnimmt, schließ- 


557 


lich Stellung genommen. Stał ihn mit den „Orientalisten“ direkt von 
einem Vorbilde (Diokletians Palast in Nikomedia oder jener bei Antiochia) 
abzuleiten, hätte man sich, sagt Karaman, für jetzt damit zu begnügen, ein 
„typisch antikes Gebäude” in ihm zu sehen, „das zu Beginn der Spätantike 
von Meistern aus den hellenistischen Gegenden des Reiches errichtet 
worden ist“. 

Fr. Bulić entrollt hierauf in Kap. VI, Deokletians Palast im 
Wandelder Jahrhunderte, die Schicksalsgeschichte des gewaltigen 
Baues, den mehr als anderthalbtausend Jahre nicht zu vernichten ver- 
mochten. Nach Diokletians Tode (313) wurde der Palast als Krongut zu 
verschiedenen Zwecken verwendet, im Nordtrakt webten Weiber Tuch fur 
den Armeebedarf, im 5. Jahrh. diente der südliche Teil einigen verbannten 
oder gefliichteten Herrschern als Asyl. Unter der Gotenherrschaft und 
selbst in den ihr folgenden Kriegen scheint der Palast nicht besonders 
gelitten zu haben, schlimmer muß es ihm jedoch im 7. Jahrh. zur Zeit der 
Avarenstürme ergangen sein. Immerhin vermochte der Bau den Nach- 
kommen der Salonitaner, Romanen, die um 615, nach der Zerstörung ihrer 
Stadt, auf die Nachbarinseln geflüchtet waren, später Wohnstatten und 
Schutz vor den Kroaten zu gewähren, die inzwischen Salone (Solin) und die 
ganze Umgebung besiedelt hatten. Um die Wende des 8. Jahrhs. verwan- 
delte sich der Palast in die Stadt Spalato und wurde so vor völliger Ver- 
nichtung bewahrt. Im 9. und 10. Jahrhundert macht sich die Infiltration des 
kroatischen Elements in das romanische Spalato schon bemerkbar, ım 12. 
ist die Hälfte der Stadtamter von Kroaten beseft, im 13. bilden sie darin 
bereits die Mehrheit. Im 12. speed dürfte die Stadt den Perimeter 
des Palastes überschritten haben. Wurde auch vieles an ihm durch An- 
und Umbauten allmählich verändert oder zerstört, so blieben doch seine 
edelsten Teile, die sakralen Gebäude, eben dadurch noch relativ gut er- 
halten, daß man sie für christliche Kultzwecke in Anspruch nahm. 

Die „Reinigung“ des Mausoleums von Zeugnissen des Heidentums und 
seine Verwandlung in eine Domkirche wird dem ersten Erzbischof Spalatos, 
Johann von Ravenna, zugeschrieben; damals dürfte auch der Sarkophag 
Diokletians entfernt worden sein. Derselbe Erzbischof soll auch die Re- 
liguien des hl. Domnius und des hl. Anastasius aus Salona in den neu- 
geweihten Dom übertragen haben. Sie werden noch heute daselbst ver- 
ehrt, obschon festgestellt wurde, daß es sich hierbei um eine „pia fraus” 
handelt. Das historisch bezeugte Heiligenpaar, das unter Diokletian den 
Märtyrertod erlitten hatte und in Salona beigesebt war, ruht in einer 
Kapelle des Lateran zu Rom, und die Angaben über seine Namensbrüder 
im Dome zu Split beruhen auf einer Erfindung des 10. Jahrhunderts. 

Das 13. Jahrhundert hat dem Dome drei Denkmäler von bedeutendem 
Kunstwert eingefügt: die große, mit Skulpturen des Andria Buvina ge- 
schmückten Türen, die Chorstuhle und die prächtige Kanzel, alles Werke 
romanischen Stils, die wie das berühmte Portal des Domes zu Trogir 
(Trau) von Künstlern der Spalatiner Schule herrühren. 

Die späteren baulichen Veränderungen, die das Mausoleum erlitien hat, 
müssen wir hier übergehen. Erwähnt sei noch der über dessen Prostase 
errichtete fiinfstockige Glockenturm (13.—17. Jahrhundert), der zu Ende des 
19. Jahrhunderts erneuert werden mußte. 

Der Tempel des Palastes, der als Taufkapelle verwendet wurde, birgt 
u a. en merkwurdiges Basrelief, das wahrscheinlich einen kroatischen Konig 
arste 

Von den Kirchlein, die sich in die Palastmauern cinnisteten, ist das 
St. Martin geweihte aus dem 9. Jahrhundert seiner Ornamentik wegen 
bemerkenswert. 

An die Geschichte der Umfassungsmauern, der sechzehn Wehrturme, 
der Tore, der Souterraine, der Südfront und das Problem ihrer Anbauten 
letzteres als ein Bericht Karamans) schließt Fr. Bulić noch ein juristisch, 
praktisch und charakterologisch interessantes Kapitel über die Frage, wem 
das Eigentumsrecht an diesem Palaste zustehe. Die Stellungnahme hiezu 


558 


hängt natürlich aufs engste mit den Konservierungspflichten des Staates 
und der Stadt zusammen. Durch Schub und Erhaltung dieses Denkmals, 
sagt Bulić am Schlusse seiner Monographie, die in Bälde auch deutsch 
erscheinen soll, wird eine übernationale, allgemeine Kultur- und Kunst- 
pflicht erfullt®. 

Zagreb. C. Lucerna. 


Masarykův Slovník Nauény. Lidová encyklopedie všeobecných 
vědomostí. Dil 1—4. — Prag: Československý Kompas 1925 — 1929. 


. Die Eechische Wissenschaft besaß schon vor dem Kriege ein vorzüg- 
liches Nachschlagewerk im Ottûv Slovník Nauény, der allerdings 
in Anbetracht der Ereignisse der letzten Jahre vielfach veraltet ist. Um 
diesem Mangel abzuhelfen, entschloß sich der Verlag Otto, drei Ergänzungs- 
bände herauszugeben, die auch schon zu erscheinen begonnen haben. 
Außerdem aber sollte eine Volksenzyklopädie, ein Handbuch des Wissens 
in gedrängter Form und für die breiteren Schichten berechnet, geschaffen 
werden: der Masarykův Slovník Nauény, der vom Verlag Československý 
Kompas unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter herausgegeben wird und 
6 Bände umfassen sollie. Auf diese Weise ist ein sehr brauchbares Werk 
zustande gekommen. Die Ausstattung läßt wohl noch manches zu wünschen 
übrig; so sind die Reproduktionen und die dem Text beigefügten Tafeln 
auch in dem kürzlich erschienenen vierten Band nicht besser geworden. 
Der Zweck des Unternehmens machte es erforderlich, von der englisch- 
französischen Form der Enzyklopädie abzurücken und sich der deutschen 
zu nähern, möglichst viel Schlagworte zu bringen und in wenigen Sätzen 
das Wichtigste treffend zu sagen. Von besonderem interesse sind natürlich 
die Artikel, die sich mit dem Cechischen Geistes- und Kulturleben selbst 
befassen. Gleich im ersten Band findet sich ein großer Aufsak „Cesko- 
slovensko“, zu dem man greifen wird, wenn man sich über politische und 
wirtschaftliche Fragen der &echoslovakischen Republik unterrichten will. 
Manchmal würde man freilich wünschen, die Angaben wären etwas voll- 
ständiger. Im Artikel „Bezruč“ wird z. B. mit keiner Silbe erwähnt, daß 
die bisher wichtigste Ausgabe der Schlesischen Lieder 1920 erschien und 
daß Marfineks Buch über Bezruč schon 1924 eine zweite, bedeutend ver- 
mehrte Auflage erlebte, wodurch die erste völlig überflüssig wird. Aus der 
Bfezina-Literatur wird gar nichts angeführt, und bei anderen Gechischen 
Schriftstellern liegt die Sache ebenso. Das ist um so mehr bedauerlich, 
als man gerade in diesen Fällen den Masaryküv Slovnik Nauény zu Rate 
ziehen muß, da das &echische Geistesleben nicht nur in den Nachschlage- 
werken der großen europäischen Völker, sondern auch in den sonstigen 
slavischen Enzyklopädien recht stiefmütterlich behandelt wird. So kennt, 
um bei den angeführten Fallen zu bleiben, die südslavische Enzyklopädie 
beide Dichter gar nicht, die große russische Sovet-Enzyklopädie nur Bezrué, 
über den sie einige vage Bemerkungen bringt, die gar nicht das Richtige 
treffen, das polnische Konversationslexikon kennt zwar beide, fertigt sie 
aber ganz kurz ab. Anderseits müssen wir aber auch feststellen, daß der 
Masarykův Slovník Nauöny über Mickiewicz weit weniger Literatur bringt 
als der deutsche Meyer oder Brockhaus, auch Krasifiski würde ein paar 
Worte mehr verdienen. Dagegen nimmt wieder das Schlagwort „Machar“ 
einen unverhältnismäßig großen Raum ein. Die Zahl der Artikel ist, wie 
schon hervorgehoben wurde, recht groß, und zweifellos wurde wirklich fast 
alles irgendwie Bedeutsame erfaßt. Mitunter stößt man auf eine Lücke. 
So finde ich, nebenbei bemerkt, den deutschen Gelehrten Litt nicht, auch 


. Die von C. Lucerna besorgte, geschmackvoll und gut ausgestattete, 
leider aus Raummangel um einen Teil des wissenschaftlichen Apparates ge- 
kürzte deutsche Ausgabe ist vor kurzem erschienen: Bulié-Karaman, 
Kaiser Diokletians Palast in Split. Zagreb 1929, 179 S. und 101 Bildbeilagen, 
Matica Hrvatska. 


35 NF 5 559 


der Verlag Gebethner & Wolff hätte erwähnt werden müssen. Ganz nüblich 

wäre es auch gewesen, beı russischen Namen die Bezeichnung der Aus- 
sprache anzugeben, wie es bei französischen und englischen Wörtern ge- 
schehen ist, da jene ja auch für den Cechischen Leser keineswegs selbst- 
verständlich ist. Für den Slavisten sind im neu erschienenen vierten Band 
hauptsächlich folgende Artikel von Interesse: Kollar, Komenský, Králové- 
dvorský rukopis, Krásnohorská, Legie, Lužice, Mahen, Mácha, Machar, 
Manes, Masaryk, MrStik u. a. 


Leipzig. H. Jilek. 


Szweykowski, Zygmunt: „Lalka“ Bolesława Prusa. — War- 
szawa: Gebethner i Wolff (1927). 362 S. 8°. 


In der nicht gerade sehr umfangreichen Literatur über Boleslaw) Prus 
nimmt Szweykowski’s Buch eine besondere Stellung ein. L. WIiodek, selbst 
ein Publizist, war in seinem trefflichen Werke!) mehr darauf ausgegangen, 
die Bedeutung und die Genese P.—s in seiner reichen publizistischen Tatig- 
keit herauszuarbeiten, während er die literarische Beurteilung_der belle- 
tristischen Werke den Literarhistorikern überlassen wollte. Eine solche 
Würdigung des belletristischen Schaffens P.—s_ hatte K. Wojciechowski in 
seiner populären Skizze?) versucht, während F. Araszkiewicz es sich in 
seiner flott geschriebenen Studie?) zur Aufgabe machte, die „praktische 
Philosophie P.—s und ihre Verbindung mit seinem künstlerischen Schaffen“ 
darzustellen. — Szweykowski hingegen hat eines der Werke ausgewählt 
und in seinen genetischen und psychologischen Zusammenhang gestell, um 
in seiner minutiösen Analyse das Schaffen des Schriftstellers überhaupt zu 
charakterisieren, — und man muß sagen: seine Wahl war gut. Die Lalka, 
die sich ja bemüht, den Entwicklungs- und Umschichtungsproze§ in der 
poln. Gesellschaft von den 40er bis in die 80er Jahre des vorigen Jahrh. in 
photographischer Treue wiederzugeben, so wie er sich dem Autor bot, 
eignet sich, wie auch anderwärts bemerkt worden ist, ganz besonders gut 
dazu, P. in seinen Lebensanschauungen zu charakterisieren. 

Öhne die sonst üblichen einleitenden Worte einer Vorrede über die 
en ung und die Absicht seiner Schrift geht der Verfasser in seinem 

Kapitel sogleich auf die Jugend P.—s ein, um damit den Grund fur die 
folge de Analyse der Lalka vorzubereiten. Dieses Kapitel strebt dabei 
nicht nach einer Darstellung bisher etwa unbekannter biographischer Einzel- 
heiten, sondern sucht an Hand der wohlbekannten Daten zu zeigen, in 
welchem Verhältnis bei Prus das Gefühlsmäßige zum Verstandesmäßigen 
stand, und wie dieses Verhältnis von seinem literarisch publizistischen 
Werdegang beeinflußt wurde. Verf. weist dabei auf, wie die wissenschaft- 
lichen Ideale in Prus das unbedingte Verlangen wach riefen, eine Wieder- 
geburt der rückständigen Gesellschaft Polens auf wissenschaftlicher Grund- 
lage in publizistischer Tätigkeit zu schaffen, während er zunächst seiner 
künstlerischen Begabung keine Bedeutung beimaß. Dieses Verhältnis zu 
seinen eigenen Publikationen spricht sich rein äußerlich schon darin aus, 
daß er seine Schriften über die gesellschaftliche Umformung, wie er sie 
sich dachte, mit seinem wirklichen Namen Aleksander Glowacki 
zeichnete, seine belletristischen Schriften dagegen immer mit dem Pseudonym 
Bolesław Prus. Als Głowacki aber scheiterte er, da er für den Dok- 
trinarismus keiner Partei etwas übrig hatte, an der Ablehnung, die er von 
den verschiedenen Parteien erfuhr, während er in seiner belletristischen 
Tätigkeit — als B. Prus — ganz besonders als Humorist große Anerkennung 


1) Ludwik Włodek: Bolesław Prus. Zarys spoleczno-literacki. — War- 
szawa: Gebethner i Wolff 1918. XVI, 351 S. 8°. 


2) Konstanty Wojciechowski: Boleslaw Prus. — Wyd. II. — Lwów: Gubry- 
nowicz 1925. 178 S. 8°. [Wyd. I. — 1913.) 


s) Feliks Araszkiewicz: Bolestaw Prus i jego idealy Zyciowe. — Lublin: 
Głowiński 1925. XVI, 202 S. 8°. 


540 


fand. Dieser Mißerfolg da im Leben, wo er seine eigentliche Mission ge- 
sehen hatte, führte ihn bald zu einer anderen We rtung der Kunst. Er stellt 
sie nunmehr neben die Wissenschaft und beginnt sich die Gesetze der 
Ästhetik und Poetik durch ausgedehnte wissenschaftliche Studien klar zu 
machen. Das Resultat seiner Studien, ein zwischen Idealismus und Natura- 
lismus stehender Realismus, wird ihm für sein eigenes Schaffen bewußt zur 
Richtschnur. Gleichzeitig aber analysiert er die Gründe seines Mißerfolges, 
die er im stumpfsinnigen Konservativismus der Gesellschaft findet. Die 
Frage, welche Lebensbedingungen ein hervorragendes Individuum inmitten 
dieser Allgemeinheit habe, ob sie leben und Frucht bringen könne, und ob 
es überhaupt für sie Wirkungsgebiete im Leben geben könne, wo die Ge- 
sellschaft sich mit ihrer Kollektivkraft auf dem falschen Wege befinde, diese 
Frage drängt sich ihm nach seinen eigenen Erfahrungen von selbst auf und 
wird ihm zum Gegenstand dauernder Betrachtung und in Verbindung mit 
der Darstellung eben jener Gesellschaft zum Problem seınes großen 
Romans. Alle diese Ausführungen über die Psychik des Schriftstellers stubt 
Szweykowski auf dem weitschichtigen Material, das Głowacki in seinen 
zahlreichen Artikeln und Chroniken im Kurjer Warszawski, Kurjer 
Codzienny, in den Nowiny und anderen Zeitungen und Zeitschriften 
hinterlassen hat, und das schon Wiodek ausgenutzt hatte. Das zweite 
Kapitel bringt zunächst die Grundlagen Prus’ positivistischer Weltanschauung, 
in welcher naturwissenschaftliche Betrachtungsweise den Kampf ums Dasein 
und das Verlangen des Einzelnen nach Glück nach dem Vorgang Spencers 
zu den treibenden Kräften des Lebens macht. Auf dieser Grundlage wird 
weiter die Historiosophie des Schriftstellers hinsichtlich der Stände in Polen 
entwickelt, auf die Buckle und Draper von großem Einfluß gewesen sind: 
Adel und Magnaten, die einstigen Begründer der Größe Polens, sind mit 
ihrem System schuld an seinem Verfall. Sie verstehen es, jeden Fortschritt 
der Gesellschaft zu hemmen, um ihre privilegierte Stellung aufrechtzuerhal- 
ten, und haben ihre Ansprüche auf Geltung verstanden religiös zu unterbauen. 
Die dabei benachteiligten Volksklassen aber tuen nicht nur nichts, um dieses 
Hemmnis des Fortschritts zu überwinden, sondern sie suchen größtenteils auf 
jede mögliche Weise einzeln in die Kreise des Adels hineinzukommen oder 
sie verharren wie die Massen des Landvolkes in Unbewußtheit auf dem 
Niveau längst vergangener Jahrhunderte. So steht Polen inmitten der auf- 
strebenden neuzeitlichen Kultur Europas auf dem Standpunkt des Mittel- 
alters. Auch die Rechisreformen in der 2. Hälfte des 19. Jahrh. haben nur 
eine theoretische Anderung der gesellschaftlichen Struktur Polens gebracht; 
die Psychik der Allgemeinheit blieb davon unberührt trotz aller Reformations- 
versuche. Schuld daran ist in erster Linie der Charakter des polnischen 
Volkes. Die Psyche des Polen ist durch und durch „idealistisch“, und da 
die Aristokratie angeblich die Sache des Idealismus verficht, treiben die 
psychischen Tendenzen unwillkürlich auch den in die Arme des aristokra- 
tischen Systems, der an und für sich dieses System bekämpfen möchte. 
Fin „idealist“ ist für Pius ein Mensch, der nur in der Welt der Phantasie lebt, 
ohne einen Begriff von der Wirklichkeit, ein Träumer mit starkem Drange 
nach Größe, mit dem Wahlspruch Mickiewicz’s, die Kräfte nach dem Ziele 
zu bemessen und nicht wie nötig, die Ziele nach der Kraft. Diese polnischen 
Idealisten und unter ihnen die hervorragende Persönlichkeit inmitten der 
dem Verfall zueilenden polnischen Gesellschaft darzustellen, war das Thema, 
das Prus sich für die Lalka gesetzt hatte, und zwar nicht nur in einer, 
sondern in drei Generationen, angefangen von den Romantikern. Nach 
dieser Analyse der Grundlagen und des Themas der „Lalka“ wendet sich 
Szweykowski der Betrachtung der einzelnen in der „Lalka“ behandelten 
Gesellschaftskreise in ihren einzelnen Vertretern zu. 

Zuerst werden da die Vertreter der kosmopolitisch-internationalen 
Aristokratie behandelt: Tomasz Lecki, Izabela Lecka, die Gräfin Karolowa, 
der Baron Krzeszowski, der Parasit Maruszewicz, der Fürst und Starski. 
Es folgt der Kleinadel, und zwar der alte Wokulski, Wirski, die Misiewiczowa. 
Die dritte Gruppe, die nicht in ihren einzelnen Vertretern von Szweykowski 


541 


vorgeführt, sondern als Ganzes betrachtet wird, bildet das Biirgertum, und 
als vierte Gruppe folgt das Volk. 

Das dritte Kapitel bringt eine Darstellung der Idealisten. Zunächst 
wird da die Einstellung des Schriftstellers zum Idealismus analysiert und 
aufgewiesen, wie die Krisis im Leben Prus’ und seine Wendung zur Kunst 
auch einen Wandel in seiner Stellungnahme zum Idealismus nach sich zog. 
Ist ihm ın der früheren Epoche seiner publizistischen Tätigkeit der Aufbau 
des Lebens und der Gesellschaft durch beharrliche Verfolgung der kleinen 
Ziele alles, die große Idee aber ohne den wohlvorbereiteten Grund im 
kleinen nur Pose, so beginnt mit der neuen Epoche in seinem Schaffen auch 
der Idealismus mehr und mehr seine Sympathie zu gewinnen. Es wird ihm 
klar, daß jeder wirkliche Fortschritt immer noch von den Träumern mit 
ihren großen Ideen ausgegangen ist, die gern alles auf eine Karte sebten, 
und nicht von den Philistern und Spießern, denen er früher mehr zugetan 
war. Und diese Umstellung brachte naturgemäß auch eine andere Ei 
schätzung der polnischen Romantik mit sich. Damit aber kam es in Prus 
nicht zu einer Ablehnung der positivistischen Aufbauziele, sondern eben zu 
jenem Kompromiß beider Anschauungsweisen, dem die „Lalka“ gewidmet 
ist: in Zeiten, wo die Allgemeinheit organisatorische Arbeit an ihren Grund- 
lagen zu tun hat, um sich den Weg zu großen Entwicklungen frei zu machen, 
ist der Idealismus mit großen Ideen und mit seiner Träumerei verfrüht und 
somit schädlich; und das traf nach Prus’ Ansicht gerade für seine Zeit zu. 
Im weiteren behandelt Szweykowski dann die Vertreter des Idealismus der 
Romantiker-Generation Rzecki, die Präsidentin, den Onkel Wokulski’s und 
Kab, sodann Wokulski, den Vertreter der romantisch-positivistischen Idea- 
listen, und die positivistischen Vertreter des Idealismus: Ochocki, Klein und 
die Studenten, sowie schließlich die Juden. 

Waren also die vorhergehenden Kapitel der Charakteristik der ein- 
zelnen Personen der „Lalka“ gewidmet, so beschäftigt sich das letzte 
Kapitel mehr mit dem Ganzen des Romanes. Szweykowski behandelt in 
ihm zunächst den Pessimismus des Schriftstellers in der Lalka, der sich 
darin ausspricht, daß alle die edlen Gestalten des Romans von dem Schau- 
platz in Polen weichen müssen und die Philister, Gauner und Wucherer das 
Feld behaupten, wenngleich das Ganze mit einem Fragezeichen schließ#®). 

Darauf geht er auf den Humor in unserem Romane ein, der sich nur da 
zeigt, wo es Prus nicht so bitterer Ernst ist wie bei Wokulski oder Izabela, 
sondern eben bei Personen, zu denen er die für einen echten Humor nofige 
Distance hat wie etwa Ochocki oder die Studenten. Weiter wird dann die 
Komposition der „Lalka“ einer näheren Betrachtung unterzogen, die ja bei 
der Weite des zur Darstellung gelangenden Zeitraumes und der Mannig- 
faltigkeit der gesellschaftlichen Faktoren doch recht erhebliche Schwierig- 
keiten bot. Dabei wird aufgewiesen, wie wichtig die Rolle der Liebe ist, 
die Prus die Vereinigung der heterogenen Gesellschaftskreise in einem 
Werk gestattet, wie weiter die Geschichte des Ladens Mince! ausspinnt, um 
die Einheit des Romanes zu erhalten, wie die gleichen wissenschaftlichen 
Interessen der Einung zweier Idealistentypen, Wokulski's und Ochocki's, 
dienen, und wie schließlich die „pamiętniki starego subjekta“ ihm die Mög- 
lichkeit geben, auch den Idealisten der Romantik noch in die Handlung ein- 
zubeziehen. Einige Seiten sind weiter der Behandlung des photographisch 
getreuen Lokalkolorits der Stadt Warschau gewidmet. Darauf geht Szwey- 
kowski dazu über, die fremden Einflüsse auf Prus’ Lalka aufzuweisen, wie 
Dickens, Spielhagen, Victor Hugo, Cervantes, Jokai, Zola. Es ergibt sich, 


*) Hierzu sei bemerkt, dag Szweykowski mit Włodek u. a. nicht auf dem 
meist vertretenen Standpunkt stehen, Prus habe seinen Helden durch Selbst- 
mord enden lassen (vgl. S. 255 u. 278 ff.). Nach seiner Ansicht, die er auch 
mit Aussprüchen des Schriftstellers zu belegen weiß, ist Wokulski nur vom 
Schauplaß in Polen verschwunden und für eine große Rolle vorbehalten, 
die er in einer Fortsebung der „Lalka“, in der „Sława“, bei Geist in Paris 
zu spielen bestimmt ist. 


542 


-t on — — ie — 


„ F ˙ . .. 


daß bei allen fremden Einflüssen und frotz aller Vorgänger im polnischen 
Roman (Kraszewski, Korzeniowski, Orzeszkowa etc.) doch diese unbewußt 
reproduzierende Synthese P.—s als durchaus original zu werten ist. Die 
Lalka wird fur eins der wertvollsten Werke der poln. Literatur erklärt, das 
vielen Nachfolgern P.— den Weg gebahnt hat, unter ihnen auch keinem 
Geringeren als Zeromski. 

Wie aus obiger Inhaltsangabe hervorgeht, macht die Analyse dks Ideen- 
gehalts der „Lalka“ den größten Teil des Buches aus. Szweykowski führt 
sie durch, indem er von den in P.—s publizistischer Entwicklung begründe- 
ten Tendenzen ausgeht und gewissermaßen in Längsschnitten durch den 
Roman die dargestellten Gesellschaftsschichten mit ihren Ideologien sowie 
die nach P.-s Anschauung für den Polen bezeichnende idealistische 
Geistesrichtung in ihren einzelnen Vertretern untersucht. Dabei zieht sich 
wie ein roter Faden der Leitgedanke durch die Ausführungen: P. erkennt 
sich nach dem Scheitern seiner Gesellschaftsreformpläne als Idealisten des 
Positivismus und stellt eben hier den poin. Idealismus mit seinem Wollen 
und Können und seinem Scheitern an der Gesellschaft in Polen dar. Diese 
richtig erkannte Tendenz, die für P. eigentlich eine Fortsebung seiner 
Reformpläne mit anderen Mitteln bedeutet, gibt Szweykowski das Recht, 
die Analyse der „Lalka“ auf ihren Ideengehalt in der angegebenen Weise 
durchzuführen. Die einzelnen Charakteristiken, die oft überflüssig breit 
ausgeführt sind, sind ihm dabei meist recht gut gelungen. Sie bilden jedoch 
nicht den eigentlichen Schwerpunkt des Werkes. Im Mittelpunkt des Buches 
steht vielmehr der Gedanke, die ideellen Tendenzen P.—s herauszuarbeiten, 
die Frage: was will P. mit seinen Gestalten sagen? Und wenn der Verf. 
dabei die Problemstellung der Lalka so eng mit P.—s innerstem Erleben 
beim Scheitern seiner Reformpläne mit der „Nowiny“ verknüpft und gerade 
den inneren Umschwung in P. hinsichtlich seiner Stellungnahme zum ldea- 
lismus so scharf herausarbeitet, wird man ihm in den wesentlichen Punkten 
beistimmen müssen. Es ist dabei methodisch sehr richtig, daß die Auf- 
fassungen des Schriftstellers nicht aus der Lalka herausinterpretiert, 
sondern zunächst an anderen Äußerungen P.—s nachgewiesen und in seiner 
schriftstellerischen Entwicklung psychologisch begründet werden, so daß sie 
dann im einzelnen in der Lalka nachgewiesen werden können. 

Was jedoch die ästhetische Würdigung des Romans anlangt, hält 
Szweykowski doch wohl zu sehr mit seiner Kritik zurück. Gewiß ist heute 
eine Kritik an der Lalka nicht mehr in dem mals aktuell wie 1890, als 
Chmielowski im „Ateneum“ sich mit ihr auseinandersebte. Trokdem aber 
vermißt man eine kritische Einstellung bei Szweykowski, wo er über die 
Komposition der Lalka spricht, die doch infolge der „pamiętniki starego 
subjekta“ geradezu zu zerfallen droht. Es ware dabei näher darauf ein- 
zugehen gewesen, wie weit tatsächlich der Erscheinungsmodus der Lalka 
in den Fortsekungen des „Kurier Codzienny“ an solchen Kompositions- 
mängeln die Schuld getragen hat. Auch an anderen Schwächen des Romans 
geht Szweykowski schweigend vorüber. So manche Situation will der 
Leser dem Schriftsteller nicht recht glauben. Die gewagten Kunststückchen, 
die die Studenten der Baronin zum Possen bei ihrer Ausweisung ausführen, 
gehören doch wohl z. B. hierher. Auch fehlt es weiter den Charakteren 
der Lalka nicht an Inkonsequenzen und inneren Unwahrscheinlichkeiten, wie 
sie Chmielowski aufgewiesen hatte. Da Szweykowski eine ästhetische 
Würdigung der Lalka nicht vermieden hat, wäre es nüblich gewesen, auf 
derlei Mängel mit einiger Kritik einzugehen. — Wie weit Prus ferner in der 
Verwendung schriftstellerischer Kunstmittel bewußt vorgegangen ist, wird 
sich nicht immer mit großer Bestimmtheit sagen lassen, und bei aller An- 
erkennung der großen Wichtigkeit, die P.-s theoretische Beschäftigungen 
mit Poetik für seine Entwicklung gehabt haben, will es mir doch scheinen, 
als entsprange manches mehr dem schriftstellerischen Instinkt P.—s als 
theoretischen Erwägungen. Gerade hier einmal tiefer zu analysieren, wie 
weit der Verstand und wie weit das Gefühl zu Worte kommt, wäre bei Prus 
von großem Interesse, der ja einen so starken Gegensatz beider in sich aus- 
zugleichen suchte. Ich habe dabei das Gefühl, als ob solche rein ver- 


545 


standesmäßig angewandten Mittel, wie diese Aufzeichnungen des braven 
Rzecki, mit ihrer ganzen Gewalt samkeit zu den schwächsten Seiten des 
Romans gehörten. Andererseits möchte ich nicht gern dort, wo Ver- 
knüpfungen so leicht und natürlich sind, wie bei der Zusammenführung 
Wokulski’s und Ochocki’s auf dem Boden der allen Positivisten doch so 
naheliegenden Wissenschaft, die bewußte Anwendung eines schriftstelle- 
rischen Mittels schen. Soweit die sach iche Seite des Buches. 

Was das Formelle anlangt, so vermisse ich eine klare Stellungnahme 
zur Literatur des Gegenstandes. Diese spricht sich schon im Fehlen einer 
Vorrede über Zweck und Ziel des Buches aus. Es ist aber weiterhin im 
Verlauf der Darstellung oft nicht hinreichend hervorgehoben, welche Ge- 
danken hier erstmalig entwickelt und welche nur wiederholt werden. Daß 
z. B. P.-s Enttäuschung mit der Redaktion der „Nowiny“ so wesentlich 
für die Problemstellung und Konzeption der Lalka war, ist zwar einleuch- 
tend dargestellt, jedoch ohne genügenden Hinweis darauf, wie weit diese 
Auffassung neu ist — und da Wiodek die Krisis der „Nowiny“ nicht so 
wertet, ware hier wohl eine Atmane eung darüber am Plaķe gewesen. 
Wenn also die Schrift auch nicht klar darlegt, wie sie selbst in der Prus- 
Literatur eingeordnet zu werden wünscht, so ist doch andererseits die Dar- 
stellung klar und flüssig. Gerade die treffliche Analyse des Ideengehalts 
der Lalka im Hinblick auf die Psychik und die Lebensauffassung des 
Schriftstellers wird ihr neben dem Buche von Wlodek einen ehrenvollen 
Platz in der Prus-Literatur sichern. 

Breslau. Erwin Koschmieder. 


AdamLewak: Katalog rekopiséw Bibljoteki Narodowej. 1. Zbiory 
Bibljoteki Rapperswilskiej. T.1(1—1314). — Bibljoteka Jarodowa. 
Warszawa 1929. str. XX—507. (Handschriftenkatalog der Rap- 
perswilschen Sammlungen in der Nationalbibliothek Warschau. 
Erster Teil. Nr. 1—1314. Bearbeitet von Dr. Adam Lewak.) 


