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UC-NRLF
Vil
MANNI
200 &bb
LIBRARY
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
DAVIS
Digitized by Google
Digitized by Google
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OSTEUROPA-INSTITUT IN BRESLAU
JAHRBÜCHER
FOR
KULTUR UND GESCHICHTE
DER SLAVEN
IM AUPTRAGE DES OSTEUROPA-INSTITUTS
HERAUSGEGEBEN VON
PAUL DIELS-BRESLAU, FELIX HAASE-BRESLAU,
ERDMANN HANISCH-BRESLAU, ROBERT HOLTZ-
MANN-HALLE, JOSEF MATL-GRAZ, HEINRICH
FELIX SCHMID-GRAZ, KARL STAHLIN-BERLIN,
KARL VOLKER-WIEN, WILHELM WOSTRY-PRAG
SCHRIFTLEITUNG:
ERDMANN HANISCH
PRIEBATSCH’ BUCHHANDLUNG
BRESLAU, RING 88, UND OPPELN
Reprinted with the permission of Osteuropa - Institut
JOHNSON REPRINT CORPORATION JOHNSON REPRINT COMPANY LTD.
it Fith Avenue, New York, N.Y. 10003 Berkeley Square House, London, W. 1
LIBRARY
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
11710
First reprinting, 1966, Johnson Reprint Corporation
Printed in West Germany
Druck: Anton Hain KG, Meisenheim (Glan)
INHALTS-VERZEICHNIS
DES BANDES V N.F. (1929).
ABHANDLUNGEN Seite
Ulrich Preuss: Katharina IL von Rußland und ihre auswärlige
Politik im Urteile der deutschen Zeilgenossen . . . u. 169
Josef Mati: Die Entwicklungsbedingungen der epischen Volks-
dichtung bei den Sla ven 57
Emmy Haertel: N.V. Gogoľ als Malern 145
Dr. Method Dolenc: Die niedere Volksgerichibarkeit unter den
Slovenen von Ende des 16. bis Anfang des 19. Jahrhunderts 299
Emmerich Lukinich: Der Kaisertitel Pelers des Oroßen und
der Wiener Hotte 369
Dr. S. Kaleko: Die Agrarverhilinisse in Weißrußland vor der Um-
wälzung im Jahre 1911 457
O. Forst-Battaglia: Boleslaw Pras ........... 511
MISCELLEN
M. Alekseev: Ein Brief des Fürsten N. G. Repnin an A. V. Schlegel 77
Camilla Lucerna: Zwei zersiörie dalmatinische Familienarchive 83
Theodor Wotschke: Polnische Studenten in Frankfurt... . 228
Leopold Silberstein: Zehn Jahre Außenpolitik der Soveis . . 377
Manfred Laubert: Beiträge zu Preußens Siellung gegenüber
dem Warschauer Novemberaufsiand v. . 1830. . . . - 381
Stefan Smal Stockyj: Der fundamentale Aniel des Ukrai-
nischen an der Slavisiik .......2.2.2.0... 390
Seite
Dr. Kazimierz Tyszkowski und Dr. Stanisław Zajgcz-
kowski: Arelon . 2 2 220. 245
Dr. J. Lossky: Neuere ukrainische wissenschaflliche Literalur zum
N ee ee VG eR 399
Dr. M. HnatySak: Die Literaturgeschichie in der Ukraine . . . . 48
BOCHERBESPRECHUNGEN 89—108; 256-265; 411—429; 536-545
ZEITSCHRIFTENSCHAU . 109-144; 266—289; 450—456; 546—592
NEKROLOGE ................... 290—297
NOTIZEN 2. » 2: 22 2 ae. 2 u. BR Sed 595-594
OSTEUROPA-INSTITUT IN BRESLAU
JAHRBÜCHER
FOR
KULTUR UND GESCHICHTE
DER SLAVEN
IM AUFTRAGE DES OSTEUROPA-INSTITUTS
HERAUSGEGEBEN VON
PAUL DIELS-BRESLAU, FELIX HAASE-BRESLAU,
ERDMANN HANISCH-BRESLAU, ROBERT HOLTZ-
MANN-HALLE, JOSEF MATL-GRAZ, HEINRICH
FELIX SCHMID-GRAZ, KARL STAHLIN-BERLIN,
KARL VÖLKER-WIEN, WILHELM WOSTRY-PRAG
SCHRIFTLEITUNG:
ERDMANN HANISCH
*
N. F. BAND v. HEFT I
1929
TA
PRIEBATSCH’® BUCHHANDLUNG
BRESLAU, RING 58, UND OPPELN
|
ABHANDLUNGEN
KATHARINA Il. VON RUSSLAND
UND IHRE AUSWARTIGE POLITIK IM URTEILE
DER DEUTSCHEN ZEITGENOSSEN
Von
Ulrich Preuss (Breslau).
Einleitung.
Die bedeutsame Rolle, welche Rußland seit dem ausgehenden
17. Jahrh. in der westeuropäischen öffentlichen Meinung zu spielen
beginnt, ist auf mannigfache Momente zurückzuführen. Das wichtigste
und folgenschwerste war die Regierung Peters des Großen. Er
gab diesem bis dahin ziemlich selbstgenügsam in sich beruhenden
Reiche mit überwiegend östlicher, asiatischer Orientierung in schroffer
Wendung die Richtung auf den politischen und kulturellen Anschluß
an den Westen, indem er den abschnürenden Gürtel, den Schweden
umd Polen um Rußland gelegt halten, zerschnitt, den „mosko-
witischen“ Staat durch seine militärischen Erfolge zu einer euro-
päischen Großmacht erhob und der Europäisierung Rußlands alle
Tore öffnete. So war das Carenreich auch für die Westmächte
ein wesentlicher politischer Faktor geworden. Als Bundesgenosse
gesucht, nahm es nicht nur an der europäischen Peripherie auf seiten
Österreichs an dem Türkenkriege von 1736—39 teil, sondern griff
auch als Mitglied der großen Koalition gegen das Preußen Friedrichs
des Großen handelnd und entscheidend ein in die zentralen Kämpfe
der damaligen europäischen Politik.
Damit war dieses seit dem Mongoleneinfall so gut wie außerhalb
des europäischen Konnexes stehende Land, das nach einem Worte
des Historikers Alexander Brückner von den Reisenden des 16. und
17. Jahrh. eigentlich erst wieder entdeckt werden mußte, greifbar
nahe in den Gesichtskreis des Westeuropäers gerückt und in der
Erörterung seiner Eigenschaften und Eigenarten ein anziehender
Gegenstand für die öffentliche Meinung Europas geworden. Vollends
de Sensationen, die der russische Kaiserhof unter dem langen Frauen-
INF 5 1
regiment, das der „höchst männlichen Regierung“ Peters des Großen‘)
folgte, mit seiner bunten und prunkenden, halb europäisch-zivili-
sierten, halb asiatisch-barbarischen Luxusenifaltung, mit seinen
ewigen Palastrevolutionen und dem phantastischen Wechsel von Auf-
stieg und Sturz in den Schicksalen der einzelnen Carinnen und ihrer
Günstlinge in einer schier endlosen Kette bot, mußten immer wieder
neuen Reiz auf die Gemüter der Westeuropäer von damals ausüben.
Unter den vier Frauen, die als Nachfolgerinnen Peters I. — mit
den drei kurzen Unterbrechungen durch Peter Il. (1727—30), Ivan VI.
(1740—41) und Peter Ill. (1762) — das ganze 18. Jahrh. hindurch
Rußland beherrscht haben, ist Katharina li. für ihre Zeitgenossen
sicherlich die interessanteste, gefeiertste, zeitweilig aber auch um-
strittenste Gestalt gewesen. Es war nicht einmal so sehr die Tat-
sache, daß hier eine Frau die Geschicke eines Riesenreiches lenkte
und leitete, die ohne weiteres die Teilnahme ihrer Mitwelt auf sie
gezogen hatte. Denn eine Frau als ,,Selbstherrscherin aller Reuben“
war, wie gesagt, seit Jahrzehnten eine gewohnte Erscheinung und
hatte im 18. Jahrh., das man so gern das „Jahrhundert der Frau
par excellence” nennt, auch auf anderen Thronen Europas ihres-
gleichen. Eher sicherte schon der Umstand, daß die russische Carin
Katharina Il. eine Ausländerin war, ihr von vornherein in der öffent-
lichen Meinung des Auslandes eine gewisse Sympathie. Vor allem
war es jedoch der „märchenhafte?) Glanz ihres Hofes, das Glück,
das ihren Waffen folgte, Land und Leute, die sie dem russischen
Reiche in Erfüllung der Pläne Peters des Großen hinzufügte, und eine
publizistische und politische Reklame, wie sie geschickter nie be-
trieben worden ist‘), was Katharina in der öffentlichen Meinung
ihres Zeitalters immer wieder ein dauerndes und nie ermüdendes
Interesse zu gewinnen vermochte.
Sicherlich wird man die Wirksamkeit der Reklame Katharınas
für das Zustandekommen und für die Verbreitung der Begeisterung,
welche der Carin von den Zeitgenossen gezollt wurde, hoch an-
schlagen müssen. Aber man darf sie doch nicht in dem Maße über-
Schätzen wie ihr polnischer Biograph Waliszewski, der das große
Renommee Katharinas bei ihren Zeitgenossen vorzugsweise in ihrer
Auslandsreklame begründet sehen möchte. Es ist überdies auch
falsch, wenn Waliszewski behauptet, daß solche Auslandsreklame in
der Geschichte Rußlands eine Neuerung („un art nouveau‘‘)‘) Katha-
rinas gewesen wäre. Schon vor ihr hatte z. B. Peter d. Gr. in der
1) Th. Schiemann: Russische Köpfe (1919), S. 63.
3) Die russischen Zeilgenossen sprechen selbst gern von dem manen:
haften“ Licht, in dem ihnen die Regierung Katharinas erschien. Vgl. die
Bonn des J. J. de Sanglen (1776—1831), deutsch von L. v. Marnitz (1894),
ion we Schiemann: Geschichte Rußlands unter Kaiser Nikolaus I. Bd. I
3) K. A OZENKI, Le Roman d'une impératrice. Cathérine Il. de Russie
(191047), S. 30
2
Person des Barons Huyssen®) einen im Auslande wirkenden publizisti-
schen Agenten unterhalten, der die abträglichen Nachrichten über
Rußland, wie sie in Deutschland um die Wende des 17. u. 18. Jahrh.
namentlich durch die Pamphlete eines in Ungnade entlassenen Hof-
meisiers des Cesarevié verbreitet wurden, widerlegen sollte. Denn
schon um der für sein Europäisierungswerk so notwendigen Anwer-
bungen von Ausländern willen mußte Car Peter auf eine seinem
Reiche günstige Auslandsmeinung großen Wert legen. Huyssen gab
ruhmende Beschreibungen von dem Leben und den Taten Peters des
Großen heraus, verhalf der Rußland freundlichen Schrift „Nachricht
von dem Zustande Rußlands“ (1703) zum Druck, korrigierte im
Petrinischen Sinne die deutsche Übersekung des in Paris erschiene-
nen „Feldzuges Carls XII.“ und stand in dauernden Beziehungen zu
deutschen Gelehrten und Publizisten, die er aus seinem offiziosen
Material versorgte’). Man kann die Spuren seiner Inspirationen in
den Ruglandartikeln des Zedlerschen Universallexikons’), jenes
riesenhaften enzyklopädischen Hausschakes der Gebildeten des
damaligen Deutschlands, noch deutlich verfolgen. Daß die offen-
baren Erfolge des Barons Huyssen, was Umfang und Tiefe der Wir-
kung anlangt, noch in keinem Verhalinis standen zu der ungeheuren
Wirkung, die Katharina Il. später mit Hilfe der von ihr beeinflußien
Auslandspublizistik erzielte, liegt einmal in den Zeitumständen
begründet. „Die Bedeutung, welche inzwischen Paris als Hauptstadt
des literarischen Europa erlangt hatie, schuf natürlich Voltaire, dem
„bon protecteur“ der Kaiserin, cine viel größere und breitere Einfluß-
sphäre, als sie ewa die führenden Publizisten um die Wende des
siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts gehabt hatten®)“. Sodann
— und das übersieht Waliszewski in seiner geistreich sein sollenden,
aber schiefen Parallele Katharina—Bismarck (Katharina hat nach ihm
Bismarcks Reptilienfonds vorweggenommen) völlig — stand die
Carin zu den führenden Geistern unter den zeitgenössischen Pu-
blizisten, d. h. zu den eigentlichen Trägern ihres Ruhmes, in einem
menschlich anderen, näheren Verhältnis als Peter der Große, aber
auch Bismarck.
Wie alle Fürsten des aufgeklärten Absolutismus hatte Katharina
emen starken philosophisch-literarischen Ehrgeiz und das lebhafte
Bedürfnis, mit den geistigen Größen ihrer Zeit in einen möglichst
unmittelbaren Gedankenaustausch zu treten, sei es durch persön-
3) Vol. H. v. Olümer: Heinrich Huyssen, ein Essener Stadtkind als Ge-
iehrter und Diplomat im Dienste Peters des Großen. In Beiträge zur Ge-
schichte von Stadt und Stift Essen, Heft XXXII (1911), S. 135 f. Dazu Zs. f.
osteurop. Geschichte II (1912), S. 585 f.
©) A. F. Büschings Magazin für die neuere Historie und Geographie.
Bd. X (1776), S. 317 f. Vgl. auch F. Duckmeyer: Korbs Diarium itineris in
Moscoviam und Quellen, die es ergänzen, Bd. Il (1910), cap. 9 passim.
) Großes vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und
_ Künste, Bd. XXVII (1741), S. 906 f. und Bd. XXXII (1742), S. 1907 f.
®) F. Andreae: Beiträge zur Geschichte Katharinas I]. (1912), S. 100.
lichen Umgang, sei es durch einen eifrig gepflegten brieflichen Ver- .
kehr. Reinhold Koser hat in dem schönen Kapitel seiner Geschichte
Friedrichs des Groben’), das von dem Verhältnis des „alten Königs“
zur „neuen Bildung“ handelt, sehr eingehend und überzeugend die
Schwierigkeiten zur Anschauung gebracht, die sich sowohl für die
aufgeklärten Fürsten, die bis zu einem gewissen Grade wenigstens
ihre fürstliche Ausnahmestellung respektiert wissen wollten und
mußten, als auch für die literarischen Freunde aus dem aufgeklarten
Bürgertum, die auch im Verkehr mit Fürsten nach „Gedankenfreiheit“
strebten, notwendigerweise ergaben. Immerhin ließen sich diese
Schwierigkeiten überwinden und wurden überwunden, solange die
rein menschlichen Sympathien, die bei diesen literarischen Freund-
schaftsbündnissen oft eine nicht zu unterschätzende Rolle spielten,
stark genug waren, um trob mancher Reibungen die vorhandenen
Gegensatze immer wieder zu überbrücken. Es läßt sich nun aber bei
fast allen literarischen Freundschaften der aufgeklärten Fürsten
beobachten, daß sie mit ihren literarischen wie menschlichen Sym-
pathien innerhalb der Generation haltmachten, mit der oder unter
deren Einfluß sie aufgewachsen waren, und sich gegen die Ideen und
Persönlichkeiten einer noch zu ihren Lebzeiten aufkommenden junge-
ren Generation ziemlich einseitig abschlossen. Der Sag Kosers:
„Dem Philosophen von Sanssouci war die Gefolgschaft halb lächer-
lich, halb unheimlich und jedenfalls verdrießlich, die hinter d’Alembert,
dem Führer zur Linken, stand, die Schar der nachgeborenen Sohne
der Aufklärung, die neue Richtung“:), läßt sich mutatis mutandis
auch auf Katharina Il. anwenden. Vollends aber, als diese jüngere
Generation der Aufklärung sich immer mehr mit dem demokratisch-
republikanischen Geist der Rousseauschen Lehren erfüllte, die dem
Absolutismus seine Existenzberechtigung bestritten, da konnie von
solchen Geistesfreundschaften zwischen den Fürsten und Literaten
überhaupt nicht mehr die Rede sein.
Was diese Geistesfreundschaften für den Ruf der Fürsten in der
öffentlichen Meinung eines so ruhmsüchtigen Jahrhunderts wie des
18. bedeuteten, braucht hier ebensowenig hervorgehoben zu werden,
wie die Bedeutung der Tatsache, Voltaire als Herold seines Ruhmes
gewonnen zu haben, noch einmal ausdrücklich gewürdigt werden
muß. Katharina Il. hat es oft genug selbst ausgesprochen, wieviel
sie dem in der öffentlichen Meinung seiner Zeit einfach tonangeben-
den Einflusse Voltaires für ihre Berühmtheit bei den Zeitgenossen
verdankte. Dagegen scheint es angebracht, schon hier auf die Tat-
sache hinzuweisen, daß die Krise ihres Renommees in der zeit-
genössischen Beurteilung erst dann beginnt, als mit dem Tode
Voltaires seine allmächtige Einwirkung auf die europäische Offent-
lichkeit aufgehört hatte. Erst seit dem Tode Voltaires melden sich
die demokratisch-republikanisch-humanitär-pazifistischen Widersacher
e Bd. Il (1913 44-5), S. 438 ff.
10) Ebd. S. 447.
der Carin zu Worte; und der Umschwung in den Tonlagen, die den
zeitgenössischen Beurteilern Katharinas zur Verfügung standen, läßt
sich wohl kaum sinnfälliger zum Ausdruck bringen, als wenn man die
Titel von zwei kleinen Schriften einander gegenüberstellt, von denen
die eine 1776, also am Ende der von Voltaire beherrschten Zeit-
stimmung, die andere unmittelbar nach dem Tode Katharinas er-
schien. Die erstere trägt die Aufschrift: „Katharina Il. ein Gemäld
ohne Schatten“, die der letzteren lautet: „Katharine vor dem Richter-
stuhle der Menschheit“. Man wird für die Entstehung solcher Schriften
wie der zuletzt genannten nicht vergessen dürfen, daran zu erinnern,
dak Katharina am Ende ihrer vierunddreißigjährigen Regierung noch
die Gotterdammerung des Absolutismus, die französische Revolution,
miterlebte. Schon die Zeitgenossen haben die Bedeutung dieses
Ereignisses für die Beurteilung Katharinas durch die öffentliche
Meinung deutlich erkannt und hervorgehoben. „Die französische
Revolution, die überhaupt für die Könige so verderblich war,“ sagt
der Publizist Frederic Masson, ein französischer Schweizer, „wurde
es besonders für Katharina. Das Feuer, welches plötzlich aus dem
Innern Frankreichs wie aus einem Krater emporstieg, warf über Ruß-
land ein bleiches Licht wie die Helle eines Blitzes. Man fand nur
Ungerechtigkeit, Verbrechen und Blut, wo man vorher Größe, Ruhm
und Tugend gesehen hatte“).
Kapitell.
Peters Il. Sturz und die deutsche öffentliche Meinung.
Die Debatte über das große Kapitel „Katharina ll.“ wurde in der
deutschen Publizistik des 18. Jahrh. erst nach der Umwälzung vom
9. Juli 1762 (n. St.) eröffnet, welche den Caren Peter Ill. stürzte und
seme Gemahlin als Selbstherrscherin aller Reugen auf den Thron
hob. Von der Großfürstin und Carica Katharina wußte die deutsche
Öffentlichkeit nur wenig. Zwar hatte Katharina dem Intrigenspiel
am Petersburger Hofe keineswegs müßig zugesehen und mehr als
einmal hinter den Kulissen Einfluß auf die Leitung der auswärtigen
Politik des russischen Kabinettes zu gewinnen gesucht. Aber von
dieser inoffiziellen Betätigung drang doch nicht viel über die Kreise
der Hof- und Diplomatenwelt der nordischen Hauptstadt hinaus.
Erst der geglückte Staatsstreich von 1762 und vielleicht mehr noch
die Ermordung des gestürzten Herrschers bewirkten, daß sich die
deutsche Öffentlichkeit lebhaft mit der Persönlichkeit der neuen
Herrscherin zu beschäftigen anfing.
Daß sich auch Katharina selbst von Anfang an der Bedeutung
dieses Ereignisses für ihre Beurteilung durch die öffentliche Meinung
des Auslandes nur zu wohl bewußt war, beleuchtet wirkungsvoll die
Überlieferung einer kleinen Szene, die sich unmittelbar nach dem
11) Geheime Nachrichten über Rosand unter der Regierung Katha-
rnas II. und Pauls I. Bd. 1 (1800), S. 117 f.
5
Bekanntwerden der am 16. Juli 1762 auf dem abgelegenen Lust-
schlosse Rop3a erfolgten Ermordung Peters Ill. abspielie. Die eifrige
Parteigängerin Katharinas und tätige Teilnehmerin an der Palast-
revolution, Ekaterina Romanovna Fürstin DaSkova, berichtet, daß die
Carin, als die Nachricht von dem Ableben des Exkaisers eintraf,
ausrief: „Es ist ein Schlag, der mich zu Boden wirft.“ „Es ist ein
viel zu schneller Tod für Ihren Ruhm.... Madame:).“
Mag dieses Gespräch auch nicht wirklich in der pointierten
Dialogform stattgefunden haben, in welcher es in den im Geschmacke
des 18. Jahrh. anekdotenhaft zurechigemachten Memoiren der Daš-
kova erscheint, die überdies erst sehr viel später (um 1800) auf-
gezeichnet wurden; die Tatsache, daß die kluge und instinkisichere®)
Katharina die Gefährlichkeit dieses Schlages für ihr moralisches und
politisches Renommee — beides war für die so gern mit Moralgrund-
säen arbeitende zeitgenössische Publizistik kaum zu trennen — von
vornherein richtig einschäßte, dürfte durch solche quellenkritisch ge-
botenen Abzüge kaum erschüttert werden. Trob aller Anstrengungen
aber, an denen es die Carin gewiß nicht fehlen ließ, um durch ihre
Manifeste und andere Maßnahmen vor der Öffentlichkeit das Odium
ihrer Thronusurpation und des gewaltsamen Todes ihres Gatten von
sich abzuwälzen, hat sie vollkommen dieses Ziel doch wohl niemals
erreicht. Vor allem war sie mit ihren Rechtfertigungsbemühungen
während der langen Dauer ihrer vierunddreißigjährigen Regierung
nicht stets in gleichem Maße erfolgreich. Es versteht sich von selbst,
daß es zu einer absolut einhelligen Beurteilung der Carin auch nur
in der deutschen öffentlichen Meinung überhaupt nicht kommen
konnte. Aber es hat doch zweifellos Zeiten gegeben, wo die ein-
zelnen Zeitstimmen stärker zusammenklangen, als das vordem oder
später der Fall war.
Da sich in der Erörterung des Sturzes Peters Ill. und seiner
Folgen durch die zeitgenössische deutsche Publizistik vielleicht am
einfachsten und übersichtlichsten dieser Wandel in der deutschen
Zeitstimmung zeigen läßt, so sei diese Beurteilung gewissermaßen
als Ouvertüre hier zunächst nur in ihrem Für und Wider die Carin
voraufgestellt, während es dem späteren Kapitel vorbehalten werden
soll, die näheren Begründungen für diesen Wandel zu bringen.
Als am 5. Januar 1762 Peter Ill. als Nachfolger der letzten Tochter
Peters des Großen, jener Elisabeih, deren ausschlaggebende Rolle
man in Deutschland während des noch anhalienden Siebenjährigen
Krieges bereits richtig einzuschäben gelernt hatte, den russischen
Kaiserthron bestieg, da wurden mit einem Male durch den neuen
Herrscher die politischen Verhältnisse in Europa von Grund aus ver-
schoben, und sein Regicrungsantritt war besonders für Deutschland
1) Memoiren der Forst Da3kov. Zur Geschichte der Kaiserin Katha-
rina Il. Teil I (1857), S. 129
2) Es sei an Rankes Wort erinnert: „Die Prinzessin zeigte, so jung sie
ee. En Talent fur ihre Lage.“ Samil. Werke, Bd.
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ein Ereignis von außergewöhnlicher Bedeutung. Von jeher ein blinder
Verehrer Friedrichs des Großen, schloß er alsbald mit diesem den
Frieden von St. Petersburg und verzichtete mit einer Großmut, wie
sie der russischen Politik sonst nicht eigen war, auf die von den
Russen besetzten preußischen Landesteile. Darüber hinaus kam es
zu dem Abschluß eines Bündnisses zwischen den beiden Monarchen,
das Friedrich mit einem Schlage aus seiner verzweifelten Lage er-
löste.
Bei der Spaltung der öffentlichen Meinung Deutschlands in ein
österreichisches und ein preußisches Lager mußte Peter Ill. auf der
einen Seite mit Gefühlen des Verdrusses und der Empörung, auf der
anderen Seite aber mit denen der Freude und Begeisterung begrüßt
werden. Während der österreichische Gesandte am Petersburger
Hofe, Mercy d’Argenteau, mit der Erbitterung der Enttäuschung nach
Hause berichtete, daß von dieser „tollen Regierung“ nichts Gutes zu
hoffen wäre, und die Tätigkeit des neuen Herrschers abfälligster
Kritik unterzog®), wurde der Car für alle „ fritzisch“ Denkenden zum
„Schußgeiste Preußens“), zum „wahren St. Peter“, der dem großen
König den Himmel aufschloß®). In der überwallenden Freude jener
Tage begeisterte man sich an den übereilten Reformen des neuen
Caren und kümmerte sich wenig darum, ob diese Neuerungen von
den Russen mit der gleichen Zustimmung aufgenommen wurden wie
in Preußen. „Wenn der Kaiser von Rußland“ — so schrieb damals
der preußische Kammerherr Graf Lehndorff in sein Tagebuch — „die
Regierung seines Landes in der Weise weiter führt, wie er sie be-
gonnen hat, dann wird er nicht bloß der Vater seiner Untertanen,
sondern auch die Bewunderung Europas werden““).
Doch nach dem ersten Freudenrausche begann man in der preu-
bischen Hauptstadt zu erkennen, wie sehr Car Peter die nationalen
Gefühle und Vorurteile der Russen gegen sich erregt hatte, als er
sein Heer nach preußischem Muster umgestaltete, die Geistlichkeit
durch seine Mißachtung der griechisch-orthodoxen Religionsgebräuche
sowie durch die Einziehung von Kirchengütern verletzte und durch
die Bevorzugung seiner Holsteiner Soldaten die russischen Truppen
aufs tiefste empörte. Man bemerkte, wie sich gegen den Caren eine
Opposition bildete, und es ging wie eine Ahnung durch die führenden
Berliner Kreise, daß diese nationale Opposition binnen kurzem den
preußischen Verbündeten von seinem Throne stoßen würde”).
Mitte Juli traf denn auch in Berlin die Nachricht von der Ab-
sekung Peters ein, und zu Ende des Monats wurde sein plößlicher
3) Alexander Brückner: Katharina die Zweite (1883), S. 80.
G4 = Reinhold Koser: Geschichte Friedrichs des Großen. Bd. III (1913 (u. 5),
s) Dreißig Jahre am Hofe Friedrichs des Großen. Aus den Tagebüchern
des Reichsgrafen Ernst Ahasverus Heinrich Lehndorff, Kammerherrn der
Königin Elisabeth Christine von Preußen. Nachträge, Bd. I (1910), S. 346.
e) Ebd., S. 338.
7) Ebd, S. 350.
Tod gemeldet. Die Kunde von seiner Entihronung rief in Preußen
einen beinahe panischen Schrecken hervor, weil man fürchiete, der
König würde bei einer Teilnahme der neuen russischen Regierung
auf seiten der großen Koalition wieder in eine gefährliche Lage ge-
bracht werden’).
Auf österreichischer Seite hatte der russische Staatsstreich die
beglückendsten Hoffnungen ausgelöst. War doch in dem ersten
Manifeste, das die neue Carin erlassen hatte, Friedrich als der Tod-
feind®) Rußlands genannt und der Friede von Petersburg als den
Interessen der russischen Politik durchaus zuwiderlaufend bezeichnet
worden. Wenn auch in der Note an die auswärtigen Mächte der
aggressive Passus des Manifestes gegen Friedrich den Großen fort-
gelassen worden war'*), so mochte sich Kaunik doch zunächst nicht
der Freude über den Sturz des verhaßten Caren erwehren und
frohlockte über die Petersburger Vorgänge, die voraussichtlich die
günstigsten Wirkungen nach sich ziehen würden i). Daß aber wirklich
ernsthafte Erwartungen, Rußland würde von neuem auf öster-
reichischer Seite am Kriege teilnehmen, von Maria Theresia und
ihrem Kanzler gehegt worden sind, ist wohl nicht anzunehmen. Denn
beide waren zu scharfblickend, um nicht alsbald zu bemerken, daß
Katharina, wie es auch wirklich der Fall war, vor allem ihr Haupt-
augenmerk darauf richtete, sich auf dem eroberten Carenthrone fest-
zusefen!2). Wie dem auch sei, man nahm in der breiteren öster-
reichischen Öffentlichkeit wahrscheinlich erst dann eine kuhlere und
resigniertere Stellung der russischen Thronumwälzung gegenüber
ein, als Katharina nicht die geringsten Anstalten traf, in den Krieg
gegen Preußen einzutreten.
Kaum aber hatten sich die durch den Staatsstreich und seine
Auswirkungen in Erregung gesetzten Gemüter infolge des Aus-
scheidens der Carin aus dem Streit der europäischen Mächte wieder
etwas beruhigt, da brachte der plötzliche Tod des entthronten Caren
die öffentliche Meinung Deutschlands von neuem in Bewegung, und
als die russischen Manifeste über den Regierungsantriti der Kaiserin
und das Ableben ihres Gemahls bekannt wurden), wurde sofort die
Frage aufgeworfen, ob die Carin bei dieser Palastrevolution ihre
Hand im Spiele gehabt habe und inwieweit sie die Urheberin der-
selben gewesen sei. Ohne weiteres glaubte man ihr die geistige
Urheberschaft zusprechen zu dürfen und stützte sich dabei auf die
Momente, welche die Manifeste der Carin selbst zu ihrer Verteidi-
gung angeführt hatten: die Kriegsmüdigkeit des russischen Volkes,
2) Ebd., S. 350.
5) B. v. Bilbasov: Geschichte Katharinas II. Bd. II (1893): Vom Regie-
rungsantritt Katharinas Il. (1762—1764). Deutsch v. P. v. R. Teil I, S. 126 f.
10) Koser, a. a. O. Bd. Il, S. 142 f.
11) A. v. Arneth: Geschichte Maria Theresias, Bd. VI (1875), S. 329 u. 481.
12) Ebd, S. 334.
13) B. v. Bilbasov: Katharina Il. im Urteile der Weltliteratur. Autor. Uber-
sebung aus dem Russischen. Mit einem Vorw. v. Th. Schiemann, Bd. |
(1897), Nr. 18 u. 19.
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das der Car in einen diesem unverstandlichen Krieg gegen Däne-
mark hatte verwickeln wollen, seine den Russen nicht minder an-
stößigen Reformen und seine Verstöße gegen die russische Reli-
giosität. „Der vornehmste Umstand“ aber „war wohl dieser, daß
der Kaiser seinen Prinzen für illegitim erklären, sich von seiner Ge-
mahlin, mit der er niemals in vollkommener Einigkeit gelebet,
scheiden, selbige mit dem Prinzen in ein Kloster verstoßen, oder gar
um das Leben bringen lassen wollfe“ ).
Wenn auch die gleichzeitige deutsche öffentliche Meinung noch
nicht wie später in der Herrschsucht Katharinas die eigentlich trei-
bende Kraft sah, die die Carin zu ihrem Schritte bewogen hatte, so
war sie doch weil davon entfernt, diesen zu billigen. Die Hoffnungen
Katharinas, die mit ihren Manifesten auf die Unkenninis und Kritik-
losigkeit der damaligen öffentlichen Meinung spekulierte und er-
wartete, diese würde prompt auf das Märchen von dem natürlichen
Tode des Caren hineinfallen — Anstrengungen und Aufregungen der
Revolutionstage sollten sein altes Hamorrhoidalleiden bis zum tod-
lichen Ausgange verschlimmert haben — erfüllten sich nicht. Denn
bald wurden in der zeitgenössischen Publizistik des Auslandes
Stimmen laut, die erklärten, daß der Tod des russischen Kaisers
alles andere als ein natürlicher gewesen wäre. Ganz abgesehen
davon, daß man an den deutschen Höfen überzeugt war zu wissen,
„welcher Art diese Hämorrhoidalkolik gewesen sei“ un, tauchte als-
bald in der englischen Presse ein angeblicher Brief Friedrichs des
Großen auf, in dem Katharina als eine Neuauflage (second tome)
der Ariadne, die ihren Gemahl, den griechischen Kaiser Zeno lll., bei
lebendigem Leibe begraben ließ, hingestellt wurde:®). Aber auch in
der deutschen Öffentlichkeit wurden ähnliche, wenn auch nicht ganz
so unverblümte Fassungen verbreitet. In einer Flugschrift, die die
Frage, ob Peter Ill. zu Unrecht vom Throne gestoßen wäre, bejahte,
wurde die Tat Katharinas ein „verabscheuungswürdiges Merkmal der
neuern russischen Geschichte“ genannt und gesagt: „Seine (Peters)
Entthronung war ein Raub, und vielleicht auch sein Tod?’).“ Kaum
weniger vielsagend ist die Andeutung, die der Theologe G. A. Will
14) Gespräch im Reiche der Todten zwischen einem österreichischen
Feldpater und einem russischen Popen von dem Leben und Ende Peters Ill.
(1765), S. 19 f., das sich ganz und gar auf G. A. Will: Merkwürdige Lebens-
geschichte Peters Ill., Kaisers und Selbsthalters aller Reußen (1762) stiibt.
Vgl. Gespräch S. 7, 10, 22 und Will S. 9, 13, 50 u. ö.
18) Politische Korrespondenz Friedrichs des Großen. Hrsg. v. Reinhold
Koser, Bd. XXII (1895), S. 95.
ıe) Ebd, S. 378 u. 388: Friedrich teilt Finckenstein mit, er habe nach
Kenntnisnahme dieses vermeintlichen Briefes sofort seinem englischen Ge-
sandten befohlen, „pour qu'il oblige le gazettier de revoquer solennement
cette calomnie“, und seinem holländischen, „afin qu'il empêche que les
gazeitiers hollandais ne l'insèrent dans leur feuilles“. Gleichzeitig habe er
seme beiden Gesandten in Moskau, Gol& und Solms, beauftragt, ein „de-
menti formel“ abzugeben, wenn dieser Brief in Rußland bekanntwerden sollte.
17) Ob der Kaiser von Rußland Peter Ill. rechtmäßig des Thrones ent-
setzt sey? In einer kurzen Betrachtung untersuchet von J. (1762), S. 7. u. 15.
9
in seiner „Merkwürdigen Lebensgeschichte Peters Ili.“ (1762), einer
der vielgelesensten Schriften’*), machte: „Es mag nun sein, daß
Schmerz und Verdruß in dem Körper des abgesetzten Kaisers zu sehr
wirkien, oder es mögen andere Ursachen vorhanden gewesen sein,
nn = doch einmal wahr, daß er nicht lange sein Schicksal über-
ebte'*).“
Unzweideutiger ausgesprochene Vorwürfe gegen die Carin als
die bisher angeführten haben wir aus der Zeit unmittelbar nach der
Ermordung Peters Ill. nicht beibringen konnen. Wir miissen es auch
offen lassen, die Frage vollständig zu beantworten, warum sich die
öffentliche Meinung Deutschlands in der Besprechung über den Tod
Peters Ill. so zahm verhielt, obwohl sie durch ihre Andeutungen
durchblicken ließ, daß sie nicht an einen natürlichen Tod des Caren
glaubte. Es dürften aber wohl auch im übrigen Deutschland wenig-
stens bis zu einem gewissen Grade Zensurschwierigkeiten dabei eine
Rolle gespielt haben, wie wir sie allerdings mit Bestimmtheit nur für
Preußen nachweisen können. Denn so vorsichtig sich, wie wir sahen,
diese Schriften über das Ereignis von Rop3a ausdrückten, ihre un-
bestimmten Andeutungen geniigten, um sie die ganze Sirenge der
preußischen Zensur fühlen zu lassen. Bei seiner immer noch zweifel-
haften Lage wollte Friedrich der Große alles vermeiden, was die
Empfindlichkeit der Carin hätte reizen können, und für die Behutsam-
keit, mit der man damals preußischerseits vorging, ist ein Schreiben
des Ministers Finckenstein an den königlichen Kabinetisrat Eichel
vom 13. November 1762 außerordentlich bezeichnend. Finckenstein
berichtet darin über die von uns bereits zitierte harmlose Broschüre
folgendermaßen: „Es ist mir eine gewisse Brochüre zu Gesicht ge-
kommen, welche den Titul führet: Ob der Kaiser Peter Ill. recht-
mäßig des Thrones enfsetzt sey. Von solcher soll ein gewisser
namens Bauer in Nürnberg, welcher von dem Wiener Hofe einen
Charakter erhalten, Auctor sein, und da in solcher von des Königs
Majestät und von dem verstorbenen russischen Kaiser mit sehr vielen
Lobeserhebungen gesprochen, die jest regierende russische Kaiserin
mit den allerhäßlichsten Farben abgeschildert wird, so vermuthe ich
fast, daß die schlangenartige Absicht des Auctors dahin gegangen,
diese Brochüre durch die königlichen Lande nach Rußland zu be-
fördern und daselbst glauben zu machen, als ob solche in denen
selben verfertiget oder wenigstens mit Approbation gedruckt
worden).“
Daß auch Katharina selbst Maßnahmen ergriff, um die ihr miß-
liebigen Nachrichten, die über die Thronumwälzung im Auslande ver-
breitet wurden, zu unterdrücken, zeigt ihr Vorgehen gegen die in
Leipzig erschienenen „Mémoires pour servir à l'histoire de Pierre III.,
empereur de Russie“, die Ange de Goudar zum Verfasser haben.
18) Will, a. a. O., zweyte durchgehends verbesserte und mit einer Vor-
rede und Anmerkungen vermehrte Auflage. (1762.
19) Ebd., S. 50.
20) Polit. Korresp., a. a. O. Bd. XXII, S. 325.
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Zwar wurde in dieser Schrift die Carin günstig beurteilt, mit Lobes-
erhebungen für sie nicht gespart und nichts weiter gesagt, als was
die Manifeste bereits verkündet hatten; aber ein ihr beigefigtes
„Suppl&ment“, in welchem nachgewiesen wurde, daß der Car ohne
irgendwelche rechiskraftigen Gründe vom Throne gestoßen wäre, er-
regte so sehr den Zorn der Kaiserin, daß sie sofort nach der Lektüre
der Schrift an ihren Kanzler, den Grafen M. J. Voroncov, schrieb: „Be-
fehlen Sie allen unseren Residenten, wo Sie es tunlich finden, fleißig
den Autor ausfindig zu machen, seine Bestrafung zu verlangen, alle
Editionen zu konfiscieren und die Ausfuhr dieses Buches nach Ruß-
land zu verbieten. Es ist noch beleidigender für die Nation als für
mich personlich™).“
Nach Beendigung des Siebenjährigen Krieges, so scheint es,
durfte man auch in Preußen etwas unzweideutiger den Verdacht aus-
sprechen, daß Peter ermordet worden war. Und zwar ist es ein
ehemaliger Regimentsauditeur der preußischen Armee, der spätere
Buchhändler Christian Friedrich Schwan gewesen, der in den von ihm
herausgegebenen „Briefen eines teutschen Offiziers an seinen
Freund“ zum ersten Male, soweit wir sehen, offen aussprach, Peter
habe „die ganze Bitterkeit eines gewaltsamen und unrühmlichen
Todes geschmeckt“).
Aber gleichzeitig nahm Schwan in seinem Buche die Carin auf
das energischste gegen die tatsächliche und geistige Urheberschaft
des Mordes in Schub: Nicht Katharina hatte den Befehl zur Ermor-
des Excaren gegeben oder auch nur einen solchen entfernten Ge-
danken gehabt, da sie doch nicht „allem Gefühl der Tugend und
Menschlichkeit“ entsagen konnte*), sondern ihre Umgebung, ihre
Mitverschworenen waren es, die weiter schauten als sie und fürch-
teten, die Carin könne sich mit dem entthronien Gatten wieder aus-
söhnen und ihn als Mitregenten anerkennen. Die Furcht der Ver-
schwörer aber, Katharina könne die Staatsumwälzung bereuen und
sie deshalb „mit einem verächtlichen Auge“ ansehen, habe diese zu
der fiuchwürdigen Tat veranlagt, um zu verhindern, daß nach einer
etwaigen Aussöhnung Katharinas mit ihrem Gemahl sie selber die
Opfer dieses Kompromisses würden. So sahen sie sich genötigt,
sich „der Person eines Prinzen zu enfledigen, von dem sie heute oder
morgen den Lohn ihrer Verbrechen beständig erwarten mußten“).
Aus der Veranlagung von Katharınas Wesen, aus der Vornehmhcit
ihres Charakters, aus der Aufrichtigkeit ihrer Trauer, mit der sie um
das Schicksal ihres Gatten klagte, aus der Arglosigkeit ihrer Seele
31) Bilbasov: Weltliteratur, Bd. I, S. 27 f.
_ 3) (Christian Friedrich Schwan.) Russische Anekdoten oder Briefe
eines teutschen Offiziers an einen livländischen Edelmann, worinnen die
vornehmsten Lebensumstände des russischen Kaisers Peter Ill. nebst dem
unglücklichen Ende enthalten sind. Wandsbeck 1765 von C. F. S. de la
1 S. Bars 212. Vgl. andere Auflagen bei Bilbasov: Weltliteratur,
r.
11
glaubte Schwan hinreichend beweiskräftige Argumente eninehmen zu
können, um die Carin von der Mitschuld an der Ermordung Peters Ill.
freizusprechen. „Ein jeder, dem der Charakter der jebi regierenden
Kaiserin bekannt ist, wird darin mit mir übereinstimmen, daß diese
Fürstin zu dergleichen unerhorien Handlungen nicht fähig sey. Wenn
sie auch nach dem Zepter gestrebet, so hat sie doch niemals ver-
sucht, durch grausame Wege dahin zu kommen und selbigen mit
Blut zu färben®).“ Dieser Reinigungseid, den Schwan für die Carin
bereits zu einer so frühen Zeit wie 1764 leistete, erscheint um so
merkwürdiger, als sich Katharina bisher dem Auslande gegenüber
noch nicht ihren berühmten, wohl aber einen berüchtigten Namen
gemacht hatte. Wir gehen daher wohl nicht fehl, wenn wir annehmen,
daß das sich anbahnende engere Zusammengehen der russischen und
preußischen Politik, wie es z. B. bei der Wahl Stanislaus August Po-
niatowskis zum König von Polen bereits in Erscheinung getreten
war, diesen „teuischen Offizier“, oder besser gesagt, diesen Preußen
bewog, für die preußische Bundesgenossin eine Lanze zu brechen.
Zudem ist es auffällig, wie die allgemeine Beurteilung Schwans
(nicht seine moralische Begründung im einzelnen) sich mit der Auf-
fassung Friedrichs des Großen deckt, die dieser dem französischen
Gesandten am Petersburger Hofe, Segur, als er sich 1784 auf der
Durchreise nach Petersburg in Berlin aufhielt, kundgab: „Das Pu-
blikum ist im Irrtum, denn man kann der Kaiserin, wenn man gerecht
sein will, weder die Ehre noch das Verbrechen dieser Umwälzung
zuschreiben. Katharina war noch nicht imstande, selbsttätig zu
handeln. Sie warf sich denen in die Arme, die den Willen hatten,
sie zu retien... Sie glaubte als unerfahrene junge Frau, es sei
mit ihrer Befreiung und Krönung alles vorbei. Ein so kleinmütiger
Feind (wie Peter Ill.) schien ihr nicht gefährlich. Aber die Orlovs
waren kuhner und klüger. Sie wollten nicht, daß man den Kaiser
zu einer Waffe gegen sie gebrauchen konnte, und ermordeten ihn.
Die Kaiserin wußte nichts von diesem Verbrechen und erfuhr es mit
ungeheuchelter Verzweiflung®).“
Wir dürfen wohl annehmen — vorausgesetzt, daß der keineswegs
immer zuverlässige Segur die Auffassung Friedrichs des Großen
richtig wiedergibt —, daß diese Worte gesprochen wurden, um den
Weg zu Katharinas Ohren zu finden, und das zu einer Zeit, wo die
preußisch-russischen Beziehungen gespannt waren. Wir wollen zwar
nicht die Vermutung aussprechen, daß Schwan wie später Segur
durch dieses Urteil des Königs gewissermaßen inspiriert worden sei,
aber doch wenigstens auf diese Übereinstimmung der Auffassungen
hindeuten.
In gewissem Betracht erscheint Schwans Verteidigung als Vor-
laufer einer neuen Phase in der Beurteilung des Thronumsturzes
Katharinas Il. Aber seine Verteidigung der Carin wäre in der da-
28) Ebd., S. 214.
20) Friedrich des Großen Denkwürdigkeiten, zusammengestellt von
Franz Eyssenhardt, Bd. II (1910), S. 525.
12
maligen deuischen öffentlichen Meinung doch wohl nur ein verein-
zelter Fall geblieben, wenn nicht die Carin durch ihr Eintreten fur
die Dissidenten in Polen (1765), ihren scheinbar im Dienste des To-
leranzgedankens geführten Türkenkrieg von 1768—74 und durch ihre
„instruktion zur Abfassung eines neuen Gesefbuches” selber das
Wesentlichste getan hätte, um den Makel ihrer Thronbesteigung weg-
zuwischen.
Der Jubel der deutschen Zeitgenossen, der alle diese Taten
Katharinas begleitete, konnte begreiflicherweise auf die Behandlung
der Frage nach der Mitschuld der Carin an Peters Ermordung nicht
ohne Einfluß bleiben. Bei der Verhimmelung Katharinas, die zeit-
weilig in Deutschland geradezu Modesache geworden war, war man
nicht nur willens, Katharinens Mittäterschaft gänzlich zu bestreiten,
sondern ging sogar so weit, daß man die Ermordung Peters Ill.
geradezu leugnete. In mehreren Schriften, die damals über Rußland
und Katharina erschienen sind, traten die Verfasser den Ausführun-
gen von Katharinas Manifesten bei und versicherten, Peter Ill. ware
eines natürlichen Todes gestorben”). Freilich sind solche den tat-
sächlichen Sachverhalt verdrehende Behauptungen wohl auch von
denen, die sie in die Welt setzten, nur in den seltensten Fällen ernstlich
geglaubt worden, sondern sind entweder als der fromme Betrug
enthusiastischer Verehrer oder weniger harmlos als gewinnsüchtige
Manöver beiriebsamer Literaten anzusehen, die sich dadurch Ka-
tharinas Erkenntlichkeit sichern wollten. Sehr lustig hat Horace
Walpole, die Rahmenerzählung der Märchen von 1001 Nacht paro-
dierend, das Treiben dieser Kreise verspottet: „Der Kaiser war nun
fest eingeschlafen, und sobald die Prinzessin und der erste Ver-
schnittene es bemerkten, packten sie ihm einige Kopfkissen auf das
Gesicht und hielten sie da so lange fest, bis er erstickt war. Nachdem
sie sich überzeugt haften, daß er todt sey, stürzte die Prinzessin mit
allen Zeichen der Verzweiflung und Bekümmernis in den Divan, wo
sie sogleich als Kaiserin ausgerufen wurde. Man gab vor, der Kaiser
wäre an einer Hämorrhoidalkolik gestorben, und die Kaiserin er-
klärte, daß sie aus Achtung für sein Andenken sich sirenge an die
Grundsäße halten würde, nach welchen er regierte. Demzufolge
heiratete sie jede Nacht einen neuen Mann, aber sie erließ es ihnen,
Geschichten zu erzählen, und wenn sie sich gui betrugen, so gefiel
es ihr auch huldreichst, die Hinrichtung auszuseken. Sie sandte Ge-
schenke an alle Gelehrten in Asien, und diese ermangelten zur
1 (Joh. Friedr. Schmidlin), Geschichte des gegenwärtigen Krieges
zwischen Rußland, Polen und der ottomanischen Pforte, Teil I (1771), S. 57.
— (Ranfft): Die merkwiirdige Lebensgeschichte des unglücklichen Peters ill.
sami vielen Anekdoten des russischen Hofs von einem Freunde der Wahr-
heit (1773), S. 320 ff. — Lobrede zur Ehre Katharine der Zweyten, der mit
Lorbeeren bekranzten Kayserin und Gesebgeberin von Rußland an ihrem
hohen Namenstage, dem 24. Nov. 1774, gehalten von Th. v. Tomansky,
Kob.-Pr. 1774, S. 27 f. — Vogl. Eloge historique de Catherine Il. par (Lan-
rıınais) Londres 1776 bei Bilbasov: Weltliteratur, Bd. I, Nr. 302. — M. E.
Tozen: Einleitung in die europ. Staatenkunde. Bd. II (1785), S. 916 u. a. m.
15
Wiedervergeltung nichi, sie für ein Muster von Milde, Weisheit und
Tugend auszuschreyen, und obgleich die Lobeserhebungen der Ge-
lehrten gewöhnlich so plump als ekelhaft sind, so wagten sie es doch, ihr
zu versichern, daß das, was sie schrieben, so dauerhaft wie Erz seyn
und das Gedächtnis ihrer kayserlichen Regierung bis auf die spätesie
Nachwelt kommen werden).“ Trockener brachte Gatterers „All-
gemeine historische Bibliothek“ von 1770 in dem lakonischen Sage:
„Sein (Peters) Tod wird, wie gewöhnlich, einer Hämorrhoidalkolik
zugeschrieben,“ ihre Distanz zu den schwindelhaften Produkten der
Tagesliteratur zum Ausdruck vl.
Schien der Mehrzahl der deutschen Zeitgenossen die Schuld an
dem Rop3aer Morde unmittelbar nach seinem Bekanntwerden auf
Katharina allein zu lasten, so verlor diese Auffassung in dem Maße,
wie sich die Regierung der Carin entwickelie, wie sie in ihrer aus-
wärtigen, in den Mantel der Toleranzidee gehüllien Politik Erfolg
über Erfolg errang, wie sie eine Reform nach der anderen in einem
so schwer zu reformierenden Lande wie Rußland ins Leben rief, an
Glaubwürdigkeit. Eine so erhabene, tolerante und humane Fürstin
erschien eines so abscheulichen Verbrechens wie des Gaffenmordes
einfach nicht fähig. Überdies mußte die Glaubwürdigkeit der früheren
Auffassung noch dadurch erschüttert werden, daß sich nun auch neue
Zeitgenossen zum Worte meldeten, die wie der preußische General-
leuinant Graf Hordt gewissermaßen als kompetente Beurteiler er-
klären konnten, auch der persönliche Eindruck, den sie von der Carin
empfangen hätten, schließe jeden Verdacht der Beteiligung an den
Rop3aer Vorgängen aus. Graf Hordt hatte als Kriegsgefangener die
aufregenden Tage der Palasirevolution in Petersburg mitgemacht
und 1770, als er den Prinzen Heinrich auf der Reise an den carischen
Hof begleitete, Gelegenheit gefunden, mit Katharina über die dunkle
Periode ihres Regierungsanfanges zu sprechen. Bei dieser Unter-
haltung — so berichtet er in seinen 1788 zu Berlin erschienenen
Memoiren — konnte er beobachten, mit welcher Wahrhaftigkeit und
Schlichtheit die Carin von dem Ereignisse erzählte und wie empört
sie war, unter dem Verdachte der Mitschuld zu stehen: „Ses discours,
ses yeux, son visage, son attitude, tout alors peignoit la vive émotion,
que cette grande princesse éprouvoit au fond de son cœur. Je
voyois la candeur, la bonne foi, la vérité, la simplicité dans tout son
r&ecit®).“ Für den Eindruck, den eine solche Bürgschaft für die Rein-
heit Katharinas auf die Zeitgenossen machte, ist es bezeichnend, daß
die Ausführungen des Grafen Hordt in spätere zeitgenössische Dar-
stellungen des Lebens der Carin iibergingen**).
ss) Historisch-literarische unterhaltende Schriften. Übersebt von A. W.
Schlegel (1800), S. 339 f.
=) Bd. XVI (1770), S. 127.
se) Graf Hordt: Mémoires d'un gentilhomme suédois (erstm. 1788), Bd. Il
(1805 2), S. 194 f.
81) Ohne Angabe der Quelle in r aus dem ablaufenden
achizehnten Jahrhundert, Bd. I (18000, S
14
War es aber den Zeitgenossen, wie wir sahen, im Verlaufe der
Regierung Katharinas zum Bedürfnis geworden, die Carin von der
Mitiäterschaft an dem Morde von Rop3a zu entlasten, so wurde
dieses Bedürfnis doch nicht bloß in der primitiven Weise befriedigt,
daß man die anstößigen Tatsachen durch Ableugnung oder Ver-
drehung derselben aus der Welt zu schaffen trachiete. Vielmehr
suchten die ernsihafteren Naturen unter den deutschen Publizisien
nach einer Begründung ihrer Rechtfertigung Katharinas, die den
erhabenen Vorstellungen, die sie sich von der Carin machten,
adaquater und kongenialer war als die Gründe, die Katharina zu
ihrer Verteidigung in ihren Manifesten ins Feld geführt hatte. Für
diese Richtung waren nicht mehr die einzelnen Tatsachen und Begleit-
umstande der RopSaer Tragödie, die Selbsthilfe Katharinas, die
Bluttat der Orlovs, die sie um sich dulden mußte, und dergleichen
das Wesentliche und Entscheidende; für diese Richtung genügte es,
daß diese an sich gewiß düstere und beklagenswerte Episode einem
so großen Herrschergenie wie Katharına in das Feld ureigensier
Betätigung die Bahn brach®®).
Es verbreitete sich unter diesen deutschen Bewunderern der
Kaiserin immer mehr die Überzeugung, daß Peter Ill. durchaus nicht
der bedeutende Herrscher und der wertvolle Mensch gewesen sei,
als welchen man ihn zunächst — wenigstens in Preußen — allgemein
gefeiert und betrauert hatte. Je mehr die Glorie der von vollem
Erfolge gekrönten Carin emporstieg, desto dunklere Schatten fielen
auf die Gestalt des Gescheiterten. Katharina ist nicht die erste ge-
wesen, die in ihren Memoiren das belastende Material gehäuft hat,
durch welches der Excar später vor der Welt zu dem Trottel ge-
stempelt wurde, der er doch keineswegs war’). Lange bevor die
streng gehuteten Memoiren der Carin, die nur in Rußland in ein paar
verheimlichten Abschriften kursierten, durch Alexander Herzens Ver-
öffentlichung aus dem Jahre 1859 in Europa bekannt wurden”), ja
noch ehe die Kaiserin an die Niederschrift der ihren Gemahl vor-
nehmlich belastenden Partien ihrer Denkwürdigkeiten ging, stand für
ihre deutschen Zeitgenossen das Porträt Peters Ill. bereits in der
Gestalt fest, die es später in den Memoiren Katharinas annehmen
sollte. Alle die unschönen Züge ihres Gatten, die die Carin in der
Charakterschilderung ihres Gemahls unterstrich: seine unritterliche
Brutalität, seine erotischen und alkoholischen Ausschweifungen, vor
allem aber seine Willensschwäche und Energielosigkeit waren den
damaligen deutschen Zeitgenossen bereits wohlbekannte Erscheinun-
23) Vgl. Mursinna: Katharina Il. in Galerie aller merkwürdigen Menschen.
ne (1804), S. 38 f. — Kurzgefaßte Lebensgeschichte Katharinas Il.
å Dr N Salemann: Geschichte Rußlands unter Kaiser Nikolaus I., Bd. |
9) Vgl. die Einleitung zu den Memoiren der Kaiserin Kath N. Hr
Se rin Katharina $g.
15
gen’) und wurden von ihnen bei ihrer Kontrastierung der beiden
Persönlichkeiten voll ausgenußkt. Nichts wurde aber Peter in der
damaligen deutschen öffentlichen Meinung so sehr verübelt als der
Umstand, daß er sich im Gegensatze zu seiner heroischen Gemahlin
bei der Thronumwälzung nicht wie ein Mann bewährt, sondern die
Rolle eines elenden Feiglings gespielt hatte. Ein Vorwurf, den
— wenn wir Segur vertrauen — auch Friedrich der Große gegen
seinen einstigen Bewunderer im höchsten Maße erhob. Friedrich hat
ihn nach den Ségurschen Memoiren in das Bonmot gekleidet: „Er
(Peter) ließ sich vom Throne stoßen wie ein Kind, das man ins Beit
schickt?®).“
Wie ablehnend und feindselig die damaligen Deutschen dem
russischen Exkaiser gegenüberstanden, zeigt das Wort eines so
objektiven und unbestechlichen zeitgenössischen Historikers wie
Ludwig Timotheus Spittler, das von Peters „völliger Geistesimpotenz“
sprach?). Ein enthusiastischer Verehrer der Carin aber wie der
Königsberger Stadtprasident Theodor Gottlieb von Hippel, der 1760
als Student in Petersburg gewesen war, wollte von sich behaupten,
er hätte es schon damals vorausgeahnt, daß Peter niemals zum
Throne gelangen oder doch nur kurze Zeit Herrscher von Rußland
sein würde: „Immer bild ich mir ein, daß ich ihre (Katharinas) ganze
gegenwärtige Größe schon in ihr als Großfürstin erblickt habe,
wenigstens können es mir alle meine Freunde bezeugen, daß, so jung
ich gleich war, ich jedennoch allen Menschen versicherte: Peter Ill.,
der sich mir damals als ein üppiger preußischer Fähndrich vorspie-
gelte, würde entweder gar nicht den Kaiserthron besteigen oder sich
nicht auf demselben erhalten].“
Hatten die deutschen Zeitgenossen Katharina, wie wir sahen,
von dem Verbrechen an der Ermordung Peters Ill. freigesprochen
und ihr zum mindesten das moralische Recht, den Thron zu besteigen,
auf Grund ihres eigenen Herrschergenies und der herrscherlichen wie
menschlichen Minderwertigkeit ihres Gemahls zuerkannt, so fanden
sie sich schließlich auch mit dem heiklen Punkte ab — an den sie
im allgemeinen nicht gern erinnerten —, daß von Rechts wegen
der Thron ihrem Sohn Paul gehörte, und daß sie nur bis zur Groß-
jährigkeit desselben als Regentin hätte herrschen dürfen Aber
auch aus dieser Verlegenheit ließ sich ein Ausweg zugunsten Ka-
tharinas finden. Denn schließlich war die Carin nicht die erste
Selbstherrscherin aller Reußen gewesen, die sich den Thron mit Ge-
ss) Allgemeine deutsche Bibliothek, Bd. LXIX, Teil 1, S. 7. — Von späte-
ren ns 12 Forster: Kurze Übersicht der Regierung Kaiserin Katha-
rina
se) Eyssenhardt: Friedr. d. Gr. Denkwürdigkeiten, a. a. O. Bd. Il, S. 525 f.
87) Sämtliche Werke hrsg. von Wachter-Spittler, Bd. IV (1828), S. 364. —
Zeichnungen eines Gemähldes von Rußland (Celle 1798), S. 176. ~ Dav
eu Geist und Charakter des achizehnten Jahrhunderts, Bd. II (1801),
= Samftliche Werke Bd. XII (1835), S. 123.
16
walt angeeignet hatte. Vielmehr war bei der Nichtexistenz einer
Thronfolgeordnung in der langen Reihe der Nachfolgerinnen Peters
des Großen kaum eine anders als durch einen Staatsstreich zur
Herrschaft gelangt. Warum sollie sich aber der Ausländer über die
ion des Carenthrones durch Katharina ereifern, wenn das
russische Volk sich selbst nicht gegen die Herrschaft der Kaiserin
auflehnte, sondern sie im Gegenteil noch begünstigt und gebilligt
halte").
Andererseits boten, als seit dem Ende der achtziger Jahre ein
betrachilicher Teil der deutschen Publizistik der russischen Carin nicht
mehr mit dem gleichen Wohlwollen gegenübersiand wie in den
beiden voraufgegangenen Jahrzehnten, die illegitimen Thronrechte
Katharinas und die skandalösen Anfänge ihrer Regierung natürlich
das erwünschteste und wirksamste Material, um die Kaiserin sowohl
in staatsrechilicher als in moralischer Beziehung auf das schwerste
zu belasten. So wurden von ihnen alle Einzelheiten des Sturzes
und der Ermordung Peters Ill. weidlich dazu benubt, um das deutsche
Publikum von dem Gemeinen, Gewissens- und Skrupellosen in Ka-
tharinas Wesen zu überzeugen.
Was die ältere Generation der deutschen Zeitgenossen einst für
glaubhaft gehalten hatte, nämlich, daß die Carin bei der Nachricht
von dem Tode ihres Gemahls Schmerz und aufrichtige Rührung
empfunden hätte, das wurde von der jüngeren als die Höhe von
Zynismus und Heuchelei betrachtet. Für sie war es unmöglich, „sich
des Lachens über den Schmerz und die Betrübnis der unschuldigen
Katharina zu enthalten“, und „erstaunen muß man über den hohen
Grad von Unverschämtheit, mit welcher sie der Welt ein Märchen
erzählen kann, das von dem Kummer über den Tod ihres Gemahls
handelt — über den Tod des Mannes, an dessen Leichnam jedermann
die Spuren der Erdrosselung wahrnahm*). Sie war es, die Peter
„den Becher des Todes“ zu leeren befahl und ihm gleich einem ver-
achteten Verbrecher begegnete, ohne sich des Gatiengefihles zu
erinnern. Sie „voller schwarzen Hochverrates“ enisiieg „einer
furchtbaren Machi“, „schwang die Mordfackel in der blutigen Hand“,
sekte eine geraubte Krone „auf ihr Haupt voller Liste und Ranke"
und legte den Purpur „um einen Busen, der, von Lastern verschlämmt,
jeglichem guten Gefühle den Eingang versperrt hatte*:)“.
Wenn auch diese Worte ein persönlicher Feind Katharinas
— Kaspar von Saldern, der infolge Unstimmigkeiten mit der Carin
aus dem russischen Staatsdienste scheiden mußte — geprägt hat und
in seiner Biographie über Peter Ill. vielleicht nicht so sehr aus der
fürstenfeindlichen Stimmung seiner Zeit als mehr aus rein persön-
lichen Motiven heraus gegen die Carin auftrat, so überbieten diese
ss) Schwan, a. a. O. S. 203. Zeichnungen eines ee a. a. O. S. 12
und 181 f. — Mursinna, a. a. O. S. 42. — jenisch, a. a. O. S
ee) Kaspar v. Saldern: Biographie Peters Ill. (1800), 5. = f.
a) Ebd., S. 117 l.
1 ur s 17
Tiraden seines Pamphlets in nichts die Anwürfe, denen Katharina
von seiten der radikalen deutschen Publizisten um das Jahrhundert-
ende sowohl bei ihren Lebzeiten als noch über das Grab hinaus
ausgesetzt war. Die Angriffe der Verleumder Katharinas haben
natürlich auch eine Flut von Gegenäußerungen der Verteidiger der
Carin hervorgerufen. Aber diese verfuhren vielfach so ungeschicki
wie möglich, indem sie die alte Mär wieder vorbrachien, der Car
wäre eines natürlichen Todes gestorben“), eine Versicherung, die,
wie wir sahen, auch zur Zeit des höchsien Ruhmes Katharinas nie
wirklich geglaubt worden war.
Außer der Ermordung Peters Ill. haben die Widersacher der
Carin noch zwei andere ähnliche Geschichten aus den Anfängen
der Regierung Katharinas aufgewärmt, die, damals noch nicht ge-
nügend historisch aufgeklärt, Katharina ebenfalls in hohem Maße
zu diskreditieren imstande waren. Die Geschichte des sogenannten
Schlüsselburger Aufstandes“), dem der unglückliche, von der Kaiserin
Anna zu ihrem Nachfolger designierie, von der Carin Elisabeth aber
entihronte und seit seinen Kindertagen in strenger Kerkerhaft ge-
haltene Prinz Ivan Antonovié aus dem Braunschweigischen Hause
zum Opfer fiel, und die Geschichte der sogenannten Prinzessin
Tarakanov, von den Zeitgenossen nach ihrem Aufenihalisorte als
Prinzessin von Toskana bezeichnet, die hier während des ersten
Türkenkrieges auftrat, sich für eine natürliche Tochter der Carin
Elisabeih ausgab und Anspruch auf die russische Krone geltend
machie. Katharina, die noch den Aufstand des Kosaken Pugatev
niederzuschlagen hatte, fürchteie diese Abenteurerin und erteilte
ihrem Admiral Aleksej Orlov den Befehl, die Pratendentin zu inhaf-
tieren. Während einer Flottenschau bei Livorno wurde sie auf das
Admiralsschiff gelockt, gefangengesekt und nach Petersburg ge-
bracht, wo sie bald darauf im Gefängnis an der Schwindsucht
verstarb»).
Während die Revolie in Schlüsselburg — wie ein glaubwürdiger
Zeitgenosse versichert“) — anfangs in Westeuropa den Verdacht
aufkommen ließ, als ob die Carin den Aufstand in Szene gesebt
hätte, um sich eines lästigen Nebenbuhlers zu enfledigen, so schenk-
ten die Verehrer der Carin den nach diesem Geschehnis erlassenen
Manifesten ihr volles Vertrauen und betrachteten den Aufstand als
82) z. B. Erich Biester: Abriß des Lebens und der Regierung Kaiserin
au ll. von Rußland (1797), S. 41. — Kurzgef. Lebensgesch, a. a. O.
.37 u. a. m.
43) Bilbasov, Geschichte, a. a. O. Bd. Il, S. 445 fl.
4) Alex. Brückner, a. a. O. S. 208 f.
«) Büschings vagazin für die neuere Historie und Geographie. Bd. VI
(1771), S. 535. — Vgl. 8 Nachrichten von den fraurigen Schicksalen
zweener unglücklicher Prinzen Peters Ill. und Ivans Ill. (1764), S. 3 fl.
18
— — —y— Bi So
— | nn —
einen unglücklichen Zufall“). Die Inhaftierung der „Prinzessin“ aber
wer so wenig aufsehenerregend vor sich gegangen, daß man hier
wohl kein Wort der Anklage gegen die Carin erhob].
Die radikalen Publizisten gegen das Ende von Katharinas
Lebenszeit vermochten diese beiden Ereignisse um so mehr für ihre
Zwecke auszuschlachten, als diese ja beide in derselben Richtung
wie die Ermordung Peters Ill. wirkten, und der Effekt des einen den
des anderen noch erheblich zu steigern vermochte. So stellte man
die russische Carin dar „von einer Horde Banditen umgeben“ e), und
emer der Wortführer der radikalen Richtung spoffete über den
Gegensag in Katharinas Regierungsprinzip, der sich darin offenbare,
daß die Carin öffentlich vor ihrem Popenvolke die Knie beugte, im
stillen aber eine organisierte Mordbande mit Strick und Beil zur
Stützung ihres Thrones arbeiten ließ).
Aber während die Extremen unter den Bewunderern und Wider-
sachern Katharinas sich noch einander aufs heftigste befehdeten
und jeder von sich behauptete, das echte Katharinabild zu besiken,
bahnte sich bereits eine gerechtere, Licht und Schatten auf beide
Seiten gleichmäßiger verteilende Beurteilung der russischen Thron-
revolution von 1762 an. Denn damals sammelte schon der sächsische
Legationssekretär G. W. von Helbig in Petersburg Material zu seiner
Lebensgeschichte Peters des Dritten, die den entihronten Caren
ohne Gehässigkeit gegen die russische Kaiserin in der öffentlichen
Meinung rehabilitierte und noch heute den Anspruch erheben darf,
als einzige Lebensgeschichte Peters Ill. von Belang zu gelten»).
“) Catharine Il, Darstellungen aus der Geschichte ihrer Regierung
(1797), S. 96: „Es ist bekannt, daz man den Hof in Verdacht gehabt hat, als
wenn er selbst die Verschwörung erregt hätte... Diese Meinung ist aber
mcht sehr wahrscheinlich, denn wenn Catharina Iwans Tod gewiinscht hiitte,
so würde sie nicht das dritte Jahr ihrer Regierung abgewartet haben und
a ome Pine Mittel wählen können, deren Erfolg sicher war und doch
verborgen r
#) Außerungen der älteren Aufklärung über diesen von der russischen
Regierung mit größtem Geheimnis behandelten Vorfall (vgl. Brückner
a. a. O., S. 215) habe ich nicht finden können. Von späteren vgl. vor allem
Saldern, a. a. O. S. 194 ff. — Mursinna, a. a. O. S. 70 f., berichtet im Anschluß
an Castéra: Vie de Cathérine, Paris en Vill, Bd. Il, S. 1, daß die „Prin-
zessin” bei einer Überschwemmung der Neva im Gefängnis ertrank: „Wir
glauben indes zu Katharinas Ehre gern, daß sie weiter keine Absicht hatte,
als sicher vor jeder Unternehmung der Prinzessin zu sein, und daß die
übrigen Leiden, welche diese unglückliche Person im Gefängnis erduldete.
nur eine Folge der Behandlung derer gewesen sind, denen die Bewahrung
derselben anvertraui war.’
43) Saldern, a. a. O. S. 112.
a) Obskurantenalmanach Jg. 1798, S. 304 f. — Katharine vor dem Richter-
stuhle der Menschheit (1797), S. 7 f.
se) Biographie Peter des Dritten, 2 Teile (1808).
Kapitel IL.
Die orientalische Politik Katharinas I. und die deutsche öffentliche
Meinung.
1
Im Oktober 1768 hatte die Pforte an Rußland den Krieg erklärt.
Den lebten Anstoß zur Kriegserklärung hatte die Verletzung der
türkischen Neutralität durch Zaporoger Kazaken gegeben, die bei der
Niederwerfung der Barer Konföderation durch die Russen polnische
Konföderiertenbanden über die Grenze gedrängt und das türkische
Städtchen Balta geplündert und niedergebrannt hatten. Obwohl also
eine offenbare Neutralitäts- und Grenzverlekung durch die Russen vor-
lag, bekundeten die deutschen Zeitgenossen Katharinas von vornherein
eine einseitige Parteinahme für die Carin, indem sie die Türkei allein
für den Kriegsausbruch verantwortlich machen wollten. Sie erklärten
übereinstimmend, daß dieser Vorfall nicht bedeutungsvoll genug
gewesen sei, um der Pforte das Recht zu gewähren, die Kriegsfackel
daran zu entziinden. Hätte sie friedliche Absichten gehabt, so wäre
dieser Zwischenfall auf diplomatischem Wege wohl sehr leicht bei-
gelegt worden’). Es war aber — wie die deutschen Zeitgenossen
meinten — den Türken lediglich darum zu tun, Rußland zu überfallen,
um seine für ihr Reich bedrohlich gewordene Machtfülle zu brechen®).
In den späteren Erörterungen des Zeitalters über die Kriegsschuld-
frage tritt dann noch als neues Moment die Behauptung hinzu, die
Türkei habe nicht aus eigener Initiative gehandelt, sondern auf Be-
treiben Frankreichs und der Barer Konfoderierten den Krieg be-
gonnen®). Jedenfalls ging die übereinstimmende Überzeugung der
deutschen Mitwelt Katharinas dahin, daß die Türkei allein der schul-
dige Teil an dem Ausbruche dieses Krieges sei, während Rußland als
durchaus friedliebend erschien und seine Carin als eine Herrscherin,
die mehr Wert darauf legte, ihrem Volke Ruhe und Frieden zu
sichern, als ein zweifelhaftes Kriegsglück auf die Probe zu stellen.
1) Geschichte des gegenwärtigen Krieges zwischen Rußland, Polen u. d.
ottoman. Pforte. Aus dem Hal. übers. v. Joh. Fr. Schmidlin, Teil U (1771),
S. 2. — Schauplatz des gegenwärtigen Krieges zwischen Rußland u. d. Pforte.
Bd. 1 (170), S. 1. — Auch die späteren Darstellungen des Türkenkrieges ın
den zeitgen. Biographien Katharinas, z. B. Erich Biester: Abriß des Lebens
u. d. Reg. d. Kais. Katharina Il. (1797), S. 135 f., oder: Seume, Samtl. Werke.
hrsg. v. A. Wagner (1837), S. 450, vertreten die gleiche pay ee — Vgl.
auch Historisch-genealogischer Kalender auf d. Gemeinjahr 1798, S
) Schmidlin, a. a. O., Teil Il, S. 2. — Schauplag, a. a. O., Bd. L N 25. —
Von späteren: Gesch. u. Ursachen der Kriege zwischen den Russen und
Türken, auch Preußen u. Holländern usw., Bd. I (1787), S. 18. — Joh. Friedr.
re Weg Königin im Norden (1798), S. 303. — Hist.-geneal. Kal..
a. a 90 Í.
3) Berl. Monatsschrift Bd. X (1787), S. 503. — Biester, a. a. O. S. 132
und 139. — Frhr. v. Tannenberg: Leben | eee Il. (1797), S. 137. — H. F.
Andrä: Katharina die Zweite (1797), S. 57
20
— a
Wenn es durch die heutige Forschung sichergestellt ist’), daß
des russische Kabinett als Kriegsziel in erster Linie die freie Handels-
schiffahri auf dem Schwarzen Meere anstrebte, ging die zeit-
genössische öffentliche Meinung in den Erwartungen, die sie durch
diesen Türkenkrieg verwirklicht zu sehen hoffte, weit über solche
Plane russischer Realpolitik hinaus und ließ sich durch das siegreiche
Vordringen der russischen Armee, durch die Fahrt der russischen
Flotte ins Mittelmeer und durch die russische Unterstüßung der auf-
ständischen Balkanbevölkerung gern in ihren phantastischen Hoff-
nungen besiarken, der Krieg gelte der Zerstörung der Pforte und
der völligen Vertreibung der Türken aus Europa. Allen voran ging
der greise Patriarch der öffentlichen Meinung Europas, Voltaire, der
nach der Einnahme von Chocim (21. September 1769) Katharina zu-
jubelle: „Te Catharinam laudamus, te dominam confitemur“). Wenn
man natürlich auch bei allen Außerungen Voltaires gegenüber der
russischen Carin immer ein gut Teil von höfischer Schmeichelei und
literarischer Effekthascherei in Abzug bringen muß, so grückte der
Passus, den er in einem anderen Briefe aus dieser Zeit an Katharina
schrieb: er wünsche nichts so sehr, als in dem befreiten Konstan-
finopel zu ihren Füßen zu knien*) — wenigstens was die Befreiung
Konstantinopels betrifft — doch ohne Zweifel einen Herzenswunsch
aus. Und nicht nur einen persönlichen, sondern einen Herzenswunsch
aller Gebildeten seiner Zeit.
Wenn unter den niederen Volksschichten Deutschlands — nament-
lich seiner südöstlichen Provinzen — in der Erinnerung an die Tür-
kennot der letzten Jahrhunderte der Haß gegen „den Erbfeind des
christlichen Namens“) mehr gefühlsmäßig fortdauerte und gleichsam
dumpf nachhallte wie die Klänge der Türkenglocke, „bei deren Schall
auf dem Felde weit und breit unsere Vater ihre Mützen abzunehmen
und ein Vaterunser zu beten gewohnt waren“), so hatte sich diese
auf dunklen und unbestimmien Gefühlen beruhende Feindseligkeit
a) Hans Ubersberger: Rußlands Orientpolitik in den letzten zwei jahr-
hunderten, Bd. I (1913), S. 284.
s) Voltaire: Œuvres publiés par Beuchot, Bd. LXVI (1833), S. 66.
©) Ebd., S. 4.
%) Vgl. F. Behrend: Im Kampf mit dem Erbfeind. In Zeitschr. d. Vereins
. Volkskunde, Bd. XXV (1915), S. 11f. Behrends Behauptung, daß das
historische Schlagwort „Erbfeind“ als Bezeichnung für die Türken seit dem
Ende des achtzehnten Jahrhunderts aus der Literatur verschwinde, muß min-
destens schränkt werden. Vol. z. B. (Johann Rautenstrauch) Tagebuch
d. jebigen ges zwischen Rußland, Osterreich u. d. Pforte, Bd. 1 (1788),
S. 9. — A. Swinton’s Esq. Reisen nach Norwegen, Dänemark und Rußland
ia den Jahren 1788, 1789, 1790 und 1791. Aus dem Engl. übers. u. mit Anmer-
kungen versehen von Friedr. Gottl. Canzler zu Gottingen (1793), S. 178.
©) Christian Fr. Wurm: one. Geschichte der oriental. Frage (1858),
S. 1. — Vgl. auch über die Türkenglocke Zedlers Universal-Lexicon aller
Wissenschaften und Künste, Bd. XLV (1745), S. 1700 f., und H. Wendt: Schle-
sien u. d. Orient (1916), S. 79 und 140f. — J. Gregor: Uber das Läuten der
Türkenglocke und ähnliche Gebräuche in Oberschlesien. In Oberschlesische
Heimat, Bd. IX (1913), S. 97 f.
21
des Volkes bei den Gebildeien unter dem Einfluß der Aufklärungs-
und Humanitatsideen des Zeitalters zu einer kaum weniger starken,
aber inhaltlich viel bestimmteren Abneigung gestaltet. In Gesinnung
und Haltung, Rede und Schrift wirkte sich bei ihnen diese Feind-
seligkeit aus in einem andauernden lauten Protest gegen die Türken
als die schlimmsten Feinde der Zivilisation. Das türkische Staats-
wesen mit seinen auf dem religiösen Fanatismus des Islam beruhen-
den Einrichtungen war ihnen eine der gefährlichsten Brutstätten der
Intoleranz und hatte für sie als solche unter den übrigen Reichen
Europas höchstens noch an Polen seinesgleichen. In Polen aber
hatte Katharina soeben — freilich aus den egoistischsten Motiven
russischer Expansionspolitik — zugunsten der von den katholischen
Magnaten unterdrückten Dissidenten energisch eingegriffen und da-
für das Lob keines Geringeren als des großen Friedrich geerntet:
„Son noble coeur, rempli de bienfaisance aux Polonais préchait la
tolérance“). Kein Wunder also, daß ihr, als sie sich nun mit ihrem
Türkenkriege einer noch weit größeren Aufgabe im Dienste des
Toleranzgedankens und der Menschheit zuzuwenden schien, alle
Sympathien der Gebildeten ihres Zeitalters förmlich zuflogen.
Sicherlich hätte in diesem so ganz von dem Toleranzgedanken
beherrschten Zeitalter auch jeder andere europäische Fürst, der unter
der Flagge eines Feldzuges gegen den islamitischen Fanatismus
einen Türkenkrieg begonnen hatte, die Sympathien der damaligen
gebildeten Welt für sich gehabt. Aber wahrscheinlich hätte ihr kein
anderer, sowohl was die Herrscherpersönlichkeit als auch die beson-
dere Eigenart der Herrschermacht angeht, schon im voraus in gleich
hohem Maße die glückliche Durchführung eines solchen Unternehmens
verbürgt wie Katharina, die Selbstherrscherin aller Reußen. Denn
die Zeitgenossen bewunderten nicht nur die Energie, die Katharina
bei allen Gelegenheiten während ihrer bisherigen Regierung an den
Tag gelegt hatte, sie wußten auch, daß sie an die glorreichen Tra-
ditionen Peters des Großen, der als erster russischer Herrscher die
Türken besiegt, und an die des russischen Feldmarschalls Münnich,
der den Ruhm der russischen Waffen bis in die Krym getragen hatte,
anknüpfen konnte. Vor allem aber hatten sie bereits ein Gefühl da-
für, was es für ihr Unternehmen bedeuten wollte, im alternden
Europa an der Spitze eines noch unverbrauchten jugendlichen Staates
zu stehen). Allem Anschein nach ist Herder der erste gewesen,
°) Œuvres, Bd. XIV (1850), S. 235.
19) Rud. Haym: Herder nach seinem Leben und seinen Werken, Bd. I
(1880), S. 336 f.: „Die Sache ist die, daß sich ihm eben Rußland als ein vor-
zugsweise geeignetes Objekt für den Versuch nationaler Bildung überhaupt
darstellt, daß gerade dieses Reich ebenso bildungsfähig wie pant ls sage
fig ist, und daß hier bereits durch den so hoch von ihm bewunderten Peter
den Großen, neuerdings durch Katharina, das große nationalpa e
Experiment in Ängriff genommen war. In größerer Anwendung kehrt da
der Gesichtspunkt seiner Pädagogik: Verjüngung der menschlichen Seele,
wieder. Seine Idee von Volkererzichung stimmt zusammen mit seinen An-
schauungen von dem Altern der Sprachen und der Dichtungskraft, mit seiner
Forderung, daß auch die Poesie die Wege der Nachahmung verlassen und
22
der diesen Alters- und Entwicklungsunierschied zwischen Rußland
und Europa in seiner zukünftigen Tragweite bewußt begriffen und
ausgesprochen hat. Er hat damit das historische Schlagwort von den
„jungen Völkern“ inauguriert, das dann im 19. Jahrh. als wesentliches
Inventarstiick in die Ideologien der verschiedenen slavischen
„Risorgimenti“ übergehen sollte.
Im Zusammenklingen der einzelnen Motive gestaltete sich das
Bild Katharinas für ihre deutschen Zeitgenossen immer mehr zu dem
der Heroine eines Kreuzzuges, und es gehörte zu ihren Lieblings-
vorstellungen, in der russischen Carin ein Werkzeug der göttlichen
Rache an den Feinden der Christenheit zu erblicken. Bei Schrift-
stellern von sehr verschiedener Herkunft, Stand, Beruf, Denkweise
usw. begegnen wir immer wieder solchen analogen Wendungen wie
„Schußgöttin des Erdkreises“, „nach dem höchsten Willen ausge-
sandte Rächerin und größte Beschüßerin der christlichen Religion“,
„von Gott selbst auserwahite Geibel der Bekenner Mohammeds“
und dergl.*). Man betete für den Sieg der russischen Waffen"), und
als Rückschläge in der Kriegsführung für Katharina ausgeschlossen
schienen, frohlockte man, daß nun „unzählige Menschen“ das „Behüt’
uns für der Türken Mord“ nicht mehr mit der altgewohnten Furcht
zu singen brauchien**).
Indem die Zeitgenossen aber die russische Carin als die Heroine
eines Kreuzzuges feierten, kamen sie ganz von selbst dazu, ihren
Türkenkrieg in den geschichtlidien Zusammenhang des jahrhunderte-
langen Ringens zwischen Christentum und Islam zu rücken. Bei der
souveränen Nichtachtung des rationalistischen Jahrhunderts für
historische Bedingtheiten ist es nicht verwunderlich, daß schon die
Gesinnung und Haltung Katharinas — wie sie den Zeitgenossen er-
schien — sowie einzelne greifbare Erfolge geniigten, um ihr Tun
über alles bisher Geleistete zu erheben. So konnte schon gleich nach
dem glücklichen Verlaufe des Feldzuges von 1769 der anonyme
Verfasser einer Türkenkriegsgeschichte mit naiver Vermessenheit
schreiben: „In den Zeiten der Kreuzzüge vereinigten sich fast alle
christliche Mächte, um den Mohametanern das gelobte Land, welches
sie erobert hatten, wieder abzunehmen; allein sie richteten nichts
aus und mußten endlich, nachdem innerhalb zwey Hundert Jahre über
fünf Millionen Christen darauf gegangen waren, den siegenden
sich durch die Achtsamkeit auf ursprüngliche Nationalpoesie verjüngen und
originalisieren müsse. So erscheint ihm in dem alternden Europa Rußland
als ein noch jugendkräftiges Land, und die Aufgabe zieht ihn an, wie die
Kräfte einer jugendlichen, halbwilden Nation gereift, wie dieselbe zu einem
„Originalvolk“ gemacht werden könne.“
_ 14) z. P. G. Willamov in seinen zahlreichen Oden aus der Zeit dieses
Krieges. Ges. Werke, Bd. I (1793 3). — Vgl. auch Peter Kirchhof: Die Glück-
selgkeit des russ. Staats unter dem sanften Szepter Ihrer jetzt regierenden
Kais. Maj. usw. (1771), S. 112.
13) Briefwechsel der großen Landgräfin Caroline von Hessen. Hrsg. v.
A. Walther, Bd. I (1877), S. 416.
18) J. Bellermann: Bemerkungen über Rußland, Bd. I (1788), S. 315
Mohameianern allenthalben weichen. jekt thut Rußland ganz allein
mehr“). Bewußt im Sinne des Lobredners stattete dann ein lahr
später ein anderer Zeiigenosse diese historische Parallele inhaltlich.
noch weiter aus, indem er ausführte, Katharina sei willens und im-
stande, das Projekt des Papstes Leo X., der 1516 die christlichen
Fürsten zur Eroberung Konstantinopels aufgerufen hatte, oder den
darauf zurückgreifenden „Vorschlag“ des Kardinals Alberoni aus
dem Beginn des 18. Jahrh. „wie das Türkische Reich unter der christ-
lichen Poteniaten Boihmäßigkeii zu bringen“ ganz allein auszu-
führen‘). Man könnte meinen, daß solche einzelnen und an sich
kaum ernst zu nehmenden Zeugnisse für die Zeitstimmung nicht be-
zeichnend wären. Aber die Vorstellung, daß hier eine schwache
Frau ohne Bundesgenossen an die Lösung einer Riesenaufgabe ging,
an der so viele deutsche Kaiser und berühmie Heerführer gescheitert
waren, ließ damals überall — wie der zuverlässige Dohm in seinen
Memoiren überliefert — in der öffentlichen Meinung Katharinas
Unternehmen noch glänzender und großartiger erscheinen und den
Wunsch rege werden, die übrigen Großmächte möchten sich mit der
„edlen Frau“ zur Vernichtung der Türken vereinigen“). Man war
fesi davon überzeugt, daß Katharina wie in Polen so auch hier mehr
für das Wohl der Menschheit, mehr für andere, als für die eigene
Nation kämpfe, und vor der Tatsache, daß die Carin in ihrem
Turkenkriege rein russische Realpolitik trieb, verschloß der Auf-
klarungsoplimismus diesen noch jeden Einblickes in die politische
Praxis enibehrenden Literaten und Journalisten hartnäckig die Augen.
Übrigens hielt sich die Vorstellung, daß Rußland den Türken gegen-
über die Sache der Zivilisation verirete, in Westeuropa — auch in
den liberalen Kreisen — noch lange aufrecht. Erst seit dem Frieden
von Adrianopel (1829) erloschen die Sympathien, mit denen hier auch
die späteren Türkenkriege Rußlands noch vielfach begleitet waren.
Ein Blick mit dem Auge des Zeitgenossen auf ein paar Einzel-
heiten möge noch zeigen, wie sehr infolge der unzureichenden Unter-
richtung über die tatsächlichen Vorgänge und Ereignisse sich die
öffentliche Meinung der Zeit von ihren eigenen Ideen, Vorlieben,
Wunschen leiten ließ, und wie wenig der wirkliche Verlauf der Dinge
ihre vorgefaßten Meinungen zu erschiitiern und zu ändern vermochte.
Es ist ein ziemlich regelmäßig wiederkehrendes Schauspiel in der
russischen Geschichte, daß die Russen auch dann, wenn sie einen
Krieg selber provoziert hatten, beim Ausbruche desselben für die
Kriegsführung nur ganz unzureichend vorbereitet waren. Und ebenso
oft wiederholt sich die Erscheinung, daß die russischen Truppen von
der öffentlichen Meinung Westeuropas bei Beginn eines russischen
34) Schauplak, a. a. O. Bd. l, S. 1f.
18) Vgl. Peter Kirchhof, a. a. O. S. 112.
10) Christian W. Dohm: Denkwürdigkeiten meiner Zeit, Bd. II (1815), S. 16.
17) Raisonnement über die Vor- und Nachtheile Rußlands u. d. Pforte
aus dem im Lager des Feldmarschalls Grafen Rjumanzow unweit Silistria
in Bulgarien anno 1774 geschloss. Frieden (1775), S. 13.
24
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Krieges in der Regel überschätzt wurden. Die einzige Ausnahme von
dieser Regel bildet vielleicht nur der Ausbruch des Weltkrieges. Da-
mals verlief die russische Mobilmachung glänzend, und die russische
Armee wurde zweifellos bei uns unterschäßt!®). Die russische Mobil-
machung beim Ausbruche des ersten Turkenkrieges unter Katharina
war dagegen durchaus von den obengenannten, in der russischen
Geschichte typischen Erscheinungen begleitet. Einen so genauen
Einblick in die Verfassung und den Zustand der russischen Truppen
wie Friedrich der Große, der 1769 seinen Adjutanicn, den Grafen
Viktor Henckel von Donnersmarck, auf den Kriegsschauplatz entsandt
hatte, besaßen auch wohl von den übrigen Kabinetten nur wenige“).
Der Bericht des Grafen an den König?) war vernichtend genug fur
das russische Heerwesen ausgefallen und hatte Friedrich das spot-
tende Resumee entlockt: Der Feldzug von 1769 gleiche dem Kriege
der Einäugigen gegen die Blinden, wobei die ersteren immer den
Sieg davontrugen*’).
Ganz anders lautete das Urteil bei der überwiegenden Mehrheit
der deutschen Zeitgenossen. Sie sprachen zwar davon, daß die
Carin durch die türkische Kriegserklärung überrascht worden war;
aber sie wollien darum noch keineswegs zugestehen, daß sich ihre
Truppen bei Kriegsausbruch in einem schlechten Zustande befunden
hätten. Vielmehr nannten sie die russische Armee, die sie mit den
römischen Kohorten verglichen”), eine der besten, wo nicht die beste
Europas, im Vergleich zu der die türkische wie „ein entseelter Kör-
per“ erschien. Obwohl Katharina selbst mit ihren Heerführern teil-
weise sehr unzufrieden war und einzelne von ihnen wie den Fürsten
Golicyn wegen seiner völligen Untauglichkeit hatte abberufen
müssen, konnte man in der deutschen Berichterstattung über die
russische Heerführung lesen, daß es den türkischen Paschas im Ver-
gleich zu den genialen russischen Feldherren zwar nicht an glän-
zender Ausstatiung, wohl aber an Klugheit und Erfahrung fehle.
Und um die erste militärische Autorität der Zeit für ihre Auffassung
ins Feld zu führen, erschien unter ihren Außerungen auch die schon
zitierte Floskel Friedrichs des Großen; freilich in völliger Verdrehung
der Worte des Königs. Es wurde behauptet, daß der Konig von
einem Kriege der Hellsehenden und der Blinden gesprochen habe*).
se) A. v. Hedensiröm: Gesch. Rußlands von 1878 bis 1918 (1922), S. 262 f.
39) Vgl. den weniger klaren Bericht des Barons v. Sacken an d. sachs.
Reg. bei E. Herrmann: Gesch. d. russ. Staats, Bd. V (1853), S. 702.
se) Militärischer Nachlaß, hrsg. Karl Zabeler, Bd. II (1846), Abt. IL
S. 1—102. Hierzu vgl. auch die Ausführungen über das Heerwesen in den
Mémoires de M. de Falckenskiold (1826), S. 17, eines den Feldzug als russ.
Offizier milmachenden Dänen.
] Œuvres Bd. VI (1847), S. 24.
23) K. Ph. Snell: Beschreibung d. russ. Provinzen a. d. Ostsee (1794),
S. 5. — Uber den Gegensa zw. russ. u. türk. Kriegsführung äußern sich
noch typisch Schaupla$, a. a. O. S. 52 f.; J. G. v. Boden: Verm. Schriften Bd. |
(1771), S. 5f.; Kirchhof, a. a. O. S. 100.
33) Hist. geneal. Kal, a. a. O. S. 90 l.
25
Der Sieg Golicyns bei Chocim (17./18. September 1769), der den
Russen den Zugang zu den Donaufürstentümern öffnete, die Siege
Rumiancevs bei Larga (18. Juli 1770) und am Kagul (1. August 1770),
denen zufolge die türkischen Festungen Akkerman und Braila fielen,
wurden in den deutschen Zeitschriften, unter denen sich Schubarts
„Deutsche Chronik“ besonders exaltiert gebardete**), mit unermeß-
lichem Jubel als die größten Waffentaten des Jahrhunderts gefeiert.
Aber die begeisterten Sympathien blieben den russischen Heeren
und ihrer Carin auch dann noch hold, als die Kraft der russischen
Waffen zu erlahmen begann und der Krieg sich zwischen und neben
den fruchtlosen Friedenskongressen von Fokschani und Bukarest nur
noch mühsam dahinschleppte. Da wurden dann in den Organen der
deutschen öffentlichen Meinung liebevoll alle die Umstände heraus-
gesucht, zusammengestellt und kommentiert, die geeignet waren, das
Nachlassen der russischen Kriegsführung zu beschönigen: der Druck
der österreichischen Politik, der Aufstand Pugalevs, die Moskauer
Pestepidemie, die polnische Teilung usw.; bis dann die Russen im
lekten Kriegsjahre im nochmaligen Zusammenraffen aller Kräfte am
15. Juli 1774 von den Türken den Friedensschluß von Kuischuk-
Kainardsche erzwangen und nun der gedämpfie Jubel der deutschen
Zeitschriften wieder von neuem in die hellsten Töne der Begeisterung
für die Carin ausbrach: „Der Erdkreis schweigt, es stubt der Ocean,
Und alles weit umher stauni Katharina an“. Mit diesen Worten be-
grüßte Schubarts „Deutsche Chronik“ den Friedensschluß®®).
Weit mehr noch als mit den Taten des russischen Landheeres
beschäftigte sich die Phantasie der Zeitgenossen mit der abenteuer-
lichen Fahrt der russischen Flotte in den Archipelagus. Ungefähr
um dieselbe Zeit, als die Schlacht bei Chocim (17./18. September
1769) geschlagen wurde, war die russische Flotte von Kronstadt auf-
gebrochen, um durch den Sund und die Meerenge von Gibraltar in
das griechische Inselmeer zu segeln und die durch russische Agenten
aufgewiegelien Griechen in Morea von der See aus zu unterstützen.
Dieses Unternehmen Katharinas, das übrigens auch im Conseil der
Carin auf schwere Bedenken gestoßen war“), erschien den da-
maligen Deutschen als so neuartig, so kühn und so vermessen, daß
zunächst niemand so recht daran glauben wollie”). Als aber allen
Zweifeln zum Troße sich die Richtigkeit der ersten Nachrichten davon
bewahrheitete, da war die deutsche öffentliche Meinung anfangs noch
sehr weit davon entfernt, das Projekt Katharinas mit dem gleichen
unbedingten Vertrauen zu begrüßen, mit dem es den Vormarsch der
russischen Armeen bctrachtet hatte. Den deutschen Zeitgenossen
waren zwar noch die Anstrengungen Peters des Großen, sein Volk
24) Schlachigesang eines russ. Grenadiers nach d. Schlacht bei Chozim
1769. In Deutsche Chronik 1774.
ss) Ges. Schriften Bd. VI (1839), S. 178.
») E. Herrmann: Gesch. a. a. O. Bd. V, S. 617.
31) F.C. jebe: Statist. polit. u. galante Anekdoten von Schweden, Lief-
u. Rugland (1788), S. 90.
26
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seetiichtig zu machen, in der Erinnerung; aber sie wußten auch, wie
arg die russische Flotte unter seinen Nachfolgern vernachlässigt
worden war.
Von dem russischen Soldaten hatte man, was Tapferkeit, Aus-
dauer und Genügsamkeit anlangt, die allergünstigste Vorstellung; der
Russe als Seemann aber hatte bei ihnen begreiflicherweise durchaus
nicht die gleiche Geltung»). Dazu kam die lebhafte Vorstellung der
Schwierigkeiten und Schrecken, mit denen damals noch jede Seefahrt
verknüpft war; bot doch schon die noch verhältnismäßig ruhige Ostsee
fur einen erprobien Seefahrer wie Joachim Nettelbeck die größten
Gefahren. Wie hätten da nicht die Tücken von Meer und Wind, die
die junge Flotte mit ihrem im Seewesen noch unerfahrenen Führer
Aleksej Orlov, mit ihren noch unerprobten Offizieren und Mann-
schaften und den schlecht gebauten Schiffen auf einer Strecke von
1500 Meilen erwarteten, als unüberwindlich betrachtet werden sollen.
Dazu kamen endlich historische Erinnerungen an das Scheitern auch
von glänzend ausgerüsteten Flottenunternehmungen wie der spa-
nischen Armada und verstärkten noch diese an sich schon pessi-
mistische Stimmung. Denn es war doch wohl kaum — wie dic „Ber-
linische Monatsschrifi“ behauptete — nur „die große Menge Halb-
kluger. die immer weiter als die kleine Zahl der Manner von Einsicht
und Erfahrung zu sehen sich einbilden“ v), die mit Berechtigung auf
die Leistungsfähigkeit einer neuen Seemacht kein großes Vertrauen
setzten und der russischen Flottenexpedition einen vollen Mißerfolg
prophezeiten. Als aber dann schon die glückliche Fahrt der
russischen Flotte, deren erstes Geschwader nach kurzer Rast an der
englischen Küste im Dezember 1769 in den Hafen von Port Mahon
einlief, diesen Pessimismus Lügen strafte, trat in der deutschen
öffentlichen Meinung ein völliger Stimmungsumschwung ein. Das
Improvisierte des russischen Flottenunternehmens, das den Zweiflern
anfangs das harte Urteil, als handle es sich dabei um eine ,,Spie-
lerei“, entlockt hatte, erschien nun als eine bewunderungswürdige
Höchstleistung russischer Organisationskunst; die Epedition war, wie
die „Berlinische Monatsschrift“ bemerkte, schon von Anfang an in
den Kriegsplan mit einbegriffen, und der Carin allein war es zu ver-
danken, daß sie allen Bedenken ihres Staatsrates gegenüber an
ihrem von vornherein gefaßten Plane festgehalten hatte). Unter
dem „weltberühmten großen Manne“, dem Admiral Aleksej Orlov,
ward die russische Flotte der Schrecken der Tiirken**), und wieder
reichten die großen historischen Maßstäbe kaum aus, um die neuen
Heldentaten Katharinas und ihrer Untertanen daran zu messen. Die
Skala der Empfindungen, mit denen man nun die russische Flotten-
expedition verfolgte, gibi eindringlich der Erfurter Universitätspro-
28) Berl. Monatsschrift Bd. X (1787), S. 498.
») Ebd., S.479. — Vgl. Schmidlin a. a. O. Teil V, S. J.
se) Berl. Monatsschr. Bd. X, S. 503; auf ihr beruhend Biester, a. a. O. S. 139.
aa a. a. O. Teil V, S. 53. — VgL Geschichte u. Ursachen,
a. a. O. S.. 31.
27
fessor Bellermann, einer der griindlichsten damaligen Reiseschrift-
steller, in seinen „Bemerkungen über Rußland“ wieder: „Europa
staunie schon, wie es russische Kriegsflaggen im Archipel und auf
dem schwarzen Meere wehen sahe. Dieses Staunen wuchs, wenn
man die Geschichte der russischen Marine durchlief, dab Peter der
erste beim Antritt seiner Regierung nichi ein einziges Schiff auf der
Ostsee besaß, daß seine Nation weder Beruf, Sinn, noch große Ver-
anlassung, eine Secmacht zu werden, haben konnte, daß er selbst
in Sardam als Schiffszimmerjunge, Geselle und Meister arbeitete, um
dereinst seinem Vaterlande eine Flotte schaffen zu können. Dieses
Staunen Europas stieg endlich auf den höchsten Gipfel, da man die
Thaten der jungen Flotte von 1770 bis 1773 horte?**).“
Am 4. Juli 1770 war Orlov vor dem Hafen von Tschesme auf die
türkische Flotte gestoßen, die nach unenischiedenem Kampfe sich in
die Bucht zurückzog. Da gelang es den Russen in der Nacht vom
5. zum 6. Juli, durch Brander die türkischen Kriegsschiffe völlig zu
vernichten, und nun wollte der Jubel der Zeitgenossen über diese
Heldentat, die den Türken die größte Niederlage zur See beigebracht
hatte, die sie seit Lepanto getroffen, nicht mehr verstummen. Kein
Geringerer als Goethe hat in einer meisterhafien Zusammenfassung,
die in ihrer ruhigen, selbstsicheren Objektivität wohltuend absticht
von der Uberhitztheif der damaligen Zcitstimmen, die einzelnen Stim-
mungsmomente dieses Freudenrausches festgehalten und charak-
terisiert. Allerdings schrieb er folgende Sake nicht unter dem un-
mittelbaren Eindruck der Ereignisse, sondern sie entstammen der
rückschauenden Betrachtung von „Dichtung und Wahrheit“: „Katha-
rina, eine große Frau, die sich selbst des Thrones würdig gehalten,
gab tüchtigen hochbegünstigten Männern einen großen Spielraum,
der Herrscherin Macht immer weiter auszubreiten: und da dics über
die Türken geschah, denen wir die Verachtung, mit welcher sie auf
uns herniederblickten, reichlich zu vergelien gewohnt sind, so schien
es, als wenn keine Menschen aufgeopfert würden, indem diese Un-
christen zu Tausenden fielen. Die brennende Flotte in dem Hafen
von Tschesme verursachie ein allgemeines Freudenfest über die ge-
bildete Welt, und jedermann nahm Teil an dem siegerischen Über-
muth, als man um ein wahrhaftes Bild jener großen Begebenheit übrig
zu behalten, zum Behuf eines künstlerischen Studiums, auf der Reede
von Livorno sogar ein Kriegsschiff in die Luft sprengte“*). Dem
deutschen Maler Philipp Hackert war dieses Schauspiel gewährt
worden, um wahrheitsgeireu die Schlacht bei Tschesme in einem
Gemäldezyklus für die Carin herstellen zu können, und Goethe hat
in seiner Hackert-Biographie die Entstehungsgeschichte dieser Bilder
mit allen Einzelheiten genau geschildert. Nach dem Siege bei
Tschesme waren der russischen Flotte keine größeren Erfolge mehr
ss) Bellermann, a. a. O. S. 255.
ss) Weimarer Ausgabe Abt. I Bd. XXVI (1889), = 67, undi Bd. XLVI (1903),
S. 138. — Einen Hymnus auf den Sieg bringt Chr. ai FE lodius mit seinem
Gedicht „Die Schlacht bei Chios“ in Neue verm. Schr n (1780), S. 1 f.
28
beschieden, und der eigentliche Zweck, eine Erhebung großen Stiles
unter den peloponnesischen Griechen einzuleiten, wurde nicht er-
reicht. Aber auch hier wieder waren die Zeitgenossen geneigt, die
Schuld an dem Ausbleiben des Erfolges viel weniger den Russen
als unglücklichen Zufällen zuzuschieben. Nicht die russische Flotte
hatte es an Leistungsfähigkeit fehlen lassen, denn in ihr wohnte
„Kühnheit und Mut“, wohl aber versagte die Unterstützung der von
den russischen Admiralen bewaffneten Balkanchristen, weil sich diese
weniger tapfer erwiesen, als man erwartet hatte, und sich disziplin-
und treulos zeigten*).
Der Friedensschluß von Kutschuk-Kainardsche erfüllte bei weitem
nicht die Erwartungen, die sich in der Phantasie der deutschen Zeit-
genossen an den Ausgang dieses Krieges geknüpft hatten. Die Er-
oberung von Konstantinopel und die Vernichtung des türkischen
Reiches, die sie in ihren überschwenglichen Äußerungen als die
eigentlichen Kriegsziele der russischen Carin bezeichnet hatten,
wurden nicht erreicht. Man könnte daher annehmen, daß die Be-
urteilung dieses Kriegsausganges in der deutschen öffentlichen Mei-
nung eine kühle, resignierte gewesen wäre oder wohl gar, daß die
Enttäuschung, die dieser Friedensschluß nach so hochgespannien
Hoffnungen für die deutschen Zeitgenossen doch zweifellos be-
deutete, sie veranlaßt hätte, mit ihrer Unlust über die Ergebnisse des
Krieges nicht zurückzuhalten. Aber dem war nicht so. Die Be-
urteilung der Kriegsresultate fiel kaum weniger enthusiastisch aus
als die der russischen Kriegstaten. Und schließlich entspricht es ja
wohl dem Wesen der öffentlichen Meinung überhaupt, wenn sie für
eine Person oder Sache voreingenommen ist, sich zufrieden zu
geben, wo sie nur Fortschritte sieht.
Diese Fortschritte waren nun in der Tat sehr beträchtlich, wie
denn auch dem Frieden von Kutschuk-Kainardsche von den späteren
Publizisten mit Recht immer eine besondere Bedeutung für die Ge-
schichte der orientalischen Frage beigemessen worden ist). Ruß-
land gewann durch diesen Frieden das Land zwischen Dnepr und
Bug, ferner die beiden Festungen Kerisch und Jenikale, die die
Straße von Kertsch beherrschen, den Zugang zum Schwarzen Meer
und endlich für seinen Handel das Recht der freien Schiffahrt
zwischen dem Schwarzen und Agaischen Meer und des ungehin-
derten Einlaufens in alle Häfen der Pforte. Es erreichte damit, wie
Johann Gottfried Seume — als eine vereinzelte Stimme — hervor-
hob, die Erfüllung eines von ihm längst angestrebten Zieles®). Aber
es waren Fortschritte mehr im Sinne der russischen Macht- und Wirt-
schaftspolitik als in dem jenes noch stark religiös aufgefaßten Be-
freiungswerkes, das aus dem zivilisierten Europa die Schmach des
zivilisationsfeindlichen Tiirkenreiches austilgen wollte. Die deutsche
34) Berl. Monatsschr. Bd. X. S. 505 f.; Biester, a. a. O. S. 139.
ss) Wurm, a. a. O. S. 91 f. — Carl Ritter von Sax: Gesch. d. Machiver-
falls d. Turkei (1906), S. 108.
ss) Seume Werke, a. a. O. S. 451.
29
öffentliche Meinung hatte noch so gut wie gar kein Oefühl dafür,
daß man diese beiden Dinge auseinanderhalten müsse, und begnügte
sich im allgemeinen mii einem naiven Anstaunen des Erreichten, ohne
daran weitere Reflexionen über den gefährlichen Machizuwachs zu
knüpfen, den Rußland in diesem Kriege erreicht hatte. Wie wenig
selbst politische Praktiker von damals für das bedrohliche Anwachsen
der russischen Macht empfindlich waren, zeigt ja auch die Orieni-
politik Josephs Il. in den achtziger Jahren?”). Schließlich vermochten
sich auch diejenigen, denen die Resultate von Kutschuk-Kainardsche
zu sehr hinter ihren Erwartungen zurückblieben, mit dem Ausgange
des Krieges auszusöhnen, indem sie in dem Friedensschlusse von
1774 nur eine Etappe des weiteren Vordringens der Russen auf
Konstantinopel sahen; und Katharina tat das ihrige dazu, um solche
optimistischen Hoffnungen nicht erlahmen zu lassen.
In dem nun folgenden Jahrzehnt tauchten in der deutschen öffent-
lichen Meinung immer häufiger Gerüchte auf, die von einem bevor-
$7) F. H. Geffken: Katharina Il., die Pforte u. Europa in Deutsche Rund-
schau Bd. XV (1878), S. 92 u. 96: „Der Kaiser garantiert (1781)... die Ver-
träge Rußlands mit der Pforte, verspricht auf das Bündigste „de faire obser-
ver par la dite porte Ottomane strictement et religieusement tout ce qui es
contenu dans les actes cy-dessus mentionnés“ und im Falle der Nicht-
beobachtung seine guien Dienste bei ihr anzuwenden. Sollten aber solche
nicht die gewünschte Wirkung haben und sie sich hartnäckig weigern, ihre
Verpflichtungen zu erfüllen oder gar offen den Frieden verletzen und zu
einer Invasion Rußlands schreiten: so verpflichtet sich der Kaiser, drei Mo-
nate nach ergangener Aufforderung, ihr den Krieg zu erklären und in ihr
Gebiet eine direkte Diversion zu machen mit Kräften, die den von der
Kaiserin aufgewendeten gleich seien. Für den Fall einer Operation der
russischen Flotte im Schwarzen Meer will Osterreich sich über ein seiner-
seits zu leistendes Äquivalent verständigen. Der Kriegsplan soll gemein-
sam fesigelegt werden, und der Kaiser verspricht, wenn während des vor-
ausgesetzfen Krieges die Kaiserin von irgendeiner andern Macht angegriffen
werden sollte, dies nicht nur als casus foederis zu betrachten, sondern voll-
ständig für I. M. einzutreten und mit allen Kräften zu Hilfe zu kommen, so-
weit es geschehen könne, ohne die Sicherheit seiner Staaten zu gefährden;
auch nicht Frieden oder Waffenstillstand zu schließen, ohne Il. K. M. darin
einzubegreifen. Diese Verbindlichkeiten bittet der Kaiser so zu betrachten,
als ob sie unter dem „geheiligten Gesetze“ des feierlichsten Vertrages ab-
geschlossen seien. Also ein Lowenvertrag für Rußland im eigentlichsten
Sinne...“ Man findet „bei Joseph und Kaunitz die enischiedenste Uber-
zeugung, daß das griechische Project ein luftiges Hirngespinst sei, anderer-
seits eine rücksichtslose Ländergier, die einfach über fremdes Gebiet ver-
fügt. Was die Absichten des Kaisers betrifft, so waren sie allerdings prak-
fischer, als die hochfliegenden Pläne seiner Verbündeten, Harris (der eng-
lische Gesandie in St. Petersburg) meinte ganz richtig (27. Aug. 1782), er
wolle Bosnien, Serbien und den Teil der Türkei, der früher zu Ungarn ge-
hört habe, werde auch wohl wünschen, Etwas von den Besitzungen der Pforte
am adriatischen Meere zu erwerben und nicht zu gewissenhaft sein, um auf
die Venetianer überzugreifen, wenn ihre Besitzungen ihm in den Weg
kämen. Das waren unstreitig seine Absichten, aber sie erfüllten sich nicht;
wenn Harris ebenso wie Friedrich Il. sahen, daß das Einverständnis Rub-
lands und Österreichs ein Ende haben werde, wenn sie an die Ausführun
ihrer Pläne gingen, so wurde es doch durch die Folge klar, daß Joseph un
Kauni einen ganz falschen Schachzug getan, während Katharina zwar nicht
ihre hochfliegenden Pläne durchsetzte, aber doch allein den Gewinn des
Bündnisses einheimste.”
50
stehenden neuen Kriege zwischen Rußland und der Türkei redeten.
Die Art und Weise, mit der Rußland den Friedensvertrag auslegie,
halle zu einer solchen Verwicklung und Verwirrung in den diploma-
tischen Beziehungen der beiden Länder geführt, daß schon 1782 das
„Politische Journal“ erklärte, dieser „gordische Knoten“ müsse „ent-
weder entwickelt oder mit dem Schwerte zerschnitten werden“. Daß
das letztere das Wahrscheinlichere sein werde, darüber ließ es seine
Leser nicht im Zweifel“). Die Annäherung, die sich 1781 zwischen
dem deutschen Kaiser Joseph und der russischen Carin vollzogen
hatte, vervielfachte und verstärkte natürlich die Gerüchte und gab
ihnen, entsprechend den Ideen und Wünschen der Gebildeten, konkre-
teren Inhalt. In hohem Maße bezeichnend dafür ist, was der Vater
Gleim im Januar 1784 seinem Freunde Heinse aus Halberstadt berichten
konnte: „Im Frühjahr, heißt es hier, bricht Joseph los, mit allen seinen
Donnern. Er auf Rom, und Catharina bricht auf Stambul los, die
griechischen und lateinischen Kayserthymer werden hergestellf,
Athen und Sparta werden wieder seyn**)!“
Aus solchen Gerüchten sprach aber auch der Widerhall der zahl-
reichen eindringlichen Manifestationen, durch welche Katharina für
ihr sogen. griechisches Projekt, d. h. für ein von ihr zu begründendes
griechisches Kaisertum, das sich aus den Trümmern der Türkenherr-
schaft erheben sollte, in Europa Stimmung zu machen suchte. Katha-
rinas Reklame war wie sieis so auch in diesem Falle außerordentlich
geschickt und redete nicht nur eine sehr weit vernehmbare, sondern
auch zu Herzen dringende Sprache. Denn, wenn sie ihren zweiten
Enkel, der dereinst den Thron dieses griechischen Kaiserreiches be-
steigen sollte, Konstantin taufen ließ, wenn sie aus Griechenland
Ammen verschrieb, die ihn säugen, und griechische Knaben, die
seine Spielgefährten werden und, in einem eigens für sie errichteten
Kadettienkorps erzogen, den Stamm eines zukünftigen Offizierkorps
der griechischen Armee bilden sollten, so kam sie damit den Lieb-
habereien ihrer klassizistischen Zeit auf das glücklichste entgegen.
Waren aber diese Anspielungen in erster Linie für die gelehrt oder
literarisch Gebildeten berechnet, so fand sie für die einfacheren
Gemüter eine noch drastischere Methode, ihre Absichten auszu-
drücken, wenn sie Schaumünzen schlagen ließ, auf denen die Carin
als „Schützerin der Gläubigen“ und Konstantinopel als brennende
Stadt dargestellt waren, oder wenn das Staditor des von Potemkin
erbauten Cherson die Inschrift erhielt: „Von hier aus geht der Weg
nach Byzanz". Wie erfolgreich Katharina mit ihrer Reklame war,
geht auch daraus hervor, daß noch mitten im Frieden in deutschen
Zeitschriften russische Kriegslieder erschienen, in denen für den kom-
menden Türkenkrieg schon im voraus Propaganda gemacht wurde:
ss) Polit. Journal, Jg. 1782, S. 173 l.
se) Gleims Briefw. mit Heinse, hrsg. v. K. Schüddekopf (1894): Brief vom
18. Januar 1784.
51
„Wohlauf, ins Feld! Horcht, überall
Tönt Pauken- und Trompeten-Schall!
Es gilt dem Muselmann!
Seht, unsere Kaiserin gebeut.
Es rüste sich zum wackern Streit
jezt jeder brave Mann*).“
Trotz aller dieser Gerüchte, die auf den baldigen Ausbruch neuer
Feindseligkeiten zwischen Russen und Türken hinwiesen, und trob
aller Provokationen, die sich die russische Politik und Diplomatic
der Pforte gegenüber erlaubien, blieb Osteuropa der Friede mehr
als ein Jahrzehnt erhalten, und selbst die Erbitterung, welche bei der
Pforte infolge der Erwerbung der Krym durch Rußland hervor-
gerufen wurde, hat es noch nicht zum Beginn eines neuen Krieges
kommen lassen.
Im Frieden von Kutschuk-Kainardsche hatten es die Russen nach
langem Widerstreben der Türken durchgesekt, daß die Tataren der
Krym und des Kuban als eine von beiden Kaiserreichen freie und
von jeder auswärtigen Macht unabhängige Nation anerkannt würden,
die von ihren eigenen Fürsten (Chanen) regiert werden sollten. Beide
Mächte waren übereingekommen, sich in keiner Weise weder in die
Wahl des Chans noch in die inneren politischen Verhältnisse der
Tataren einzumischen. Katharina hatte indes die Unabhängigkeits-
erklärung der Krymtataren in der Absicht angestrebt, um durch An-
zettelung von Intrigen unter ihnen Unruhen hervorzurufen, die dann
für den Einmarsch der russischen Truppen zur Befriedung des Landes
den Vorwand liefern und in eine Einverleibung des Tatarenstaates
in das russische Reich ausmünden sollten. Nach der gleichen
Methode, mit der man in Polen zur Zeit der Dissidentenunruhen
glücklichen Erfolg gehabt hatte, wurde nun auch den Tataren gegen-
über verfahren und am 1. August 1783 die Besikergreifung der Krym
proklamiert. Die Pforte hatte sich trok aller Proteste schließlich in
das Unvermeidliche fügen müssen.
Die Einverleibung der Krym hat auf die damalige öffentliche Mei-
nung in Deutschland keinen sehr großen Eindruck gemacht. Sie hat
vor allem so gut wie gar keine Erregung über den neuen eklatanten
Rechisbruch Rußlands hervorgerufen. Ganz abgesehen davon, daß
die öffentliche Meinung damals durch den Abschluß des amerika-
nischen Freiheitskrieges in Anspruch genommen war, hatte dieses
Zeitalier begreiflicherweise für die Tataren keine sonderlichen Sym-
pathien. Denn einmal waren „die Händel der Russen in dieser
Periode in Deutschland zu wenig bekannt“), sodann handelte es
sich um ein Volk, das auf einer Kulturstufe stand, auf die der auf-
geklärte Zeitgenosse nur mit Verachtung glaubte herabblicken zu
können. Der damals im Departement der auswärtigen Angelegen-
heiten Preußens tätige Kriegsrat Christian Wilhelm Dohm, der als
«) Polit. Journal, Jg. 1783 im Titelblatt des 9. Stücks.
41) Seume Werke, a. a. O. S. 452.