Während der großen Emigration nach dem Novemberaufstande wurde 
zu Rapperswil in der Schweiz ein polnisches Nationalmuseum g 
um ein Asyl fur nationale Heiligtümer und Denkmäler zu schaffen. Hier 
wurden im Laufe vieler Jahrzehnte Archive verschiedener Persönlichkeiten 
und Institutionen der Emigration nach beiden Aufständen, Korrespondenz, 
Dokumente ctc. deponiert, und auf diese Weise entstand eine ansehnliche 
Sammlung. welche hauptwichtige Quellen für die poln. Geschichte des 
19. Jahi h. besaß. Im Jahre 1927 ist die Sammlung nach Warschau übergeführt 
und in der Militar-Zentral-Bibliothek deponiert worden. Dann werden die 
Bücher und Archivalien der großen National-Bibliothek einverleibt. Der 
neu herausgegebene Handschriftenkatalog gibt uns schon jetzt die Möglich- 
keit, die reichhaltigen Schäbe der Rapperswiler Kollektion auszunüßen, und 
wir hoffen, daß dies als natürliche Folge eine große Belebung der neuesten 
Geschichtsforschung nach sich ziehen wird. i 

Den Grundstock der Sammlungen bilden die Handschriften, die Kor- 
respondenz und allerlei historische Materialien des gelehrten Emigranten 
Leonard Chodzko, der eine große Kollektion historischer Dokumente ge- 
sammelt hatte. Die Akten beginnen mit dem Jahre 1657 und enden mit dem 
Aufstande v. J. 1863. Natürlich ist das 19. Jahrh., d. h. die Zeit der Freiheits- 
kampfe und der Emigration, am besten verireten, da Chod2ko an diesen 
Ereignissen selbst teilgenommen hat. Die Sammlung des Chodzko und 
reben ihr die Korrespondenz und die Papiere von Lelewel, Ostrowski, 
Mierostawski, Oksza-Orzechowski und anderer Persönlichkeiten, das Archiv 
der polnischen Legation in Paris, verschiedener Komitees in den Jahren 
1830 und 1863, der polnischen demokratischen Gesellschaft, verschiedener 
Organisationen in Frankreich, England, Belgien und der Schweiz bilden den 
bedeutendsten und wichtigsten Teil der Rapperswilschen Handschriften. 
Ganze Geschlechter opferten dem Museum bereitwilligst ihre Andenken. 
Alles, was in der Heimat vor den Augen der Polizei sich hüten mußte, 


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wurde in Rapperswil abgegeben, um der nationalen Pielät und Wissen- 
schaft zu dienen. Deshalb besiben wir hier historische Quellen, die 
meistens im Auslande entstanden und deshalb der Zensur der Teilungs- 
mächte ausgewichen sind. Die besondere Wichtigkeit des Zeitalters der 
Emigration besteht in der großen Umwälzung der politischen und sozialen 
Ideen unter dem Einflusse der radikalen Kreise Englands, Deutschlands 
und Frankreichs, was dem alten polnischen Wesen neuzeitliche, demokra- 
tische Formen verliehen hat. Davon können wir auch die Bedeutung der 
Sammlung herleiten. Das ganze Material ist zwar sehr lückenhaft, was von 
dem Charakter seiner Provenienz abhängt, da es keine organisierten Archive 
waren und die geheimen Gesellschaften ihre Papiere oft vernichten mußten. 

Der Verfasser des Kataloges, der seit mehreren Jahren daran gearbeitet 
hatte, mußle das Material dem Provenienzprinzip nach neu ordnen und 
dann sorgfältig beschreiben. Die Methode, die er dabei benubte, kann 
man eine persönliche nennen, es wurde nämlich die Aufsuchung der 
Personennamen in den Vordergrund der Beschreibungszwecke gestellt. 
Die Vornamen fehlen, da sie überhaupt kaum feststellbar waren. Auch 
was die Daten anbelangt, müssen wir größere Vorsicht gebrauchen, weil 
nur die Faszikeln datiert sind und die einzelnen Aktenstücke und Briefe 
keine Zeitangaben besiken. Manche Handschriften, welche z. B. politische 
Angelegenheiten berühren, dürften genauer beschrieben werden. Im all- 
gemeinen ist das Material chronologisch geordnet, obzwar es nicht streng 
durchgeführt sein konnte, da es mit dem Provenienzprinzip kollidierte. Der 
l. Band, den wir jetzt erhalten haben, umfaßt die Zeit bis 1865: es werden 
sich dort aber auch spätere Akten finden, die einer größeren Kollektion 
angehören, z. B. die Papiere des Mierosławski, welcher während der ganzen 
Emigration tätig war und auch zum Diktator des letzten Aufstandes 
erwählt wurde. 

Wir haben den Katalog ausführlich beschrieben, weil wir den Wert der 
Rapperswiler Sammlung hoch zu schätzen wissen, und zwar nicht allein für 
die polnische Geschichte, sondern auch für die der anderen slavischen 
Völker und auch der westeuropäischen Demokratie, welche in steter Ver- 
bindung mit der polnischen Emigration der Jahre 1830—1863 stand und sich 

egenseitig beeinflußten. Deshalb ist die genannte Sammlung eine wichtige 
uelle fur die Geschichte der revolutionären Bewegung dieser Zeil. 

Lemberg. Kazimierz Tyszkowski. 


ZEITSCHRIFTENSCHAU 


JUGOSLAVIEN 


lovanN. Tomić: Kad je i s kojim smerom osnovana slovenska 
štamparija Dimitrija Teodosija u Mlecima? — Istorijska istraži- 

vanja. — Glas SKA CXXXIII, Beograd 1929, S. 27—73. 

Geraume Zeit, bevor die österreichischen Serben von ihrer Regierung 
die Bewilligung erwirkten (1769), wurde in Venedig mit Zustimmung der Re- 
gierung von dem venet. Staatsbürger griech. Abkunft Demetrio Teodosio 
eine slavische („griech.-orthodoxe“) Druckerei gegründet, deren Verleger- 
fatigkeit auch für die weltliche Literatur der Serben in der zweiten 
des 18. Jahrh. von größerer Bedeutung wurde (vgl. J. Skerlić, Srpska 
knjiZevnost u XVIII veku, B. 19232, S. 90/91). Als Gründungsjahr wurde in 
den Literaturgeschichten bisher 1758 angeführt). Verf. ist nun aber im Laufe 
seiner Nachforschungen im Venet. Archiv nach langem, vergeblichem Suchen 
fast zufällig in den Akten der inquisitori di Stato auf zwei Schriftstücke 
(Kopien) gestoßen, die die bisherige Datierung hinfällig machen. Aus dem 
ersten (Senatsbeschluß v. 5. April 1755) geht hervor, daß Teodosio noch in 
der ersten Hälfte d. J. 1755 um die Genehmigung angesucht halte, in Venedig 
eine Druckerei zu errichten, in der er für die Bedürfnisse des Volkes m 
Bosnien, Serbien, Bulgarien, Ungarn und der Wallachei Bücher mit „illyrı- 
schen“ Lettern drucken wollte. In seinem Beschluß erklärt sich der Senat 
aus handelspolitischen Rücksichten (Hebung des Buchdruckergewerbes und 
Förderung der Bücherausfuhr) grundsätzlich einverstanden. Das zweite 
Schriftstück?) enthält die endgültige Entscheidung der Paduanischen Re- 
formatoren als der hierfür zuständigen Behörde (1. Okt. 1755), die erst im 
Januar 1756 vom Senat bestätigt wurde. 

Teodosio’s Unternehmen wurde bisher als ‚einen Privatunternehmen an- 
gesehen (Skerlić, a. a. O.). Verf. findet nun, daß die venet. Regierung bei 
dieser Gründung besondere staats- und kirchenpolitische Zwecke verfolgte 
und daß die starke Hervorhebung des wirtschaftlichen Gesichtspunktes in 
dem Beschluß des Senates nur dazu diente, den wahren Sachverhalt und 
die eigentlichen politischen Absichten zu verschleiern. Verf. schildert ein- 
gehend die Entwicklung der russischen Propaganda im dalmat. Küsten- 
gebiet, die von Montenegro aus namentlich mittels russischer kirchlicher 
Literatur betrieben wurde. Gerade nach der Rückkehr des montenegr. Me- 


1) Diese Jahreszahl verdanken wir P. Solarié (Dominakr..., Venedig 
1810). Es liegt aber auch hier eine durch St. Novaković verschuldeie Un- 
genauigkeit vor: Solari& sagt nämlich ausdrücklich von Teodosio: „vozna- 
meri okolo 1758 goda sam za sebe Peéatnju sooruZiti...“ Novaković 
unterdrückte dieses „okolo“, und die dadurch entstandene Ungenauigkeit 
ging aus seiner „Gesch. der serb. Lit.“ in die späteren Literaturgeschichten 
über. 

2) abgedr. S. 35. 


2) abgedr. S. 36. 


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tropoliten Vasilije Petrovié aus Rußland (Sept. 1754) machte sich diese 
opaganda noch stärker denn vorher bemerkbar. Jahrelang hatten auber- 
dem kirchliche Kreise auf die Republik ihren Druck ausgeübt, um sich im 
Kampfe gegen die Schismatiker energischere Unterstiijung zu sichern. Am 
4. Sept. 1754 hatte Kardinal Valenti dem Gesandten Venedigs ein Schreiben 
des Papstes Benedikt XIV. überreicht, worin dieser u. a. die Säuberung der 
dalm. Klöster und Kirchen von moskovitischen Büchern verlangt und die 
Gründung einer slavischen Druckerei in Padua (unter kirchl. Leitung) anregt. 
t sich nun der venet. Regierung Gelegenheit, mit der Gründung von 
Teodosio’s Druckerei sowohl den Wünschen des Päpstlichen Stuhles in weit- 
gehendem Maße entgegenzukommen und zugleich durch Ausmerzung aller 
für die Republik nachteiligen Stellen in den orthodoxen Büchern die eigenen 
innerpolitischen Interessen zu wahren und der Rußland-Propaganda Einhalt 
zu tun. Der Wirkungskreis des neuen Unternehmens war also an erster 
Stelle auf die venet. Provinzen mit orthodoxer Bevölkerung berechnet; daß 
dieselben im SenatsbeschluB nicht namentlich angeführt werden, ist 
wiederum aus dem Streben der Regierung erklärlich, die wahren politischen 
Absichten geheim zu halten. 

Das Unternehmen hat zwar die an dasselbe besonders von kirchl. Seite 
gestellten Erwartungen nicht erfüllt; aber es hat während der ganzen Zeit 
seines Bestehens nach außen hin den Anschein eines rein privaten, aul 
kaufmännischer Grundlage errichteten Unternehmens bewahrt. 

Belgrad. A. Schmaus. 


Pavle Popovié: Milovan Vidaković — Godišnjica Nikole Cupiéa 
XXXVII (1928), 327—436; ebdt XXXVIII (1929), 70— 2301). 


Der Belgrader Literarhistoriker Pavle Popovié gibt uns hier die erste 
ausführliche Monographie über den „Vater des serbischen Romans“. Die 
Vorarbeiten waren gering. Für die Biographie V. standen außer der nur 
die Kindheitsgeschichte umfassenden Selbstbiographie (Glasnik 1871) — die 
übrigens auch als kulturgeschichtliches Dokument Beachtung verdient — die 
Aufzeichnungen J. Ignjatović (Djela l, Novi Sad 1874, 270) zur Verfügung. 
Von kritischen Würdigungen verdient außer Vuks bekannter Kritik (1817) 
noch immer die Charakteristik von J. St. Popović (Južna Péela, knjiž. dod. 
1852, 106/7) ob ihrer Objektivität hervorgehoben zu werden?). Wertvoll ist 
die Abhandlung J. Scherzers (Nastavni Vjesnik 1902), der im Volksbuch 
vom Kaiser Oktavian das Original zu V.“ Roman „Kasija carica“ ausfindig 
gemacht hat. Scherzer wies in diesem Zusammenhang auf Beeinflussung 
durch die dt. Romantik hin. Von Interesse waren auch seine Feststellungen 
über wesentliche Abweichungen in V.’ Bearbeitung: Verlegung der Schluß- 
szene nach Montenegro (wie schon früher im „Velimir“ und „Ljubomir‘) und 
Hineintragen des starken didaktischen Elements, das dem Volksbuche fremd 
ist, aber für V? Werke eines der Hauptkennzeichen bildet. Scherzer befand 
sich aber im Irrtum, wenn er meinte, auf dem gleichen Wege auch zu den 
Vorbildern der übrigen Romane gelangen zu können. Schon D. Kostié hat 
dies (Delo VII (1902), 154/5) fur aussichtslos erklärt, für V. „Ljubomir“ aber 
auf Wieland („Agathon“) hingewiesen. 

Was es also an Vorarbeiten gab, war völlig ungenügend. Nicht einmal 
eine Biographie V. war vorhanden. Das Material dazu mußte erst mühsam 
zusammengelesen werden. Verf. ist es jedoch gelungen, uns auf Grund oft 
scheinbar nichtssagender Angaben, des spärlichen Archivmaterials, der Vor- 
reden zu V. Werken eine ausführliche, wenn auch nicht ganz lückenlose 


1) Der bisher erschienene Teil umfaßt Vidaković Leben und Schaffen 
bis zum J). 1823. Der dritte Teil erscheint 1930 wiederum in GNC. 

2) Von anderen Beiträgen ist der P. Markovié-Adamovs (Srpska Zora 
1880) ohne Wert; die Abhandlung von M. Pejinovié (Nada, Sarajevo, 1898) 
enthalt zwar viele gute Einzelbeobachtungen, ist aber als Ganzes weder 
systematisch noch kritisch genug. 


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— für einzelne Studienjahre fehlt das Material fast gänzlich — —, 30 dock 
ungemein reichhaltige Biographie zu schenken, die über V. Lebensschick- 
sale, Charakter, Bildungs möglichkeiten und Bildungsgang, persönliche Be- 
ziehungen und gesellschaftliche Verhältnisse helles Licht verbreitet. 

Noch wichtiger ist die Arbeit des Verf. als erste zusammenhängende 
Darstellung von V. literarischem Entwicklungsgang, den Einflüssen und Vor- 
bildern, die für sein Schaffen maßgebend werden konnten, dem Gehalt an 
persönlichen und Zeitideen und der geschichtlichen Herkunft der lefteren. 
War es doch bisher unmöglich, sich ein auch nur annähernd richtiges Urteil 
über V. Originalität zu bilden, da die fremden Einflüsse zu wenig unter- 
sucht und nicht vom Eigengut geschieden waren. 

Was V. zum Schriftstellerberuf drängte, war der Zug der Zeit, dıe noch 
ganz von Dositejs Grundtendenz beseelt war, mit allen Mitteln, vor allem 
aber mit Hilfe des Buches an der Aufklärung und kulturellen Hebung des 
on zu arbeiten. Zeitlebens ist auch V. von der Tendenz, zu lehren und 

1 predigen beherrscht. Eine Generation mit dieser erzieherischen Ein- 
stel ung zu den gesamten Kulturproblemen hatte vor allem die heran- 
wachsende Jugend im Auge. Ihr war auch V. Erstlingswerk, die in Zehn- 
silbern abgefaßte „Geschichte vom schönen Joseph“ (1805) zugedacht. Ein 
bezeichnender Auftakt sowohl der Wahl des Stoffes als auch der Form nach. 
Das gleiche Thema war schon 1804 von V. Rakić bearbeitet worden; in 
sorgsamer Analyse stellt jedoch Verf. fest, daß V. im Verhältnis zu Rakić 
völlig originell ist. Gewisse Züge seiner literarischen Manier (Vorliebe für 
Monolog und Dialog) sind schon hier vorgezeichnet. 

Besonders wichtig ist die Feststellung des Verf., daß die beiden ersien 
Romane V. (Usamljeni juno3a 1810; Velimir i Bosilika 1811) nicht nur im 
Schema des Aufbaus, sondern auch sonst (Schauplab der Handlung, Rolle 
der Verkleidungen) ganz nach dem Typus des spätgriech, sog. ,sophish- 
schen“ Romans gearbeitet sind. Als unmittelbares Vorbild kommen wohl 
irgendwelche Ausläufer des deutschen Rifterromans in Betracht, der vom 
Verf. reichlich zu Vergleichszwecken herangezogen wird. 

Im Gegensatz dazu steht V’ Hauptwerk, der dreibändige Roman „Lju- 
bomir u jelisijumu“ (1814, 1817, 1823). Derselbe deckt sich zwar inhaltlich 
auf weite Strecken hin mit dem Abenteuer- und sog. Prüfungsroman und 
enthält sogar eine Robinsonade:). Es ist ein biographischer Abenteuer- 
roman, der aber im Grunde als Erziehungsroman gedacht ist, in welchem 
V. seine Welt- und Gesellschaftsanschauung, vor allem seine pädagogischen 
Ansichten darlegt. Verf. betont die weitgehende Ähnlichkeit einzelner Teile 
mit Marmontels „Belisaire“. Ein Vergleich mit Wieland und Rousseau führt 
zu negativem Ergebnis. Wiederum scheinen die eigentlichen Vorbilder V. 
abseits von der breiten Straße der Weltliteratur zu liegen. Anderseits ent- 
halt das Hauptwerk V. so viel persönliches und nationalgeschichtliches Ma- 
terial, daß dieser Roman origineller zu sein scheint, als man bisher anzu- 
nehmen geneigt war. 

Alle die genannten Romane sind historische Romane, die in verschie- 
denen Epochen des serb. Mittelalters spielen. Das ist das Hauptverdienst 

und der originellste Zug seines Schaffens. Dem historischen Element 
geht Verf. bis in die kleinsten Einzelheiten nach und kommt überall zu dem 
Schlusse, daß an erster Stelle J. Rajić’ Geschichtswerk (1794/5) die Quelle 
bildet. Von ıhm übernimmt V. nicht nur das stoffliche Wissen, sondern auch 
Gesamturteile über Ereignisse und Personen der nationalen Vergangenheit. 
V.“ Helden sehen die geschichtlichen Vorgänge mit Rajit’ Augen, denken 
und urteilen darüber wie Rajić selber. Für den geographischen Teil von V. 
Romanen kommt vor allem Solarié „Geographie“ (1804) in Betracht. Da- 
neben haben aber auch die anderen Vertreter der damaligen serb. Literatur. 
vornean natürlich der seine Zeit weit überragende Dositej, ein gut Teil zu 
V.“ Wissen und Weltanschauung beigesteuert. Verf. gelangt hier überall zu 


1) Vgl. Verf., Vidaković, Schnabel, Schiller (Strani Pregled, Jg. 1, Nr. 2, 144). 


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——— — —— 
— — — — — — = 3 


neuen, wertvollen Erkenntnissen, die uns zum erstenmal die Entstehung und 
Zusammensekung von V? Mosaikwerk verständlich machen. 

Mit gleicher Sorgfalt wie das historische wird auch das persönliche 
Moment in V’ Romanen herausgelöst. V. hat nämlich sehr viel an Eigen- 
erlebnissen als lit. Stoff verwertet. Interessant ist mit dem Verf. zu ver- 
folgen, wie sich gerade V? Kindheitserlebnisse mit größter Zähigkeit in 
seinem Gedächtnis behaupten und immer wieder ins lit. Schaffen herein- 
spielen. Sehr bezeichnend ist es, daß die Landschaften in V? Romanen 
durchweg das Gepräge der Sumadija-Landschaft, des Kosmaj, also seiner 
engsten Heimat tragen, obwohl sie der Autor nach seinem 8. Lebensjahr 
nicht mehr gesehen hat. 

Im Stil weist Verf. den Einfluß Dositejs nicht nur in der Wortwahl, 
sondern sogar in der Sakmelodie nach. 

Was die weltanschauliche Grundlage von V. Werk angeht, überragt V. 
seine Zeit nicht. Wie diese ist auch er selber naiv und unkritisch. Obwohl 
er spez. den hist. Roman pflegt, mangelt ihm jeder Sinn für historische 
Perspektive. Sein Bild des „heroischen“ serb. Mittelalters spiegelt in Wirk- 
lichkeit ein unheroisches, platt-burgerliches Gesellschaftsideal wider, welches 
das Heroische durch das Abenteuerliche ersetzt. Abenteuerliches und Sen- 
timentales, Wirklichkeits- und Lebensferne in Denken und Fühlen, ergänzen 
sich gegenseitig. Dem Zuge der Zeit, die sozusagen noch immer im 
Schatten von Dositejs großer Gestalt steht, entspricht auch das starke 
moralisatorische und pädagogische Moment in V. Werk. Nur wirkt es hier 
oft platt, weil V. die großen Fähigkeiten mangeln, durch die es Dositej 
gelang, sein Aufklärungsideal zu so allgemein-menschlicher Höhe zu er- 
heben. Daß all das Abenteuerliche und Phantastische, das in V. Romanen 
wuchert, nicht etwa einem irrationalen Bedürfnis entgegenkommt, sondern 
der Unterhaltung dient, wird am besten daraus ersichtlich, daß V. nach- 
träglich alle wunderbaren oder gespensterhaften Erscheinungen auf ganz 
natürliche Weise erklärt und durch seine Romane sozusagen die Nicht- 
existenz des Übernatürlichen zu demonstrieren sucht. Sein unbestreitbares 
Verdienst bleibt aber, daß er das Interesse der Zeit auch im Roman auf 
die nationale Vergangenheit gelenkt hat. 

Belgrad. A. Schmaus. 


Dr. Mita Kostić: Dositejev prevod Kiriakodromiona — Prilozi 
VIII, 1928, S. 245. 


Obwohl niemals jemand das Buch zu Gesicht bekommen hat, galt es 
für die meisten Literarhistoriker auf Grund der Angaben Kopitars (Jagić, 
Briefwechsel... S. 143; Kl. Schr. 119) als ausgemacht, daß 1796 in Venedig 
wirklich Dositejs Übersetzung von des Theotokis »voraxododwo» unter dem 
Titel „K. ili tolkovanie voskresnych evangelij“ erschienen ist (vgl. Skerlić, 
Srpska knjiž. u XVIII veku, B. 1923, 266). Nur von D. Ruvarac wurde noch 
1911 das Bestehen dieser Übersekung in Abrede gestellt. 

Verf. hat im Patriarchats-Archiv in Karlovci einen gedruckten Prospekt 
gefundent), worin aus Triest unterm 15. Aug. 1802 „der ganzen serb. Nation 
zur Kenntnis“ gebracht wird, daß ein dortiger Serbe die nötigen Geldmittel 
zur Verfügung gestellt und die Predigten des Theotokis nach der Moskauer 
Ausgabe (1796) in den eigenen serb. „Dialekt“ übersetzen ließ; daß man 
nunmehr nur noch die Einwilligung des Metropoliten beir. Zulassung des 
Buches in den ihm unterstellten Kirchen zu bekommen wünsche. | 8 

Die von Stratimirovié oder vom Synod in dieser Angelegenheit gefällte 
Entscheidung war leider nicht aufzufinden. 

Im Zusammenhang mit Kopitars Angaben folgt aus dem Prospekt: 
Dositej hat in Triest, wo er seit Sommer 1802 bis Juni 1806 weilte, auf 
Kosten eines dortigen Serben das xvoraxoöpduıor ins Serbische übersebt; er 


1) abgedr. S. 246. 


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seiber oder sein Geldgeber hat sich mit einem Gesuch im obigen Sinne an 

Stratimirovié gewandt. Von diesem ist die Erlaubnis aber verweigert worden, 

und so ist es zur Drucklegung des Werkes überhaupt nicht gekommen. 
Belgrad. A. Schmaus. 


Umberto Urbani: Ante Tresić-Pavičić. — Rivista di letterature 
slave. 3, 4—6 (1928), S. 386—402. 


Wenn nicht der Weltkrieg ausgebrochen wäre, würde Tresi¢-Pavicic 
wahrscheinlich in Italien der am meisten bekannt gewordene jugoslavische 
Dichter geworden sein. Dic vom Verlag Treves am Vorabend des Krieges 
als bevorstehend angezeigten Veröffentlichungen der vier Dramen unter 
dem Gesamttitel „Finis Reipublicae“ würden die allgemeine Aufmerksam- 
keit auf sich gezogen haben, denn gerade das erneute Italien wäre im- 
stande, den jugoslavischen Dichter vollauf zu würdigen, welcher mit den 
Manen eines Cäsar, Brutus u. a. Zwiesprache gepflogen. Es ist von der 
Kritik hervorgehoben worden, daß in dieser Tetralogie nicht nur die mensch- 
lichen Leidenschaften der alten Zeiten zu vollster dramatischer Entfaltung 
gebracht worden sind, sondern daß auch die soziale und geschichtliche 
Entwicklung Altroms in ihnen auflebt. In dem von U. * ebenen Lebens- 
bild von Tresié, ebenso wie in der Datierung seiner Werke, stören leider 
mehrfach Unstimmigkeiten der Daten. Tresié ist, ungeachtet seiner vielen 
Reisen durch die Alte und Neue Welt, nicht zum Kosmopoliten und zum 
Nachbeter modernen Geistes geworden. In der Dichtung von den ely- 
säischen Feldern spricht Tresi¢é offen seine Gedanken über die Brutalität 
der modernen Zeit aus, und in seinen, Katakomben von Paris genannten, 
Bildern spricht tiefes Entsetzen über das neue Babel, dessen Schönheiten 
nur erkauft sind durch Schweiß und Tränen der Masse. Das sind die stärk- 
sten Eindrücke, die Tresié aus Frankreich mit fortgenommen hat. 

Ganz anders waren die Eindrücke, die er in einer italienischen Reise 
gewonnen. Während die junge Generation der Kroaten und Slovenen sich 
in Disputen darüber verliert, ob man sich in der Richtung auf Paris oder 
Berlin hin zu entwickeln habe, und während die sozialen Tendenzen viele 
auf Moskau und sein Evangelium hinhorchen lassen, spricht gegenwärtig 
niemand von der italienischen Kultur, welcher die Muse eines Mazuranid, 
Preradovié und anderer so viel zu danken hat. Tresie dagegen hat be- 
griffen, daß zwischen slavischer und lateinischer Welt eine volle Harmonie 
möglich wäre. Für ihn (und wahrscheinlich auch für Urbani) ist die slavische 
Seele schlechthin noch immer bloß als ein Hort des Friedens anzusehen, seinem 
Urteil nach hätten die Slaven das ganze germanische Mittelalter entbehren 
können, nicht aber die Zivilisation der griechisch-römischen Welt. U. er- 
wähnt die Versuche der near Dichter, klassische Metren in 
ihre Dichtung einzuführen. Tresić ging uber das früher Versuchte hinaus, 
indem er klassische Metren sogar in Strophen mit Endreim einführte und 
auf diese Weise eine ausgezeichnete Vereinigung der Vorzüge klassischer 
und moderner Dichtung erzielte. 

Die gegen Tresié erhobenen Vorwürfe, daß er Carducci imitiert, sind 
von Ante Petravié in seinen „Nuovi studi e ritratti“ (1910) zurückgewiesen 
worden, er hat vielmehr gewisse Einflüsse von Leopardi und Foscoli da und 
dort zu finden geglaubt. Übrigens hat Tresié selbst sich darüber geäußert, 
inwieweit er durch Klopstock, Platen, Goethe und Carducci inspiriert 
worden ist. Bei der Anwendung antiker Versmaße im Kroatischen hal 
Tresié ein besonders feines Gefühl bewiesen. Er hat einige Gesänge aus 
der „Divina commedia“ im Elfsilber übersetzt, nicht in dem dafür unge- 
eigneten Zehnsilber. Wenn die römischen Dramen des Tresic erst in Italien 
bekannt geworden sein werden, dann wird man seine bis ins kleinste gehende 
Kenntnis der lateinischen Dichter und des altrömischen Lebens bewundern. 
Tresié hat auch begriffen, daß die Republik, welche Porzia reiten wollte, 
nicht mehr den Geist der alten römischen Demokratie in sich trug und sich 
selbst zum Tode verurteilt hatte. Wenn man bedenkt, daß die römischen 


550 


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Dramen des Tresié den Zweck hatten, seine Nation gegen die Habsburgische 
Tyrannei aufzustacheln, könnte man meinen, daß er der Führer der kroati- 
schen Jugend hatte werden müssen. Tresié war aber nicht zu Kompro- 
missen mit den Sezessionisten und Dekadenten bereit, die um des lart 
pour Part willen nichts wissen wollten von religiösen und moralischen 
Idealen der Kunst, er hat als ein klassisch-moderner Dichter einen erbit- 
terten Kampf gegen den Modernismus geführt. Die jugoslavische Lyrik der 
Gegenwart huldigt ein wenig dem Expressionismus, ein wenig dem Supra- 
realismus und der dynamischen Dichtung des Krleža und seiner Nachahmer. 
Daneben sind es die Vertreter des „Barbarengenies“, welche die Freund- 
schaft Lunacarskijs genießen, Marinetti verehren, sich aus Belgrad aus- 
weisen lassen und verkünden, daß die europäische Zivilisation den Balkan 
zugrunde gerichtet habe und daß, um zu einer neuen Zivilisation zu ge- 
langen, Europa balkanisiert werden müsse. Die kroatische Lyrik wird trob- 
dem wohl zur Lyrik des vereinsamten Tresié-Pavicié, der noch heute an 
die Musen glaubt, zurückkehren. Emmy Haertel. 


Josef Mati: Br. Vodnik als Literarhistoriker. Ein Beitrag zur 
Methodik und Geschichte der neueren südslavischen Literatur- 
wissenschaft. — Slavia 7, 1 (1928), S. 87—110 u. 7, 2, S. 321—358. 


Vodnik ist nach Inhalt und Umfang seiner wissenschaftlichen Tätigkeit 
wesentlich Literarhistoriker. Hier war seine Tätigkeit eine außerordentlich 
mannigfaltige: Monographien und Gesamidarstellungen rein wissenschaft- 
licher Natur, aber auch ein popularisierendes Wirken, in Form kritischer 
Einleitungen zu Meisterwerken der kroatischen Literatur zum Schulgebrauch 
usw. Branko Vodnik hat die Sammlung „Odabrana djela“ redigiert und 
die „Hrvatska Citanka za više razrede srednih škola“ zusammengestellt. 
Im Mittelpunkt seiner Interessen steht die dalmatinisch-ragusäische Literatur 
und der Preporod, die kroatische Romantik. 

In „Prvi hrvatski pjesnici“, wo vornehmlich die Renaissance-Epoche im 
dalmatinischen Geistesicben dargestellt wird, sind es vor allem Marulić und 
Lucić, die als hre Hauptreprasentanten dargestellt werden. Unter den 
ragusäischen Dichtern war es Vučićević, dem er eine besondere Studie 
widmete. Ferner hat Palmotić, als Vertreter des Barocks und der Gegen- 
reformation, Vodniks besondere Beachtung gefunden, wobei in der Unter- 
suchung, wie weit Gundulić auf Palmoti¢é eingewirkt, auch die Osmanfrage 
neu untersucht wird. Vodnik kommt zu dem Schluß, daß Gundulié sein Epos 
acht Jahre vor seinem Tode bis zu dem Grade der Vollendung gebracht, 
wie es jekt vorliegt, und später nicht mehr daran gearbeitet hat. Warum 
das Werk unvollendet geblieben, laßt auch Vodnik unbeantwortet. — Ein- 
gehend hat sich Vodnik für die so unvermittelt einsetzende Blüte der slavo- 
nischen Literatur interessiert und in „Slavonische Literatur im XVIII. Jahr- 
hundert“ als erster die Hauptstromungen dieser Epoche herausgearbeitet. 
Er gab ferner aus einer handschriftlichen Sammlung der Agramer Universitäts- 
bibliothek die Gedichte der Gräfin Patačić mit kritischen Bemerkungen her- 
aus, untersuchte die Zusammenhänge zwischen Brezovacki und Kačić und 
brachte aus verschiedenen Archiven das Material zur Biographie des be- 
deutendsten kajkavischen Dichters, Brezovacki, zusammen. — Das Haupt- 
interesse seiner gesamten Tätigkeit hat Vodnik jedoch dem Illyrismus zu- 
gewandi. Er vertrat hier die Anschauung, daß zu ihrem Verständnis 
unbedingt die gründliche Untersuchung der voraufgehenden Epoche erforder- 
lich ist, die Idee einer einheitlichen serbokroatischen Schriftsprache sei nicht 
erst im 19. Jh. vom Himmel gefallen. Innerhalb dieser vorbereitenden Epoche 
hat Vodnik Legatié und Starčević die ihnen gebührende Stellung eingeräumt. 
Die Studie über Mihanovié ist zu einem Zeitbild erweitert. Eine allscitige 
Darstellung des Preporod enthält Vodniks größte Studie „Stanko Vraz“ 
(Zagreb 1909). Der Illyrismus galt Vodnik als die ethischeste und moralisch 
stärkste Idee des gesamten Preporod, daher seine Bevorzugung dieser 
Epoche, obgleich sie gerade von anderer Seite schon vielfach untersucht 


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worden war, aber allerdings niemals vorher mit einer derartigen systema- 
fisch geistesgeschichtlichen Einstellung wie bei Vodnik. Vraz war nach 
Vodniks Meinung der stärkste kroatische Idealist des 19. Jhs. In seinem 
Werk über ihn hat Vodnik zahlreiches unveroffentlichtes, handschriftliches 
Material herangezogen aus den Bibliotheken von Laibach und Agram und 
aus mündlichen Mitteilungen z.B. von Maretić. Innerhalb dieser Vrazstudie 
befindet sich eine geradezu monographische Untersuchung der ersten kroa- 
fischen Literatur zeitschrift „Kolo“. Die monographische Einleitung zu den 
„Runje i Pahuljice“ des Kurelac dient der weiteren Aufhellung einzelner 
Strömungen der Epoche. eer 

In der Epoche des Absolutismus ist es die Studie über Starcevié, die 
wieder auf breitester Basis des Zeitbildes die einzelne Persönlichkeit in 
die Literaturgeschichie hineinstellt. Auch hier fast monographische Unter- 
suchungen über die Zeitschrift „Zora dalmatinska“. Nächst der Vrazstudie 
ist es die Arbeit über Preradović, welche Mati für die beste Leistung 
Vodniks halt. Vodnik stellt ihn als den Interpreten der tiefsten Empfin- 
dungen des kroatischen und slavischen Seelenlebens dar. Die Monographie 
über Palmovié rollt wieder das Zeitbild der siebziger Jahre in seiner Breite 
auf, hier werden die Jugendzeitschriften ,,Smitje“ und „Zvijezda“ in ihrer 
Bedeutung dargestellt und die Anfänge des kroatischen Realismus unter- 
sucht. In der Studie über Marković ist es vornehmlich die Kulturarbeit der 
Ara Stroßmayer-Racki, welche in der Zeit des ausgehenden Absolutismus 
das Hauptinteresse Vodniks gefunden, daneben sind zusammenfassende 
Bemerkungen über die Idylle in der neueren kroatischen Literatur bemer- 
kenswert. Leider ist Vodnik, der 1926 unerwartet starb, nicht mehr dazu 
gekommen, die systematische Erforschung der achiziger und neunziger 
ans der Epoche des kroatischen Realismus, abschließend zu bearbeiten. 

nter den Realisten hat Vodnik besonders Kozarac interessiert. 