52
einer unter wenigen diesen Einbruch Rußlands in die Krym als einen
unerhörten Gewaltakt mißbilligte, fand in seinen Memoiren für die
interesselosigkeit, mit der die deutsche öffentliche Meinung diese
Rechtsverlekung Rußlands hinnahm, folgende treffende Erklärung:
„Ein der Zeit oder dem Orte nach fern von uns sich ereignender Un-
fall pflegt schwächer zu rühren; auch sind unsere Begriffe von Recht
oder Unrecht unter den Völkern meist nur auf den Kreis der Volker
beschränkt, die mit uns auf gleicher Stufe der Bildung sitehen).“
Wofern man aber in der gleichzeitigen öffentlichen Meinung Deutsch-
lands der Krymbesekung überhaupt eine lebhaftere Aufmerksamkeit
zuwendete, so erfolgte die Beurteilung in diesem Sinne: Das Recht
zu dem Schritte war auf russischer Seite; Rußland hatte einen
historisch begründeten Anspruch auf die Halbinsel; es mußte seine
früheren Bedrücker, die einst auch Deutschland bedroht hatten und
Rußland schließlich immer noch durch Überfälle beunruhigten, unter
seine Gewalt bringen. Das „Politische Journal“ wollte zwar seine
Leser lehren, Machthunger hatte die Carin veranlaßt, die Krym zu
okkupieren. Aber aus dem eigenen Leserkreise wurde gegen eine
solche Auffassung in einem Eingesandt energisch protestiert: „Nicht
Eroberungssucht, sondern traurige Notwendigkeit war es, sich eines
Landes zu vergewissern, welches von einer Rotte Rauber bewohnt
wurde, die wider alle Völkerrechte Räubereyen und Mordthaten in
der Nachbarn Land für Pflicht hielten“). Noch energischer trat das
„Historische Portefeuille“ für Katharina ein: Alle Plagen, die die
Krymiataren von jeher dem russischen Reiche gebracht hatten,
konnten nur durch eine vollständige Besigergreifung ihres Landes
beseitigt werden. Wenn die Chane auch 1774 von der Türkei un-
abhängig geworden waren und seitdem mehr dem russischen Einfluß
unterstanden, so gab das der Carin immer noch keine Gewähr dafür,
dak ihr Land vor ihnen sicher war. Denn stets hatte die Krym im
Solde der Pforte gestanden und, bei einem Kriege mit ihr verbündet,
die Russen zu Sonderaktionen herausgefordert oder mitten im
Frieden Überfälle auf die Ukraine vollzogen. Eine Krym aber in
russischem Besitz war ein glänzender Handelsplag, ein hervorragen-
der Flottenstugpunkt und eine ausgezeichnete Operationsbasis. Frei-
lich solchen Vorteilen gegenüber wußte das „Historische Portefeuille“
auch Nachteile aufzuzählen. Dieser neue Gebietszuwachs an sich
bedeutete wenig, da im eigentlichen Rußland noch viele fruchtbare
Gebiete zu besiedeln seien und bei der geringen Bevölkerungsdichte
Rußlands dem Menschenmangel in der Krym für lange Zeit hinaus
noch nicht abgeholfen werden könne. Des ferneren dürfe man
ernstlich der Pest wegen besorgt sein, die ständig in der Krym
wüte und von hier aus, wie z. B. im letzten Türkenkriege, leicht nach
Rußland eingeschleppt werden könne. Aber alles in allem genom-
Dohm, a. a. O. Bd. Il, S.63.
«s) Polit. Journal, Jg. 1788, S. 1025. Es ist nicht ausgeschlossen, aas
3 auf Katharinas Veranlassung hin geschrieben ist. Vgl.
3 NF 5 35
men, die Vorteile überwogen: „Eine merkwürdige Begebenheit mehr
in der Geschichte der jetzigen glücklichen Regierung“ J.“
2.
„Das entscheidende Jahr 1787, das Jahr, in welchem die Kaiserin
von Rußland ihren zweiten Türkenkrieg begann, versetzte ganz
Europa in eine erschütternde Bewegung. Joseph Il. sah sich durch
seine Bundesgenossenschaft mit Katharina Il. alsbald zur Teilnahme
gezwungen. Gustav Ill. von Schweden ließ sich, von brennendem
Ehrgeiz gestachelt, voreilig und schlecht vorbereitet und ohne eines
ausreichenden Beistandes von seiten der ihm befreundeten Mächte
sich versichert zu haben, zu einem allzu gewagien Angriff auf das
kolossale Reich seiner Nachbarin verleiten. Die zerrüttete Republik
Polen erhob sich zu den letzten krampfhaften Versuchen, ihre natio-
nale Unabhängigkeit wiederherzustellen, und Preußen, fest ent-
schlossen, jeder weiteren Machtvergrößerung Österreichs entgegen-
zutreten, vereinigte sich mit England und Holland zu einem Defensiv-
bündnis, welches zunächst die Aufrechterhaltung des europäischen
Gleichgewichtes bezweckte. All diese politischen Verwicklungen
bereiteten sich vor schon während der berühmten Reise, welche die
Kaiserin am 2. Januar 1787 nach der Krym unternahm. Diese Reise
mit ihrer geflissentlichen, pomphaften Zurschaustellung des russischen
Machigepränges war ein die Augen aller Welt auf sich ziehendes
Ereignis. Während derselben fanden zwischen der Kaiserin und dem
Kaiser, zwischen ihr und dem König von Polen Verabredungen statt,
deren geheimnisvolles Dunkel nicht ohne Grund vornehmlich bei der
Pforte die Besorgnis vor den drohenden Madhigeliisten Rußlands
steigerten. Mit majestätischer Selbstverherrlichung machte Katharina
diese Reise zu einem Triumphzug ununterbrochener Huldigungen, die
sie vom niedrigsten Untertanen, die sie von einem Konig ihrer
Schöpfung sich darbringen ließ, und denen mit ritterlicher Courtoisie
auch ihr kaiserlicher Gast sich anschlof*).“
Diese taurische Reise der Carin hat lange nachher in einem der
Reiseteilnehmer einen liebenswürdigen Schilderer gefunden. In
seinen 1825 erschienenen Memoiren hat der damalige französische
Gesandte am Petersburger Hofe, Graf Philipp Louis von Ségur, „mit
wohlbehäbiger Ausführlichkeit in dem Stil der Restaurationsepoche,
um die gute Gesellschaft zugleich zu unterhalten und zu unterrich-
ten“), erzählt, wie die Reise, die teils zu Schiff auf dem Dnepr, teils
im Wagen zu Lande gemacht wurde und durch ein gut Stück Süd-
rußlands bis zu dem Krymhafen Sebastopol führte, einer ununter-
brochenen Kette von Festen glich, die aber trob ihrer Überfülle bei
den ewig wechselnden neuen Eindrücken, bei der frischen Lebens-
“) Histor. Portefeuille, Jg. 1786, S. 11f. — Vol. J. M. Hofmann: Katha-
rina ll, die einzige Kaiserin der Erde, Selbstherrecherin aller Reugen usw,
Bd. I (1787), S.8 f.
s) E. Herrmann, Gesch, a. a. O. Bd. VI, S. 147 f.
de L. Ranke, Sämtl. Werke, Bd. XXXI (1875), S. 294.
54
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lust der Carin, welche in der Ertragung von Schwierigkeiten, die bei
dieser Reise in noch so wenig von der Zivilisation erschlossenen
Gebieten natürlich auch in Kauf genommen werden mußten, allen
voranging, und bei der geistreichen Unterhaltung, welche die Hof-
gesellschaft Katharinas wie die kaum eines anderen damaligen Hofes
glänzend beherrschte, niemals Ermüdungsgefühle aufkommen ließen.
Das war eine Beurteilung, gesehen aus der Atmosphäre und der
Perspektive des Petersburger Hofes, und wie sehr Ségur den Ab-
sichten, die Katharina mit dieser Reise verfolgte, in seiner Schilde-
rung entsprach, haben die erst später erschlossenen Briefe Katha-
rinas, die sie zur Zeit der Reise selbst über dieses Ereignis schrieb,
gezeigt"). Aber daneben gab es noch eine andere Auffassung, und
diese wurde namentlich von den der Kaiserin feindlichen Zeitungen
des Auslandes wie den „Nouvelles extraordinaires de divers
endroits“, gewöhnlich kurzweg „Gazette de Leyde“ genannt, ver-
treten und verbreitet. Um den der russischen Carin abtraglichen
Gerüchten enigegenzutreten, die in solchen Organen des Auslandes
ausgesireut wurden“), veröffentlichte Melchior Friedrich Grimm, das
Pariser literarische „Faktotum“ Katharinas, in seiner „Correspon-
dance littéraire“**) die Reiseberichte eines anderen Teilnehmers, des
Fürsten Karl Joseph von Ligne, eines der geistvollsten Plauderer
seiner Zeit. Glänzend geschrieben, der Neigung der Zeit für das
Exotische mit der farbigen Schilderung des bunten Völkergemisches
des russischen Reiches entgegenkommend und mit vielen kleinen
mit Geschick angebrachten Anspielungen und Pointen versehen, wie
sie Katharina liebte und die ihr schmeichelten, entsprechen die
Reiseberichte de Lignes, was Auffassung und Darstellungskunst an-
langt, im großen und ganzen den Schilderungen von Ségurs Memoiren.
) Vgl. ihre Korrespondenz mit Melchior Friedr. Grimm in Sbornik
imperatorskago istori¢eskago ob3tesiva Bd. XXIII (1878) und die von K. L.
Blum: Ein russ. Staatsmann. Des Grafen J. J. Sievers Denkwürdigkeiten zur
Geschichte Rußlands, Bd. II (11857), S. 478 f. verwerteten Briefe der Carin an
den Oberjägermeister von Pohlmann.
% Wie empfindlich Katharina gegen die Anwürfe der ausländischen
Zeitungen war, das zeigt ihr Brief an Grimm vom 30. Juni 1787. Sie wundert
sich über die falschen Nachrichten im Auslande, obwohl doch Grimm schon
längst ihre (der Carin) authentischen Berichte erhalten haben müsse. Sie
bittet Grimm, nicht zu glauben, was die Zeitungen über ihre Verschwendung
schreiben. Sie teilt ihm mit, wie beispielsweise berichtet worden sei, daß
in Kiev täglich 5000 Rubel für die Tafel ausgegeben würden und daß man
ein Ei mit eineinhalb Rubel bezahlt hatte: „tout ccla est pur et plat men-
songe.“ Sbornik, a. a. O. Bd. XXIII, S. 414. — Oder ein anderes Beispiel:
In der Göttinger Allgemeinen polit. Staatenzeitung vom 23. Dez. 1789 war
ein Artikel mit falschen Details aus der Lebensgeschichte des Generals
Suvorov — sicherlich ohne böswillige Absicht — erschienen. Katharina war
über diese „Absurditäten“ derart aufgebracht, daß sie es nicht erst mit leb-
haften Beschwerden bei Joh. Georg Zimmermann bewenden lieg, sondern
den Herausgeber Friedr. Gotti. Canzler auch zu einem Widerruf zwang
(Allg. pol. Staatenztg. 20. Febr. 1790). Vgl. F. Frensdorff: Kath. Il. v. Rub-
ad u. ein Gottingscher Zeitungsschreiber. In: Nachrichten v. d. Kgl. Ges. d.
Wissenschaften zu Göttingen. Phil.-hist. Klasse Jg. 1905, S. 305 ff.
ee) Hrsg. v. M. Tourneux, Bd. XV (1881), S. 150 ff.
Darüber hinaus zeigen sich polemisch-apologetische Tendenzen,
wenn Ligne z. B. äußert, daß in Frankreich mehr Barbarei herrsche
als in Rußland, oder wenn er gar nicht unrichtig prophezeit, daß die
öden Steppengegenden, durch die man reiste, binnen kurzem die
fruchtbarsten Landstrecken von ganz Rußland sein würden“). Trob-
dem gelang es de Ligne nicht, die öffentliche Meinung des Aus-
landes wesentlich zu beeinflussen oder gar umzustimmen. Auch die
öffentliche Meinung Deutschlands, die bisher ziemlich geschlossen in
kritikloser Begeisterung die Handlungen der Carin begrüßt und ge-
feiert hatte, machte in dieser Beziehung keine Ausnahme. Zwar ver-
hielt sich die deutsche Berichterstattung der Reise gegenüber zunächst
im wesentlichen referierend und enthielt sich kritischer Kommentare.
Aber seit 1790 setzt auch in der deutschen Publizistik mit zunehmen-
der Schärfe eine kritische und im allgemeinen abfällige Beurteilung
dieser Reise, die man als eine Demonstration empfand, ein.
Was Katharina zu dieser Reise veranlaßt hatte, dürfte einmal
der Wunsch gewesen sein, die neuen südrussischen Gebiete, die
unter die Verwaltung ihres Günstlings und ehemaligen Liebhabers
Potemkin gestellt waren, zu besichtigen. Es entsprach ja der Praxis
des aufgeklärten Absolutisten, sich durch Bereisung seiner Länder
von dem Zustande derselben zu unterrichten, und wenn Katharina zu
diesem Zwecke auch viel weniger gereist ist als etwa Friedrich der
Große oder Joseph Il., so hatte sie doch nicht nur in den ersten Jahren
ihrer Regierung eine ganze Reihe ihrer Provinzen in Augenschein
genommen, sondern auch von den ihr in der ersten Teilung Polens
zugefallenen Gebieten sich eine eigene Anschauung zu machen gesucht.
Aber daneben sollte diese Reise auch ihrer Rußlandreklame
dienen und die Gerüchte von der Armut und der Unkultur dieses
Landes, wie sie namentlich in der der französischen Regierung nahe-
stehenden Publizistik am häufigsten auftauchten, Lügen strafen. Des-
halb wurden nicht nur die Gesandten Österreichs, Frankreichs und
Englands eingeladen, die Carin auf dieser Reise zu begleiten, sondern
auch der in den Kreisen der Höfe wie der Literaten gleich bewunderte
und gleich wohlgelittene Fürst de Ligne zur Teilnahme bewogen.
Deshalb wurde aber auch jener ungeheure Pomp und Luxus entfaltet,
der zu den Einnahmen und Finanzquellen des damaligen Rußlands
in keinem Verhältnis stand und in erster Linie die Kritik der Zeit-
genossen hervorrief.
Endlich und vor allem aber beabsichtigte Katharina, mit dieser
Reise eine außenpolitische Demonstration durchzuführen. Der deutsche
Arzt Weikard, von dem noch zu reden sein wird, berichtet in seiner
1799 zu Koblenz erschienenen Schrift „Taurische Reise der Kaiserin
Katharina II.“ 1 — soviel wir sehen als einziger Zeitgenosse —
folgendermaßen: „Die Kaiserin mochte wohl vermutet haben, die
Türken würden geschwinder zur Kriegserklärung erhitzt werden, und
se) Correspondance littérairc, Bd. XV, S. 105.
x = Vgl. Bilbasov: Katharina Il. im Urteile der Weltliteratur, Bd. II (1897)
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alsdann wäre es eine ihrer größten Begebenheiten gewesen, nach
Überraschung der Festung Oczakoff oder gar nach Einnahme von
Constantinopel siegreich nach Moskau zurückzukehren.“ Daß es sich
in diesem Sage um keine subjektive Mutmaßung Weikards handelt,
zeigt ein wenigstens auszugsweise bekannigewordener Geheim-Ukez
der Carin vom 16. Oktober 1786.
Wie schon oben angedeutet, war die kulturpolitische Demon-
stration, die mit dieser Reise ins Werk gesetzt werden sollte, ein
Schlag ins Wasser. und rief auch in der bis dahin so gutwilligen
öffentlichen Meinung Deutschlands nicht das übliche bewundernde
Staunen, sondern nur Unlust und Kritik hervor. Die Spekulation der
Carin war insofern von vornherein falsch angelegt, als sie, die Ver-
schiedenartigkeit der ost- und westeuropaischen Verhältnisse nicht
genügend einschäßend, ihre westeuropäischen Zeitgenossen durch die
Entfaltung eines Luxus zu berücken suchte, der ihnen an sich in seiner
ganzen mehr asiatisch-orientalischen Natur zu fremdartig war, als
daß er mindestens den Vertretern des aufgeklärten Bürgertums nicht
hatte anstößig sein sollen. Dazu stand er in einem schreienden
Gegensage zu der hausvaterlich-merkantilistischen Sparsamkeits-
politik, die sich seit den Beispielen Friedrich Wilhelms I. und Friedrichs
des Großen an den deutschen Fiirstenhofen immer mehr durchgesebt
hatte’), und um derentwillen die Anhänger des aufgeklärten Ab-
solutismus ihre Herrscher lobpriesen.
Unter den deutschen Publizisten ist — soweit uns bekannt —
Georg Forster der erste gewesen, der in seinen „Erinnerungen aus
ss) Vgl. Russkij archiv Jg. 1865, S. 740 f.: Streng geheim. Auszug aus dem
allerhöchsten Befehl an Seine Durchlaucht den Fürsten Grigorij Aleksan-
drovič Potemkin vom 16. Okt. 1786. Wir sehen uns schon vor der Not-
wendigkeit, unsere Ehre und die Sicherheit unserer Grenzen zu verteidigen:
besonders wenn die Pforte nicht beachten sollte, was wir sie. letzllich wissen
keen, und wenn sie nicht selbst Mittel auffinden sollte, um die Beleidigung
zurückzunehmen, die uns durch ihr letes Memorial zugefügt worden ist.
Wir werden dann freilich genötigt sein, wirksame Maßregeln gegen sie
zu ergreifen, da wir in unserem Gewissen überzeugt sind, daß jeder Un-
parteusche unser guies Recht anerkennt. Mit besonderem Vergnügen
empfangen wir den von Ihnen entworfenen Plan, und wir beabsichtigen, ihn
folgendermaßen auszuführen.
Weiter. Da wir Ihnen den Oberbefehl über die Armee anvertraut haben,
geben wir Ihnen hiermit Vollmacht und Erlaubnis, die Nachforschungen, die
er on der Sache und zum Ruhme unserer Waffen dienen können, aus-
2 en.
Weiter. Unser Gesandter Bulgakov hat bereits von uns den Befehl, die
Duplikate seiner Berichte an Sie zu senden und Ihre Anordnungen, was un-
seren Dienst anbelangt, auszuführen. Indem wir ihm dieses von neuem be-
stätigten, ließen wir ihn wissen, daß er von uns sobald wie möglich die Be-
nachrichtigung über seinen Forigang aus Konstantinopel erhalten werde und
der Pforte die Gründe dafür aufweisen und eine sichere Abreise fordern
müsse.
. 5) Eine Erscheinung wie Karl Eugen von Württemberg bildet doch gegen-
über Herrschern wid Karl Friedrich von Baden, Karl August von Sachsen-
Weimar, Leopold Friedrich Franz von Anhalt, Friedrich Christian von Schles-
wig-Holstein, Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig, Pauline zur Lippe
u. a. eine Ausnahme.
87
dem Jahre 1790“ die kritische Sonde an die große Reise Katharinas
legte und zu einem Verdammungsurteil gelangte. Mit einem an den
Humanitätsgefühlen der Zeit genährten Pathos führt er aus, daß
ganze Distrikte des Reiches entvölkert wurden, um den Gegenden,
die Katharina durchreiste, „das täuschende Ansehen des geschäf-
tigen Lebens, der überall hervorkommenden Saaten, des angehenden
Wohlstandes zu geben“. Zu vielen Tausenden — so bemerkt er
weiter — wurden Bauern zusammengetrieben, die in dem dünnbevöl-
kerten Lande oft aus weiter Ferne herangeholt werden mußten, um
„eine Heersiraße von vielen hundert Meilen theatralisch auszu-
schmücken“, und „die unglücklichen Opfer . . blieben nach dem
großen dramatischen Augenblicke ihrem Schicksal überlassen“. Es
kümmerte Potemkin wenig, daß die aus ihrer Heimat Gerissenen „in
elenden Hütten zusammengepreßt“ eine Beute des Hungers und der
davon unzertrennlichen Krankheiten wurden. „Andere Tausende, ihr
Leben kümmerlich zu fristen, sprengten die Felsen in den Dnepr-
fallen, um diesen skythischen Strom für künftige Kaiseryachten
schiffbar zu machen.“ Es war ein Unternehmen, ruft Forster aus,
wie es nur einem so „finsteren Staate“ wie Rußland, es waren Vor-
kehrungen, die nur dem Despotismus möglich sind“].
Es ist für unser Thema nicht von ausschlaggebender Bedeutung,
ob Forster mit seinen Anklagen auf authentischen Nachrichten fußt.
Russische Historiker wie Bilbasov®) haben ja des öfteren, wenn auch
bisher nicht gerade erfolgreich, die Geschichte von den „Potemkin-
schen Dörfern“ als Legende hinzustellen versucht. Forster weilte
zur Zeit der taurischen Reise in Wilna, wo er an der dortigen Hoch-
schule wirkte; er war also dem Schauplaf dieses Ereignisses näher
als die meisten deutschen Zeitgenossen. Überdies stimmen seine
Angaben auch beinahe in allen Einzelheiten überein mit der oben
erwähnten wenige Jahre später erschienenen Darstellung Weikards.
Wir glauben indes nicht, daß es sich dabei um eine Abhängigkeit
Weikards von Forster handelt — denn Weikard zeigt sich auch sonst
über diese russischen Verhältnisse sehr gut unterrichtet®) — sondern
daß beide unabhängig voneinander hier Nachrichten wiedergeben,
die damals im russischen Publikum umliefen. Aber auch von den
Teilnehmern an der Reise selbst hat sich der gekrönte österreichische
Bundesgenosse der Carin — obwohl zwischen Über- und Unter-
schätzung des Geleisteten hin- und herschwankend*?) — damals in
absprechender Weise über die Potemkinsche Tätigkeit geäußert.
Josephs Il. Urteile entbehren zwar ganz des menschenfreundlichen
s4) Samtl. Schr. mit Briefwechsel und Charakteristik von G. Gervinus,
hrsg. von Forsters Tochter, Bd. VI (1843), S. 213f. Dieser Passus ist auch
a bei J. R. Forster: Kurze Lebensgeschichte Kath. II. (1797),
ss) Bilbasov Weltliteratur, Bd. II, S. 66.
se) Ebd., S. 65f. `
) Vgl. K. T. Heigel: Deutsche Geschichte vom Tode Friedr. d. Gr. bis
zur Auflösung des alten Reiches, Bd. I (1899), S. 165 f.
58
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Sentiments, das den Saken Forsters und Weikards das eigentliche
Gepräge gibt, auch gilt seine Beobachtung in erster Linie der Bünd-
nisfahigkeit Rußlands und hat daher vornehmlich die militärische
Seite der Potemkinschen Verwaltung im Auge. Aber Joseph ver-
schloß seine Eindrücke in den Briefen an seinen intimus Lascy®).
Die Schilderungen dagegen, die Forster von der taurischen Reise
gegeben hatte, drangen hinaus in die weiteste deutsche Offenflich-
keit, gingen über in die politische Publizistik und machten in der
Gestaltung des Katharinabildes im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrh.
Epoche). Für das Odium, das seit der taurischen Reise in der Auf-
fassung der deutschen Zeitgenossen an Katharina haftete, ist es doch
gewiß charakteristisch, daß die beiden wohlwollendsten Biographen
der Carin, der bekannte Berliner Aufklärer und Mitherausgeber der
„Derlinischen Monatsschrift“ Erich Biester und der „kaiserlich rus-
sische Leutnant“ Johann Gottfried Seume von einer Schilderung der
Reise Abstand genommen haben.
Damals kam bereits das Schlagwort „Potemkinsche Dörfer“ auf,
das für eine raffinierte Vorspiegelung falscher Tatsachen auch heute
noch im Gebrauch ist. Ladendorfs „Historisches Schlagwörterbuch‘®)
belegt es erst aus dem Jahre 1822. Aber es erscheint bereits viel
früher in der Form „Potemkinsches Ferney“ in Daniel Falks „Taschen-
buch des Scherzes und der Satire“ von 1800*:), und etwas später in
Georg Reinbecks Reisebeschreibung von 1805. als ,,Potemkins
Städte“). Im Gegensatz zu den pathetischen Ausfällen Forsters und
Weikards hat sich Falk des leichteren, aber kaum weniger wirksamen
Rüstzeuges der Satire bedient, um mit der gleichen Tendenz des
gegen den „die Menschheit herabwürdigenden“ russischen Despotis-
mus protestierenden Menschenfreundes die gleichen Anklagen zu
erheben gegen den Betrug am Auslande und den gewissenlosen
Leichtsinn der carischen Regierung. Er läßt seinen Skaramuz auf
seiner Weltreise auch in Rußland Umschau halten und spottend
resüumieren: „Mit einem Worte, aller dieser Luxus, all diese über-
tüunchte Kultur gemahnen mich an die Kolonien zu son, wo man
die Strohhütten auf ein paar Tage versteckt und nachher wieder an
ihren Plak Stell.“
Dieselbe Form der Rundreise hatte einst Voltaire in seiner „Prin-
cesse de Babylon“ gewählt, um Katharina in graziöser Schmeichelei
Š aN v. Arneth: Joseph Il. und Katharina II. Ihr Briefwechsel (1869),
se) Auch in den Darstellungen zur Geschichte Katharinas Il. (1797), S. 196 f.
finden sich Auszüge aus Georg Forster. In demselben Sinne urteilen die
Zeichnungen eines Gemähldes von Rußland. (Celle 1798), S. 192.
es) (1906), S. 247 f.
eı) Satirische Werke, Bd. IX (1826), S. 366.
62) Flüchtige Bemerkungen auf einer Reise von St. Pbg. über Moskau,
Grodno, Warschau, Breslau nach Deutschland im Jahre 1805. In Briefen von
G. Reinbeck (1806), S. 37.
ee) Fak Werke, a. a. O., Bd. IV (1826), S. 305.
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die größten Huldigungen darzubringen. Dort macht der Zaubervogel
Phönix, der die schöne Formosante in die Hauptstadt der im Augen-
blick auf einer Inspektionsreise im Innern des Reiches abwesenden
Kaiserin der Kimmerier begleitet, die Bemerkung: „Il n'y a pas trois
cent ans que je vis ici la nature sauvage dans toute son horreur;
j'y trouve aujourd’hui les arts, la splendeur, la gloire et la politesse.“
Worauf ihn ein Hofherr der Kaiserin belehrt: „Un seul homme a
commencé le grand ouvrage, une femme l’a perfectionné,“ und dieser
monumentalen Erklärung eine ins einzelne gehende Aufzählung alles
Lob- und Glorwürdigen der Regierung Katharinas folgen läßi*). Man
sieht, der Gedanke liegt mindestens nahe, daß Falk hier Voltaire
bewußt nachgeahmt hat. Ja, es mag diesen grimmigen Widersacher
der Carin gereizt haben, für seine Invektiven sich derselben
literarischen Form zu bedienen, die einst der höchsten Verherrlichung
Katharinas gedient hatte.
Natürlich mußte sich für die Zeitgenossen, wenn sie die taurische
Reise Katharinas besprachen, auch die Frage stellen, ob denn die
kluge Carin tatsächlich durch Potemkin hinters Licht geführt worden
war. Wenigstens denjenigen unter ihnen, die sich nicht wie die
aristokratischen Teilnehmer an dieser Luxusfahrt rein ästhetisch mit
den Reiseeindriicken abfanden, sondern die in diesem Ereignisse
einen Gegenstand ihrer kritisch moralisierenden Betrachtungen sahen.
Denn je nachdem man diese Frage beantwortete, erschien Katharina
als Opfer oder aber als Mitwisserin des Betruges. Im letzten Falle
war sie denn auch mitverantwortlich für das namenlose Leid, das
infolge der Reise über unzählige ihrer Untertanen hereingebrochen
war, und mitschuldig an dem frevelhaften Leichtsinn, mit dem Potem-
kins Willkür so viele russische Menschenleben und Existenzen eines
Theatercoups halber aufs Spiel gesetzt hatte. Wie man aber auch
die Frage beantwortete, absolut gunstig konnte die Antwort für die
Carin eigentlich in keinem Falle sich gestalten, sie konnte nur mehr
oder weniger schuldig oder mehr oder weniger entschuldbar er-
scheinen.
Es hat sich nun allerdings doch ein deutscher Zeitgenosse ge-
funden, welcher mit einer kühnen dialektischen Wendung, der man
Originalität gewiß nicht absprechen wird, es fertig bringt, Katharina
auch aus dieser heiklen Angelegenheit ohne Makel hervorgehen zu
lassen. Für den damals anonymen Verfasser der Biographie der
Carin, im „Historisch-genealogischen Kalender von 1798“) hat die
«) Romans de Voltaire (1844), S. 341 f.
es) Verfasser dieser Biographie ist der Theaterschriftsteller H. A. O.
Reichard (1751—1828), einer der führenden deutschen Antirevolutionäre zu
Ende des achizehnten Jahrhunderts. Für seine Beziehungen zum General
Suvorov vgl. „Revolutionsalmanach“ Jg. 1795, S. 333: Die Polen und Russen
in Warschau. — Revolutionsalmanach jg. 1796: Titelbild Suvorovs. — Reichards
Selbstbiographie überarbeitet u. hrsg. v. Hermann Uhde (1877), S. 298 ff. —
Für die Verfasserschaft der Katharinabiographie vgl. Meusel: Das gelehrte
Teutschland, Bd. XIV (1810), S. 168, Bd. XV (1811), S. 115 u. Chr. Gottl. Kayser:
Vollständiges Bücherlexikon (1750—1832), Bd. Ill (1835), S. 297.
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ganze Sache überhaupt nichts Problematisches. Er faßt Potemkins
Handeln symbolisch und ruft, den Knoten keck zerhauend, aus:
„Wenn Potemkins schöpferisches Genie seine Souverainin auf diese
angenehme Art zu täuschen wagte, so erblickt doch der Statistiker
hierin Wahrheit, sobald er den großen Gewinn im ganzen berechnet,
der Rußland unter ihrer Regierung an Volksmenge, an Wachsthum
von Handel, Gewerbe und Industrie zu Theil geworden isi*).“ Wie
wenig diese Zeitstimme aber Zeitstimmung war, geht schon aus der
Mühe hervor, die sich die anderen Apologeten der Carin gaben, um
Katharina vor dem Vorwurf der Sorglosigkeit und Leichifertigkeit
im Regieren in Schuß zu nehmen.
Sein tieferer Einblick in die russischen Zustände, aber auch sein
persönliches Ressentiment bestimmten wie stets so auch hier das
Urteil Weikards, das als artvertretend für die gegnerischen Stimmen
angeführt sei. Es ist an sich kaum unrichtig, wird aber Katharina
insofern doch nicht völlig gerecht, als es die Schwierigkeiten nicht
genügend berücksichtigt, die sich den kulturfordernden, europäisie-
renden Bestrebungen der Carin überall enigegenstemmien: „Man
wußte wohl, daß ihr Ohr nie geneigt war, Klagen zu hören. Wenn,
wie vielmal geschah, ein Senateur oder anderer vornehmer Beamter
irgendwo in eine Provinz geschickt ward, um die Verwaltung und
den Zustand des Volkes zu untersuchen: So weiß man schon, wie
man sich zu benehmen hat. Man stelit Bälle und Feste an, bringt
Geschenke; und der hohe Commissär reiset nach Hause, hinterbringt
der Kaiserin, daß alles im besten Zustande wäre: Hiermit war sie
zufrieden und verabscheuete jede andere Relation®’).“ Demgegen-
über hoben die Verteidiger Katharinas hervor, daß bei der raf-
finierten Art, mit der man ihren Blick zu „beschränken“ wußte, sie
schließlich nur das hätte sehen können, was man sie sehen lassen
wollte. Solche Argumente finden sich z. B. bei Seume und dem ehe-
maligen Lehrer am Petersburger Pageninstitute Georg Reinbeck®®),
zwei Männern, die wie Weikard Rußland aus eigener Anschauung
kannten, denen sich aber bei ihrem Wohlwollen für Katharina die
schwierige Lage der Carin viel stärker aufdrängte als dem ob seines
Mißerfolges am Carenhofe verbitterten und daher um jeden Preis
krittelnden Arzte. Das stärkste Argument aber, mit dem diese
Apologeten operierten, war der Hinweis auf das Geschlecht Katha-
ee) Hist. geneal. Kal, a. a. O. S. 106 f.
7) Taurische Reise, a. a. O. S. 174.
J Reinbeck, a. a. O. S. 37 und Seume: Zwei Briefe über die neuesten
Veränderungen in Rußland seit der Thronbesteigung Pauls I. (1799) in Werke,
a. a. O. S. 412: „Katharina war nur ein Weib, die bei allen großen Eigen-
schaften ihres Charakters doch in vielen Fällen immer nur sehen konnte, wie
man sie sehen lassen wollte. Auf ihrer Reise nach Cherson hatte man plob-
lich am Wege ungewöhnliche Wohlhabenheit geschaffen; es war auf Potem-
kins Wort eine neue Schöpfung entstanden, und selbst sonst öde Gegenden
wimmelten von glücklich scheinenden Menschen. Hätte sie nur fünfzig
Werste links oder rechts abwärts von der Heerstraße gemacht, mit welcher
Empfindung würde sie die wahre Gestalt des Landes gesehen haben, die
man ihr verbergen wollte.”
41
rinas: „Ist es denn aber auch dem großen Weibe zuzumuten, daß es
durchaus den Charakter ihres Geschlechfes verleugnen soll?... Die
Tiefe zu erforschen ist nicht des Weibes Talent. Was die Oberfläche
ihm darbietet aufzufassen, zu benugen, zu verschönen, das ver-
mag ese.“
Aber Reinbeck begniigte sich nicht wie sein Gesinnungsgenosse
Seume mit diesem pathetischen Appell an seine frauenfreundliche
Zeit, sondern bekundete auch schon eine gewisse Einsicht in die
Tragik, welche seit der Europäisierung durch Peter den Großen sich
noch an jeden Kulturbringer in Rußland geheftet hat. Es ist die
Tragik jener abgeleiteten Kulturen überhaupt, die einer fremden
forigeschrittenen und für sie vorbildlichen Kultur gegenüber wähnen,
daß durch Herübernahme einzelner der modernsten und am meisten
in die Augen springenden Errungenschaften derselben ein lang-
wieriger kultureller Entwicklungsprozeß übersprungen und so die
Differenz zwischen ihrer eigenen noch unentwickelten und der ent-
wickelteren vorbildlichen Kultur in Kürze ausgeglichen werden könne.
Tatsächlich aber wird durch die übereilte Herübernahme dieser
fremden Kulturelemente ein durchgängig höheres Kulturniveau nicht
erzielt, sondern diese bleiben innerhalb der noch unentwickelten kul-
turellen Verhältnisse fremdkörperhaft stationär und treten zu ihnen
in einen lebhaften Gegensatz, der auf die Dauer Unlustgefühle er-
weckt. Dazu kommen für Rußland als erschwerende Momente die
Energie- und Willensschwäche des Volkscharakters.
Diese Kontraste wurden von den damaligen Rußlandreisenden
bemerkt, und es ist viel von ihnen in ihren Reisebeschreibungen die
Rede’). Aber doch nur wenige haben sie zu begründen gesucht wie
Bellermann, der an seine Beobachtungen folgende psychologische
Bemerkung knüpft: „Dieses macht einen eigentümlichen Zug im
Charakter des vornehmen Russen aus. Er sirebt nach großen
Dingen. Hort er von etwas Vorzüglichem, so muß er es haben. Hat
er es, so bekommt er es leicht überdrüssig. Macht ihm jemand einen
Plan, sogleich ergreift er ihn mit beiden Händen. Früh geht er mit
Aufbietung aller Kräfte an die Ausführung des neuen Projektes, und
denselben Abend muß es fertig sein. Da das die langsam, aber mit
gleicher Kraft wirkende Natur nicht zuläßt, so werden für alle Sachen
Treibhäuser und Mistbeete angelegt. — Was ist der Erfolg? Eine
schnell hinwelkende Blume oder geschmacklose Südfrucht, die im
Norden durch künstliche Hitze erzeugt ist. So wollen veränderliche
Kinder alles, was sie sehen, um es den Augenblick nachher mit
Füßen treten zu können. Der Grund dieses ganz eigenen Charakter-
zuges scheint mir in der Geschichte der Bildung dieser Leute zu
liegen; wird diese übereilt, so bleiben es auch deren Neigungen und
Wüunsche?!).“
69) Reinbeck, a. a. O. S. 38.
70) F. Andreae: Beiträge zur Geschichte Katharinas Il. (1912), S. 1 f.
71) Bellermann, a. a. O. S. 239 f.
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Diese Bemerkungen hatte ganz offensichtlich Reinbeck vor
Augen, als er seine Apologie der Carin durch Zusammenfassung
aller mildernden Umstände zu der Würdigung Katharinas ausgestal-
tete, die, was die psychologische Begründung des Urteils anlangt,
innerhalb der übrigen deutschen Mitweit ihresgleichen sucht: „Katha-
rına verleugnete den Geist der Weisheit, der den Samen tief legt,
welcher einst zu einem schattigen fruchtreichen Baume emporsprießen
soll, der den Urenkel erquicken wird. Sie warf ihn hin, kaum mit
Erde bedeckt, und freute sich nun des fremden Aufsproßens; denn
sie selbst wollte Schatten und Frucht genießen; sie setzte den Geist
der Nation ins Treibhaus: Uppig schoß er in die Blätter und Blüthen
und manche der Blüthen wurde zur Frucht; aber die Frucht war saftlos
und wässerig und an die Hilfe des Treibhauses gewöhnt, möchte das
Verpflanzen nun schwerlich gelingen Und kann Katharina dafür,
da sie eine scheinbar so schnelle Entwicklung bemerkte und um sie
her gerade die Blüthen dufteten, daß sie sich vom Scheine blenden
ließ und dem Geiste der Nation, welche sie beherrschte, mehr innere
Kraft und innere Reife zutraute, als die Folge vielleicht aufwies?...
Und bei der Geschmeidigkeit des russischen Geistes, bei dem un-
vergleichlichen Talente, sich jede Form anzueignen, bei der Empfäng-
lichkeit für jede äußere Politur; war es einer jungen edlen weiblichen
Seele zu verargen, wenn sie von dem großen Gedanken, Bildnerin
einer Nation zu sein, und ihr einen ehrenvollen Plak in der Reihe
der gebildeten Nationen zu verschaffen, entflammt, den Schein des
Erfolges für Wirklichkeit nahm und sich der schon röthenden Frucht
freute ?72).“
Wie sich anläßlich der taurischen Reise der Carin die bis dahin
einheitlich zugunsten Katharinas auftretende Meinung ihrer deutschen
Zeitgenossen spalteie und von nun an Widersacher und Verteidiger
um den Einfluß auf die öffentliche Meinung ringen, so fand auch die
Einzelfrage nach ihrer Mitwisserschaft und Mitschuld an Potemkins
Betrug keine einmütige Antwort. Sie ist auch bis auf den heutigen
Tag noch nicht gegeben worden. Denn auch ein so guter Kenner der
russischen Geschichte wie Theodor Schiemann laßt in seiner Charak-
teristik der Carin die Frage offen. Da es aber interessant ist, an
seinen Ausführungen den Grad zu bestimmen, in dem die Auf-
fassungen ihrer Zeit unserer Auffassung von Katharina nahe kommen,
seien zum Schlusse dieses Abschnittes Schiemanns diesbezügliche
Sake im Wortlaute wiedergegeben: „Fast könnte man glauben, daß
auch Katharina selbst nur die glänzende Außenseite Rußlands sah,
denn unvergleichlich war die Kunst, mit der sie das Unangenehme
von sich fernzuhalten verstand, und alles in ihrer Umgebung war
bemüht, ihr dabei behilflich zu sein. Die Potemkinschen Kulissen,
die der Kaiserin auf ihrer Reise in die Krim ein Bild der Glückselig-
keit mitten in einem verwusteten und darbenden Lande vorspiegelten,
waren nicht Ausnahme, sondern Regel und zeigten nur an einem be-
sonders drastischen anekdotischen Beispiel das Verhältnis von
7) Reinbeck, a. a. O. S. 38 f.
43
Schein und Wirklichkeit an diesem halb orientalischen, halb euro-
paischen Hofe’:).“
X
Der Umschwung, der sich seit dem jahre 1787 in weiten Kreisen
ihrer deutschen Zeitgenossen zaungunsten der bis dahin so ver-
götterten Carin vollzog, ware nicht zu verstehen, wenn man sich
nicht vergegenwärtigen würde, daß die politische Konstellation
Europas beim Ausbruche des ersten russischen Turkenkrieges eine
völlig andere war als wie zur Zeit, da Katharina ihren zweiten Tür-
kenkrieg mit der pomphaften Ouvertüre der taurischen Reise begann.
Der Bedeutung des Jahres 1787 als eines besonderen Schicksals-
jahres in der politischen Geschichte des ausgehenden 18. Jahrh. ist
bereits mit den Worten Ernst Herrmanns gedacht worden. Es führte
im Verlaufe der Ereignisse dazu, daß die beiden größten Machte
Norddeutschlands, Preußen und das mit England durch Personal-
union verbundene Hannover, hart an die Schwelle eines Krieges
gegen das mit Österreich verbundete Rußland gebracht wurden, und
daß Preußen durch den Abschluß von Bündnissen (Januar und März
1790) mit den bisher von der deutschen öffentlichen Meinung so ver-
unglimpften Gegnern der Carin, mit den Türken und Polen in enge
Beziehung trat. Preußen hatte mit diesen Schritten einen Front-
wechsel vollzogen. Denn noch 1777 war das preußisch-russische
Bündnis, unter dessen Agide sich die preußische Politik bis in die acht-
ziger Jahre vorzugsweise abgespielt hatte, auf sieben Jahre verlängert
worden”). Dies alles aber mußte natürlich auf die öffentliche Mei-
nung zunächst in Norddeutschland einen Rückschlag ausüben. Aber
auch im übrigen Deutschland konnten die veränderten politischen
Verhältnisse naturgemäß nicht ohne Einwirkung auf die Beurteilung
der Carin durch ihre Zeitgenossen bleiben. Man darf hier wohl
nicht mit Unrecht — wenn sich die Zeitgenossen auch darüber eigent-
lich nicht geäußert haben — vor allem des Umstandes gedenken, wie
sehr Joseph Il. schon seit seiner Mitregentschaft, dann aber vor allem
seit seiner Alleinherrschaft in Österreich (1780) die öffentliche Mei-
nung durch seine „imperialistischen Tendenzen“ (Heigel) in bestän-
diger Aufregung erhalten hatte und wie wenig er deswegen trob
seiner volksbeglückenden Gesinnung und Haltung gerade in der
öffentlichen Meinung der schwächeren süd- und mitteldeutschen
Staaten beliebt war. Die Schadenfreude, mit der hier das Scheitern
seiner auf die Erwerbung Bayerns abzielenden Tauschpolitik begrußt
wurde, als Friedrich der Große den Josephinischen Annexionsgeliisten
durch die Begründung des Fürstenbundes (1785) Einhalt gebot, oder
die kühle Stimmung, die die Wurdigungen des Kaisers bei seinem
Tode (1790) gerade in diesen Kreisen beherrschte, zeigen das aufs
73) Gesch. Rußlands unter Kaiser Nikolaus J., Bd. I. (1904), S. 6.
74) F. Martens: Recueil des traités ef conventions conclus par Ja Russie
avec les pays étrangéres, Bd. VI Nr. 227.
44
“Ey, —
—
deutlichste™). Es war aber gerade die österreichisch-russische
Entente, aus der Josephs Hoffnung auf die Verwirklichung seiner
Projekte immer wieder neue Anregung und Nahrung zog, und es
war Katharinas Gesandter Rumjancev, der am Zweibrückener Hofe
im Interesse des Kaisers gewirkt hatte. Wenn auch diese Unter-
stützung eine mehr moralische als eigentlich tatkraftige war, so mußte
doch das russische Eintreten für den ewig ruhelosen Störenfried die
öffentliche Meinung gegen die Carin einnehmen, um so mehr als die
Garantie der deutschen Reichsverfassung, die der Teschener Friede
(1779) dem Carenreiche eingeräumt hatte — wie wir noch sehen
werden — je länger je mehr von den Deutschen als „ein Einbruch
Rußlands in die Gehege des deutschen öffentlichen Rechtes“ (Koser)
bedrückend empfunden wurde.
Indessen durch den Umschwung der politischen Konstellation
allein wird dieser Wandel in der deutschen öffentlichen Meinung zu
ungunsten Katharinas noch nicht völlig erklärt. Erst dadurch, daß
diesem politischen Umschwunge gewissermaßen ein Konstellations-
umschwung in den Ideen parallel ging und infolgedessen die Wirkung
der einen die der anderen verstärkte, wird es voll verständlich, daß
fortan das Bild Katharinas für einen bedeutenden Teil ihrer Zeit-
genossen ein in vieler Beziehung neues und nicht weniger als
schmeichelhaftes Gesicht erhält. Auf das Emporkommen einer neuen
Generation, die mit ihren Anschauungen und Ideen das geistige
Leben der letzten Jahrzehnte des Jahrhunderts immer stärker durch-
dringt, ist bereits ebenfalls hingewiesen worden. War die ältere
Generation des Aufklarungszeitalters groß geworden unter dem alles
beherrschenden Einflusse Voltaires, so wuchs die jüngere im Schatten
der Ideenwelt Rousseaus auf, der als geistiger Führer Voltaire ab-
löste, aber die eigentliche Weite des Umfanges seiner Wirkung nicht
wie Voltaire noch bei Lebzeiten erlebte. Denn beide sind 1778 ge-
storben, und erst nach Voltaires Tode ward die Bahn für den
Rousseaueinfluß völlig frei. Der Einfluß Rousseaus wird — um nur
die Eigenschaften zu nennen, die uns im Zusammenhange dieser Be-
trachtung besonders angehen — gekennzeichnet durch ein stärkeres
Hervortreten demokratischer, philanthropischer, pazifistischer Stro-
mungen. Nicht als ob die ältere Generation der Aufklärung aus-
gesprochen militaristisch gewesen wäre. Aber sie war in dieser
Beziehung den von ihr bewunderten Vertretern des aufgeklärten
Absolutismus gegenüber eher zu Zugeständnissen bereit als die
radikal-demokratische Gefolgschaft Rousseaus, die sich auch von
keinem aufgeklärten Herrscher mehr Achtung gebieten ließ. Die
Konflikte, in welche der Pazifismus der älteren Generation der Auf-
klarung dabei bisweilen geriet, hat Friedrich der Große, zwar die
Motive zu Unrecht verrufend, aber die Sache selbst treffend, drastisch
gekennzeichnet, wenn er scherzte, die Carin habe von Diderot nur
für schweres Geld einen Dispens zur Führung ihres ersten Türken-
78) Vgl. K. T. Heigel: Deutsche Geschichte vom ne Friedr. d. Gr. bis
zur Auflösung des alien Reiches, Bd. I (18%), S.55 u.
45
krieges erhalten”). Vor allem ist die menschenfreundliche Gesinnung
und Haltung der älteren Generation im allgemeinen noch frei von
dem Überschwang der Gefühle, die sich als eine der stärksten Aus-
wirkungen von Rousseaus Erscheinung und Schriften in der großen
Empfindsamkeitswelle über Europa ausgoß. Rousseaus Romane
haben auf das damalige Deutschland wohl doch noch größeren Einfluß
gehabt als seine rein politischen Traktate, die sicher langsamer, zum
Teil erst mit und infolge der französischen Revolution, die deutsche
öffentliche Meinung radikalisierten.
Es ist bekannt, wie sehr sich die aufgeklärten Herrscher durch
das Auftreten Rousseaus beunruhigt fühlten. Der älteste von ihnen,
Friedrich der Große, ermaß zwar noch nicht die Weite und Stärke der
Rousseauschen Wirkung. Er behandelte ihn daher mit gutmiitigem
Spott als eine Art von verrückten Sonderling und gewährte sogar
dem aus der Schweiz Vertriebenen in dem damals preußischen Neuf-
chatel ein Asyl. Aber er war doch der Meinung, daß man ihn am
Schreiben verhindern müsse, weil er „heikle Gegenstände“ behandle
und andere zur Torheit und Tollheit anstecke’”). Bei Katharina, die
die „Fleischwerdung seiner politischen Theorie‘ in der französischen
Revolution noch miterlebte, nimmt die Abwehr bereits viel schärfere
Formen an. „Diese Fürstin“ — so sagt ihr französischer Biograph
Castéra — „hatte ebenso viel Hochachtung für Montesquieu als Haß
gegen Rousseau, dessen politische Grundsake sie fiirchiete. Daher
ließ sie niemals eine Gelegenheit vorübergehen, um Rousseaus
Schriften an ihren schwachen Seiten anzugreifen. Sie schien die
Revolution zu ahnen, zu der diese Schriften so sehr beigetragen
haben“ e).
Nun darf man sich die Wirkungen des Rousseaueinflusses aller-
dings nicht so weitgehend denken, daß jetzt mit einem Male die ge-
samte öffentliche Meinung des damaligen Deutschlands von den
radikalen Theorien des „citoyen de Genêve“ ergriffen worden wäre.
Diese setzten sich vielmehr erst nach und nach und im wesentlichen
nur bei der jüngeren Generation durch, während die ältere sich ihrer
Einwirkungen hartnackig verschloß. Infolgedessen kommi es nicht
etwa zu einer einmütigen Kritik oder Verurteilung Katharinas und
ihrer Taten. Aber die Einheitsfront der Bewunderer, die bisher
mit aufklärerischem Optimismus alle Schritte der Carin nicht nur
wohlwollend, sondern mit mehr oder weniger einmütigem Jubel auf-
genommen hatten, ist zerstört, und die Lobredner der Carin sind in
die Defensive gedrängt. Die Panegyriker werden zu Apologeten.
Dementsprechend verliert das Katharinabild der deutschen Zeit-
genossen die Geschlossenheit eines mehr oder weniger schema-
tischen Idealtypes, als welches es bis dahin erschienen war. Nicht
eigentlich zu seinem Schaden, denn es kommen dadurch manche neue
Züge hinein, die allerdings teilweise karikaturenhaft verzerrt sind.
78) Koser, a. a. O. Bd. Ill, S. 450.
77) Ebd., S. 449.
78) Historie de Cathérine Il., Paris en VIII, S. 140.
46
ja, fast könnte man meinen — gegenüber der bisherigen Verhim-
melung der Carin —, daß man erst von nun an, wo die Meinungen
der Widersacher und Gegner Katharinas hart aufeinandersioßen, wo
erst alle Momente des Für und Wider hervorgesucht und voll aus-
genutzt werden, überhaupt von einer Beurteilung der Kaiserin durch
ihre deutschen Zeitgenossen reden dürfte. Der zeitliche Ausgangs-
punkt für den entbrennenden Streit über Katharina in der deutschen
öffentlichen Meinung war die taurische Reise, die uns darum auch
zunächst dazu gedient hat, den Stimmungsumschlag der deutschen
Zeitgenossen darzulegen. Es ist allerdings nicht ganz sicher, ob
dieses Ereignis schon von Anfang an auch in Deutschland wie z. B.
in Frankreich sofort eine abfällige Kritik ausloste, oder ob erst die
abgünstige Beurteilung des zweiten Türkenkrieges auch auf die Be-
urteilung dieser demonstrativen Reise in ungünstigem Sinne zurück-
wirkte. Denn die von uns angeführten Zitate stammen alle erst aus
den neunziger Jahren, während die gleichzeitigen deutschen Zeit-
stimmen sich der Reise gegenüber — wie gesagt — im wesentlichen
referierend verhielten.
Mit voller Deutlichkeit meldete sich aber die zeitgenössische
Kritik sofort beim Ausbruche des zweiten Turkenkrieges zum Wort.
Allerdings ist es bemerkenswert, daß das Interesse nicht mehr das
gleiche ist wie für den ersten Türkenkrieg. Nicht nur in Nord-
deutschland, wo die gegen die beiden Kaiserhöfe gerichtete preu-
ische Politik Friedrich Wilhelms Il. dämpfend wirkte”), sondern auch
ganz allgemein in Deutschland wurde die neue orientalische Krisis
mit Kühle beurteilt. Mehrere der diesmal wieder zahlreich aus dem
Boden schießenden Türkenkriegsgeschichten®) mußten schon 1788
ihr Erscheinen einstellen. Die französische Revolution warf ihre
Schatten voraus und lenkte mit ihren Vorläufern, der Zuspitzung der
Verhältnisse in Frankreich oder mit dem belgischen Aufruhr, das
Interesse zu einem sehr erheblichen Teile nach Westen ab. In der
der Carin freundlichen Literatur vernehmen wir bei Ausbruch des
zweiten Türkenkrieges zunächst wieder ganz dieselben Töne, die der
erste der deutschen öffentlichen Meinung entlockt hatte: „Eine bar-
barische Regierung, welche durch Jahrhunderte die Geißel Europas
war, unterdrücken“, — so schrieb man — „heißt die Rechte der
Menschheit rächen“. Die Türken blieben nach wie vor der „Erb-
feind“. Daher lobte man den Eifer der großen Carin. Ihre Sache
hatte „ein so ehrwürdiges Geprage, daß jeder Unbefangene ihre
Partei nehmen muß“). Katharina wurde erneut aufgerufen, Kon-
siantinopel zu nehmen, und im Geiste sah man bereits Konstantin
Pavlovič, den Enkel der Carin, als „Asiens Kaiser“ in Byzanz
ihronen®). Gleim riet dem Sultan, der Carin lieber freiwillig die
re) Heigel, a. a. O. Bd. IJ, S. 175.
s) Bilbasov, Weltliteratur, a. a. O. Bd. Il, Nr. 508, 509, 510, 512, 513.
sı) (Johann Rautenstrauch) Ausf. Tagebuch, a. a. O. Bd. I, S. 17 u. 46.
e2) J. M. Hofmann, a. a. O. S.36f.
47
Dardanellen auszuliefern, als halsstarrig unnötiges Blutvergießen zu
veranlassen. Abdul Hamid erschien gleich seinen Vorgängern als
blutrünstiger Tiger, als ein Mensch, dessen Auge nur an Mordtaten
Wohlgefallen findet“.
Auch Wekhrlin kannte kein Erbarmen mit den Feinden der
Zivilisation und trat daher energisch für die Sache der beiden Ver-
bündeten ein. Er läßt in den „Hyperboräischen Briefen“ zwei Ra-
gusaner (Preußen) für die Türken beten: „Mag man immer“, sagt der
eine, „in der Hofkapelle zu Warschau für die Russen, in Regensburg
für die Österreicher beten, dem ragusanischen Interesse entspricht
nur die Niederlage Josephs und der Sieg des Türken“. Doch der
zweite ist anderer Meinung: „So, Freund, müssen wir als Ragusaner
denken, als Weltbürger aber und als Menschen sind wir verpflichtet,
den deutschen Waffen Glück zu wünschen. Es ist Zeit, daß der
Barbarisme ein Ende nimmt. Der Menschlichkeit, der Kultur, den
Sitten, die in so schöner Blüte stehen, ist daran gelegen, die Turkei
in die Hände gesitteter Volker zu bringen, ein Interesse, das größer
ist als Gleichgewicht und Verträge!“
Als neues Motiv der Zeitstimmung gesellt sich zu den Außerun-
gen dieser Art noch ein sozusagen philhellenistisches, das in den
deutschen Zeitdokumenten während des ersten Türkenkrieges fehlte,
dem aber nun ebenso die Erinnerung an Orlovs Archipel-Expedition
wie Katharinas griechisches Projekt stärker zum Worte verhalfen. Es
ist kein Zufall, daß sich auch hier wieder Gleim zum Sprachrohr
solcher Gefühle machte, kommt doch seinem Halberstadier Kreise in
der Geschichte der frühphilhellenistischen Bewegung in Deutschland
eine besondere Bedeutung zu®). Freilich erweist sich der gute Vater
Gleim in seinem affektierten „Hellenismus“ wie in so vielen Geistes-
produkten seiner späteren Zeit bereits als reichlich senil:
„Die große Kaiserinn will das Zerstörte bau’n:
Ein neuer Phidias, ein neuer Glykon soll —
Die Pallas, den Saturn, die Venus, den Apoll
Und den, der mit den Augenbraun
Erschüttert den Olymp, aus Marmor wieder hau’n!
Die große Kaiserinn will Sparta, will Athen
Gebaut im dritten Jahr nach ihren Siegen sehn!“
Während die ältere Aufklärung aus traditioneller Verehrung für
den aufgeklärten Absolutismus auch jest noch treu zur Carin halt,
treten die demokratisch-philanthropischen Junger Rousseaus als An-
klager in die Schranken. Wie ihr Meister selber feindeten auch sie
ss) Gleim in dem Gedicht „An 18 Abdul Hamid“ (1787) in sämtl.
Werke, hrsg. v. V. Körte, Bd. VI (1811), S. 260.
ss) Hyperboräische Briefe Jg. 1788, Bd. IV, S. 138. Vgl. dazu Heigel,
a. a. O. Bd. I, S. 17
ss) Vgl. R. F. Arnold: Der deutsche Philhellenismus. In Euphorion Erg.
Heft II (1896), S. 90.
88) Werke, a. a. O. Bd. VI, S. 260.
48
die Carin an und begannen sie ihres Willkürregimentes wegen zu
hassen. Aber auch die Stimmung dieser jüngeren Richtung ist nicht
einheitlich. Je nachdem sie mehr die Staatsraison im Auge hat und
über das Wohl des Individuums stellt, ist ihre Kritik der Carin
milder, Neben diese gemäßigt Urteilenden aber treten schon wesent-
lich radikalere hervor und zeigen sich dem Verlauf der Revolution
in Frankreich entsprechend in zunehmender Radikalisierung be-
griffen. Als reine Ideologen des Philanthropismus verkennen sie das
geschichtlich Gewordene und Bedingte. Sie betrachten nur das
menschliche Elend, ohne sich auf Erörterungen über den Vorteil und
Nachteil des Staatsganzen einzulassen, und deshalb wird von ihnen
der zweite Türkenkrieg verurteilt als eine mutwillige Aufopferung
und Belastung der Untertanen. Katharina sinkt von dem Piedestal
der Kreuzzugsheroine herab; sie wird zur riicksichtslosen, menschen-
feindlichen Eroberin. Damit ergab sich von selbst, daß man nicht
nur mit dem russischen Volke, sondern auch mit den Türken, obwohl
diese den Krieg erklärt hatten, mitfiihlte. Die Parteinahme für die
Türken, die in Frankreich in der Regel nur Sache der Politik gewesen
war, wird in Deutschland nun eine Herzensangelegenheit der bürger-
lichen, oft philiströs-bürgerlichen Moral. Das deutsche Publikum
nimmt für die Türken, dann auch für die Polen Partei — wie Seume
es ausdrückt — „aus einer allgemeinen sehr edien Sympathie mit
den Schwachen und Unglücklichen“ r).
Zu dieser Partei zählt die kleine, 1788 zu Wien erschienene
Schrift „Ein Wort im Vertrauen über den Türkenkrieg“, eine der
frühesten Anklagen gegen die Carin. „Katharina und Josef, die man
beide unter die Zahl der guten Regenten zählt" — so setzt der un-
bekannte Verfasser gleich auf den ersten Seiten heftig polemisierend
ein —, „können und werden in einer kurzen Zeit das Gute, was sie
ihren Ländern getan, aus Leidenschaft mit zehnfachem Bösen ver-
gällen! Eine traurige Weissagung, die dem vielleicht nicht so ein-
leuchtend sein mag, der nicht selbst die Lanze gegen die Barbaren
führen, nicht selbst die drückenden Abgaben entrichten muß.“ Auf
die Frage, warum eigentlich dieser Türkenkrieg geführt wird, wird
geantwortet: „Damit jene unbeschränkte Monarchen ihre Phantasie
ausführen.“ Der Vorteil, den der Feldzug möglicherweise einbringt, ist
der, „daß wir um eine Strecke Landes mehr an unser Haus bringen“.
Der Nachteil aber ist ein entsetzlicher: „Vielleicht eine Million Men-
schen, hundert Millionen Geldes, die Länder werden ausgesogen, die
besten Männer . . müssen in der Bluthe ihrer Jahre verbleichen.“
Mit den Türken sympathisierend, von denen er findet, daß sie doch
eigentlich „friedliche Nachbarn“ sind, sieht der Verfasser in Rußland
und seiner Carin die Anstifterin des Krieges: „Man sage mir nicht,
daß Rußland von den Muselmännern zuerst beleidigt ward, der ganze
Krieg bloß Verteidigung wäre: Seht nur ein bißchen weiter zurück,
das Gewebe ist fein gesponnen; aber Ihr seht es endlich doch.“
en Seume Werke, a. a. O. S.453.
aur 5 49
Katharina, von „eifler Ruhmsucht“ getrieben, skrupellos in der Wahl
ihrer Mittel, läßt in schrankenloser Willkür Menschen „wie guimütige
Lämmer“ schlachten. Der Verfasser meint, daß die Carin nur aus
der Ferne gewinne, in der Nähe aber verliere, und in Anspielung
auf das Katharinabild der älteren Aufklärer sagt er: „So ein be-
schriebenes Bild kam auch von der Kaiserin der Reußen zu uns
herüber. Mutter! rufen die Heuchler ihr zu. Doch keine Stiefmutier
gegen ihre eigenen Kinder? — Voltaires Schülerin! Und Krieg auf
Krieg! Verwicklung der Mächte mit Mächten! O Manner, hütet Euch
vor herrschsuchtigen Frauen.“ Die Gehässigkeit dieser Broschüre
gegen Katharina wird noch über diese Vorwürfe hinaus besonders
deutlich an der Stelle über die Hinrichtung des Rebellen Pugacev,
wo der Verfasser in vollkommen phantastischer Erfindung der Carin
persönliche Neigungen zu sadistischer Grausamkeit andichtet: „Als
sich einst dem russischen Reich ein falscher Kaiser zeigte, ließ ihm
die Kaiserin von Metall Kron und Zepter machen, die Krone heiß
glühend auf das kahle Haupt sehen und das Zepter heiß glühend in
die schwache Hand geben®®).“ Solche Züge von sadistischer Grau-
samkeit im Katharinabilde dieses Zeitgenossen entsprechen nicht der
Wirklichkeit. Vielmehr ist Katharina von solchen Neigungen vollig
frei; aber die Verdächtigungen dieser Broschüre bilden auch in den
Schriften der Widersacher ein Unikum, und die milde Bestrafung
Pugatevs wird von ihren deutschen Zeitgenossen mehrfach hervor-
gehoben®*).
Die verschiedenen Richtungen hatten natürlich nach Art ihrer
Einstellung zur Carin auch ihre besondere Beurteilung der Kriegs-
ereignisse. Wie 1768 war Rußland jest wieder ganz ungenügend
vorbereitet in den Krieg gegangen. Aber diesmal beurteilte man die
russischen Kriegsrustungen weit weniger günstig, und die ungünsti-
gen Beurteilungen kamen nicht nur aus dem gegnerischen Lager,
sondern auch aus dem der österreichischen Verbündeten. Als die
Russen den Feldzug mit wenig Glück eröffneten, klagte Joseph
seinem Bruder Leopold, daß er von Rußland nur Worte höre, aber
keine Taten sehe, daß es trob seiner Großsprecherei so gut wie
nichts getan habe und, wie er fürchte, auch im Winter und Frühjahr
nichts tun werde). Im gleichen Sinne rügte auch die für den Wiener
Hof wirkende „Unparteiische Geschichte des gegenwärtigen Krieges“
das Verhalten der russischen Truppen und gab schonungslos die zum
Teil unglaublichen Zustände, in denen sich die Ausrüstung der rus-
sischen Soldaten befand, der Offentlichkeit preis"). Aber die Oster-
reicher hatten wenig Ursache, auf den russischen Verbündeten herab-
es) S.4f., 13 f., 29 f.
ss) Vgl. Deutsche Chronik Jg. 1774, S. 567. — Zeichnungen, a. a. O. S. 185.
— David Jenisch: Geist und Charakter des achtzehnten Jahrhunderts, Bd. III
(1801), S. 210.
°°o) Joseph Il. und Leopold von Toskana. Ihr Briefwechsel von 1781 —1790.
Hrsg. v. A. v. Arneth, Bd. II (1872), S. 146.
1) Bd. II (1789), S. 69.
50
zusehen. Denn auch ihre Heere richteten nichts aus und mußten vor
den Türken zurückweichen. So hatten die kaiserlichen Organe bald
genug zu fun, die eigene Sache vor den eigenen Landsleuten zu
rechtfertigen und alle Angriffe auf die kaiserliche Kriegsführung als
„böswillige Angriffe der Antilascyaner“ zuriickzuweisen™). Da sie
jedoch nichts positiv Tröstliches zu melden hatten, begnügten sie sich
damit, auf die Zweifler und Kleinmütigen zu schelten: „Die Russen
und Österreicher, sprechen einige politische Kannegießer und ihre
Nachbeter, werden gegen die Türken nichts ausrichten. Und warum?
Weil wir es wünschen und weil wir wirklich noch sehr kleine Erobe-
rungen gemacht haben®®).“
Man hatte Grund zu pessimistischen Betrachtungen. Denn schon
im September 1787 wurde fast die ganze russische Flotte, auf die
Katharina und Potemkin so große Hoffnungen gesebt hatten, vor
Varna durch einen Sturm vernichtet. Potemkin verlor den Mut und
wollte die Krym räumen. Dazu kam aus dem ungarischen Insurrek-
fionsgebiet im Rücken der unglücklich operierenden kaiserlichen
Armee eine Unglücksbotschaft nach der anderen. In diesen kritischen
Tagen fand die Sache der Verbündeten in dem leicht entztindbaren
Schubart einen warmherzigen Anwalt. Schubart wollte die Sache
des Kaisers als Sache aller Deutschen aufgefaßt wissen und rief die
Deutschen mit drohnendem Pathos, allerdings völlig erfolglos, zur
Unterstiigung Josephs und Katharinas auf: „Der ist kein Deutscher,
dem nicht das Herz über die mißliche Lage seines Kaisers blutet!“
„Welch ein Schauspiell Eine Nation ohne Taktik, ohne Akademien,
ohne Aufklärung packt einen christlichen Kaiser und eine genialische
Kaiserin bei der Kehle und würgt sie zum Ersticken!“ „Jeder Deutsche
müsse erröten, wenn er höre, was sein Kaiser im Kampf mit den
Ungläubigen zu fragen und zu leiden habe! Freilich gabe es im
Reiche genug feile Politiker, denen Religion und deutsche Freiheit
gleichgültig geworden seien, die also mit Vergnügen den Türken
wieder vor Wien erblicken würden, ohne zu bedenken, daß dieser
blutige Komet Zerstörung und Barbarei an seinem Schweife trage.
Unfaßbar müsse es jedem Patrioten erscheinen, daß Preußen, das
edie Preußen, Gewehr bei Fuß die Not des Kaisers mit ansche,
immer nur mit fremden Mächten liebäugele und seine deutschen
Pflichten migachte").“ Wir glauben dieser Herzensergießung Schu-
barts gegenüber nicht, daß sie eigentlich kennzeichnend ist für die
Stimmung der damaligen öffentlichen Meinung Deutschlands. Auch
Heigel, der den diesbezüglichen Passus aus der „Vaterländischen
Chronik“ ausführlich wiedergibt, lehnt es ab, daraus Schlüsse für die
en) Heigel, a. a. O. Bd. I, S. 174.
) Unpartheiische Nachricht von dem Ursprung, von den Eroberungen,
dem Reich, der Regierung u. d. Kriegsverfassung der Türken sowie auch
von den Ansprüchen der Kaiserin Katharina Il. (1788), S. 52.
*) Vaterländische Chronik 0 1788, S. 630 war mir nicht zugänglich.
Daher zitiert nach Heigel, a. a. O. Bd. I, S. 174.
e 51
tatsächliche deutsche Volksstimmung dieser Tage zu ziehen). Auch
das Jahr 1788 schien vorüberzugehen, ohne wesentliche Erfolge zu
bringen. Da fiel endlich kurz vor Jahresschluß nach langer Belage-
rung die Festung Očakov. In den Kreisen der europäischen Kabinette
maß man diesem militärischen Erfolge mit Recht eine große Bedeu-
tung bei und suchte bei Freund und Feind auch den politischen Ertrag
dieses Erfolges richtig einzuschäßen®®).
Bei der Mehrzahl der deutschen Zeitstimmen über dieses Ereignis
ist im Gegensak dazu von sachlichen Gesichtspunkten wenig die
Rede. Man fragte nicht nach der strategischen Bedeutung des
Platzes, sondern nur nach den Opfern. Die „Literatur- und Völker-
kunde“, das Blatt des keineswegs radikalen Archenholz, brandmarkte
den Ehrgeiz der Carin, die so ungeheures Elend verschuldet hatte”),
und das „Hannöversche Magazin“ ließ die Tatsachen für sich selber
sprechen, indem es den Bericht eines Teilnehmers an der Erstürmung
Otakovs abdruckie: „Des Mordens war kein Ende, aber dabei ward
gar nicht geschrien; man horte dann und wann hochstens ein dumpfes
Gemurmel oder das ängstliche Geschrei einer Frau. 100 Bajonett-
stiche gab man von unserer Seite immer gegen einen einzigen
FlintenschuB*).“
Auch die späteren, Katharina durchaus wohlgesinnten Biographen
und Historiker überfällt, wenn sie in ihren Erzählungen auf den
Kampf um Očakov zu sprechen kommen, ein unverhohlenes Grauen,
das von der starken Erregung zeugt, in die das Massaker dieses so
ausgesprochen philanthropische Geschlecht versebt hatte: „Nichts,
nichts von den glorreichen Triumphen der Russen über die Türken“
— ruft David Jenisch in den dem Kulturcharakter seines Jahrhunderts
gewidmeten Betrachtungen aus —, „das Herz blutet dem Menschen-
freunde®).“ Nach ihm verstießen Katharinas Kriege gegen die Ge-
setze des europäischen Völkerrechts, sie kehrten die ganze asiatische
Grausamkeit hervor. Biester erklärte, daß die Greuel, welche die
erbitterten Sieger in der ihnen preisgegebenen Stadt begingen, den
Tag von Očakov zu einem „der schauderhaftesten des Jahrhunderts
machten“ 100. Ein Aufsatz in der „Minerva“ von 1798 beklagte die
„rücksichtsiose Menschenschlachterei“ vor allem im Hinblicke auf die
Tatsache, daß Rußland auf dem ganzen Erdboden an Menschen ohne
Vergleich das allerarmste seit). Wenn sich solcher Betrachtungs-
weise gegenüber hier und da eine Stimme meldete, die auf die
Größe des Erfolges hinzuweisen suchte, oder wie der deutsche Arzt
von Drümpelmann darlegte, daß durch diesen Sieg die russische
»s) Heigel, a. a. O. Bd. I, S. 174.
ee) Vgl. Alexander Brückner: Katharina Il. (1883), S.364f. — A. v. Arneth:
Joseph Il. u. Katharina II., a. a. O. S. 325.
97) Jg. 1789, Bd. Il. S. 588.
ee) Jg. 1789, S. 559.
%) Jenisch, a. a. O. Bd. = S.559.
199) Biester, a. a. O. S. 277
101) Jg. 1798, Bd. Ill, S. 11.
52
Grenze gedeckt und der Handel auf dem Schwarzen Meer gesichert
würden:, so drangen solche Stimmen nicht durch in einer Zeit, in
der man wie Forster in Potemkin nichts anderes als einen modernen
Attila sah‘), der „3000 Tataren, Männer, Weiber und Kinder, ein-
fangen und kaltblütig ermorden ließ“ *, in der Suvorov als der
wiedererstandene Tamerlan galt, und Katharina in des Pamphletisten
Albrecht „Neuesten Reisen ins Tierreich“) als Hyäne figurierte.
Das Jahr 1789 war den Verbündeten günstig und fand daher die
Bewunderer der Carin und des Kaisers wieder obenauf. Schubart
genoß mit Behagen die Siege der „vom Glück gekosten Russen“ bei
Fokschani und am Rymnik, die Eroberungen von Akkerman und
Bender und plünderte den Bilderschatz des Alten Testamentes und
der Apokalypse, um solche Triumphe würdig zu feiern: „Der Schreck
geht vor ihrem Namen her wie ein Riese des Himmels, was sie
wollen, geschieht. Von Tobolsk bis nach Cherson fliegen die ehernen
Reiter herbei, fühllos gegen die Pfeile der Sonne wie gegen den
schneidenden Hauch des Nordsturms. Unerschöpflich rinnen die
Quellen der großen Carin:®).“ Mit der Eroberung Ismails im De-
zember 1790 aber erhoben sich von neuem die Anklagen gegen die
ungeheuren Menschenaufopferungen. Wie sehr die russischen
Waffen glänzten — denn Ismail hatte für uneinnehmbar gegolien!") —,
so wurde, wie Seume sagte, ihr Ruhm doch verdunkelt durch die
Unmenschlichkeiten, die hier begangen waren. Waren aber auch der
Unordnungen und Orausamkeiten bei Očakov und Ismail „bei weitem
nicht so viele, als das auswärtige Publikum glaubt und sich noch
täglich erzählt)“ der Makel, der deswegen an der Carin haftete,
hieß sich nicht mehr wegwischen. Selbst Schubart sprach diesmal
von der „russischen Löwin“, deren Mähne immer mit frischem Blut
besprikt ist), und der als Verfasser von Sensationsromanen übel
berüchtigte Friedrich Albrecht war auch bald wieder zur Stelle. Er
widmete Suvorov unter dem Titel „der Totentanz bei Ismail, Ge-
schichte einer Bluthochzeit nebst dem Leben des Brautigams” eine
„sinnlose und alberne Biographie“ (Bilbasov), die allerdings erst
1803 mit dem fingierten Druckort St. Petersburg erschien, aber
108) Beschreibung meiner Reisen und merkwürdigen Begebenheiten
meines Lebens (1813), S. 65.
388) Schriften, a. a. O. Bd. VI, S. 213 f.
100) Fak Werke, a. a. O. Bd. Ill, S. 208.
108) (1796) S. 48f. — Vgl. auch Andreas Rebmanns Zs. „Die Geibel“,
Jo. 1797, St. 7, S. 109 f.
208) Vateri. Chronik J. 1789 in Ges. Schriften, a. a. O. Bd. VII, S. 214. —
Vgl. Ausführl. Gesch. d. Krieges zw. „ Osterr. u. d. Türkei u. d. daraus
entstandenen nordischen Krieges, Bd. (1791), S. 6af. — Frhr. v. Tannen-
berg, a. a. O. S. 212. — Hist. geneal. Kal., a. a. O. S. 92 f.
ser) Biester, a. a. O. S. 283 f. Zeichnungen, a. a. O. S. 186.
3) Seume Werke, a. a. O. S. 454.
300) Ges. Schriften, a. a. O. Bd. VII, S. 307.
wesentlich früher geschrieben ist***). Forster erschienen die Türken
menschlicher als die Russen. Er war erschüttert über die Menschen-
verachtung der russischen Feldherren: „jede Festung hat ihren Preis,
die Frage ist nur, ob man ihn geben will, ob man ihn geben kann**).“
Die politische Lage hatte sich in den lebten Kriegsjahren sehr
zuungunsten der beiden verbündeten Mächte verändert. Österreich
war durch die Konvention von Reichenbach genötigt worden, mit der
Pforte Frieden zu schließen, während Rußland trok der Drohungen
Preußens und Englands sich nicht zum Abschluß eines Friedens auf
dem Grunde des Status quo zwingen ließ. Erst nach der vernichten-
den Niederlage der Türken bei Matschin (9. Juli 1791) kam es zu
einem Waffenstillstande, dem am 9. Januar 1792 der Friedensschluß
von Jassy folgte. Wie auch von den modernen Historikern!) der
tapfere und zähe Widerstand, mit dem sich Katharina der preußisch-
englischen Vermittlungsaktion gegenüber behauptete, restlos an-
erkannt wird, so gaben sich auch schon damals die Bewunderer der
Carin einer ungehemmten Begeisterung über die Standhaftigkeit
Katharinas hin, vor der es die beiden Mächte „bei eitlen Drohungen“
bewenden lassen mußten). Die große Frau veränderte ihr System
nicht, und die Pforte war genötigt, einen abermals ungünstigen
Frieden abzuschließen“).
Unmittelbar unter dem Eindrucke des Friedensschlusses wurde
damals in einer der Türkenkriegsgeschichten, die durch ihre sorg-
fältige Arbeit aus der Reihe der übrigen herausfällt, das Fazit der
bisherigen Orienipolitik Katharinas mit folgenden Worten gezogen:
„Dies ist der sechste Friede, den Rußland in diesem Jahrhundert mit
der Pforte abgeschlossen hat. In den drei ersten schrieb die Pforte
Rußland, in den drei letzten unter Anna und Katharina Rußland der
Pforte Geseke vor. Keiner davon hat so reelle Vorteile verschafft,
außer denen, die unter der jetzigen Kaiserin geschlossen worden sind.
So glänzend als das Jahrhundert in mehr als einer Rücksicht für
Rußland anfıng, so glänzend schließt sich dasselbe mit einem Kon-
traste der Größe und Umschaffung, von dem in einem solchen Zeit-
raume nur Preußen eine Ähnlichkeit aufweist. Vorzüglich ist der
gegenwärtige Friedensschluß ein ewiges Denkmal des Ruhmes für
Rußland und dessen große Beherrscherin**).“ Um die gleiche Zeit
110) Bilbasov Weltliteratur, a. a. O. Bd. Il, S. 120. — Die Schrift, die mir
selbst nicht erreichbar war, erschien auch unter dem Titel: „Kakodämon der
Schreckliche, Pansalvins und Mirandas Donnerkeil, Revisor des Codex der
Menschenrechte“ (1800).
411) Schriften, a. a. O. Bd. VI, S. 213 f.
118) Obersberger, a. a. O. Bd. I. S. 377.
13 . Brückner, Katharina, a. a. O. S. 401. — Übersperger, a. a. O.
114) Biester, a. a. O. S. 282.
118) Seume Werke, a. a. O. S.454. — Vgl. Polit. Journal jg. 1796, S. 1243.
> ay Gesch. d. östereichisch-russischen u. türkischen Krieges (1792),
bekannte Schubart: „Es demiithigt den Männerstolz sehr, wenn er
jezt sehen muß, daß — ein Weib die größte Rolle in der Welt
spieltt1").“
Man sicht aus diesen zahlreichen Anführungen von Stimmen der
damaligen deutschen öffentlichen Meinung, die wir leicht noch ver-
mehren könnten, daß die Zeitgenossen durchaus ein Oefühl dafür
hatten, was die beiden Friedensschlüsse von Kutschuk-Kainardsche
und Jassy für die Stellung Rußlands im Orient bedeuteten. Gleich-
wohl fiel es niemand unter den Bewunderern Katharinas ein, auf die
Verschiebung der Kräfteverhältnisse auf der Balkanhalbinsel, das
Zurücktreten des österreichischen und das Vordringen des russischen
Einflusses und die dadurch eintretende Störung des europäischen
Gleichgewichts auch nur andeutend hinzuweisen. Nur das schon
angeführte Wort Wekhrlins bildet in dieser Beziehung eine Aus-
nahme. Aber Wekhrlin weist, wie wir sahen, diesen politischen Ge-
sichtspunkt der Angelegenheit weit von sich. Er erscheint ihm unter-
geordnet und unwürdig im Vergleich zu dem höheren interesse, das
die Zivilisation an dem Übergang der türkischen Länder in den Besitz
gleichviel welcher europäischen Kulturmacht hat.
Man könnte nun vielleicht geneigt sein anzunehmen, daß wenig-
stens die Gegner der Carin diesen politischen Gesichtspunkt stärker
betont hätten. Aber auch bei ihnen findet sich davon keine Spur.
Ihre Polemik wendet sich nicht aus politischen Gründen, um die sich
damals anscheinend lediglich die zünftigen Politiker, die Rate und
Diplomaten der einzelnen Kabinette kiimmerten, sondern aus morali-
schen gegen „die Eroberungssucht“, „die Ländergier“, „die Un-
ersättlichkeit“ der „ehrgeizigen“, „ruhmsüchtigen“, „eitlen“ Selbst-
herrscherin aller Reußen, und je nach Anlage und Temperament des
einzelnen Polemikers kleidet sich das Urteil in pathetische Entrüstung
oder spottende Ironie. Nur um für letztere hier noch ein Beispiel
zu geben, möge eine Stelle aus der „Minerva“ von 1798 zitiert sein,
in der der Verfasser sich darüber lustig macht, wie Katharina in
ihrer Maßlosigkeit troķ aller Anstrengungen schließlich doch nur
einem Phantom nachgejagt habe: „Katharina Il. hat alle Lander er-
obert, auf welche die russische Regierung Anspruch machen zu
können glaubte, es fehlte nur ein Stück von Lappland und — — das
morgenländische Kayserthum***).“ Im übrigen verlohnt es nicht, auf
die Ausfälle der Gegner Katharinas, die nach dem Friedensschlusse
von Jassy laut wurden, noch weiter einzugehen. Sie sind sowohl
ihrem Gedankenkreise als ihrer Tonlage nach genau die gleichen
wie die, welche wir bei der Erstiirmung von Očakov kennen lernten.
Zur Kennzeichnung der phantastischen Vorstellungen, in welchen sich
diese pazifistischen Menschenfreunde vielfach bewegten, sei schließ-
lich noch auf die Schäßungen der Menschenverluste in den Türken-
kriegen aus der „Minerva“ von 1798 verwiesen: „Nach einer richtigen
öffentlich. bekannt gewordenen Berechnung“ gibt diese Zeitschrift an,
117) Vateri. Chronik Jg. 1791, S. 268.
118) Bd. III. S. 10.
daß die russische Regierung in den beiden Türkenkriegen 600 000
Mann aufgeopfert hätte, und daß die von den Russen Getoteten „be-
sonders unter den Polen, Türken und Tataren“ sich auf Millionen
belaufen). Angesichts Solcher Vorstellungen ist es nicht weiter
verwunderlich, daß diese Art von Zeitgenossen nicht nur die Russen
der Grausamkeit bezichtigte, sondern auch Katharina deswegen an-
klagte und in der aufgeklärten Carin den „Würgeengel“ erblickte,
der gekommen war, das menschliche Glück zu vernichten***).
Fortsetzung folgt.)
110) Ebd., S. 11.
ıs0) Ein Wort im Vertrauen, a. a. O. S. 2. — Gleichzeitig und neben den
Operationen auf dem türkischen Kriegsschauplab mußte Katharina von
1788—90 gegen Schweden Krieg führen. Wenn schon die öffentliche Meinung
Deutschlands für die orientalische Krisis von 1787 ein viel laueres interesse
hate als fiir die von 1768, so steht sie dem Kampfe im Norden, der sich als
5 der Orientpolitik der Carin e e beinahe gleich-
gülig gegenüber, obwohl die beiden Gegner das Ausland durch Propa-
andaschriften zu beeinflussen trachteien. Nur eine einzige zeitgenössische
eschichte des Schwedenkri 85 ist bisher bekanntgeworden G. Horst:
Geschichte des lebten schwed.-russ. Krieges, 1792). Auch die 33
der Kaiserin behandeln mit Ausnahme von Seume (Werke, a. a. O. S. 453 f.)
den russ.- schwed. Krieg sehr stiefmültlerlich, so dak man aus den wenigen
Urteilen der Zeitgenossen kein hinreichend sicheres Bild erhält, um diesem
Ereignis in seiner Rückwirkung auf die öffentliche deutsche Meinung beson-
dere Ausführungen zu widmen. So viel ist gewiß, daß auch hier Parteien
sprechen. Die Anhänger Katharinas sind auch hier wieder in den Reihen
der älteren Aufklärer zu suchen, während die Freunde Gustavs der jüngeren
Generation angehören. Für letztere vgl. „Katharine vor dem Ri erstuhle
der Menschheit” (1797), S. 29f. Der anonyme Verfasser — einer der unent-
wegtesten unter den ‘Katharinagegnern — gibt aus Anlaß des Friedens-
schlusses von Werela auf dem Status quo ante seiner Genugtuung Aus-
druck, die Carin nun endlich einmal belehrt worden sei, „daß ein für
seine ana hängigkeit kampfendes Volk im Streite mit Barbaren me unter-
egen könne.
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DIE ENTWICKLUNGSBEDINGUNGEN DER EPISCHEN
VOLKSDICHTUNG BEI DEN SLAVEN))
Von
Josef Matl, Graz.
Als zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit der neuen von Westen
kommenden Geistesströmung der Romantik auch bei den Slaven
das Interesse für die Volkssprache, für die Denkmäler und Auße-
rungen der Volkskultur in Vergangenheit und Gegenwart wach
wurde und eine planmäßige Sammlung dieser Denkmäler einsebie,
erkannten die Sammler bald mit Staunen und Bewunderung, daß im
Volke bisher unbekannte Geistes- und Kulturschätze begraben
1) Ich veröffentliche hier einen Vorirag, den ich im März 1928 an der
Grazer Universität gehalten habe. Ich Gebe den Inhalt im wesentlichen
unverändert wieder, um den ursprünglichen Plan und Rahmen sowie die
ursprüngliche Form nicht durch kritische Erörterungen von Einzelfragen zu
sprengen. Daher verzichte ich auch auf eingehende Liferaturangaben zu
jedem einzelnen Punkt, zumal das Neue in dieser Studie wesentlich in dem
Betrachtungss tandpunkt an sich und der synthetischen Anwendung dieser
Betrachtungsweise für das Oesamigebiel der slavischen Volksepik liegt
und nicht im Einzelmaterial als solchen. Unter den für unser Thema wich-
figen Werken, die entweder die Ergebnisse der bisherigen 33 mit
Angabe der Spezialliteratur und der Textausgaben enthalten oder als
ungen für unser Thema wichtiges Einzelmaterial vorbringen, sind
zu nennen: Eine allgemeine Zusammenfassung vorwiegend stoff- und
formalgeschichtlich J. Máchal, Slovanské litera Dil I: Národní epika
slovanská, S. 67—128. Novočeská Bibliotéka SVOVL V Praze 1922. —
Fur das russische (groß- und kleinrussische) bzw. ukrainische Gebiet: E. V.
Aniékov, A. K. Borozdin, D. K. Ovsjaniko-Kulikovskij,
istorija russkoj literatury. T. I: Narodnaja slovesnost. Moskva 1908. —
V. A. Keltujala, En istorii russkoj liferatury. aay I: istorija drevnej
russkoj literatury. Kn. I, S. Peterburg 1913, Kn. I, S Peterburg 1911. —
P. Ziteckij, Mysli 0 narodnych m russkich dumach. Kiev 1893. (Ent-
halt sehr interessante Angaben über die Sänger) — M. GruSevs’ KY
, Istorija ukrains’koji literatury. Tom I, Il, Kyjiv-L’viv 1923. n
deutscher Sprache eine übersichtliche Zusammenfassung bei A. Luther,
Geschichte der russischen Literatur. Leipzig 1924, S. 9 f. — Das neue Werk
des Saratover Professors Skaftymov über die russischen Bylinen, von
dem mir Juni 1928 Prof. Fürst Trubeckoj in Wien erzählte, war mir bisher
nicht zugänglich. Ebenso sind mir die Ergebnisse der Forschungen D. So-
kolovs über den gegenwärligen Stand der russischen Volksepik und
Volksdichtung überhaupt, die in den ethnographischen Organen der russi-
schen staatlichen Akademie für Wissenschaft und Kunst erschienen sind,
nur aus Referaten (Obzor 1929, br. u ferner Slavia VII. S. 40513:
5 1921 g. v Archangel’skoj gub.) bekannt. Vol. ferner
3 v, Volksdichtung in der Sowjetunion. In: Das neue Rußland.
.5 Gel 9/10, S. 28—30.
57
waren, die es verdienen, näher untersucht und gewürdigt zu werden.
Bei den Russen und Ukrainern, bei den Serben und Kroaten, sowie
auch bei den Bulgaren fand man unter diesen lebenden Zeugnissen
der Volkskultur eine Menge epischer Lieder, die in bezug auf künst-
lerische Qualität und epische Unmittelbarkeit jeden Vergleich mit
den bisher bekannten Erzeugnissen der epischen Volksdichtung der
alten europäischen Kulturvölker aushielten. Vor allem waren es die
serbischen Volkslieder, die bei dem damaligen interesse für Volks-
dichtung im allgemeinen auch wiederholt ins Deutsche übersebt
wurden und buchstäblich einen literarischen Siegeszug durch Europa
antraten. Unter den Deutschen, die sich mit der serbischen Volks-
dichtung beschäftigten und ihre voliste Anerkennung und Bewunde-
rung zollten, waren bekanntlich Männer wie Jakob Grimm und
Aus den Referaten ersehe ich „ dab die Beobachtungen D. Sokolovs
meine Anschauungen über die Entwicklungsbedingungen der epischen Volks-
dichtung bestätigen.
Für das Gebiet der serbokroatischen Voksepik sind die Ergebnisse der
älteren Forschung und die Einzelliteratur von P. Popović, Pregled
srpske književnosti. Beograd 1909 (in den neueren Auflagen fehlt leider
das Liferaturverzeichnis) zusammengefaßt. on unsere Betrachtung wich-
tiges Material enthalten von den ä Di Studien: V. Jagić, Die süd-
slavische Volksepik vor Jahrhunderten. A. f. sl. Ph. IV, S. 192—242; der Selb e.
ge za slovinsku narodnu poeziju. Rad Ju Jugoslavenske Ak Akademije XXXVII,
S. 33—137. Vgl. dazu die „ und kritischen Bemerkungen von
S. Bublé, Rad XL, S. 130— 46: Sv. Vulović, Prilog poznavanju sa-
send stanja usmene N poeziie. Godišnjica Nikole Cupiéa VII,
S. 3355—65. Unter den neueren Arbeiten die Studien der beiden besten
. Kenner der serbokroatischen Volksepik, M. Murk o und
Ge se mann: M. Murk o, Bericht über eine Bereisung von Nordwest-
bosnien und der angrenzenden Gebiete von Kroatien und Dalmatien behufs
Erforschung der Volksepik der bosnischen Mohammedaner. Sißungsberichte
der Akademie der Wissenschaften in Wien, Philos.-hist. Kl., 173.
Wien 1913; derselbe, Bericht über eine Reise zum Studium der Volks-
epik in Bosnien und Herzegowina im Jahre 1913. Ibidem 176. Bd., 2. Abh.,
Wien 1915; derselbe, Bericht über phonographische Aufnahmen epischer
Volkslieder im mittleren Bosnien und in der Herzegowina im Sommer 1913.
Ibid. 179. Bd., 1. Abh., XXXVII. Mitteilung der Phonogramm-Archivskommis-
sion. Wien 1915. Zusammenfassend derselbe, Neues über südslavische
Volksepik. Neue Jahrbücher für das klassische Altertum XXII, S. 273—%. —
Vgl. ferner M. Murko, Ein montenegrinischer Guslar. Prager Presse 1./1
1928, schließlich die lebte Zusammenfassung M. Murko, L'état actuel de
la poésie populaire épique yougoslave. Le Monde Slave. N. S. T. Il (1928)
S. 321—51. G. Gesemann, Studien zur südslavischen Volksepik. Ver-
öffentlichungen der Slavistischen Arbeitsgemeinschaft an der Deutschen Uni-
versität in Prag. I. Reihe, Heft 3, Reichenberg 1926; derselbe, Erlangenski
rukopis starih srpsko-hrvatskih narodnih pesama. Zbornik za istoriju i
književnost srpskog naroda. | od. knj. XII Srpska Kralj. ae Sr. Kar-
lovci 1925. Vgl. dazu die Rezension M. Murkos, Euphorion XXIX, S. 297 ff. —
Die an sich werlvollen Studien von St. Banovié, über die ich demnächst
an anderer Stelle berichten werde, sind für unsere Betrachtung nur von
sekundärer Bedeutung: Masta prema istini u našim narodnim pjesmama.
Zbornik za narodni Zivot i običaje Južnih Slavena. Knj. XXVI, sv. 2, 195—256;
ferner Stalni epiteti junaka u našim narodnim pjesmama. Ibid. 8. 288—38.
Ein halbes Jahr nach meinem Vortrag erschien (Sept. 1928) ein der
serbokroatischen Volksepik gewidmetes Sonderheft des Književni Sever IV
(Subotica, SHS): NaSa narodna epika, das mehrere wertvolle Studien ent-
58
Zr — — 'ſ—ꝗ—— — ——
Goethe’). Bei den Slaven selbst wurde die Sammlung des Lieder-
materials durch das ganze 19. Jahrhundert fortgesetzt, und in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts — bei den Russen schon in den
dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts — setzte auch die syste-
matische Erforschung ein und nahm bei den Südslaven und Russen
einen Groffeil des literaturwissenschaftlichen Interesses in Anspruch.
Während die älteren Forscher unter dem Einfluß der sogenannten
mythologischen Richtung Grimms aus dieser Volksdichtung heraus
ein System der ursprünglich slavischen Mythologie aufzubauen ver-
suchten und in jeder nicht einfach deutbaren Gestalt oder Motiv
Spuren eines alten Mythos sahen, machte sich die Gruppe mehr
philologisch interessierter Forscher daran, den epischen Stil, die
epische Technik, die Poetik der Volkspoesie zu erkennen, die
formalen Seiten dieser Dichtungsart zu untersuchen, anderseits
durch textkritische Vergleichung der Varianten das Urlied heraus-
zufinden und so den Gestaltungs- und Entwicklungsprozeß klarzu-
legen. Erst der historisch vergleichenden Schule, die sich vor-
wiegend bei den Russen durch die grundlegenden Forschungen
Veselovskijs und Milers durchsetzte, war es vorbehalten, dadurch, daß
sie von der isolierten Betrachtungsweise zu einer vergleichenden
überging und die westeuropäischen und orientalischen Volkslitera-
turen sowie die kulturgeschichtlich gegebenen Fakten der Entwicklung
des eigenen Volkes zur Erklärung heranzog, viel neues Licht in die
einzelnen Fragen der Entstehung und Gestaltung der Volksdichtung
zu bringen’).
halt, die in verschiedener Hinsicht meine im Vortrage vertretenen An-
schauungen bestätigen und ergänzen. Auf den Inhalt der einzelnen Studien
in diesem Heft werde ich noch in dieser Zeitschrift in einem Literaturbericht
uber neuere 5 zur jugoslavischen Volks dichtung zurückkommen.
Uber die jugoslavischen Hajduken- und Uskokenlieder und die Bedeutung
der Hajduken- und Uskokenbanden in der Entwicklung der jugoslavischen
Voksepik werde ich in einer eigenen Studie noch Naheres ausfuhren.
Für das bulgarische Gebiet ammen asena und Literatur: B. An-
gelov, Bigarska literatura. Cast’ Il, S. 97 ff., Sofija 1924; ferner (mit
einer Anthologie) B. Angelov — M. Arnaudov, istorija na bigarskata
literatura v priměri į bibliografija. Tom I: Bigarska narodna poezija. Sofija
(Erscheinungsjahr nicht angegeben).
3) Vgl. das Einzelmaterial bei M. Cur čin, Das serbische Volkslied in
der deutschen Literatur. Dissert. Wier phil. Fak., Lpz. 1905. Erganzend
dazu J. Mati, Dva njemačka časopisa iz Sezdesetih godina 19. vijeka.
Njihov značaj za kulturnu i političku historiju južnih Slavena. Nastavni
Vjesnik (Zagreb) XXXVI, sv. 5—6; ferner meine Angaben über die deutsche
übersebungsliteratur aus dem Serbokroatischen in meinem Beitrag über
deutsche Literatur in Kroatien und Slavonien. In: Nagi-Zeidier-Castie,
„Deutschösterreichische Literaturgeschichte“, IH, IV.
s) Die gegenwärtigen und künftigen Aufgaben der Erforschung der
epischen Volksdichtung prazisierte vor kurzem G. Gesemann, Nova
istraživanja narodnih epskih pesama (Književni Sever IV, S. 285—89) und
fabi dabe. das Ziel der weiteren Forschungsarbeit in folgenden Sab: „Treba
shvatiti epsko pevanje prvo kao umetnost i drugo kao izraz i samosti-
lizaciju izvesnog słepena sveljudske kulture, t. j. jugoslovenski ep treba
izvesti iz 5 izolacije i staviti ga tamo gde mu je mesto u svetskoj
kulturi. o. c
59
Zu den Fragen, die bei der Forschung der epischen Volksdich-
tung auftauchten und bis heute noch keine befriedigende einheitliche
Lösung gefunden haben, gehört auch die Frage der Entwicklung der
epischen Volksdichtung. Wir müssen gleich feststellen, daß wir nur
bei den Russen und Ukrainern verhälinismäßig klar die einzelnen
Entwicklungssiufen sehen, da hier durch eine seit Jahrzehnten
blühende kultur- und sozialgeschichtliche Erforschung der inneren
Entwicklung des Volkes (es seien nur die Namen Solovjev, Kljuéev-
sky, HruSevsky, Mjakotin genannt) das nötige Vergleichsmaterial
vorhanden ist, während bei den Südslaven erst durch die siedlungs-
geschichtlichen Forschungen der serbischen Geographen Cvijić und
seiner Schule, sowie durch die historisch volkskundlichen Studien
von T. R. Diordjevié die Anfänge dazu gemacht wurden und daher
noch viele Seiten der inneren Entwicklung des Volkes in der für
unsere Betrachtung wichtigen Türkenzeit im Dunkeln liegen’).
Wir wollen heute den Versuch machen, unter Heranziehung der
Ergebnisse der russischen und ukrainischen Forschung sowie der
äußerst wichtigen Untersuchungen über den gegenwärtigen Stand
der Volksepik der Südslaven von M. Murko, von einem einheitlichen,
zum Teil neuen Gesichtspunkte aus die Entwicklung der epischen
Volksdichtung bei den Slaven in ihren wesentlichen Zügen zu be-
trachten, wobei wir unser Augenmerk vor allem auf die Faktoren
richten, die diese Entwicklung bedingen.
Als Grundmaterial kommen für uns alle epischen Volkslieder in
Betracht, in denen sich in irgendeiner Form, wenn auch poetisch
ungestaliet, umgedeutet und typisiert, geschichtlich nachweisbare
Ereignisse, Vorgänge und Verhalinisse spiegeln, also die russischen
Bylinen und die sogenannten historischen Lieder — eine genaue
Grenze läßt sich zwischen ihnen ja nicht ziehen —, die ukrainischen
dumy, die bulgarischen und die serbokroatischen Heldenlieder
(junačke pjesme). Die Tschechen und Polen verfügen über keine
nennenswerte epische Volksdichtung, bleiben daher außer Betracht.
4) V. Kljucéevskij, Kurs russkoj istorii. Cast’ I—IIl, Moskva 1908*; die vor-
zügliche und willkommene deutsche Uberse der volistandigen Ausgabe
durch F. Braun und R. v. Walter: W. Kliufschewskij, Geschichte Ruß-
lands, I—IV, Berlin 1925—26, Deutsche Verlagsanstalt. — M. Hru3evskij,
Oterk istorii ukrainskago naroda. S. Peterburg 1906“ derselbe,
Iljustrovana istorija Ukraini. Kyjiv-L’viv 1912. — V.A.Mjakotin, Oterki
an istorii Ukrainy v XVII—XVIII v. Tom I, vyp. 1, 1924, vyp. 2, 3,
. Praga.
8) J. Cvijić, Balkansko poluostrvo i južnoslovenske zemlje. Osnove
antropogeografije. Zagreb 1922. .
Die sozial- und siediungsgeschichtlichen Arbeiten der Cvijić-Schule
sind zum Haupticile enthalten in den Naselja i poreklo stanovniStva des
Srpski Etnografski Zbornik der Srpska Kral. Akademija.
Von T. R. Djordjević vgl. vor allem: Naš narodni Zivot. Srpska
A! Zadruga 174, Beograd 1923, ferner Iz Srbije kneza Miloša.
gra ;
In den letzten Jahren arbeitet der Belgrader Dozent D. J. Popović
systematisch und mit Erfolg an der Erforschung der sozialgeschichtlichen
Entwicklung der Serben und Kroaten.
60
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Unter welchen Bedingungen entwickelte sich
die epische Volksdichtung, welche Faktoren
beeinflußten ihre Entwicklung, ihre Blüte und
ihren Niedergang?
Wir haben bei der Entwicklung jeder Kunstgattung, so auch bei
der epischen Volksdichtung, eine innere und äußere Entwicklung zu
unterscheiden. Die einer jeden epischen Volksdichtung immanenten
inneren Entwicklungstendenzen in bezug auf Gehalt und Formgebung
sind: Die Umwandlung historischer Erinnerungen zu sagenhaften Er-
innerungen, die Auflösung des geschichtlichen Geschehens ins Per-
sönliche und die Erklärung desselben aus persönlichen Eigenschaften
und Motiven (Beispiel: Die Erklärung des ungünstigen Ausganges
der Schlacht am Amselfeld aus der persönlichen Entscheidung des
Zaren Lazar für das nebesko carstvo, für das himmlische Reich),
die Tendenz zur Komplettierung und Einfügung neuer Verbindungs-
motive, die Zyklenbildung, indem aus der Menge historischer und
Heldennamen der Großteil vergessen wird und die Handlungen einer
oder einigen Figuren übertragen werden, die dann typische oder
Zentralfiguren einer ganzen Epoche werden (Kraljevié Marko in
der gesamten jugoslavischen Volksdichtung, der Kiever Zyklus der
Bylinen, die Kosakenlieder mit den Zentralfiguren Ermark und Razin);
ferner die Typisierung und Schematisierung in den Motiven und in
der Formgebung. Diese innere Entwicklung, die wir im einzelnen
vor allem in der russischen und serbischen Volksepik verfolgen
können, unterscheidet sich nicht im wesentlichen von ähnlichen Vor-
gängen in der Entwicklung der germanischen und griechischen
Volksepik und ist auch, wenigstens hinsichtlich der Ergebnisse der
Erforschung bis 1908, für die grundsäßliche Beurteilung des Wesens
und Werdens des Volksepos von John Maier in seiner Rektorats-
rede 1909 über dieses Thema herangezogen und verwertet worden.
Wir wollen heute nicht diese innere Entwicklung in den Vorder-
grund’ der Betrachtung stellen, sondern die Wirksamkeit der äußeren
Entwicklungsbedingungen, und zwar die Bedeutung folgender drei
Faktoren: Erzähler bzw. Sänger, Publikum bzw. Zu-
hörer und episches Milieu.
Zunächst die Frage: Wie und wann entstand die epische Volks-
dichtung bei den einzelnen slavischen Völkern? Die geschichtlichen
Ereignisse, die derartig die Lebensverhältnisse umgestalteten und
erschütterten, daß sie zum großen gemeinsamen, zum Erlebnis wei-
tester Volksschichten wurden und die jeder dichterischen Produk-
tion notwendigen Emotionen einerseits, die für die Entstehung und
Verbreitung epischer Volkslieder notwendige Erlebnisgemeinschaft
anderseits schufen, waren für die Bulgaren, Serben und Kroaten die
Turkeninvasion und alle mit der Besikergreifung des Balkans durch
die Türken im Zusammenhang stehenden Vorgänge vom 14.— 19. Jahr-
hundert, Vorgänge, die für einen Grogteil der stidslavischen Stämme
Vernichtung ihrer im Aufblühen befindlichen Nationalstaaten, Ver-
nichtung der bisherigen Kulturgrundlagen und der weiteren kul-
61
turellen Entwicklungsmöglichkeiten für ein halbes Jahrtausend be-
deuien, in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht ein Zurückwerfen
in primitive Organisationsformen, für einzelne Gebiete jahrhunderte-
lange zähe, erbitterte Kämpfe auf Leben und Tod um die Erhaltung
der primitivsten Existenzgrundlagen und um die Wahrung der pri-
mitivsten Menschenrechte. Die Entstehungsherde der epischen
Volksdichtung sind denn auch tatsächlich die Gebiete der ersten
entscheidenden Zusammenstöße mit den Türken, das heutige Ma-
zedonien, Westbosnien und Montenegro, und die bisher bekannten
ältesten Zyklen, der Zyklus über die Kosovoschlacht (1389) und der
Liederzyklus über Kraljevié Marko, haben die blutigen Geschehnisse
des 14. und 15. Jahrhunderts als Hintergrund.
Bei den Russen finden wir im 10. und 11. Jahrhundert die Ent-
stehungsherde der ältesten epischen Volksdichtung in Kiev und Nov-
gorod. Hier waren die Ausgangsereignisse für das große epische
Erlebnis zunächst die gefahrvollen Handelsfahrten am Dněpr nach
Byzanz und für die weiteren Schichten die Kämpfe mit den ver-
schiedenen räuberischen Steppenvölkern (Hazaren, Polovcen), also
der Schuß der wirtschaftlichen Lebensader des Kiever Staates, des
Verkehrsweges Novgorod—Kiev—Schwarzes Meer. Dann die wei-
teren Ereignisse: Die immer häufigeren Einfälle der Tataren, die
schließlich zur Eroberung Kievs und zur Abwanderung der Bevölke-
rung nach Norden und Westen, zur Entstehung eines neuen politi-
schen Zentrums an der Wolga führten, aus dem sich der spätere
Moskauer Staat entwickelte. Diese Geschehnisse finden ihren Nieder-
schlag in der ältesten Geschichie der Bylinen des Kiever Zyklus.
Bei den Ukrainern waren es ebenfalls jahrhundertelange Einfälle
und Angriffe der Tataren sowie die Kämpfe mit den Türken, die die
heroische Epoche einleiteten, die dann im 15. und 16. Jahrhundert,
in der eigentlichen Kosakenepoche, staatlich, sozial und volksepisch
ihren Höhepunkt fand.
Soviel über die allgemeinen Ereignisse, die zur Entstehung der
epischen Volksdichtung führten.
Betrachten wir nun im einzelnen die Faktoren, die ihre weitere
Entwicklung bedingten. Wir wissen heute, daß die alte romantische
Auffassung, daß des Volk das Lied schafft, nicht den Tatsachen
entspricht, daß vielmehr Einzelpersonen als Schöpfer der Lieder
aufireten®). Meine eigenen Beobachtungen in der Schübengraben-
zeit im Weltkriege, in der viele alte Lieder wieder auflebten und neue
entstanden, haben diese Taisache bestätigt. Vir wissen ferner, daß
die Entstehung eines Liedes Improvisationscharakter hat, daß es in
den Anfangs- und Bluteperioden der epischen Volksdichtung ex
tempore entsteht als poetischer Widerhall auf Erlebnisse und Ge-
schehnisse, daß die epischen Lieder durch Sänger (vgl. die russische
Bezeichnung pésnotvorci) geschaffen und im wesentlichen auch weiter-
e) Vgl. die Formulierung der heutigen Auffassung M. Murko, Prager
Presse 1./I. 1928; Nik. Ba nas e vie, 1 problemu tvoraca naših narodnih
pesama. Književni Sever TV, S. 289—94
62
verbreitet werden. Die Existenz von Sängern ist uns bei den Russen
schon im 11. Jahrhundert, bei den Serben im 15. Jahrhundert, also
kurz nach dem Beginn der heroischen Epoche, bezeugt, und wir
haben vor allem bei den Russen und Ukrainern auch aus den
späteren Jahrhunderten eine Reihe von Zeugnissen über die Existenz
eigener Sänger. Bei den Süslaven sind die direkten Nachrichten
aus der Türkenzeit spärlicher, und wir haben hier zahlreichere An-
gaben erst aus dem 19. Jahrhundert.
Nun entsteht die Frage: Welche Rolle spielen die
Sanger bzw. Erzähler (skr. guslari, slepci, bulg. pévci, pri-
kazvadi, r. pésnotvorci, skaziteli, skomorochy, ukrain. kobzari, starci)
in der Entwicklung der epischen Volksdichtung?
Wir haben nichiprofessionelle und professionelle Sanger zu unter-
scheiden. Beide Kategorien können je nach der Differenzierung des
sozialen Milieus auch nebeneinander bestehen. In einem gesell-
schaftlich entwickelten feudalen Milieu überwiegen die professio-
nellen; im demokratischen Milieu, in den auf mehr oder minder freie
Gefolgschaft aufgebauten Kampfesverbänden überwiegen, wenigstens
in der eigentlichen Blütezeit, die nichtprofessionellen. Letztere sind
in der Anfangsentwicklung festzustellen (z. B. in den Anfängen der
Kiever Epoche und später bei den Kosaken- und Haidukenbanden
und noch in jüngster Zeit in den letzten Herden volksepischer Tradition,
in der Herzegovina und in Montenegro), erstere in der späteren
Entwicklung, wenn sich in der Gesellschaft stärkere Bedürfnisse nach
Sängern herausgebildet haben’). So in der Blütezeit des Kiever
Staates, so in Novgorod, so in dem Moskauer Rußland des 15. und
16. Jahrhunderts und bei den Ukrainern in diesen und in den folgen-
den Jahrhunderten, so bei den Südslaven in neuerer Zeit.
Bei den professionellen Sängern haben wir zu unterscheiden, ob
sie zur Gefolgschaft, zum Hofstaat eines Herrschers, eines Bojaren,
eines velikaš, gehören, also in einem mehr oder minder feudalen
Milieu tätig sind, dementsprechend über eine bestimmte Bildung und
gesellschaftliche Kultur verfügen, oder ob sie ganz im Volke leben,
aus dem sie stammen, in ihrem geistigen Horizont sich nicht über
das allgemeine Bildungsniveau erheben, von Markt zu Markt, von
Dorf zu Dorf wandern und bei den gesellschaftlichen Zusammen-
kunften singen: so die Sänger bei den Ukrainern am rechten Ufer
des Dnépr, vor allem die Sänger aber bei den Südslaven unter der
Türkenherrschaft und in neuerer Zeit. Alle diese Momente haben
auf die Gestaltung, Umgestaltung, Auffassung und Formgebung der
Lieder Einfluß. Von größter Bedeutung ist folgendes: Das Moment
nämlich, ob der Sänger Teilnehmer der besungenen oder ähnlicher
7) Der dalmatinische Literarhistoriker A. Petravié nimmt allerdings
für das serbokroatische Gebiet an, daß schon in der Anfangsentwicklung
an den Höfen der velikaši, des Hochadels, die djakoni, also gebildete, ge-
schulte Kleriker, die das Amt von Sekretären innehatten, also die Schreib-
geschäfte bei den des Lesens und Schreibens vielfach unkundigen Feudalen
durchführten, als die ersten Schöpfer und Sänger bzw. Erzähler epischer
Volkslieder anzusehen sind. Književni Sever IV, S. 295 ff.
65
Kämpfe war oder nicht, ob er also einen unmittelbaren seelischen
Kontakt mit den besungenen Vorgängen hat oder nicht. Ist der Sanger
Teilnehmer am Kampfe, sind die besungenen Geschehnisse oder ähnliche
ihm selbst zum Erlebnis geworden, sind die Ideale, die in den Liedern
verherrlicht werden, seine Ideale, ist er Glied der Kampfesgemein-
schaft, und ist die heroische Lebensauffassung auch seine Lebens-
auffassung, so sind einerseits seine Lieder viel frischer, lebendiger,
unmittelbarer, anderseits ist die Souveränität des Umgestaltens, vor
allem bei Vorgängen, die nicht sehr ferne liegen, beschränkter. Also
die Lieder sind historisch wahrer, sie sind auch dichterisch wahrer.
Aus dieser Voraussekung entstanden die schönsten und am unmittel-
barsten wirkenden epischen Lieder der Slaven: So die Lieder, die in
der Kiever Epoche in der družina (Gefolgschaft) des Fürsten ent-
standen, der Zyklus der eigentlichen Bogatyrenlieder (Mittelpunkt
Fürst Vladimir, die Haupthelden Jlja Muromjec, Dobrynja Nikitič,
Aleša Popovič), so der schönste Teil der ukrainischen dumy, deren
Inhalt und Form beweist, daß im Sänger das Bewußtsein des Schick-
sals und der Aufgabe des Volkes, so wie auch die Ideale der Ko-
saken lebendig waren; so die Gruppe der sogenannten historischen
Kosakenlieder aus der Zeit der Wirren im 17. Jahrhundert, die die
Kämpfe gegen den neuen moskowitischen Despotismus, die Er-
oberung Sibiriens als Hintergrund haben, Lieder, in denen die Er-
innerung an die waghalsigen Taten der Don- und Dnéprkosaken in
den poetischen Zentralgestalten der Hetmane Ermark und Razin
unmittelbarsten Ausdruck fanden. So auf jugoslavischem Boden die
serbischen und bulgarischen Lieder, die geschaffen, erhalten und auch
im Volk verbreitet wurden durch die Haidukenbanden und durch die
Uskoken lin den westlichen, küstenländischen Gebicten*), Banden,
die entstanden waren als eine Art nationaler Abwehrorganisationen
gegen die Übergriffe und Gewaltiaten der türkischen bzw. vene-
tianischen Machthaber und, begünstigt durch die heimische Bevöl-
kerung, durch Jahrhunderte einen Franktireur-Krieg auf Leben und
Tod führten. Wie stark die Kampfeslust, also der innere Kontakt zu
dem in den Liedern besungenen Geschehen lebte, beweist uns unter
anderen ein Fall, daß einer der bekanntesten Guslaren sofort, als er
hörte, daß in Serbien ein Aufstand ausgebrochen sei, nach Serbien
eilte und sich den Aufständischen anschloß. Daß bei diesem Ver-
halinis des Sängers zum Geschehen das Lied auch eine tiefe sozial-
ethische und nationalethische Bedeutung erlangte, beweisen uns die
geschichtlichen Tatsachen’).
8) Uber die Uskoken vgl. Ch. Segvié, junačka djela senjskih Uskoka.
Zagreb, Kugli, Jahr?, ferner die neueste Zusammenfassung: O. Novak,
Naše more, S. 173—205. Biblioteka jadranske Straze sv. 2, Split 1927—28.
) Die außerordentlich groge sozial- und national-ethische Bedeutung
des epischen Volksliedes formulierte vor kurzem der Montenegriner Novica
Saulić, der das volksepische Schaffen an sich und in seinen Auswirkungen
aus unmittelbarer Nahe genau kennt, mit den Worten: „Uz njih (uz gusle)
zu pjevali opominjali narodu prošlost, junaštvo, čovještvo, muke i patnje,
koje su podnosili pretci vijekovima. Budila se težnja za osvetom i za
64
In w ee cee ert A Al AAA A oo
e.» ~ yù nn „Wa. M
Das der eine Fall. Hat dagegen der Sänger keinen unmittel-
baren seelischen Kontakt zum Geschehen, erschüttert ihn das be-
sungene Geschehen seelisch nicht — wie es bei dem vorher be-
sprochenen Typus der Sänger tatsächlich der Fall ist —, hat er dem-
gemäß keine Ehrfurcht vor dem Besungenen, ist sein Hauptzweck,
das Publikum zu unterhalten, so ist seine Stellung zur epischen
Tradition eine andere, dem freien Schalten der Phantasie viel mehr
Spielraum gegeben. Solche Sänger, fast immer Berufssänger, hören
viele Lieder, viele Stoffe, verbinden Motive, übertragen solche, ver-
binden älteres Geschehen mit neuem, typisieren die Gestalten und
gewinnen stärkste Bedeutung für die Entwicklung der epischen Er-
zählungstechnik. Ist das Lied in den Händen dieser Sänger, so ist
das Stadium der Überwucherung der historischen Grundlagen des
Liedes mit Motiven gegeben. Diesen Fall können wir am besten auf
russischem Boden bei den skomorochy, im geringeren Umfange auch
auf ukrainischem Boden bei den starci beobachten. Die skomorochy
entsprechen im wesentlichen den westeuropäischen Spielleuten und
stehen in den Anfängen auch in direktem Zusammenhang mit ihnen.
Wir haben urkundliche Beweise, daß die Spielleute schon im 11. und
12. Jahrhundert nach dem slavischen Südosten gekommen waren!“).
In die Hände dieser berufsmäßigen Sänger, der russischen skomo-
rochy, war die epische Überlieferung im Ausgang der Kiever Epoche
im 13. und 14. Jahrhundert übergegangen. Sie waren Sänger, Schau-
spieler, Jongleure, Musikanten und Tänzer in einer Person und
spielten vor allem in der Moskauer Epoche im 15., 16. und 17. Jahr-
hundert eine große Rolle. Sie spielten nicht nur an den Höfen der
Zaren, sondern auch in den reichen Bürgerhäusern der großen Han-
delsstadte, wie in Novgorod. Bei ihnen stand im Vordergrund die
zanimatel’nost’, das Interessante, die Unterhaltung. Sie sangen, was
gefiel, wodurch der Anreiz zur willkürlichen Umgestaltung, zum
Hineintragen von Unerhörtem und Neuem, aber Interessantem, im
größten Umfange gegeben war. Damit entstanden die Bylinenfabeln,
die Bylinenmärchen, die in der russischen epischen Volksdichtung so
charakteristisch sind. Als die skomorochy im Laufe des 17. und 18.
Jahrhunderts durch die wiederholten Ukazy (Erlasse) des Stoglavy
Sobor (Hunderterrat) immer mehr verfolgt wurden — nach der offi-
ziellen kirchlich byzantinischen asketischen Auffassung war ihr Tun
gotieslasterlich —, verschwanden sie immer mehr aus den städtischen
Zentren, ein Teil ging zu den Donkosaken, bei denen sie ihre Tätig-
keit fortsetzen konnten, ein Teil verkam als Landstreicher, ein Teil
ging im Volke auf, und ihre Nachkommen waren als durch ihre
slobodom; gusle su narodu davale nadu na bolju budućnost, a pjesma
slobode i junaštva, udruživala je sve one 310 pate u slogu. . .. One (gusle)
su održale u narodu vjeru, slobodu i hrabrost. Dokoljenje su se zapajala
junackom slavom.“ Knyjiz. Sev. IV, S. 316— 17.
_ 10) Bezeichnungen joculatore (€ech., poln.), vaganti, žáci (djaci) (Cech.),
Spilmani (südslav). In einer kirchenslavischen Nomokanonübersetzung findet
ar oo der Ausdruck Spilman. Vgl. V. Jagić, Rad jsl
SNF 5 65
Sangeskunst angesehene und zur Intelligenz gerechnete Sänger von
Volksliedern in den großrussischen Gebieten, in denen sich im
19. Jahrhundert die russischen Bylinen noch am besten erhalten
hatten, in den abgelegenen verkehrsarmen, waldreichen Gouver-
nemenis Archangelsk, Olonec noch anzutreffen. — Ein etwas anderes
Moment brachten die Entwicklung der westukrainischen dumy die
Sänger, genannt starci, nišča bratija, fahrende Pilger, die unter dem
Schutze der Kirche standen und in den neben den Kirchen gebauten
Spitali und Schulen ihr Unterkommen fanden. In diesen Spitälern
und Schulen entstand ein halb volkstümliches, halb literarisches
Milieu, welches die Interessen der Geistlichkeit, der Kosaken und
der gesamten Bevölkerung vereinte. Aus diesem Milieu gingen auch
Schöpfer und Sänger von dumy, die erwähnten starci (Greise)
hervor. Diese starci haben ursprünglich Psalmen im Volke gesungen,
welcher Umstand auch auf die Konstruktion der dumy einwirkte.
Aus dieser engen Verbindung zwischen Kirche und nationalem
Volksgesang im 15. und 16. Jahrhundert ist auch die tiefe religiöse
Grundeinstellung in den dumy dieser Zeit verständlich, ferner der
Einfluß des Kirchengesanges in der Melodie.