Der serbokroatischen Volksliteratur hat Vodnik zwar keine größere 
Studie gewidmet, aber aus seinen Einleitungen zu den „izabrane narodne 
pjesme i junačke“ ist zu ersehen, daß er sich auch mit dieser Materie ein- 
gehend beschäftigt hat. Besonders haben ihn die Beziehungen zwischen 
Volks- und Kunstdichtung interessiert. Auch der geographischen Seite der 
kroatischen Literatur, den Zusammenhängen zwischen den verschiedenen 
Landesteilen mit kroatischer Bevölkerung hat er Beachtung geschenkt. 

Ein besonderer Abschnitt ist den Ansichten Vodniks über die allgemein 
herrschenden Methoden literaturwissenschafflicher Forschung gewidmet. 
Vodnik, der vor allem den Geist der Epoche durchforscht schen will, hat 
die meisten vorhandenen serbokroatischen Literaturgeschichten verworfen, 
weil sie die alte philologisch-bibliographische Methode beibehalten haben. 
Vodnik vermißt nicht nur die Zeitpsychologie in derartigen Werken, er ver- 
langt auch ein kongeniales Erfassen der künstlerischen Elemente seitens 
des Forschers und das Vorhandensein von künstlerischen Instinkten in ihm. 
Auch die Form der literaturgeschichtlichen Darstellung bemängelt er in der 
jugoslavischen Literaturwissenschaft, sie dürfe nicht sklavisch kopieren, was 
ın anderen Literaturen üblich sei, sondern individuell eingefühlt sein je nach 
der Natur des Volkstums. Er hat hier Murkos Geschichte der älteren süd- 
slavischen Literaturen sehr begrüßt, weil sie diese Literaturen als Teil der 
europäischen Kulturentwicklung begriffen hat. Matl untersucht darauf Vod- 
niks eigene Methoden, zunächst die Art, wie er die literarische Persönlich- 
keit herausgearbeitet hat. Er nennt bei Darstellung ganzer literarischer 
Epochen nicht der Reihe nach ihre Schriftsteller, sondern hebt einzelne 
heraus als Vertreter der Epoche oder einer gewissen Strömung in ihr, 
andere läßt er dagegen zurücktreten. Zum Teil decken sich seine Anschau- 
ungen mit denen Erich Schmidts, der nur Persönlichkeiten das Recht zu- 
erkannte, in der Liferaturgeschichte voranzustehen, Vodnik kommt es vor 
allem aber auf die Repräsentation der Zeitströmungen an. Solche Typen 
greift er heraus. Er scheidet nicht nur in der moderneren Literatur die 
Geister nach diesen Gesichtspunkten, sondern auch die der ragusaischen 
Periode. Außerdem sichtet er scharf die wirklich künstlerischen Qualitäten 


502 


I, — — m | — — 9 — — — — — . .— 


der einzelnen Dichter. In der Biographie will er das Unwichtige zurück- 
treten sehen gegenüber dem Wesentlichen, nur so kämen die individuellen 
Züge heraus. Auch soziale Gebundenheiten, das Haften im Beruf muß 
beachtet werden. Der Schwerpunkt für ihn liegt aber in der Einstellung 
der Persönlichkeit in die ideologische Entwicklung. So untersucht er bei 
Marulić’ Weltanschauung den Konnex mit der mittelalterlich-scholastischen 
Philosophie. Auch religiöse Wesensveranlagungen müssen grundsäßlich 
herausgearbeitet werden. Vodniks Studie über Preradović halt Mail für 
die tiefgehendste Analyse von Weltanschauung und Philosophie unter allen 
seinen Lebensbildern der Dichter, weil gerade Preradovié als stärkster 
jugoslavischer Ideendichter des 19. Jhs. zumeist nach der ideologischen Seite 
hin untersucht werden mußte. 

Die Stellung Vodniks dem literarischen Werk gegenüber begründet sich 
auf die These Flauberts „L'homme n'est rien, Foeuvre est tout“. Bei ihm 
stehen die Forderungen nach nationalem Gehalt und die künstlerische Ge- 
staltung im Vordergrund. M. weist diese Tatsache nach an der Hand der 
einzelnen von Vodnik verfaßten Dichtermonographien. Vodnik zeigt sich 
hier als Anhänger der Masarykrichtung, als Modernist, welcher vor allem die 
Widerspiegelung des modern-fortschrittlichen Lebens in dem dichterischen 

fordert, aber andererseits soll der Dichter innerlich frei bleiben, und 
nur seine eigene Seele solle sein Werk diktieren. Trotzdem gipfelt seine 
Forderung doch im Bekenntnis zum literarischen Realismus. Es wird noch 
einmal daran erinnert, daß Vodnik als Literarhistoriker nicht Feststellungen 
philologischer Natur für das Wichtigste hält, sondern den allgemeinen 
geistigen Grundlagen des Werkes zumeist nachspürt. Auch hierfür folgen 
wieder Beweise bei Sichtung der einzelnen Studien Vodniks. Die Forderung 
nach Erfassung der geistigen Strömungen hält er auch den historischen 
Stoffen gegenüber aufrecht, sie werden von ihm auf Grundlage eingehender 
geschichtlicher Studien bewertet. Die Übernahme bereits bekannter Stoffe 
verwirft er nicht, wesentlich bleibe die dichterische Konzeption und ihre 
künstlerische Gestaltung. Trob dieser hohen Bewertung der künstlerischen 
Oestalt bleibt sie bei Vodnik doch zurück hinter dem Eindringen in den 
Zeitgeist eines jeden Werkes. Das aufschlugreichste Werk in dieser Hin- 
sicht scheint Mat! die Preradoviéstudie zu sein. 

Dos literarische Milieu ist überall beobachtet bei Vodnik, auch da, wo 
seine Arbeiten den Charakter von Monographien über eine einzelne Per- 
sönlichkeit tragen; so hat er die Troubadourpoesie ebenso 55 
lich durchdrungen wie den Humanismus. Beim Studium der europäischen 
Renaissancebewegung merkt man den Einfluß von Taine und Brandes. In 
der Vrazstudie findet. die Ideologie Kollärs eingehende Berücksichtigung, 
die geistige Sphäre der fünfziger und sechziger Jahre spiegelt sich am deut- 
lichsten in den Studien über Preradovié und Palmovié. Im allgemeinen 
muß aber bemerkt werden, was auch schon von Murko bemerkt worden ist, 
daß Vodnik seiner einseitig germanophoben Einstellung gemäß manche 
Periode, z.B. die Aufklärungszeit in der slavonischen Dichtung, lückenhaft 
und ungenügend bearbeitet hat, weil er & tout prix das deutsche Element 
totschwieg. Als Masarykaner wendet er der allslavischen Idee in der 
neueren kroatischen Literatur besonderes Interesse zu, der Wert der ein- 
schlägigen Studien wächst dadurch über den Bereich der kroatischen 
Literaturgeschichte hinaus. M. bemängelt gelegentlich der Ideen Vodniks 
über die Aufgabe des neun welche bei der Preradovidstudie im 
Vordergrunde stehen, daß unter den genannten russischen und polnischen 
Dichtern nicht Dostoevskijs „Idiot“ usw. und Kireevskij genannt sind. Auf- 
fallend ist es, auf welcher breiten Basis Vodnik das Literaturgeschichtliche 
einer bestimmten Epoche beobachtet und darstellt. Er zieht hier als Ma- 
terial die verschiedensten Literaturzweige mit hinein, wie Grammatiken, 
Gebetbicher, Zeitungspolemiken usw. 

Vodnik selbst als geistig literarische ‘Persönlichkeit muß als Glied der 
kroatischen Generation zwischen 1895 und 1903 angesehen werden. Vom 
Standpunkt des Fortschrittlers interessiert ihn das Erstehen des freien 


555 


Menschen in der Renaissance in hohem Maße, von hieraus betrachtet, bleib 
seine Bewertung des dunklen Mittelalters als Ara der finstersten Reaktion 
sehr einseitig und geistesgeschichtlich nicht haltbar. Nationalpolitisch steht 
Vodnik auf dem Standpunkt der serbokroatischen Volkseinheit und der 
jugoslavischen Idee. Er tritt ein für eine enge Verbindung von Wissenschaft 
und Leben, seine Studien sind fast durchweg so gehalten, dab sie allen 
Kreisen zugänglich sein werden. Aus seiner national-aktıvisti Em- 
stellung heraus wird sein Haß gegen alles Österreichische verständlich. Er 
hat aber aus diesem Grunde bei Beurteilung des Josefinismus historisch 
nicht Einwandfreies geliefert und wird ungerecht. 

Vodniks Stellung in der südslavischen Literaturwissenschaft zeichnet M. 
auf Grundlage eines Vergleichs mit Marković und Srepel. Sein Hauptwerk 
ist die Povijest hrvatske knjiZevnosti, sie ist die beste Darste der 
alteren kroatischen Literatur. Vodnik zeigt sich hier in erster Linie Er- 
forscher der kroatischen Romantik, der er als Zugehöriger zu einer realı- 
stisch-kritischen Epoche mit dem scharfen Blick des Beobachiers gegenüber- 
stehen konnte. Dabei wird aber nochmals auf den Mangel gerade dieser 
Studie hingewiesen, der ihr anhaftet durch das Ausfallen der er forderlichen 
Einbeziehung des deutschen Einflusses! Einseitig erscheint auch die Be- 
merkung über den vorwiegenden Einfluß des Byronismus in der Poesie Ler- 
montovs und PuSkins auf die game geistige Kultur Ruglands. Auch teilt 
M. nicht Vodniks Meinung, daß sich bei den Serben die Romantik besonders 
lange frisch erhalten konnte durch das phantastische orientalische Milieu. 
Sehr interessant ist es, wie durch Vodnik die Geschichte der serbo- 
kroatischen Schriftsprache mit hineinbezogen worden ist in die Literatur- 
geschichte. Es ist dagegen zu bedauern, daß er nicht auch der bildenden 
Kunst der Einzelepochen Aufmerksamkeit zugewendet hat, im Sinne Walzels. 
Er hat sonst große Vielseitigkeit bewiesen, z. B. durch Einbezichu der 
Generationentheorie, auch Keime einer ethnisch-genealogischen Ri 
finden sich bei ihm und Sinn für Erkenntnis der Stammesindividualitaten. 
Schließlich ist auch die wissenschaftliche Soziologie bei Vodnik berück- 
sichtigt worden. Im Vergleich zu den übrigen Führern der 5 
Literaturgeschichte laßt sich z. B. in bezug auf Murko sagen, daß lebierer 
systematischer vorgegangen ist bei Betrachtung allgemein kulturgeschicht- 
licher Faktoren, daß bei Vodnik aber die geistes- und ideengeschichi- 
liche Seite der Entwicklung schärfer erfaßt ist. Popovié und dessen philo- 
logischer Genauigkeit gegenüber muß Vodniks verfeinertes asthetisches 
Empfinden hervorgehoben werden. Er hat für die Kroaten etwa dasselbe 
getan wie Skerlić für die Serben. Hier verfolgt M. die Parallelen zwischen 
der serbischen und kroatischen ron im einzelnen. Im all- 
gemeinen muß zugegeben werden, daß in bezug auf die wissenschaftliche 
Erforschung der nationalen Literatur Cechen, Polen, Russen und sogar Bul- 
garen den Kroaten weit voraus sind. Vodnik hat innerhalb dieses Gebietes 
etwa dieselbe Rolle gespielt wie Vilček in der Cechischen und Chmielowski 
in der polnischen Literaturwissenschaft. Emmy Haertel. 


Primo Fumagalli: La costituzione del Vidov-Dan. — L’Europa 
Orientale. 8, 9—10 (1928), S. 283—306. 


Fumagalli erinnert an die Entstehungsgeschichte der Vidov-Dan-Verfas- 
sung in Jugoslavien und rollt den gesamten Verlauf der um sie geführten 
politischen Kämpfe auf. Es handelt sich für ihn darum, dem Problem auf 
den Grund zu gehen, welche Bedeutung für den serb.-kroat-sloven. Staat 
seine Verfassung hat. Ihr Name allein sollte, nach Pasié, die Bejahung 
der neuen Staatsidee sein. Er wollte die Bestätigung der Verfassung zum 
Jahrestage der Schlacht am Kosovo pole zum 28. juni (neuen Stils), d.h. am 
St. Veitstage, erreichen; der neue Staat sollte das Gegenteil = durch die 
Uneinigkeit der slavischen Fürsten vor 500 jahren zugrunde gegangenen 
darstellen: die Verbrüderung der Stämme durch das Amoslevische Staats- 
ideal. F. stellt die Frage: entsprach die neue Verfassung diesem Ideal, und 


554 


war sie geeignet die in sie gesetzten Hoffnungen zu erfüllen, konnte sie 
Völker, die in einem Augenblick des Enthusiasmus sich vereinigt halten, 
dauernd durch juridische Normen zusammenhalten? 

Serben, Kroaten und Slovenen hatten bisher niemals eine politische 
Einheit dargestellt, auch ihre politischen Ziele waren nicht die gleichen. 
Erst im Weltkriege tauchte die Idee eines serbisch-kroatisch-slovenischen 
Staates in den führenden Kreisen auf. So entstand das jugoslavische 
Komitet in Paris i. J. 1915; 1917 erfolgte die Kundgebung im Wiener Par- 
lament und zwei Monate später der Abschluß des Vertrages von Korfu. 

Während die dynastische Frage bei dieser Staatenbildung keine beson- 
deren Schwierigkeiten bereitet hatte, sind die Fragen des Föderalismus, 
Zentralismus und Dezentralismus noch bis in unsere Tage Gegenstand er- 
bitterter Kämpfe geblieben. Der Vertrag von Korfu hatte der Autonomie 
der Einzelgebiete weiten Spielraum gelassen, was auch in einem Staaten- 
gebilde von siebenfacher Jurisdiktion, wie das jugoslavische, unumgänglich 
notwendig gewesen ist. Man hätte aber die Frage der Zentralisierung von 
der des Panserbismus streng auseinanderhalten müssen, denn dadurch 
wären wahrscheinlich peinliche Diskussionen und noch jetzt andauernde Ani- 
mositäten vermieden worden. 

F. geht auf die Entstehungsgeschichte der polit. Parteien Serbiens vor 
dem Weltkrieg zurück und gibi einen Rückblick auf Wechsel und Tätigkeit 
der jugoslavischen Kabinette bis zu dem Augenblick, wo nach den Wahlen 
vom 28. November 1920, bei denen Kommunisten und Radiépartei einen un- 
5 Erfolg davontrugen, die Anhänger der staatlichen Einheit und 

r Dynastie sich unter der Agide von Pasié zu einer radikal-demokra- 
fischen Allianz zusammenschlossen, die F. eine Einigung sämtlicher ser- 
bischen Elemente gegen sämtliche andere Komponenten des serbo-kroat.- 
sloven. Staates nennt, und die am Vorabend der Diskussionen über die 
Verfassung zu einem Kampf der Rassen und Religionen führte. Um zu 
zeigen, daß die Bildung eines Statuts auf grundsätzliche Schwierigkeiten 
stoßen müßte, bringt F. die im früheren serbischen Staate gemachten Er- 
fahrungen auf diesem Gebiet in Erinnerung. Bald nach der feierlichen Er- 
öffnung der konstituierenden Versammlung vom 14. Januar 1021 stießen 
denn auch die Meinungen hart aufeinander. F. zählt die von den ver- 
schiedenen Parteien überreichten Entwürfe zur Formulierung des Statuts 
auf, welche die Verfassungskommission prüfen sollte. Nach seiner Meinung 
war die der Kommission gestellte Frist von nur 14 Tagen zur Prüfung der 
Entwürfe zu kurz, um die, dem von der Regierung aufgestellten Entwurf 
nahestehenden Parteientwürfe, in ein einziges Programm zusammen- 
zuschmelzen, welches wahrscheinlich dann die Majorität auf seiner Seite 
gehabt haben würde. Bei den später folgenden Beratungen hat die Unnach- 
giebigkeit von Pasié in der Frage der Zentralisierung die zwischen Serben 
einerseits und Kroaten und Slovenen andererseits bestehende Kluft noch 
vertieft. Das endgültige Wahlergebnis, welches 225 Stimmen für Annahme 
des Statuts und 35 dagegen aufwies, müsse insoweit richtiggestellt werden, 
als zu den 35 Opponierenden eigentlich die 161 Wähler hinzuzurechnen 
wären, welche sich der Wahl enthielten, die Opposition würde dann also 
auf 1% Stimmen steigen, und somit ist es durchaus begreiflich, daß die 
Nachricht von der Billigung des Statuts weder in Agram noch inLaibach mit 
Jubel aufgenommen wurde. Die Kroaten sahen durch den neuen Sieg von 
Pasié die letzte Spur ihrer alten Unabhängigkeit unterdrückt. In Maze- 
donien erfolgte offener Aufstand. Das große Nationalfest auf dem Kosovo 
pole mußte unterbleiben. Emmy Haertel. 


RUSSLAND 


Der Anfang der Regierung Alexanders Ill. ~ Sovremennyja Zapiski, 
kn. XXXIII, 1927. 


A. Kizevetter bespricht das von dem sovetrussischen Staatsverlag 
ve. offentlichte Tagebuch des Reichssekretärs E. A. Perec. P. war Reichs- 


36 NF 5 555 


sekretär, d. h. Chef der Kanzlei des Reichsrates in den jahren 1878—1885 
und stand dem Vorsitzenden des Reichsrates, dem liberalen Gro§furstea 
Konstantin Nikolaevié besonders nahe. So kennt er viele Einzelheiten 
jener Jahre. Das Tagebuch beginnt im lebten Halbjahr der Regierung Al. I. 
Es ist das der Moment, in dem Loris Melikovs Vorschlag einer „allgemeines 
Kommission“, die neben den von der Regierung ernannten Beamten auch 
aus Vertretern der Selbstverwaltung bestehen sollte, an die Reihe kam. 
Auch der Finanzminister Abaza machte Vorschläge demokratischer Steuer- 
reformen im Staatsrat. Loris Melikov, Abaza, der Kriegsminister Miljutin 
und der Großfürst Konstantin Nikolaevi© bilden die liberalen Elemente m 

er Regierung. nn reaktionäre Partei stützt sich aber auf den Oberproku- 
por oe heiligen Synods, Konstantin Petrovié Pobedonoscev. Die Libe- 
ralen suchen in der Carenfamilie die Freundschaft der morganatischen Ge- 
mahlin Al. II., der Fürstin Jurevskaja. Die Reaktion hat aber einen sicheren 
Freund im Thronfolger, dem zukünftigen Al. Ill. In den lebten Monaten der 
Regierung Al. Il. gewannen aber die Liberalen die Oberhand. Der Entwurf 
Loris Melikovs wurde von einer Kommission gebilligt, deren Vorsitzender 
der damalige Vorsitzende des Ministerkomitees Graf Valuev war und unter 
deren Mitgliedern sich auch der Thronfolger befand. Darauf wurde der 
Entwurf von Al. II. gutgeheigen, der am Morgen des verhängnisvollen 
1. März einen Ukas unterschrieb, demzufolge am 4. März in einer Beratung 
der Minister dieser Entwurf endgültig angenommen und eine Veröffeni- 
lichung an das Land erfolgen sollte über die Einberufung der „Allgemeinen 
Kommission“. Nach der Ermordung Al. II. kam aber eine tragische Wen- 
dung in der russischen inneren Politik. 

Die historische Sitzung vom 8. März ist im Tagebuch von Perec be- 
sonders dramatisch geschildert. Auf ee Siķung sollte die Frage ent- 
schieden werden, ob der von Al. Il. guigeheißene Entwurf verwirklicht und 
damit also der liberalen Opposition ein Zugeständnis gemacht werden, oder 
ob man den Weg der Repression beschreiten und alle liberalen Maßnahmen 
zurückbremsen sollte, um vor allem die Revolution gewaltsam zu unter- 
drücken. Graf Valuev, D. A. Miljutin und der eigentliche Urheber der Re- 
form, Loris Melikov, verteidigten das Projekt, aber das Hauptmoment fiel 
auf die Rede Pobedonoscevs. 

Bleich und erregt warnte Pobedonoscev vor dem Projekt. Man will 
Rußland eine Verfassung aufdrängen, wenn nicht auf einmal, so wenigstens 
den ersten Schritt zu ihr machen. Rußland ist durch die Autokratie groß 
geworden, würde durch eine Verfassung Opfer der Revolution werden und 
zugrunde gehen. Al. Ill. sprach sich nicht offen aus, und die Frage blieb 
auf dieser Sitzung unentschieden. 

Eine kurze Zeit schwankte noch der junge Car, aber sehr bald siegte 
der Einfluß von Pobedonoscev. Am 29. April erschien ein von Pobedo- 
noscev verfaßtes und vom Caren unterschriebenes Manifest, in welchem 
Al. III. seinen Glauben „an die Kraft und die Wahrheit der selbstherrlichea 
Gewalt, die Vir zum Wohle des Volkes zu befestigen und beschützen be- 
rufen sind“, Ausdruck verleiht. Die liberalen Minister Loris Melikov und 
Abaza, die vom Erscheinen des Manifests ganz überrascht wurden, nahmen 
sofort darauf ihren Abschied. Kurze Zeit darauf gingen auch andere libe- 
rale Regierungsmitglieder, z. B. Kriegsminister Miljutin, später auch Groß- 
fürst Konstantin Nikolaevi&. 

Der Nachfolger Melikovs, Ignatiev, wollte sich nicht ganz gehorsam im 
Fahrwasser Pobedonoscevs halten und mußte in einem Jahre gehen. Dann 
wurde der Graf Dimitrij Tolstoj berufen, was einen vollständigen Sieg der 
Reaktion bedeuteie. 

Auch Perec konnte sich nicht mehr halten. Als bei der Frage einer 
Repression gegen die Raskolniki der Groffiirst Michail Nikolaevic, der 
damalige Vorsikende des Reichsrates, ein schwächlicher Charakter, erklärte, 
der Staatsrat würde entscheiden, wie man es von Allerhöchster Seite be- 
fehlen würde, erlaubte sich Perec, den Großfürsten an die Urteilsfreiheit 
des Staatsrates zu erinnern. Die Folge dieser Bemerkung war sein Ab- 


556 


schied. Er war schon lange dem Caren unsympathisch, da er ihn an die 
Zeit des völligen Waltens des Geistes seines verhaßten Onkels Konstantin 
Nikolaevié im Staatsrate erinnerte. 
Rußland blieb von nun an unabwendbar auf dem irrigen und falschen 
Wege, der es zur furchibaren Katastrophe von 1918 führte. 
Nadežda Jaffe. 


Ein Brief Dostoevskijs an Alekseev vom 7. Juni 1876. — Golos Mi- 
nuvSago. Nr. 5/XVIII 1927. 


Der bisher unbekannte Brief Dostoevskijs ist an Alekseev, cinen Geiger 
aus dem Orchester des Marientheaters, gerichtet. Dieser, ein großer Ver- 
ehrer des Dichters, war ein aufmerksamer Leser des „Dnevnik Pisatelja” 
und hatte dort im Mai 1876 einen Artikel über den Selbstmord eines den 
sozialistischen Kreisen nahesfehenden jungen Mädchens — Pisareva — ge- 
lesen. Um den Problemen dieses Todes näher zu treten, hatte Alekseev 
an D. einen Brief geschrieben und als Antwort diesen Brief vom 7. Juni 
1876 erhalten, der höchst wichtig ist für die Genesis der Legende vom Gro§- 
inguisitor in den Brüdern Karamasov. 

Hier spricht D., 3 Jahre vor dem Erscheinen des beruhm- 
tenRomans, fast alle Gedanken der Legende aus. Er sieht in den Ver- 
suchen des Teufels in der Wüste aus der Hig. Schrift die Geschichte der 
ganzen Menschheit. Die Forderung des Verwandelns der Steine in Brot ist 
eine ewige Forderung. Diese Frage will auch jetzt der Sozialismus in dieser 
Weise lösen; er glaubt, daß mit der Beseitigung von Hunger und Armut 
alle menschlichen Leiden verschwinden würden. Darauf kann aber auch 
nur die schöne Antwort Christi gelten: „Nicht das Brot allein sattigt den 
Menschen“. Christus wußte, daß der Mensch kein Tier sei und ohne ein 
Schönheitsideal nicht leben könne. Denn Er, Der der Menschheit die Schön- 
heit brachte, wußte, daß der Mensch ohne Schönheitsideal den Verstand 
verlieren, Selbstmord verüben oder sich in heidnische Phantastereien ein- 
lassen würde. 

Und wenn man dem Menschen beides — Schönheit und Brot — geben 
würde? Dann würde man ihm die Persönlichkeit, die Arbeit, die Opfer- 
freudigkeit für den Nächsten abnehmen. Daher hielt es Christus für besser, 
nur eine Erlösung — die Erlösung des Geistes zu verkünden. 

So sieht D. den Grund des Selbstmordes der Pisareva in ihrem An- 
schluß an revolutionäre Kreise, die nur für das Brot in der zukünftigen 
Weltordnung sorgen und den materiellen Gütern eine unangemessen wich- 
tige Rolle beilegen. D. gibt aber selbst zu, daß mit der Ideenwelt des 
Teufels es nicht leicht sei fertig zu werden. 

In diesem Briefe sind also die Probleme der Legende noch vollstän- 
diger behandelt. Es wird als Lösung des Problems die Möglichkeit gestellt: 
dem Menschen Brot und Schönheit zu geben... und auch diese Lösung 
wird abgelehnt. Dem Brot wird nicht, wie in der Legende — die Freiheit, 
sondern die Schönheit entgegengesetzt. die Schönheit, die eine so wichtige 
Rolle im „Idioten“ spielt — und Christus wird als Symbol der Schönheit 
gepriesen. 

Der Brief wird im „Gol. Min.“ von F. Pobedinskij kommentiert. 

Nadeida Jaffe. 


V. Friè e: Tolstoj i CernySevskij. — Krasnaja Nov’. September 1928. 


Fr. versucht die Beziehungen der beiden Manner, deren 100jahrigen 
Geburtstag Rußland in diesem Jahre feierte, aufzuklären. Als der erste 
Roman Tolstoj’s: „Kindheit und Jugend“ im „Sovremennik“ erschien, schrieb 
C. einen Aufsabk, in dem er das Talent T. s rühmte und auf.zwei grund- 
legende Eigenschaften von T.’s Begabung aufmerksam machte: auf seine 
Kenntnis der Dialektik der Seele und auf sein hohes moralisches Gefühl, 


557 


zwei Eigenschaften, die auch für den späteren Tolstoj charakteristisch sind. 
Aber persönlich waren sich die beiden Manner unsympathisch. Es — 
auch nicht anders sein: Einer war Ideologe einer ae Klasse, der 
andere einer kommenden. Als T. in den 50er Jahren C. aus Jasnaja Poljana 
seine pädagogische Zeitschrift sandte, erregte sie bei diesem nur Mig- 
fallen. Und wie konnte C. an einer Zeitschrift Gefallen finden, in der es 
stand, die Religion müsse als Grundlage zur Volkserziehung gelien und 
Rousseau, Pestalozzi und andere Pädagogen der Neuzeit nur Narren ge- 
scholten wurden. 

Aber nicht weniger Mißfallen erregte bei Tolstoj der berühmte Roman 
C.’s: „Cto dijelat™. schrieb ein Stück gegen die „neuen Menschen”, die 
C. verherrlichte, das Stück mißlang künstlerisch und wurde nie veröffentlicht 
Interessant ist aber, daß der Roman doch in T.’s Seele Spuren hinterlic&. Im 
„Lebenden Leichnam“ fragt die Zigeunerin MaSa den Protasov: „Kennst du 
den Roman: ,,Cto djelaf’“? Langweilig ist er, aber etwas ist da sehr, sehr 
gut — der Rachmanov, der Selbstmord vorspiegelt.” Alles hatte T. ver- 
gessen — den Namen des Helden C.’s — er heißt nich 5 sondern 
Rachmetov; nicht er, sondern Lopuchov halte Selbstmord simuliert, um 
seine Frau aus den Qualen einer unglücklichen Ehe zu befreien; aber T. 
hatte die Lösung, die C. der Freue en Ehe des Romans gab, nicht ver- 
gessen, und sie 55 en „Lebenden Leichnam“. 

Verf. halt als Denker C. für den Bedeutenderen, als Schriftsteller hat 
T. in der Weltliteratur, die C. kaum kennt, die Palme errungen. Aber der 
marxistische Forscher will auch eine künstlerische Bedeutung C. zumessen, 
da die Ideen seiner Werke eine so hervorragende Anzahl von Jüngern fanden 

Nadeida Jaffe. 


M.Al’tmann: L.Tolstoj i Gerodot. — Slavia 7, 2 (1928). S.311—320. 


A. untersucht, inwieweit die Lektüre Herodots auf Tolstojs Bauern- 
erzählungen eingewirkt hat. Er hat cine auffallende Ubercinstimmung 
zwischen der Erzählung Tolstojs „Mnogo li &eloveku zemli nužno?“ und der 
Erzählung Herodots von der Landschenkung der Skythen an den Bewacher 
der vier vom Himmel gefallenen goldenen Gegenstände („istorija“, Kn. 4, 
Kap. 7) gefunden. In beiden Erzählungen wird so viel Land demjenigen 
versprochen, der dem Tode verfallen ist, wie er in einem Tage umgehen 
bzw. umreiten kann. Bei beiden geht der Landumgehung ein Schlaf voraus. 
Im übrigen verläuft der Inhalt der Tolstojschen Erzählung so verschieden 
von dem Herodotschen Bericht, daß kaum an eine Beeinflussung gedacht 
werden könnte, wenn nicht verschiedene Beweise dafür in Tolstojs Brief- 
wechsel zu sehen wären. A. zitiert Briefe von Tolstoj selbst, von Turgenev, 
von Tolstojs Gattin, in denen von seinen leidenschaftlich betriebenen Studien 
der griechischen Sprache und Literatur gesprochen wird. Tolstoj hat diese 
Studien, der Gräfin Tolstoj zum Trob, während einer gre) re rein mitten im 
Baschkirenlande forigesekt und dabei die Baschkiren den 
phases im Skythenlande Herodots verglichen. Zu jener Zeit 5 er den 

ntschluß, keine langen Romane, wie „Krieg und Frieden“, mehr zu schreiben. 
Die alte Literatur mag ihn dazu angeregt haben. A. weist nach, daß die 
Herodotsche Erzählung nicht vereinzelt dasteht, sondern ihre Entsprechung 
in der Volksüberlieferung Rußlands hat. So z. B. im Sosnicker Kreise des 
Gouvernemeats Cernigov, wo die Volkssage einem Sumpf, auf dem das 
Vieh nicht weiden will, andichtet, ‚daß dort das Grab eines beim Land- 
umgehen zu Tode Gekommenen sei. Hier finden sich sogar einzelne Züge 
der Tolstojschen Erzählung wieder, welche bei Herodot fehlen. Es scheint 
sich also um ein uraltes Motiv zu handeln. A. streift noch kurz die rationali- 
stische Einstellung zu der Tolstojschen Erzählung bei Knut Hamsun und bei 
Cechov in der Erzählung „KryZovnik“, zu welcher Tagebuchnotizen den 
direkten Beweis liefern, daß es sich hier um eine bewußte Entgegnung auf 
Tolstojs „Märchen“ — ursprünglich hieß diese Erzählung bei Tolstoj „Skazka 
o zemle“ — handel. Emmy Haertel. 


558 


Renato Poggioli: Lare di Costantino Balmont. — Rivista di 
letterature slave. 3, 4—6 (1928), S. 476—507. 


Ein Überblick über die Verbreitung, welche der französische Sym- 
bolismus in Rußland gefunden, leitet die Studie über Balmont ein. P. er- 
wähnt hierbei, daß die italienische Literatur, gesättigt durch eine nie er- 
loschene klassische Tradition, dem Eindringen dieser französischen Poesie 
am meisien Widerstand geleistet hat, während gerade junge und abseits 
der klassischen Tradition entwickelte Literaturen wie die slavischen von 
thr am leichtesten durchdrungen wurden. Dieses Pfropfreis aus dem 
Westen gab aber auf diesem Boden — ähnlich wie das früher auch auf 
anderen Kunstgebieien geschehen — unerwartete und originelle Erfolge. 
Die Dichtung Aleksandr Bloks fußt auf dieser Transplantation. Balmont 
hat, ungeachtet seiner glänzenden Begabungen, den Schritt in diese Poesie 
nicht so leicht zurückgelegt; er hat von den Symbolisten und Dekadenten 
die Neigung zu einer Musikalität der Sprache um ihrer selbst willen an- 
genommen, die oft übertrieben und ohne eigentlichen inneren Grund an- 
gewandt ist. Hierin hal er auch viel von den englischen Lyrikern gelernt. 
Im übrigen hat er bei der Bildung seines Weltbildes fast von allen 

odernen etwas angenommen, von Wilde, Nietzsche, Verhaeren, D’Annunzio 
u. a. Das hat aber auch seiner Originalität Abbruch getan und, nach der 
Meinung Poggiolis, dazu beigetragen, daß seine Dichtungen nur selten in 
das Gebiet großer Kunst zu rechnen sind. Balmont war aber nicht ohne 
eine eigene Weltanschauung, seine Anschauungen Welt und Dingen gegen- 
über werden von Lo Gatto in seinen „Studi di letterature slave“ (Roma 1925, 
Vol. 1, S. 154—157) sehr treffend als „nietzschianesimo lirico“ bezeichnet. 
Es steckt in der Tat sehr viel Nietzschescher Geist in ihm, aber vielleicht 
erinnert er noch mehr an Vorläufer Nietzsches; P. erwähnt in diesem Zu- 
sammenhang den Amerikaner Walt Whitman. 