Auch die soziale Stellung und Wertung des Sängers spielt eine
Rolle in der Entwicklung der Volksdichtung: Wir wissen, daß in der
jugoslavischen Volksepik in der ersten Zeit Mitglieder angesehener
Klassen und Geschlechter als Sänger auftreten. Im allgemeinen
können wir feststellen, daß in den Anfängen und in der Blütezeit der
Sänger sich großer Achtung erfreut: so in der Kiever Epoche, in Nov-
gorod, im Kosakenstaat, so unter den Hajduken und Uskoken, so bis
in die neueste Zeit noch in den südslavischen Gebieten, in denen die
11) Wie ich durch den RomanistenF.Schürr gelegentlich erfuhr, spielten
die Spitäler auch in der Entwicklung der französischen Volksepik eine ähn-
liche Rolle. Die Bedeutung der herumziehenden Bettelmonche, die nach
einer Mitteilung des Historikers Prof. N. Radojčić (Ljubljana) gewisser-
maßen als Gegenleistung für die Gabe auch epische Lieder sangen, müßte
noch näher untersucht werden. Auch die Rolle der bosnischen Franzis-
kaner, die in den Jahrhunderten der Turkenherrschaft nicht nur geistliche
Hirten, sondern durch ihre Verbundenheit mit dem Volke — zum Unter-
schiede von den Jesuiten — und durch ihre volksnahe Haltung auch national-
politische Anwälte der Interessen des Volkes waren (vgl. die literarisch-
künstlerische Gestaltung dieser Tatsachen und Verhältnisse in den Werken:
S. Matavulj, Bakonja fra Brne; D. Simunovic, Kukavica; lvo-
Andrić, U zindanu) darf nicht übersehen werden. Uber die Kultur-
bedeutung der bosnischen Franziskaner vgl. J). Jelenić, Kultura i bosanski
franjevci. I, Il. Sarajevo 1915.
Auf die Annahme des dalmatinischen Literarhistorikers A. Petravié,
(Split), daß geschulte Kleriker, die die klassische und vielfach auch die zeit-
genossische westeuropäische Literatur kannten, also die djakoni in den
ältesten Epochen der jugoslavischen Volksdichtung auch als Verfasser
epischer Volkslieder fungierten, wurde schon hingewiesen. — Durch all
diese Tatsachen wird einerseits die tiefreligiöse Grundauffassung der Ge-
schehnisse und des Lebensschicksals, die in so vielen Liedern zu beobachten
ist („sve je sveto i Cestito bilo — i milome Bogu pristupaëno“] verständlich,
anderseits das Hereinströmen von literarischen Stoffen aus der kirchlichen
Legendenliteratur wie aus der klassischen und westeuropäischen Literatur.
66
8 — Pen —— — — — . — a =. um
epische Volksdichtung noch wirklich lebt und nicht nur vegetiert**),
daß seine Stellung in der weiteren Entwicklung sinkt, bis schließlich
in den Zeiten des Niederganges, wenn es im Volke einmal heißt (., iz
mode izašlo“) Blinde und Bettler als Sänger auftreten. Wenn Frauen
als Sängerinnen epischer Lieder auftauchen, wie es in Syrmien, Ser-
bien im letzten halben Jahrhundert zu beobachten war, so ist das ein
sicheres Zeichen des Niederganges der epischen Volksdichtung. —
Zusammenfassend können wir über die Bedeutung des Faktors
Sänger in der Entwicklung der epischen Volksdichtung sagen: Die
Sänger bringen das gemeinsame Erlebnis in dichterische Form, sie
sind Schöpfer der Lieder, Träger und Verbreiter der epischen Tra-
dition. Ihr Werk ist die immer stärkere Poetisierung des Stoffes und
der Gestalten der Helden, die Zyklenbildung, die Ausbildung der
epischen Technik. Sie sind es, die fremde Motive und Elemente
hineintragen und verarbeiten, eventuell auch literarische Motive. So
kamen durch Novgoroder Sanger Sagenmotive der deutschen Volks-
dichtung (Ortnitsage) infolge der starken Beziehungen Novgorods
mit den deutschen Hansastadten in die russische Volksdichtung, so
kamen durch dalmatinische Sänger auch literarische Motive und Stoffe
in die volksepische Tradition.
Soviel über den Faktor Sänger. Nun wissen wir, daß der Sänger
epischer Lieder seine Lieder nicht zu seinem Vergnügen singt, son-
dern für ein Publikum, für Zuhörer. Für die Beurteilung des Faktors
Publikum hat uns folgende Erwägung als Ausgangspunkt zu dienen:
Willi Flemming bemerkte in seiner interessanten Schrift über Epik
und Dramatik:®), in der er den Versuch einer Wesensdeutung dieser
beiden literarischen Grundformen unternimmt, ganz richtig, daß zur
epischen Ursituation zwei gehören: der Erzähler und der Zuhörer,
und führt als eine derartige Ursituation die an, wie die Mutter oder
die Großmutter den Kindern Märchen erzählt: „Es war einmal usw.“.
Nun lehrt die alltägliche Erfahrung an Kindern, denen man aus dem
Gedächtnis, also mit eventuellen kleinen Veränderungen, Märchen
oder Geschichten mehrmals erzählt, daß die Kinder, also die Zu-
hörer, in gewissem Grade einen gestaltenden Einfluß ausüben, eine
Art Korrektiv darstellen, zumal der Stoff ja für diese Zuhörer den
inneren Wahrheitswert besitzt. Ebenso besitzt, wie John Maier schon
feststellte, für das naive Bewußtsein des Volkes — das, nämlich die
mythische, noch nicht rationalistisch-kritische Geisteshaltung**), ist ja
12) Die junge Frau des Hauses, in dem epische Lieder vorgetragen
bzw. gesungen werden, küßt dem Sänger, bevor er die Gusle, das Begleit-
instrument, in die Hand nimmt, die Hand und bedient stehend den Sänger
während der ganzen Zeit des Vortrages bzw. während der Unterbrechungen.
Vgl. N. Saulić, KnjiZ. Sever IV, S. 3
13) W. Flemming, Pm und N Wissen und Wirken. 27. Bd.
G. Braun, Karlsruhe 1925
14) Vgl. allgemein über den Charakter der Sprache, Literatur und
Kunst in dieser Entwicklungsepoche der Völker: Mantis (Pseudonym), Die
Geseke der Weltgeschichte. 4. Teil: Der literarische und sprachliche Lebens-
lauf der Völker. Altona 1927.
67
auch eine Voraussekung des Bestandes der epischen Volksdichtung —
der sagenhafte Bericht des epischen Liedes stets die innere histo-
rische Wahrheit. Ein unmittelbares Beispiel: Als gelegentlich des
Vortrages einer Byline im Olonecer Bezirk im Norden Rußlands ein
gebildeter, skeptizistisch eingestellter Zuhörer Zweifel darüber
äußerie, daß die alten Bogatyre solche Taten vollbringen konnten,
sagten ihm die dortigen Leute: „Ja, in früherer Zeit waren eben die
Leute anders.“
Die Existenz eines epischen Volksliedes, seine Verbreitung und
Erhaltung ist wesentlich durch das Interesse der Zuhörer bedingt.
Fesselt ein Lied durch Fremdheit des Anschauungskreises und der
Grundauffassung das Interesse der Zuhörer nicht, so erhält es sich
nicht oder es muß vom Sänger derartig umgeformt werden, daß es
dem Interessenkreise des Publikums entspricht‘). Dafür haben wir
Beweise aus dem gesamten slavischen Gebiet. Ein Beispiel: Während
die russischen Bylinen von den Bogatyren, in denen die Kämpfe mit
den Tataren, also ein für das ganze russische Volk bedeutungsvolles
Erlebnis, Allgemeingut der gesamten russischen Volksepik wurden,
gingen die Lieder des Novgoroder Zyklus, in denen die wesentlichen
Lebenserscheinungen der Novgoroder Republik poetische Gestaltung
gefunden hatten: so einerseits der Reichtum und der Lebensaufwand
der freien Handelsstadt, anderseits der Unternehmergeist und die
Zügellosigkeit der Kriegsleute, der Fuhrer der kühnen Handels- und
Eroberungsfahrten in die fernen Länder — nicht über den Novgoroder
Kulturrayon hinaus.
Der Grad des Interesses des Publikums ist am stärksten, wenn
die Zuhörer entweder selbst an den besungenen oder ähnlichen Ge-
schehnissen beteiligt waren, wenn sie ständig vor die Ausführung
ähnlicher Taten gestellt werden konnten, kurz wenn das im Liede
verkörperte Kampfesethos auch ihren Lebensinhalt darstellt. Diesen
Fall haben wir in den Anfangsstadien und in der stärksten Blütezeit
der Volksepik: In den DruZinen des Kiever Rußlands, in den Kosaken-
abteilungen, in den DruZinen der bosnischen, herzegovinischen Agas
und Begs, in den bulgarischen und serbischen Haidukenbanden, bei
den dalmatinischen Uskoken, in den freien Dörfern der Militärgrenze,
in den patriarchalischen, sozialen und Kampfesverbänden in Monte-
negro und Sudserbien. — In der weiteren Entwicklung kann das
Interesse eines nicht unmittelbar kriegerischen Publikums auch auf
eine gewisse nationalhistorische, nationalpatriotische Tradition
zurückgehen. So bei den Kosaken, so bei den Serben. Bei den
Serben hielten die Kirche und die Klöster die Erinnerung an die alten
18) Die große, entscheidende Bedeutung des Publikums für die innere
und äußere Gestaltung des epischen Liedes betont ganz im Sinne meiner Auf-
fassung auch N. Saulić: „Učesnici kako u ideji postanka pjesme, pravcu,
osjećanju, njenom izlaganju, jeste sredina u kojoj pala misao za sastav
piesme. Krug taj moze biti širi ili uži, ali skoro po pravilu zajednički.“ —
„Narodna pjesma i samim postankom svojim vodila je računa o sivarnom
i istinskom osjećaju i da bude izraz vremena, duha, opšłeg uverenja i
shvatanja cjeline.“ Knjiž. Sever IV. S. 311, 312.
68
serbischen Herrscher der Glanzepoche im Volke wach. In den Klöstern
befanden sich die Bilder dieser Herrscher, in den ständigen kirch-
lichen Gebeten wurde der alten serbischen Herrscher stets gedacht.“).
Ebenso gedachten die Franziskaner in Bosnien öffentlich in der Kirche
der im Kampfe für die Heimat um die christliche Sache gefallenen
heimischen Helden.
Sehen wir also, daß das Interesse der Zuhörer eine wesentliche
Voraussekung für die Entwicklung und Erhaltung der epischen Volks-
dichtung ist, so drängt sich die weitere Frage auf, ob und inwieweit
die Zuhörer auf die Gestaltung der epischen Lieder Einfluß ausüben.
Wir haben direkte Beweise aus dem südslavischen Gebiet“) dafür,
daß das Publikum auch einen gestaltenden Faktor darstellt; daß es
z. B., wenn ihm etwas nicht richtig erscheint, den Sänger unterbricht:
„Tako nije bilo“ (So war es nicht). Wir wissen ferner, daß die Sänger
inhaltliche Anderungen vornehmen je nach der Zusammensetzung
ihres Publikums (ob Orthodoxe, Katholiken oder Moslims), um nicht
die Gefühle des Publikums zu verlegen. Wir wissen, daß ein und
derselbe Sänger, wenn er nicht schon zum gewöhnlichen Rezitator
herabgesunken ist, der nur trocken, gedächinismäßig ein Lied vor-
trägt, sondern wenn er noch volksepischer Sänger, also Gestalter ist,
ein und dasselbe Lied innerhalb 24 Stunden nicht ganz gleich wieder-
holt, daß er sogar Anderungen, Kürzungen und Erweiterungen vor-
nimmt, je nachdem das Publikum Zeit zum Zuhören hat’). Das ein-
zige Feste ist ihm in der Blüteentwicklung nur das Mosaik formel-
hafter Wendungen und Beschreibungen“). — Wir erfahren aus den
westukrainischen Gebieten, daß die Kobzaren durch das Publikum
gegen ihren eigenen Willen mehr oder minder gezwungen wurden,
andere Stoffe zu bringen, in einer Zeit, als die Tatareneinfälle und
16) Vgl. Vas. Marković, Klitori, njihove du2nosti i prava. Prilozi
za književnost, jezik, istoriju i folklor Knj. V (1926), S. 100—24, bes. 1235—24.
17) Mitgeteilt von M. Murko in den eingangs erwähnten „Berichten“.
18) N. Saulić behauptet sogar, daß die Entstehung der Kurzform, des
deseterac, sowie die kürzere Fassung von Liedern, durch das soziale Milieu,
in dem das Lied vorgetragen wird, durch die Zuhörer bedingt sei. „Razlog
kraćem obliku jesu sama sredina, njihova cilj s obzirom na vrijeme i stanje
usw. Knjiž. Sever IV. S. 314. Damit wäre ein Gro§teil der seinerzeitigen
Annahmen A. Soerensens, A. f. sl. Ph. XV, S. 1 fl., S. 204 fl., hinfällig.
19) Wie weit in einem sozialen Milieu, in dem die epische Volksdichtung
noch frisch lebt, die Kenntnis dieser formelhaften Wendungen und Be-
schreibungen, kurz der epische. Stil, in das sprachliche Bewußtsein des
betreffenden Volkskreises eindringt und damit geradezu sprachliches Ge-
meingut wird, zeigt die Mitteilung von Nov. Saulić, daß er in der Her-
vina und im Sandžak vor kurzem noch wiederholt Leute angetroffen
die imstande waren, irgendein Geschehnis ex tempore im Stil und in
ythmik der epischen Volkslieder wiederzugeben. Vgl. Knjiž. Sever IV,
S. 319. Wie ich auf meiner letzten Studienreise an der süddalmatinischen
Küste durch einheimische Oewährsmänner erfahren konnte, wurden und
werden in der Nordwesiherzegovina auch Geschehnisse der neuesten Zeit,
der Umsturz 1918, die politischen Parteikämpfe, Gemeinderatswahlen, ja
sogar der letzte politische Systemwechsel im Jänner 1929 u. a., in Liedern
im Stil der epischen Volkslieder besungen.
69
die Kämpfe gegen die Türken keine unmittelbare Aktualität mehr
besaßen, dafür aber die sozialen Kämpfe im Vordergrund des Er-
lebnisses standen, die Kämpfe gegen die vordringenden polnischen
Grundherren, gegen die 3ljachta (vrazja panS¢ina wird sie gelegent-
lich in einem Liede genannt), die systematisch darangingen, die
bisher freien Kosaken zu Leibeigenen und Hörigen zu machen, ferner
die sozialen Kämpfe gegen die Juden, die Gewerbe, Handel und
Zölle in ihre Hände bekommen hatten und daher als sozial drückendes
Element empfunden wurden. Damit wurden die Heroen der dumy
der alten Zeit stufenweise in den Hintergrund gedrängt.
Wir wissen, daß die skomorochy am Hofe lvans des Schrecklichen
die Besingung der Kämpfe um die Ausgestaltung des Reiches, vor
allem um die Eroberung Sibiriens, die Kämpfe gegen die Kosaken
im offiziellen staatspolitischen Sinne gestalten mußten, daß der frei-
heitliche Geist, der in den alten Bogatyrenliedern der Kiever Epoche
herrschte, der absolutistischen Auffassung des samoderZavie nicht
willkommen war und revolutionär klang; daß aber diese gleichen
Sänger, als sie nach der Vertreibung mit ihrem Repertoire zu den
Kosaken flüchteten, sich der entgegengesebten, selbstbewuBten frei-
heitlichen Auffassung, der Zensur der neuen Zuhörer, unterwerfen
bzw. anpassen mußten. So mußten die Sänger, wenn sie in den
folgenden Jahrhunderten auf den russischen Gutshöfen sangen, ihre
Auffassung der sozialen und politischen Auffassung dieser Zuhörer
anpassen. Wir finden ferner auf jugoslavischem Boden in der Auf-
fassung des angeblichen Verrates, des izdajstvo Vuka Brankoviéa
(Bog ubio Vuka Brankoviéa! — On izdade tasta na Kosovu, —
l odvede dvanaest hiljada, — Braćo moja, ljutog oklopnika. —
Proklet bio i ko ga rodio — Prokleto mu pleme i koleno! —
Kosovski boj), daß die Opportunitatspolitik gegenüber den Türken,
die übrigens nicht vereinzelt war, in den Liedern nicht sanktioniert
wurde. Ein Beweis dafür, daß die Lieder in den serbischen Feudal-
kreisen entstanden, die auf dem intransigenten Kampfesstandpunkt
standen).
Als die Serben durch das immer stärkere Vordringen der Türken
sich aus ihren früheren Siedlungen in Südserbien nach Norden und
Westen verschoben, nach Kroatien, Slavonien, Dalmatien und Sud-
ungarn, hatten sie die epische Überlieferung über die Kämpfe der
ersten Jahrhunderte der Türkeneinfälle mitgebracht. In den neuen
Kämpfen von dem neuen Siedlungsgebiet aus, in denen sie zusammen
mit den Kroaten jahrhundertelang in Angriff und Abwehr bluteten,
traten neue historische Personen und Ortlichkeiten in den Mittelpunkt
des Interesses, und wir sehen jetzt, wie die Gospoda Ugričići (die
ungarischen Herren: Sibinjanin Janko, Svilojevié u. a.) in den Liedern
in den Vordergrund traten. Ahnliches können wir bei den Uskoken
in Dalmatien beobachten.
Daß die Zusammensekung und die soziale Stellung des Publikums
10) Vgl. M. Savkovié, Narodne pesme kao dokument za socijalni
Zivot u een veku. Knjiz. Sever IV, S. 302.
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auf die soziale Auffasung der Helden einwirkt, dafür haben wir eine
Reihe von Belegen. Nur ein Beispiel: Ilja Muromjec, die am stärksten
verbreitete Heldengestalt in der russischen Volksdichtung, wird in
der Kiever Epoche als Bogatyr, als Herr von hoher Abkunft dar-
gestellt, in der Zeit der Wirren im 17. Jahrhundert ist er bereits der
alte Kosak (,staryj kazak“), damit Prototyp einer ganz anderen
Klasse, des freien Kampfes im Kreise der tovary3i, der Kameraden,
für Freiheit und Unabhängigkeit. Später, als im 18. Jahrhundert die
Kosaken vernichtet und in den Städten eine neue Kultur sich zu ent-
wickeln begann, in der kein Platz und kein Verständnis mehr für die
alten Heldenlieder war, und die epischen Lieder in den abgelegenen
nördlichen Bauern- und Fischerdörfern die letzte Heimat gefunden
hatten, wird dieser gleiche Ilja Muromjec zum krestjanski syn, zum
Sohn einfacher Bauersleute, in dem der Glaube an die ewigen Kräfte
des Volkes Verkörperung fand’). Vir sehen an diesem Beispiel,
wie stark die Assimilationskraft des Publikums gestaltenden Einfluß
nimmt. Auch in der südslavischen Volksepik sehen wir einen ähn-
lichen Weg der Demokratisierung der Helden. In den Kampfesver-
bänden der Kosaken und Haiduken, die wesentlich auf Kameradschaft
aufgebaut waren, ist der Held des Liedes der Kamerad, der Mann
aus dem Volke, der nur durch seine Tapferkeit und Stärke hervorragt.
Zusammenfassend können wir feststellen, daß die Existenz, die
Verbreitung und die Erhaltung der Lieder von dem Interesse der
Zuhörer abhängig ist, daß die Zuhörer einen gestaltenden Einfluß
auf die Stoffauswahl und auf die Grundauffassung ausüben.
Es wäre noch die Frage zu beantworten: WelcheFaktoren
erhalten und gestalten das Interesse des Pu-
blikums?
Das Interesse des Publikums ist bedingt und wird wachgehalten
durch das Vorhandensein und den Charakter des epischen Milieus.
Unter epischem Milieu verstehen wir das Bestehen derartiger Lebens-
verhältnisse, die den in den Liedern geschilderten Vorgängen, Hel-
dentaten, Kämpfen und Leiden ihrem Gehalte nach Aktualitats-
charakter verleihen, daß sich also derartige oder ähnliche Gescheh-
nisse jederzeit erneuern können, daß der einzelne Zuhörer jederzeit
in Situationen kommen kann, Ähnliches zu vollbringen oder Ahn-
liches zu erleiden: Also, um nur zwei Fälle zu bringen, die typisch
sind für Tausende durch Jahrhunderte wirklich geschehene Fälle, daß
ein Serbe oder Bulgare, der, um die eigene Ehre, die seiner Familie,
seines Weibes und seiner Töchter, kurz um die eigenen primitivsten
Menschenrechte vor den frechen Zugriffen der türkischen Herren und
ihrer Söldlinge zu schüßen, einen oder mehrere der Frechlinge über
den Haufen schießt und dann gezwungen ist, um nicht gefoltert und
21) Es tritt hier die gleiche Auffassung zutage, wie sie in dem Gedicht
Dehmels „Anno domini 1812“ poetisch gestaltet wurde:
„Aber unser Mütterchen, das heilige land,
Hat viel tausend, tausend stille, warme Herzen:
Ewig, ewig blüht das Volk!“
71
gepfählt zu werden, in die Berge und Wälder als Haiduk oder als
Uskok über die Grenze zu flüchten und ein Franktireurdasein zu
führen®). Oder ein typisches Beispiel aus den ukrainischen Ver-
halinissen der Tataren- und Türkenzeit: Durch Jahrhunderte wußten
und fühlten die Zuhörer der dumy, daß jederzeit auch ihre Hütte von
den hereinstürmenden Tataren niedergebrannt, die Männer als
‚Galeerensklaven verkauft und geblendet, die Frauen und Mädchen
den Soldaten preisgegeben und schließlich auf den kleinasiatischen
Sklavenmärkten landen können.
Es laßt sich für den Gesamibereich der epischen Volksdichtung
der Slaven feststellen, daß die Blütezeit derselben tatsächlich mit
dem Vorhandensein, mit der Dauer des epischen Milieus zusammen-
fallt. Das epische Milieu dauerte im allgemeinen im südslavischen
Teil vom 14. bis zum 19. Jahrhundert (für die nördliche und westliche
Zone nur bis zum 18. Jahrhundert, für das eigentliche Serbien bis
in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, für Bosnien und Bul-
garien bis in die 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts, für einige Ge-
biete Mazedoniens, für den Herd der heutigen Komitatschibanden,
und für Montenegro bis ins 20. Jahrhundert), für den ostslavischen
Teil vom 11. bis zum 17. bzw. 18. Jahrhundert. Die letzten Ereignisse,
die auch eine Reihe von neuen russischen historischen Liedern her-
vorriefen, waren die Maßnahmen gegen die Kosaken, gegen die
Schüßen (strelci) und gegen die religiösen Sekten.
Für die Gestaltung und Entwicklung der epischen Volksdichtung
selbst sind der spezielle Charakter und die Veränderungen des
epischen Milieus von Wichtigkeit, ferner die Art, in welcher das
epische Milieu im Bewußtsein des Volkes aufscheint und zum Er-
lebnis wird. In dieser Hinsicht können wir folgendes feststellen.
In bezug auf die Aktualität der Kampfe und der geschilderten Vor-
gänge sehen wir, daß zwar im allgemeinen blutige, kriegerische
Kämpfe und Heldentaten im Vordergrunde stehen. Doch finden wir
unter den russischen Bylinen auch eine ganze Gruppe, die vor-
wiegend im Novgoroder Milieu entstand und weniger kriegerisch-
heroischen als vielmehr novellistischen Charakter hat, in denen die
Schilderung großen Reichtums und Aufwandes, die Schilderung von
Streitigkeiten zwischen städtischen Familien, Liebesaffaren, Braut-
raub, Frauenraub mit den dazugehörigen Kämpfen im Vordergrund
stehen, also Ausdruck eines Milieus, das nicht mehr im engeren
Sinne als heroisch bezeichnet werden kann. Da jedoch auch in
diesen städtischen Kreisen vor allem im 13., 14. und 15. Jahrhundert,
in der Blütezeit des Novgoroder Staditstaates, der alte Wikingergeist
lebendig war, war auch hier das Milieu zur Entwicklung einer
epischen Volksdichtung gegeben.
Bei der Beirachtung des besonderen Charakters des epischen
Milieus und seiner Bedeutung für die epische Volksdichtung schen
33) Vgl. als Beispiel die Erzählung des Hajduken Starina Novak, wie er
Hajduk geworden ist, in dem serbokroatischen Lied: Starina Novak i knez
Bogosav. (Bei Vuk VII, S. 345 eine Variante: Sa Sta Novak ode u hajduke.)
72
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wir ferner, daß nur eine bestimmte Art von aktuellen Kämpfen und
Heldentaten, eine bestimmte Art der Kampfesmöglichkeit als aus-
losendes Moment für die Entstehung, Erhaltung und Weiterbildung
der Volksepik wirksam wird. Die soziale Ordnung muß eine der-
arhge sein, daß für den einzelnen Betätigungsmöglichkeiten für in-
dividuelles Heldentum und für individuelle Befriedigung der Taten-
lust vorhanden ist. So in der Kiever Epoche im Rahmen der Gefolg-
schaft des Fürsten, so bei den Kosaken und Haiduken, so im freien
Montenegro. Tatsächlich können wir feststellen, daß die Kosaken-
und Haidukenabfeilungen in ihrem Blütezustand als die stärksten
Pflegestätten epischer Volksdichtung fungierten®). Dagegen bildet
die Teilnahme am Kampfe in der auf strenge Unterordnung auf-
gebauten regulären Armee kein episches Milieu, das derartige Emo-
tionen auslösen würde, die das Interesse und die Produktion epischer
Lieder fördern würden. Als die Reformen Peters des Großen zur
Aufstellung einer regulären Armee führten und damit die alten
Kosakenabteilungen und Schüßenabteilungen größtenteils durch Ge-
walt in das neue System eingegliedert wurden, verfielen die alten
historischen und epischen Lieder in diesem Milieu quantitativ und
qualitativ rapid. Die Ereignisse und Kriegszüge des 19. Jahrhunderts
erweckten kein Echo mehr. Das Volk nahm an ihnen passiv teil.
Ähnliche Beobachtungen können wir in der ukrainischen und süd-
slavischen Volksdichtung machen.
Diese Beobachtungen zeigen uns, daß ein bestimmter Grad per-
sönlicher Bewegungsfreiheit, sozialer und wirtschaftlicher Freiheit
als Vorbedingung für das in den epischen Liedern durchwegs zu-
tage fretende Selbsibewußtsein notwendig ist, daß wirtschaftliche
und soziale Hörigkeitsverhältnisse wie die Leibeigenschaft der
Weiterentwicklung der Volksdichtung nicht günstig sind. Das beweist
uns die Tatsache, daß sich die Heldenlieder am längsten und besten
in den Gebieten erhalten haben, in denen diese individuelle Be-
wegungsfreiheit gegeben war, so z. B. in den herzegovinischen
Bergen und in den freien Steppen der Donkosaken. Das beweist
uns ferner die Tatsache, die wir bei den Großrussen und Ukrainern
beobachten können, daß das ukreplenie, die Einführung der Leib-
eigenschaft im Moskauer Staat, zerstorend auf die Verbreitung und
Weiterentwicklung der epischen Volksdichtung einwirkt. Als in der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die letzten Reste der freien
Ukraine und des Hetmanats vernichtet waren, die Leibeigenschaft
nach dem Muster der übrigen russischen Gebiete eingeführt und
damit auch die soziale Freiheit vernichtet war, folgte ein Rückgang
und Niedergang der epischen Volksdichtung, während die Kämpfe
des 17. Jahrhunderts bei den freien Kosaken noch ganze Zyklen von
Liedern hervorgebracht hatten. Wir haben leider keine historische
Geographie der Verbreitung der einzelnen Lieder, aber die Auf-
zeichnungen auf dem russischen Gebiet im 19. Jahrhundert zeigten,
ss) Näheres darüber werde ich in der angekündigten Studie vorbringen.
75
daß sich Bylinen nur dort erhalten hatten, wo eine relative soziale
Freiheit bestand].
Wir sehen ferner, daß auch die Aktualität speziell sozialer
Kämpfe und Bedrückungen beim Vorhandensein einer starken Tra-
dition ehemaliger Freiheit Ausdruck in der epischen Volksdichtung
finden kann. Im 17. Jahrhundert sette in der Chmelnicky-Epoche
bei den westlichen Ukrainern ein sozialer Umbildungsprozeß, damit
ein sozialer Kleinkrieg der Kosakenbevölkerung gegen die neuen
polnischen Grundherren und die Juden ein, ein Kleinkrieg, der be-
kanntlich mit der politischen und sozialen Unterwerfung der Bevöl-
kerung endete. Diese sozialen Reibereien führten zur Entstehung
einer ganzen Reihe neuer, in der Schilderung der Verhältnisse un-
gemein lebenswahrer und erschütternder Dumen. Das Interesse des
Publikums an den heroischen Taten der alten Helden geht zurück,
damit auch das heroische Element. Im Sänger und im Publikum
kommt eine skeptische Grundeinstellung gegenüber den heroischen
Heldentaten zum Vorschein. Mit dem Fortschreiten des Druckes der
Leibeigenschaft, die für die einst freien Kosaken hundertfache Ver-
letzung ihrer primitivsten Menschenrechte durch die neue Herren-
schicht bedeutete: die Männer wurden geprügelt, die Frauen und
Mädchen waren den Gelüsten der neuen Herren ausgeliefert — be-
stand im Volk kein anderes Interesse mehr, als das an der Linderung
der sozialen Not.
Ein weiteres Moment bildet die Ethik des Kampfes: Wir können
beobachten, je höher die ethische Sanktionierung des Kampfes durch
religiöse, soziale oder nationale Motive ist, desto stärker die ge-
staltende Kraft. Also das Bewußtsein, gegen die Heiden, gegen die
Feinde des christlichen Glaubens zu kämpfen, gegen Tataren und
Türken: Das Bewußtsein, Verteidiger, Anwalt der Freiheit des Volkes,
sowie sein Rächer zu sein.
4) Sehr interessante Aufschlüsse über die Bedeutung des epischen
Milieus bringen auch die Ergebnisse der Forschungen über den gegen-
wärtigen Stand der russischen Volksdichtung in den nordrussischen Ge-
bieten, die die Brüder Sokolov in den letzten Jahren anstellten. J. So-
kolov war in der Lage, im Gouvernement Olonec noch zirka 300 Bylinen
von den alten Bogatyren, durchwegs gesungen bzw. rezitiert von alten
Sängern (meist über 60 Jahre alt), aufzuzeichnen. Dabei war festzustellen,
daß die Bylinen mehr realistischen, novellistischen Charakters, in denen
Liebesaffären und Probleme des familiären und sozialen Lebens im Vorder-
grund stehen, bevorzugt werden, während die Lieder mit phantastischem
Inhalt, die Kämpfe der Helden mit Drachen usw. immer weniger Interesse
finden. Auch in den Märchen ist ein Vordringen der realistischen, satirischen
und humoristischen Elemente zu beobachten. Also auch hier eine fort-
schreitende Verdrängung der mythischen Dan houng der Frühentwick-
lung durch die beginnende Rationalisierung und Intellektualisierung der
Sozialpsyche, damit ein Vordringen, ein stärkeres Bewußtwerden der Tat-
sachen des realen Lebens.
_ ‚Für den Niedergang der epischen Volksdichtung auch in diesen Ge-
bieten ist die Tatsache charakteristisch, daß die jungen Leute von den
Bylinen keine Ahnung haben und auch wenig Interesse, so daß Sokolov
zum Schlusse kommt, daß auch hier die Bylinenproduktion in 10—15 Jahren
ihr Ende finden wird.
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Im allgemeinen können wir feststellen, daß in der Blütezeit der
epischen Volksdichtung eine heroische tragisch-schicksalsmäßige
Auffassung des Geschehens und des Lebens zu beobachten ist.
Gerade die südslavische Volksepik, in der bei der langen Dauer und
der relativen Gleichartigkeit des epischen Milieus in dieser Hinsicht
bessere Beobachtungen zu machen sind, da hier der Umgestaltungs-
prozeß nicht so weit fortgeschritten ist wie in der russischen Bylinen-
dichtung, enthält einzigartige Lieder tragisch heroischer Lebens-
auffassung®).
Die Grundauffassung in den Liedern wird auch beeinflußt durch
das Moment, ob die Bevölkerung mehr aktiv oder passiv die Ereig-
nisse hinnimmt bzw. hinzunehmen gezwungen ist: Ein Vergleich
zwischen den südslavischen Heldenliedern, in denen eine trobige
aktivistische Haltung vorwiegt (Beispiele: Starina Novak, Stari
Vujadin) mit den ukrainischen Dumy der Tatarenzeit, in denen eine
elegische, fast lyrische Grundnote vorwiegt, zeigt uns die ver-
schiedene Reaktion.
Was die Nachwirkungen der Veränderung des epischen Milieus
auf die Volksdichtung betrifft, können wir im allgemeinen feststellen,
daß mit der Pazifizierung des Milieus ein Zurückgehen der heroischen,
man könnte sagen der blutigen Elemente, und ein Zurückgehen der
tragischen Grundauffassung zu beobachten ist. An Stelle der Be-
schreibung der Kämpfe tritt immer mehr die Beschreibung von Fest-
gelagen, Hochzeiten, Streitigkeiten zwischen einzelnen Dörfern. Es
beginnt eine Überwucherung mit Novellenmotiven (Beispiele: Die
Bylinen des Novgoroder Zyklus), oder mit idyllischen Motiven (Bei-
spiele: Dumy des 17. und 18. Jahrhunderts). Die Helden werden auch
der humoristischen Seite nach gesehen (Kraljevié Marko in einzelnen
Liedern der neueren Zeit), oder es beginnt eine ironisch-skepti-
zistische Einstellung Platz zu greifen, wie in den Dumy des 18. Jahr-
hunderts; ein Zeichen des beginnenden Niederganges.
Die Auflösung des epischen Milieus, damit auch der Rückgang
des Interesses an den epischen Liedern und der Verfall der epischen
Volksdichtung ist, wie uns die Beobachtungen auf russischem Boden
im 18. Jahrhundert, vor allem aber die Beobachtungen auf serbischem
Boden im 19. Jahrhundert), sowie die Erfahrungen nach der Ok-
kupation von Bosnien und Herzegovina beweisen, gegeben durch das
Eindringen der neuzeitlichen modernen Administration und Wirt-
schaftsordnung und Rechtspflege, durch die allgemeine Entwaffnung,
durch die Bindung des einzelnen an einen festumgrenzien bürger-
lichen Wirkungskreis, durch das Eindringen der modernen Bildung,
der Kenntnis des Lesens und Schreibens. Die kriegerische alte Ethik
des Heldentums wird verdrängt durch eine neue Ethik der regulären
Arbeit: (S. Kranjéevié: Na rad, na rad, u radu je spas). Das in den
se) Es sei hier nur auf ein Beispiel verwiesen, auf das einzigartige Lied
Smrt majke Jugovića.
”) Vgl. Sv. Vulović, Prilog poznavanju ey stanja usmene
srpske poezije. Godiänjica ‘Nikole Cupica VII, S. 335 ff.
75
Liedern Besungene wird zum Anachronismus. Die alten Heldenlieder
werden verdrängt durch leichtfertige Soldatenlieder (sremske pesme,
ferner die Soldatenlieder im nachpefrinischen Rußland). Nach den
Beobachtungen auf südslavischem Boden müssen wir allerdings fest-
stellen, daß bei sehr langer Dauer des epischen Milieus und der
mündlichen Liedertradition das Interesse auch bei veränderten Zeit-
verhältnissen nicht entschwindet, vor allem in den Gebieten, die von
den Kulturzentren weiter entfernt sind. Man beginnt jetzt auch die
alten Lieder aus gedruckten Liedersammlungen zu lesen und vor-
zulesen, also die mündliche Tradition macht der literarischen Plab.
Bei dieser Bedeutung des epischen Milieus für die Entwicklung
und Erhaltung der Volksepik verstehen wir nun auch, warum bei den
Polen und Tschechen keine bemerkenswerte epische Volksdichtung
anzutreffen ist. Hier fehlte das epische Milieu im eigentlichen Sinne,
die allgemeine geschichtliche, die staatlich-wirtschaftlich-soziale Ent-
wicklung verläuft im wesentlichen in den gleichen Bahnen wie in
Westeuropa”). Es dürfte also die Behauptung Jagi¢’s**), daß der
Charakter der Tschechen und Polen der Bildung einer epischen
Volksdichtung nicht günstig sei, nicht das Wesentliche getroffen haben.
Zum Abschluß ein Wort über die kulturgeschichtliche Bedeutung
dieser epischen Volksdichtung der Slaven: Diese epischen Lieder,
einzigartige künstlerische Zeugnisse von Völkerschicksalen, poetischer
Widerhall von tausendfachem trokigen, heroischen Mannesmut und
tausendfachem, ebenso heroischen Mutterleid, sind zu werten als
Kulturdenkmäler einer Epoche, in der die slavischen Völker, die am
meisten dem Ansturm der halbbarbarischen turkotatarischen Reiter-
volker ausgeseit waren und in der Abwehr dieser Expansions-
bestrebungen Asiens und des Orients eine geschichtliche Sendung
im Interesse der gesamten europäischen Kuliurmenschheit erfüllten“),
ehrenvoll das ihrige beigetragen haben, daß sich in Mittel- und
Westeuropa eine höhere Kultur entwickeln konnte. Damit traten die
Slaven nicht nur als Empfangende, sondern auch als Gebende in den
Kreis der europäischen Kulturvolker ein.
37) Vgl. O. Halecki, L’histoire de Europe Orientale. Sa division
en époques, son milieu géographique et ses problémes fondamentaux;
ferner M. Handelsman, Féodalité et féodalisation dans l'Europe Occi-
dentale. In: La Pologne au Ve Congrès International des Sciences Histori-
gues, Bruxelles 1923. Varsovie 1924.
28) Rad Jsl. Ak. 37, S. 59, 71.
se) So faßt auch J. Bidlo den Sinn der slavischen Geschichte in
seinem neuen großzügigen Versuch einer Synthese. Vgl. Déiny Slovausive.
S. 22, Prag 1927. Slované. Kulturní obraz slovanského svéa. Dil J.
”
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MISCELLEN
EIN BRIEF DES FÜRSTEN N. G. REPNIN
AN A. W. SCHLEGEL
Von
M. Alekseev (Irkutsk, Universität).
Der unten angeführte Brief, jetzt in der Handschriftenabteilung der
Bibliothek der Staatsuniversitat in Irkutsk befindlich, war einst Bestandteil
einer hervorragenden Autographensammlung, die I. I. Kuris gehörte. Auf
seinem Gute Kurisovo-Pokrovskoe, ca. 60 Kilometer von Odessa entfernt,
vereinigte Kuris eine Reihe von Sammlungen — sein reiches Familienarchiv,
dessen Anfänge noch vom Ende des 18. Jahrh. herrühren, eine kostbare
Bibliothek, ein ganzes Altertumsmuseum und eine Bildergalerie. Leidenschaft-
licher Altertümerliebhaber und Kollektionär, benubte Kuris, besonders auf
seinen häufigen Auslandreisen, jede Möglichkeit, seine Handschriftensamm-
ung zu vergrößern und zu vervollständigen, woraufhin seine Sammlung
schließlich über 3000 Briefe und Dokumente, die auf hervorragende Persön-
lichkeiten von historischer und literarischer Bedeutung des 18. und 19. Jahrh.
Bezug halten, umfaßte. Unter anderen Handschriften befanden sich hier
z. B. Briefe von Mickiewicz, Pu3kin, H. Heine; zahlreiche Dokumente ge-
hörten der Epoche Napoleons und ihren führenden Männern. l. Kuris selbst
war kein Forscher, stellte aber gerne seine kostbaren Schätze jedem Ge-
lehrien und Liebhaber für Forschungs- und Publikationszwecke zur Ver-
fügung. Briefe Peters d. Gr. die Kuris zufällig in Paris erworben hatte,
schenkte er der Russischen Öffentlichen Staatsbibliothek in Petersburg.
umente aus der Kuris schen Sammlung veröffentlichten seinerzeit D. F.
Kobeko, P. Majkov, der Herausgeber des „Russkij Archiv“ P. I. Bartenev,
Herausgeber der „Russkaja Starina“ M. I. Semevskij u. a, vor kurzem auch
der Autor dieser Zeilen?).
Diese Publikationen erschopften aber keineswegs die großen Reich-
fümer dieser Sammlung. Eine teilweise Ursache dafür lag in der Entfernung
der Sammlung von großen Forschungszentren; aus demselben Grunde war
sie auch verhältnismäßig wenig, selbst in fachmännischen Kreisen bekannt.
Ihr plößlicher Ausverkauf, von unwissender und gieriger Hand ausgeführt,
verursachte nun das spurlose Verschwinden einer Anzahl von kostbaren
Schäßen dieser Sammlung und ihre endgültige Zerstreuung in vielen Hän-
den?). Ein Teil der Sammlung geriet übrigens nach der Revolution in die
Bibliotheken von Odessa (Öffentl. Staatsbibl.) und Leningrad („Pu3kin-Haus‘),
in der lebten Zeit auch in die bedeutende Bibliothek der Irkutskischen Uni-
1) M. Alekseev, Voltaire et Schouvaloff, Fragmente inédits d’une corre-
spondence franco-russe au XVIII s., Odessa 1928
Die Nachrichten über diese berühmte Sammlung, welche uns S. Mic-
lov („Vremennik ob3cestva Druzej russkoj knigi“, Paris 1925, I, S. 47) auf-
führt, sind nicht ganz richtig. I. Kuris war kein Facharzt; seine Sammlung
befand sich nicht im Bessarabischen Gouvernement, sondern im Gouverne-
ment Cherson. Die näheren Auskünfte über die Sammlung kann man finden
77
versität. Es ist interessant zu bemerken, daß ständige Beziehungen des
Besikers zu dem bekannten Archivisten Etienne Charavay „ce savant
modeste“, nach den Worten seines Biographen, „entre les mains duquel
sont passés tant de documents importants“*) den schnellen Wuchs der Kuris-
schen Sammlung begünstigien. Kuris erwarb bei diesem angesehenen An-
tiquar im Laufe von mehreren Jahren Handschriften, unter denen ihn in be-
sonderer Weise alles auf Rußland und Rußlands historische Persönlichkeiten
Bezügliche interessierte). Eines dieser derartig erworbenen Dokumente —
einen Brief des Fürsten Repnin an August Schlegel (erworben, laut einer
Notiz des gewesenen Inhabers, in einer Pariser Auktion bei Charavay am
24. März 1888), bekannt zu machen, ist der Zweck dieser Notiz.
Der Autor des Priefes, Fürst Nicolaj Grigor’evi¢é Repnin (1788—1845)
wurde von seinen Zeitgenossen®) als „ein Mann außerordentlichen Geistes
und Herzens“ charakterisiert. Der Spruch der Geschichte stimmt nicht in
vollem ale mit diesem Urteil überein. Wir wissen aber, wenn er auch nicht
zu den bedeutenden Staatsmännern der Zeit gerechnet werden kann, so war
er doch vor allem seinem Dienst und seiner Pflicht ergeben. Gebildet, groß-
herzig, aber häufig recht sorglos, verstand er die Menschen an sich zu
fesseln und sich allgemein beliebt zu machen. In Erinnerungen und Er-
zählungen seiner nächsten Zeitgenossen steht er vor unseren Augen als ein
letzter Auswuchs des prachtliebenden 18. Jahrh. mit seiner großzügigen
Lebensart und den märchenhaften Episoden seines Lebensschicksals, das so
glücklich begonnen und so traurig endete. Die Geschichtschreibung hat
Repnin zu Unrecht vernachlässigt. Wir besitzen keine uns genügende
Biographie dieses Mannes®). Die russische historische Literatur wirft auch
in der Notiz A. I. Markenvic: „l. I. Kuris (1848—1898)" in: „Zapiski J. Odessk.
obšč. ist. i drevn.“, Bd. XXII, SS. 79-81; vgl. ebd. Bd. Vill, S. 278—288,
G. P. Danilevskij: „Archiv pomeščikov Kuris” in „Zurn. Min. nar. prosv.“,
1856, Bd. XCII, VII, 30—32. Uber Puškins Handschriften aus dieser Samm-
lung schrieb ich gelegentlich anderwarts: S. „Puškin. Stat’i Materialy.” izd.
Odessk. Doma Učenych. (Jahrg. 1) Odessa 1925, S. 57. Die Spuren der
Autographen H. Heines sind jetzt verloren. Uber die anderen Abteilungen
dieser Sammlung gibt eine annähernde Vorstellung das Buch: „Snimki o
predmetov i kartin iz sobranija J. I. Kurisa“ (Odessa 1886), eine praduvolle
Ausgabe in einer geringen Zahl nur für Teilnehmer des Odessaer Archeolo-
gischen Kongresses und für einige Bekannte gedruckt (im Buchhandel nicht
erschienen). Über die Bildergalerie, die sich gegenwärtig, wie es scheint,
in Dresden befindet, s. die Notiz von E. Glollerbach] in der Zeitschrift:
„Sredi kollekcionerov“ 1921, N. 11—12, S. 72—74.
3) M. Tourneux „E. Charavay. Sa vie et ses fraveaux“: „La Revolution
Française“, 1900, T. 38, pp. 193—233. Charavay selbst in seinem Aufsabe
„Autographes” („La grande Encyclopédie“, IV, p. 761) nennt „collection
Jean de Kuris“ als eine der wichtigsten russischen Sammlungen, die sich im
Privatbesib befinden.
4) „Russkaja Starina“ 1885, B. XLVI, S. 411.
) „Iz zapisnoj knigi A. O. Imberga“. Russkij Archiv 1870, SS. 385—384;
394—400. Auf dem Grunde dieser Angaben Imbergs, der unter Repnin in
Sachsen diente, fußt auch die Lebensbeschreibung des lebteren im Werke
Banty3.-Kamenskij’s „Slovar’ dostopvamjatnych ludej russkoj zemli“, T. III
(S. Pb. 1847), S. 23—67.
e) Es wurde neuerdings bekannt, daß seine Urenkelin, Fürstin M. A.
Meščerskij, mił dessen Lebensbeschreibung beschäftigt sei (S. „Archiv deka-
brista Volkonskogo“, S. Pb. 8, Bd. 1, S. XXXVI; vgl. ebd. SS. 395—396),
aber 1 Arbeit ist bis ebt nicht erschienen. über Repnin s. den Artikel
von A. A. Golombievskij im „Sborn. biografij kavalergardov" (S. Pb. 1906,
Bd. Ill, S. 54-57). Fürstin F. G. Volkonskaja: „Rod knjazej Volkonskich“
(S. Pb. 1900, S. 103—104); P. Majkov im „Russkij biograf. Slovar™ (S. Pb.
1913, Bd. „Reitern-Rolcberg“, S. 118—126).
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kein ausreichendes Licht besonders auf den hervorragendsten Moment seines
un — seine Tätigkeit auf dem Posten des sächsischen General-Gouver-
neurs?).
Repnin ließ in Dresden einen guten Ruf zurück. Viele Jahre später
schrieb Graf A. P. Zavadovskij aus Dresden: „Hier lobt man allgemein den
Fürsten Repnin. Ich möchte ihn ebenso in Kleinrußland ehren, wie ich ihn
in Sachsen ehre“ (Kievskaja Starina, 1884, N. I, S. 217—218). Vgl. noch
interessante Urteile über Repnin von M. A. Maksimovič („Russkoe Oboz-
renie“, 1898, N. I, S. 131). P. D. Seleckij in seinen Memoiren erwähnt u. a.
das Interesse Repnins für Literatur: „Es gab kein mehr oder weniger inter-
essantes Buch, das der Fürst nicht gelesen hatte; seine Unterhaltung war
interessant und lehrreich“ (Kievskaja Starina, 1884, N. 8, S. 618—619). Ein
Porträt Repnins, mit der Dresdener Brücke im Hintergrunde, von unbekann-
tem Meister gemalt, gleichwie ein Glaskelch mit farbigen Ansichten von
Dresden, die ihm die Stadt überreichte, befinden sich jest im Ukrainischen
Historischen Museum in Kiev.
Erwähnen wir die allbekannten Fakta seines Lebenslaufes.
N. G. Repnin erhob sich schnell auf der administrativen Dienstleiter.
Teilnehmer der holländischen Expedition von 1799 und der zahlreichen
Kriege im Anfange des 19. Jahrh., kommandierte er die 4. Schwadron der
Chevaliers de Garde, die durch die Attacke bei Austerlibs rühmlich bekannt
wurde. Leo Tolstoj widmete dieser Attacke eine wundervolle Episode in
„Krieg und Frieden“. Am 8. März 1813 zum General-Adjutanten ernannt,
wurde Repnin bald darauf, am 8. Oktober desselben Jahres, von den drei
verbundeten Mächten auf den Posten des General-Gouverneurs des König-
reichs Sachsen und zum Befehlshaber der russischen Truppen erhoben, die
damals Sachsen besetzt hatten. Sein faktischer Eintritt in diesen Dienst
vollzog sich aber etwas später, am 30. Oktober, nachdem die französischen
Truppen unter dem Kommando des Generals Saint-Cyr und der sächsische
König, Napoleons Anhänger, Dresden verlassen halten. In Dresden er-
wartete Repnin ein großes Tätigkeitsfeld. Krieg und Epidemien verwüsteten
das Land, die Armee war zerstreut, Administration und Finanzen zerrüttet,
die Stadikasse leer. Repnins Aufgabe war es nun, nicht nur alle diese
Wunden zu heilen und die Ordnung wiederherzustellen, sondern auch die
Armee zu organisieren, um die Truppen der Bundesgenossen, die gegen
Napoleon weiterfochten, zu unfersfützen. In den Händen Repnins konzen-
tnerte sich ein großer Staatsapparat. Alle Verwaltungsgebiete verlangten
jeden Augenblick seine größte Aufmerksamkeit. Nichtsdestoweniger fand
er doch Zeit nicht nur für seine öfteren Dienstreisen aus Dresden (Anfang
November 1813 war er z. B. in Leipzig), sondern auch für einen recht um-
fangreichen Briefwechsel, der nicht lediglich Dienstcharakter trug. Der hier
unten angeführte Brief Repnins an August Schlegel diene zur Bestätigung.
Wir wissen, daß die Jahre 1813—1814 die Zeit angestrengter politischer
7) Uber die Verwaltung Repnins in Sachsen wirft ein gewisses Licht das
»General-Gouvernements-Blatt für Sachsen“ (I—Ill Bde.) — eine Art von
Zeitung, die in Dresden seine Kanzlei ausgab, und die kleine Schrift: „Uber-
sicht der Verwaltung des General-Gouvernements der Hohen Verbündeten
Mächte in Sachsen“ (Dresden, 1815), das Repnin gewidmete Büchlein des
Arztes Meinhold: „Dresden und seine Schicksale im Jahr 1813“ (Dresden,
1814). Soweit es uns bekannt ist, sind die Archivmaterialien, im f. König-
lichen Hauptstaatsarchiv befindlich, (Privat-Korrespondenz des Fürsten
Repnin — locat.: H. St. A. 2578) noch bei weitem nicht erforscht. S. auch
Gretscelu.Fr. Bulau: Geschichte des Sachs. Volkes u. Staates, Bd. Ill,
Lpz. 1853, S. 636 fig.; Th. Flathe, Gesch. des Kurstaates und Königreichs
Sachsen, Gotha 1873, Bd. III, S. 232—358. In der russischen Literatur sind
die obengenannten Erinnerungen A. O. Imbergs am wertvollsten. Die
Tochter Repnins, Varvara, bestätigt ihre vollständige Wahrheit in ihren Er-
innerungen aus dem Kindesalter („Iz avtobiograficeskich zapisok knjaZny
V. N. Repninoj“ im Russkij Archiv, 1897, Il, S. 480—482).
79
Tätigkeit für Aug. Schlegel war. Schlegel „hielt jetzt seine Zeit für ge-
kommen, um in der Politik, die ihm bisher ziemlich ferne gelegen hatte, eine
Rolle zu spielen,“ spricht J. Minor, sich der Worte Dorothea Schlegels er-
innernd, die gesagt hatte, daß er ordentlich par contrecoup zum politischen
Schriftsteller geworden war®). Aus dem schönen Werke Otto Brandts uber
Schlegel und seine politischen Anschauungen und Schriften®) wissen wir von
den Umständen, unter denen damals eine, von ihm nervös geschaffene,
Reihe von „Proclamationen, 5 Verfügungen, Aufrufen und
Berichten im Hauptquartier der Vereinigten Armee von Norddeutschland
und im Interesse des Kronprinzen von Schweden“ entstanden war:°). Hier
ist es notwendig, eines dieser Werke zu erwähnen, da es eine unmittelbare
Beziehung zum Inhalt des unten angeführten Briefes hat. „Seine publi-
zistische Tätigkeit,“ spricht O. Brandt (a. a. O. S. 166—167), „hatte ihm die
Ernennung zum schwedischen Regierungsrat gebracht, und so weilte er
denn seit Mai 1813 im Hauptquartier der Nordarmee, zunächst in Stralsund,
und erlebte dann den ganzen Feldzug in Deutschland an der Seite seines
Protektors.“ Die Herbstmonate des Jahres 1813 waren die Zeit sehr ernst-
hafter Kollisionen zwischen Napoleon und Bernadottei!); in den Befehlen
für die Truppen und in Proklamationen gab sich ein jeder von ihnen die
höchste Mühe, den andern zu erniedrigen. In diesem politischen Sireite
durfte Schlegel nicht gleichgültig verbleiben und benutzte alle Gelegenheit
zu boshaften und scharfen Invektiven gegen den ihm verhaßten Napoleon.
Ein zufälliger Umstand gab Schlegel die günstige Veranlassung für eine
besonders böse und freche Broschüre.
Wie aus der durch einen Zufall von russischen Kosaken aufgefangenen
Korrespondenz zwischen dem Minister Maret in Dresden und Baron Bacher
in Leipzig hervorgeht, wurden zwei gegen Bernadotte gerichtete Artikel in
der „Leipziger Zeitung“ vom 30. Sept. u. 5. Okt. 1813 auf Napoleons Befehl,
der wahrscheinlich ihr Autor war, veröffentlicht. In dem zweiten dieser
Artikel („Vom Elbufer“), kurz vor der Leipziger Schlacht im Druck erschienen,
beschuldigte Napoleon den schwedischen ronfolger „krasser Undankbar-
keit gegen Frankreich“, ihn den „Sohn und Bruder von Tollhäuslern“ nennend,
„der an sich selbst die Spuren der Krankheit empfinde“. Derselbe Artikel
enthielt ebenso Angriffe gegen Bernadottes Paladin — Schlegel. Also war
es, wie O. Brandt sagt, „die persönliche Erwiderung Napoleons auf Schle-
gels schriftstellerische Angriffe, indem er ihn in der Reihe der ihm so ver-
haßten, weil so gefährlichen Pamphletisten vor der Offentlichkeit mit
Namen nennt“.
Ganz natürlich ist es, zu vermuten, dag dieser Artikel auf Schlegel
einen besonders starken Eindruck machte und ihm die Galle schwellen
machie. Er war höchst glücklich, auf ihn antworten zu können, in dem-
selben Leipzig, wo der Artikel eben erst im Druck erschienen war, das aber
jezt schon den vereinigten Truppen gehörte. In solch einem Gemits-
zustande wurden in kurzer Frist: „Remarques sur un article de la Gazette
de Leipsick du 5 Octobre 1813 relatif au Prince Royal de Suède“ ge-
schrieben, diese „Parallele“ zwischen dem Franzosenkaiser und dem
8) J. Minor: A. W. v. Schlegel in den jahren 1804—1845. („Zeitschrift fur
Österreich. Gymnasien“ 1887, Bd. 38, S. 606-607.) I. M. Raich: Dorothea
2 Schlegel. Briefwechsel ım Auftrage der Familie Veit, Bd. Il, Mainz 1882,
a Otto Brandt: A. W. Schlegel. Der Romantiker und die Politik.
Stuttg., Berl. 1919.
10) Minor: Op. cif. S. 607.
u) Wiehr: Napoleon und Bernadotte im Herbstfeldzug 1813, (1893), zit.
bei O. Brandt (S. 111, Anm. ]: auch Leonce Pingaud: Bernadotte, Napoléon
et les Bourbons, Paris 1901, S. 226; Klaeber: Marschall Bernadotte (1910),
S. 371 ff. Der von O. Brandt zit. Artikel: Steig: Eine Romantikerfehde
gegen Napoleon, Sonntagsbeilage 21, 22 zur „Vossischen Zeitung“ 1906,
N. 244, 256, war mir nicht zuganglich.
80
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schwedischen Thronfolger, in welcher „aus jeder Zeile, aus jedem Wort“
der Haß gegen den „Buonaparte“ spricht.
Otto Brandt, der diese Angelegenheit ausführlich erörtert hat und mit
genügender Fülle den Inhalt der Broschüre Aug. Schlegels wiedererzählte
(a. a. O. S. 184—188), erklärt nicht, warum sie zum ersten Male anonym
erschienen ist. Für Schlegel war es so natürlich, in diesem publizistischen
Turnier mit offenem Visier aufzutreten, wie ja auch Otto Brandt sagt:
„Schlegel tat alles, um auch diese Streitschrift zur Kenntnis des Publikums
zu bringen“ (S. 187). Von woher stammt aber dann diese so unerwartete
und jedenfalls für ihn selbst kaum erwünschte schriftstellerische Bescheiden-
heit? Das erklärt, wie es uns scheint, der folgende, in bezug auf diese
Broschüre geschriebene Brief N. G. Repnins an Aug. Schlegel. Um die
Bewilligung zur Veröffentlichung der Broschüre zu erlangen, hatte sich
Schlegel an die Kanzlei des sächsischen General-Gouverneurs gewandt —
genauer: an die der Kanzlei zugehörige spezielle Zensurkommission. Nach-
dem Repnin von dieser Broschüre, welche ihm von der Kommission über-
reicht worden war, Kenntnis zn hatte, hielt er es nicht für möglich,
ihre Veröffentlichung zu bewilligen. Aber Schlegels Autorität war doch so
groß, dag Repnin es notwendig fand, ihm einen privaten Brief zu schreiben,
in welchem er die Gründe darlegte, aus denen die Veröffentlichung dieser
Broschüre ihm unzeitig erschien. Dieser Brief hat folgenden Wortlaut:
A Monsieur IA. V.] Schlegel
Monsieur
On a présenté à la censure établie près du gouvernement Général
de la Saxe un écrit portant le tire Remarques etc. — la censure
n'a pas osé prendre sur elle de donner le permis, elle a pris mon ordre
la dessus et jai décidé qu'il serait sursis à l'impression.
e chef d'une grande administration ne doit pas dire la raison,
qui le. décide; je ferai cependant une exception & votre égard, Monsieur,
vous le mérifez par vos relations présentes ef par le renom litteraire
et politique que vous vous éfes acquis précédemment.
N est inutile d'établir des parallèles pour relever la loyauté par
l'astuce, la magnanimité par la vengeance, la fermeté de caractère par
Ventétement, le respect aux constitutions par le despotisme, enfin d'en
etablir un entre le Prince Royal et Napoléon; l'un acquiert des Alliés,
autre les perd, l'un est adoré, l'autre hai. Personne n'a besoin d'être
co dans les sentiments qui sont voués généralement au Prince
oyal, par une réfutation des diatribes, qui ont été écrites contre lui,
e voile * jadis entourait Napoléon, n'a plus besoin d'être soulevé,
i est tombé.
Des circonstances malheureuses ont forcé tous les Souverains de
l'Europe à reconnaitre Buonaparte pour Empereur de France, ce serait
agir contre les intentions de l'Empereur mon Auguste Maitre et de ses
Alliés que de permettre des personalités violentes contre quelqu'un qui
occupe un trône: s'il employe une arme vicieuse contre nous, nous ne
devons pas limiter. .
Voici, Monsieur, ma profession de foi, elle me justifiera & vos yeux
et vous convaincra je l’éspére qu'il m'a été pénible d’empécher l'im-
pression d'un écrit fait par un homme estimable, servant la même cause
gue moi et approchant un Prince adoré par les Russes.
Je suis avec une parfaite considération
Monsieur,
Votre très dévoué serviteur Prince Repnin
Gouverneur Générale de la Saxe.
Leipzig le 11 Novembre
1813.
NFS 81
Höchst wahrscheinlich ist es nun, daß dieses höfliche Verbot der Bro-
schüre Schlegel gezwungen hat, sie anonym herauszugeben und vielleicht
auch mit falscher Bezeichnung der Stadt, und sicherlich nicht im Oktober,
wie es auf ihrem Titelblatte steht, sondern einige Zeit später.
Die Bedeutung dieses Briefes liegt darin, daß Repnin, nach seinen
eigenen Worten, seine „profession de foi” hier darlegt. Es ist selbstver-
ständlich nicht sein volles politisches Programm, und einige, beiläufig fallen-
gelassene Gedanken malen uns noch kein vollständiges Bild seiner poli-
tischen Anschauungen. Kennzeichnend ist aber, daß in dem Schreiben Rep-
nins, den besiegten Feind nicht so zu bekämpfen, eine leicht fühlbare
Achtung, wenn nicht geradezu ein Mitgefühl für Napoleon zu spüren ist.
Als Repnin den Gedanken aussprach, es sei nicht notwendig, Bonaparte ım
Formieren großer Armeen zu folgen, vergaß er, daß der Kaiser eben ım
Formieren neuer Truppen stand, die berufen waren, den Kampf weiter
fortzusetzen, um Sachsen zu sichern. Indem er um „Gnade dem Gefallenen“
ruft, versucht Repnin geschicki, zu beweisen, daß die gewagien Ausfälle
gegen den französischen Kaiser, der allerdings durch „traurige Umstände“
auf den Thron kam, der eigentlichen Idee des Kaisertums als beleidigend
erscheinen könnten.
Wie nahe diese Worte den Vorschriften auch standen, welche als Richt-
schnur z. B. dem preußischen Zensor Geheimrat Renfner dienten, der den
Abdruck der Broschüre Schlegels im „Preußischen Korrespondent“ aus dem
Grunde untersagt hat, daß „gegen unsere Feinde, und namentlich gegen den
Kaiser Napoleon, Schimpf, Schmähung und persönliche Beleidigung“1*) ver-
boten sei, — die Position aber, die Repnin hier einnimmt, scheint uns den-
noch bemerkenswert und eigenartig. Ein deutscher Schriftsteller aus der
Epoche der Befreiungskriege, der sich mit Leidenschaft der politischen
Tätigkeit widmete, und ein russischer Kriegsherr, der den Moskauer Feldzug
Napoleons überlebte und durch die Macht des Zufalls, auf kurze Zeit, Haupt
eines deutschen Königtums wurde, konnten selbstverstandlich nicht zu einer
Ubereinstimmung kommen. Dieser Brief wird aber deswegen nicht minder
interessant, im Gegenteil beweist er noch einmal, wie hoch die Autorität
August Schlegels als eines Schriftstellers und Politikers stand, wieviel Takt
Repnin zeigte, indem er sein Verbot in eine derartig liebenswürdige Form
einhüllte und seinen Brief an den Autor der Schrift mit solchen Kom-
plimenten versah.
. Wir wissen nicht, wie und ob sich Schlegel auf den Brief Repnins
äußerte, aber wesentlich war es, dak seine „Remarques“ doch im selben
Jahre 1813 verlegt worden waren, und daß im nächsten Jahre 1814 cine
„zweite, vermehrte Auflage“ mit Schlegels vollem Namen auf dem Titel-
blatte erschien.
12) „Remarques sur un article de la Gazette de Leipsick du 5 Octobre
1813 relatif au Prince Royal de Suède“. Leipsick au mois d’octobre 1813.
Uber die anderen Auflagen derselben Broschüre s. „Katalog der von A. W.
Schlegel nachgelassenen Bücher mit Verzeichnis der von A. W. Schlegel
en gedruckten Schriften“, Bonn, 1845, S. XVIII; O. Brandt, a. a. O.,
À , Anm.
13) O. Brandt, S. 187.
82
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ZWEI ZERSTÖRTE
DALMATINISCHE FAMILIENARCHIVE
Von
Camilla Lucerna, Zagreb.
Da und dort hört und liest man in Dalmatien von Familienarchiven, die
Erdbeben, Branden oder dem Unverstand spari Nachkömmlinge zum Opfer
felen. Trob der verhältnismäßig großen Zahl Intellektueller, die, sei's aus
Veranlagung, sei’s dank der unermüdlich anfeuernden Wirksamkeit des be-
rühmten Salonitaner Archäologen Don Frane Bulić Sinn und Augen für
historische Zeugnisse haben, geht auch heute noch manchmal wertvolles
Gut dieser Art verloren. Über zwei zerstörte Familienarchive, aus denen
Fragmente gerettet wurden, sei hier einiges mitgeteilt.
L Das Familienarchiv des Dichters Petar Hekiorović (1487—1572)
in Starigrad auf der Insel Hvar (Pharos).
Hieraus und hierüber berichtet Petar Kuničić!) in seiner kroatisch
geschriebenen Monographie: Petar Hektorović, Dubrovnik 1924,
allerlei interessante Dinge, verschweigt aber taktvoll, dab und wie er zum
Retter vieler und kulturgeschichtlich aufschlußreicher Archivolien wurde.
Durch seine Frau darauf hingewiesen, daß auf dem Einschlagpapier eines
Fleischers klassische Verse standen, kaufte er diesem Bestände ab, die
offenbar aus Professor Nisiteos kostbarer und berühmter Sammlung her-
ruhrten. Dieser bekannte und vielbesuchte Gelehrte, der von einer
Schwester Don Matijs, des lekten Hektorović (t 1774), abstammte, hatte den
großen Saal der festungsartigen Palastvilla „Tvrdalj“ in Starigrad, des
Dichters Hektorović Lieblingsschöpfung und Wohnsitz, zu einer der schönsten
Bibliotheken Dalmatiens, ja zu einem kleinen Museum ausgestaltet. Petar
Nisiteo (1775—1866) war auch der Gründer des Familienarchivs. Seine
eigenen, 20 Manuskriptbände umfassenden Werke befanden sich noch 1908
an Ort und Stelle im Besitz seiner Erben. Die Bibliothek wurde schon 1885
bei einem Umbau zerstört. Ob damals auch der in den Saal eingebaute
Taubenschlag des Dichters Hektorović, von dem noch Ida von Düringsfeld
in ihrem dalmatinischen Reisebericht so ergoblich spricht, zerstört worden
ist, erwähnt Kuničić nicht. Uber den Dichter und seine Familie bringt er
interessante Daten. Die Hektorovice waren mit den meisten Patrizier-
geschiechtern der Insel verwandt. Die Linie der Vorfahren geht über die
Familien Golubini€ (um 1300) und Piretic bis auf die Jivice (Jivie, auch
Dyvic, Dyinié) zurück, die schon 1160 in Ansehen standen. Des Dichters
Großvater, dessen Testament aus dem Jahre 1467 erhalten ist, war einer
der reichsten Adeligen der Insel. Uber Aufstände, Seuchen, Türkeneinfälle,
kirchliche Stiftungen, Käufe und Schenkungen, Prozeßakten, Bauten, Ver-
träge... berichten die Blatter dieser Familiengeschichte. Sie geben Einblick
in politische und ökonomische Verhältnisse, Auskunft über Graber- und
Kirchenschmuck, mildtätige Einrichtungen, Chorakſerzüge und Lebensläufe
der Erblasser, deren Kunstsinn, deren Liebe zu klassischen Studien und zur
Muttersprache, sie unterrichten über uneheliche Kinder, eingemauerie Eremi-
1) P. Kuničić lebte viele Jahre als Schulleiter in Starigrad. Gegenwärtig
wohnt er in Split.
85
tinnen, Unglücksfälle, Verbrechen... So wurden beispielsweise große
Waldbestände der Insel durch Brandlegungen von Hirten zerstört, die ihr
Weideland vergrößern wollten. Fromme hinterlassen Geld zum Loskauf
von Sklaven. Ein origineller Testator (Don Jakov Dujmičić) ordnet an, daß
kein Weib bei seinem Begräbnisse wehklagen (naricati) dürfe. Derselbe
hinterläßt verschiedene Felder der Dienerin Jelena aus Klis, welche von
Türken geraubt, von ihm losgekauft und getauft worden war. — Ein Volks-
zählungsausweis für das Jahr 1673 gibt die Verteilung der Bewohner auf
einzelne Orte an. Vom Blute der Hektorovice waren in Starigard zwischen
1613 und 1713 neunundvierzig Kinder zur Welt gekommen. Aber viele
hatten nicht geheiratet, viele waren jung gestorben. Die großen Besitztümer
zersplitterten sich. Auffallend häufig werden in Tesiamenten „natürliche“
Söhne und Töchter bedacht. Adeligen war es nicht erlaubt, Mädchen des
Bürgerstandes (pucanke) zu heiraten, doch durften sie uneheliche Kinder
legalisieren, gewisse Rechte blieben diesen jedoch vorenihalten. Nach
Kuničić gut fundierter Ansicht wird auch Petar Hektorović’ einzige Tochter
eine figlia naturale gewesen sein, und seine Enkelin und Erbin Julia war mit
dem legalisierten Sohne des Dichters Hannibal Lučić vermählt.
Unter den Nachkommen der männlichen Nachstverwandten des Dichters
treten einige originelle Gestalten kräftig hervor. Matij Hektorović, mit
siebzig Jahren Witwer geworden, tritt in den geistlichen Stand und läßt am
Feiertag seiner ersten Messe allen Armen im schönen Park seines Ahnherrn
ein Festmahl bereiten. Er und sein Sohn Marcanton, der vierundneunzig
Jahre alt wird (t 1766) sind äußerst streitlustige Herren, führen grobe Pro-
zesse. Marcantons Temperament zeigt der Titel einer Anklageschrift:
Versipelle allegatione calumniosa delle ingrati, astuti e bugiardi fratelli
Papizza. Eine andere, gegen die Comunità di Lesina (Hvar) gerichtet, hat
er: Papagallide e Stornelaide della Coletta getauft.
Kuničić führt aus seinen Dokumenten hundertvierzehn Benennungen von
vererbten Grundstücken, Dolinen und Hügeln an, die den slavischen Cha-
rakter der Inselbevolkerung für alte Zeiten bezeugen. Desgleichen hat er
etwa zweihundert slavische Personennamen aus Hvar und Starigrad ge-
sammelt, die dort jet nicht mehr vorkommen. Kuničić’ Liebe für den
Dichter gelang es auch, dessen Grab aufzufinden! Seine Monographie
Saar eine wichtige Ergänzung zu den über Petar Hektorovié erschienenen
ien.
II. Das Archiv der Familie Cerinié — Cerineo — Lucio — Grisogono
auf der Insel Brač (Brazza).
In meinem Forschungsbericht über die letzlen Arbeiten des großen
Rechtshistorikers Vladimir Mažuranić hatte ich die Frage aufggworfen, wer
der Kaufherr Dinis Cerniche gewesen sein könne, der den großen
portugiesischen Seehelden D’Allboquerque um 1510 nach Indien begleitet
hatte. In dessen Denkwürdigkeiten kommt dieser Name vor. Hie§ er etwa
Dinko Cernié? War er ein Dalmatiner? — Aus Supetar auf der Insel Brac
wurde mir Antwort. Dinko war ein Braganer! Dr. M. Vrsalović ließ mich
wissen, daß in der vielgliedrigen Familie Cerinié (Cerinich, Cerinio vel Ceri-
neo), die im 17. Jahrhundert geradezu ungeheure Besitztümer in vielen Län-
dern ihr eigen nannte, heute: noch eine Tradition existiert, die an Ost-
indien anknipft. Ihm gelang es, einiges aus dem Familienarchiv zu
retten. Aus seinem Material ist eine Veröffentlichung hochinteressanter Art
über dieses dalmatinische Welser- oder Fugger-Geschiecht zu erwarten,
um das man sich, wie es scheint, noch nicht gekümmert hat. „Micer Vinete
Cerniche, genannt Dinis Cerniche“, gehört in die Geschichte des dalmati-
nischen Handels. 3
Die „Archivalia Brattiensia“, die Dr. B. M. Vrsalović seit 20 Jahren ge-
sammelt hat, umfassen allein weit über 5000 Stücke, darunter mehrere
„Statute“, merkwürdige Pergamente, Handschriften in der sogenannten
„bosnischen Cyrillica“, dazu eine Fülle von Angaben, von Nachrichten ver-
schiedener Art, die Geschichte seiner Heimatinsel betreffend.
84
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Das Archiv der einst so mächtigen und weitverbreiteten Familie Cerinié,
„mit deren Reichtum an Orundbesitz in aller Herren Ländern im 17. jahr-
hundert sich einzig der irgendeines Kaiserhauses des 19. Jahrhunderts ver-
gann ließe“, konnte nur zum geringsten Teile gerettet werden. Vor dem
elikriege noch war es beinahe intakt. „Bis auf Pergamente, die damals
schon zu Dynamit als Tötungsmittel für Fische verwendet wurden.“ Nach
dem Kriege wurde das meiste als Einschlagpapier für Lebensmittel in einem
Geschäfte verbraucht. Im Jahre 1925 gelang es Dr. M. Vrsalović, noch „die
Reste der Reste“ in seinen Besib zu bekommen, Nachrichten aus dem
15. Jahrhundert, darunter Eigentumsverzeichnisse etc. Noch heute bestehen
die Festungsbauten in Splitska und Skrip auf Brad, Türme mit Wappen,
riften, Altertiimern, Gemälden, alles heute noch Eigentum der Familie,
deren Aufschwung höchstwahrscheinlich mit jenem kühnen Indienfahrer Dinko
Cernié zusammenhängt, den die Portugiesen „Dinis Cerniche” nannten.
II
LITERATURBERICHTE
ABHANDLUNGEN DES NIZYNER VOLKSBILDUNGS-
INSTITUTES UND DER WISSENSCHAFTLICHEN
FORSCHUNGS-LEHRKANZEL FÜR KULTUR- UND
SPRACHGESCHICHTE AM INSTITUTE
Hauptredakteur: Mykola Petrovskyj. Bd. VIII (1928). NiZyn 1928, S. 192, 8.
Von
D. Doroschenko.
Das „Volksbildungsinstitut“ in NiZyn ist an Stelle des ehemali-
gen „Historisch-philologischen Institutes“, welches,
neben dem gleichen Institute in Petersburg, die Gymnasiallehrer der
lateinischen und griechischen Sprachen für ganz Rußland ausbildete,
entstanden. Es wurde bereits im Jahre 1820 auf Kosten eines ukrai-
nischen Mäzenaten, des Fürsten Bezborodko, als „Gymnasium
höherer Wissenschaften‘ gegründet und war im Jahre 1832 in
ein ,Lyzeumphysikalisch-mathematischer Wissen-
schaften“ umgebildet; im Jahre 1840 wurde es zum „Lyzeum
der Rechtswissenschaften“, und endlich im Jahre 1875,
als die Klassik auch Rußland beherrscht hatte, entstand aus dieser
Schule das „Historisch-philologischelnstitut“. Dabei
hat es jeden Zusammenhang mit seinem Lande und mit dem es um-
flutenden Leben eingebüßt und existierte fast ein halbes Jahrhundert
als eine gänzlich in sich selbst eingeschlossene Anstalt, als gewisser-
maßen exterritorialer Bodenfleck in einer ruhigen ukrainischen Pro-
vinzstadt. Die früheren Zeiten, wo vom NiZyner Lyzeum die Kinder
des örtlichen ukrainischen Adels (unter anderen auch der geniale
Gogol) ihre Erziehung bezogen, waren vorbei; es wurde zur Sammel-
stelle der ausnahmslos in einem geschlossenen Internate in klaus-
nerischer Weise lebenden Studenten aus allen Teilen Rußlands.
Das Sovjetregime brachte mit sich, bekanntlich, eine völlige Re-
organisation des Schulwesens. Das Nizyner Historisch-philologische
Institut wurde zusammen mit allen auf dem Territorium der Ukraine
liegenden Universitäten (Kiev, Charkiv, Odessa, Poltava, Kamjaneé
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und Ekaterynoslav) in ein „Volksbildungsinstitui“, das
heißt in ein pädagogisches Institut zur Vorbereitung der Mittelschul-
lehrer aller Lehrfächer, umgebildet. Selbstverständlich wurde das
„klassische“ System restlos vernichtet; diese „Volksbildungsinstitute“
verloren überhaupt die wissenschaftliche Eigenart der alten Univer-
sitaten, sie hörten auf, wissenschaftliche Anstalten zu sein. In NiZyn
wurde aber dafür am Institute eine „Wissenschaffliche For-
schungs-Lehrkanzelfür Kulturgeschichte errichtet,
welche rein wissenschaftlichen Zwecken dient und die Arbeitsmög-
lichkeit für einen Teil alter Professoren des früheren historisch-
philologischen Institutes bietet. Die Lehrkanzel zerfällt in 3 Sek-
tionen, und zwar: 1. Sektion für ukrainische und russische Geschichte,
deren Leiter Prof. M. BereZkov (Erforscher der Handelsbeziehungen
zwischen Hansa und der alten Ru$) ist; 2. Sektion für ukrainische
und russische Sprache und Literatur, deren Leitung in den Händen
des bekannten Historikers des alten ukrainischen Dramas und gleich-
zeitig des Leiters der gesamten Lehrkanzel, Prof. V. Rézanovs, liegt;
und J. Sektion für antike Kultur mit dem Prof. I. Turcevyé an der
Spitze.
Die Lehrkanzel gibt ihre „Zapysky“ (Abhandlungen) heraus,
welche gleichzeitig das Organ des ganzen Institutes sind. Diese
„Abhandlungen“ setzen gewissermaßen die Arbeit der früheren
„Sammelschriften“ (Sbornik) des Historisch-philologischen In-
stitutes fort, es ist aber dabei als Grundunterschied die Verwendung
der ukrainischen Sprache in der letzteren Veröffentlichung hervor-
zuheben.
Es liegt vor uns der neue, bereits VIll. Band der „Abhandlungen“.
Die alten „Sammelschriften“ standen dem ukrainischen Leben (mit
Ausnahme von einigen dort erschienenen Arbeiten der Professoren
BereZkov, Rézanov und Maksymovy¢é) sehr ferne; die neuen „Ab-
handlungen“ sind, im Gegenteil, fast restlos den Themen aus ukrai-
nischer Geschichte, Literatur, Ethnographie etc. gewidmet. Noch in
vorigen Bänden der „Abhandlungen“ fanden wir die an die Tra-
ditionen der klassischen Studien in NiZyn anknüpfenden Arbeiten,
und zwar K. Stepas „Skizzen aus der Geschichte der antiken und
christlichen Dämonologie“ im VI. Bande (1926) und A. Pokrovskyis
„Proletarii“ im VII. Bande (1927); den Inhalt des lebten, VIIl. Bandes
machen dagegen fast ausnahmslos die ukrainistischen Arbeiten aus.
Prof. J. KolubovSkyj, der bekannte Herausgeber der rus-
sischen Übersetzung des „GrundrissesderGeschichteder
Philosophie“ von Überweg-Heinze, in welche er eine selbst-
verfaßte, sehr wertvolle Übersicht der Philosophie in Rußland ein-
verleibt hatte, ist in dem vorliegenden Bande der NiZyner „Abhand-
lungen“ mit einem Aufsabe unter dem Titel „Zur Frage über die
Philosophie in der Ukraine“, in welchem er seine Aufmerksamkeit
dem auch in unseren „Jahrbüchern“, Band IV., Heft 1, besprochenen
Buche von Prof. CyZevskyi „Philosophie in der Ukraine“ schenkt,
vertreten. Prof. Kolubovskyj beurteilt die Arbeit CyZevSkyjs sehr
87
günstig und bereichert deren Ausführungen mit einer ganzen Reihe
wertvoller Ergänzungen und bibliographischer Angaben.
Prof. M. PetrovSkyj enthüllt in seinem Aufsatze „Zur Ge-
schichte der Ruine“ ayf Grund der Quellenanalyse den legendären
Charakter einiger in den Kosakenchroniken von Samovydeé und
Velyéko geschilderten Momente aus dem XVII. Jahrhunderte, die bis
jest in ukrainischer Historiographie für Tatsachen gehalten waren.
A. JerSov, der schon früher eine ganze Reihe interessanter, der
sehr wenig erforschten ukrainischen Historiographie des XVII. bis
XVIII. Jahrh., gewidmeten Studien geliefert hat, gibt jeBt in der
Arbeit „Die literarischen Quellen der historischen Arbeiten von
St. LukomSkyj“ wertvolle Beiträge zur Erforschung der um das Jahr
1770 entstandenen Arbeiten.
Eine ganze Reihe von Artikeln ist der ukrainischen Literatur-
geschichte gewidmet, und zwar: Iv. Pavlo vs k vi gibt eine Uber-
sicht des Lebens und Schaffens eines begabten, tragisch im Bürger-
kriege verstorbenen, jungen Dichters V. Cumak; O. Puly ne & liefert
in seiner Arbeit „N. CernySevskij und die ukrainische Frage“ eine
Charakteristik der Einstellung des berühmten russischen Soziologen
und Publizisten der ukrainischen Nationalbewegung gegenüber; Prof.
E. Rychlik beschäftigt sich mit den „Ukrainischen Motiven in der
Dichtung J. Slowackis“; P. Odaréenko gibt neue Materialien zur
Dichtung der LeSa Ukrajinka, der bedeutendsten ukrainischen Dich-
terin am Anfang des XX. Jahrh., indem er ein neuentdecktes Album
mit ihren Jugend-Gedichten behandelt. Prof. V. R&zanov ist mit
den „Skizzen über die proletarische Dichtkunst“, die gleichzeitig den
einzigen in diesem Bande in russischer Sprache veröffentlichten Bei-
trag bilden, vertreten.
Wir finden im vorliegenden Bande ferner noch die Aufsätze Prof.
M. Dadenkovs über die Erziehungsphilosophie von Ernst Krieck,
O. Kamenevs über Tabakbau und Mineraldüngung in der likraine,
und der Frau M. TereSéenko über die Ergebnisse der landwirtschaft-
lichen Sommerarbeiten der Schüler der Arbeitsschulen. Mit der Er-
wähnung der offiziellen Berichte des Institutes und der Lehrkanzel
ist der Inhalt des VIII. Bandes der „Abhandlungen“ erschöpft. Schon
diese kurze Übersicht legt klar, daß im alten Kulturzentrum Nižyn
die wissenschaftliche Arbeit nicht ausstarb, sondern nur teilweise
neue, den veränderten Lebensbedingungen mehr entsprechende
Formen annahm; diese Arbeit weist sehr interessante Ergebnisse
auf, welche zweifelsohne dem Faktum zu verdanken sind, daß die
wissenschaftliche Arbeit in NiZyn jetzt in organische Verbindung mit
der Umgebung, mit den Geistesinteressen des Volkes, auf dessen
Boden sie geführt wird, getreten ist.
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BÜCHERBESPRECHUNGEN
Swięty Franciszek z AssyZu. Zbiór odczytow. — Kraków 1928. Na-
kladem Krakowskiej spolki wydawniczej 1928. XV u. 248 S.
Von den 9 Vorträgen über den hl. Franz v. Assisi kommen hier für
uns nur folgende in Betracht: Fr. Bielak behandelt S. 79—98 die fran-
ziskanischen Motive in der polnischen Literatur; P. Skarga hat in seinen
„Heiligenleben“ auch das Leben des hl. Franz beschrieben, aber es war
keine originale Arbeit (vgl. auch X. Br. Gładysz, Swiety Franciszek z Assyżu
w hagiografji polskiej, Przegl. teol. 1926, f. IV). Poetisch verwertet wurde
der Poverello bei W. Kochowski, B. Chmielowski, Kulczycki, Syrokomla
(Kantaty św. Franziszka), Odyniec, Siemieński, Swietochowski (in der No-
velle „Pustelnik“), Dygasińki, Leszcyński (eine zweibändige Monographie
des hl. Franziskus 1875). Unter dem Einfluß von P. Sabatiers Buch über den
hi. Franz schrieb der Romanist Porembowicz i. J. 1899, das Franziskusleben
Joergensens wurde von Stateczny bearbeitet (1912); Szczepanek gab 1912
sein Büchlein: $. Franciszek, Pisma heraus. Besonders zu erwähnen sind
hier noch die Hymnie $w. Fr. (1901) von Kasprowicz, die zwei Novellen von
Witkiewicz o Jedrku Cajce und ZoSce Galicce. Unter den neuesten Dich-
tern, die sich mit dem hl. Franz befassen, sind zu nennen: Morstin, Swięty,
Kraków 1922, We kraju Latynów, ebd. 1924, Zegadlowicz: Przydz królestwo
Twoje 1924, Kossak-Szczucha, Wielcy i mali, Z milosici (1926) Hulka-La-
skowski, Cieszyn 1927. — Th. Szydlowski behandelt die Architektur der
Franziskanerkirchen in Polen zur Piastenzeit (153—171) mit 9 Abbildungen.
Wertvoll fur die Geschichte der Frommigkeit wie auch fiir die Ordensge-
schichte ist der Aufsatz von Dabrowski: Die franziskanische Bewegung und
die polnische Wiedergeburt im 13. u. 14. Jahrh. 173/89.
Breslau. F. Haase.
Monarchia Sancti Petri. Die kirchliche Hierarchie des Heiligen Petrus
als freie und universelle Theokratie im Lichte der Weisheit. Aus
den Hauptwerken von Wladimir Solowjew systematisch gesam-
melt, übersetzt und erklärt durch L. Kobilinski-Ellis. — Matthias
Grünewald Verlag 1929, XVIII u. 632 S.
Solov’ev ist zweifellos einer der bedeutendsten russischen Religionsphilo-
sophen. Es ist nicht recht erklärlich, warum dieser große Geist von seinenLands-
leuten so unterschabt und abfällig beurteilt worden ist. Hat ihn doch Tolstoi
einen „Kopfmenschen“, einen „Oberpriestersohn“ genannt, der ausschließlich
davon lebt, dag man ihm Bücher gibt, die er durchliest und sich ein Argument
daraus nimmt. Es muß aber doch anerkannt werden, daß S. sich ein eigenes
System gebaut hat, das zwar aus den Weltanschauungen anderer Philo-
sophen viel entlehnt hat, aber doch völlig selbständig durchgeführt ist. In-
wieweit seine katholisierende Tendenz den Grund zur Ablehnung in seiner
89
Heimat gegeben hat, läßt sich natürlich schwer erweisen, dürfte aber bei
vielen russischen Theologen, die gegen ihn geschrieben haben, von Bedeu-
tung gewesen sein. Ersi die umfangreiche Monographie von E. Trubeckoi,
Die Weltanschauung VI. S. Solov’evs, 2 Bde., Moskau 1913, hat in land
den Philosophen näher gewürdigt, sein bedeutendster Schüler Berdja’ev
Gebt in Paris) ware wohl der berufenste Interpret der Philosophie seines
Lehrers. In Deutschland wurde Solov’ev durch die Herausgabe seiner aus-
gewählten Werke von H. Köhler bekannt, in Frankreich gab M. d. Herbigny
1911 eine ausführliche Monographie. Leo Kobilinski-Ellis, der schon die
Gedichte Solov’evs übersetzt hat, gibt nun in dem vorliegenden Werke eine
übersekung Sere mgen Werke, welche die kirchlichen und kirchenpolitischen
Anschauungen von S. zum Ausdruck bringen. Als Fundament müssen philo-
sophische Erörterungen herangezogen werden, die S. im 16. Kapitel seines
Buches „Die Kritik der abstrakten Prinzipien“ (10—27) gegeben hat. Hier
wird die Alleinheit als das Prinzip des Wahrhaft-Seienden gelehrt. Die
zweite Voraussetzung bildet die Gottmenschheit, in welcher grundlegende
Thesen über die mit Christus mystisch vereinigte Menschheit zur Sprache
kommen (29—70). Es ist besonders dankenswert, daß der Überscher die
Begriffe Logos, Sophia und Weltseele, über die viel irrige Anschauungen
herrschen, näher behandelt. Aus den obengenannten Voraussetzungen baut
nun S. seine Lehre über das Gottesreich auf. Seine Abhandlung: „Der
große Streit und die christliche Politik“ (93—221) ist für den Kirchenhistoriker
von großem Wert. Sie wird aber auch in der Beurteilung des Slavophilen-
tums, der Kirchenfrennung und der Stellung Rußlands zu Byzanz und zum
Westen wegen der umfassenden historischen Kenntnisse und der objektiven
Beurteilung maßgebend bleiben. Erst jetzt beginnt der theologische Teil:
Die freie Theokratie oder die universelle Kirche Christi (291/463) und die
kirchliche Monarchie des hl. Petrus (464/538).
Der Herausgeber hat sich aber nicht bloß mit der Ubersetzung begnügt.
In seinen Anmerkungen und Erläuterungen (539—632) zeigt er ein so um-
fassendes Wissen und Verständnis für Solov’ev, daß man den Wunsch aus-
sprechen muß, Kobilinski-Ellis möge uns die so notwendige Religionsphilo-
sophie Solov’evs schreiben. Er versteht es, die oft als „mystische Ver-
stiegenheit“ Solov’evs gekennzeichnete Theologie klar zu machen. Mit Recht
weist K. darauf hin, daß S. in seiner Terminologie die abstrakt-theologischen,
transzendental-idealistischen und streng wissenschaftlichen Termini synthe-
tisch zu vereinigen sucht, daß er dabei auf die alte Terminologie der alt-
indischen, alt-ägyptischen, hellenischen, mosaischen Weisheitslehre in seiner
Sophiologie zurückgeht; die Unvollkommenheit in der Terminologie besteht
in der Vieldeutigkeit einiger Haupttermini (613). Es muß der Einzel-
forschung vorbehalten bleiben, nachzuweisen, inwieweit Solov’ev im ein-
zelnen von der alten Terminologie abhängig ist. Sehr erwünscht ist der
freilich etwas zu kurz geratene Artikel über die Stellung Steiners zu
Solov’ev; mit der Anthroposophie hat S. tatsächlich nichts gemeinsam.
Erwünscht ware es gewesen, wenn K. angegeben hatte, nach welchen
russ. Ausgaben er übersetzt hat. Der Leser erfährt z. B. nicht, daß die Ge-
schichte der Theokratie in verschiedenen Ausgaben und z. T. mit einigen
Veränderungen vorliegt in den Artikeln der Pravoslavnoe Obozrenie, der
Istorija i budu3£nost’ teokratii, 1. Bd., Zagreb 1882, und in den Gesammelten
Werken. Die Übersekung ist, soweit ich durch Stichproben mich überzeugt
habe, gut und in leicht verständlicher Sprache wiedergegeben (die Zeitschrift
„Vera i Razum“ dürfte einfacher mit „Glaube und Wissen” zu über-
seben sein).
Ein besonderes Lob verdient noch der Grünewaldverlag in Mainz. Er
ist einer der wenigen Verlage in Deutschland, die wissenschaflliche russische
Bucher zur Herausgabe bringen. Dazu gehört Opfermut, denn die wissen-
schaftliche Welt in Deutschland ist gerade die, welche der slavistischen Welt
sehr zurückhaltend gegenübersteht, und mancher deutsche Slavist weiß,
daß namhafte Verleger mit Hinweis auf diese Zurückhaltung von dem Ver-
lage von Werken slavistischer Richtung abstehen. F. Haase.
90
aw YS SD t3_ oF TR 1.
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Wr Wr D Oh ee Oe . , „meme m.. - Y r NN . — WF . „ ere r - ee eee
Jubilejna Kniga na Grad Sofija (1878— 1928). Izd. Komitetüt
za istorija na Sofija pri Bülgarskija Archeologiceski Institut. —
Sofija 1928. 432 S. 4°.
Die SOjahrfeier der Befreiung von der türkischen Herrschaft hat dem
Ausschuß für geschichtliche Erforschung der Stadt Sofija am Bulgarischen
Archäologischen Institut Gelegenheit gegeben, ein Werk zu veröffentlichen,
welches innerhalb weitester Grenzen Geschichte und Charakter der jebigen
en Hauptstadt in einer Reihe einzelner Aufsätze aus berufener
Feder behandelt und eine Städtemonographie von großem Format darstellt.
Es haben an dem 5500 Abschnitt die Professoren
I3irkov, Kacarov, Mu3mov, Ivanov, Filov und Balamezov, an dem Abschnitt
für Kultur- und Bildungsfragen die Herren Dorosiev, Stanimirov, Rajcev,
Argirov, Balabanov, Christov, Prołič und Prof. Filov mitgearbeitet, um nur
an den beiden ersten Abschnitten zu zeigen, wie individuell die einzelnen
Untergebiete eines jeden Hauptgebietes behandelt worden sind. Ahnlich
verhält es sich mit den Abteilungen für Wirtschaft und Finanzen und für
Sozial- und Verwaltungswesen. Im Vorwort wird der Freude Ausdruck
gegeben über die Fortschritte, welche die bulgarische Hauptstadt in der
verhältnismäßig so kurzen Zeit von 50 Jahren selbständig nationalen Lebens
aufweisen kann, und ein großer Teil der Aufsätze erfaßt in der Hauptsache
eben die Darstellung der großen Vorwärtsbewegung auf den einzelnen Ge-
bieten innerhalb der letzten 50 Jahre. Anders verhält es sich mit dem ge-
schichtlich-geographischen Abschnitt, welcher ein hochinteressantes Denk-
mal der Stadtgeschichte im Laufe von beinahe zweitausend Jahren ist und,
ganz für sich genommen, dieser Jubilaumsschrift eine besondere Bedeutung
= en in on ersten Aufsatz „Grad Sofija“ von A. I3irkov, welcher
© Vordedn ische Lage der Stadt und ihrer Umgebung behandelt, wird auf
die e dingungen der künftigen Bedeutung von Sofija eingehend hin-
gewiesen: ihre Lage im Kreuzungspunkt von der Natur vor gezeichneter
Wege, die das westliche Europa mit Vorderasien verbinden und die von den
ältesten Zeiten an ihre Richtung kaum geändert haben. I3irkov kehrt am
Schlusse seines Aufsakes „Sofija po vreme na osvoboZdenieto” zu diesen
Betrachtungen zurück bei Gelegenheit der Meinungsverschiedenheiten,
welche über die Wahl der Hauptstadt des befreiten Bulgarien bestanden,
und dank den Bemühungen Drinovs aus geschichtlichen Erwägungen schließ-
lich durch die russische Regierung und die bulgarische Volksvertretung in
Trnovo zugunsten von Sofija entschieden wurden. Den besten Beweis für
die Bestimmung der Stadt Sofija als Mittelpunkt des bulgarischen Landes
liefert die eigenartige Geschichte ihres Namenswechsels, den l3irkov in
allen seinen Phasen verfolgt vom antiken Serdika bis zu der volksethymolo-
gischen Umgestaltung in Sr&dec mit allen ihren durch das nach a hinüber-
laufende & bedingten lautlichen Wandlungen im Munde der Griechen
oder der Kreuzfahrer: in Toadırla, Stralice, Stralaiz usw. In der landes-
kundlichen Darstellung I3irkovs berührt der Abschnitt über Flora und Fauna
des Sofioter Bezirks durch den idyllischen Charakter dieser Schilderungen
besonders sympathisch, hier ist in kürzester Form wirklich ein Stück Kultur-
geschichte im Sinne Hehns gegeben. Die Münzgeschichte der Stadt Serdika
in dem kurzen Aufsab von Mu3mov ist eine wertvolle Ergänzung zu Kaca-
rovs „Sofija v drevnosf‘ia”. Die diesen beiden Aufsätzen beigefügten Ab-
bildungen antiker Statuen und Münzen, ebenso wie die zu Filovs Aufsab
„Stari pameinici v Sofija“, sind eine dankenswerte Bereicherung dieses
Werkes. Sofija im Mittelalter und unter türkischer Herrschaft stellt I. Ivanov
dar mit Anführung eingehender bevölkerungsstatistischer Daten, die durch
ir ko vs „Naselenie na Sofija“ noch weiter ausgebaut werden. Sehr ein-
gehend ist, entsprechend der Bedeutung, die das Schulwesen von jeher im
neuen Bulgarien gehabt, von Dorosiev dieses Gebiet dargestellt worden,
die wissenschaftlichen Institute und Muscen bespricht Filov, in einzelnen
Aufsäßen wird das Theaterwesen, Musikpflege und Kunstleben in Sofija
behandelt, letzteres von Proti& unter Beigabe von Abbildungen moderner
9
Landschaftsbilder, Porträts und Skulpturen. Wiederholt wird darauf hin-
ewiesen, welche Förderungen das junge Kunstleben Bulgariens durch Ze
erdinand und seine Bereitwilligkeit zu Bilderkäufen erhalten hat. Die
künstlerischen Bekenntnisse der bulgarischen Maler spiegeln alle Phasen
der europäischen Kunst wider, es sind alle Richtungen verireten, vom Aka-
demismus der Münchener Schule bis zum Expressionismus, ein eigener Stil
hat sich noch nicht herausgebildet. In ähnlicher Lage wie Malerei und auch
Skulptur befindet sich die Baukunst. Proti¢ gibt in Kürze ein anschauliches
Bild von deren Wandlungen, für die bis vor kurzem immer das europäische
Vorbild, gleich, ob zur Zeit der kopierten alten Stile oder der bewuften
bkehr von ihnen im Vertikalismus und Konstruktivismus, maßgeblich ge-
wesen ist. Nach dem Welikriege sebte aber bei Architekten und Bauherren
das Sireben nach eigenen Ausdrucksformen unter Anpassung an die alte
bulgarische Baukunst ein, man will diese nicht sklavisch kopieren, sondern
sucht die traditionellen Formen dem neuen Material und zeitgemäßen Er-
fordernissen anzupassen. Auf diesem Gebiet hat gerade Sofija die Füh-
rung übernommen.
Der wirtschaftliche Teil wird durch einen Aufsatz des Dozenten Il. ja-
nulov über den Stand der Landwirtschaft im Sofioter Kreise eröffnet, welcher
deutlich zu erkennen gibt, daz man weit davon entfernt war, in dieser
Jubiläumsschrift den Stand der Dinge tendenziös rosig darzustellen. Ja-
nulov stellt auf Schritt und Tritt Mängel fest und urteilt schonungslos über
die Systemlosigkeit, mit welcher fast alle Meliorationsversuche seitens des
Sofioter Bezirksrates unternommen worden sind, besonders scharf äußert
er sich über den Raubbau im Forstwesen. uns Aufsab über das Hand-
werk in Sofija beginnt mit einem interessanten Rückblick auf Handwerk und
Zunftwesen des alten Bulgariens und über die Maßnahmen zu ihrer Hebung
im befreiten Bulgarien; der Schneiderzunft ist ein längerer Abschnitt
gewidmet, weil sie die älteste und bestorganisierte aller bulgarischen Ziinfte
ist. Eine Statistik des gesamten Handwerks und Aufzählung aller Hand-
werkerverbände in Sofija beschließen den Aufsak. Die Bedeutung Sofijas
als Industrie- und Handelszentrum, der Stand der Aktiengesellschaften, des
Bank- und Genossenschaftswesens u. a. m. wird in besonderen Aufsätzen
dargestellt, ebenso werden in der Abteilung für Verwaltung und soziale
Fürsorge alle einschlägigen Punkte ausführlich behandelt. Besonders ist
es der Aufsab von Janulov über die Sozialpolitik der Stadt, der in sehr
lebensvoller Weise die verschiedensten Gebiete des öffentlichen Lebens
beleuchtet und die Schwierigkeiten dem Leser naheführt, mit welchen z. B.
in der Wohnungsfrage die _Verwaltungsorgane zu kämpfen haben, um das
Niveau der Lebenshaltung in den unteren Klassen zu heben. Es gibt wohl
kein Gebiet, in welchem sich die traurigen Zustände der Nachkriegszeit
deutlicher aussprächen als hier. Emmy Haertel.
Korespondencija Racki-Strogmayer. Knjiga I: Od 6. oki. 1860 do
28. dec. 1875. O stogodiSnjici rodjenja Franje Račkoga izdala
Jugoslavenska Akademija Znanosti i Umjetnosti. Uredio Ferdo
Šišić. Zagreb 1928, 414 S.
Im Herbst 1928 sollte die 100. Wiederkehr des Geburtstages Ae
Nackis, des bedeutenden kroatischen Historikers, Politikers und Kultur-
pioniers, unter Beteiligung der gesamten jugoslavischen arts
Öffentlichkeit in Agram festlich gefeiert werden. Durch die gerade akut ge-
wordene politisch-nationale Spannung zwischen Kroaten und Serben wurde
jedoch die Durchführung einer gemeinsamen Feier unmöglich. Die Jugo-
slavische Akademie ehrte das Andenken ihres Hauptorganisators, Mit-
begründers und ersten Präsidenten durch die schon lange dringend er-
wünschte kritische Ausgabe der Korrespondenz Racki-Stroßmayer und legte
die fe dieser Aufgabe in die Hände des berufensten Kenners,
des Historikers Šišić. Mit dieser Korrespondenz, deren eine Teil in diesem
Band vorliegt — ein zweiter Band folgt demnächst —, wird ein einzig
92
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wichtiges Quellenmaterial für die Erkenntnis der politischen, nationalen und
kulturellen Geschichte der Kroaten und der übrigen Jugoslaven im 19. Jahrh.
der weiteren wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die
reichhaltigen personellen und sachlichen Erläuterungen Si3ie’, der übrigens
in diesen Tagen (März 1929) den 60. Geburtstag feiert — die angekündigte
Festschrift erscheint im Herbst —, erleichtern wesentlich die Beniitzung.
ebenso der Personenindex am Schluß des Bandes.
Oraz. J. Mati.
Oleksander Kolessa: Pivdenno-volynśke Horodyšče i horo-
dyśki rukopysni pamjatnyky XU—XVI v. (Südwolhynisches
Horodyšče und die Horodyščer handschriftlichen Denkmäler
aus XII.—XVI. Jahrh) — Kap. I-III im Naukovyj Zbirnyk
UkrajinSkoho Universytetu v Prazi (Wissenschaftliche Sammel-
schrift der Ukr. Univ. in Prag), Bd. l, Prag 1923, S. 23—65.
Kap. IV im Juvylejnyj Naukovyj Zbirnyk Ukr. Universytetu v
Prazi, prysvjialenyi P. Prezydentovy Ces.-Slov. Respubliky
Prof. Drovy T. G. Masarykovy dl’a vSanuvaniia 75. rokovyn joho
narodzeniia. (Wissenschaftl. Jubilaumssammelschrift, gewidmet
dem Prasidenten der Cechoslov. Republik Prof. Dr. T. G. Masaryk
zu seinem 75. Geburtstag.) Prag 1925, S. 406—432.
Der bekannte ukrainische Philologe und Literaturhistoriker Professor
O. Kolessa behandelt in seiner ziemlich großen Studie die im alten süd-
wolhynischen Kloster in Horody3te entstandenen oder zu demselben in
irgendeiner anderen näheren Beziehung stehenden literarischen Denkmäler.
Da unter den Horody3ter Handschriften sich auch die schon seit längerer
Zeit bekannten und für die Geschichte der ukrainischen Sprache sehr wich-
tigen Denkmäler, wie z. B. die Chrystynopoler Episteln oder das sog.
Bucacer Evangelium befinden, gewinnt diese Studie, deren Inhalt die kriti-
schen Bemerkungen und Ergänzungen zu den früher herausgegebenen und
die paläographische Beschreibung sowie philologische Analyse der bis
dahin unbekannten Denkmäler ausmachen, eine besondere Bedeutung.
Bis jetzt sind die vier ersten Abschnitte der Arbeit im Druck hieni
im ersten Abschnitt finden wir die allgemeinen, einführenden Be-
merkungen über das Horodyščer Kloster und über
seine Handschriften. Verf. würdigt zuerst, auf Grund der in der
bekannten Wolhynischen Chronik enihallenen Angaben, die Bedeutung
Wolhyniens als eines alten ukrainischen Kulturzentrums und hebt besonders
die diesbezüglichen Verdienste des wolhynischen Fürsten Volodymyr
Vasyl’kovy& hervor. Es folgt eine Bestimmung der geographischen Lage
des ehemaligen Horody3te und eine kurze, auf Grund des vom Verf. in
der Kirche in Horody3te entdeckten und bisher ‘in der Wissenschaft un-
bekannten Seelenmessenregisiers konstruierte Geschichte des jetzt schon
nicht mehr bestehenden HorodyScer Klosters. Weiter stellt der Verfasser
auf Grund untrüglicher Merkmale die HorodySéer Herkunft einiger wichtigen
Handschriftendenkmäler fest. Etwas länger verweilt er bei der umfang-
reichen, aber keinesfalls lückenlosen Motivierung der HorodyScer Herkunft
zweier nur hypothetisch dieser Handschriftengruppe angehörender Denk-
mäler, und zwar der Lavrover Fragmente eines Evangeliums aus 12.—13. Ih.
und der Chliv&aner Fragmente eines Psalteriums aus derselben Zeit.
Der zweite Abschnitt ist der Behandlung des wichtigsten und ältesten
HorodySéer Denkmals, und zwar den HorodySéer Episteln aus
12. Jahrh., die bis ict in der Wissenschaft unter dem Namen ,,Chrystyno-
poler Episteln“ bekannt waren, gewidmet. Es wird die interessante Ge-
schichte dieses zwar in Chrystynopil entdeckten, aber in HorodySée ent-
standenen Kodex verfolgt und seine von KaluZniackyj angefertigte Aus-
95
gabe kritisch gewürdigi. Dann geht der Autor zur Bestimmung des Alters
dieser Handschrift über, wobei er die auf Grund der falschen paläo-
graphischen Observation des Kalukniackyi entstandene Ansicht, daß dieses
Denkmal aus Galizien stammt, einer gründlichen Kritik unterzieht und ab-
lehnt. Ebenfalls die kritische Betrachtung der gesamten späteren dies-
bezüglichen Literatur sowie die erste genauere Analyse der Sprache des
Denkmals liefern schlagende Beweise dafür, daß die Horody3ter Episteln
En 1 Denkmal sudwolhynischer und keinesfalls galizischer Her-
unft sin
Es folgt im dritten Abschnitt eine genaue paläographische Beschreibung
und sprachliche Analyse der vom Autor entdeckten und bis dahin unver-
offentlichien HorodySéer Pergamentblätter eines Evan-
geliums aus 12.—13. Jahrh. Die ausführliche wissenschaftliche Be-
handlung dieser aus einem im 12.—13. Jahrh. vermutlich in HorodySée ge-
schriebenen Kodex stammenden Fragmente führt den Verf. zur Uber-
zeugung, daß diese zwar nicht viele, aber deutliche altukr. dialektologische
Merkmale aufweisen und der Gruppe der eklektischen Übersetzungen an-
gehören, wobei aber einige Versuche Se selbständigen Konzeption der
Ubersebung zum Vorschein kommen. Text der Fragmente wurde in
der Studie sorgfältig wiedergegeben; es 9 auch eine, leider nur teilweise,
Photoreproduktion beigefügt.
Der vierte und umfangreichste Abschnitt behandelt das schon seit der
Bemerkung von A. PetruSevyé aus dem Jahre 1888 und hauptsächlich seit
der im Jahre 1911 erschienenen paläographischen Studie von l. Svjencickyj
bekannte, aber noch sehr wenig bearbeitete und nicht herausgegebene
sog. Bucacer Evangelium aus 12.—13. Jahrh. In erster Linie beweist der
Verfasser auf Grund der im Kodex befindlichen Bemerkung seines Schrei-
bers MuSatyé die HorodySéer Herkunft des Denkmals und schlägt vor, den
falschen Namen, den das Denkmal seinem Fundorte verdankt, endlich auf-
zugeben und den einzig richtigen Namen ,HorodySéer Evan-
gelium” zu gebrauchen. Weiter gibt der Autor, trojdem er die Not-
wendigkeit einer vollständigen Ausgabe des ganzen Textes einsieht, doch
nur eine ziemlich genaue paläographische Beschreibung des Denkmals, eine
Analyse seiner Sprache und Würdigung seiner großen dialektologischen
Bedeutung. Wir haben also zwar noch keine vollständige Ausgabe des
Textes, im ganzen kann man sich aber schon jetzl auf Grund der Studie von
Prof. Kolessa und der dort wiedergegebenen Fragmente des Textes ein
ziemlich genaues Gesamtbild des Denkmals entwerfen.
Einen besonderen Wert hat die genaue Besprechung der Phonologie
der Sprache der Horody3£er Blätter sowie des Evangeliums. Der Verfasser
behandeli alle diesbezüglichen Eigentümlichkeiten der beiden Denkmäler
urd hebt die dialektologische Bedeutung vieler Merkmale, in erster Linie
des sog. neuen Jaf’ (B), als untrüglicher Zeichen ihrer ukr. Herkunft hervor.
In dieser Beziehung ist ‘die Arbeit eine wertvolle Ergänzung einer früheren,
für die Geschichte der ukr. Sprache sehr wichtigen Studie von demselben
Autor, und zwar seiner „Dialectologischen Merkmale” (Archiv f. slav. Phil.
XVII), und gewinnt die allgemeinere Bedeutung einer sich nicht bloß auf
die Beschreibung der neuen bzw. der nicht gut genug bekannten Denkmäler
beschränkenden, sondern auch das Material objektiv beurteilenden und aus
ihm die Schlüsse ziehenden wissenschafflichen Studie.
Berlin. M. Hnaty3ak.
Prof. Dr. Oleksander Kolessa: Pohl’ad na istoriju ukra-
jinSko-ceSkych vzajemyn vid X. do XX. v. (Überblick der Ge-
schichte der ukrainisch-tschechischen Beziehungen vom X. bis
zum XX. Jahrh.) Prag 1924. 8°, S. 16.
Die vorliegende kleine synthetische Arbeit gibt eine Nlüchtige, aber
trobdem sehr instruktive, auf einem zwar meistenteils bekannten, aber hier
sorgfaltig in ein Ganzes zusammengetragenen Material beruhende Dar-
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stellung der politischen und kulturellen Beziehungen zwischen dem tschechi-
schen und ukrainischen Volke im Laufe der 10 letzten Jahrhunderte. Der
überblick wird mit der Darlegung der ersten historisch belegten Beziehun-
gen des Kiever Staates zu den Tschechen eingeleitet. Weiter verfolgt der
Verfasser die ununterbrochene Kette der Wechselwirkungen in allen
historischen Etappen und hebt besonders die kulturellen und literarischen
Beziehungen der Zeit der nationalen Wiedergeburt der Slaven hervor.
Berlin. M. Hnaty3ak.
Prof. Dr. Oleksander Kolessa: Pohľad na istoriju ukra-
jinSkoji movy. (Überblick der Geschichte der ukrainischen
Sprache.) — Prag 1924. 8°, S. 43.
In der Form einer akademischen Festrede gibt hier der Autor einen
kurzgefaßien, trokdem aber vollständigen Überblick der geschichtlichen
Entwicklung der ukrainischen Sprache, wobei er auch die Ergebnisse der
neuesten Forschungen auf diesem Gebiete berücksichtigt. Nach einer
knappen Darlegung der wichtigsten historisch-philologischen Vorkenntnisse,
die hauptsächlich die Siedlungsfrage der altukrainischen Stämme behandelt
und sich mit den diesbezüglichen Theorien von Pogodin und Sobolevskij
und mit deren Widerlegung durch die moderne Wissenschaft befaßt, geht
der Verfasser zur eigentlichen Geschichte der Sprache über, verweilt län-
gere Zeit bei der Aufzählung der wichtigsten altukrainischen Schrifidenk-
mäler und bei der Behandlung ihrer phonologischen und morphologischen
Eigentümlichkeiten und korrigiert auf Grund der kritischen Betrachtung des
Materials und mit Hilfe der Schmidtschen Wellentheorie die veralteten,
unrichtigen Ansichten über das Verhältnis der ostslavischen Sprachen zu-
einander. Dann wird das allmähliche Eindringen der weiteren Elemente
der Volkssprache in die alte Schriftsprache bis zum Ende des 18. Jahrh.
verfolgt. Diesem Abschnitt ist ein lehrreicher Exkurs über die Geschichte
der altukrainischen Schriftsprache in südwestlichen Gebieten des ukrai-
nischen Territoriums beigefügt. Viel Aufmerksamkeit schenkt der Verfasser
auch den gegenseitigen Wechselwirkungen zwischen dem Ukrainischen
einerseits und den Sprachen der slavischen und nichtslavischen Nachbar-
völker anderseits. Den Übergang zur Behandlung der modernen, im
Gegensatze zur alten Schriftsprache auf der ganz volkstümlichen Basis be-
ruhenden Literatursprache, bildet die geschichtliche übersicht der Entwick-
lung einzelner ukrainischer Mundartengruppen und Darlegung ihrer wich-
tigsten Eigentümlichkeiten. Der Arbeit wurde ein wertvolles Verzeichnis
der wichligsten wissenschaftlichen Literatur des Gegenstandes beigefügt.
Berlin. M. Hnnaty3ak.
„Rok 1863 na MihszczyZnie.“ — Verlag des Instituts für weißrussische
Kultur. S. 216. Minsk 1927.
Die Verfasser dieser Publikation betrachten sie selbst als Versuch: sie
stellen sich die doppelte Aufgabe — festzustellen, was die Archivmaterialien
der Privatkanzlei Seiner Majestät für die Erforschung der Ereignisse von
1863 in Weißrußland bieten können, und ferner der akademischen Jugend
„ein anschauliches Hilfsmittel für das Studium der Quellen zur Geschichie
der bedeutsamen Ereignisse von 1863 im Gouvernement Minsk“ zu bieten.
Aus didaktischen Gründen sind die bisher z. T. unbekannten Archivmateria-
lien mit einem Anhang versehen, der „die Beleuchtung der Ereignisse” bieten
soll zwecks größerer Anschaulichkeit. Aus der gewaltigen Masse der Archiv-
materialien über die Ereignisse des Jahres 1863 in Weißrußland wählten die
Verfasser zur Publikation zunächst die über die Ereignisse im Gouvernement
. Hier wurde das erste Zeichen für den Aufstand durch das bekannte
Protokoll des Adelskongresses im November 1862 in Minsk gegeben. Hier
wurde der Aufstand auch tödlich getroffen und die Prinzipien ausgearbeitet,
95
die eine Wiederhol des Aufstandes unmöglich machen sollten. Diese
Prinzipien werden sehr präzis in den Briefen des General-Gouverneurs
Murav’ev an den Chef der Gendarmen Fürst Dolgorukov formuliert. Die
Sammlung ist bei weitem nicht vollständig, sondern, wie es bei einer für
den akademischen Unterricht bestimmten Publikation wohl auch nicht anders
zu erwarten war, enthält sie nur die für die Politik der zaristischen Regie-
rung besonders charakteristischen Dokumente. Sie enthält in der Anlage
die Denkschrift des al ober ou Joseph SémaSko an den Caren Alexander Il.
(vom 26. Februar 1859) r die gegenwärtige Lage Polens“; zwei Geheim-
briefe von Murav’ev an den Chef der Gendarmen Furst Dolgorukov. Ferner
enthält die Sammlung die untertänige Adresse der polnischen Gutsbesiger
des Gouvernements Minsk an den Zaren mit der Bitte um Verzeihung und
Vergebung. Die Denkschrift von S&ma3ko ist bereits wiederholt veröffent-
licht worden. Hier ist aber zum ersien Male die Wiedergabe nach einem
offiziellen Original mit den Randbemerkungen des Kaisers erfolgt. Von
den Geheimbriefen Murav’evs ist der zweite 1913 in der Zeitschrift „Golos
Minuvsago“ veröffentlicht worden, der erste Brief war bisher nur in Aus-
zügen bekannt. Die Briefe von Murav’ev geben eine „Philosophie“ seiner
Politik im Nordwestgebiet. Aus seinen Briefen erhellt sein Kampf mit der
Zentralregierung, die anscheinend für eine mildere Behandlung der polni-
schen Gutsbesifer war. Die bauernfreundliche Politik Murav’evs erregte
deutliche Beunruhigung bei den russischen Klassengenossen der polnischen
Gutsherren. Man muß dabei berücksichtigen, daß sich die bauernfreundliche
Politik Murav’evs kurz nach Aufhebung der Leibeigenschaft in Rußland ent-
faltete, die auf dem Hintergrund dumpfer Bauernunruhen erfolgte. Murav’ev
bemüht sich, den Nachweis zu führen, daß „der Staat sich im Nordwest-
gebiet nur auf die Bauernschaft“ stützen könne. Aus den Dokumenten der
Sammlung ist zu ersehen, daß die Initiative zu der untertanigen Adresse
von dem Adelsmarschall ausging, die Unterschriften wurden von der Polizei
laut Befehl des Gouverneurs gesammelt. Es wurden 6200 Unterschriften
adliger Polen gesammelt — ein Beweis dafür, daß die aktive Teilnahme
der polnischen Adligen am Aufstand im Gouvernement Minsk kaum sehr
bedeutend gewesen ist. Das Vorwort zu der Sammlung stammt aus der
Feder eines aktiven Publizisten, nicht eines objektiven Historikers.
Wilna. Vladimir Samojlo.
Sozyjalisiyöny ruch na Belarusi u prokijamacyjach 1905 g. (Die
sozialistische Bewegung in Weißrußland in der Flugblattliteratur
des Jahres 1905.) Instytut Belarusk. kultury. Minsk 1927. 256 S.
Die Sammlung enthält 114 Flugblatter verschiedener sozialistischer
Gruppen, die 1%5 auf dem Territorium Weißrußlands en Von all
diesen Aufrufen sind nur 10 in weißrussischer Sprache, 3 in jiddischer
Sprache, die übrigen Aufrufe sind in großrussischer Sprache abgefaßt. Die
Redaktion gibt selbst zu, daß die Sammlung große Lücken aufweist: es
fehlen gänzlich Aufrufe in litauischer Sprache, die Zahl der weißrussischen
Flugblatter ist überraschend gering. Dagegen sind im vorliegenden Buch
andere Materialien vorhanden, die keine Flugblatter sind, aber wichtige
Anhaltspunkte für die Geschichte der sozialistischen Parteien in Weißruß-
land bieten. Die meisten Aufrufe sind nach authentischen Flugblättern jener
Zeit reproduziert worden, z. T. nach Materialien der Polizeiarchive. Die
Gliederung der Flugblatter erfolgte nach der Parteirichtung und regionalen
Gesichtspunkten. Vor jedem Flugblatt ist eine Vorbemerkung vorhanden
mit Angaben über die näheren Umstände seines Erscheinens. jede Abtei-
lung der Sammlung enthält eine kritische Würdigung des vorhandenen Ma-
terials. Die Sammlung enthält ferner ein Namens- und Ortsregister. Die
Verfasser der Sammlung sind das wirkliche Mitglied des Instituts fur wei-
russische Kultur M. Mijaléska, I. Witkouski und S. Zilunoviè. Die Sammlung
stellt den ersten Versuch der zusammenfassenden Publikation sozialistischer
Agitationsliteratur aus dem Jahre 1905 in Weißrußland dar. Die schwung-
96
or. Ge Er Ve. A a A ae
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a- re ey E O GE S Be, Be wen ee ee oe, oe aS al
hafte Vorrede des Dichters Zilunoviè nötigt den Historiker bei der Benußung
dieses Materials zu besonderer Vorsicht, da das Bild, das der Verfasser
von dem Entwicklungsgang der Revolution von 1905 in Weißrußland ent-
wirft, eine Mischung von Wahrheit und Dichtung darstellt, eine Schilderung,
die dem Dichter Zilunovié mehr Ehre macht als dem Historiker Zilunovi&.