Balmonts Sonnenkult, seine Ekstasen den großen Naturerscheinungen 
gegenüber: Wind und Feuer, die er als lebenschaffende Mächte erkennt, 
beweisen es, daß er neben den Dekadenten noch andere Lehrmeister ge- 
habt, denn derem Sinne hätte es mehr entsprochen, wenn er den Mond 
besungen hätte. Dem Dichter, der sich selbst in Sonnenhöhe und -nähe 
wähnt, mußte der Gedanke des jenseits-von-Out-und-Böse-Siehen nahe 
liegen, er geht aus diesem Gedankenkreis über zum Bewußtsein eines 
Thronens über aller Welt: der Dichter ist König. P. geht Balmonts Ge- 
dankengängen bis in alle Einzelheiten nach, seinem Schonheitskult, dem 
aus der Schönheit des Augenblicks entspringenden Bewußtsein vom Wert 
des Augenblicks, von der Relativifat der Begriffe: falsch und wahr usw. 
Aus diesen Proben wird ersichtlich, daß Balmonts Ideenwelt keineswegs 
originell zu nennen ist. Es ist das aber nur eine Seite seines inneren 
Menschen. Die bisherigen Ideengänge mußten notwendig gewisse Grenzen 
finden, sie sind außerhalb der Jugendzeit nicht gut vorstellbar. Immer 
wieder hat Balmont auch das Lob der Jugend in seine Dichtungen einge- 
fochten. P. fragt nun, wie hat er vom Tode gedacht? Hier ist eine der 
schönsten Dichtungen Balmonts aufschlußgebend: „Lebed’“. Der elegische 
Sterbegesang des Schwans rührt an eine andere Welt als die bisher von 
Balmont besungene: ein Insichgehen, Bereuen, Bitten um Vergebung und 
schließlih der Gedanke, daß der Tod als Friedenbringer kommen wird. 
P. hält den Schluß des Gesanges künstlerisch nicht für sehr wertvoll, aber 
für um so aufschlußreicher in bezug auf Balmonts Gedankenreihen, die ins 
Metaphysische übergreifen. Den Gipfelpunkt dieser Art Dichtungen glaubt 
P. in „Na versiné“ zu sehen. Das Gedicht schließt mit dem Bekenntnis der 
tiefsten Resignation. 

Balmont, der nach Poggiolis Meinung hinsichtlich seiner Weltanschauung 
nun den Höhepunkt erreicht, steigt in späteren Dichtungen wieder herab. 
Einen ähnlichen Abstieg, aus Gründen innerer gesebmäßiger Notwendigkeit, 
sieht P. auch in D’Annunzio, mit dem er vorher Balmont verschiedentlich 
verglichen hat. D’Annunzio hat aber schließlich im Aufgehen in der Natur 


559 


wieder neuen Aufschwung genommen, während Balmont sich nicht mehr 
zu dem früheren Feuer aufschwingen konnte. Die technische Seite eg 
Dichtung, der P. eine längere Besprechung widmet, zeigt eine u oe 
liche Anzahl in Form und Ton verschiedener Ausdrucksmittel, die aber 
größtenteils dem Zweck dienen, eine Musik in Worten zu erreichen. Diesem 
Streben nach musikalischer Wirkung zuliebe wendet Balmont vielfach rem 


von Cukovskij (gelegentlich einer Besprechung der „Prekrasnaja dama” 
Bloks) geprägte Wort ,Balmontovscina“. Schließlich betrachtet P. noch 
Balmonts Tatigkeit als Uberscher, die bei seinem ungewöhnlich ausgebrei- 
teten Sprachwissen auch eine ungewöhnlich reiche gewesen ist. Er gibt 
die Zusammensiellung des englischen Textes von Edgar Poe „The bells“ 
mit Balmonts Übersekung ins Russische und einer italienischen Ubersebung. 

P., der Balmonts größtes Verdienst darin sieht, daß er die jüngere 
russische Dichtergeneration aufgeriittelt hat zu einer Abwehr gegen den 
allzu praktisch-moralisch-sozial gewesenen Grundzug der russischen Lite- 
ratur des 19. Jahrh. und ihr ein Fenster nach dem Westen aufgebrochen, 
nimmt gerade dieser ausgesprochen europäisierten Natur Balmonts wegen 
noch einmal den Vergleich mit ihm und D’Annunzio auf. Man hat von le$- 
terem gesagt, daß er ein kleiner Tyrann der Renaissancezeit sei, der m 
der Zeit der Bourgeoisie und der Dampfmaschinen lebt, und Erenburg hat 
von Balmont gesagt, er sei ein glänzender Anachronismus. Beides mif 
nach Poggiolis Meinung zu, beide Dichter sind sich in ihrem Europaismus 
wie in ihrer anachronistischen Art ähnlich, und beiden gemeinsam ist em 
ausgesprochen femininer Zug: das allzu bereite Aufnehmen anderer und 
stärkerer Ideen. P. fügt hinzu, dieses Urteil dürfte vielleicht manchen 
Russen zu hart erscheinen, es entspräche auch mehr romanischer als sla- 
vischer Denkungsart. P. schließt sich deshalb dem absprechenden Urteil 
Eichenwalds über Balmont an und lehnt das übertrieben enthusiash 
Erenburgs über ihn ab. Übrigens hat ja auch Erenburg zugegeben, daf 
man Balmont nicht so lieben könne wie Blok. Der Geist der Nachkriegs- 
zeit kann Dichter wie Balmont und D’Annunzio nicht mehr als zeitgema 
empfinden, für ihn gehören sie beide dem 19. Jahrh. an, was aber 
hindern wird, das wirklich Schone bei Balmont weiter zu schaken. 

Emmy Haertel. 


Umberto Barbaro: Lidia Seifullina. — Rivista di letterature 
slave. 3, 4—6 (1928), S. 508—514. 


Die russische Kritik über Lidia Seifullina ist des Lobes voll, merk- 
würdigerweise aber sehen die einen in ihr die unerbittlichste Anklagerin 
der sovetistischen Irrtümer und Grausamkeiten, die anderen dagegen die- 
jenige Schriftstellerin, welche den Kommunismus in den höchsten Tönen 
feiert. In beiden verschiedenen Lagern wird ihre Kunst als „Realismus” 
bezeichnet. Realistische Literatur ist ın Italien nicht beliebt, und “doch haben 
die groken Werke der russischen Realisten das italienische Publikum fur 
sich erobert. Die Einschäßung der literarischen Kritik will hier nichts sagen, 
man muß den Schriftsteller aus seinen Werken und seinem Leben kennen 
lernen. Das soll hier auch bei der Bekanntschaft mit der Seifullina ver- 
sucht werden. B. gibt in Kürze ein Bild ihres Lebens und Wirkens, er teilt 
mit, daß ihre erste literarische Arbeit dadurch zustande kam, daß sie von 
einer sibirischen Zeitung aufgefordert worden war, für sie einen Aufsak 
zur „Woche des Kindes“ zu schreiben. An Stelle eines Aufsakes schrieb 
sie eine Erzählung, durch die sie sofort die Aufmerksamkeit des Publikums 
auf sich zog. Ihre Themen und Probleme entnimmt sie dem Gebiet ihrer 
eigenen Erfahrung (sie war der Reihe nach Lehrerin, Bibliothekarin, hörte 
Vorlesungen über Pädagogik und ist als Sekretärin des sibirischen Staats- 
verlags im Kommissariat für öffentliche Bildung tätig). Sie beschreibt das 
Leben im russischen Dorf und seinen jähen Wechsel infolge Krieg, Revo- 
lution und Bürgerkrieg, über die Lage der Frau und über die Verwahr- 


560 


| 


1 


| 


losung der Kinderwelt. Es ist_also ein ständigem Wechsel unterworfenes 
Milieu, dessen Schilderung z. T. schon wieder überholt ist. Ihren eigenen 
Gesichtspunkt aus diesen Schilderungen zu erkennen, ist deshalb kaum 
1 I weil sie alles mit scheinbar größter Objektivität schildert. Viel- 
leicht hat keiner, weder in Rußland noch außerhalb, die Revolution von 
einem gleich hohen Standpunkt aus betrachtet. B. halt diese Kunst nicht 
für realistisch, dazu enthält sie zuviel lyrisch-suggestive Elemente, nach 
seiner Meinung besitzt sie alle Vorzüge der lezten Moderne ohne deren 
Fehler. Er stellt sie in manchem über Zola und Daudet. Dic Seifullina 
ze immer ein nachsichtiges Urteil für die von ihr geschaffenen Typen, 
auch da, wo man erwarten könnte, daß sie verurteilen muß. Ohne alle 
Prüderie schildert sie selbst die heikelsten Dinge, und ebenso liegen ihr 
Sentimentalität und Wunderglauben fern. B. meint, sie sei nur mit Verga 
zu vergleichen, und zwar auch hinsichtlich eines Vorwurfs, den man ihr in 
bezug auf ihren Stil machen kann. Ebenso wie Verga nach dem Auf- 
kommen von D’Annunzios Wortschwall trocken und dürftig erschien, so 
kann man ähnliches auch von ihr sagen. Sie drängt ihren Geschöpfen nicht 
die eigene Sprache auf, sondern lernt von der ihrigen, so einfach und 
volkstümlich sie auch sei. Emmy Haertel. 


Die jüdische Bevölkerung unter der kommunistischen Regierung. — 
Sovremennyja Zapiski. Oktober 1928. S. 509—531. 


B. D. Bruzkus, der bekannte russisch-jüdische Journalist, bespricht 
die jebige Lage der Juden in Rußland. Die jüdische Frage hatte und hat 
im politischen Leben Rußlands eine besondere Bedeutung. Enigegen- 
gesetzte politische Parteien schildern aus entgegengescehien Grundsätzen 
heraus das Leben der russischen Juden in ganz falschen Farben. Die 
jüdische Bevölkerung besteht zum größten Teil aus Kleinhandlern und Hand- 
werkern. Diese Bevölkerungsteile wurden von der Regierung besonders 
verfolgt. Im russischen Standestaate sind Kaufleute und Handwerker 
Bürger zweiter oder dritter Klasse. Sie können ihren Stand nicht ver- 
ändern, da ihre bürgerliche Herkunft sie daran hindert. Durch ihren so- 
zialen Stand sind aber ?/, aller Juden entrechtet, und so ist die Gleichberech- 
tigung nur auf dem Papiere vorhanden. ; 

In d. J. 1925—26, z. Z. des Neps, merkt man einen gewissen Aufschwung 
der jüdischen Bourgeoisie. Die Juden, die an Arbeit in ungünstigen recht- 
lichen Verhältnissen gewöhnt waren, verstanden sich auch jetzt zu behaupten. 
Die weißrussischen und ukrainischen Kleinstädte, in denen die Hauptbevol- 
kerung der Juden wohnt, belebten sich. Die Steuerlast wurde leichter. 
Kleine Markthandler und Handwerker bekamen Wahlrecht. Die Ernie war 
gut und die Valuta stabilisiert. So gelang es den Juden Weißrußlands und 
en Ukraine, Erfolge auf dem Gebiete des Mehl- und Tabakhandels zu er- 
zielen. 

_ Aber 1927—28 kamen wieder neue Verfolgungen; feste, von der Re- 

erung bestimmte Preise toteten den Handel. Wieder kam politische 

nirechtung für die Handwerker und für alle, die jemals in den letzten 
5 Jahren Handel getrieben hatten. ; . 

Auf die Frage, ob die Juden irgendeinen Gewinn aus der Revolution 

ezogen haben, antwortet B. verneinend. Die jungen jüdischen Kommissare 
im Anfange der Revolution waren vielleicht die einzigen. letzt sind Sovet- 
beamte meist ehemalige jüdische Kaufleute und Intellektuelle aus den 
höheren Schichten der jüdischen Gesellschaft. Für diese bedeutet ihre 
Lage als Sovetbeamte einen sozialen Niedergang. en 

Der Kolonisationspolitik der Soveiregierung steht B. pessimistisch 
gegenüber. Das ganze Projekt der Kolonisation der Juden ist nur ein 


Versuch, die Sympathie der jüdischen Bourgeoisie in Amerika und West- 


europa und daher Kredite zu gewinnen. Die systematische Kolonisation 
nach der Krim ging mit Hilfe des Joint Distribution Commitee vor sich. Das 
Leben der Kolonisten ist sehr schwierig und das ganze Projekt kostspielig 


561 


und kompliziert. letzt ist ein Plan vorhanden, die Amur- Gegend, die B. fur 

sehr ungünstig hält, mit Juden zu kolonisieren. Die Lage der Juden in 

Sovetrugland ist so verzweifelt, daß sie auch darauf eingehen. i , 
Und irobdem versuchen reaktionäre Journalisten, wie Sulgin einerseits 

und radikale jüdische Gruppen andererseits, die Lage der Juden in R 

in günstigstem Lichte darzustellen. B. glaubt aber, in dem von ihm ge- 

sammelten Tatsachenmaterial einen entgegengesetzten Beweis zu 

Nadežda Jaffe. 


Evgenij Aniékov: N. P. Kondakov (1844—1925). — Slavia 7, 1 
(1928). S. 44—62. 


1. Verf. will das Eindringen in Kondakovs Lebenswerk erleichtern, in- 
dem die seine einzelnen Untersuchungen miteinander verbindende Ge- 
dankenkette gezeigt werden soll. Kondakov, Schüler Buslaevs, hat seine 
Studien zur Zeit romantischer Anschauungen begonnen, welche Buslaev bei 
Betrachtung der altrussischen Kunst, Volkskunst und Literatur zur Geltung 
bringen wollte. Auch damals aber kannte man schon die Abhängigkeit der 
altrussischen Zivilisation von Byzanz, es war nur begreiflich, daß sich das 
Interesse der Forscher nach dieser Richtung hin zu betätigen anfing, z.B. 
V.G. Vasil’evskij, dessen Werke jetzt von der Akad. Nauk herausgegeben 
werden. Die romantische Schule, mit ihrer auf nationalem Selbsigefühl auf- 
gebauten „vergleichenden“ Methode, suchte die Originalität und Selbstandig- 
keit der Denkmäler aus dem „grauen Altertum” nachzuweisen. K’s. Haupt- 
werk „Russkie klady“ (1896) wandte sich gegen diese Auffassung und gegen 
diesen beschränkten Patriotismus. K. und seine Gesinnungsgenossen ver- 
traten das Prinzip der Entlehnung von Volk zu Volk. In den „Russkie 
klady“ legt Kondakov eingehend den Gang, den Entlehnungen grundsatzlich 
nehmen müssen, und wie sie ihn in Altrußland genommen haben, dar, d. h. 
ihren Ausgang von Byzanz vermittelst der engen Berührungen im Chersones 
und der Ausstrahlungen über Georgien, die Donauufer usw. Während 
Veselovskij schon in den siebziger Jahren sein Augenmerk auf den infolge 
dieser Kulturvermittlung anzunehmenden Komplex der „griechisch-slavischen 
Welt“ richtete, beharrte K. längere Zeit bei Studien ausschließlich byzan- 
tinischer Denkmäler. Er hat während seines 20jährigen Aufenthaltes in 
Odessa ausschließlich als Byzantinist gearbeitet und galt als bester Kenner 
des byzantinischen Altertums. Erst Ende der achtziger Jahre, in Peters- 
burg, wandte er sich dem russischen Altertum zu. Ohne zum slavophilen 
Lager zu gehören, haben er, Vasil’evskij und Veselovskij die Beantwortung 
der Fragen nach der Stellung der Slaven in der Weltgeschichte, welche 
einst Chomjakov gequält, auf rein wissenschaftlicher Basis, aber erfüllt von 
patriotischen Gefühlen, angestrebt. 


2. Verf. nennt dann zunächst chronologisch Kondakovs Arbeiten auf 
byzantinistischem Gebiet. Hier hat K., ähnlich wie Vasil’evskij und Vese- 
lovskij, einzelne wenig erforschte Denkmäler behandelt, keine allgemeinen 
Probleme. Er galt deshalb lange als einseitiger Spezialist, und so über- 
raschte später die Weite seines wissenschaftlichen Horizonts. In seinem 
„Pute3estivie po Sirii i Palestině“ nahm K. Stellung zu der mittlerweile ein- 
getretenen Spezialisierung der byzantinischen Kunstforschung, welche durch 
die in Syrien, Georgien, in der Krim, in Agypten und Sizilien gemachien 
Funde byzant. Provenienz aus dem 6.—9. Jahrhundert entstanden war und 
rein lokalen Charakter angenommen hatte. Er stellte die Frage, ob sich 
die Kunstwissenschaft allein formalen Interessen innerhalb lokalgeschichtlich 
abgegrenzter Gebiete zuwenden und den Überblick über das Gesamtgebiel 
des christlichen Altertums und die hier zu behandelnden Probleme aufgeben 
wolle. Er sieht darin eine Gefahr für die Archäologie, die so zu einer dienen- 
den Rolle verurteilt wird, indem sie nur innerhalb bestimmter Regionen in 
der Kunst eine Art Illustration historischer Anekdoten sieht. Die Gedanken, 
welche Kondakov leiteten, hatten indessen auf literarhisl. Gebiet Anwen- 
dung gefunden; Veselovkij, Vsevsolod Miller und Zdanov hatten an Stelle 


562 


der früheren vergleichenden Methode die durch Tatsachen gestubte der 

Entlehnungen in Angriff genommen, durch die der Kultureinfluß des kulturell 
höher Stehenden auf den Primitiveren erwiesen wurde. Diese Prinzipien 
leiteten auch K. bei der Untersuchung der Beziehungen innerhalb der ein- 
zelnen Territorien des altchristlichen Altertums. In seiner „Ikonografija Bo- 
gomateri® hat er eine Gliederung des Stoffes in Perioden, gemäß dem 
jeweils vorherrschenden Kultureinfluß, vorgenommen. Er sieht die fahr 
der Einzeluntersuchungen in der Vernachlässigung des Zusammenhanges 
mit der kulturhistorischen Gesamtheit, der ihn bereits in seiner Doktor- 
dissertation interessiert hat. Während der ersten 20 Jahre seiner Forscher- 
tätigkeit hat die Kunstwissenschaft, welche ihren Ausgangspunkt von der 
Renaissance herleitet, in erster Linie die formale Seite der Kunst ins Auge 
gefaßt und sie zu einer Arena des Schönen gestempelt. K. verfolgt in der 
Einleitung zu seiner ,,PuteSestvie v Siriju i Palestinu“ diese formale Rich- 
tung in ihrer Entwicklung und stellte fest, daß sie noch immer lebendig ist, 
wobei er sich scharf gegen den Formalismus in Riegls „Stilfragen. Grund- 
legungen zu einer Geschichte der Ornamentik“ gewandt hat. Anickov 
weist hier auf die in der russ. literar. und künstler. Kritik stets bewiesene, allem 
Formalismus abgeneigte Gesinnung hin, die z.B. besonders stark in Cerny- 
Sevskijs „Estetileskija otnoSenija iskusstva k déstvitel nosti“, ihrerseits auf 
Feuerbach aufgebaut, gegen Vischers Formalismus zum Ausdruck kommt und 
auf Dobroljubow und Stasov eingewirkt hat. Kondakov bestreitet übrigens 
nicht die Wichtigkeit der Form, sondern nur das einseitige Interesse der 
Kunstwisenschaft für sie: er will das Untersuchungsfeld weiter ausdehnen, 
das gesamte archäologische Material auf dem Gebiet der Kleinkünste und 
des Handwerks, der Kleidung, Waffen usw. miteinbezogen sehen als Abbild 
des Lebens einer bestimmten Epoche. Nach und nach werden diese Zweige 
das Lieblingsgebiet seines wissenschaftlichen Forschens. Hier auf diesem 
Gebiet läßt sich der Schlüssel finden zur Geschichte der wirtschaftlichen 
5 der Märkte und des Kunsthandwerks in Privat- und Grob- 

etrieben. 


3. Kondakov konnte auf seinem Arbeitsfeld die Geschichte der Ent- 
lehnungen von Volk zu Volk ungleich erfolgreicher verfolgen, als es die 
Literarhistoriker imstande gewesen waren. Für ihn ergab sich schließlich 
der Übergang der Kulturgüter auf dem Wege des Handelsverkehrs der 
Völker untereinander als das bedeutendste Ferment der Kunstentwicklung, 
ja ihm schien ein Fortschritt unmöglich da, wo Entlehnungen unmöglich 
waren. So erklärt sich der Zusammenhang der Einzelgebiete in der byzan- 
tinischen Kunst von Palästina, Syrien usw. So ließ sich die Wanderung 
der Kunstformen von Kleinasien über die Krim nach Norwegen verfolgen. 
K. hat einen Überblick über die Entwicklung der byzantinischen Kunst in 
seinem „Vizantijskie Emali“ gegeben. Er erklärt hier auch das Auftreten des 
Tierstils zur Ikonoborzenzeit als besondere Kunstform, nachdem dieser Stil 
früher nur asiatischen Kunsterzeugnissen der sog. barbarischen Völker eigen 
gewesen war. Unter den „barbarischen Volksstammen des Nordens“ ist die 
sog. „griechisch-slavische Well“ zu verstehen, welche tatsächlich zuerst 
griechisch und noch nicht byzantinisch gewesen ist und spatcrhin slavisch 
wurde. Kondakov hat den Prozeß dieser Slavisierung ehemals griechischen 
Kulturgebiets nicht allseitig durchgeführt, aber jedenfalls war er der erste, 
der auf wissenschaftlicher Grundlage diesen Tatsachen Beachtung schenkte. 
In „O nauénych zadaéach istorii drevne russkago iskusstva“ und in „Russkija 
drevnosti“ untersucht er die Zusammenhänge der hellenistischen Kunst in 
der Krim mit der skythisch-sarmatischen Kultur, die ihrerseits wieder zu den 
Funden aus der Völkerwanderung Beziehungen hat, und ihr folgen in zeit- 
lich geringem Abstand die slavischen Altertümer. Es ist wichtig, daß in 
diesem Zusammenhang die slav. Völker nicht als Zerstörer vorhandener 
alter Kulturen auftreten, sondern sich auf kulturgesättigtem Boden nieder- 
ließen. Diese Zusammenhänge der Slaven mit einer jahrhundertealten Kultur 
festgestellt zu haben, ist eines der Hauptverdienste Kondakovs. Anickov 
sekt sich hier mit der so lange verfochtenen Theorie der Beeinflussung der 


565 


Slaven durch die Germanen auseinander. Zwar war schon 1886 von Hempel 
(Der Schab des Attila. Budapest 1886) auf die asiatische Herkunft dieser 
Kunst hingewiesen worden, aber noch jetzt nn der germanische Einfluß 
überschätzt und der des asiatischen verringert. K. hat, im Gegensab zu der 
aus der Germanentheorie hervorgehenden Uberschabung Skandinaviens als 
Kunstgebiet, die skandinavischen Länder als „öde Sackgassen Europas” 
bezeichnet, in die die Kultur des Südens in vergröberter Form gekommen 
sei. Er bestreitet ihren Einfluß auf das werdende R ono, vielmehr haben 
sie nach seiner Meinung die Errungenschaften der südlichen Kulturen selbst 
erst durch die Mittlerschaft der Slaven kennengelernt. Gerade die süd- 
slavische Rus’, die ganz unter östlichem Kuliureinfluß stand, hat späterhin 
unter den Südrußland bevölkernden Volksstämmen die Hauptrolle gespieli 
und nicht die Germanen. In den folgenden Abschnitten sollen Kondakovs 
Untersuchungen im einzelnen betrachtet werden. 


Schlußartikel: Slavia 7, 2 (1928). S. 298—310. 


4. Zu Anfang erinnert An. noch einmal an diejenigen Denkmäler der 
altrussischen Kunst, für welche Kondakov ein besonderes Interesse gena 
hat: die Steinskulpturen der Kirchen in Vladimir und Jur’ev Polskij und 
einige in Cernigov und Kiev gemachten Funde der Juwelierkunst. Er zählt 
hierbei die verschiedenen Deutungsversuche auf, welche die Reliefs aus 
der Suzdal’ Vladimirschen Epoche mit ihren der westlichen romanischen Kunst 
so ähnlichen Formen verursacht haben. Der Weg der Vergleichungen 
zwischen der abendländischen und der nordostrussischen Kunst führte bis 
nach Regensburg, Baden, bis zum Schloß Tyrol und nach Südfrankreich; so 
groß die Ähnlichkeit der Formen hie und da war, konnte Kondakov dod 
nirgends ein Denkmal finden, das als Vorlage für die Reliefs in Vladimir 
anzusprechen gewesen wäre. Durch die allgemeine Übereinstimmung der 
Formen war man aber zu dem Schluß berechtigt, daß es undenkbar sei, 
fernerhin die Vorherrschaft der byzantinischen Kunst während des 10. bis 
11. Jhs. im gesamten Europa zu bestreiten. Die lombardische Kunst hatte 
die von Byzanz übernommenen Kunstformen durch Vermittlung der Cluny- 
zenser nach Frankreich und Deutschland ausgestrahit. War aber zu dieser 
Zeit eine Weitergabe der neuen Kunstrichtung nach dem fernen Osten an- 
zunehmen? Kondakov verneint das. Der westliche romanische Stil bewahrte 
gewisse römische Züge, wodurch er sich von dem byzantinischen Stil bei 
aller sonstigen Ähnlichkeit unterscheidet. Die Reliefs von Vladimir tragen 
alle Züge der nprdisch-barbarischen Kunst, und durch sie kann die ver- 
worrene Frage des romanischen Stils im übrigen Europa geklärt werden. 
Es handelt sich hier um die Abgrenzung zweier Unterabteilungen der byzan- 
tinischen Kunstausstrahlungen, einer westeuropäischen und der alirussischen, 
zwischen denen gerade die Baukunst von Vladimir ein Bindeglied darstellt. 
Beide schöpften aus derselben Quelle. 

Die Reliefs der Kirchen in Vladimir gehören zum sog. Tiershl Dieser 
Stil stellt einen der am meisten charakteristischen Züge des byzantinischen 
Stils innerhalb sämtlicher Unterabteilungen der beeinflußten Sphären dar. 
Ein äußerst wichtiges literarisches Denkmal aus dem 5. Jh. gibt hier Auf- 
schluß über die Beliebtheit dieser phantastischen Tierformen beim Kirchen- 
schmuck. Nil prepodbnyj hat auf eine Anfrage eines gewissen Eparchen 
Olympiadoros, ob nicht als Umrahmung einer Ikone Tier- und dszenen 
angebracht wären, derartige Darstellungen abgelehnt. Hier handelt es sich 
nun aber um die fast auf allen Kunsterzeugnissen, nicht nur dieser Epoche, 
sondern weiterhin durch Jahrhunderte hindurch, ee Tierbilder, 
die aus dem barbarischen Stil eingedrungen waren und ihren ry bis nach 
Skandinavien und Süddeutschland gefunden hatten. Hierher s auch die 
verschiedenen Wappentiere und die Paradieses- und Sirinvögel zu zählen, 
ihrerseits weisen diese aber alle wieder zurück auf die Erzählungen voa 
Alexander v. Mazedonien, auf den Physiologus usw. Diesen Stil nahm auch 
die lombardische Schule auf, er ist mit der kulturellen Tätigkeit der Cluny- 
zenser eng verbunden. Bernhard von Clairvaux hat gegen ihn geeiferl. 


564 


Die symbolische Bedeutung, welche diese Tiergestalten in theologischer 
Hinsicht gewonnen, spricht sich gerade in den Reliefs von Vladimir in lebens- 
volister Weise aus, sie sind um die Gestalt des Tvorec Emanuil gruppiert, 
und auf einem zahmen Oreifen wird Alexander v. Mazedonien in die Höhe 
gelragen, ein besonders charakteristischer Zug und aufschlußgebend dar- 
iber, daß hier das seelische Bedürfnis Altruglands zum Ausdruck gebracht 
worden ist. Dazu kommt, daß einige Steinbilder viel älter sein müssen als 
die Kirche und bei ihrem Bau mit verwendet worden sind. Da drängte sich 
der um zwei Jahrhunderte ältere Fund von Cernigov zum Vergleich auf. 
Die dort gefundenen Geweihe sind reich mit solchen Tierfiguren bedeckt, 
und ähnliches ist durch die Funde von Kiev, im Kuban u. a. O. bestätigt 
worden. Diese Ubereinstimmungen führen aber wieder auf den Tierstil zur 
skythischen Zeit zurück, also in eine Zeit, wo Südrußland noch nicht slavi- 
siert war. Kam dorthin der Tierstil aus Byzanz? Nein, er deutet auf Wege 
aus dem Osten, d. h. nach dem gänzlich hellenisierten Vorderasien, Grusien, 
Syrien, Palästina und Agypten. Und hier zeigt sich wieder Kondakovs 
Schema der Kultur- und Kunstvermifflung auf dem Handelsweg, für den 
weder Veselovskij noch Zdanov Interesse gehabt haben. Kondakov hat in 
diesen Beobachtungskreis auch die zoomorphen Formen der Initialen aus 
dem 10.—11. jh. einbezogen und, nach Einbeziehung auch der sibirischen 
Altertümer, den Keim der übereinstimmenden Formen im sassanidischen 
Ornament gefunden und im frühen syrisch-arabischen des 7.—8. jhs. Kon- 
dakov hat sich mit den Studien am Tierstil während mehrerer Jahre in Prag 
beschäftigt, er zog in diesen Beobachtungskreis alles ein, was über Stoffe, 
Kleidung usw. im byzantinischen Hofleben sich zum Vergleich bot, um die 
Frage zu lösen, auf welche Weise der Tierstil nach Byzanz gelangt sein 
kann, und kam zu dem Schluß, daß der hellenisierte und mittlerweile bar- 
barish gewordene Osten schon in der den Ikonoborzen voraufgehenden 
Epoche, am meisten aber um das 7. Ih, in jeder Hinsicht die Interessen von 
Byzanz auf sich gezogen haben muß. Eine besondere Aufgabe fiel hierbei 
den reich und prächtig ausgeriisteten Nomadenvölkern am Nordrand des 
Schwarzen Meeres zu und den Alanen, durch die der vorderasiatische Osten 
in direktef Verbindung mit Byzanz gekommen sein wird. Von hier aus 
gingen dafn diese Kunstformen nach dem westlichen und damals auch bar- 
barischen "Westeuropa weiter. 

S. Anitkov zählt hier noch einmal alle die Tatsachen auf, welche dafür 
sprechen, daß die Rus“ in kultureller Hinsicht sehr hoch gestanden haben 
muß: die kostbaren Funde von Kiev, die auf eine prächtige Gestaltung des 
Lebens am großfürstlichen Hof schließen lassen, der Buchschmuck des 
Izbornik Svjatoslavs usw. Kondakov hat aus allen hier in Betracht zu 
ziehenden Einzelheiten den Schluß gezogen, daß die Slavisierung der 
Waräger schon lange vor Olga und Svjatoslav eingesebt haben wird, da die 
Kultur der slavischen oder slavisierten Rus’ eher auf die _skandinavische 
einwirken konnte als umgekehrt. Er behauptet, daß die Funde aus dem 
ältesten Rußland keinerlei primitiven Charakter haben. 

Emmy Haertel. 


A. D. Grigor’ev: K izuéeniju russkich starozil’Zeskich govorov 
Sibiri. 1. — Slavia 7, 2 (1928). S. 256—268. 


Als ausführliche Einleitung in die dialektologische Studie ist hier ein 
Überblick gegeben über die Besiedlungsart Sibiriens und die Folgen, welche 
sich daraus in ethnographischer Hinsicht ergeben haben. Die einschlägige 
Literatur ist leider nur andeutungsweise genannt. Für statistische Angaben 
vor 1911 ist ,Aziatskaja Rossija“ und die ,Ekonomiceskaja geografija“ von 
P. M. Golovatev benützt worden. Für den später folgenden Teil der Arbeit 
ist es wichtig, auf den durchaus gemischten Charakter der staroZily und 
novosely hinzuweisen, die ihrerseits Träger der verschiedensten russischen 
Dialekte gewesen sind. Or. vertrilt hierbei die Ansicht, daß für den Prozeß 
sprachlicher Assimilation nur Beobachtungen von Wert sein können, die an 


565 


Kolonisatoren angestellt worden sind, welche seit mindestens 50 Jahren m 
Sibirien heimisch sind, was sich mit dem sonstigen und leicht irreführenden 
Begriff des starozil’e nicht decki, da man mit ihm bereits nach einer Zet- 
spanne unter 50 Jahren Aufenthalts in Sibirien operiert. Die Einwanderer 
sind dabei so bunt durcheinandergewürfelt wie möglich, hinsichtlich der 
territorialen Abstammung vom Mutterlande, meistens befinden sich selbst 
innerhalb der einzelnen Ansiedlungen ehemalige Angehörige von 10—15 ver- 
schiedenen Gouvernements des europäischen Rußlands. Die Auswanderer 
eines jeden bestimmten russischen Gebiets haben dabei ganz beshmmie 
kolonisatorische Qualitäten bewiesen, je nach ihren in der Heimat erworbe- 
nen Fähigkeiten. Von einer Sprachgemeinschaft von vornherein kann also 
bei dieser Art der Besiedlung keine Rede sein. Besondere e 
wendet Gr. der kosakischen Erobererschicht zu, die auf Jermak folgte und 

zum größten Teil aus den „guljaßlie ljudi“ bestand. Von ihnen sind die 
zahlenmäßig bei weitem allen anderen Kolonien voranstehenden Siedlungen 
ausgegangen, welche meistens lange sich entwickeln konnten, ohne daß die 
russische Regierung von ihnen Notiz nahm. So ist nachgewiesen worden, 
daß innerhalb von vier Kreisen des Gouvernements Enissej von 776 Sied- 
lungen nur 102 auf Veranlassung der Regierung ins Leben gerufen worden 
sind. Der stark asiatische Einschlag des Sibirers und seine durch die Ab- 
trennung vom Mutterlande hervorgerufene Veränderung in Charakter- und 
Gemutsanlagen werden auf Grund der neuesten einschlägigen Literatur be- 
sprochen. Bei aller Verschiedenheit nach der Abstammun ung vom Mutter- 
lande handeli es sich bei den sibirischen Einwanderern d hauptsächlich 
um Oroßrussen, was sich selbstverständlich auch in ihrer Sprache beobachten 
läßt. Emmy Haertel. 


WEISSRUSSLAND 


Slaneuski: Uber die historischen Namen der Weißrussen. 
Studenskaja Dumka 1929. Heft 1, S. 8— 11. 


Vor einiger Zeit erregte der bekannte weißrussische Historiker W.La- 
stowski in weißrussischen Kreisen großes Aufsehen und Mißvergnügen, als 
er statt der Bezeichnungen „Belarus“ (Weißrußland), ,,bélaruski“ (weiß- 
russisch) die Ausdrücke „Kryvija“ und „Kryuski“ benutzte. Manche wollten 
darın bei der bekannten prolitauischen Einstellung vo Lastowski sogar 
einen „Verrat Weißrußlands an Litauen“ erblicken. 0 ist der 
Streit aus den Gefilden der Politik in die ruhigeren Gefilde der Wissen- 
schaft getreten. Verf. gibt eine wissenschaftlich- objektive Erklärung aller 
drei historischen Bezeichnungen der Weißrussen. „Kryvici“ ist die ur- 
spriingliche nationale Bezeichnung der Weißrussen: so bezeichneten sie sich 
selbst, so wurden sie von den Fremden bezeichnet. Als „Litauer“ wurden 
die Weißrussen später mit den Nationallitauern gemeinsam wegen ihrer ge- 
meinsamen Staatsangehorigkeit bezeichnet. Als „Russen“ schließlich galten 
die Weißrussen wegen ihrer Konfession, da unter dem „russischen“ Glauben 
die griechisch-katholische Konfession verstanden wurde. Die eigentliche 
Bezeichnung „Belarusy“ ist erst späterer Herkunft und wurde den „Kry- 
viči“ von Moskau erst im 16. Jahrhundert beigelegt. 

Die Bezeichnung „Kryvici“ in bezug auf das Land und Volk (Stamm?) 
ist bereits in dem ersten Geschichtsdenkmal des osteuropäischen Slaven- 
tums, der „Russkaja načalnaia létopis“, benutzt worden. Die Bezeichnung 
„Kryvici“ war auch den deutschen und italienischen Historikern im 14. Jahr- 
hundert bekannt. 

Den Geschichtsquellen zufolge umfaßte das Gebiet der „Kryvidi” die 
Oberlaufe des Njemans, der Westdüna, des Dnjepr und der Volga. 
die Städte der „Kryvici” werden Smolensk, Polokk, Isborsk, Minsk und 
Nowagrudek bezeichnet. Der Ausdruck „Rus“ — die Bezeichnung des 
normannischen Erobererstammes, der die „Kryvidi” sich unterwarf, wurde 


566 


— — — — — 


von den Eroberern auf das eroberte Gebiet übertragen. Diese Bezeich- 
nung biirgerte sich namentlich mit dem Übergang zum Christentum ein: 
indem die bis dahin heidnische Volksmasse der „Kryvidi“ den christlichen 
(„russischen“) Glauben annahm, wurde sie gleichfalls „russisch“. Vom 13. 
Jahrhundert an wurden die weißrussischen Territorien unter der Herrschaft 
der litauischen Dynastie vereinigt. Daher die dritte historische Bezeichnung 
der Weißrussen — „Litauer“. Der Weißrusse war damals seiner Nationali- 
tät nach ,kryvic“, seinem Glauben nach „Russe“ und seiner Staatsange- 
hörigkeit nach „Litauer“. So wurde der Ausdruck „Ruś“ von den litauischen 
Großfürsten, sowie den zeitgenössischen Schriftstellern (Skoryna) ver- 
standen. Der Ausdruck „russischer Glaube“ wurde als Antithese zu dem 
römisch-katholischen Glauben benutzt. Der Ausdruck ,,Bélaja Ruś“ galt zu- 
nächst für das von dem Tatarenjoch befreite Moskauer Rußland (Perwolf 
im iv für slavische Philologie“, Prof. Anucin „Kurs belorussovedenija“ 
Minsk. 1920). Die Bezeichnung ,,Bélaja Rus“ wurde Weißrußland erst im 
16. Jahrhundert von Moskau nach der neuen kirchlich-administrativen Ein- 
teilung beigelegt, als Moskau die neue offiziöse Ideologie des „dritten 
Roms“ nach der Heirat Ivans Ill. mit einer byzantinischen Prinzessin sich 
zulegte. Dann wurde „Wseja Rus Pravoslavnaja” in drei Teilgebiete ein- 
geteilt: Rus Velikaja (Moskowien), Ruś Malaja (die Ukraine) und Rus Bélaja 
(die weißrussischen Territorien des OGroßfürstentums Litauen). 


Zum ersten Male wird die Sprache der „kryviči“ als weißrussische 
Sprache in dem Vorwort von Stepan Zizanija zur polnischen Ausgabe seiner 
bekannten polemischen „Predigt des hi. Cyrillus“ (Wilna 1596) bezeichnet. 
Die Verbindung von Zizanija und seiner Gruppe der Behüter des griechisch- 
katholischen Glaubens im Großfürstentum Litauen mit dem Moskauer 
Patriarchen bestätigt den kirchlich-administrativen Ursprung der neuen Be- 
zeichnung. Nach dem Frieden von Andrusovo, besonders aber nach der 
Teilung Polens setzt sich der Ausdruck „Bělaja Ruś“ durch als staatlich- 
geographischer Terminus zur Bezeichnung eines Teilgebiets Rußlands. Da- 
mit war freilich die merkwürdige Evolution der Bezeichnung eines Volkes, 
das seinen Namen verloren hatte, keineswegs beendet. 


Nach der Teilung Polens versuchte die polnische szlachta dem weiß- 
russischen Bevölkerungsmassiv ein polnisches Antliz zu geben. Dafür 
sorgte cine „weißrussische Literatur“ in polnischer Sprache resp. eine weiß- 
russische Literatur in lateinischer Schrift. Die russische Regierung und die 
russische Offentlichkeit kannten das Gebiet nicht. So wurde nach den 
polnischen Aufständen von der eingeschüchterten Regierung das ,,staats- 
gefährliche“ Wort ,,Bélaja Ruś“ abgeschafft und durch die Bezeichnung 
Séwero-zapadnyj kraj ersetzt. Es begann zugleich die Erforschung des 
Gebiets durch verschiedene Anstalten und Vereine. Die weißrussische 
Sprache wurde in diesen Forschungen mitunter einfach als „Ortssprache“ 
bezeichnet, es taucht auch der Ausdruck ,,belarussko-kryvicski" auf, d.h. 
die alte Bezeichnung wird in Verbindung mit der neuen gebraucht. 

In der „Geschichte Weißrußlands“ von Turéinovié, sowie in den Pu- 
blikationen des Generalstabs aus den 50er Jahren werden beide Ausdrücke 
benubt. Ganz besonders interessant ist der Umstand, daß nach den offi- 
ziellen Angaben des statistischen Komitees bei der Volkszählung von 1860 
26 106 Personen in ar be pl ihre Nationalität mit „Kryvidi“ angaben; 
das Volk besann sich trob seiner Unwissenheit noch auf seinen alten 
Namen. Der zweite Aufstand (1863) räumte auch mit der Objektivität der 
wissenschaftlichen Untersuchungen auf. Von nun ab wurde die gesamte 
weißrussische Renaissance zu einer „polnischen Intrige“ gestempelt. In 
dieser Frage ging die großrussische Öffentlichkeit Hand in Hand mit der 
Regierung. Der Ausdruck „Kryviči“ wurde verboten, die Bezeichnung 
„Weißrussen” galt als verpönt. Für die offizielle Ideologie gab es nur 
„Russen“. 

. Erst die neueste weißrussische Renaissance hat den alten Namen „Kry- 
viči“ wieder zu neuem Leben erweckt. (,„Kryvidi“ stammt von „krou-kryvi“). 


567 


Von den bekannteren weißrussischen Schriftstellern benuzen Cecot, Marcin- 
kevic, Kaganck, Kupala, K. Builo, Bjadulja, Lastowski u. a. diesen Ausdruck. 
Es sei indessen bemerkt, daß die alte Bezeichnung der 4 
„kryviči“ sich, wie die Bezeichnung mancher anderer Volker und Länder, 
wie Gallien, Gallier, Teutonen nicht durchgesetzt hat. Seine große Re- 
naissance, seinen Eintritt in den Kreis der Kulturvolker hat das Volk unter 
dem Namen „Weißrussen“ vollbracht. Damit muß gerechnet werden, und 
es liegt kein Grund vor, gewissen Sentiments zuliebe diese Frage gehässig 
zuzuspißen. Vladimir o. 


AL Sliubski: Das Verhältnis der russischen Regierung zu der 
weißrussischen Sprache im 19. Jahrhundert. — Zapiski addselu 
gumanitarnych nauk 1928, Band 2, S. 303—337. 


Polnische und später auch weißrussische Historiker schufen eine bisher 
unerschütterte Tradition, zu behaupten, daß in Rußland ein formelles Verbot 
des weißrussischen Schrifttums bestanden hätte. Verf. untersucht an Hand 
umfassenden Materials die Richtigkeit dieser Behauptung und gibt zugan 
eine Gesamicharakteristik der russischen Politik in Weifrugland im Laufe 
des 19. Jahrhunderts. Den Ursprung dieser falschen Behauptung findet 
Verf. in dem 1874 erschienenen Artikel des bekannten polnischen Historikers 
A. Kirkor „O literaturze pobratymczych narodów słowiańskich“. Aus diesem 
Artikel wurde diese Behauptung auch in die „Wielk. Encykl. Powszechna 
ilustr. Band VIII“ übernommen. Aus der polnischen Literatur wird diese 
Behauptung von der weißrussischen Literatur unkritisch übernommen. Seit 
einem halben Jahrhundert hat sich diese Behauptung aufrechterhalten und 
wurde von den ernstesten weißrussischen Literaturhistorikern ohne jeg- 
liche Nachprüfung wiederholt. Verf. weist an Hand von Urkunden nach, 
daß dieses vermeintliche formelle Verbot eine Legende ist. Das erste 
Vorgehen gegen das weißrussische Schrifttum fand, wie Verf. nachweist, 
1859 statt aus Anlaß der Veröffentlichung einer weißrussischen Übersekung 
von dem Poem „Pan Tadeusz" des Mickiewicz (die Übersekung besorgte 
Dunin-Marcinkevic). Verf. weist nach, daß gleichzeitig die erste Repression 
des ukrainischen Schrifttums, und zwar am 30. Mai 1859 stattfand, als es 
verboten wurde, ukrainische Bücher in polnisch-lateinischer Schrift zu 
drucken resp. solche Bücher aus dem Auslande einzuführen. Im Zusammen- 
hang mit der Beschlagnahme der weißrussischen Übertragung von „Pan 
Tadeusz“ wurde das Wilnaer Zensurkomitee von dem Unterrichtsministerium 
angewiesen, auch fernerhin „das polnische Alphabet“ für weißrussische 
Publikationen nicht zuzulassen. Bis 1859 fanden überhaupt keine Maß- 
nahmen gegen die weißrussischen Bücher statt. Wie ersichtlich, richteten 
sich die 1859 ergriffenen Maßnahmen keineswegs gegen das weißrussische 
Schrifttum als solches, sondern lediglich gegen die Benubung der lateinisch- 

Inischen Schrift, also gegen den polnischen Einfluß ım Lande. Die 
egende von dem Verbot des weißrussischen Schrifttums führt Verf. darauf 
zurück, daß die Weißrussen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch 
keine umfangreiche .eigene Literatur besaßen, sich vielmehr unter polnischem 
Einfluß befanden und in polnischer Schrift schrieben. Mithin konnte auch 
das Verbot der weißrussischen Literatur in polnisch-lateinischer Schrift 
de facto auf ein generelles Verbot des weißrussischen Schrifttums hinaus- 
kaufen, obwohl es ursprünglich keineswegs darauf gerichtet war, sondern 
eine Kampfmaßnahme gegen das Polentum und dessen Kulfureinflug§ dar- 
stellte. Vladimir Samojio. 


Pjatuchovic: Das Leben und die literarische Tätigkeit des Anton 
Ljavicki. — Zapiski addselu gumanitarnych nauk 1928, Bd. 2, H. 1. 


Für die Biographie Ljavickis benutzt Verf. in der Hauptsache die An- 
gaben der Tochter des verstorbenen Dichters, Frau Wanda Lesik, der Gattin 
des bekannten weißrussischen Pädagogen und Politikers, und der Frau 


568 


Bodunova. Die Memoiren von Frau Wanda Lesik, die Verf. vollsiändig 
wiedergibt, geben ein klares Bild von dem Werdegang des Dichters. Der 
Vater des Dichters war russischer Offizier, er reichte sein Abschiedsgesuch 
ein, um nicht gezwungen zu sein, gegen die Aufständischen 1863 zu kämpfen. 
Er war später als Gutsverwalter auf dem Gut Dubosna im Gouvernement 
Mohilew tätig. Hier wurde 1869 Anton Ljavicki geboren. Diese Angabe ist 
unseres Wissens vollständig neu: bisher nahm man allgemein an (selbst 
Garekki in seiner sonst zuverlässigen „Geschichte der 5 Lite- 
ratur“), daß Anton Lie vicki 1870 auf dem Gut Karpilovka bei Rados kovitti 
(Gouvernement Wilna] geboren wurde. Wie aus der Darstellung der Tochter 
des Dichters hervorgeht, ließ Anton Ljavicki sich in Karpilovka erst im Alter 
von 28 Jahren nieder, also nach seiner Verheiratung, wobei das Gut Kar- 
pilovka die Gattin des Dichters mit in die Ehe einbrachte. Ljavicki studierte 
an der Moskauer Universitat, wurde wegen seiner Teilnahme an den Stu- 
dentenunruhen verhaftet und in der Peter-Paul-Festung eingeschlossen. 
Nach seiner Befreiung aus der Festungshaft widmete er sich der Phar- 
makologie und diente später als Apothekergehilfe in der Apotheke von 
Rado3kovici. Später war er in der Genossenschaftsbewegung tätig, und nach 
seiner Verheiratung mit der Gutsherrin von Karpilovka widmete er sich der 
Landwirtschaft. 1903 verlegte er seinen Wohnsitz nach Wilna, wo er in 
russischen Zeitungen mitarbeitete. 1904 kehrte er wieder auf sein Gut 
zurück, setzte aber seine Mitarbeit an russischen Zeitungen fort. Er war 
ständiger Mitarbeiter der rechisstehenden russischen Zeitung ,,Bélorusski 
Véstnik™ und der polnischen Zeitung „Zorza Wileńska“. 

Erst die Revolution von 1905 ließ Ljavicki engere Fühlung mit der weiß- 
russischen Bewegung nehmen. Die Periode 1905—1914 ist die Zeit der 
maximalen literarischen Fruchtbarkeit von Ljavicki. Ljavicki arbeitet in dieser 
Periode an verschiedenen weißrussischen periodischen Zeitschriften mit, 
redigiert die landwirtschaftliche Monatsschrift „Sacha“, veröffentlicht eine 
Reihe von Novellensammlungen („Dsed Savala“ 1910, „Bjaroska” 1912, 
„Vasilki“ 1914). 1914 verlegt Ljavicki seinen Wohnsitz nach Minsk und gibt 
dort die Jugendzeitschrift „Lu£inki“ heraus. In den schweren Kriegsjahren 
1914—1917 gehen alle diese Gründungen unter. 

. Liavicki widmet sich der Fürsorge für die Kriegsopfer und wird zum 
Mittelpunkt der national-weißrussisch gesinnten Kreise. In der Revolution 
widmet sich Ljavicki vollständig der politischen Tätigkeit. Diese ange- 
sirengte Tätigkeit untergräbt die Kräfte des Dichters. Die Schwindsucht 
macht rasche Fortschritte. Er schreibt noch die Novelle „Zoloto“ („Gold“), 
arbeitet an seinen Studentenerinnerungen. 

1920 verläßt er Minsk (gemeinsam mit den abziehenden polnischen 
Truppen?). In Wilna — fern von seiner Familie — erliegt er schließlich der 
Schwindsucht in den ersten Marztagen des Jahres 1922. Diese Memoiren 
der Tochter des Dichters werden durch die Erinnerungen der Frau Bodunova 
ergänzt, einer aktiven Funktionärin der Partei der Sozial-Revolutionäre. 
Sie schildert Ljavicki als Enthusiasten der nationalen Freiheitsbewegung der 
Weißrussen (daher seine Feindschaft zu dem russifizierenden Carismus), in 
sozialer Hinsicht hingegen sei er ziemlich konservativ gewesen. Daher sein 
Skeptizismus in bezug auf die revolutionäre Bewegung. In praktischen 
Fragen wurde er von dem Enthusiasmus der jüngeren und temperament- 
volleren Genossen mitgerissen, in theoretischen Fragen führte er mit ihnen 
die hitzigsten Diskussionen. 

Prof. Pjatuchovid bezeichnet den Dichter Ljavicki als „doppelgesichtigen 
Janus”. Verf. teilt die Novellen von Ljavicki in zwei Gruppen ein: a) Hu- 
moresken und b) Novellen ernsten Inhalts mit tiefen sozialen Schilderungen 
und psychologischem Inhalt. Zu der ersten Gruppe gehören jene Novellen, 
in denen die Naivität und eine gewisse Albernheit des Bauern aufs Korn 
genommen wird. Der einfache Mann vom Lande wird das Opfer verschic- 
dener städtischer Betrüger. In dieser Ironie spiegelt sich die traditionelle 
Verspottung des einfachen Mannes und seiner Sprache durch den Adel 
wieder. Diese Tradition war bereits durch Dunin-Marcinkevié in dem weiß- 


569 


russischen „parodistischen Klassizismus“ sowie bei BarSéevski verlreten. 
Diesen Novellen kommt keine größere künstlerische Bedeutung zu. Sie 
sind lediglich für die Ideologie des Dichters charakteristisch: der Bauer isi 
lächerlich, aber der Städter ist moralisch abstoßend... Viel wertvoller sind 
die Novellen, denen nicht Anekdoten, sondern Szenen aus dem Volksieben 
zugrunde liegen. (So „Zyvy njaboščik“, „Va3naja figa“, „Sud“ u. a. m) 
Wichtiger sind seine dem wirklichen Leben entnommenen Erzählungen 
ernsten Inhalts. Verf. teilt sie in realistische und symbolisch-allegorische 
ein. In den ersten herrschen soziale und psychologische Motive vor. Ab 
beste Novelle dieser Gruppe sieht Verf. „Garotnaja“ an. Ebenso erschüt- 
ternd wirkt trotz der außerordentlichen Einfachheit und Knappheit der Dar- 
stellung die Erzählung „Zarabljaju&“. Beide Erzählungen sind von tiefen 
Lyrismus des Mitgefühls mit den unglücklichen Opfern der Armut, der Un- 
wissenheit und der Hilflosigkeit erfüllt (im Dorf in „Oarotinaja“ und in da 
Stadt in ,Zarabljajué"). Verf. schäßt auch die psychologischen Erzählungen 
Ljavickis sehr, in denen die psychologische Analyse immer auf dem kon- 
kreten Boden des weißrussischen Lebens sicht. Daher ist in diesen Er- 
zählungen das psychologische Motiv immer mit dem sozialen vereinidt. 
Allen diesen Erzählungen ist die Schilderung des Lebens des weißrussischen 
Dorfes gemeinsam, der Unwissenheit, der Armut, der physischen Degene- 
ration; weniger oft ist in seinen Erzählungen das freudlose Leben und der 
traurige Tod des städtischen Arbeiters und Handwerkers geschildert. in 
psychologischer Hinsicht gibt Ljavicki die Poesie der Erinnerungen, den 
Gegensab zwischen Traum und Wirklichkeit, die Erlebnisse der einsamer 
Jugend, die Qualen des Gewissens, das Alpdriicken der von der Stadi 
vergifteten bäuerlichen Seele. 

Nicht minder mannigfaltig sind die symbolisch-allegorischen Erzählungen 
des Dichters. Auch in seinen symbolisch-allegorischen Erzählungen herr- 
schen soziale Motive vor. Besonders charakteristisch dafür ist die Er- 
zählung „Pauk“, die anscheinend von der Broschüre von Liebknecht 
„Spinnen und Fliegen“ beeinflußt worden ist. In der Erzählung „Viasefle” 
benutzt Ljavicki die Gestalt eines Geiers, um den Stolz der „Herren“ und 
deren Verachtung des gemeinen Volkes zu schildern. In anderen symbo- 
lischen Erzählungen benutzt Liavicki als Symbole Pflanzen u. a. m, um 
künstlerische Parallele zu dem Leben der Menschen zu ziehen. Aus dem 
Leben der Pflanzen nimmt er die Symbole, um das Leben der kleiner 
Völker unter dem „Schuß“ der großen Völker zu schildern, in seiner sym- 
bolischen Erzählung ,,Gadunef“ gibt Ljavicki eine vollständige „Philosophie 
der Geschichte des weißrussischen Volkes“. 

In einer Reihe anderer Erzählungen geht Ljavicki auf Probleme der 
Moral ein, indem er die verschiedenen Abirrungen des Menschen von seiner 
wahren Bestimmung satirisch beleuchtet. 

Ljavicki ist ein außerordentlich fruchtbarer Dichter, seine Novellen 
zeichnen sich durch die Mannigfaltigkeit ihres Inhalts aus. Wie Verf. mi 
Recht behauptet, ist Ljawcki bisher viel zu wenig gewürdigt worden. Wena 
aber der Verf. als einzige Würdigung Ljavickis „2 Seiten in der »Geschichte 
der weißrussischen Literature von Garebki” zu nennen weiß, so muß auf 
die bereits 1927 erschienene ausgezeichnete Abhandlung von Anton Navina 
hingewiesen werden, uber die ich bereits referiert habe (Jahrbücher fur 
Kultur und Geschichte der Slaven, N. F. Band V, Heft 1, S. 141 ff.) und die 
Prof. Pjatuchovié bei der Behandlung dieses Themas doch eigentlich 
kennen sollte. 

Die Abhandlung von Prof. Pjatuchovié bedeutet einen wichtigen Bei- 
trag zu der gerechteren Beurteilung des ersten großen weißrussischen Er- 
zählers, der einem Theodor Storm und einem Cechov ebenbürtig ist. 

Viadimir Samojlo. 


J. Bibila: Materialien zur Biographie von Tzetka (Aloisia PaSkevil- 
Keirysava). — Zapiski adds. gumanit. nauk 1928. Bd. 1, S. 291 
bis 302. 


570 


— — — — — — 


Unter dem Pseudonym „Tzeika“ schrieb die talentvolle Dichterin und 
namhafte Revolutionarin Aloisia PaSkevic. Verf. gibt eine Kompilation 
aller bisher bekannten Materialien zur Biographie der Dichterin und er- 
gänzt sie durch eigene Beiträge. 

Aloisia Paškevič (geb. am 3. Juli 1876) stammte aus einer armen lönd- 
lichen Familie. Ob diese Familie adliger oder bäuerlicher Herkunft war, 
steht dahin. Jedenfalls ihrem Lebensniveau nach war sie eher bäuerlich 
als adlig. Mit 3 Jahren kam Aloisia PaSkevié zu ihrem Großvater, der Vor- 
werksbesiger war. Das Vorwerk lag mitten im Walde. Die Erinnerungen 
an dieses Vorwerk spielen eine große Rolle in dem späteren literarischen 
Schaffen der Dichterin. Vom Großvater wurde Aloisia PaSkevié im Geiste 
der polnischen Kultur erzogen. Mit der weißrussischen Welt hatte sie ledig- 
lich durch ihre Kinderwarterin Agasja Fühlung, die ihr weißrussische 
Märchen erzählte. Aloisia PaSkevié wurde zunächst Volksschullehrerin und 
kam so dem Volke näher. Später ging sie nach Petersburg, um sich weiter 
fortzubilden, geriet hier unter den Einfluß der revolutionären Bewegung, 
schloß sich der von den Brüdern Lubkevid, Kostrovi§ki, Burbis u. a. 
gegründeten weißrussischen revolutionären sozialistischen Gramada an. 
Gleichzeitig mit ihrer Bekehrung zum Sozialismus erfolgt ihre Bekehrung 
zum weißrussischen nationalen Gedanken, der soziale und nationale Be- 
freiungskampf der Weißrussen findet in ihr die flammende Revolutions- 
rednerin, die begeisterte Sängerin. Eine besonders aktive Rolle spielte 
Aloisia PaSkevié in der weißrussischen Frauenbewegung. Der revolutionäre 
Pathos der Dichterin findet seinen künstlerischen Ausdruck in der Gedicht- 
sammlung „Chrest na swabodu“. Aloisia Paškevič lenkt die Aufmerksam- 
keit der Polizei auf sich und verläßt 1906 Rußland, um deren Verfolgungen 
zu entgehen. Regen Anteil nimmt sie an der ersten weißrussischen Zeitung 
„Nasa Dolja“, deren Inhalt fast ausschließlich von ihr und den Brüdern 
Lubkevié besorgt wurde. 1906—07 lebt Aloisia PaSkevié (die unter dem 
Pseudonym „Tzeika“ bekannt wurde) in Lemberg später in Krakau. Hier 
nimmt sie mit den Ukrainern und Litauern Fühlung. Sie lernt auch ihren 
zukünftigen Mann, den litauischen sozialdemokratischen Führer Kairys 
kennen. Von Krakau aus setzt sie ihre Mitarbeit an der weißrussischen 
Zeitschrift „Naša Niva“ fort. In Krakau erscheinen ihre Gedidıtbände 
„Chrest na swobodu” und „Skrypka belaruskaje“. Sie studiert an der 
historisch-philologischen Fakultät der Universität Krakau und erwirbt die 
Mittel für ihre Existenz als Masseuse und Bühnenkünstlerin. Die Sehnsucht 
nach der Heimat findet in ihrer Lyrik ihren Ausdruck. 1910 kehrt sie nach 
Wilna zurück, heiratet Kairys. Ihre Wohnung wird zum Mittelpunkt des 
Verkehrs und der Annaherungsbestrebungen zwischen Litauern und Weib- 
russen. Aloisia Kairys widmet sich der nationalen Kulturarbeit nament- 
lich auf dem Gebiet des weißrussischen Theaters. Inzwischen wirkt 
sich die Überarbeitung in den Jahren des Krakauer Exils auf dem Gesund- 
heitszustand der Dichterin aus. Die Schwindsucht untergrabt ihre Kräfte, 
und dieses langsame Dahinsiechen findet in ihrer Lyrik einen ergreifenden 
Ausdruck, die jetzt von rührender seelischer Abgeklartheit erfüllt ist. Diese 
persönlichen Stimmungen töten indessen nicht den Glauben an eine bessere 
Zukunft des Volkes. Mutig kämpft sie gegen die Gefühle der Resignation, 
die von ihr Besitz ergreifen, und versucht das „verglimmende Feuer zu einer 
leuchtenden Flamme zu entfachen“. 

Nach der Besetzung Westweißrußlands durch die deutschen Truppen im 
Weltkriege nimmt sie regen Anteil an der Organisation des weißrussischen 
Schulnetzes. Das weißrussische Schulnes — eiwa 400 Volksschulen, die 
unter der deutschen Okkupation entstanden und unter der polnischen Herr- 
schaft beseitigt wurden — war zu einem großen Teil das Werk der 
Dichterin. 

Sie starb am 5. Februar 1916 als Opfer einer Typhusepidemie. Diese 
Biographie der Dichterin und Politikerin Aloisia Kairys geb. PaSkevic wird 
durch Erinnerungen von Personen ergänzt, die sie gut gekannt haben: 
V.D.Alexandrova (die Tochter des bekannten russisch-ukrainischen Roman- 


37 NF 5 571 


dichters Mordovtzevl, Chlebfzevié, Lugkevié. Sie alle bezeichnen die Dich- 
terin als besonders aufrichtige Frau, voll von seelischer Jugend, Offenheit, 
Wahrhaftigkeit, Fröhlichkeit, seelischer Stärke und Edelsinn. Ein unbe- 
siegbarer rebellischer Geist in einem schwachen Körper“, „eine aus Stahl 
geschmiedete Seele“, „ein treuer, liebevoller Kamerad“ — das sind die 
Ausdrücke, mit denen ihre Weggenossen sie charaklerisieren. 

Verf. hat den Werdegang und die Tätigkeit der ersten weißrussischen 
Revolutionärin mit Liebe und Sorgfalt geschildert. Vladimir Samojlo. 


KLEINRUSSLAND 


Dr. S. NariZnyj: Johann VyhovSkyj im Dienste Moskoviens. — 
Mitteilungen d. Sevéenko-Ges. d. W. in Lemberg, Bd. 149, 1923, 
S. 117—139. 


Vorliegende Abh. Narižnyj’s ist nur e:n Teil seiner umfangreichen, bis- 
her leider noch nicht publizierten Monographie über den berühmten Kosaken- 
hetman. Obwohl Vyhovśkyj eine außergewöhnlich wechselvolle politische 
Karriere durchmachte — namlich vom kleinen Gerichtsbeamten, als solcher 
wurde er von Bohdan Chmelnyckyj aus tatarischer Gefangenschaft für eine 
alte Stute losgekauft — brachte er es bald zum Kanzler, später zum Het- 
man des ukrainischen Kosaken-Staates (1657—1659) und wurde schließlich 
von den Polen, wiewohl er ein Senator und Vojevode des polnischen Staates 
war, auf tragische Weise hingerichtet —, fand er bis nun keine gebührende 
Würdigung in der Historiographie. Man warf ihm nämlich Unbeständigkeit 
in seinen politischen Anschauungen, Verrat, Egoismus, Ambition, Protek- 
tionismus usw. vor. Ferner beschuldigte man ihn, als hatte er in seiner 
Würde als Kanzler Bohdan Chmelnyckyj’s eigenmachtige Verhandlungen mit 
Moskau geführt und dadurch sowohl den Staat als auch seinen Patron ver- 
raten. Dr. NariZnyj versucht nun, diesen g egen Vyhovskyj gerichteten Vor- 
wurf als „Diener Moskaus“ dokumentarisch zu revidieren. Die in den 
Bänden 3, 8, 10, 11 und 14 von der Petersburger Archäographischen Kommis- 
sion herausgegebenen „Aktv. otnosiaScijasja k istoriji južnoj i zapadnoj 
Rossiji“ veröffentlichte diplomatische Korrespondenz zwischen der russischen 
und ukrainischen Regierung lieferte ihm ein umfangreiches Material, welches 
nach dessen Bearbeitung ihn zu der Ansicht führte, daß hier von einem Ver- 
rate seitens VyhovSkyj’s keine Rede sein kann. Die private, diplomatische 
Tätigkeit Vyhovskyj’s war nur eine Ergänzung der offiziellen Politik des 
Hetmans. VyhovSkyj erhielt zwar einige Male Geschenke von der Moskauer 
Regierung, welche ein Charakteristikum dieser Zeit waren und auch unter 
andere Würdenträgern des ukrainischen Kosaken-Staates verteilt wurden, 
ohne jedoch den Charakter einer Belohnung für erwiesene Dienste zu haben. 
Demzufolge sind die Beweise und die Argumente des Dr. NariZnyj sehr 
beachtenswert und auch geeignet, diesen Kosakenhetman von den Vor- 
würfen zu entheben bzw. zu befreien. D. Doroschenko. 


Michele Jeremjeev: La questione ucraina all’ epoca del 
risorgimento italiano. — L'Europa Orientale. 8, 9—10 (1928), 
S. 313—325. 


(Die Red. der Zeitschrift gibt in einer Anmerk. bekannt, daß sie mög- 
licherweise auch AufsaBe von gegnerischer Seite und Aufklärungen 
historischer Art aufnehmen wird, weiche zu den vom Verf. hier veröffent- 
lichten Dokumenten und deren wissenschaftlichen und politischen Thesen 
Stellung nehmen wollen.) 

Verf. halt die ukrainische Frage für eine der wichtigsten der Gegen- 
wart und zugleich für eine der eigenartigsten, weil es für den europäischen 
Politiker schwer ist, den Verdunklungen zum Trob, die andauernd uber thr 


572 


gehalten werden, zur Wahrheit vorzudringen. Während die Bolscheviken 
behaupten, daß die ukrainische Frage nach dem Willen des ukrainischen 
Volkes gelöst sei, leugnen viele unter den sogenannten „weißen“ Politikern 
Rußlands nicht nur die Existenz einer solchen Frage, sondern auch die des 
ukrainischen Volkes überhaupt. Der Zweck dieses Aufsaßes besteht darin, 
den Stand der ukrainischen Frage im westlichen Europa zur Zeit des ita- 
lienischen Risorgimento zu charakterisieren. J. zitiert einige ukrainophobe 
Stimmen aus der Zeit nach dem Welikriege, welche die ukrainische 
Selbständigkeilsidee als österreichisch-deutsche Fabel darstellen, wie das 
Fürst A. Volkonskij getan in „La verità storica e la propaganda ucraino- 
va (Roma 1920), oder als cine intern-russishe Angelegenheit, wie das 

V. Mjakotin in „La question ukrainienne“ in Le Monde Slave (Nov. 1925) tut. 
Solchen und ähnlichen Meinungen gegenüber beruft sich J. auf Dokumente, 
aus denen das lebhafteste politische Interesse französis er Gelehrter und 
Politiker an dieser Frage in den sechziger Jahren zu erschen ist. Ihr Ver- 
fasser ist der Senator Casimir Delamarre, Mitglied der Commission cen- 
trale de la Société géographique de Paris gewesen, dessen Lebensdaten 
(geb. 1797, + 1870), nebst kurzen Bemerkungen über seinen Lebenslauf hier 
genannt sind. Die in Ubersebung, ungekurzt, wiedergegebenen Schrift- 
stücke sind folgende: 1. ein Gesuch von Delamarre an die gesekgebende 
Behörde Frankreichs betreffend Namensabänderung des Lehrstuhls der sla- 
vischen Sprache und Literatur, 2. Vortrag Carnots vor der gesekgebenden 
Behörde v. 18. Juni 1868 und 3. Eingabe Delamarres betr. den Geschichts- 
unterricht in den französischen Schulen. 