Hinter so manche seiner Behauptungen dürfte man ein Fragezeichen stellen.
Mit Recht stellt der Verfasser fest, daß zu Beginn des Jahres 1905 in Ost-
weißrußland die Russische Sozialdemokratie und die Jüdische Sozialdemo-
kratie (Bund) starken Anhang in den Massen hatten, während in Westweiß-
rußland die Polnische sozialistische Partei und die sozialdemokratische
Partei Litauens und Weißrußlands dominierten. Beachtenswert sind die
Ausführungen über das gemeinsame Vorgehen weißrussischer und jüdischer
Arbeiter unter dem Einfluß der Sozialdemokratie. Dagegen dürften die Aus-
führungen über die sozialdemokratischen Einflüsse in der weißrussischen
Bauernschaft i. J. 1905 retrospektiv konstruiert sein, da Verf. an anderer Stelle
selbst zugibt, daß in der Bauernschaft mit Erfolg hauptsächlich die Partei
der Sozial-Revolutionäre und die weißrussische sozialistische Hromada
arbeiteten. Fälschlich behauptet der Verf. daß die weißrussische sozia-
listische Hromada 1902 gegründet wurde. Einer der Mitbegründer dieser
Partei, A. Luckevité, hat vor kurzem in einer Broschüre, die dem jubiläum
des 25jahrigen Bestehens dieser Partei gewidmet war, das Gründungsjahr
als 1905 festgestellt. Der als Mitbegründer der sozialistischen Partei Weiß-
rußlands genannte M. Falkowski dürfte wohl Falski sein.
Die Sammlung bietet einen wichtigen Beitrag für die Erforschung der
Geschichte der revolutionären Bewegung in Weißrußland.
Wilna. Vladimir Samojlo.
S. NekraSevié: Sovremennoe sosiojanie izucenja belorusskago
jazyka. (Der gegenwärtige Stand des Studiums der weißrussi-
schen Sprache.) — Arbeiten d. Akad. Konferenz zur Reform der
weißrussischen Orthographie und des Alphabets. — Minsk. Ver-
lag des Instituts für weißrussische Kultur. 1928.
S. NekraSevié — der Vorsitzende der Abteilung für Sprache und Lite-
ratur des Instituts für weißrussische Kultur in Minsk — gibt eine eingehende
übersicht der Bibliographie aller philologischen Abhandlungen über
Probleme der weißrussischen Sprache, die in den letzten 5—6 Jahren er-
schienen sind. Seine Darstellung umfaßt die entsprechende Literatur sowohl
in weißrussischer Sprache, wie auch die fremdsprachliche Literatur.
»Die gewaltige Tatsache der Wiedergeburt der weißrussischen Staat-
lichkeit hat die unerschütterlichen Grundlagen für die normale Entwicklung
der weißrussischen Sprache gelegt. Die weißrussische Sprache hat sich aus
einer Gesamtheit lokaler Dialekte zu einer wissenschaftlich erforschten
literarischen Sprache entwickelt, die berechtigt ist, auf der Grundlage der
Gleichberechtigung ihren Platz unter den anderen slavischen Sprachen ein-
zunehmen.“ Man kann nicht umhin, in dieser Äußerung von NekraSevié ge-
wisse Übertreibungen festzustellen. In 5—10 Jahren hat noch kein Volk der
Welt eine „wissenschaftlich erforschie literarische Sprache“ geschaffen.
Auch das weißrussische Volk nicht. Die Schaffung der literarischen weiß-
russischen Sprache beginnt in Wirklichkeit nicht etwa mit der Schaffung der
Eigenstaatlichkeit, sondern vollzieht sich mühsam und langsam unter dem
Einfluß der russischen, polnischen und ukrainischen Literatur. Jeder Ver-
such, diese Entwicklung zu beschleunigen, müßte natürlich dazu führen, daß
die fremdsprachlichen Elemente statt die in Entstehung begriffene weiß-
russische literarische Sprache lediglich zu beeinflussen, sich wie reißende
Ströme in ihr Bassin ergießen würden. Dieser Gefahr hat nun allerdings
die weißrussische Eigenstaatlichkeit vorgebeugt, dem Zufluß fremdsprach-
licher Bestandteile organische nationale Filter enigegensekend, die das
7x 5 97
neue sprachliche Material im schöpferischen Herd des weißrussischen ,,Ge-
müls“ verarbeiten.
Das bisherige Studium der weißrussischen Sprache beschränkte sich
laut den Ausführungen des Verfassers auf die Volkssprache und die alte
Sprache der mittelalterlichen weißrussischen Literatur. Die Sprache. der
modernen weißrussischen Literatur wurde von den Forschern bisher nicht
berücksichtigt. Die Eigenstaatlichkeit Weißrußlands machte die Schaffung
einer literarischen weißrussischen Sprache zur unbedingten Notwendigkeit.
Das Ideal wäre nach Ansicht des Verfassers die Einheit von Volkssprache
und literarischer Sprachc. Dem steht jedoch zunächst das niedrige kulturelle
Niveau der weißrussischen Volksmasse entgegen. Hinzu kommt die Wir-
kung der politischen Teilung Weißrußlands. Diese wirkt sich in ortho-
graphischen und lexikalischen Verschiedenheiten aus. Es wäre indessen
granua; eine orthographische und lexikalische Einheit einfach zu dekre-
eren, wozu im Lande des allmächligen Dekreis leider eine große Ver-
suchung besteht. Die „Konferenz der gegenseitigen Konzessionen”, auf die
der Verfasser hofft, muß unter den obwaltenden Umständen, die eine Füh-
lungnahme der Sprachforscher Polnisch-Weißrußlands und Sowjetweißruß-
lands so gut wie unmöglich machen, als wenig wahrscheinlich bezeichnet
werden. Dies beweist am besten die Tatsache, daß dir Vertreter der Wil-
naer weißrussischen Wissenschafilichen Gesellschaft vernindert wurden, an
der ersten derartigen Konferenz in Minsk teilzunehmen.
Der zweite Teil der Arbeit des Verfassers enthält eine Übersicht der
Arbeiten der Abteilung für Sprache und Literatur am Institut für weiß-
russische Kultur in Minsk. Diese Abteilung hat 5 Unterabteilungen: eine
terminologische, eine lexikalische, eine orthographische, eine folkloristisch-
dialekiologische und eine literarische.
Besondere Schwierigkeiten machte die Schaffung einer wissenschaft-
lichen Terminologie, da fast sämtliche Vorarbeiten fehlten. Die terminolo-
gische Unterabteilung schuf 9 Wörterbücher wissenschaftlicher Terminologie
für das höhere Schulwesen. Diese Wörterbücher enthalten 11641 Aus-
drücke. Es liegen bereits 9 weitere druckfertige Wörterbücher mit 25 000
Ausdrücken vor. Es besteht die noch weit schwierigere Aufgabe, die Ter-
minologie für die Hochschulen zu schaffen. Der Verfasser gibt selbst zu,
daß manche neue Ausdrücke gekünstelt sind und hofft, daß die Praxis da
Korrekturen vornehmen werde. Eine nicht minder wichtige Arbeit ist die
Schaffung des Worterbuches der lebenden Volkssprache. Es liegen die
Manuskripte von einem russisch-weißrussischen und einem weißrussisch-
russischen Wörterbuch vor. Beide sind von NekraSevié und Bajkow verfaßt
und enthalten 60 000 resp. 30 000 Wörter. Als Unterlage für diese Arbeiten
dienen die bereits vorhandenen Wörterbücher von Nosovič, Dobrovol’ski,
Spilevski und Medvédski, sowie eine spezielle Enquete auf dem Gesamt-
gebiet Weißrußlands. An folkloristisch-dialektologischem Material liegen
960 Druckbogen vor. Es handelt sich dabei um gänzlich neues, bisher un-
bekanntes Material.
Hinzu kommen die Sammlungen, die in den wissenschaftlichen Anstalten
Leningrads und Warschaus untergebracht sind und zum Teil nur im Manu-
skript vorliegen. Die literarische Unterabfeilung beschäftigt sich vorwie-
gend mit der modernen Literatur. Verfasser schließt seine Ausführungen
mit dem Hinweis, daß das Institut für weißrussische Kultur sich keinerlei
allgemein-philologische Aufgaben stellt, sondern lediglich der Erforschung
und der Bearbeitung der weißrussischen Sprache dient.
Wilna. Vladimir Samojlo.
Josef Pekaf, „ZiZka a jeho doba“. l. Teil: „Die Epoche unter be-
sonderer Berücksichtigung Tabors“, SS. XVI u. 283. Il. Teil: „Jan
2ikka“, SS. XIII u. 281. Prag, Verlag: Vesmír, 1927 — 1928.
Gleich in der Einleitung seines Werkes vermerkt der Autor, daß sich
seine Arbeit in der Auffassung der böhmischen konfessionellen Revolution,
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wo
vor allem in der Auffassung des Taboritentums teilweise von dem von
Palacký entworfenen Bild unterscheidet. Die Ausführungen Palackys
ieren 50 Jahre zurück, hingegen stammen ihre Konzeptionen aus der
Zeit der wissenschaftlichen Anfänge Palackys (also vor 100 Jahren), so daß
es nur natürlich erscheint, wenn sie im Zeichen seiner geistigen Geburts-
stätte stehen. Es handelt sich hier also um eine Zeit, in welcher der
Romantismus, Nationalismus und Liberalismus sich zusammenschlossen, um
das Bild der fernen Vergangenheit, die gewissermaßen auch als Muster
und Programm für die Zukunft dienen sollte, zu idealisieren und den eigenen
Vorstellungen und Zielen näher zu bringen. Je mehr sich aber die breite
Öffentlichkeit diese Auffassung zu eigen machte, um so mehr war die
Wissenschaft, die sich schon im Werke W.Tomeks mit ihr zu identifizieren
weigerte, von Zweifeln über ihren Wert erfüllt, obwohl eine kritische Re-
vision derselben auf ausreichend breiter Basis in Wirklichkeit nicht erfolgte.
Dagegen haben die Studien und Editionen der letzten 50 Jahre, darunter
namentlich die Arbeiten J. Golls und Sedläks in beträchtlichem Maße
zu einem tieferen Verständnis für den Entwicklungszusammenhang dicser
böhmischen Bewegung beigetragen. Um aber die Lösung dieser so wich-
tigen Frage in ihrer ganzen Größe zu erkennen, besprichi Autor die ein-
zelnen Seiten dieser Frage in eingehendster Weise, indem cr zunächst ein
umfangreiches Material von Zeugenaussagen, und zwar in authentischem
Zusammenhang vorlegt, wobei er bei der Einvernahme dieser Zeugen den
Vertretern aller Parteien und Richtungen das Wort erteilt. Dabei wird dem
Charakter der Quellen und der Individualität ihrer Autoren streng Rechnun
geiragen und überhaupt — wie er selbst zugibt — mehr darauf Bedach
genommen, die Leute und Ereignisse zu verstehen, als sie zu beurteilen.
Im ersten Teil berührt der Autor die dem Tode Hussens nach-
folgende Zeitepoche und die ideelle Fortsebung des Werkes Hussens, das
im Wirkungskreis namentlich Jakoubeks, Nikolaus von Dresden und Peter Chel-
čickýs gewissermaßen einen geistigen Übergang zum Taboritentum darstellt.
Die große Bedeutung in der Entwicklung der böhmischen Revolution
nach dem Tode Hussens erblickt Autor vor allem in der Tätigkeit zweier
Männer, Jakoubeks aus Stfibro, eines Universitätskollegen Hussens und
Nikolaus’ von Dresden, eines deutschen puritanischen Gelehrten,
der wegen seiner Ketzerlehre aus Dresden vertrieben wurde. Autor nennt
Jakoubek einen radikalen Verfechter des Gesetzes Gottes, der die Rückkehr
zur ursprünglichen Kirche predigt. Bereits im Jahre 1410 halt er an der
Universität einen Vortrag, worin er der Kirche des Antichrist, der falschen
Kirche die wahre Kirche, die Gemeinschaft der Heiligen entgegenstellt und
den Christen die Verieidigung der evangelischen Freiheit bis zum Tode auf-
erlegt und im Jahre 1412 in einer Rede den Papst als größten Antichrist
bezeichnet. Besonders starken Einfluß nahm auf die Taboriten die Lehre
Nikolaus’ von Dresden, der sich aber auch auf Jakoubek ausdehnte, den er
gut kannte. Nikolaus, der ein guier und versierter Kenner der Schrift,
namentlich aber der Kirchengesebe und damit der Kirchengeschichte war,
interessierte sich am meisten fur die Frage, wie die ursprüngliche Kirche zur
Zeit der Apostel in der Lehre, Verfassung und im Ritus aussah und wann
und wie die Irrlehren zunahmen, die ausgemerzt werden sollten. Und darin
war er der Lehrmeister Jakoubeks, der aus seinem Material schöpfte.
Nikolaus zeigte z. B., wie einfach die Zeremonien der hl. Messe waren.
Der Autor verweist darauf, wie Jakoubek unter Benükung seiner Daten dar-
legte, wie im Noffall die Messe vereinfacht werden könnte und weiter,
daß die Taboriten sich mit Berufung auf die Messe Jakoubeks für ihren
Ritus in Wirklichkeit nach Nikolaus richten. Dieser nahm entschieden gegen
die Bilder und ihre Verehrung Stellung und diese seine Anschauung wurde
von den Taboriten übernommen. Nikolaus bekannie sich zur Waldenser
Lehre, daß es kein Fegefeuer gibt. Die Taboriten machten sich diese Lehre
Nikolaus’ zu eigen, wenn auch Jakoubek (im November 1415) das Fegefeuer
gegen Nikolaus verteidigt. Der Autor bemerkt, daß es sehr schwer falle,
die Frage zu lösen, wer der Urheber des Kelches war, sei es nun
99
B oder Nikolaus von Dresden und seine ganze sog.
esdener Schule am Graben. Soviel ist jedoch nur bekannt, 2 diese
von Jakoubek und Nikolaus eifrig gepredigte Lehre vom Kelch sich rasch
verbreitete und damif auch der Kampf um den Kelch, womit erst die
bohmische Hussitengemeinde das sichtbare Zeichen ihres Unterschiedes von
der offiziellen Kirche erhielt, welche Bewegung bereits im Frühjahr 1415 im
vollen Gange ist.
Bei der Schilderung der tragischen Stellung Jakoubeks, wo die Re-
volutionsgewalt, die mit einem Angriffe Zelivskys und Zizkas auf das Neu-
stadter Rathaus im Jahre 1419 begann, die Ankündigung des offenen Kampfes
sowohl an ihn, wie auch an seine Orundsage, ja geradezu einen A
gegen die Geseke Gottes bedeutete, wie er es auffaßte und wie es zahl-
reiche gemäßigte Tschechen-Hussiten auffaßten. Weiter schildert Autor,
wie sich diese Situation durch die Veranstallung eines Kreuzzuges gegen
die böhmischen Keber vollkommen ändert.
Damals (im Mai 1420) kam es zu verschiedenen Übereinkommen mit den
Taboriten, an denen auch die Prager Meister und Taboritenpriester Anteil
hatten, und in denen das Schwertrecht den Gemeinden allem nach zu schlie-
Ben ausdrücklich zuerkannt wurde. Im Zusammenhang damit wurde [seitens
der Prager Gemeinde) verzeichnet, daß, im Falle es im Verlaufe des
Kampfes zu Irrungen oder Ärgernis erregenden Taten kommen, oder Per-
sonen oder die eine oder die andere Kirche zu Schaden kommen sollte,
dies mit der unerläßlichen Notwendigkeit und Oründen der Verteidigung zu
motivieren ist. („Unsere Absicht ist es, alle Sünden zu filgen.“) Doch nicht
lange dauerte dieser Zusammenschluß der gemäßigten hussitischen Elemente
und wahrhaften Verkünder der Lehre Christi mit den Taboriten, die es in
der Praxis häufig für erlaubt hielten, „unter dem Zwange der Verhältnisse“
auch den Besitz des Feindes zu überfallen und zum eigenen Gebrauch zu
okkupieren. Es dauerte nicht lange, so trat Jakoubek selbst entschieden
gegen die Taboriten und ihr Schwertrecht auf. Am energischsten trat jedoch
Peter Chelticky gegen die Taboriten auf, ein aufrichtiger Feind falschen
Christentums, dessen Auswüchse und Schandtaten er voll Anschaulichkeit
und mit rücksichtslosem, ja geradezu grimmigem Sarkasmus zu schil
versteht. Anfangs steht Chelcicky den Taboriten ziemlich nahe, die Ab-
schwenkung Chel£ickys von ihnen datiert jedoch sozusagen von dem Augen-
blicke an, da das Taboritentum nach dem Verrat der Parole „Keine Ge-
watt“! ins Leben trat.
Das Verhältnis Chelèickys zu den Taboriten und zu Žižka selbst erklärt
hier Autor aus der Lehre Cheltickys. Das Leben der Christen soll
— nach der Lehre Cheltickys — der penge Kampf, der Kampf gegen den
Teufel, der Kampf gegen seine Nachstellungen sein, mit denen er auf jeden
Schritt das sittliche Gleichgewicht des Christen und seines Seelenheiles be-
droht. überhaupt ist Chelcicky unermüdlich in der Schilderung all jener
Listigkeiten, mit denen der Teufel den Schwächling zur Sünde verführt;
deshalb empfiehlt er dem Christen nach dem Beispiel der Heiligen Schrift,
zum Schutze gegen den Teufel den Panzer der Gerechtigkeit, nicht der
menschlichen, sondern der göttlichen, umzutun, da die menschliche Gerech-
tigkeit allein dem Teufel nicht widerstehen könnte. Der Teufel ist sicherlich
so klug, in ihr rasch eine jede Schwäche zu entdecken, herauszufinden, wo
der Fehler, oder eine schwache Stelle, oder eine Offnung im Panzer sich
befindet, „da ZiZka, dieser kluge Kämpfer, auf diesen Panzer nicht schie-
Ben soll, sondern der Satan, der erprobtere Kämpe, da er weiter sicht, als
der einäugige Žižka.“ Es hat den Anschein, als ob Zizka hier mit dem
Teufel verglichen würde, und dies deshalb, weil Cheldicky sagen will: Der
Satan ist noch klüger und gefährlicher als Žižka, als der durch seine mili-
tärische Tüchtigkeit bekannte ZiZka. Dieser Vergleich Zikkas mit dem Satan
überrascht Chel¢icky nicht. Die Gewalt bedeutet für Chelticky ein Werk
des Satans und des Trägers und Repräsentanten der Gewalt, sie stehen
also in den Diensten und sind Werkzeuge des Teufels. Ja ganz Tabor be-
deutet für ihn eine Versuchung des Teufels.
100
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Weiter berührt der Autor noch einige andere in diesem Buch enthaltene
geringere Faktoren, die nach dem Tode Hussens in seiner Richtung weiter
wirkten und den Taboriten und Žižka den Weg bahnten.
Der zweite Band, der sich ausschließlich mit dem Problem der histori-
schen Erscheinung Zizkas befaßt, enthält durchweg kritische Dokumentie-
rung, die sich aus den endgültigen Urteilen und Resultaten ergibt.
Einen Oroßleil desselben füllt das mit ,2izka in der Darstellung der
Gedenkbiicher” betitelte Kapitel Ill aus und enthält im wesentlichen die Aus-
sagen der Zeugen eines ganzen Jahrhunderts, angefangen von Zizkas Zeil-
genossen bis zu den Enkelin und Urenkeln aus den Anfängen des 16. Jahr-
hunderts. Besondere Aufmerksamkeit ist in der kurzen Übersicht auch dem
Charakter der Tradition Zizkas im nächstfolgenden Jahrhundert gewidmet,
das durch die Schlacht am Weißen Berg seinen Abschluß findet. Die Zeugen
werden dem Leser der Reihe nach mit der erforderlichen Belehrung über
den Charakter, Wert und die Bedeutung ihrer Aussagen vorgeführt, so dab
sich daraus gleichzeitig auch eine kritische Übersicht über die gesamte böh-
mische analistische und historische Arbeit des XV. Jahrhunderts ergibt. Im
folgenden, mit „Žižka über sich selbst“ betitellen Kapitel versucht Autor
durch eine Analyse der Blätter und öffentlichen Kundgebungen Zizkas zu
der Erkenntnis zu gelangen, wie Zikka über seine Sendung selbst dachte.
Beide Unterschiede ergänzen einander gegenseitig und bilden den wesent-
lichen Teil des Prozesses Zizkas.
Auf Grund eines Vergleiches der Daten über das Leben des Zeit-
genossen Zizkas, Johann von Mysletin, gelangt Autor zu der Annahme, daß
Jan 2iäka von Trocnov im jahre 1378 ungefähr 28—30 Jahre alt gewesen sein
muß. Dabei glaubt er, daß Žižka seiner Abstammung nach cher ein im
Krumlauer Gebiet aufgewachsener Edelmann war, als ein am Königshofe auf-
gewachsener Adeliger, wie hiervon bei Aeneas Silvius dic Rede ist. Da-
bei setzt Autor voraus, daß er seine dienstliche Karriere vielleicht bei den ihm
zunächst stehenden Herren, d. i. bei denen von Rosenberg, begann. Augen-
scheinlich stand ZiZka überhaupt nicht in den Diensten des Königs, und
wenn schon, dann vielleicht in den Jagddiensten des Königs Wenzel. Autor
verweist darauf, daß Žižka schon in den Jahren 1406—1408 bei den Straßen-
räubern in militärischen, in Söldnerdiensten sieht. Beim Berühren der Da-
ten über Zizka stellt Autor die Frage, ob der in der Bande Matéjs wieder-
holt genannte Zikka überhaupt mit Jan ZiZka’von Trocnov identisch ist! Da
bis zur Ausgabe des Henkerbuches durch den Archivar Mares gegen 1878
über dieses Kapitel des Lebens Zizkas die Daten des Iglauer Buches nur
wenig überzeugend waren, wurden diese von Franz Palacky mit
Schweigen übergangen. Der Autor beweist uns in überzeugender Weise,
daß 2i2ka durch eine Zeit hindurch Räuberbanden angehörte und er zeigt
uns überhaupt, daß zwischen der Hisiorie der erklärten Wegelagerer aus
der Zeit König Wenzels und dem bewaffneten Aufstand der Taboriten nach
dessen Tode ein gewisser Zusammenhang besteht, oder mit anderen Wor-
ten, daß die frühere Historie verschiedentlich zum Verstehen der zweiten
Historie beiträgt. Autor führt uns vor Augen, daß überhaupt ein gewisser
Teil der böhmischen Gesellschaft, u. z. sowohl der Hochadel, wie auch die
kleineren Adeligen, die ihr Auskommen in militärischen Diensten und den
damit verbundenen Raubzügen suchten, schon lange zur Zeit des Königs
Wenzel in dem Gedanken an die Notwendigkeit der Gewalt und der Freude
daran lebte, indem sie den Kampf, ob nun aus rilterlichem Übermut, oder in
der Lust nach Beute, oder aus Langeweile, oder aus Gründen der Erhaltung
en. Wenn man dann im nationalen Leben mit der großen Parole kam,
durch die das Zücken des Schwertes legitimiert oder gar geheiligt wurde,
so darf ès nicht wundernehmen, da§ sich gleich Hunderte Kämpfer bereit
erklärten, von denen die einen mit heiliger Begeisterung als Ritter des Ge-
dankens in den Kampf zogen, die anderen aber mit nicht geringerem Eifer
nach Beute und Raub Ausschau hielten. Die Angst vor der Strafgewalt des
Königs und der Autorität des Herrenvolkes vor dem Landgericht bildete,
101
solange ein König da war, einen gewissen Schranken gegen ein Überhand-
nehmen der Kampflust und dem eigenen Willen der Edelleute oder der
Nation, von dem Augenblick jedoch, wo diese große mittelalterliche Auto-
ritat fiel, wie wir dies in Böhmen schon zu Beginn der Hussitenkriege sehen,
konnte man nicht mehr verhindern, daß das Land zum Schauplatz zahlreicher
Kämpfe wurde, wo namentlich im Namen der höchsten sifilichen Autorität,
im Namen Gottes zum Kampfe aufgerufen wurde. Der von den bewaff-
neten Banden gegen die Feinde des Wortes Gottes angesagte Kampf
ähnelte aber in der Methode in einer Hinsicht zur allgemeinen Verwunde-
rung den aus persönlichem Haß der Adeligen durch Räuberbanden geführ-
ten Kleinkriegen. Der Autor veranschaulicht dies durch die Aufzeichnung
aus dem Rosenberger Henkerbuch, dessen 2. Teil die Aussagen der Ge-
achteten aus der Zeit der Hussitenkriege enthält, u. z. v. J. 1420—1429. Auf
Grund der Aufzeichnungen dieses Buches verweist Autor auf die Ähnlichkeit
der Situation in den Jahren 1420—1429, u. z. zur Zeit der Hussitenkriege und
der Tätigkeit ZiZkas mit der in den Jahren 1399—1409, zur Zeit der durch
die Räuberbanden geführten Kleinkriege. Dabei erklärt uns jedoch der
Autor, daß das Bild, das in den Aufzeichnungen des Henkerbuches über
Tabor und die Taboriten und damit über ZiZka entworfen wird, allerdings
einseitig ist: Wir sehen darin Tabor mit den Augen des Untersuchungs-
richters, der jeden, der sich in Tabor aufhiell, oder an den Zügen der Ta-
boriten teilnahm, für einen Verbrecher oder Rebellen hielt. Tabor und
Zizka bedeuten für ihn sicherlich unzweifelhaft Feinde, die gegen die Rechte
und gegen den Landesfrieden verstoßen. Wichtig dabei ist, daß all dies
Anklagematerial noch aus der Zeit Zizkas stammt, daß es durch seine Leben-
digkeit und Unmittelbarkeit wirkt und im wesentlichen keinen Zweifel über
seine zeitliche Verläßlichkeit aufkommen laßt. Dabei finden wir in dem-
selben keine Klage, keine haßerfüllten Worte, die die Urteile über Zızka
verfluchen, man sieht, daß im Lande ein wirklicher Krieg tobt und Zizka bl
die Rolle eines Führers der Gegenpartei spielt. Seine Taten, Absichten un
Methoden werden festgehalten und registriert, und dies allem Anschein
nach mit großer Aufmerksamkeit, jedoch in völliger Ruhe. Angriffe gibt es
hier eigentlich keine. Was die Taboriten und ihre Methoden in anderen
zeitgenössischen Quellen über Žižka, aber auch in späteren Quellen betrifft,
verweist Autor an oberwähnter Stelle dieser Schrift (im 3. Abschnitt) auf
die große Zahl solcher von allen Seiten stammenden Klagen. Das Henker-
buch überliefert uns bloß eine bestimmte Anzahl konkreter Daten, die für
die Kritik dieser Klagen einen wertvollen Behelf darstellen.
Am Schluß des 2. Bandes gibt Autor dem Gedanken Ausdruck, daß das
Bild des Kelches nicht im Vordergrund des Gedankens ZiZkas stand, son-
dern die Bestrafung der Sünder mit dem Schwert und die Störung ihres
Vorhabens. Der Kelch bildete den vollen Ausdruck des Programms der
hussitischen Tschechen mit der Universität an der Spike. Schließlich kon-
zentrierte sich der Kampf der Tschechen um den Kelch, die sich gegen den
Katholizismus erhoben hatten, und klang auch in denselben aus. Am Wappen
Zizkas jedoch, oder am Banner der Taboriten bildete der Kelch nicht das
Symbol fur die Ideen Zizkas.
Die Arbeit Pekaés gibt eine neue Übersicht über die Ereignisse nach
dem Tode Hussens zur Zeit Zizkas. Sie basiert auf der Tiefe und meister-
haften Kritik der Quellen. Und sie zeigt uns die ganze Frage Zizkas an
zahlreichen Stellen in völlig neuer Beleuchtung. Besonders interessant ist
die Vorstellung über die Art und die Methoden der Kriegführung Zikkas
(als Vorbild für die Art der Kampfführung der Straßenräuber), die Cha-
rakteristik Zizkas auf Grundlage der Henkerbücher und andere. Das Buch
Pekais, das die alte traditionelle Vorstellung über die Tätigkeit Zizkas
in der böhmischen Geschichte aufgibt und sich damit auf rein objektive Vor-
aussefungen und Angaben stubt, stellt ein äußerst wichtiges Blatt in der
Geschichtsschreibung und Wissenschaft dar.
Preßburg. Eugen Perfeckij.
102
Dr. E. Rippl: Der alllschechische Kapitelpsalter. Einleitung, Text
mit kritischen Anmerkungen, Worterbuch. — Prag, Taussig &
Taussig, 1928 (= Veroff. der Slawistischen Arbeitsgemeinschaft
an der Deutschen Universitat in Prag, Il. Reihe, Heft 1).
Die Psalterhs., die hier zum Abdruck gelangt, war bisher von der For-
schung wenig beachtet worden. Wie andere Slavisten wohl auch, habe ich
in meinen Vorlesungen gelegentlich auf das Mißverhältnis hingewiesen, daß
alle anderen vorhussitischen Psalterien, auch die dürftigsten Fragmente,
langst veröffentlicht seien, nicht aber der Kapitelpsalter, obwohl diese Hs.
sich (nach Smetänkas Angabe) an wohl zugänglicher Stelle, im Böhmischen
Museum, befand. Das Rätsel löst sich jetzt zum Teil: die Hs. hat bei man-
chen Gelehrten, auch bei J. Gebauer, als verschollen gegolten, weil ihr Uber-
gang aus der Kapitelbibliothek an das Böhmische Museum anscheinend
nicht allen bekannt geworden war. Smetankas Notiz ist dann für Rippl
Anlaß gewesen, sich mit dem Kapitelpsalter zu beschäftigen und der Wissen-
schaft endlich eine Ausgabe zu schenken. Er gibt auf S. 2 ff. der Einleitung
zunächst eine Beschreibung der Hs., dann ihrer Orthographie, endlich der
Sprache und Ubersebungstechnik. Merkwürdigerweise wird auch in dieser
Ausgabe (man kann das auch sonst gelegentlich beobachten) die Meinung
der Paläographen uber das Alter der Schrift gar nicht angerufen, die Alters-
bestimmung erfolgt vielmehr auf Grund der Orthographie (die mit der
Königgräber Sammelhs. verglichen wird) und auf Grund der Sprache; das
Ergebnis („ungefähr um 1370“) erweckt keine Bedenken. Sonst seien vor
allem die syntaktischen Beobachtungen IS. 12 fi.) als etwas Willkommenes
und leider noch gar nicht Selbstverstandliches hervorgehoben.
In der Reihe der vorhussit. Psaltertexte stellt die Hs., wie im allg. schon
bekannt war, eine Rezension für sich dar, neben den drei andern, die wir
mit rein zufälligen Namen (nach dem gegenwärtigen Aufenthaltsort der
Haupthss.) die Wittenberger, die Klementiner und die Passauer nennen.
Das überaus verwirrte Verhältnis dieser 4 Fassungen, insbesondere die
Stellung des Kapitelpsalters zu den anderen Fassungen befriedigend zu
deuten, gelingt auch Rippl nicht (S. 18 fl.). Der Rest der Einleitung ist daher
vorwiegend der vergleichenden Beschreibung des Wortschatzes gewidmet,
die Darstellung der Ubersebungstechnik ergänzt sich also hier noch der
lexikalischen Seite, doch stets mit dem Blick auf die anderen Rezensionen.
Von den Ausdrücken, die zuletzt als besonders charakteristische Eigenheiten
des Kapitelpsallers sich erweisen, mögen einige der persönlichen Vorliebe
des Ubersetzers oder des Abschreibers, also einer rein stilistisch bedingten
Wahl, ihr Vorkommen verdanken; bei der Wahl von ve3 für totus lim
Gegensatz zu celý der anderen Rezensionen) liegt aber doch wohl etwas
vor, was dem persönlichen Gufbefinden sich entzieht, vielleicht eine mund-
artliche Eigenheit.
Es folgt auf S. 35—129 der Psaltertext, abgedruckt mit einem Grad von
Genauigkeit, der für eine Hs. des ausgehenden 14. Jahrhunderts völlig aus-
reicht (leise Bedenken in betreff der Grundsäße erweckt allerdings eine Be-
merkung in den „Nachträgen“, doch wird die Zuverlässigkeit der geleisteten
Arbeit von einem, der sie nachprüfen konnte, durchaus anerkannt (C MF. 15,
S. 58). Hinzu tritt moderne Interpunktion, auf die man schließlich auch
verzichten könnte. Das umfangreiche Wörterbuch endlich strebt eine be-
grenzte Vollständigkeit an, eine Vollständigkeit der Worte und der Belege,
die für die Beurteilung des Sprachgebrauchs in Frage kommen. Die Anlage
des Wörterbuchs entspricht den Forderungen, die man stellen darf, und die
ich einem weniger gelungenen Versuch gegenüber vor Jahren einmal for-
muliert habe (Deutsche Literaturzeitung 1918, S. 974 f.). Der Fortschritt der
Editionstechnik wird an diesem Worterbuch besonders deutlich, wenn man
es mit den unvollständigen Wortverzeichnissen früherer Psalterausgaben
(Gebauer, Patera u. a.) vergleich.
Breslau, März 1929. P. Diels.
105
X. Dr. Tadeusz Glemma: Stany pruskie i biskup chelmifiski,
Piotr Kostka, wobec drugiego bezkrólewia (1574—1576). Die
preußischen Stände und der Kulmer Bischof Peter Kostka wäh-
rend des zweiten Interregnums.) — Polska Akademja Umiejet-
ności. Wydział Historyczno-Filozoficzny. Rozprawy. S. H.
Bd. XLII (67), Nr. J. Kraków 1928. S. 74.
Die Zeit der ersien Königswahlen in Polen fand Preußen königlichen
Anteils in Opposition gegen die Krone Polens, da es mit dem Unifikations-
dekrete v. J. 1569 nicht zufrieden gewesen war. Dieser Separatismus übt,
gestubt auf die Tendenzen der Danziger Partei und des deutschen Adels,
einen starken Einfluß auf die Stellung der Stände während der beiden
Interregnen. Die preußischen Stimmen fielen während der ersten Elektion
auf die Kandidatur des Erzherzogs Ernst, dann wurde Heinrich von Valois
anerkannt, und auch nach seiner Flucht aus Polen blieb Preußen dem er-
wählten König treu. Als aber Heinrich nicht zurückkehren konnte, traten die
Stände zur habsburgischen Partei zurück. Weitere Ereignisse aber zwangen
sie zur Anerkennung des Königs Stephan Bathory; nur Danzig suchte im
offenen Kampfe seine Pläne durchzuführen.
Der Autor hat viel Material durchsucht und, die betreffende Literatur gut
beherrschend, neue Quellen in verschiedenen Archiven gefunden. In erster
Linie kommi hier das Danziger Staatsarchiv in Betracht, dann das bischöf-
liche Archiv in Frauenburg und das Stadtarchiv in Thorn. Oroße Sammlun-
gen der ermländischen Bischöfe sind in der Czartoryski’schen Bibliothek in
Krakau vorhanden, nämlich des damaligen Koadjutors Martin Kromer. Es
wäre noch wünschenswert, im Wiener Staatsarchiv die Stellung und Pläne
des kaiserlichen Hofes Preußen gegenüber zu erforschen.
Auf Grund dieses Materials bemüht sich Pater Dr. Glemma, die inneren
Kämpfe zu beschreiben, welche durch die religiösen und nationalen Gegen-
söße entfacht wurden. Die Privilegien der Provinz bildeien die einzige
gemeinsame Sache, die gegen die Unifikahonsbestrebung der anderen Teile
Polens heftig verteidigt wurde. Doch kann man im Adel, und zwar dem des
Kulmer Landes, polnische Einflüsse bemerken, die sowohl auf sozialen wie
nationalen Grund sich stüßen. Bei diesen Ereignissen sehen wir in erster
Linie den Bischof von Kulm, Peter Kosika, nicht nur als offiziellen, sondern
auch als effektiven Führer der Stände, dessen vorsichtige Politik zur Aus-
gleichung der Gegensäße und zur Erhaltung der Union mit Polen gegen die
separatistischen Tendenzen der großen preußischen Städte führte.
Lemberg. K. Tyszkowski.
Waschinski, Emil: Das kirchliche Bildungswesen in Ermiand,
Westpreußen und Posen. 2 Bde. 558 u. 324 S. — Breslau 1928,
Verl. Ferdinand Hirt. (Schriften der Baltischen Kommission zu
Kiel. Bd. XIII, 1 u. 2.)
In der jetztzeil, die wie selten zuvor nach neuen Bildungszielen und
Schulmethoden sucht, muß jeder geschichtliche Beitrag zu diesen Problemen
freudig begrüßt werden. Denn das geschichtlich Gewordene ist nun einmal
die sicherste Grundlage für Umgestaltungen; nur ein Land wie Rußland, das
noch kein allgemein fest fundiertes Schulwesen hatte, konnte sich das Ex-
perimentieren mit noch nicht genügend erprobten Methoden leisten; und
ob diese dort sich bewähren werden, bleibt abzuwarten. Es muß nun aller-
dings von vornherein betont werden, dag das Werk Waschinskis für die
erwähnten Probleme nicht viel Neues bringt. Das liegt in der Natur der
Sache. Der allgemeine Kulturzustand in den behandelten Ländern war eben
noch so tief, daß wir von dem Bildungswesen jener Zeit nichts lernen können.
Dies muß erwähnt werden, um nicht irrige Erwartungen in Aussicht zu
stellen. Trotzdem handelt es sich nicht etwa nur um ein Werk von rein histo-
104
AI
rischem Interesse; im Gegenteil, es bietet bei der nüchternen, rein objektiven
Darstellung Materialien von großem Gegenwartswert. Mit Ausnahme von
Ermland N 2 1 u und Posen jetzt zur Republik Polen. Es
lassen sich aus chulwesen in diesen Ländern zweifellos Schlüsse
ziehen, weshalb in Ermland allmählich das deutsche Element die Oberhand
gewann, während in Westpreußen und Polen trob aller Germanisierungs-
versuche das Polentum festwurzelte. Auch für die Stellung dieser damals
ganz katholischen Länder zum Protestantismus bielet das Werk reiches
Material. Es ist schade, daß der Verf. den geplanten dritten und vierten
Band, welche das evangelische Schulwesen behandeln sollten, nicht ver-
öffentlichen kann, da das hierfür gesammelte Material ihm nicht ausreichend
erscheint. Wir würden dann in der Lage sein, einen Vergleich zwischen dem
katholischen und protestantischen Bildungswesen zu ziehen und ebenso den
Unterschied zwischen deutschem und polnischem Unterricht noch besser zu
beurteilen.
Der wissenschaftliche Wert des Werkes muß ausdrücklich hervorgehoben
werden. Für die allgemeine Geschichte der behandelten Länder wie auch
für die Kirchengeschichte, Geschichte der Pädagogik und des Bildungs-
wesens überhaupt erhalten wir ein vollständiges Material, das in systema-
fischer, anschaulicher Darstellung verarbeitet ist. Die in den Anlagen ge-
druckien archivalischen Mitteilungen geben dem Peruse Gelegenheit, einen
unmittelbaren Einblick in die Quellen zu tun. Der folgende Überblick über
den Inhalt wird von der Reichhaltigkeit des Werkes Zeugnis geben.
W. behandelt im ersten Bande die von der Kirche eingerichteten Lehr-
anstalten: Pfarrschulen, höhere Schulen, Priesterseminare. In der Einleitung
gibt er einen Überblick über die politische und kirchliche Gliederung West-
preußens, Ermlands und Posens, über die religiöse und sittliche Stellung
des Klerus, die nationalen und religiösen Verhältnisse der Bevölkerung.
Durch die geistige Verbindung Deutschlands und Polens kamen der Huma-
nismus und die Reformation nach Polen; in Großpolen und Kujavien war der
Adel, in Poin. Preußen waren die Städte die Haupttrager der neuen Lehre.
Nur Ermland blieb überwiegend katholisch. Durch die Gegenreformation,
die durch den Zwist unter den evangelischen Bekenntnissen erleichtert
wurde, hatten die evangelischen Gemeinden seit dem 17. u. 18. Jahrhundert
viel zu leiden. Die Posener Diözesansynode v. J. 1720 bestimmte ausdrück-
lich: Häretiker haben nicht das Recht der freien Religionsubung. Diese
Vorbemerkungen sind für das Verständnis des Bildungswesens von Be-
deutung, und es ist schade, daß der Verf. die politischen und wirtschaft-
lichen Verhältnisse nicht eingehend erörtert hat. Wir sehen ja heute klarer
als früher, daß letztere geradezu die Grundlage für die geistige Kultur
bilden, und daß Bildungs- und Schulwesen die größten Hemmungen erfahren,
wenn die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse unklar sind. Es soll
aber nicht verschwiegen werden, daß W. in dem speziellen Teile die sozialen
Verhältnisse eingehender behandelt hat.
Als Haupiquellen für die Darstellung des Bildungs- und Unterrichts-
wesens kommen wegen der engen Verbindung, die damals zwischen Kirche
und Schule bestand, die Synodalstatuten in Betracht, ferner die Visitations-
protokolle und die Rundschreiben der Bischöfe. W. gibt deshalb zunächst
in chronologischer Reihenfolge die Verordnungen für die Gnesener Kirchen-
provinz und die Erzdiözese Gnesen, die Verordnungen für die Diözese
Posen, besonders der Synoden v. J. 1642, 1689 u. 1720, die Verordnungen
der Diözese Leslau (Synode v. J. 1568, Subkau v. J. 1617, ferner Synoden
v. J. 1628, 1634, 1641), der Diözese Kulm-Pomesanien (Synoden 1583, 1605,
1641, 1745), der Diözese Ermland (Synode 1565 unter Kardinal Hosius, 1575,
1610). Die Provinzial- und Diozesansynoden drangen besonders auf die
Durchführung der Vorschriften des Konzils von Trient. Die Pfarrer wurden
zu Hütern und Pflegern der Pfarrschulen bestellt, nur in Ermland wurde den
Gemeinden ein Mitbestimmungsrecht gegeben. Neben der Forderung nach
Erteilung des Religionsunterrichies tritt das Verlangen nach Unterweisung
im Lesen, Schreiben, Gesang in den Hintergrund. Auch hier hat Ermland
105
genauere Bestimmungen über Unterricht. W. hätte hier klarer die Schluß-
folgerungen herausstellen müssen: Die Vernachlässigung der profanen
Fächer hatte den Mangel an logischem Denken zur Folge, und wir sehen,
wie rein mechanisch den Kindern die religiösen Dinge beigebracht werden.
Der Haupffehler dieser ganzen Erziehung war eben der, daß die Hebung
des gesamten geistigen Niveaus vernachlässigt wurde.
Die Zahl der Pfarrschulen laßt sich nicht mehr mit Sicherheit fest-
stellen. W. sucht durch Analogieschluß aus der uns bekannten Zahl der
Pfarreien die der Schulen festzustellen. Die Zahl der protestantischen
Schulen war in jenen Gebieten, wo beide Konfessionen und Nationen zu
annähernd gleichen Teilen gemischt nebeneinander saßen, bedeutend höher
als die Zahl der katholischen Schulen. Nur in Ermland gab es in jedem
Pfarrdorfe eine Schule, in allen übrigen Dörfern waren im 16. Jahrhundert
nur in ganz wenigen Städten und nur zeitweise Pfarrschulen vorhanden.
Der Erzpriester Libor sagte noch am Ende des 18. Jahrhunderts über die
Schulen Polens, „daß in diesem verwahrlosten Lande auch nicht die min-
desten Schulanstalten getroffen seien“ (94).
Die Vorgesebten der Schullehrer waren die geistlichen Oberen: Bischof,
Archidiakon, Dekane oder Erzpriester, Pfarrer. Letztere zogen die Schul-
meister gegen ihren Willen zu Dienstleistungen heran, zu denen sie nicht
verpflichtet waren. Dem ermländischen Klerus wird bei einer General-
visitation 1572/74 vorgeworfen, daß manche Geistliche die Schulmeister mit
Botengängen zum Nachbarpfarrer beschweren, in einem Bericht v. J. 1584
heißt es, daß Zank und Streit zwischen Pfarrer und Schulmeister in ganz
Pommerellen etwas Gewohnliches seien. — W. behandelt dann im 4. Kapitel
den Schulmeister: Zahl und Amtsbezeichnung (der Leiter einer Schule mit
mehreren Schulmeistern hieß Rektor, der 2. Lehrer Kantor; die lateinischen
Bezeichnungen für Lehrer sind schr zahlreich). Die Anstellungsverhalinisse
gehen am klarsten aus dem Berichte Libors 1798 hervor: „Da die mehrsten
Organisten aus Mangel eines Fonds von den Pfarrern müssen unterhalten
werden, so werden sie auch wie die Großknechte gedungen und wieder ab-
geschafft. Sie unterscheiden sich durch nichts anders von den Knechten,
als daß sie etwas singen und auf der Orgel klimpern können.“ Die Vor-
bildung war eine ganz verschiedene: Neben Handwerkern finden wir Stu-
denten und Magister der freien Künste, neben Bauern Geistliche und Dok-
toren der Philosophie. Besonders günstig steht auch in dieser Hinsicht
Ermland da, das schon im 16. Jahrhundert in allen Städten zahlreiche wissen-
schaftlich gebildete Lehrer aufwies. Das Einkommen bestand zumeist aus
Naturallieferungen, Schulgeld, Akzidenzien; die städtischen Schulmeister er-
hielten noch ein Gehalt aus der Stadikasse; die unzureichende Besoldung
vieler Lehrer ist erwiesen, doch muß berücksichtigt werden, daß auch das
Einkommen vieler Pfarrer, Bürgermeister, Notare nicht viel besser war.
W. behandelt weiter das Schulhaus, die Verpflichtung zum Bau und
Unterhalt, Lage und Gestaltung, Herkunft, Geschlecht (meist nur Knaben;
wenn auch Mädchen die Schule besuchten, mußten sie getrennt unterrichtet
werden; indes wurde diese Verordnung nicht streng durchgeführt), Zahl (der
Prozentsatz der eine Pfarrschule besuchenden Kinder war stets verschwin-
dend klein und betrug höchstens 6—8 Prozent; die protestantischen Schulen
wurden viel besser besucht). In den Stundenplänen ist besonders auffallend,
daß der Unterricht schon um 6 Uhr früh begann und vormittags und nach-
mittags je 3 Stunden aufwies. Die Unterrichtssprache war in der Regel die
polnische, doch gab es auch eine Anzahl katholischer Schulen mit deutscher
Unterrichtssprache; in dem zum größten Teile deutschen Ermlande war auch
die Unterrichtssprache deutsch, ebenso im westlichen Netzegebiel. Lehr-
gegenstand war fast ausschließlich Religion, an den sich eng der Gesang-
unferricht anschloß. Weitere Lehrgegenstände waren der Lese- und
(seltener) der Schreibunterricht und_das Rechnen, in den Städten auch das
Latein. W. gibt eine interessante Zusammenstellung der Lehr- und Lern-
mittel 176/87, des Lehrstoffes und der Lehrmethode, der Erziehung.
In ähnlicher Weise behandelt W. die höheren Schulen: die Lubranskische
106
Akademie zu Posen, die Akademie zu Kulm, die Domschule zu Onesen,
ferner die Priesterseminare: das Hauptseminar zu Kalisch-Gnesen, die deut-
schen Nebenseminare zu Camin und Konig, das Seminar der Diözesen Posen,
Leslau, das deutsche Nebenseminar zu Altschottland bei Danzig, das Semi-
nar der Diözese Kulm-Pomesanien, Ermland, das „Päpstliche Seminar" zu
Braunsberg. Archivalische Mitteilungen (278/468) und die Geschichte des
Evangelischen Danziger Landschulwesens vom Zeitalter der Reformation bis
zum Beginn der Preußischen Herrschaft 1793 (469/530) und Ungedruckte
Aktenstücke und Archivalische Mitteilungen zu dieser Geschichte (531/558)
beschließen den ersten Band.
Im zweiten Bande werden die Klosterschulen geschildert, die fast sämt-
lich in den Händen der Jesuiten waren: Braunsberg, Posen, Alischottland
{bei Danzig), Thorn, Bromberg, Deutsch-Krone, Marienburg, Konitz, Graudenz,
Rossel, Meseritz, Fraustadt. Besonders interessant ist die innere Geschichte
dieser Jesuitenschulen, die für die Geschichte der Pädagogik und für das
kulturelle Leben jener Zeiten sehr wertvoll ist. Selbstverstandlich hat der
Jesuitenorden seine allgemeinen Grundsätze über Erziehung und Unterricht
auch in seinen Schulen in Ermland, Westpreußen und Posen in Anwendung
gebracht. Die Schulbräuche der polnischen Provinz wurden i. J. 1648 vom
Ordensgeneral Carrafa approbiert. Eine erfolgreiche Umgestaltung des
Schulwesens unternahm Stanislaus Konarski, der den Ehrentitel „Poloniae
magister“ erhielt. An Stelle des formalen Studiums der lateinischen Sprache,
die in den Jesuitenschulen zu nugloser Spielerei ausartete, setzte er die Er-
ziehung des antiken Geistes und berücksichtigte stärker die realistischen
Fächer. Der Verf. hat ein anschauliches Bild von dem Wesen und Wirken
der Jesuitenschulen gegeben: Lehrer und Schüler, Unterricht und Erziehung
werden eingehend (118/253) erörtert. Diejenigen, die heute so pessimistisch
über die zuchtlose Jugend klagen und die gute alte Zeit loben, seien be-
sonders auf das Kapitel über das Schülerleben hingewiesen: In Altschott-
land (bei Danzig) waren 1765/66 unter 12 Logikern 3 Trinker, unter 9 Physi-
kern 4 Säufer und Herumtreiber: 1766/67 werden unter 37 Schülern der
Rhetoriker 8 als Trinker und Bummler bezeichnet. In Posen gab es 1593 eine
regelrechte Schülerverbindung mit einem Präsiden und einem Schriftführer,
die, um nicht entdeckt zu werden, in verschiedenen Häusern Trinkgelage
und Tanzvergnugungen mit Weibspersonen veranstaltete (S. 147). Auch
Schülerverbindungen mit ausgesprochen politischem Charakter gab es, die
sich gegen die russischen Bestrebungen in Polen richteten und ein Eingreifen
der Russen zur Folge hatten.
W. behandelt zum Schluß noch kurz die Schulen der Zisterzienser, Fran-
ziskaner und der Regular-Chorherren zu Tremessen, die Vorbildung der
Ordenszöglinge und die Klosterschulen für die weibliche Jugend.
Die vom Verf. benutzten Quellen und Literaturangaben zeigen den Um-
fang des ungeheuren Materials. Das Buch von G. Lühr, Die Matrikel des
päpstlichen Seminars zu Braunsberg 1578—1798, Königsberg 1925 und Brauns-
berg 1926, ist dem Verf. zur Zeit der Drucklegung wohl noch nicht bekannt
gewesen.
Der Baltischen Kommission in Kiel und dem Verlag Ferdinand Hirt in
Breslau muß der Dank dafür ausgesprochen werden, daß sie die Veröffent-
lichung des umfangreichen Werkes ermöglicht haben. ere
elix Haase
Stanislaw Tync und Jözef Gołąbek: Beskid zachodni i
Podhale. (Górale Polscy). — Ksiaznica „Atlas“, Lwow-War-
szawa 1928.
St. Barabasz: Sztuka ludowa na Podhalu Teil I u. Il: Spisz
u. Orawa. — Ebenda.
Tync und Golabek eröffnen mit diesem, der westlichen Beskidenland-
schaft und bee sich südlich anschließenden Gebiete der Tatra gewidmeten
107
Bändchen eine vom sehr rührigen Verlage „Atlas“ ins Leben gerufene Serie,
welche die einzelnen Landschaften Polens in knapper, aber erschopfender
Darstellung behandeln will. Diese Hefte sind für den Unterricht in erster
Linie bestimmt. Das zeigt auch die Anlage der jedem Lesestück 5
benen Anmerkungen. Es verdient aber die Reichhaltigkeit des hier Ge-
botenen auch über den Kreis der Schule hinaus weite Verbreitung. Eine gute
Kartenskizze orientiert uns über die behandelie Landschaft, die nun von
4 Gesichtspunkten aus betrachtet wird: Land und Leute; Legenden,
überlieferungen, Lieder; Schilderungen aus der ge-
schichtlichen Vergangenheit der Landschaft; aus dem
Leben der Goralen. In diesen einzelnen Abschnitten wird nun nicht
etwa eine zusammenfassende Abhandlung des Themas gegeben, sondern aus
Dichtungen und sachlichen Artikeln wird ein Gesamtbild hervorgerufen, so
z. B. wird der erste Abschnitt „Ziemia i lud“ mit Wincenty Pol’s Gedicht
»W góry, w göry!” eröffnet, es folgt von Kaz. Sosnowski eine kurze geo-
graphische Darstellung der Wesibeskiden, weiterhin z. B. folkloristische
Abschnitte (mit Illustr., auch das Dialektische wird behandeli, wozu dann
in den späteren Abschnitten dialektische oder dialektisch gefärbte Erzah-
lungen treten. Der Verlag cröfinet jedenfalls mit diesem Heft eine recht
lehrreiche und interessante Reihe von landschaftlichen Monographien. _
Vom wissenschaftlichen Standpunkte natürlich ungleich beachilicher ist
die Publikation des Direktors des eihnographischen Museums in Zakopane,
St. Barabasz: Sztuka ludowa na Podhalu. Es wird hier die
Volkskunst, die jetzt in Polen ja so große Beachtung findet, auf 44 Tafeln
in schönen klaren Zeichnungen dargestelli: das Haus, innen und außen, in
allen seinen Teilen, die Geräte und Möbel, alles, was hier dem schmücken-
den Schönheitssinn des Volkes Anreiz bot. Es kommen aber hier nur die
beiden Bezirke Spisz (mit 12 Tafeln) und Orawa (mit 32 Tafeln) zur Dar-
stellung. Auf den überaus reichen und mannigfaltigen Stoff der 216 Ab-
bildungen (84 aus Spisz, 132 aus Orawa) weist eine kurze Abhandlung
einleitend hin.
Breslau. Erdmann Hanisch.
108
m 0 —⸗ i522 TE 2 K S oe oe FE REES BR FA SS DM DIN NSF m AH KO u aT
ZEITSCHRIFTENSCHAU
ALLGEMEINES
LI Mikkola: Samo und sein Reich. Archiv für slav. Philo-
logie 42 (1928), 1/2, S. 77—97.
Diese Studie soll vornehmlich der Behandlung der immer noch offenen
Frage dienen, ob die Slaven, zu weichen Samo kam, nördlich oder südlich
der Donau wohnten; daneben wird noch die eine oder andere Frage ge-
streift. Zunächst wird die Frage nach der Abkunft des Samo, wie das
older getan, dahin beantwortet, daß nach der Analogie anderer
Namen die Zugehörigkeit zum keltischen Volkstum angenommen werden
muß. Identisch mit Samo ist der Name Sammo, der inschrifiich bekannt
ist aus Ehrenhausen bei Straßburg u.a. O. als Vollname dazu kommen Samorix
und Samotalus in Betracht. Die von Kos angenommene slavische Abstam-
mung des Samo lehnt M. ab. Fredegars Angabe, daz Samo dem Pagus
Senonagus entstamme, hat zu der Vermutung 1 daß man das Land
um die französische Stadt Sens als seine Hei betrachten müsse. M. halt
diese Annahme für richtig. Die Annahme, man könne den von Frede
genannten, Pagus bei Soignies suchen, lehnt M. aus sprachlichen Gründe
ab. Der Pa senonicus liegt an der Yonne im alten Burgund. Von hier
aus also e sich Samos Aufbruch vollziehen müssen. führt die ge-
schichtlichen Zeitumstände an, unter welchen er vor sich gehen 5 nam-
bch die gespannte Lage zwischen Chlothar und seinem Sohn D rt,
welch letzlerer von seinem Vater Austrasien zugewiesen erhalten halte mit
Ausnahme eines Gebietsteiles an den Ardennen und Vogesen. Als Samo
623 aufbrach, waren die Streitigkeiten der beiden um dieses Gebiet noch
nicht geschlichtet, Samo hatte also seine Handelsreise durch feindliches
Gebiet ausführen müssen, wenn er in nördlicher Richtung aufgebrochen
wäre, der südliche Weg von Sens durch die Schweiz war kürzer, und dort
herrschte Frieden. M. ist daher der Meinung, daß Samo, den römischen
Straßen folgend, von Autun aus über Besancon, Basel, Bregenz und schließ-
urg zu den 335 sei. Diese selbst „coinomento Vinidi“,
sind unzweifelhaft die süd Donau wohnenden Slaven gewesen und
nicht die in Böhmen wohnenden, da diese niemals bloß Winidi, sondern
Beu-Winidi, Behaimi usw. genanni werden. Ehe M. darstellt, vie Samo von
seinem ursprünglich sü der Donau gelegenen Wirkungskreis aus bis
nach Nordböhmen vordrang, gibt er einen Überblick über die Schicksale
der Avaren vor ihrer Ansiedlung in Pannonien. Sprachlich ordnet er sie
in die R-Gruppe der Turkotataren ein. Den avarischen Fundsfücken nach
gehörten sie zur westsibirisch-sarmatischen Kultur, während die Hunnen
chinesischen Kultureinfluß verraten. Die bei Gre von Tours erwähnten
zweimaligen Einfälle der Avaren in fränkisches Gebiet sieht M. als geschicht-
lich vollkommen zutreffend an. Zeuß hatte in „Die Deutschen und die
Nachbarstämme“ geglaubt, es habe sich nur um Angriff e gegen die östliche
Peripherie des fränkischen Reiches gehandelt. Die Frage, welchen Weg
die Avaren auf diesen beiden Feldziigen eingeschlagen haben, beantwortet
109
M. aus dem Grunde, daß sie stets ihrer Reiferei wegen enge Bergpässe
fürchteten und mieden, zugunsten des nördlichen Weges jenseits der Kar-
pathen durch Galizien und Schlesien. Nach ihrer Ansiedlung in Pannonien
konnten sie die Herrschaft über die Slaven jenseits der Karpathen nicht
mehr aufrechterhalten, dieser Umstand erhellt die Ursache für die Nach-
richt der altrussischen Chronik, daß die Avaren jäh verschwunden seien.