Das zuerst genannte Schrifistück betitelt sich „Ein Plural für einen 
Singular, und der Panslavismus wird von der Wurzel ab ausgerottet sein. 
Brief an die gesetzgebenden Minister und Kommissare der Regierung ... 
und an die Herren Abgeordneten der gesetzgebenden Behörde.“ Delamarre 
macht in diesem, vom 26. Mai 1868 datierten Schreiben auf die Tatsache 
aufmerksam, daß der russische Panslavismus durch einen Irrtum in dem 
vom Unterrichtsminister M. Cousin i. J. 1840 dem damaligen Kabinett über- 
reichten Gesebentwurf, der späterhin rechtskräftig wurde, d. h. also von 
Frankreich ausgegangen ist. Die ordentliche Bilanz des Kultusministcriums 
für 1869 enthält einen Kredit in Höhe von 5000 Fr. für einen Lehrstuhl der 
slavischen Sprache und Literatur. Der Titel dieses Lehrstuhls beruht auf 
einem offenbaren Irrtum. Es gibt nicht nur eine einzige slavische Sprache 
und Literatur, sondern deren mehrere. D. stellt dann die Sprachabzwei- 
gungen innerhalb der arischen Völkerfamilie dar. Er zählt die Großrussen 
oder Moskoviter, obgleich sie russisch sprechen, nicht dazu. Sie seien 
tatarischer Abstammung, ihre Literatur sei von der der anderen slavischen 
Völker ganz verschieden, sie ist dem Geiste nach turanisch, während die 
anderen indoeuropaisch sind. D. zählt dann die einzelnen voneinander ver- 
schiedenen slavischen Sprachzweige auf und tragt an, daß diesem Tat- 
bestand entsprechend der Lehrstuhl künftighin heißen solle „für slavische 
Sprachen und Literaturen“. Die gesetzliche Anerkennung einer einzigen 
slavischen Sprache und Literatur ist von großer politischer Tragweite, sie 
bedeutet die Legitimierung des russischen Panslavismus mit seiner fiktiven 
slavischen Einheitsidee durch die französische Gesekgebung. Rußland hat 
von dieser Tatsache Notiz genommen; im Juni 1840 kam ein likas heraus, 
wo zum ersten Male das Petersburger Kabinett erklärte, es sei durch die 
Geschichte und durch die öffentliche Meinung Europas erwiesen, daß die 
Großrussen mit den Kleinrussen und den Weißrussen durch die Bande einer 
gemeinsamen slavischen Abstammung verbunden seien. (In einer Anmerk. 
set D. nochmals auseinander, daß die Großrussen oder Moskoviter turko- 
finnischer Abstammung seien, die Weißrussen und Kleinrussen, ebenso wie 
die Polen, seien dahingegen echte Slaven.) Von dieser Zeit ab hat die 
Petersburger Regierung immer wieder ihre Mission als Beschugerin aller 
Slaven betont. Der panslavische Kongreß in Moskau, die Feste in Prag 
usw. seien Beweise für diese Propaganda. Es sei höchste Zeit, daß Frank- 
reich sich nun von seinem Irrtum frei mache. 


575 


Auf Delamarres Antrag hin wurde von mehreren Mitgliedern der 
Mehrheit, welche J. namentlich anfuhrt, eine Abänderung des betreffenden 
Geschartikels nebst einer gewissenhaft gearbeiteten ethnographischen 
Korte eingereicht; außerdem aber fertigten auch drei Mitglieder der Linken 
(Jules Simon, Carnot und Pelletan) ihrerseits einen Abänderungsentwurf an, 
der dem Inhalt nach gleich und nur in der Formulierung von dem anderen 
verschieden war. Diese beiden Gesekesabanderungen wurden am 17. Juli 
1868 beraten, wobei Carnot das Wort ergriff. J. bringt das ganze Protokoll 
in italienischer Übersebung. Carnot weist zunächst auf die politische Be- 
deutung der hier zu erörternden linguistischen Fragen hin. Nachdem die 
Benennung des betreffenden Lehrstuhls als irrig erkannt worden ist, müsse 
sie zur Vermeidung einer Verbreitung falscher Ideen abgeändert werden. 
Wenn die gesebgebende Behörde darauf bestehen würde, die Abänderung 
zu unterlassen, so würde sie stillschweigend eine Lüge für gut heißen und 
eine Sprachenverwirrung sanktionieren, was um so mehr vermieden werden 
müsse, als Rußland den Ehrgeiz habe, mit seiner großen panslavistischen 
Etikette sämtliche Länder, die es von der Türkei, Österreich und Preußen 
trennen, zu belegen. Wenn die abgeänderte Fassung durchdringt, wird 
sich die Mehrzahl der slavischen Nationalitäten moralisch gestärkt fühlen 
in ihrem Widerstand gegen das moskovitische Annexionssystem. Man hatte 
allen Grund, stolz zu sein, wenn man sieht, welcher Wert der Abänderung 
einiger Buchstaben beigemessen wird, bloß weil diese Abänderung von 
den Vertretern Frankreichs vorgenommen wird... Die Frage nach der 
arischen oder turanischen Abstammung der Moskoviter wolle er nicht be- 
rühren. Unter denen, welche ihnen die Bezeichnung „slavisch“ absprechen, 
fehlt es nicht an autoritativen Stimmen, so hat z. B. Katharina li. in einem 
Memorial über die Schulbücher in ihrem Reiche sich folgendermaßen aus- 
gesprochen: „Ungeachtet dessen, daß die Russen sich durch ihre Abstam- 
mung von den Slaven unterscheiden, besteht zwischen ihnen keine Ab- 
neigung (repulsione).“ Man mache jetzt in Rußland an die Spracheinhei 
glauben, um die Rasseneinheit als Grundsab aufzustellen und durch die 
Rasseneinheit zur Assimilierung der Territorien zu gelangen. Es handele 
sich dabei in Rußland nicht um Erlangung eines moralischen Übergewichts 
über die griechisch-slavische Welt, sondern bloß um materielle Eroberungen. 
Die russische Propaganda dränge überall ein, überall müsse sie mit den 
gleichen Waffen bekämpft werden. Wenn Rußland eines Tages zur Ver- 
wirklichung seiner Pläne gelangte, würde es ein solches Ubergewichi 
gegenüber Europa gewinnen, daß letzteres dadurch zerdrückt werden würde. 
In Gestalt Rußlands würde die Zivilisation Asiens uber die europäische 
Zivilisation triumphieren. „Dieser Gefahr, welche ganz Europa bedrohi, 
muß Europa die Koalition seiner drei großen Machte: Slaven, Germanen 
und Lateiner entgegenstellen.“ Carnot kommt auch auf Serbien zu 
sprechen, welches Rußland mit Gewalt in seinen Kreis zu ziehen suchi. 
Darauf wird erklärt, daß die Abänderungen zu berücksichtigen sind. 

Delamarre hat, nach Frlangung dieses Erfolges, eine andere Petition 
ausgearbeitet unter dem Titel: „Ein europäisches Volk von fünfzehn Mil- 
lionen, welches von der Geschichte vergessen worden ist.“ Der Zweck 
dieser Schrift war, den auf falschen Voraussekungen aufgebauten Unter- 
richt der Geschichte der östlichen Slaven in den französischen Schulen ab- 
zuschaffen. D. entwickelt hier seine bereits in dem ersten Schreiben an- 
gedeuteten Rassentheorien ausführlicher. Für ihn sind die Großrussen 
turanischer, nicht slavischer Abstammung. Er fordert, daß in das offizielle 
Programm der französischen Schulen ein detaillierter Geschichtsunterricht 
der einzelnen slavischen Volker eingeführt werde. Besonders sei auf die 
getrennte Behandlung der polnischen und ruthenischen von der moskovili- 
schen Geschichte zu achten. Das bisher übliche Schulprogramm habe von 
Rußland erst gelegentlich der Kämpfe Peters des Großen mit Karl XH. ge- 
sprochen, das genüge nicht, die Geschichte Moskoviens zu charakterisieren. 
Die Unfahigkeit der Lehrer, die Einzelschicksale dieser slavischen Volker 
im Unterricht darzustellen, hat dazu geführt, daß das in den Lehrplan v.]. 


574 


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1863 aufgenommene Thema „Car Nikolaj und der Panslavismus“ wieder 
aus dem Lehrplan gestrichen werden mußte, denn einige Lehrer hatten ihre 
Aufgabe darin gesehen, den Panslavismus zu lehren, während sie ihn doch 
hätten bekämpfen sollen. Die Lehrer hätten dazu aufgefordert werden 
müssen, die Lügenhaftigkeit des Panslavismus zu beweisen. Bei der Neu- 
ordnung des slavischen Geschichtsunterrichts seien dann in erster Linie die 
Kleinrussen ins Auge zu fassen, denn sie sind der Keil im moskovitischen 
Panslavismus. 

Delamarre starb nicht lange nach Einreichung dieser Eingabe, und der 
Deutsch-Franzosische Krieg von 1870 hinderte seine Freunde daran, die 
Frage in der Kammer durchzubringen. Die nach dem Krieg eingetretene 
Umgestaltung hat dann bewirkt, daß Delamarres Petition wichtigeren Fragen 
weichen mußte. Erst durch den Weltkrieg sind die von ihm angeregten 
Fragen wieder aktuell geworden. Emmy Haertel. 


CECHOSLOVAKEI 


Václav FlajShans: Husova Orthografie („Orthographie“ des 
Johannes Hus’). — Cesky časopis historický, XXXIV (1928), 
S. 357—369. 


Den bekannten čechischen Historiker Josef Pekař, der den Ge- 
burtsort des Johannes Hus’ in dem Husinec bei Klecany unweit von Prag 
und nicht, wie alle übrigen Historiker, in dem südböhmischen Husinec sucht, 
interessiert natürlich auch die Frage, ob man nicht in den čechischen Schrif- 
ten Hussens philologische Belege pro oder contra seine Hypothese auf- 
decken kann. Als also V. FlajShans in seinem Aufsabe „K Husově 
orthografii“ (Zur Hussens Orthographie) bemerkte, daß sich auch in Hussens 
lateinischem Traktate über die &echische Orthographie einige Spuren des 
sudbohmischen lin der Gegend von Prachatice) Dialektes und daher der 
südböhmischen Herkunft des Hus befanden, überprüfte Pekař (Ces. čas. 
Hist. XXXIV, 1928, S. 199 f.) die Ausführungen von FlajShans und kam zu 
dem Resultate, daß die Behauptung Flajshans’ nicht stichhaltig ist. Und 
überdies begann er auch zu zweifeln, ob der Traktat selbst überhaupt von 
Huß herrühre und das böhmische Alphabet nicht erst von ihm zusammen- 
gestellt worden sei. Pekafs Zweifel untersucht FlajShans nun gründlich in 
seinem oben angeführten Aufsatze, dem ersten Versuch nachzuweisen, daß 
die „Orthographie“ tatsächlich ein Werk Hussens ist, um zu schließen, daß 
der Philologe an der Authentizitat von Hussens Orthographie und Alphabet 
keinen Augenblick zweifeln wird. Ein anderer Cechischer Philologe, 
F.Trävnilek, findet (Naše věda IX, 1928, S. 165) die Beweisführung von 
FlajShans überzeugend, nicht aber J. Pekař selbst, der in Cesky časopis 
historicky XXXV, 1929, S. 200 ff., die Streitfrage noch einmal beruhrt und 
betont, dak seine Zweifel noch starker geworden seien. Und von dem 
Standpunkte eines Historikers hat er meines Erachtens recht. 

Vaclav Hruby. 


Karel Stloukal: Počátky nunciatury v Praze (Die Anfänge der 
Nunziatur in Prag). — Cesky časopis historický, Jahrg. XXXIV 
(1928), S. 1—24, 237—279. 


l. In zweiter Hälfte des 16. Jahrhunderts wird die Religionsfrage noch 
einmal zur böhmischen Lebensfrage. Rom, der Katholizismus, geht von der 
Defensive zur Offensive über, der Protestantismus ergreift die Defensive. 
Die neue Gegenreformationsbewegung wurde durch vier wichtige Aktionen 
gründlich vorbereitet: 1556 werden nach Böhmen die Jesuiten eingeführt, 
1561 wird das Erzbistum von Prag erneuert, 1583 wird die kaiserliche Resi- 


575 


denz von Wien nach Prag überiragen, und damit gelangt auch der Sif der 
kaiserlichen Nunziatur nach Prag, wo dieselbe bald zum Mittelpunkt der 
ganzen Bewegung wird. Das Studium der diplomatischen Korrespondenz 
dieser Nunziatur wird zur Grundlage der Erforschung der Frage, wie 30 
bald die Gegenreformation in Böhmen so schöne Erfolge erzielt hat. Die 
Erforschung der Nunziaturkorrespondenz der päpstlichen Nunzien in Prag 
hat sich das neu gegründete Cechoslovakische Institut in Rom zur Aufgabe 
gemacht, das die Berichte der Prager und Wiener Nunzien vom J. 1592 bis 
zum J. 1628 plant. Jedoch den Ausgangspunkt der Cechischen Forschung bildet 
naturlicherweise das Jahr 1585. Der diplomatische Nachlaß des ersten Nunzius 
von Prag, Giovanni Francesco Bonhomini, aus den Jahren 1581—84 wird zwar 
von dem Preußischen historischen Institut in Rom zur Herausgabe vorbereitet, 
jedoch ‘ur das Verständnis der ganzen folgenden Tätigkeit der Prager 
Nunzien ist unbedingt notwendig, die Anfänge der Nunziatur in Prag zu 
kennen. Daher hat sich der Autor entschlossen, aus den Bonhominischen 
Akten die Bohemica schon im voraus zu bearbeiten. 

Il. G. F. Bonhomini, ein älterer Freund des Karl Borromeo, bisher der 
papstliche Nunzius in der Schweiz, wurde im J. 1581 in seinem 45. Lebens- 
jahre zum Nunzius am kaiserlichen Hofe ernannt. Für seine neue Aufgabe 
war er völlig ausgebildet und besonders für das böhmische Milieu vom 
Standpunkte Roms wie geschaffen. Bald nach seiner Ankunft in Wien ließ 
er sich über die Religionssachen im Königreich Böhmen durch den Rektor 
des Prager Jesuitenkollegs, A.Vojt, informieren, dessen wichtige informa- 
tionen zugleich zu Richtlinien für die bohm. Gegenreformatoren wurden, 
zunächst für den Bonhomini selbst. Man beabsichtigte, sich in erster Linie 
an den Kaiser anzulehnen, der für die Interessen Roms zu gewinnen sei, 
dann an den hohen katholischen Adel. Mil Hilfe des Erzbischofs sollte die 
katholische Geistlichkeit besonders auf den königlichen Gütern reformiert 
und die keberische Geistlichkeit abgeschafft werden. Die Jesuiten sollten 
als geistliche Ratgeber des hohen Adels und Erzieher einer neuen adeligen 
Generation benützt werden. Im Juni 1582, auf seiner Reise zum Augsburger 
Reichstage, begegnete B. in Prag dem Erzbischof Medek, mit dessen gegen- 
reformatorischer Tätigkeit auf den königlichen Gütern in Böhmen er sehr 
zufrieden war. Jedoch diese Tätigkeit war stark gehemmt dadurch, daß das 
Prager Jesuitenseminarium nicht imstande war, den Bedarf an katholischen 
Priestern zu decken, und daß die Beseitigung der ufraquistischen Priester 
in den Städten auf starken Widerstand gestoßen hat, weil die Städte in dem 
Zentrum der utraquistischen Kirche, dem unteren Konsistorium, die nötige 
Unterstibung fanden. Deswegen plante B., mit Beistand des Papstes 
selbst, in Prag ein Kollegium für die Heranbildung armer, aber begabter 
und tüchtiger jünglinge aus dem Volke zu Priestern, und außerdem trachiete 
er danach, das untere Konsistorium möglich schwach zu machen. 
handelte sich in erster Linie um die Vereinigung der Hussiten mit Rom. Der 
Hussitismus an sich bedrohte den Katholizismus in Böhmen auf keinen Fall, 
jedoch er war die durch die Staatsgeseke erlaubte Kirche in Böhmen, und 
alle übrigen nichtkatholischen, geseblich nicht erlaubten Kirchen in Böhmen, 
welche eben der römischen Kirche recht gefährlich waren, schützten dieses 
sein Privileg vor, indem sie ihre Mitglieder für Hussiten ausgaben. Es gali 
also, die Hussiten in die römische Kirche zurückzuführen, um den anderen 
nichtkatholischen Kirchen den Schuß des nur für die Hussiten gültigen Ge- 
setzes zu entziehen. Die verzweifelte Lage der geistlichen hussitischen An- 
führer, welche furchteten, daß ihre Kirche von den Lutheranern und böhmi- 
schen Brüdern verschlungen würde, zwang sie schon früher oftmals zur 
Geneigtheit, mit der römischen Kirche zu verhandeln. Auch während des 
Aufenthaltes B.—s in Prag im Juni 1582 erschienen vor ihm der Administrator 
samt zwei anderen Priestern des unteren Konsistoriums mit einer Bittschrift 
des ganzen Konsistoriums. Sie baten ihn, er möge dem Erzbischof er- 
lauben, ihre Schüler zu Priestern zu weihen, wofür sie versprachen, ihre 
Glaubensgenossen zur katholischen Religion zu führen. B. antwortete i 
korrekt: die gewünschte Weihe sei nicht denkbar ohne ihre bedingungslose 
Unterordnung der römischen Kirche bis auf die von Pius IV. gewährte Kelch- 


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kommunion. Damit ist die Unterredung erfolglos abgebrochen worden. Auf 
seiner weiteren Reise nach Augsburg machte B. auch in Pilsen halt, wo er 
mit den Stadivertretern die Errichtung eines Jesuitenkollegiums daselbst be- 
sprach. In Augsburg selbst sprach er mit dem obersten böhmischen Kanzler 
Vratislaus von Pernstein, dem er in seinen gegenreformatorischen Plänen 
auf seinen mährischen Gütern die Unterstiigung versprochen hat und sofort 
den Olmüber Bischof Pavlovský und den Rektor des Olmüber jesuiten- 
kollegiums ersuchte, den Pernsteinschen Plänen Jesuiten zur Verfügung 
zu stellen. In der zweiten Hälfte des Jahres 1582 und im J. 1583 hatte B. 
wenig Gelegenheit, in die böhmischen Verhältnisse einzugreifen. Erst im 
Oktober 1583 reiste er von Wien nach Mähren und Schlesien ab, und am 
26. November 1583 ist er in Prag angelangt. Aber erst mit dem Jahre 1584 
widmet sich B. völlig seiner gegenreformatorischen Tätigkeit in Böhmen, 
der Einfluß der Nunzien auf die böhmischen Verhältnisse wächst, ihre Arbeit 
wird kontinuierlich, es entsteht darin eine Tradition. 


III. Bonhomini, in dessen instruktion für seine Nunziatur am kaiser- 
lichen Hofe die böhmischen Religionssachen nicht besonders erwähnt 
wurden, weil man natürlich in Rom nicht wußte, daß Prag einst zur kaiser- 
lichen Residenz wird, mußte sich selbst für seine Pläne einer Rekatholisie- 
rung Böhmens ein Programm zusammenstellen. Sein Programm heißt einer- 
seits die katholische Reformation, andererseits die Gegenreformation. Auf 
die Reformation beziehen sich folgende vier Punkte: 1. die Sorge um die 
jesuitischen Schulen in Prag, Pilsen, in Mähren und Schlesien, 2. die Er- 
richtung von drei katholischen Pfarreien in Prag, 3. allgemeine Visitation 
der Pfarrer und der Mönche, 4. die Visitation der Geistlichkeit auf den 
Rosenbergischen Gütern. Die Gegenreformation betreffen weitere acht 
Punkte: 5. die Gegenreformation au den Pernsteinischen Gütern, 6. die Re- 
form der hussitischen Universität, die Visitation der keberischen Buch- 
druckereien und die Preßkontrolle, 4 die Abwehrung der von den böhmi- 
schen Ständen verlangten Religions freiheiten, 9. die Erzwingung eines neuen 
Mandats gegen die Keber und dessen konsequente Durchführung. Die Re- 
formation und Gegenreformation zugleich betreffen die letzten drei Punkte: 
10. die Vereinigung der Hussiten mit Rom, 11. die Sorge um die Einführung 
des gregorianischen Kalenders in böhmischen Ländern, 12. die Besetzung 
der Landesämter mit Katholiken. B.—s Aufenthalt in Böhmen war zu kurz, 
daß dieses alles hätte durchgeführt werden können, jedoch sein Programm 
ist zur Grundlage der ganzen folgenden Arbeit geworden. Besonders was 
den Gedanken anbelangt, fur die Rekatholisierung Böhmens den böhmischen 
Adel zu gewinnen, begründet B. eine Tradition. Der Katholizismus hat 
später gerade durch die Mitarbeit der Nunzien mit dem böhmischen hohen 

del sehr viele Erfolge erzielt. 


Die erste Aufgabe B.—s in Böhmen betraf den Reformkalender. Nicht 
ohne seine große Mühe ist in Böhmen seit 17. Jänner 1584 und in Mähren 
seit 4. Oktober 1584 der neue Kalender eingeführt worden. Im Jänner 1584 
versuchte B. die Prager Universität zu reformieren, das heißt aus den utra- 
quistischen in die katholischen Hände zu überführen. Jedoch die finanzielle 
Unterstujung seitens des Papstes, die dazu nötig gewesen ware, ist aus- 
geblieben, und die Reform mußte ad calendas graecas aufgeschoben 
werden. Im März 1584 ersuchte B. den Kaiser um die Errichtung von zwei 
katholischen Pfarren in Prag, aber auch diese Aktion scheiterte an den 
finanziellen Schwierigkeiten. Anfang Juni 1584 überreichte B. dem Kaiser 
sein erstes Memorandum über die Religionssachen in Böhmen, in dem er 
dringend forderte, der Kaiser möge anordnen, daß die Picarden, Kalvinisten 
und Lutheraner aus dem Lande sofort verjagt, ihre Bethauser geschlossen 
und die Ungehorsamen streng bestraft werden, und zum Schlusse schlug 
er dem Kaiser vor: 1. in Prag zwei Pfarren zu errichten, 2. die Zahl der 
„ zu vermehren, 3. allgemeine Visitation der ganzen Geist- 
ichkeit in Böhmen durchzuführen. Dieses Memorandum, das B. nicht ohne 
Mitarbeit des obersten Burggrafen von Prag, Wilhelm von Rosenberg, ver- 
faßte, ist der erste Plan, die Ketzerei in Böhmen systematisch auszurotten. 


577 


‚Durch sein Memorandum versuchte B. eine für den Katholizismus günstige 
Entscheidung in der Kommission herbeizuführen, die bald danach die Frage 
der Besetzung des utraquistischen Konsistoriums besprechen sollte. Und 
das ist ihm gelungen. Die Kommission hat unter Leitung Wilhelms v. Rosen- 
berg, der inzwischen zum guten Freunde B.—s geworden ist, beschlossen, 
das Konsistorium den nichtkatholischen Standen nicht herauszugeben, bevor 
dieselben nicht nur den Bohmischen Brudern, sondern auch der Bohmischen 
Konfession entsagen wurden — was auch der Kaiser selbst dann bestatigt 
hat. Demgegenuber wurde das neue kaiserliche Mandat gegen die Picarden 
vom 27. Juli 1584, wie vorher, ganz allgemein gehalten und nicht direkt 
gegen die Bohmischen Bruder und Lutheraner gerichtet, wie B. wünschte. 
Und — was BB. am meisten ärgerte — man führte dasselbe sehr saumselig 
durch, wie vorher. Im Sommer 1584 verhandelte man auf Anlaß Wilhelms 
von Rosenberg und Georg Popel von Lobkowif noch einmal uber die Ver- 
einigung der Hussiten mit Rom, jedoch auch diesmal erfolglos. Dafür ist 
es B. gelungen, bei der auf seinen Anlaß von dem Kaiser angeordneten 
Emendation der böhmischen Kalender durch den Erzbischof, als den hoch- 
sten Zensor, die Namen des Johannes Hus und des Hieronymus von Prag 
aus den Kalendern auszuschalten. Die weitere Tätigkeit B.—s in Böhmen 
ist durch seine Ernennung zum Nunzius für Köln am Rhein abgebrochen. 
B. ging nach Köln sehr ungern, er versuchte alles mögliche, um die Kurie 
zu bewegen, ihn in Prag zu belassen. Vergeblich. Bei dem Abschiedsmahl 
ın dem Rosenbergischen Hause auf dem Hradschin in Prag debattierten: 
B., Wilhelm v. Rosenberg, Georg v. Lobkowib, Georg Bořita v. Martini, 
Ulrich Felix v. Lobkowib, der Erzbischof v. Prag Medek und der Rektor 
des Prager Jesuitenkollegs, Vojt, volle zwei Stunden über die Lage der 
katholischen Religion in Böhmen, und B. selbst faßte die Debatte in ein 
Memorandum zusammen. Aus demselben erkennen wir, daß man beraten 
hat: 1. in Prag drei Pfarren nicht nur zu errichten, sondern auch finanziell 
zu sichern, 2. das Jesuitenkollegium für die Armen finanziell zu sichern, 
3. die Reform der Prager Universität (die alte hussitische Universität ab 
zuschaffen und eine neue in dem Jesuitenkolleg einzurichten, die, was die 
ideelle Seite angeht, dem Prager Erzbischof unterstellt werden sollte), 
4. das Mandat gegen die Picarden strengstens durchzuführen, 5. katholische 
Bücher fur das Volk zu verschaffen, 6. Visitation der Geistlichkeit und die 
Inquisition der Keber. Auch dieses Memorandum, das in manchen Punkten 
an das erste Memorandum B.—s erinnert, jedoch um viel präziser und 
konkreter ist, wird zum Grundstein des kurialen Programms für die Re- 
katholisierung Böhmens. Am 17. Dezember 1584 hat B. Prag verlassen — 
und sein Nachfolger in Prag, der Nunzius Malaspina, hat alle Plane B.—s 
für pia desideria erklärt, die recht schwer zu realisieren seien, ja er hat 
Bonhomini desavouiert. Väclav Hruby. 


Vladimír Klecanda: Přijímání do rytifského slavu v zemích 
českých a rakouských na počátku novověku (Die Aufnahme in 
den Ritterstand in bohmischen und osterreichischen Landern am 
Anfange der Neuzeit). — Casopis archivní školy VI (1928), S. 1— 125. 


Nach langjähriger heuristischer Vorarbeit in den böhmischen und oster- 
reichischen Archiven gelangte Autor zur Bearbeitung der Geschichte des 
böhmischen Inkolats vor der Verneuerten Landesordnung v. J. 1627. Die 
Hauptarbeit selbst wird als Einleitungsband zum Kataloge der Landes- 
reverse erscheinen, der unter den Publikationen des böhmischen Landes- 
archivs in Prag geplant wird. Jedoch vorher ist manche kleinere Frage 
zu beantworten, und einer solchen ist auch die vorliegende Abhandlung 
gewidmet. Fast bis zum Ende des 15. Jahrhunderts gingen die Burger- 
familien, die entweder selbst sich ein Wappen als ein Symbol der Adelig- 
keit erwählt oder dasselbe von dem König erhalten haben, fast unmerklich. 
automatisch ohne jede rechtsförmliche Aufnahme in den Ritterstand uber. 


678 


Erst seitdem die Städte mit dem Adel in politischen Streit geraten sind, 
erhebt sich allmählich zwischen den Rittern und den aus den Bürgern neu 
aufgekommenen Adeligen, den sogenannten erbovniken (= den Wappen 
führenden) ein Wall, der im Laufe des 16. Jahrhunderts immer stärker wird, 
bis am Ende desselben Jahrhunderts das Emporsteigen der erbovniken unter 
die Ritter sehr erschwert wird. In den 3er Jahren des 16. Jahrh. erscheinen 
die ersten Belege der rechtsförmlichen Aufnahme der erbovniken in den 
Ritterstand, und zwar in Form einer Relation aus dem Landtage, daß der 
Adelige von dem Ritterstande in den Stand aufgenommen ist, und eines 
persönlichen Landtafelrevers des Adeligen samt der Bezeugung desselben 
über seinen Adel und sein Wohlverhalten. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts 
mußte schon der Adelige nicht nur seinen und seiner Eliern Adel und Wohl- 
verhalten, sondern auch den Adel und Wohlverhalten seiner Großvater und 
Urgroßvater bezeugen, was 1609 sogar zum Geseke geworden ist. In den 
Ritterstand wurden aufgenommen niedere Landesbeamte, kaiserlihe Be- 
amte und Diener, dann Schützlinge der mächtigen Mitglieder des Herren- 
standes, öffentlich tätige Leute {besonders die Advokaten), aber auch tuch- 
tige Handelsleute und hervorragende Mitglieder der Zünfte. Durch die 
Aufnahme in den Ritterstand wird der Adelige landtafelfähig, er nimmt teil 
an den ritterlichen Anfallen, er kann zum Vormunde der ritterlichen Guter 
und Waisen bestellt werden, er darf nicht vor das Stadtgericht gerufen 
werden usw. Auf dem Landiage kann der neuaufgenommene Ritter siben, 
auch wenn er kein Landesgut hat, was der Autor gegen frühere Meinungen 
mit Recht betont. jedoch zum Landesgerichtsrate und zu einem obersten 
Landesbeamten, soweit diese Amter dem Ritterstand vorbehalten werden, 
kann der neue Ritter nicht gleich werden. Der Autor bringt auch gegen 
frühere Meinung den Nachweis, daß das Inkolat in Böhmen nicht nur den 
Herren und Rittern, sondern auch den Bürgern erteilt werden konnte. 
Wichtig ist zu erwähnen, daß von den 300 Familien, die im 16. Jahrhundert 
und bis zu 1627 ın den böhmischen Ritterstand aufgenommen worden sind, 
die volle Hälfte deutscher Herkunft war. Ähnlich, wie in Böhmen, hat sich auch 
in Mähren das Aufnehmen in den Ritterstand entwickelt. In den folgenden 
Absaben seiner Abhandlung schildert dann der Autor, wie man in öster- 
reichischen Ländern in den Ritterstand aufgenommen wurde. In Osterreich 
unter der Enns haben die Herren und die Ritter schon 1579 eine eingehende 
Ordnung für die Aufnahme in den Ritterstand beschlossen, die 1616 durch 
eine zweite Redaktion ersetzt wurde. Beide Redaktionen sind dann auch 
von den Ständen der übrigen österreichischen Länder zum Vorbilde ge- 
nommen worden. Zum Schlusse seiner Abhandlung weist der Autor ın 
Übereinstimmung mit M. Hass (Die landständ. Verfassung u. Verwaltung in 
der Kurmark Brandenburg) und G. Croon (Die landständ. Verfassung von 
Schweidnig-Jauer) die These G. Belows ab, daß bloß durch den Besitz einer 
Burg oder einer Burgbesikung ihr Besiker landtagsfahig geworden wäre, 
und nimmt für jenes große, kompakte Territorium von Brandenburg, 
Schlesien, Lausig, Böhmen, Mähren, Österreich ob u. unter der Enns, Steier- 
mark, Kärnten und Krain an, daß dort die Standeszugehörigkeit und die 
Landtagsfähigkeit bloß auf den Besitz der Landesguter gegründet wurde. 
— Unter Beilagen werden abgedruckt: der älteste erhaltene Landtafel- 
revers zu dem Ritterstande v. J. 1528, der erste ähnliche Revers nach der 
Landtafelerneuerung, die älteste Landtagsrelation über die Aufnahme in 
den Ritterstand v. J. 1541, ähnliche Relation v. J. 1593, die Ordnung des 
Ritter- und Vladykenstandes v. J. 1609, dann besonders cin Verzeichnis der 
in Böhmen vor 1627 in den Ritterstand aufgenommenen Adeligen und ein 
Verzeichnis der in Bohmischem Ritterstande fur landsässige aufgenom- 
menen Ausländer. Väclav Hruby. 


Frant. Hrubý: Z vídeňských papírů Jindřicha Matyáše hr. z Thurnu 
(Aus den Wiener Papieren des Heinrich Mathias Grafen v. Thurn). 
— Český časopis historický. Jahrg. XXXIV (1928), S. 473—573. 


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Aus einem umfangreichen (304 Fol.) Faszikel (nr. 30) der Abteilung „Grobe 
Correspondenz“ im Wiener Haus-, Hof- u. Staatsarchiv in Wien, das cine 
Reihe von Originalen der Briefe, die an den obgenannten Grafen adressiert 
sind, und von Konzepten der Briefe und Memoranda, die von ihm eigen- 
handig geschrieben sind, enthält, gibt der Autor 41 Stücke vom Dezember 
1620 bis Anfang 1632 in sorgfaltigem Abdruck mit nötigen Anmerkungen 
heraus. Die Dokumente sind nicht unbekannt geblieben, jedoch das Stu- 
dium der undatierten unter ihnen war sehr schwierig. Man findet in dem 
Faszikel 26 eigenhändige Briefe des böhm. Königs Friedrich, 14 Briefe 
seiner Gemahlin Elisabeth, 14 des dänischen Königs Christian IV., 4 der 
dänischen Prinzen, 1 des englischen Prinzen Karl, Briefe des schwedischen 
Königs Gustav Adolph, 1 Brief des Betlen Gabors, 6 Georg Friedrichs 
Markgrafen v. Baden, 5 Ernst Casimirs Grafen v. Nassau, 2 der Grafen 
von Solms, also lauter Persönlichkeiten, die in der ersten Hälfte des 
jährigen Krieges wichtige Rollen spielten. Außerdem gibt es unter den 
Papieren Briefe von böhmischen und österreichischen Emigranten, dann 
auch Thurnsche Familienkorrespondenz und schließlich eigenhändige Kon- 
zepte des Grafen v. Thurn selbst. In einer hübschen Einleitung (S. 473 — 520) 
fügt der Autor die von ihm neu aufgeklärten Nachrichten mit voller Sach- 
kenntnis in die bisherige Schilderung der Ereignisse ein. Daß dabei das 
bisherige historische Porträt des Grafen Mathias Heinrich v. Thurn selbs! 
{nicht minder aber auch jenes seines Sohnes Franz Bernhard) an Klarheit 
sehr viel gewonnen hat, ist selbstverständlich; man darf ihn schon kunftig- 
hin nicht mehr mit Gindely für einen politischen Abenteurer halten. Aber 
nicht nur zur Thurnschen Familiengeschichte, sondern auch zur Geschichte 
des 30jährigen Krieges, besonders des böhmischen Aufstandes bringt der 
Autor aus den „Wiener Papieren“ eine Menge von wichtigen Details. 

Väclav Hruby. 


Comenius und die Londoner „Royal Society“. — Cesky časopis 
historicky, XXXIV (1928) S. 382. 


R. Fitzgibbon Young druckt hier den Brief des Comenius an den 
Henry Oldenburg vom 17. Mai 1668 ab, der die vier Exemplare der Schrift 
„Via Lucis“ begleitete, welche Comenius der kgl. Gesellschaft der Wissen- 
schaften in London gewidmet hat. Väclav Hruby. 


Rußland und der Streit um das böhmische Staatsrecht vom J. 1871. 
— Cesky Casopis historicky XXXIV (1928), S. 383 ff. 


J. Papoušek druckt einen Brief (vom 1./13. Marz 1871) des rus- 
sischen Kanzlers Gorgéakov an den russischen Gesandten in Wien Novikov 
ab, worin er beauftragt wird, den Cechen jede Hoffnung auf die russische 
Unterstützung zu nehmen, und die Antwort Novikov’s vom 13./25. Marz 1871, 
die vergebens versucht, die Schroffheit der Beauftragung zu mindern. 

Väclav Hruby. 


František Roubik: Registratura Národního Výboru z r. 1848 
(Die Registratur des National-Ausschusses vom J. 1848). — Ca- 
sopis archivní školy VI (1928), S. 126—153. 


Am 11. März 1848 wurde im Prager St. Wenzelsbad von beiden Nationen 
ein Bürgerausschuß erwählt, der eine Petition an den Kaiser vorbereiten 
und außerdem auch die Fragen der öffentlichen Sicherheit behandeln sollte. 
Von den Papieren dieses St. Wenzelausschusses ist sehr viel erhalten 
worden unter den Gerichtsakten des Grafen Albert Deym, des Vorsitzenden 
des Ausschusses (jebt im Archiv des Ministeriums des Innern in Prag). 
Um die Tätigkeit des St. Wenzelausschusses, der natürlich dem Landes- 


580 


—— — — —— 


präsidium nicht unterstellt war, zu kontrollieren und zu paralysieren, er- 
nannie der Landespräsident, der Oraf Stadion, am 2. April 1848 eine außer- 
ordentliche Kommission, die unier seinem Vorsibe die Vorbereitungen zum 
Landtage und andere wichtige Öffentliche und politische Angelegenheiten 
beraten sollie. Die Errichtung der Kommission kam natürlich dem St. Wen- 
zelausschusse nicht erwünscht, und Graf Stadion wurde zur Kapitulation 
genötigt. Am 13. April wurden auf seine Veranlassung die Mitglieder des 
St. Wenzelausschusses zur gemeinsamen Sitzung mit den Mitgliedern seiner 
außerordentlichen Kommission einberufen, und so entstand der neue Na- 
fionalausschug. Der Autor beschreibt die Art und Weise, wie sich der 
Ausschuß konstituierte und wie er seine Tätigkeit organisierte. Am 26. Juni 
1848 wurde der Nationslausschuß von dem neuen Landespräsidenten, dem 
Grafen Leo Thun, aufgelöst und seine Mitglieder aufgefordert, alle Akten 
desselben, soweit sie diese bei sich hätten, dem Landespräsidium heraus- 
zugeben. Auf diese Weise hat sich in der Prasidial-Gubernial-Registratur 
auch die Registratur des Nationalausschusses v. J. 1848 erhalten. Diese 
Registratur, die samt der Gubernial-Registratur im Archiv des Ministeriums 
des Innern in Prag aufbewahrt wird, wurde von dem Autor geordnet, 
inventarisiert und in vorliegendem Aufsake beschrieben und mittels eines 
eingehenden Registers der Forschung zugänglich gemacht. 
Väclav Hruby. 


Vaclav Chaloupecky: Martinské deklarace a její politické 
osudy (Die Deklaration von Turéansky Sv. Martin und ihr politi- 
sches Schicksal). — Cesky časopis historicky, Jahrg. XXXIV (1928), 
S. 322—342. 


Nach kritischer Übersicht der nicht umfangreichen Literatur zur Ge- 
schichte des Umsturzes v. J. 1918 in der Slovakei versucht Ch. ein Bild der 
Ereignisse zu entwerfen und besonders das Material zu sammeln und zu- 
sammenzustellen. Der Umsturz hat die Slovakei politisch durchaus unvor- 
bereitet getroffen. Im Staate mit über 18 Millionen Einwohnern hatten die 
3 Millionen Slovaken unter 453 Abgeordneten bloß drei Vertreter. Von 
politischen Programmen und Parteien dieser Zeit kann ja unter diesen Um- 
ständen keine Rede sein. Die ungarische Regierung hielt es für nötig, nur 
446 slovakische Intelligente in Evidenz zu halten, und von diesen waren vom 
slovakischen Standpunkte aus nur 101 politisch verläßlich. Es gab dort 
daher nur eine Partei, die Nationalpartei mit zwei Flügeln: dem Martinschen 
(dessen Zentrum Turéansky Sv. Martin war), der einem hoffnungslosen Ge- 
danken hingegeben war, daß einmal Rußland die österreichischen Slaven 
befreien wird, und dem der Hlasisten, d. h. slovakischer Realisten, die 
durch die Bildung der breiteren Schichten und durch regere Berührungen 
mit der Cechischen Kultur das slovakische Volk politisch zu wecken trach- 
teten. Seit 1910 trat hinzu die slovakische Fraktion der ungarischen Sozial- 
demokratie und seit 1912 die klerikale Volkspartei (strana ludovä). Bis auf 
die Sozialdemokraten gab es aber keine Parteiorganisation. Von den 23 
Zeitschriften, die vor dem Kriege in der Slovakei erschienen, gab fünf die 
ungarische Regierung selbst heraus, 12 waren kirchlich und konfessionell. Nach 
dem Kriegsausbruche hat sich die Nationalpartei absichtlich für die politische 
Passivität erklärt, und so herrschten die Magyaren in der Slovakei ganz 
nach ihrem Belieben, ohne jede Kritik, ohne jede Beschwerde von seiten der 
Slovaken bis zum J. 1918. Erst im Frühling 1918 die Wilsonschen 14 Punkte, 
die Äußerungen des jungen Kaisers, die vertraulichen Nachrichten aus Boh- 
men und dem Auslande, die Deklaration der böhmischen Abgeordneten vom 
30. Mai 1918, worin schon die Slovakei mit aufgenommen war, mahnten die 
Slovaken zur politischen Wachsamkeit. Und als der Graf Tisza die Slo- 
vaken zu einem Huldigungsakte der St. Stephan-Krone zu bewegen ver- 
suchte, womit er die bohmische Mai-Deklaration zu beantworten wünschte, 
blieben die Slovaken aus. „Das war die erste gewonnene Schlacht“, 


581 


schreibt Srobar. Ungeachtet der Slovaken im Auslande sprachen während 
fast des ganzen Krieges die Cechen auch für die Slovaken. Erst am 1. Ma: 
1918 ist in Liptovský sv. Mikuláš bei dem sozialdemokratischen Maifeste auf 
Anlaß Dr. V. Srobär’s eine von ihm verfaßte Resolution angenommen, m 
der die Slovaken zum erstenmal fur sich das Selbstbestimmungsrecht re- 
klamieren, als „ungarischer Ast des &echoslovakischen Stammes“. An der 
Jubilaumsfeier des Prager Nationaltheaters im Mai 1918 nahmen schon auch 
die Slovaken teil, was ebenfalls ein Verdienst Srobär’s war. Am 24. Mai 
1918 ist in Turč. Sv. Martin von den slov. Führern aus der Nationalparteı 
auf Entscheidungswort A. Hlinka’s beraten worden, auch für die Slovaken 
das Selbstbestimmungsrecht zu verlangen. Die Beratung ist immerhin noch 
geheim gehalten worden, jedoch seitdem ist schon der Widerhall der aus- 
landischen politischen Aktionen, besonders jener Wilson’s, in den slovakı- 
schen Blättern immer lebhafter und nachdrücklicher, bis die Note Wilson’s 
v. 18. Oktober 1918 die größte Unentschlossenheit überwunden hat. Am 
24. Oktober ist von M. Dula im Namen des Präsidiums des Nationalrates 
eine Beratung nach Tur£. Sv. Martin einberufen worden, die „die Statuierung 
und Ergänzung des bisherigen Slov. Nationalrates und die Erwählung eınes 
Ausschusses“ im Programm hatte. Es könnte scheinen, als ob die Ereignisse 
v. 29.—31. Oktober 1918 in Turč. Sv. Martin ein Widerhall oder sogar Fort- 
setzung des 28. Oktobers in Prag waren, das ware jedoch falsch. Die Slo- 
vaken haben sich spontan für die &echoslovakische Einheit erklärt; was ın 
Prag geschehen ist, davon wußten sie damals gar nichts. In der Beratung 
selbst ist dann mit sturmischem Beifall die Resolution des S. Zoch’s an- 
genommen, die feierlich erklärt, daß „das slovakische Volk ein Teil der 
sprachlich und kulturhistorisch einheitlichen <echoslovakischen Nation sei”, 
für welche sie „ein unumschränktes Selbsibestimmungsrecht auf dem Grund 
der vollständigen Unabhängigkeit“ verlange. Man besprach dann auch dea 
<echischen Entwurf der künftigen &echoslovakischen Verwaltung, der den 
Slovaken zu liberal schien (in dem Entwurf ist zum erstenmal die Autono- 
mie erwähnt!), denn die Mehrheit von ihnen hielt irgendeine Autonomie für 
die Slovakei für ausgeschlossen, sollte man den Einfluß der Magyaren und 
Magyaronen recht paralysieren, wenn auch schon damals sich einige Slo- 
vaken (Juriga) vor der Cechisierung fürchteten. jedoch die Versammlung 
selbst und ihre Deklaration hielt damals niemand fur einen konstitutiven 
Akt. Auch Hodža, der am 30. Oktober aus Budapest kam, war mit der De- 
klaration einverstanden, nur schlug er vor, in derselben den Sab uber eine 
besondere Vertretung der Slovakei auf der Friedenskonferenz zu streichen 
(„weil wir schon unsere eigene von dem Auslande anerkannte Regierung 
haben“), was auch ohne jede Einwendung geschehen ist. Die Mehrheit der 
Deklaranten verließ schon am 30. Oktober Turé. Sv. Martin, und die Minder- 
heit hat dann 15:9 Stimmen ein Aufleben der Autonomie der Slovakei 
nach höchstens 10 Jahren beschlossen. Dieser Beschluß aber ist nicht ein- 
mal veröffentlicht worden. Die Deklaration v. 30. Oktober, in der die Slo- 
vaken vor der ganzen Welt erklärten, sie seien Cechoslovaken, wäre bloße 
Resolution geblieben, wäre es nicht am 28. Oktober in Prag zum Umsturze 
gekommen. Erst dadurch ist die Deklaration von Turč. Sv. Martin zum 
Revolutionsakte, jedoch ohne staatsrechtliche Bedeutung, geworden, was 
auch die Slovaken selbst noch lange Zeit nach dem Umsturze bedingungslos 
anerkannten. Erst die Dissidenten aus der Volkspartei und der National- 
partei gaben dem Dr. Bela Tuka (einst Professor an der jur. magyar. 
Fakultät in Bratislava, der dann als Nationalkonvertit in der Volkspartei 
Hlinka’s eine sehr starke Position eingenommen hat) den Anlaß, in die De- 
klaration etwas hineinlegen zu versuchen, was sie niemals enthielt, und 
zwar um die Grundlagen der &echoslovakischen Volks- und Staatseinheil 
zu untergraben. Zu dem Zwecke behauptete man von der Deklaration, dab 
sie verfälscht, unverbindlich, nur für 10 Jahre gültig sei, und daß sie eine 
geheime Klausel habe. Diese Phantasien unterstiigjte man durch staats- 
rechtliche Erwägungen über die Souveränität des Cechischen und slovaki- 
schen Volkes, welche sich nur probeweise in einem Staate vereinigt haben. 


582 


Auf diese Weise versuchte Tuka — und zwar mit Erfolg! — aus der slova- 
kischen Frage eine staatsrechiliche Frage zu machen, und seine Gedanken 
haben dann auch die slovakischen Politiker aus den autonomistischen und 
oppositionellen Parteien für ihren angenommen. Chaloupecky schildert 
weiter eingehend, wie von Tuka und seinen Verbündeten aus staatsrechtlich 
bedeutungslosen Debatten einiger Martinscher Deklaranten über die Frage, 
wie lange in der Slovakei Diktatur walten sollte, um gegen die Magyaren 
und Magyaronen standhalten zu können, eine Doktrine von nur vorübergehen- 
dem staatsrechtlichen Verhältnisse der Slovakei zu dem Fechoslovakischen 
Staate und von der Möglichkeit, diese dann aus demselben nach 10 Jahren 
auszubinden, konstruiert worden ist. Zum Schlusse glaubt Ch., daß die Ge- 
schichte der Martinschen Deklaration noch nicht zu Ende sei. 
Vaclav Hruby. 


POLEN 


Peter Wlast. — Zeitschrift d. Ver. f. Gesch. Schlesiens, 60. Bd., 
1926, S. 127—132 u. 61. Bd., 1927, S. 247—278. 


Friedrich Reiche behandelt „Die Herkunft des Peter 
Wilast“ im 60. Bd. der Ztschr.: Er geht aus von Mosbach (Ztschr. VI, 1, 
1864 u. „Piotr syn Wlodimirza“, Ostrowo 1865), der in ,,Wlast den „Sohn 
des Wlodimir“, also ein Patronymikon, erblickt, die dänische Herkunft Peters 
aber leugnet. In einer Abhandlung über „Die Herkunft der Bres- 
Jauer Bischöfe Thomas I. und Thomas ll.“ (l. c. Bd. 51, 1917) 
halte v. Heydebrand und der Lasa darauf hingewiesen, daß Graf 
Petrus Danus de Skrzyn, genannt Wlast, Sohn des Swentoslaus, aus dani- 
schem Dienst in polnischen iibergetreten sei und zu dem Geschlecht Labedz 
gehört habe, dem die Grafen Dunin und Skrzyn entstammten. Eine dänische 
Abkunft lehnte aber auch Heydebrand ab. Reiche bezieht sich nun auf die 
„Chronica Petri comitis ex Dacia“ (Bresil. Univ.- Bibl.), welche um 1520 ge- 
schrieben, auf eine alte, etwa Mitte des 13. Jahrh. entstandene Bio- 
graphie Peters zurückgeht. Diese nennt ihn auch ,Petrum Dacum comitem“, 
wozu Boguphal II 36 stimmt. Unter Dacien ist, nach Reiche, nicht bloß die 
römische Provinz, sondern auch das angrenzende Kleinrußland zu ver- 
stehen. So wäre Peter Wlasts Herkunft aus a “lth nach R. sicher. 
Damit stimmt das patronymische „Wlostides”, von Wolodimir abgeleitet 
und auf ein skandinavisches Woldemar hinweisend. Das führt nun zu der 
varägischen Abkunft seines Geschlechtes. „Natürlich ist das Ergebnis der 
Untersuchung Hypothese, aber sicherlich hat sie viel Wahrscheinlichkeit für 
sich: Peter stammt aus einem kleinrussischen, ursprünglich skandinavischen 
Geschlecht der Gefolgsleute Ruriks und Askolds. Durch die Beziehungen 
der Piasten zu den Ruriks mag sein Geschlecht nach Schlesien gekommen 
sein, Beziehungen, die in seiner Verheiratung mit einer russischen Fursten- 
tochter hervortraten“ (S. 132). Als Nachkomme eines Gefolgsmannes war 
Peter Wlast, dessen Abkunft von westslavischen Stammeshauptlingen nach 
R. also eine verfehlte Annahme ist, in Abhängigkeit vom Herzog, so könne 
seine Stellung in Schlesien nur die eines herzoglichen Beamten gewesen 
sein. Die Bezeichnung „comes Silesie“ (in einer auf d. J. 1209 zurück- 
gehenden Urkunde v. J. 1399 für das Bresi. Sandstift) ist nur ein Ehrentitel. 
Das „praedecessor" dieser Urkunde kann nur mit Beziehung auf die Stiftung 
des Klosters, nicht aber hinsichtlich der schlesischen Herzöge gelten: es ist 
ein Zusatz des Abschreibers v. J. 1399. 

Fedor v. Heydebrand und der Lasa unterzieht (l. c. Bd. 61) 
den obigen Aufsab R.'s einer genaueren Untersuchung. Seine Abhandlung: 
„Peter Wiast und die nordgermanischen Beziehungen 
der Slaven” stellt verschiedene Ungenauigkeiten Reiches richtig, billigt 
aber, im ganzen genommen, dann doch einige von dessen Aufstellungen. 


585 


Vor allem wendet er sich aber gegen die Annahme, daß Peter VIiest nur 
ein herzoglicher Beamier gewesen sei, vielmehr besagt. die Urkunde von 
1195 (Schles. Reg. 59), daß er „ex parte avi et patris sui iure hereditario” 
seine Zuwendungen an das Breslauer Sandstift gemacht habe. So ist das 
Geschlecht Peter Wlasts mindestens in der dritten Generation bereits in 
Schlesien seßhaft. „Nur unter diesem Vorbehalte könnte also die von 

Bogufal berichtete Herkunft »ex Dacia« die von der Überlieferung Behaup- 
fete Herkunft aus Dänemark und die von Reiche angenommene Herkunft 
aus Kleinrußland Geltung beanspruchen“ (S. 251). Es bleibt noch zu unter- 
suchen, ob unter „Dacia“ mit R. Kleinrußland für das 12. Jahrh. auch ver- 
standen werden kann. Verf. weist darauf hin, „daß die kleinruss. Reiche 
nordöstlich der Karpathen schon bei Gallus stets unter dem Namen »regna 
Ruthenorum« erscheinen, in den russischen Quellen auch als »Tscherwonien«”. 


Aus Bogufal selbst geht nun aber die Deutung hervor. Er spricht bei 
der Schilderung der Erhebung des Maslaw in Mazowien (1038) davon, daß 
dieser „Dacos, Gaetas seu Pruthenos, Ruthenos“ zu Hilfe gerufen habe. 
Es werden also Daci und Rutheni auseinander gehalten. Auch Ungarn kann 
nicht darunter verstanden werden, denn Bogufal, wie Kadlubek, nennt dann 
die „Hungarici“ oder „Pannonii“. Dagegen findet sich z. B. in den Groß- 
polnischen Annalen z. J. 1250 der Ausdruck „in Dacia“ in Beziehung auf 
Dänemark. Der Vergleich der parallelen Schilderung aus den Exzerpten 
des Dlugosz z. J. 1123 (M. P. H. IV, S. 11) mit Bogufals Darstellung beweist 
die Oleichsetzung von „Dacia“ und „Dania“ auch für die poln. Quellen. So 
verliert die Ansicht H. s von der kleinruss. Herkunft Peters ihre Stütze. 
Immerhin steckt aber in dem „Wlostides“ des Kadlubek ein Hinweis auf 
Rußland. „Allerdings bezeichnen solche »Patronymika« nicht immer den 
Vater, oft weitere Vorfahren, auch solche von Mutterseite, manchmal sogar 
den Schwiegervater“ (S. 253). Verf. sieht darum die Möglichkeit, diesen 
Beinamen Peters „von dem von ihm verratenen Fürsten Wolodar von Halicz” 
abzuleiten, „dessen ganzes Erbe nebst seiner Tochter Maria nach der 
Chronika Petri dem Peter Wlast als Lohn des von ihm verübten Ver- 
rats zufiel“. Dieser Name Wlodimir ist auch sonst in seinem Geschlecht 
nachweisbar, wofür Verf. Belege gibt. In poln. und böhm. Urkunden des 
12. Jahrh. kommt er aber sonst überhaupt nicht vor, dagegen bei den Ruriks 
geradezu als Kenn-Name des Geschlechis, kann also nicht für einen Gefolgs- 
mann dieses Geschlechtes dienen. Die alten Berichte bezeugen auch Peters 
hohe Stellung (Kadlubek, Cronica Polonorum), bedeutsam ist auch, „daß auf 
den Skulpturen des alten Vinzenzstifts im Kunstgewerbemuseum zu Breslau 
über dem Relief der Kreuzabnahme vier Figuren abgebildet sind, unter 
denen die Namen: Ladis II. (Wladislaw II.) Pet. DV. (Petrus Dux), Boles IL 
(Boleslaw Ill.), Stanis (Stanislaw, in Bischofstracht, also der Bischof von 
Krakau) stehen“. Dieser „Petrus Dux“ ist zweifellos der Gründer Peter, 
womit die von R. als unmöglich erklärte Deutung eines „praedecessor“ der 
schlesischen Herzöge in anderem Licht erscheint, überdies wird der Grund 
und Boden Breslaus geradezu als „hereditas“ des Peter Wlast urkundlich 
bezeichnet, also kann es nicht „Dienstland“ des jeweiligen Kastellans oder 
eine Art „herzogliches Burglehn“ sein. „Da nun Peter Wlast im Jahre 1155 
starb, muß sein Vater etwa bis 1125, sein Großvater bis etwa 1100 gelebt 
haben. Im Jahre 1093 aber wird in der um 1100 verfaßten Chronik des 
Gallus ein comes Magnus Wratislawiensis« erwähnt, der nach alledem 
jener Großvater des Peter Wlast sein muß“ (S. 256). Diesem Magnus nun 
wird bei Gallus dann, in Anknüpfung an die Sieciech-Episode, ausdrücklich 
die Herzogswürde zuerkannt. Nach dieser Stelle des Gallus „gab es im 
Verbande des Polenreiches tatsächlich Gebiete von so weitgehender Selb- 
ständigkeit, daß die bloße Einsekung von herzoglichen Beamten durch den 
Verweser der Zentralgewalt als derartige »Tyrannei« und »Beleidigung« 
empfunden wurde, daß Auswanderung und Aufstand die Folge war” (S. 287). 
Zu diesen Gebieten gehörte also der ducatus des Magnus von Breslau, der 
mithin als Rechtsvorgänger der schles. Herzöge gelten konnte, wie gleicher- 
weise sein Sohn und Enkel. 


084 


‚Auffällig ist hier noch der Name „Magnus“ im 11. u. 12. Jahrh., da er 
typisch nordisch ist. Eine Tabelle S.259 gibt die Wanderung dieses Namens. 
sind die nord. Beziehungen des Sohnes unseres Magnus wie auch des 
Peter Wiast erwiesen. Doch ist die Episode von der Ermordung des Dänen- 
königs unrichtig: es handelt sich wohl um die Ermordung des Teilkönigs 
Knut Lawart von Hedeby durch seinen Vetter Heinrich Halti und Magnus 
den Starken 1131. Knut Lawarts Gemahlin war Ingibjörg, Tochter Haralds 
von Novgorod, des Sohnes des Vladimir und Bruders des Rostislav von 
Halicz, dessen Sohn Wolodar Peter Wlast verriet. In dieser Verwandt- 
schaftsgruppe weist Verf. das häufige Auftreten des Namens „Magnus“ nach. 
„Von den verschiedenen für eine Verbindung des schlesischen Magnus mit 
dieser Personengruppe sich ergebenden Möglichkeiten erscheint die am 
wahrscheinlichsten, dab er ein Sohn des Magnus Haraldson mit einer Toch- 
ter des schlesischen Hauptlingsgeschiechtes von Breslau (eines „Jarls im 
Wendenlande“) war und daß er selbst eine Gemahlin aus dem Geschlecht 
des Wladimir von Novgorod hatte“ (S. 260). Die Linie, der Magnus Harald- 
son entstammte, führte um 1000 einen goldenen Löwen im roten Schilde. 
Der schlesische Magnus wird nun nach der poln. Überlieferung dem Ge- 
schlechte Prawda-Zaremba zugerechnet, dessen Wappen ebenfalls ein Löwe 
(aus einer Zinnenmauer) war. Das Grabmal des Peter Wlast zeigt nun nach 
der Chronika Petri IM. P. H. Ill, S. 784) vier gebundene Lowen, die vier 
Großeltern-Wappen des Peter Wlast. Verf. geht auf diese Wappenzusam- 
menhänge noch genauer ein, mit Hinweis auch auf die Löwenbilder des 
Zobtens. Nebenher erwähnt er, daß der Name „Dag“, wobei er auf 
Misiko |. hinweist, als auch der Name Hrorek in diesem nordischen Harald- 
Geschlecht belegt ist. So ist also Peter Wlast im Mannesstamm nordischer 
Abkunft, im Weibesstamm wahrscheinlich Nachkomme und Rechtsnachfolger 
des zu Breslau sibenden Häupflingsgeschlechtes des Gaues Slenzane, ferner 
durch seine Großmutter, Mutter und Gemahlin mit den russischen Vladimiriden 
und Svantoslaviden und durch diese mit den Dänen verwandt. 

Verf. betont nun, daß damit der altpoln. Herrenstand in einem ganz 
anderen Lichte dasteht, als ihn die landiäufige deutsche Auffassung dar- 
stellt, also nicht als Ministerialadel, eine Auffassung, die Reiche noch unter- 
Strichen hat. Er stützt sich dabei auf die 3000 Gepanzerten Misikos I., einer 
frustis regia der Merowingerzeit vergleichbar, lehnt aber den Einfluß 
frankisch-deutschen Staatsrechtes ab und will das Vorbild Rußlands er- 
kennen. Die Untersuchung der Gründung des poln. Staates zeigt nun, daß 
in den nordischen Quellen bis ins 12. Jahrh. immer nur von Königen von 
Gardarike, Rußland, und ihren Jarlen, sowie vom „Wendenkönig“ und „Jarl- 
tümern im Wendenland“ die Rede ist. Das steht in Einklang damit, daß 
Misiko niemals in den Quellen „rex“ genannt wird, wohl aber in der be- 
kannten Kommendationsurkunde „iudex“, was dem Jarl entspricht, der, ohne 
Konig zu sein, königliche Hoheitsrechte und gerade das richterliche Amt 
ausübt. Der Begriff „dux“ — Herzog bedeutet zunächst nur im Frankenreich 
den Inhaber landesherrlicher Hoheitsrechte, in den nordischen Reichen den 
Befehlshaber des kgl. Heeres, wie auch in den ältesten poln. Urkunden so 
vom „dux militiae“ gesprochen wird. Nun ist bekannt, daß Großpolen zum 
Reiche der Wuliner Lutizen gehörte. Für Kujawien, die Wiege der Piasten, 
gilt dasselbe. In der Regensburger Volkertafel erscheinen die Wuliner 
Lutizen als ,,Wilci“, deren Ausdehnung nach Süden und Osten die Dadose- 
sani, Slenzani, Welunzani (Wicluner) und Lunsici (Leczycer) bezeichnen, „so 
daß zwischen der Ostgrenze der Wilzen von 800 und von 992 gerade das 
Reich des Misika übrigbleibt“ (S. 268). Nordische Quellen erwähnen auch 
für die Zeit vor 980 die Loslösung einzelner Teile des Wendenreiches vom 
Wendenkönige. Damit könnte Misikas Reich gemeint sein. 

Dazu kommt, daß Polanen zuerst als Bezeichnung eines slav. Volks- 
stammes aus Kiev galt, als dessen Herrscher Rurik seinen Stiefsohn Askold 
eingesebt hatte. Oleg, Ruriks Sohn, vertrieb um 880 die Polanenherrscher 
und gliederte ihr Reich dem seinen an: zur Zeit der Abfassung der Regens- 
burger Völkertafel gab es also kein Polanenland, als dessen Begründer 


585 


nach drei Generationen die Piasten in Kujawien auftreten. Als Ahnherr 
wird Piast, Chodcziskos Sohn, genannt. „Chodczisko“ ist der „Gewanderte“. 
der „Emigrant“. „Piast“ bedeutet der „Erzieher“, der „Ziehvater“, „eme 
Stellung, welche auch in den nordischen Quellen eine so bedeutende Rolle 
spielt“, wie ähnlich am fränkischen Hofe. Nach poln. Überlieferung hat sich 
Piast, Sohn des Chodczisko, an die Stelle Leszeks Ill. gesekt, der vielleicht 
mit Samo identisch ist; dann war Kruschwiß ein Teil des ,,Wendenreiches”. 
Der Wendenkönig hat vielleicht den Sohn eines Emigranten aus dem Russen- 
reiche, also einen Nachkommen Askolds, als Ziehvater (Vormur.d) eines 
unmündigen Kleinkönigs von Kujawien eingesckt, der sich dann, vielleicht 
im Einverständnis mit dem Wendenkonig, als „Jar!“ (iudex) selbst an dic 
Stelle seBte; in dieser Stellung haben sich dann sein Sohn Ziemowit — 
Landwalter und dessen Enkel Ziemomysl = Landsorger befunden. Hinter 
diesen slav. Namen, deutlich an Amtsbezeichfiungen erinnernd, verbergen 
sich ebenso nordische Namen wie hinter Misika der typisch norwegische 
Name Dag, Kenname der Kleinkönige von Ringerike bis ins 8. Jahrh.: dieser 
Misika ist mindestens schon in der 4. Generation in Kujawien beheimatet. 
Man kann also schwerlich die erwähnten 3000 Gepanzerten als das Eroberer- 
heer bei der Begründung der Piastenherrschaft in Kujawien betrachten, fur 
eine Gefolgschaft ware die Zahl viel zu groß. Es ist darin vielmehr eine 
ähnliche Einrichtung zu sehen, wie sie Knut der Mächtige in dem Thing- 
mannsvolk schuf, ein ständiges besoldetes Aufgebot, welches, ohne das 
allgemeine Landaufgebot in Anspruch zu nehmen, einen Teil der Kriegs- 
dienstpflichtigen zur Verfügung hielt, wobei die Einberufung sich in dem 
aus der römischen Militärkolonisation und dem fränkischen Militar- und 
Siedlungssystem bekannten Dezimalsystem bewegte. Eine Nachprüfung 
mit den bei Gallus für die Heeresmacht des Boleslaus Chrobry erwähnten 
Burg-Aufgeboten kommt zu dem entsprechenden Ansak jener 3000 Ge- 
panzerten. Aus ihnen wurde sich als das ständige Aufgebot der decimi 
die Zahl von 300 Gepanzerten (wozu noch die Schildträger treten) als 
dauernde Besakung der vier Landesburgen ergeben. Daneben ware noch 
eine ständige Gefolgschaft des Herrschers anzusehen. Als diese Gefolg- 
schaft will Verf. die Licikawici verstehen (seine Begründung ist allerdings 
nicht stichhaltig). Im Folgenden gibt er auf Grund dieser seiner Unter- 
suchung die Gliederung der Bevölkerung. Erdmann Hanisch. 


Polnische Stadtegeschichie. 


Lucja Charewiczowa: Stan badan nad dziejami miast pol- 
skich (Der Stand der Forschungen zur polnischen Stadie- 
geschichte). — Przeglad Historyczny Bd. 27 (1928), S. 139— 152. 


Dieselbe: Przeglad nowszych monografij miast polskich. (Uber- 
sicht über neuere Monographien polnischer Städte.) — Kwartalnik 
Historyczny Bd. 42 (1928), S. 391— 403. 


Dieselbe: Dziesieciolecie badań nad dziejami miasta Lwowa. 
(Ein Jahrzehnt der Forschungen zur Lemberger Stadtgeschichte). 
— ibid. Bd. 43 (1929), 2, 115— 136. 


Frau Charewiczowa berichtet in zwei Sammelreferaten mit großer 
Strenge und Gewissenhaftigkeit, mit nicht minder großer Sachkenntnis von 
den seit 10 Jahren über Lemberg, seit etwa drei Jahren über die polnischen 
Städte insgesamt erschienenen Schriften. Das Urteil fällt sehr reserviert 
aus. Immerhin ist für Lemberg eine eifrige, wenn auch oft dilettantische 
Tätigkeit der Lokalhistoriker zu konstatieren. Die Verfasserin raumt das 
der polnischen Städteforschung überhaupt ein, beklagt aber das Fehlen 


586 


fachkundiger Werke und größerer Synihesen. Zu diesem Resultat führt, 
nach den zwei kleineren Aufsäßen im Kwart. Hist, die eingehende Studie 
im Przeglad Hist. In dieser Arbeit greift Verf. aufs 17. Jahrh. zurück. Wir 
werden von ihr im Flug von Zimorowicz und den großpolnischen Chroniken, 
die Karwowski und Warschauer ediert haben, rasch ins 19. Jahrh. geführt. 
Was vor 1880 liegt, ist an sich ausnahmslos veraltet und nur mehr als 
Malerialiensammlung zu benuben, so die Arbeiten von Weinert über War- 
schau, Łukaszewicz (Posen), Baliński (Wilna). Seither hat sich die Zahl 
und der wissenschaftliche Wert der Stadtegeschichten vermehrt. Be- 
deutende Forscher wie Papée, Kuirzeba, Bujak, Frau Daszyńska-Golińska 
haben Bücher über einzelne Städte veröffentlicht. Speziell über galizische 


im allgemeinen haben von Czacki bis zu Dargun, Piekosinski und Bobrzyfiski 
ausgezeichnete Gelehrte geschrieben. Die deutsche Wissenschaft hat mit 
Warschauer und Kaindl hier ihren Plab. Von polnischer Seite stehen neuer- 
dings die Namen von Arnold, Grodecki, Tymieniecki, Maleczyfiski (und wir 
dürfen hinzufügen: von Frau Charewiczowa) im Vordergrund. Zur Kultur- 
geschichte sind Pta$nik, Łoziński, Baruch, I. Baranowski, Smoleński zu nennen, 
die beiden ersteren für Krakau und Lemberg, die drei letzteren für War- 
schau. Über den Anteil am staatlichen Leben, den die städtischen Gemein- 
wesen nahmen, gibt es nur Monographien kleineren Umfangs. An allge- 
meinen synthetischen Darstellungen des Städtewesens im alten Polen liegt 
5 vortreffliche, doch populär gehaltene von PtaSnik „Miasta w 
olsce“ vor. 


Die Arbeit PtaSniks gehört zu den erwünschten Einzeluntersuchungen, 
die in der gegenwärtigen, offenbar noch zur Synihese nicht reifen Periode 
polnischer Städtegeschichte die Forschung fördern. Wir verfolgen an einem 
bezeichnenden Beispiel den Kampf des Patriziats und des städtischen 
Mittelstendes um die Vorherrschaft. Seit dem 16. Jahrh. war „gemeine 
Bürgerschaft“, wie wir etwa „pospölstwo” sinngemäß übersehen dürfen, in 
Krakau durch die Vierzigmänner am Stadtregiment beteiligt. Zwischen 
denen und dem Rat erhoben sich die aus der deutschen und westlichen 
Stadtegeschichte bekannten Konflikte, die stets von Steuerfragen ihren Aus- 
gang nahmen, sich als Streit um Schöffenbarkeit oder irgendwelche Ehren- 
fragen manifestierten und in eine Machtprobe zwischen den beiden Klassen 
endeten, die beide um die Protektion eines Höheren, in Krakau: des pol- 
nischen Königs, sich bemühten. Zygmunt Wasa schwankte, wessen Partei 
er nehmen sollte. In einem Monsterprozeß, der das J. Jahrzehnt des 17. Sä- 
kulums hindurch andauerte, hatte er sich zuerst, durch die königlichen Kom- 
missäre, dem „Pospölstwo“ zugeneigt, dann aber eher für die Ratsherren 
entschieden. Um die Mitte des Jahrh.: ein neuer Prozeß. Diesmal sind die 
Patrizier die Verlierenden. Das gegen sie erflossene Urteil belehrt uns 
nebenbei, daß unter den 10 reichsten Männern Krakaus damals nur ein 
Pole, dagegen 9 Italiener und Deutsche waren. Im J. 1747 trachtet eine neue 
Städteordnung die Verhältnisse zu regulieren und einen gerechten Aus- 
gleich der Stände zu schaffen. Wir erfahren dann einiges über den Nieder- 
gang Krakaus unter den Sachsenkönigen, über das Budget jener Zeit und 
endlich über die Lösung des uralten Konfliktes, der im 16. Jahrh. begonnen 
hatte und nun mit einer Neugliederung der stadt. Kollegien 1774 beendet 
wurde. Den Abschluß von PtaSniks Aufsatz bildet die Schilderung der 

men, mit denen die Commissio Boni Ordinis 1778 die Verfassung 
Krakaus den Strömungen der Poniatowski-Ara anzupassen frachiete. Dann 
folgte die für ganz Polen geltende Umwälzung des Städtewesens durch 
den Vierjährigen Reichstag. Doch das liegt schon außerhalb des Bereichs 
dieser Studie. Otto Forst-Battaglia. 


38 NF 5 587 


Lokation. — Zeitschrift d. Ver. f. Gesch. Schlesiens. Bd. 63 (1929), 
S. 1—32. 


. Richard Koebner untersucht hier die mit so reichem Inhalt er- 
füllten Worte der mittelalterlichen Siedlungsterminologie: locare, locator, 
locatio. „locatio“ und „locare“ bedeuteten zunächst „Ort und Stelle geben, 
hinsehen“, dann, juristisch, „verpachten, vermieten“. Der jurist. Nebensinn 
kommt für die Lokations-Terminologie nicht in Frage, sondern nur die all- 
gemeine Bedeutung als „Setzung“. Auch der Nebensinn der „Ansetzung“ 
der Kolonisten kann hier beiseite bleiben. In dieser Bedeutung wird 
„collocare“ gerade auch in den ältesten Ansiedlungsprivilegien gebraucht. 
Der spezifische Sinn von „Lokation“ und „Lokator“ ist dort aber zu suchen, 
wo von „locare“ mit Bezug auf den Ort der Fremden-Niederlassung ge- 
sprochen wird, z. B. in einer Schenkungsurkunde des Wladystaw Odonicz 
für Leubus („civitatem locent in iam dicto deserto“) u. sonst. Es sind 
„fundere“ und „locare“ aber nicht identisch. „Die in der — polnischen — 
Volkssprache so oder so genannte villa oder civitas, das ist der ad locan- 
dum hergegebene Ort“, die Verbindung mit einer Rechtsbeziehung ist dabei 
noch typisch: der Ort wird mit deutschem usw. Recht »lociert«.“ Der Begriff 
der Lokation bezieht sich ebenso unmittelbar auf die Rechtsausstattung der 
Ansiedler und ihre Niederlassung. Das Privileg der Herzöge Heinrich Ill. 
und Wladyslaw v. 16. 12. 1261 (Tzschoppe-Stenzel: Urkundenbuch S. 364; 
Bresl. Urk.-Buch, herausgg. von Korn, Nr. 23) für Breslau zeigt am Worte 
„locatio“ diesen Sinn als begrifflich entscheidendes Moment: es werden, 
ohne irgendwelche lokalen Veränderungen, der Stadt neue Freiheiten ver- 
liehen, wie später dann der Lokationsbegriff auf die Verleihung deutschen 
Rechtes an poln. Dörfer sich überträgt. Pommersche Urkunden verwenden in 
diesem Sinne „possidere“ und der Sachsenspiegel und das „Rechtsbuch 
von der Gerichtsverfassung“ (nach E. Rosenstock: Das alte Weichbildredhi) 
verwenden für diese Vorgänge den Ausdruck „besehen“, eine Bedeutung. 
die „locare“ nach seinem ursprünglichen Sinn „hinsetzen“ nicht ohne äußere 
Einwirkung gewinnen konnte. Es zeigt sich nun, daß dieser Sinn sich nicht 
in der lat. Kanzleisprache entwickelt hat, sondern von der Sprache des 
deutschen Volksrechtes auf „locare“ übertragen wurde. Das „beseken mit 
Rechte" (des „Rechtsbuches v. d. Gerichtsverf.") erhielt in „locare“ (iure 
Teutonico) sein lat. Aquivalent und entsprach gerade den Verhältnissen des 
Kolonisationsvorganges. Es hat daher auch die lat. Formel ihren vom 
deutschen Ausdruck „beseben“ herrührenden Ursprung im Osten und gerade 
in Magdeburg (was nun eingehend begründet und belegt wird) in allen 
drei Formen urkundlicher Bezeichnung genommen, nämlich 1. als Zitat aus 
der deutschen Rechissprache (in der niederdeutschen Form „besittinge“. 
„biseitinge“) mitten im lat. Text, 2. in der wortgetreuen Übersekung von 
„besetzen“ durch „possidere“, 3. durch „locare“. Die weitere Untersuchung 
zeigt, wie dieser im Kreise Wichmanns v. Magdeburg sich bildende formel- 
hafte Sprachgebrauch durch die Lokatoren in der Urkundensprache der 
Kolonisation heimisch geworden ist. Dabei wird das Unternehmertum der 
Lokatoren noch eingehender gewürdigt. Erdmann Hanısch. 


Verfassungs- und Verwaltungsgeschichie des Breslauer Bistums- 
landes. — Zeitschr. d. Ver. f. Gesch. Schlesiens. Bd. 63, 1929, 
S. 350—376. 


H. F. Schmid - Graz widmet hier dem bekannten vortrefflichen Buche 
des Prager Gelehrten J.Pfitzner eine eingehende Besprechung, die 
neben der Hervorhebung der unzweifelhaften Bedeutung des Pfibnerschen 
Werkes wertvolle Ergänzungen und gelegentliche Berichtigungen dazu bringt. 
H. F. Schmid’s Besprechung ist auch dadurch sehr beachtlich, daß sie reiches 
bibliographisches Material enthält. Erdmann Hanisch. 


588 


wind 


Polnische Kunst der Gegenwart. 


Tadeusz Boy-Zelefiski: André Gide et le Peintre Polonais Witold 
Wojtkiewicz. — Pologne Littéraire 1929, Nr. 30. 

Józef Kisielewski: W pracowni rzeźbiarza (In der Werkstatt eines 
Bildhauers). — Tecza 1929, Nr. 29. 

Z. St. Klingsland: Edward Wittig. — Pologne Littéraire 1928, Nr. 23/24. 

Derselbe: La Peinture de Roman Kramsztyk. — ibid. Nr. 27. 

Derselbe: L’Art graphique de Skoczylas. — ibid. 1929, Nr. 28. 

Derselbe: Les Enluminures d’Artur Szyk. — ibid. Nr. 29. 

Derselbe: La Peinture de L&opold Gottlieb. — ibid. Nr. 30. 

Derselbe: Et toute la jeune Peinture polonaise? — ibid. Nr. 34. 

Derselbe: Czermafski w Paryżu (Czermafiski in Paris). — Wiado- 
mości Literackie 1929, Nr. 2. 

Edward Kozikowski: Hanna Natkowska-Bickowa. — Tecza 1928, Nr. 39. 

Derselbe: Zbigniew Pronaszko. — ibid. 1929, Nr. 9. 

Edward Lepkowski: Leon Wyczölkowski. — ibid. Nr. 15. 

Henryk Majkowski: O plaketach i medalach Jana Wysockiego (Über 
die Plaketten und Medaillen von Jan Wysocki). — ibid. Nr. 5. 

Jan Mrozifiski: Władysław Marcinkowski. — ibid. 1928, Nr. 45. 

Derselbe: Leon Délzycki. — ibid. 1929, Nr. 11. 

Derselbe: Marcin Rözek. — ibid. Nr. 19. 

Derselbe: Henryk Jackowski. — ibid. Nr. 23. 

Jan Parandowski: Z pracowni Kazimierza Sichulskiego (Aus der 
Werkstatt von Kazimierz Sichulski). — ibid. Nr. 24. 

Irena Piotrowska-Glebocka: Drzeworytnictwo w Polsce (Der Holz- 
schnitt in Polen). — ibid. Nr. 2. 

Mieczyslaw Sterling: Remarques sur la Gancature polonaise moderne. 
— Pologne Littéraire 1929, Nr. 30. 

Artur Marja Swinarski: Kilka uwag o grafice Janusza Marji Brzeskiego 
(Einige Bemerkungen zu Janusz Marja Brzeskis Graphik). — 
Tecza 1929, Nr. 5. 

Derselbe: O drzeworytach Władysława Lama (Über die Holzschnitte 
von Wiadyslaw Lam). — ibid. Nr. 12. 

Stefan Szuman: O rzeZbach Szukalskiego (Über die Plastiken 
Szukalskis). — ibid. Nr. 31. 

Mieczystaw Wallis: Der neueste polnische Holzschnitt. Die Schule 
des Skoczylas. — Pologne Littéraire 1928, Nr. 28. 

Derselbe: Die Graphik von Waclaw Wasowicz. — ibid. 1929, Nr. 32. 

Edward Woroniecki: Jan Peske. — Tecza 1929, Nr. 12. 


Die polnischen Zeitschriften allgemeinen und literarischen Charakters 
widmen gerne der zeitgenössischen Kunst breiten Raum. Sie verteilen im 
allgemeinen die Rolle so, d die „Tecza“ der bodenständigen, die 
„Pologne Littéraire“ der international orientierten Richtung den Hauptplak 
einräumt. Indes findet man auch in der „Pologne Littéraire“ manche Artikel 
über ihrem Wesen nach streng nationale Künstler. Begreiflicherweise lenkt 
diese Zeitschrift ihre Aufmerksamkeit stark auf die in Paris wirkenden 


589 


Polen. Boys Aufsatz erinnert daran, wie der damals noch unbekannte 
Wojtkiewicz mit einem Schlag berühmt wurde, als Gide gelegentlich eines 
Aufenthaltes in Berlin dessen Werke sah und dem nie persönlich gesehenen 
Maler sofort spontan seinen Beistand anbot. Wojtkiewicz wurde des Er- 
folges nicht lange froh. 28 Jahre zählie er, als ihn Gide aus dem Dunkel 
rief; mit 30 Jahren trug man den früh Vollendeten, 1909, zu re Er 
hinterließ Werke, in denen sich liebenswürdige Schalkhaftigkeit mit der 
Melancholie eines Pierrot lunaire vereint. Auch in der Karikatur hat er 
seinen Plab. i i 

Leopold Gottlieb war einer von Wojtkiewiczs Freunden. Er steht heute 
auf der Höhe eines berechtigten internationalen Ruhms. Seine Porträts, 
ein phantastischer Realismus, der nicht frei ist von Neigung zur ironie, wett- 
eifern mit belebten Gruppenkompositionen von erstaunlicher Bewegtheil. 
Krams ztyk, auch ein „Pariser“ und ein schr beliebter Maler der polnisch 
(-jüdischen) Gesellschaft, ist ein richtiger Hofmaler der Geldfürsten und 
ihrer Prinzessinnen. In diesen Bildnissen ist nur müde Degeneration, und 
selbst bei jugendlichen Modellen vermag man statt an den Frühling cher 
an Witkiewiczs „Abschied vom Frühling“ zu denken. Von den „ganz 
jungen“ polnischen Pariser Malern, die Klingsland präsentiert, wird man 
einstweilen nur konstatieren, daß sie, trob mancher revolutionärer Gebarde, 
brav dem Impressionismus oder dem Realismus treu geblieben sind, und 
daß einige, vor allem Sirzatecki, Jarcma, Czapski, Boraczok, sehr viel 
Talent besitzen. 

Eine besondere Erwähnung gebührt Artur Szyk, einem jüdischen Künst- 
ler, der auf das glücklichste mit seiner religiösen und nationalen Tradition 
die polnische und dazu die beste westliche Schule verbindet. Er hat ein 
in unserer Zeit seltenes Genre mit höchster Vollendung gepflegt: die 
zilluminierte Handschrift“. Die letzte Probe seiner erlesenen Kunst, der in 
Paris enthusiastische Anerkennung wurde, ist eine Bilderhandschrift des 
Statuts von Kalisz (das Boleslaw von Polen 1264 den Juden als Privileg 
erteilt hat und die Grundlage der späteren Rechtsstellung der Juden war). 
Szyk 8 bei seiner Arbeit vom edlen, heute verschwundenen Patriotismus 
des gente Judaeus, natione Polonus beseelt. Er hat sich auch als Frei- 
scharler im Krieg gegen Rußland 1920 hervorgetan.) Die Vollbringung ist 
der Absicht ebenbürtig. Klingsland stellt das fest, und jeder entzückte Be- 
schauer wird ihm beipflichten. Der historisch Empfindende zumal, der vor 
einer so restlosen Wiederbelebung eines „toten“ Genres wie die 
nure sich schier einem Wunder gegenüberfühlt. Szyks Handschrift wird in 
einer beschränkten Anzahl im Druck erscheinen. Ich lenke die Aufmerk- 
samkeit der deutschen Fachwelt und der Kunstverständigen auf diese 
Publikation. 

Kaum geringere Triumphe als die „ernste“ Malkunst hat in Paris die 
polnische Karikatur gefeiert. Zdzistaw Czermafiski, einer ihrer Meister, hat 
vor allem durch seine geisireichen Travestien berühmter Gemälde 
Louvre und zeitgenössischer Pariser Koryphaen sich ausgezeichnet. Er hat, 
wie jeder große Karikaturist, ein sicheres Gefühl für die Schwächen der 
aufs Korn Genommenen; er weiß, wo das Erhabene durch eine kleine Re- 
tusche zum Lächerlichen wird. Seine „à la manière“ erinnern in mehr als 
einer und jedenfalls in der entscheidenden Beziehung an die unsterblichen 
literarischen Parodien von Muller-Reboux. Was soll man vorziehen? Die 
Wahl wird uns schwer zwischen dem enimajestatisierten Francois I. Clouets, 
dem zum lustigen Lebe-König umgekrempelten Charles I. van Dycks, 
den Foujitas, van Dongens, Kißlings. Fürwahr, diese Foujitas und van Don- 
gens sind noch echter als echt. Und welch ein unvergleichlicher politischer 
Karikaturist ist dieser Czermafiski. Dieses eine Bild, mit dem genialen 
Einfall: Pitsudski mit seinen vestrautesten Beratern. Der Marschall sitzt 
inmitten eines Vielecks einander zugekehrter Spiegel, die alle das eine 
Bild des mit hochgezogenen Brauen und herabsinkendem Schnurrbart einen 
Bericht lesenden Diktators reflektieren. Sterling tut Czermafiski unrecht, 
wenn er ihn inmitten einiger sehr ungleicher Rivalen als einen der Re- 
präsentanten der polnischen Karikatur hinstellt. 


590 


— — — — — 


Diese Karikatur blüht. Weniger durch die Quantität als durch die 
Qualität ihrer Mitarbeiter. Es ist eine Geschmacksverirrung, den polnischen 
Schönpflug Kamil Mackiewicz mit seinen verhatschien Militärbildern, die 
reichlich grobkörnigen Zaruba und andere Choristen aus dem „Barbier von 
Warschau“ (so heißt der polnische, mitunter wirklich sehr simple Simplicis- 
simus) mit Czermafiski und mit dem zweiten genialen Karikaturisten, Sichul- 
ski, in eine Reihe zu rücken. Diese beiden sind die Meister und die origi- 
nellen Schöpfer. Jotes, Glowacki, einander sehr ähnlich, leiten sich von 
Gulbransson her. Grus, als Tier-Karikaturist, hat auch von dem großen 
Norweger gelernt. Den Schüler der französischen Scherzbilder im Stile 
des „Rire“, Swidwifski, hat Sterling nicht erwähnt. 

Parandowskis feine Studie über Sichulski beschäftigt sich gar nicht mit 
dem Karikaturisten. Sie zeigt vor allem die herrliche religiöse Malerei 
dieses vielseitigen Künstlers und dessen großes Historiengemälde 
„Boleslaw Chrobry vor der Goldenen Pforte zu Kiev“, das auf der Landes- 
ausstellung zu Posen die allgemeine Bewunderung erregte. Der heute 
Fünfzigjährige ist bereits zu der unbestrittenen Glorie gelangt, die ihn aus 
der Sphäre der Kritik in die des Historischen emporhebt 

Dort hat Leon Wyczółkowski längst Bürgerrecht. Schüler von Gerson, 
Matejko, Brandt, hat der Künstler bald dem Geschichtsgemalde im Stile 
seiner Lehrer abgeschworen. In der Ukraina reifte er, nur im Technischen 
Erinnerung an seine Schülerzeit bewahrend, zu sich selbst. Seine Land- 
schaften und seine Porträts sind von gleicher Vollendung. überall der 
Sinn für eine höhere, verklärte Wirklichkeit. Impressionen, die der emp- 
fangliche Blick des Malers zur objektiven Wahrheit wandelte. Ohne den 
eigentlichen Vertretern des polnischen Impressionismus anzugehören, hat 
Wyczölkowski doch denen die Wege gebahnt. Er ist bis ins hohe Alter 
schaffensfroh und schaffenskraftig geblieben. Erst nach dem 60. Jahre 
seines Lebens wandte er sich dem Hauptgebiet seiner Alterstatigkeit zu, 
der Oraphik. 

Meister des polnischen Holzschnitts ist Władysław Skoczylas. Seine 
Kunst ist aus der Landschaft und aus dem ererbten Blut erwachsen. Von 
den Bergbewohnern der Tatra entlehnte er nicht nur den in endlosen Varia- 
tionen gestalteten Stoff für seine schönsten Schöpfungen, sondern auch die 
auf keine fremde Tradition zurückgehende Form, die unmittelbar in polni- 
scher und — so müssen wir zu Klingsland hinzufügen — in allgemein volks- 
tüumlicher Überlieferung wurzelt. Skoczylas ist im Herzschnitt das Aqui- 
valent zu Tetmajer, Orkan, Witkiewicz, zu Reymont in der Literatur: ein 
Gefährte der urhaften Naturmenschen, deren primitive Leidenschaftlichkeit 
und Romantik sich in diesen ebenso primitiv ... scheinenden und wahrhaft 
romantischen Kunstwerken wiederfindet. Freilich, vor dem Religiösen ver- 
sagt die schon angefaulte Naivitat. Die Räuberszenen, die Charakterköpfe, 
die Dorf- und Haldenlandschaften, die Schnitterinnen gelingen Skoczylas 
aufs vollkommenste: seine Heiligen haben nicht den ursprünglichen Zauber, 
der den ganz kindlichen Figuren des Wowro (jenes unverfälschten, des 
Lesens und Schreibens unkundigen Volksbildhauers, den Zegadiowicz ent- 
deckte und bekannt machte) anhaftet. 

Skoczylas hat auch als Lehrer bedeutende Verdienste. Unter seinen 
Schülern sind Bogna Krasnodębska, Tadeusz Kulisiewicz auf dem Wege 
zu Grobem. Kulisiewicz übertrifft den Lehrer zum Beispiel in der Erfas- 
sung des Religiösen. Sein „Dorfschniber“, ein wahrer Wowro, und die 
Krasnodebska besibt den skurrilen Humor, dessen Skoczylas völlig er- 
mangelt, einen Humor, der freilich bei religiösen Themen peinlich wirkt, 
wenn er auch da unfreiwillig auftreten mag. 

Wie anders die raffinierte, mit allen erdenklichen Reminiszenzen, an 
allen ersinnlichen Traditionen genährte Holzschnitikunst von Wiadysiaw Lam. 
Wie dieser Pole den Don Quijote illustriert: eine prächtige, aber rein zere- 
brale Ausniibung aller Möglichkeiten, die von der Naivitat der Skoczylas- 
Manier himmelweit (oder auch diabolisch) entfernt ist. Ein beträchtliches 
Talent, etwa ein Lam, der sich an Skoczylasschen Stoffen gerne versucht, 


591 


nur noch nicht seiner selbst gewiß und die Wege suchend, Janusz Marja 
Brzeski, sündigt häufig durch Verquickung des Inkommensurablen: ein Kuh- 
stall wird im Stil eines modernen Wohnpalastes dekoriert. 

Jedenfalls, der polnische Holzscinitt ist auch in der Gegenwart auf der 
Höhe seiner Traditionen, deren Erinnerung in dem von der retrospektiven 
Ausstellung des Muzeum Wielkopolskie veranlaßten Artikel von Piotrowska- 
Glebocka aufgefrischt wird. 

Eine Studie über Henryk Jackowski gilt dem ausgezeichneten Künstler, 
der neben Mehoffer den Ruhm der polnischen Glasmalerei nach dem Westen 
trug — seine Vitragen in der Ste. Chapelle stehen hinter denen der Frei- 
burger Kathedrale nicht zurück — und auch in der Heimat Wunderschönes 
vollendet hat (Bromberg, Florianskapelle). Ist Jackowski von den fran- 
zösischen Impressionisten und Puvis de Chavannes beeinflußt und gleicht 
er darin dem ihm verwandten Peske, dem Frankreich zur dauernden Heimat 
geworden ist; liegt die Begabung dieser beiden vorzüglich auf dem Gebiet 
der Landschaft und der religiösen Malerei, so gehen Dolzycki und Pronaszko 
von den vorimpressionistischen Meistern wie Cézanne und von den fran- 
zösischen Kubisten um Vlaminck aus. Im Porträt und in der Dekoration 
ist ihre Stärke. Pronaszko gehört zu den besten Theatermalern der Gegen- 
war Seine Illustrationen zum „Faust“ sind viel umstritten und beachtet 
worden. 

Von den der Bildhauerei gewidmeten Aufsätzen ist der über Edward 
Wittig am wichtigsten. Mit Zamoyski hat er in Paris der polnischen Skulptur 
hohes Ansehen erworben, und diese zwei übertreffen an wahrhaft schopferi- 
scher Begabung fast alle in Polen wirkenden Rivalen. Werke wie Withgs 
„Eva“, „Kampf“ und der „Sterbende Krieger“ sind von bezwingender bru- 
taler Kraft, voller Leben und Bewegung. Einen anderen Aspekt der pol- 
nischen Seele finden wir in den durchgeistigten, weicheren Skulpturen von 
Dunikowski (in dessen Werkstätte uns Kisielewski geleitet), an dem die 
religiöse Kunst einen wahren Bahnbrecher moderner Auffassung, die sich 
doch der Tradition bewußt bleibt, gewann. Seine Arbeiten in polnischen 
Kirchen erwecken Bewunderung um so eher, je weniger uns die süßliche, 
konventionelle, in photographischer Treue ihr Genügen und ihren Endzweck 
erblickende Plastik von Marcinkowski befriedigt, dessen 50jähriges Jubilaum 
und 70. Geburtstag noch nicht den überschäumenden Enthusiasmus eines 
sonst so geschmacksicheren Kritikers wie Mroziński rechtfertigen, der ein 
wenig dem bescheidenen Talent zugute bringt, was dem sicher vortrefflichen 
Charakter Marcinkowskis eignet. Marcin Rézck, der beim Wetibewerb um 
das Denkmal auf dem Posener Freiheitsplab Marcinkowski den Rang räumen 
mußte, hat viel mehr originelle Einfälle. Seine Süße des Barocks ist nicht 
mit der Süßlichkeit Marcinkowskis zu verwechseln. Und wenn Rözek ein- 
fach realistisch kommt, wie mit seinem „Säer“, dann ist er der großen Kunst 
ganz nahe. (Ich bezweifle freilich, daß er je ihren Bezirk betreten wird.) 
Sehr hoch schake ich dagegen die Fähigkeiten der Natkowska-Bickowa, die 
aus der Schule Wittigs und Dunikowskis hervorgegangen, über die Jahr- 
hunderte hinweg auf sonst seltene Lehrmeister zurückgreift: die alten 
Agypter und ihre hieratische Starre. Szukalski endlich ist die Verkörperung 
urslavischer Kunst, darum dem Volkstumlichen geneigt. Technisch von 
kühner Selbständigkeit und Vollendung im anatomischen Detail, dabei von 
leidenschaftlicher und leidvoller nach Ausdruck ringender, ins Metaphysische 
strebender Dynamik. Die miteinander nicht recht verschmolzenen Elemente 
seiner Plastik vermögen nicht jenen Eindruck des Abgeschlossenen, in sich 
Geschlossenen hervorzurufen, den wir, von vorübereilenden Modestromungen 
frei, als Schönheit empfinden. Fesselnd und ergreifend sind diese Bildwerke 
trokdem. Man versteht, im Angesicht etwa des Mickiewicz-Denkmals in 
Wilna, sowohl den Streit als den Enthusiasmus, den sie auslösten. 

Die Studie Majkowskis schildert den Werdegang 2 n Wy- 
sockis, heute des bedeutendsten polnischen Medailleurs, eines du seinen 
zehnjährigen Aufenthalt in München (1910/1919) auch in Deutschland wohl- 
bekannten Künstlers. Otto Forst-Battaglia. 


592 


NOTIZEN 


Der 1. internationale Slavistenkongreß in Prag. 


Der im Sommer des Jahres angekündigte erste Slavistenkongreß in Prag 
wurde am Sonntag, den 6. Oktober 1929, im Smetanasaal des Prager Ge- 
meindehauses durch Ansprachen der Prager Slavisten, der Behörden und 
der auswärtigen Delegierten feierlich eröffnet und am Donnerstag, den 10. Ok- 
tober, abends geschlossen. Da der Kongreß zweckmäßig vorbereitet war 
und über die Einhaltung des Planes sorgfältig gewacht wurde, so konnte 
das wissenschaftliche und das Festprogramm fast vollständig bewältigt 
werden. Gelegenheit zu persönlicher Bekanntschaft und zum zwanglosen 
Meinungsaustausch boten vor allem die mit außerordentlicher Gastfreund- 
schaft gebotenen geselligen Veranstaltungen, der Begrüßungsabend, der 
Empfang des „Slavischen Instituts“, die Mittagessen, zu denen der Herr 
Minister für Volksbildung und die Stadt Prag einluden, der Empfang beim 
Herrn Minister der auswärtigen Angelegenheiten, zuletzt das Festmahl des 
Kongresses, für einen kleineren Kreis das Abendessen der „Slavischen Rund- 
schau“, das Mittagessen der philosophischen Fakultät der deutschen Univer- 
sität und die Empfänge, die einzelne Delegationen und Gesandtschaften 
veranstaltet haben sollen. Auch die Ausflüge nach Brünn, Preßburg (und 
Olmüb), die der Berichterstatter nicht mehr mitmachen konnte, dürften in 
erster Linie diesem Zwecke gedient haben. Die wissenschaftliche Arbeit, 
die am Montag, d. 7. Okt., morgens in dem neuen Gebäude der philosophi- 
schen Fakultät der Cechischen Universität eröffnet wurde, gliederte sich in 
drei Sektionen, eine linguistische, eine literarhistorische und eine pädago- 
gische, diese nach Bedarf weiter in Untersektionen. Für die Gesamthaltung 
des Kongresses war das Übergewicht methodologischer und organisatori- 
scher Fragen bezeichnend. Schon die dem Kongreß vorgelegten, vor Be- 
ginn der Tagung den Mitgliedern in gedruckter Form überreichten Thesen 
ließen dies erkennen, die Diskussion verstärkte den Eindruck. Auf die 
Einzelheiten des wissenschaftlichen Programms einzugehen, wird auch in 
dieser Zeitschrift Gelegenheit sein, wenn der Kongreßbericht im Druck vor- 
liegt. Grundsäßlich kann nicht bezweifelt werden, daß organisatorisch- 
wissenschaftliche Fragen (z. B. die Frage einer umfassenden Bivliographie 
oder eines slavischen Sprachatlasses) nur durch eine Übereinkunft vieler 
zu lösen sind und daß ein Kongreß durchaus der geeignete Ort zu ihrer 
Beratung ist. Auch die methodologischen Erörterungen werden Anregung und 
manchem eine Klärung vermittelt haben, doch handelte es sich überwiegend 
um Fragen, deren Bestehen den Eingeweihferen bekannt war, und deren 
Lösung oder nachhaltige Förderung (gesetzt, daß sie überhaupt möglich sei) 
von einem Kongreß kaum erwartet werden durfte. Um ein Beispiel zu 
wählen: Das Recht der „synchronistischen“ Sprachbetrachtung wird grund- 
sätzlich wohl nicht zu bezweifeln sein, für sie haben sich Stimmen schon 
vor Jahrzehnten erhoben, als der Siegeslauf der genetischen Sprachbetrach- 
tung endgültig zum Stehen gelangt war, ich verweise wieder nur auf ein 
Beispiel (wahrscheinlich für viele), und zwar auf ein mir naheliegendes, auf 


595 


meine eigenen im Jahre 1904/05 niedergeschriebenen Bemerkungen im Vor- 
wort zu meinem Buch über althochdeutsche Wortstellung (s.8). Wenn diese 
Betrachtungsweise auch heute noch um ihr Dasein zu kämpfen hat (selbst 
auf dem Gebiete der Syntax, das ihrem Zugriff am offensten zu stehen 
scheint), so liegt dies nicht an ihrem Mangel an Recht, sondern an ihrer 
Ergebnisarmut, die abzustellen uns einzelnen kaum, einem Kongreß aber 
gr wiß nicht gelingen wird. Man darf ges i sein, welche Lage unserer 

issenschaft der nächste Slavistenkongreß vorfinden wird, der nach fünf- 
jähriger Pause stattfinden soll. 

Der Prager Kongreß war sehr gut besucht, auch von den Slavisten der 
nichtslavischen Länder; von den deutschen Universitäten waren Breslau 
durch vier, Graz durch zwei, Wien, Berlin, Hamburg, Münster und Kiel durch 
je einen Dozenten vertreten. Besonders sichtbar war, wie billig, die Teil- 
nahme der Prager deutschen Slavisten. P. Diels. 


594 


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