Die in der russischen Chronik als besonders unter den Avaren leidend er-
wähnten Dulében werden ihnen sowohl als Landbauer wie als Fußsoldaten
nötig gewesen sein, und vermutlich war dieser slavische Stamm, als die
Ubersiedlung der Avaren in das Gebiet südlich der Karpathen vollzogen
wurde, von ihnen mit abgeführt worden, es gab wieder Dudlében (wesi-
slavische Form!) in ihrer unmittelbaren Nähe in Sudbohmen und in Steier-
mark. M. hält das Jahr 568 jedenfalls als für sehr wichtig für die Besiedlung
Böhmens durch Slaven. M. erörtert in diesem Zusammenhang die Frage
nach der Urheimat der Slaven. Er hält dafür, daß slovéne nie ein Gesamt-
name für alle Slaven gewesen ıst, sondern daß es ursprünglich ein be-
stimmter Slavenstamm war, der sich später verzweigte, daher ihr Auftauchen
am llmensee, im Gebiet der Karpathen und südlich der Donau. Ihre histo-
risch belegte Heimat lag nördlich der unteren Donau. Von dort stammen
auch die Slovenen der Ostalpen. Die jetzigen Slovenen sind aber ein Pro-
dukt des Zusammenwachsens der slovéne, dudlèbi, hürvati und vielleicht
noch anderer Stämme. Die Frage, wann und von wo die Slovaken in ihre jetzige
Heimat gelangt sind, bleibt offen. M. untersucht die für slavisch gehaltenen
Ortsnamen der Balkanhalbinsel, die aus der Zeit vor dem 6. Jahrhundert
stammen, und weist nach, daß diese nicht slavisch sind. — Hatte M. oben
die Meinung ausgesprochen, daß die Dudi&bi den Avaren als Landbauer
und Fußsoldaten dienlich waren, so unterscheidet er nun zwischen Hrvaten
und Dudlében als zwischen dem kriegerischen und einem landbauenden
Stamme. Die ersteren sollen den Avaren gute Fugsoldaten gewesen sein,
vielleicht sind sie von ihnen auf einem vorgeschobenen Posten gegen das
fränkische Reich an der Saale zurückgelassen worden. Sie siben auch in
Böhmen an der Peripherie, und nach 658 haben die Avaren auch Chorvaten
vom Norden nach Süden berufen zur Verstärkung des avarischen Einfalls
in Dalmatien. Daß die Serben, wie Porphyrogenitos erwähni, den Chor-
vaten nach dem Süden nachziehen wollten, hält M. nicht für einen Zufall.
Sie hatten schon früher in Gemeinschaft mit den Chorvaten gewohnt. Er
sieht im ukrainischen priserbitijsa für „sich jemandem anschließen” und in
paserb = Stiefsohn den Beweis dafür, daß s'rb etwa „Angehöriger, Ver-
bundeter“ bedeutet haben mag. M. stellt dann die Expansionsbestrebungen
und -Möglichkeiten des Frankenreiches nach dem Osten dar. Samos Reich
hatte diese Pläne durchkreuzt. Im Krieg Samos gegen das Frankenreich
wird Wogastisburc sein wichtigster Stujpunkt. Zur Namenserklärung dieses
Ortes sagt M. folgendes: Im 7. Jahrhundert hatte das Slavische noch kein
u, sein Vorgänger war ein oa oder uo, wie sich aus slavischen Lehnwörtern
im Litauischen und Lettischen und aus dem griechischen "Pos für Rus’
ergibt. So läßt sich Wogast mit čeh. UhoSt aus 'ugosf zusammenstellen.
Purberg wurde noch im 15. Jahrhundert OhoSt genannt. Der zur Erklärung
fur Wogastisburc auch herangezogene Ort Wugasterode in Oberfranken
ist der geographischen Lage nach nicht annehmbar für die Geschichte
Samos. Die bei Fredegar überlieferte germanische Namensform ist der
Genetivendung —is und des burc wegen beachtenswert. Es ist nicht an-
zunehmen, daß Fredegar selbst diese germanische Form gebildet habe.
Die Germanen, welche diesen Namen gebildet haben, müssen Kenner des
Slavischen gewesen sein, denn das slavische Wort ist aus einem Personen-
namen Ugost’ mit dem Possessivsuffix —io— gebildet, und dieser possessiven
Bedeutung entspricht die germanische Genetivform. Alte germanische Orts-
namen mit —burc sind nicht haufig und sind immer zu einem Personen-
namen gebildet. Daraus scheint M. schließen zu können, daß die Gegend
von Wogastisburc von Germanen, vielleicht Sachsen, bewohnt gewesen
sein muß, kurz vorher aber war das Land von Slaven bewohnt. Sollten
nicht die Serben vor ihrem Abzug nach dem Süden gerade an der Eger
110
gesessen haben? Das Auftreten Samos südlich der Donau und die Lage
des Wahiplakes in Nordböhmen sekt voraus, daß er über ein zusammen-
hängendes Gebiet auf beiden Ufern der Donau geherrscht hat.
Emmy Haertel.
A. Brückner: Alte Romane bei Slaven. Archiv für slav. Philo-
logie. 42 (1928), 1/2. S. 109— 122.
Br. weist auf die Vernachlässigung des Romans bei den Slaven bıs
tief in das vorige Jahrhundert hin; nur was im Abendlande sich zu großer
Beliebtheit durchgesebt, kam in Übersekungen zu den Slaven, dafür aber
auch fast alle derartigen Erscheinungen, wodurch der Zusammenhang mit
den literarischen Zeitereignissen erhellt. Es sollen hier zwei Übersebungs-
romane, der eine polnisch, der andere russisch, des näheren besprochen
werden, die erst unlängst veröffentlicht wurden und der abendländlichen
Bibliographie noch völlig unbekannt sind. Der beliebteste aller fran-
zösischen Prosaromane des 15. und 16. Jahrhunderts war die „Histoire du
irès vaillant chevalier Paris et de la belle Vienne, fille de Dauphin";
während Übersebungen von ihm längst im Englischen, Italienischen und
sogar Armenischen vorhanden waren, fehlle eine polnische Ubersetzung, da
keine deutsche vorhanden war. Br. zählt die französischen und italienischen
Ausgaben des Werkes auf. Im Petersburger Sbornik (sic!) 90, 6 hatte
Vinogradov zwei Fassungen davon in Versen ım Jahre 1913 herausgegeben,
nach der Hs des Fürsten Viazemkij mit interlinearer Anführung von den
Texten aus Hss der Sammlung Certkov und Undolskij. Nach der Meinung
S. V. Sobolevskijs, welcher zu der Veröffentlichung eine Einleitung ge-
schrieben, ist das Poem aus dem Polnischen übersetzt, wofür ihm eine
Reihe von scheinbaren Polonismen beweisliefernd waren. Br. widerlegt im
einzelnen diese Anschauung und weist seinerseits nach, daß es eine Uber-
setzung aus dem italienischen ist, dafür sprechen rein italienische Worte und
Wortformen. Die Vorlage ist zu sehen in „Innamoramento di due fidelissime
amanti Paris e Vienna, composto in ottava rima da Angelo Albani Or-
vietano . . ., ungeachtet kleiner chronologischer Bedenken, welche gegen
diese Annahme sprechen könnten. Die italienische Übersekung war un-
genau gewesen und hat somit Unstimmigkeiten der russischen Ubersebung
verschuldet. Immerhin ist diese Übersebungs-Überarbeitung (es handelt sich
im Russischen um erhebliche Texikürzungen) die bedeutendste und inter-
essanteste Leistung der schönen russischen Literatur vor Kantemir und
Tredjakovskij. -Br. führt umfangliche Texistellen an, die teils gänzlich neu,
teils verkürzt sind. — Die polnische Novelle ist bereits Archiv 40 einmal
erwähnt worden. Das Original ist die spanische Novelle von Juan de
Flores „Orisel y Mirabela" vom Ende des 15. Jahrhunderts, welche un-
gewöhnlich schnelle Verbreitung fand, es gibt allein 18 aus dem Italienischen
übersetzte französische Ausgaben. Die polnische Übersetzung „Historya
barzo piękna i żałosna o Ekwanusie królu Skockim teraz nowo polskim
jezykiem wydana, Krakau Scharffenberg 1578, ist herausgegeben von
J. Krzyżanowski im Pamięłnik liter. 221, 1924, S. 247—285, sie folgt der
italienischen Ubersetzung der venetianischen Ausgabe von 1548 „Historia di
Aurelio et Isabella, nella quale si disputa, chi più dia occasione di peccare,
Thuomo alla donna o la donna a l'huomo ...“ stellenweise wörtlich, faßt
aber im übrigen zusammen und läßt mitunter halbe Seiten fort. Die Er-
zählung an sich ist dürftig zu nennen, behandelt erotische Fragen weit-
schweifig und hat sichtlich in Polen keinen Anklang gefunden, denn sie ist
spurlos verklungen, und ähnliche spanische Novellen wurden nicht weiter
ins Polnische übersetzt. Der Uberseber Bart. Paprocki, der durch heraldische
Arbeiten bekannt Gewordene, hat die Aufgabe stilistisch gut gelöst. Br.
widmet der Muse des mysogynen und doch für erotische Fragen stark
interessierten Paprocki eine eingehendere Besprechung und beschäftigt sich
dabei vornehmlich mit seinem „böhmischen Vermächtnis“, der von ihm ge-
fertigten Übersekung derartiger Stoffe von Rej und Kochanowski ins
111
Cechische. Br. beschäftigt sich noch mit der Frage nach der Urheberschaft
der Ubertragung von Rejs Dialog „Rozmlouvani dvou panen“... ins
Cechische. Emmy Haertel.
IUGOSLAVIEN
Die Quellen der Chronik von Vramec (1578). (N.Radojéié, O izvo-
rima Vraméeve Kronike). — Rad Jugoslavenske Akademije
Znanosti i Umjetnosti, knj. 235, S. 26—49, Zagreb 1928.
Der derzeit an der Laibacher Universität wirkende serbische Historiker
Radojčić, der sich durch seine bisherigen zahlreichen Untersuchungen der
wichtigsten südslavischen historiographischen Werke als der beste kritische
Kenner der südslavischen Geschichtsschreibung erwiesen hat — ich ver-
weise hier auf seine Untersuchung über Ruvarac 1909, Krumbacher 1910,
Al. Stojackovié 1911, Rajić 1920, 1921, 1925, 1926, über die Idee der nationalen
Einheit in der serbischen und kroatischen Historiographie, über die Anfänge
der historischen Kritik bei den Serben 1922, über Konstantin Jireček 1923,
über das Verhältnis von Geographie und serbischer Oeschichtsschreibung
1924, über Rankes neuer Konzeption der serbischen Geschichte 1925, über
die kroatische Geschichte während der nationalen Dynastie in der modernen
serbischen Geschichtsschreibung 1925, über die Chroniken des Grafen
Djordje Branković 1926, über die Frage, wie die byzantinischen Historiker
des 11. und 12. Jahrhunderts Serben und Kroaten benannten 1926, über die
moderne serbische Historiographie 1929 — legt in dieser Untersuchung erst-
malig die Quellen des ersten kroatischen Geschichtswerkes zur allgemeinen
und nationalen Geschichte in kroatischer Sprache dar. Das Leben und die
Tätigkeit Vramec’ hat Vjek. Klaić gelegentlich der Neuausgabe der
Chronik in den Monumenta spect. hist. Slav. merid., Vol. XXXI, Agram 1908,
in einer eingehenden kritischen Untersuchung beschrieben und damit einem
Großteil der bis dahin verbreiteten legendären Anekdoten über das Leben
dieses interessanten Schrifistellers den Boden entzogen. Weniger bekannt
dagegen ist Vramec’ historiographische Arbeit, obwohl die interessante
Chronik die Aufmerksamkeit der Theologen, der Historiker und auch der
gebildeten kroatischen Kreise auf sich lenkte. Die Aufmerksamkeit der
Theologen e für das Werk fatal, da es dieser Aufmerksamkeit zuzu-
schreiben ist, dab die Chronik so gründlich vernichtet wurde, daß von ihr
nur ein ganzes und ein unvollständiges ey he erhalten blieben. Etwas
weitsichtiger waren die Historiker. Der erste kroatische Historiker, der die
Chronik ausführlicher beschreibt, G. Rattkay, hat allerdings nur böse Worte
für sie, einerseits wegen der Mängel in der Chronologie, anderseits wegen
der antikatholischen Tendenz in der Chronik. P. Ritter-Vitezovi€ dagegen
war von ihr begeistert, einerseits wegen ihrer Sprache, anderseits gerade
wegen ihrer liberalen Tendenz. Die Chronik geriet allerdings dann in Ver-
gessenheit und wurde erst von Ivan Svear, dem begeisterten kroatischen
Geschichtsschreiber der illyrischen Wiedergeburtsbewegung, in der ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts aus der Vergessenheit gezogen. Die römisch-
katholischen Theologen sahen in dieser Chronik eine gefährliche Schrift,
die zwar nicht offen protestantisch war, aber sicherlich nicht römisch-katho-
lischen Geist atmete, und deshalb vernichteten sie sie. Die Historiker von
Beruf sahen in der Chronik ein Werk von geringem historischen Original-
wert. Daher mußte die Chronik am meisten den Freunden des nationalen
und populären Buches gefallen. Daher die Begeisterung eines Vitezović
und vear. Radojčić untersucht die Chronik als erste kroatische
meine und nationale Geschichte in kroatischer Sprache (eine Untersuchung
der sprachlichen Seite der Chronik gab seinerzeit Fancev im Afsl Ph XXXD,
ihre Quellen, die Art ihrer Konzeptioa und Komposition und die Ten-
denziosität, wobei er der Frage der Quellen als der Fundamentalfrage sein
Hauptaugenmerk zuwendet.
112
oO- an r „ — ET ei
Klaié konnte in seiner Studie keine einzige Quelle mit Sicherheit an-
geben. Die Frage der Quellen ist deshalb schwer zu entscheiden, weil es
eine Reihe allgemeiner, einander ähnlicher Geschichtsdarstellungen der all-
gemeinen Geschichte mit Nachrichten aus der slavischen Vergangenheit
gibt, die Vramec verwendet haben konnte. Nach einem allgemeinen Exkurs
über den Charakter der Geschichtsschreibung im Mittelalter, zur Zeit der
Humanisten in Italien, zur Zeit der Reformation und Gegenreformation in
Deutschland, zeigt Radojčić, daß auch alle jugoslavischen Gegenden außer
Dalmatien vor dem 18. Jahrhundert zu den Gebieten mit rückständiger
Historiographie zu rechnen sind, denen die mehr oder minder nationalistische
italienische humanistische Historiographie zu hoch, unverdaulich und auch
vielfach beleidigend war. Die geographische und politische Lage, die
Türkengefahr und die Türkenherrschaft warfen die Jugoslaven um Jahr-
hunderte zurück, und daher blieben natürlicherweise auch ihre geistigen
Emanationen um Jahrhunderte gegenüber den damaligen kultiviertesten
Völkern zurück. Deshalb bekamen auch die Kroaten die erste Weltchronik,
die auch Nachrichten aus der slavischen und nationalen Geschichte enthielt,
in der Volkssprache erst dann, als die Welichroniken im Westen bereits
aus der Mode gekommen waren und an ihre Stelle die rein nationale und
staatliche Geschichte getreten war. Vramec konnte den Abstand zwischen
dem geistigen Leben des damaligen Italien und den Resten des Konig-
reiches Kroatien sehr gut ermessen, als er sich an die Abfassung seiner
Chronik machte, die er den Bedürfnissen der Mehrheit seiner kroatischen
Zeitgenossen anpaßte. Er wollte den Lesern von Nuken sein, und das
konnte er nur dadurch erreichen, daß er sich zu ihnen herabließ. In der
Volkssprache schrieb Vramec in erster Linie deshalb, weil er seinc Chronik
denen bestimmte, die, ohne eine andere Sprache zu können, etwas von der
Vergangenheit der ganzen Welt und ihres eigenen Volkes zu hören und
lesen wünschten; sicherlich auch deshalb, weil die damaligen protestan-
tischen Schriftsteller Bücher in der Volkssprache ins Volk bringen wollien.
Sicher ist, daß die Chronik nicht nur wegen ihrer Sprache in die kroatische
und slovenische protestantische Literatur fallt, sondern auch durch viele
Stellen, die gegen die römisch-katholische Kirche gerichtet sind.
Jeder Verfasser einer Weltchronik mußte sich vor allem für ein chrono-
logisches System entscheiden, ferner für cine Periodisierung der Welt-
geschichte. In der Periodisierung herrschte unter den Chronisten eine viel
größere Einheitlichkeit als in der Chronologie. Radojčić meint, daß sich
Vramec hinsichtlich des chronologischen Systems für seine Chronik nicht
viel den Kopf zerbrach, sondern einfach das übernahm, das er zufällig in
der Schule gelernt hatte, nämlich das hebräische, ferner daß die Chronik
langsam entstand, auf Grund von Aufzeichnungen aus der Studienzeit und
der späteren Lektüre, und daß Vramec nur auf eine günstige Gelegenheit
wartete, diese Aufzeichnungen mit Daten aus der heimischen Geschichte zu
ergänzen und dann die Chronik herauszugeben. Daher die Uneinheitlichkeit
und die Widersprüche und die vielen Wiederholungen in der Chronik, die
nur aus der Lektüre und aus dem Exzerpieren von Chroniken mit verschie-
denen chronologischen Systemen zu erklären sind und die sonst in einem
so kleinen Büchlein unmöglich wären. Die Periodisierung ist die übliche
auf 6 Epochen, die Vramec aus verschiedenen Büchern nehmen konnte. Die
Feststellung der Quellen, also der verwendeten Welichroniken, stößt nicht
nur deshalb auf große Schwierigkeiten, weil viele untereinander ähnliche
Weltchroniken in Betracht kommen, sondern vor allem deshalb, weil die
Chronik kurz ist und sehr wenig charakteristische Einzelheiten enthält, die
die Nachforschungen erleichtern würden, und weil er seine Quellen nicht
on ramer gibt nur einmal seine Quelle an, und zwar als er die
Arte cum von B. Platina (Bartolomeo Sacchi) zitiert. Vramec selbst
gibi also wenig Anhaltspunkte. Jedoch läßt sich auf Grund charakteristischer
ten in der Chronik selbst folgendes feststellen: Vramec führt in gewissen
Abständen bedeutende Leute, die in einer bestimmten Zeit lebten, mit einer
bestimmten einleitenden Phrase an. Diese Art der Information finden wir
SNF 5 115
in dem groß en historischen Werk des bedeutenden italienischen Historikers
Jacobo Philippo Foresti (Supplementum chronicorum), den der bekannte
deutsche Chroniker Hartmann Schedel in seiner umfangreichen Weltchronik
(1493) übersetzte. Foresti und Schedel benützte Vramec sicher, zeitweise
den einen, zeitweise den anderen. Der Vergleich der Chronik von Vramec
mit Foresti und Schedel wird allerdings dadurch erschwert, dab Vramec
nicht das gleiche chronologische System hat wie Foresti und dak der chrono-
logische Überblick bei Schedel außerordentlich unübersichtlich ist. Die
Dauer der ersten Epoche übernahm Vramec aus Schedel, ebenso die
Länge der zweiten Epoche, während er die Angabe über die Länge der
dritten Epoche entweder aus Foresti oder aus Schedel übernahm. Beim
Abschnitt über die dritte Epoche ist die Zahl vollständig gleicher Nach-
richten bei Vramec, Foresti und Schedel außerordentlich groß. Das nicht-
begründete Anhäufen von Notizen spürt man bei Vramec vor allem an jenen
Stellen, wo die Bilder bzw. bildhafte Wendungen bei Foresti und Schedel
der einzige Grund waren, daß die betreffenden Notizen in die Chronik
hineingenommen wurden. Hier läßt sich von Nachricht zu Nachricht die
Abhängigkeit Vramec’ von Foresti, der sowohl ihm als auch Schedel die
gemeinsame Quelle war, verfolgen. Bei der Länge der fünften Zeitepoche
deckt sich Vramec nicht mit seinen Hauptquellen. Am Beginn dieser E
machte Vramec schwere Irrtümer, da er nicht auf die Unterschiede zwischen
den angewendeten chronologischen Systemen achiete. Im übrigen hielt er
sich auch hier im Text an Foresti. Von diesem übernahm er auch am
Beginn des sechsten Zeitabschnities die Erörterung über die verschiedene
Jahreszahlung. Von hier an wird Platina einer der Hauptquellen Vramec’,
daneben zieht er noch Foresti und Schedel heran. Platina, der seine Vitae
pontificum schon vor der Reformation geschrieben hatte, hatte sich nicht
gescheut, von einzelnen Päpsten auch Dinge vorzubringen, die ein offizieller
Historiograph niemals hätte vorbringen können, weil diese Nachrichten als
Waffe im Kampfe gegen das Papstium als Institution verwendet worden
wären. Tatsache ist, daß diese Nachrichten Platinas als Waflen gegen das
Papsttum verwendet wurden. Die Protestanten lasen gerne Platina und
kompromitlierten ihn dadurch derartig, daß er auf den Index kam. Trotzdem
blieb Platina im großen Ansehen, und Vramec, der, wo immer es möglich
war, von den Papsten Schlechtes vorbrachte, konnte sich auf die Autorität
Platinas berufen und sich dadurch decken. Vom Jahre 373 an verwendete
Vramec zum erstenmal seine bedeutendste Quelle fiir die heimische Ge-
schichte, den magyarischen Geschichtsschreiber Abraham Bakschay (Baksai)
(Bakschays Chronologia Ducum et Regum Hungariae Cracoviae 1567 gab
Bonfini in seinem Werke Rerum Hungaricarum heraus). Die Nachricht vom
heiligen Hieronymus nahm Vramec aus Foresti. Auch Vramec bezeichnet
ihn als Slaven und als Erfinder der glagolitischen Schrift. In der weiteren
Darstellung finden sich bei Vramec verschiedene interessante textliche
Änderungen gegenuber Platina. Vramec wollte in der klaren Tendenz, die
Papste zu diskreditieren, den Eindruck erwecken, dak die Papste Söhne
hatten. Das größte Ärgernis erregte er bei seinen glaubigen romisch-katho-
lischen Lesern durch eine Nachricht aus dem Jahre 858 (Papst Ivan VII. sei
ein Weib gewesen und habe mitten auf der Piazza ein Kind geboren).
Wegen dieser Nachricht wurde auch diese Seite im Agramer Exemplar mit
Tinte überschüttet, und wegen ihr vor allem behaupteten die Historiker Ivan
Kukuljević und P. Radics, daß Vramec in der Darstellung kirchlicher Ge-
schehnisse zu frei gewesen wäre. Vramec nahm diese Erzählung deshalb
hinein, weil sie eine der wichtigsten protestantischen Requisiten in dem
Kampfe gegen das Papsttum darstellte. Die Nachricht von der Taufe
der Bulgaren (867) ist entweder Platina oder Schedel entnommen. Mit dem
zehnten Jahrhundert häufen sich in der Chronik immer mehr die Nachrichten,
die der Chronologia Bakschays entnommen sind. Im ganzen läßt sich fest-
stellen, daß ein Drittel der Chronik aus Bakschay übersetzt ist, ein Fünftel
ungefähr von Platina übernommen ist, während der Rest auf die übrigen
Quellen, vor allem auf Foresti und Schedel fällt. Vramec verwendet auch
114
‚RL K U Aa RI ZI AB RE NA OS se
sn wm TnaG MdL.
vom 10. sigh ungen an noch Foresti und Schedel, zieht auch Platina heran,
im übrigen übersetzt er immer mehr Bakschay. Daneben finden sich auch
Nachrichten, die allem Anscheine nach aus Funck entnommen sind. Bonfini
zog er nur ausnahmsweise heran, und zwar hauptsächlich für slavische und
kroatische Geschichte. Im allgemeinen herrscht bei Vramec eine starke
Tendenz, die Slaven und slavischen Stellen soviel als möglich in seine
Chronik hineinzuziehen. Für die erste Zeit der Ausbreitun der türkischen
Herrschaft finden wir bei Vramec eine Reihe von Nachrichten, die weder
bei Platina noch bei Bakschay oder Foresti oder Schedel zu finden sind.
Radojčić nimmt an, daß sich Vramec der bekannten Nachrichten von den
Türken von Flavius Blondi, Paul Jovius und von Sebastian Münster bedient
hat. Sicher läßt sich hier nichts feststellen, da die Nachrichten in der
Chronik von Vramec kurz und trocken sind, die Darstellung der obge-
nannten Vorbilder dagegen ausführlich, wortreich und ausgeschmückt. Für
die Darstellung der türkischen zenbe zog Vramec auch Bonfini heran.
Die größte selbständige wissenschaftliche RS a machte Vramec bei
der Beschreibung der Schlacht bei Mohäcs er weiteren Darstellung
übersetzt er wieder Bakschay und die Fortsetzer Platinas bis zur Zeit, wo
er sich an das von den Zeitgenossen Gehörte halten und Selbsterlebtes
iedergchen konnte.
Zusammenfassung: Die Chronik von Vramec ist in ihrem allgemeinen
Teile ein Abbild der Chronik Forestis und der großen Geschichte Hartmann
Schedels. Eine Tendenz ist allen drei Arbeiten gemeinsam. Foresti ver-
herrlichte durch seine Arbeit Italien, Schede! kopierte ihn und rühmite die
Deutschen, und Vramec verherrlichte, soweit es der kleine Umfang seines
Werkes zuließ, die Slaven. Diese eine Tendenz ist kopiert, dagegen ist
die andere Tendenz Vramec’, die gegen die Papste gerichtet war, originell.
Diese Tendenz führte Vramec durch seine ganze Chronik so konsequent
als er konnte durch, hütete sich aber, damit offenes Ärgernis zu erregen.
Er formie mit etwas nationalistischer und regionaler Tendenz den Text
Forestis und Schedels um und änderte mit oflenkundiger antipäpstlicher
Tendenz den Sinn des Platinaschen Textes um. Dagegen überschte er ohne
Tendenz seine dritte Quelle Bakschay, der mit analytischer Gewissen-
haftigkeit die wichtigen Begebenheiten nicht nur aus der ungarischen,
sondern auch aus der kroatischen Geschichte verzeichnet hatte. Zweifellos
zog Vramec neben der Kürze der Bakschayschen Chronologie auch dessen
gute freundliche Gesinnung gegenüber den Kroaten an. Lange nach Vramec
tat das gleiche Jovan Rajić in seiner kroatischen Geschichte, so daß Bak-
schay die außergewöhnliche Ehre zuteil wurde, daß er in der ersien
kroatischen Chronik und auch in der ersten in der Volkssprache geschrie-
benen kroatischen Geschichte iiberse§t wurde. Die kroatische Geschichts-
schreibung entwickelte sich nicht auf Vramec’ Spuren weiter, weder hin-
sichtlich der Sprache noch hinsichtlich der temperamentvollen Art in der
historischen Darstellung. Vramec’ Chronik stand lange vollständig ver-
einzelt da. Die größeren kroatischen Historiker schrieben auch lange Zcit
nach Vramec nicht in der Volkssprache, schrieben ihre Werke nicht für
das einfache Volk, sondern für die gebildeten Kroaten, lateinisch, gelehrt
und schwer, gewöhnlich mit eingeflochtenen staatsrechtlichen Tendenzen.
Auf die Chronik Vramec’ kamen erst spätere Generationen in den Zeiten
starker nationaler Begeisterung, zur Zeit des kroatischen Geschichts-
schreibers Ritter-Vitezovi€ und zur Zeit des Illyrismus zurück. Doch war
auch da noch das Interesse für Vramec mehr politischer als nationaler
Natur. Heute ist es klar, daß die Chronik Vramec’ eine anerkennenswerte
Erscheinung für die Kroaten im 16. Jahrhundert darstellt, daß sie ferner
einen interessanten Versuch der Verbindung der allgemeinen Geschichte
mit der nationalen Geschichte, wie sie damals üblich waren und dazu
dienten, durch Geschichisdarstellungen in der Volkssprache die Kultur im
Volke zu heben und den nationalen Stolz zu wecken, bildet. Vramec er-
öffnet den Reigen derjenigen kroatischen Historiker, die es als ihre wich-
figste Aufgabe ansahen, die slavische und kroatische Vergangenheit mit
115
der Vergangenheit der alten uhd zahlreichen Völker und mit großen Per-
sönlichkeiten und mif bedeutenden Weltereignissen zu verbinden. In dieser
Hinsicht hatte Vramec Nachfolger, dagegen in seiner freiheitlichen, scharfen
groben Art des Ausdruckes in der historischen Darstellung stand er lange
vereinzelt unter den kroatischen Historikern. J. Mati.
Die Ideen des Bischofs Stroßmayer. (F. 8 iS i &: Ideje biskupa Štros-
majera.) — Ratnik 1928, Beograd. 1—24.
Josip Juraj Stroßmayer gehört zu den großen Persönlichkeiten der jugo-
slavischen Geschichte. Talent, Bildung und die Position, die er im Leben
einnahm, gaben ihm in verhältnismäßig jungen Jahren Gelegenheit, eine
Tätigkeit zu entfalten, welche von providentieller Bedeutung für das
kroatische Volk und für das gesamte Jugoslaventum wurde. Er, der über
ein halbes Jahrhundert das Amt eines Bischofs innehatte, war eine ganze
Reihe von Jahren hindurch geistiges Zentrum der Kroaten. Er ermöglichte
ihnen die Gründung der Jugoslavischen Akademie und der Agramer Uni-
versität, der ersten im slavischen Süden, er schuf die erste und bis heute
einzige Bildergalerie im slavischen Süden. Dies alles tat der große
nationale Mazen in der Absicht, daß sich um diese Sammelstellen der
Kultur alle Söhne des weiten 3 Gebietes, die Bulgaren mit-
inbegriffen, sammeln, und in dem Wunsche, daß ihnen auf diese Weise
Oelegenheit geboten werde, sich untereinander kennenzulernen und zu ver-
mischen, daß sie sich an dem Feuer der Wissenschaft veredeln und für ihre
Hauptaufgabe vorbereiten: für ihre nationale Befreiung und Einigung, das
ist für die Bildung eines großen und würdigen modernen nationalen Staates
vom Adriatischen bis zum Schwarzen Meere und von Saloniki bis Marburg.
Die Ideen Strogmayers müssen vom politischen und kulturellen Gesichts-
punkt aus betrachtet werden. Sein Leben ist den gesamten Jugoslaven
derartig gut bekannt wie das keiner anderen führenden Persönlichkeit der
neueren jugoslavischen Geschichte. Es sei hier nur auf die großen Mono-
graphien von Paié-Cepleié, Zagreb 1904, und von Smičiklas,
Zagreb 1906 (lebtere in den Ausgaben der Jugoslavischen Akademie), ver-
wiesen. — Unter den Deutschen, die in Slavonien zu Beginn des 18. Jahrhs.
einwanderten, waren auch die Vorfahren Sts. In der Familie erhielt sich
die Tradition, daß der Wachtmeister Paul Stroßmayer aus Linz an der
Donau zu Anfang des 18. Jahrhunderts nach Esseck gekommen war, als man
die dortige Festung nach dem System Vauban umbaute. Zweifellos war die
deutsche Sprache Muttersprache der Vorfahren Strogmayers; anderseits
trugen Frauen kroatischer Herkunft den kroatischen nationalen Geist und
die serbokroatische Sprache in die Familie. J. J. Stroßmayer (geboren
4. 2. 1815 in Esseck) zeichnete sich bereits in der Schule als ganz außer-
gewöhnlich exzellenter Schüler aus und zeigte auch später als Mann einen
außerordentlichen Verstand und umfangreiches Wissen. Er wurde bereits
1849 zum Bischof von Djakovo in Slavonien ernannt und hatte diese Stelle
bis zu seinem Tode 1905 inne. Seine Ideen: Stroßmayer blieb den Ideen
der Umgebung, in der er aufgewachsen war, treu. Es waren das die Ideen,
die ım katholischen Klerus von Slavonien, Bosnien und Dalmatien seit der
Wirksamkeit Kašić’ im 17. Jahrhundert um sich gegriffen hatten und darauf
gerichtet waren, für Kroaten und Serben eine Literatursprache auf Grund-
lage des 3tokavischen Dialektes unter dem Namen der illyrischen Sprache
zu schaffen. Diese Ideen sog Str. von seinen Lehrern am Essecker Gym-
nasium, das in Händen der Franziskaner lag, ein, und als Gaj mit seiner
Aktion begann, gehörte der slavonische katholische Klerus, besonders der
jüngere, zu seinen begeistertsten und agilsten Anhängern. Die von Gaj
getragene illyrische Bewegung übte auch auf Str. entscheidenden Einfluß
aus, vor allem deshalb, weil erst Gajs Auftreten in die bisherige literarische
und sprachliche illyrische Bewegung auch das politische Moment der natio-
nalen Einheit hineingetragen hatte. Ferner das starke Bestreben, dak nach
der Vernichtung der magyarischen Hegemonie in einer foderativen Habs-
116
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7
burger Monarchie die Gleichberechtigung aller in ihr lebenden Völker her-
gestellt werde. Dieses Programm, der sogenannte Ausiroslavismus, war
zwischen 1830 und 1850 das politische Ideal nicht nur der kroatischen Illyriet,
sondern auch der Tsdiechen, Slovaken, Slovenen und der Serben der
Vojvodina, vor allem des Banus Jelačić und des Patriarchen Rajačić. Ferner
trug der kroatische Illyrismus in das serbokroatische Volk die Idee der
konfessionellen Toleranz, genauer die Idee der Liebe zwischen den kon-
fessionell geschiedenen Brüdern eines Volkes. Das kulturelle Programm
des kroatischen Illyrismus: Bereits 1836 beschloß der kroatische Sabor, von
König Ferdinand V. die Bewilligung zur Gründung einer Gelehrten Gesell-
fi, einer Nationalbibliothek und eines Nationalmuseums, also einer
Akademie, einzuholen. Die Realisierung dieses nationalen Wunsches ver-
hinderten die Magyaren. 1845 beschloß der gleiche kroatische Sabor, an
den König mit der Bitte heranzutreten, daß die Agramer „Juridische Aka-
demie“ zu einer vollständigen Universität erhoben werde, ferner daß das
Agramer Bistum zu einem Erzbistum erhoben und die Episkopate von Senj
(Zengg), KriZevac (Kreuz) und Djakovo ihm untergeordnet werden. Der
Wunsch entsprang dem Bestreben, sich von der kirchenpolitischen Hierarchie
der Magyaren frei zu machen. Diese verschiedenen nationalen Wünsche
begannen der Wirklichkeit entgegenzureifen, als Stroßmayer durch die Be-
mühungen der Illyrier, vor allem des Banus Jelačić, Bischof von Djakovo
wurde. Denn Stroßmayer blieb den Idealen und Ideen seiner Jugend und
seiner Klerikerzeit freu und war als Bischof jener ideale nationale Mensch,
welcher nach den gegebenen Möglichkeiten die Ideen und Bestrebungen der
illyrischen Bewegung verwirklichte. Er war erfüllt von der Überzeugung,
daß er die reichen Einkünfte seiner Stellung für nationale Zwecke und nicht
für persönliches und familiäres Wohlergehen zu verwenden habe. Charak-
teristisch für Stroßmayer ist noch die Hartnäckigkeit und Unwandelbarkeit,
mit der er an seinen Prinzipien, Ideen und Überzeugungen festhielt, sowie
der tiefe Glaube an die Erfüllung seiner Ideen und nationalen Ideale.
Die Grundideen der Nationalpolitik Stroßmayers lassen sich folgender-
maben formulieren: Er vertrat erstens die nationale Einheit im jugoslavischen
Sinne, also als letztes Ziel der gemeinsamen Bestrebungen den gemein-
samen Staat aller Serben, Kroaten, Slovenen und Bulgaren. Deshalb
wendele er sich gegen jede partielle Hegemonie, sowohl gegen die
serbische als auch gegen die kroatische, wie auch gegen die Bestrebungen,
die dem jugoslavischen Programm einen rein kroatischen Charakter ver-
leihen wollten — wie es Kvaternik und Starčević taten — oder einen rein
serbischen Charakter — wie dies Svetozar Miletić und Genossen ver-
traten —, und forderie, daß man in gleicher Weise das Kroatentum wie
auch das Serbentum achten müsse, aber beides zu einem größeren Ganzen,
zu einem Jugoslaventum, verbinden müsse. Er trat damit für eine Synthese
aller jugoslavischen Völker unter Anerkennung der vollen Gleichberechti-
gung nicht nur der Kroaten und Serben, sondern auch der Slovenen und
Bulgaren ein. Als realpolitisches Ziel für die Zeit, solange ein Großteil der
Jugosiaven noch in den Grenzen der Habsburger Monarchie ‚lebt, verlangt
Stroßmayer den nationalen und unabhängigen Staat der Kroaten, Serben
und Slovenen in einem föderativen Österreich. Für die aktuelle nationale
Politik schwebte Stroßmayer und Jelaci¢é als Hauptziel die Vernichtung der
magyarischen Hegemonie als des schwersten Hindernisses für eine Födera-
lisierung Österreichs vor Augen. Daher ist es auch vom Standpunkt der
historischen Wahrheit und Gerechtigkeit aus unrichtig zu behaupten, daß Jelačić
und Stroßmayer 1848 im Dienste des reaktionären Wiener Hofes gestanden
seien und nur für ihre familiären und egoistischen Interessen gearbeitet hätten.
Als das zehnjährige Experiment des Absolutismus vorüber war und 1860
wieder ein neues politisches Leben begann, trat Stroßmayer zum ersten
Male selbständig auf die Oberfläche des politischen Lebens und vertrat im
gleichen Jahre im Verstärkten Reichsrat in Wien die Idee eines föderativen
Österreichs, verlangte das dreieinige Königreich, nämlich die Vereinigung
von Kroatien, Slavonien und Dalmatien, mit nationaler Dienstsprache. Dieses
117
Prinzip vertrat Stroßmayer dauernd, auch dann, als durch den österreich-
ungarischen Ausgleich 1867 und durch den kroatisch-ungarischen staats-
rechtlichen Ausgleich 1866 bzw. 1873 jede Hoffnung auf Verwirklichung
seines Programmes geschwunden war. Aus diesen Griinden war auch
Stroßmayer in den Augen der Magyaren „der gefahrlichste Gegner“, wie
ihn gelegentlich der ungarische Historiker Wertheimer bezeichnet. — Stroh-
mayer arbeitete ferner programmatisch darauf hin, dak es zwischen den
beiden Hauptkirchen, der katholischen und orthodoxen, auf der Basis der
slavischen Kirchensprache zur größten Toleranz, gegenseitigen Liebe und
Achtung, zu ciner möglichst starken Annäherung komme. Diese Ideen von
der Vereinigung bzw. Annäherung der beiden Kirchen haben nicht nur
politische, sondern auch kulturelle Bedeutung. Siroßmayer, der in einem
Gebiet lebte, in dem es Anhänger beider Kirchen gab, war früh zur Einsicht
gelangt, daß in der konfessionellen Spaltung und in der tiefen Kluft
zwischen der westlichen und östlichen Kirche das größte nationale Übel der
Siidslaven liege. Denn kein anderes katholisches oder orthodoxes Volk
auf der Welt mußte so auf eigenem Körper die traurigen Folgen der
Kirchenspaltung spüren wie gerade die Kroaten und Serben. Stroßmayer
war sich bereits bewußt, daß die Einheit der Kirchen auch eine Einheit des
Geistes, besonders bei den breiten Volksmassen, beinhalte, die Einheit des
Geistes aber eine Grundbedingung der Sicherung der politischen Einheit sei.
In der praktischen Tätigkeit an der Annäherung der beiden Kirchen arbeitete
Stroßmayer aus der Erkenntnis der Tatsache, daß jede orthodoxe Kirche
national, die katholische Kirche aber international ist, daran, der Einigung
im Wege der Nationalisierung der katholischen Kirche bei den Kroaten
(eventuell auch bei den Slovenen) näher zu kommen, und zwar durch Ein-
führung der slavischen Kirchensprache, so wie sie von alters her in einzelnen
kroatischen Bistumern im Küstenland in Gebrauch war. Bei diesem Be-
streben stick Stroßmayer auf viel größere Hindernisse, als er erwartet
hatte, und zwar nicht so sehr in Rom, als vielmehr in Wien und Budapest,
aus begreiflichen Gründen, da ja den Wiener und Pester politischen Kreisen
eine engere Annäherung der Kroaten und Serben nicht erwünscht war.
Das schwerste Hindernis lag allerdings im Primat des Papstes, von dem
Stroßmayer als uberzeugter Katholik nicht abzugehen gedachte, zumal ihm
die Idee einer Union vorschwebte. Gegen ein Primat des Papstes erhob
sich auch ein erbitterter Widerstand der orthodoxen Kreise. So mußte sich
Stroßmayer in diesem delikaten Problem darauf beschränken, die gegen-
seitige Liebe und Achtung zwischen den Anhängern der beiden Kirchen zu
predigen. Anscheinend war die bekannte oppositionelle Stellungnahme
Stroßmayers beim vatikanischen Konzil 1869/70 gegen die Unfehlbarkeit des
Papstes in kirchlichen Lehren auch durch den Gedanken begründet, daß
dies neue Dogma die katholische Kirche noch mehr von der orthodoxen
entfernen werde, also die geistige Einigung der Kroaten und Serben noch
mehr erschweren werde.
Stroßmayer vertrat ferner die Idee der slavischen Solidarität im Sinne
J. Kollärs, den Stroßmayer aus Pest kannte, aus dem Bewußtsein heraus,
daß es den slavischen Völkern nur durch die slavische Solidarität möglich
sein werde, sich im internationalen Kampfe um die Existenz zu erhalten.
Daher sein Interesse für alle Slaven und seine Beziehungen mit allen be-
deutenden Persönlichkeiten des gesamten Slaventums, daher auch seine
Liebe für das Sokolwesen, für die ersten slavischen Pioniere und Kämpfer
für die nationale Einigung. Daher sein bekanntes Telegramm nach Kiew
anläßlich der Jahrtausendfeier der Taufe der Russen. Im Geiste dicser
slavischen Solidarität kämpfte Stroßmayer auch für die Autonomie der
Serben und Bulgaren innerhalb der Grenzen des türkischen Reiches; er
unterstützte auch materiell die jugoslavischen Christen in Bosnien, Her-
zegovina und Aliserbien, indem er ihnen große Geldsummen für die An-
schaffung von Waffen zur Verfügung stellte. Besondere Aufmerksamkeiten
wendete er den bosnischen Franziskanern zu und kümmerte sich um ihren
Nachwuchs und um ihren geistigen Fortschritt. Die. Frage der materiellen
118
Unterstützung der serbischen Aufständischen in der Türkei war, wie wir
heute wissen, der Inhalt der geheimen Besprechungen zwischen Stroßmayer
und dem serbischen Fürsten Mihailo Obrenović. Da die Katholiken in
Belgrad und in Serbien ihm gruen unterstellt waren, hatte Sitroßmayer
die Möglichkeit, dienstlich nach Serbien zu reisen und dort mit dem Hof
und der Regierung in Berührung zu treten. Auch mit den Slovenen hatte
Strozmaver enge Beziehungen, war mit Bart. Vidmer, dem späteren Lai-
bacher Bischof, und mit Doktor J. Bleiweiß und auch mit dem Bischof Martin
Slomšek gut bekannt. Er verlangt 1860 im Wiener Reichsrat, daß den
Slovenen die slovenische Unterrichtssprache in ihren Schulen gegeben
werde. Er unterstützte reichlich alle slovenischen kulturellen und nationalen
Institutionen.
Siroßmayers kulturelle Ideen: Stroßmayer war sich bewußt, daß eine
nicht aufgeklärte und nicht kultivierte Volksmasse von verschiedensten Vor-
urteilen beherrscht ist und alle Dinge nur vom Standpunkt der lokalen und
regionalen Interessen aus beurteilt, daß also eine derartige Masse nicht
fähig ist, irgendwelche größere und nationale Probleme zu erfassen und
zu verstehen. Daher müssen diese Volksmassen, um für eine politische
Einigung reif zu werden, kulturell gehoben werden, die Kultur ist eine
Grundbedingung für eine erfolgreiche nationale Politik. Das Volk muß
zuerst wissen, was Volk, Heimat, Freiheit und nationale Einigung bedeuten,
und erst dann kann man auf die Realisierung dieser erhabenen mensch-
lichen Ideale schreiten, weil sich erst nach einer derartigen Aufklärungs-
und Erziehungsarbeit das Volk als eine Einheit fühlt und die öffentlichen
Angelegenheiten von einem weiteren Gesichtspunkt und von allgemeinen
nationalen Interessen aus zu beurteilen in der Lage ist. Daher seine Devise:
„Durch Aufklärung (Kultur) zur Freiheit“. Im Geiste dieser Ideen machte
sich Stro mayer an die Organisierung der kulturellen Einheit und Einigung
der Südslaven als der notwendigen Vorstufe für die politische Einheit und
die Zukunft und legte die finanziellen Grundlagen zur Schaffung der ob-
genannten Kulturinstitutionen, der Akademie 1860, der Universität 1874.
Der Jugoslavischen Akademie stellte er bei der Gründung ausdrücklich die
Aufgabe, sie solle in erster Linie die Geschichte, Literatur und Sprache der
Sudslaven untersuchen und eine einheitliche Liferatursprache schaffen. Bei
der Gründung der Universität sagte er: „Wir sind durch den jahrhunderte-
langen Kampf, den wir gegen die Barbarei und für die christliche Kultur
führen mußten, sehr geschwächt worden. Die Glieder unseres Körpers sind
noch heute zerrissen. Unsere Universität hat gerade diese heilige Aufgabe,
das Volk zu einen und in innere Verbindung zu bringen, damit sich das,
was Ungerechtigkeit und ein ungünstiges Schicksal von unserem „Körper
weggerissen haben, wieder unserer allgemeinen Mutter anschließe.“ Nach
Siroßmayer sollten die Akademie und Universitat ein Zentrum der kul-
turellen Tätigkeit aller Südslaven werden. Er erwartete von der Akademie,
daß sie eine jugoslavische wissenschaftliche Ideologie ausbaue und eine
allgemeine südslavische Literatursprache schafle, von der Universitat, daß
sie eine Generation fähiger nationaler Arbeiter heranziehe, damit man dann
leicht und mit Erfolg der Realisierung weiterer Konsequenzen der nationalen
Einigung nahetreten könne. J. Matl.
A. Vaillant: Marko Kralevié et la Vila. Revue des études slaves.
T. 8 (1928), 1—2, S. 81—85.
Der Gesang vom Ritt des Marko Kralevié und seines Kreuzbruders
Miloš Obilić, wie er in Vuk Karadžić’ „Srpske narodne pesme“ 2, Nr. 38,
wiedergegeben ist, zeigt in einer Fülle von Einzelheiten, daß ein ursprüng-
licher Text hier stark abgeändert vorliegt. V. zieht zum Vergleich Varianten
heran aus den von der Matica Hrvatska herausgegebenen „Hrvatske narodne
pjesme” 1, Nr. 8—11, und aus der von Petranović herausgegebenen Samm-
„Srpske narodne pjesme iz Bosne i Hercegovine“ 2, Nr. 23, welche es
ermoglichen, den urspriinglichen Sinn des Hergangs und die ihrem mytho-
119
logischen Charakter entsprechenden Eigenschaften der Vila wiederzufinden.
V. kommt bei diesen Untersuchungen zu einem anderen Urteil als Maretić
in „Naša narodna epika“. Emmy Haertel.
Gerhard Gesemann: Volkslieder von der Insel Curzola.
Aufgez. von Dr. med. Kuzma Tomašić. Archiv fur Slav. Philo-
logie. 42 (1928), 1/2, S. 8—31.
Die dalmatinischen Inseln, insbesondere Lissa, Lesina und Curzola,
haben in ihrer Volksepik einen von den anderen Regionen Südslaviens ab-
weichenden Charakter und stellen ein Stadium in der geschichtlichen Ent-
wicklung der Epik dar, welches G. als „Thesaurierung in den letzten Atem-
zügen“ bezeichnet; die epische Tradition entbehrt hier der Lebenswärme,
welche ihr z. B. im montenegrinisch-albanischen Grenzgebiet noch eigen
ist, hat sich aber andererseits freigehalten von derartigen Zeichen des Ver-
falls der heroisch-patriarchalischen Grundstimmung dieser Dichtungsart, wie
sie ältere und neuere Sammlungen aus den pannonischen Gebieten erkennen
lassen. Diese insulare Epik hat einige Ähnlichkeit mit dem Zustand der
russischen Volksepik zur Zeit ihrer eee Fixierung im 19. Jahr-
hundert. Die Gesänge werden aber nicht mehr zur Guslenbegleifung in
einem ihrem Inhalt adäquaten Hörerkreis vorgetragen, nur alte, mit guiem
Gedächtnis begabte Frauen sagen sie in singendem Tonfall den Kindern vor.
Sie zeigen oft einen romantisch-sentimentalen Einschlag, den G. zum Teil
auf Einflüsse der südslavisch-italienischen Kultur zurückführt. Dr. Tomašić
hatte im Herbst 1913 im Dorfe Smokovica eine alte Frau ihrem Enkel ein
Lied von Strahinj-ban singen hören und zeichnete einige Lieder dieser
Sängerin auf. Er kann sich aus seiner eigenen Kindheit erinnern, nur noch
alte Frauen solche Lieder ohne Begleitung singen gehört zu haben, auch
damals sangen sie Männer nicht mehr. Das in den hier wiedergegebenen
Liedern mitenthaltene Lied „Markova sestra vojvoda“ stammt nicht aus den
Aufzeichnungen des Dr. Tomašić, sondern von dem Theologen D. Tomašić.
Lied 1 „Kraljevi€ Marko i vila vodarkinja“ unterscheidet sich von den sonst
bekannt gewordenen Varianten durch den Ausgang der Handlung, der in
Ubereinstimmung mit altertümlichen Prosaüberlieferungen den Helden, der
das Tabu des Wassers verletzt hat, der verdienten Strafe überliefert. Nr. 4
„Ljuba Ive Senjanina“ zeigt, im Vergleich zu dem gleichen Text, welchen
Leskien auf Curzola aufgezeichnet und Archiv V veröffentlicht hatte, wie
schnell dort der Volksgesang abgestorben ist, es liegen nur wenige jahr-
zehnte zwischen der Leskienschen Aufzeichnung und der von Tomašić, die
letztere zeigt aber nichis mehr von den Rachegefühlen der Mare beim
Wiedersehen ihres ungerechien Gatien. Eingehend verweilt G. bei Nr. 6
„Siroinie Ban“. Er nennt die vorhandenen Varianten und hebt die grob-
artige ethische Auffassung durch den Sänger Milija (bei Vuk) hervor, welcher
den Helden Sirahinha, im Gegensab zu der echt balkanischen Gesinnung seines
Schwiegervaters, der von dem Türken geraubten und ihm abspenstig gemach-
ten Frau verzeihen laßt. Die von Grd'ié-Bjelokosié in der Bosanska Vila
225, 21 gegebene Variante des Liedes gibt G. Anlaß zu Erorterungen dar-
über, ob man darin etwa eine, z. T. mißverstandene Wiederholung des Vuk-
schen Textes zu sehen hat oder nicht. Das Lied, welches Dr. Tomašić
aufgezeichnet, zeigt große Lücken in der Handlung, verglihen mit dem
Text bei Vuk. Die übrigen fünf Lieder und einige Liedanfänge geben nur
zu kurzen Bemerkungen Anlaß. Emmy Haertel.
Wolfango Giusti: Miroslav Krleža. — Rivista di letterature
slave. Anno 3, 2. (1928). S. 163— 175.
Krleža verdankt, ebenso wie Jaroslav Hašek, zum großen Teil seinen
Ruhm der Kritik des Auslandes, auf die, beiden charakteristischen Züge, geht
G. am Schlusse seines Aufsakes ein. Nach der Meinung Giustis war es in
120
Italien zuerst die Zeitschrift „Delle“ in Fiume, welche auf Krleža hinwies,
jedenfalls war er bereits in Deutschland und in der Cechoslovakei bekannt
und geschäßt, als in Jugoslavien uber ihn die Urteile noch ganz im unklaren
waren. KrieZa gehört, seinem Geburtsjahr (1893) nach, der alteren Gene-
ration an, die Kriegsjahre kennzeichnen in ihm eine Grenzlinie des Denkens
und Schaffens. In der ihnen voraufgegangenen Zeit durch Nietzsche einer-
seits und Vojnovié andererseits beeinflußt, gewähren seine Dichtungen den
Eindruck einer noch nicht gefestigten Ideenwelt, einen Ideenreichtum, in dem
der Wille zur Macht eine führende Rolle zu haben scheint, während die ge-
samie Umwelt, bis zu den geringfugigsten Dingen herab, den Dichter an-
zieht. In den scharfen Kontrasten von Licht und Schatten in den Schopfun-
gen jener Jahre findet G. etwas den italienischen Scicentisten Ähnliches. In
den in Zagreb i. J. 1919 erschienenen „Pjesme“, vor allem in denen des
3. Bandes, zeigt sich bereits die durch den Weltkrieg hervorgerufene Um-
orientierung. Der Niebschesche Ubermensch weicht einem kollektiveren
Begriff von Leben und Kunst. Indessen herrschen auch hier gewollte scharfe
Kontraste vor und ein Sireben, gegen die Strömung zu schwimmen. G.
analysiert daraufhin die Gedichte „Plameni viefer“, ,,Predvecerje u pro-
vincijalnoj varo3ici“ u. a. Noch in den Dichtungen aus dem J. 1918 herrscht
eine lyrische Phantastik vor, welche durch die Zeitereignisse ausgelöst wird,
im 3. Band dagegen gewinnt die politische Einstellung an Boden, so ist
„Venerdì santo 1919" dem Gedächtnis von Karl Liebknecht, „Pjesmo naših
dana“ ganz politischen Tagesfragen gewidmet. Am bekanntesten ist Krieza
durch die „Hraviska Rapsodija“ vom J. 1917 geworden, in der G. formelle
Anklänge an Marinetti, Ideenanklänge an Majakovskij finden will.
Krleža wird zum eingefleischten Gegner der lyrischen Sentimentalitäl,
der humanitären Fortschrittsidee und des individuellen Asthetentums. Selbst
Vojnović, ebenso wie viele allgemein anerkannte und geschätzte kroatische
Schriftsteller, entgeht nicht seiner geringschabigen Kritik. Krleža sieht in
ihm nur einen Nachahmer Annunzios.
Unter seinen Erzählungen nimmt „Tri Domobrana“ einen besonderen
Platz ein. In Kroatien, ähnlich wie in der Cechei, bestand zu Beginn des
Weltkrieges der Dualismus zwischen Staats- und Rassenzugehötigkeifl wäh-
rend aber die Mehrzahl der Cechen sich von Anfang an auf die Seite der
Entente gestellt hatte, sympathisierte in Kroatien die Mehrzahl mit Oster-
reich. KrieZa nahm nun den Kampf auf gegen den österreichischen Servilis-
mus wie gegen das Schwanken zwischen Österreich und Jugoslavien. Man
hat die „Tri Domobrana“ häufig mit Hašeks „Švejk“ verglichen. Troß der
unleugbaren Ähnlichkeit des Stoffes, den beide dem Weltkrieg entnehmen,
besteht aber doch eine beträchtliche Verschiedenheit unter ihnen. Der
Geist, der aus Hašeks „Svejk“ spricht, ist von äbender Ironie, in Krlezas
Erzählung ist dagegen oflene Kampflust zu spüren. Hier fehlen gänzlich,
oder sind nur selten anzutreffen, friedliche, komische Szenen, die gesamte
Handlung ist kürzer, konzentrierter und qualvoller. Selbst das humoristische
Element darin wirkt tragisch und erinnert an gewisse Blätter Goyas.
In den Dramen KrieZas sieht G. den Hauptwert in deren Aktualität und
„kinematographischen“ Technik. G. halt es für kaum möglich, schon jebt
zu einem abschließenden Urteil über Krieza zu gelangen, denn noch hat
dieser sicher nicht sein letztes Wort gesprochen; das große Interesse, welches
das Ausland an ihm nimmt, erscheint ihm jedoch unter jedem Gesichtspunkt
gerechtfertigt. Emmy Haertel.
Arturo Cronia: Offone Zupantié. — Rivista di letterature
slave. Anno 2, Fasc. 4. 1927. S.579—594.
V. Der Betrachtung von Zupanéié’s „Samogovori“ (Lubiana 1908) ist
als Motto ein Schopenhauerscher Ausspruch vorangestellt. je reicher der
Mensch in sich selbst ist, um so weniger können ihm andere niiblich sein.
Die Wahrheit dieses Wortes ist von Zupanéié tief empfunden worden. Das
Unlösbare sozialer Fragen erzeugt ein Gefühl des Ekels und der Unlust
121
vor sozialen Kontakten. Daher wird die Einsamkeit vorgezogen. Aber
seine Einsamkeit „ist nicht ein krankhaftes Zeichen des Pessimismus.
Sie ist eine Bejahung von Nießschianischem Charakter.“ Daher die Doppel-
natur der Monologe. Ein Blick sucht die Lufträume der Unendlichkeit, der
andere verfolgt die Mäander des wirklichen Lebens. Und immer bleibf das
Herz des Dichters Schwerpunkt des Ganzen. Hieraus erklären sich auch
gewisse Unklarheiten, die ihrerseits die unfreundliche Aufnahme der Mono-
loge bei gewissen Kritikern verursacht haben mögen. Das Streben nach
Wahrheit und Gerechtigkeit wird immer wieder durch den Zweifel auf-
gehalten. Ein erschütternder Beweis dieser Zwiespältigkeit liegt vor in der
Dichtung „Vizija“, die Cronia dem Inhalt nach wiedergibt. Zupanlic ge-
langt schließlich zu seinem Gottesbegriff, ebenso wie Kant, nicht vermittelst
der göttlichen Offenbarung, sondern durch die klare und strenge Gewißheit
des eigenen Gewissens. Er kommt zu seinem GottesbewuBtsein auf intellek-
tuellem Wege. — In den Samogovori klingt mächtig auch der vaterländische
Gedanke an. Sein Blick umspannt die georgische Welt des slovenischen
Volkes und das heiße Leben der Städte. Schließlich klingt auch der für
Slovenen und Slovaken so bedeutungsvolle Lockruf der Fahrten über das
Weltmeer mit hinein. Emmy Haertel.
RUSSLAND
M.N. Tichomirov: Sela i derevni Dmitrovskogo kraja v XV—XVI
veke: Trudy obSéestva izucenija moskovskoj gubernii, vyp. |
(1928), S. 5—34.
Einer Einleitung, die historisch- geographisch über die Veränderungen
der Grenzen des Territoriums Dmitrov unterrichtet, die Naturreichtümer und
auf Grund der Ortsnamen die Kolonisation des Gebiets bespricht, ferner
die Verteilung der Erb- und Lehngüter des Adels und des klösterlichen
Orundbesitzes untersucht, folgen als besondere Abschnitte ein historisch-
geographisches Verzeichnis der Siedlungen im Gebiet von Dmitrov im 15.
und 16. Jahrhundert mit einer Karte und Quellenangaben. F. Epstein.
E. A. Zvjagincev: Moskovskij kupec kompanej3äik Michajla
Gusjatnikov i ego rod (Der Moskauer Handelskompagniekaufmann
M. Gusjatnikov und sein Geschlecht): Trudy obS¢estva izuéenija
moskovskoj gubernii, vyp. I (1928), S. 61—74.
Vorfahren der im 18. Jahrhundert in Moskau als wirtschaftliche Unter-
nehmer zu großem Wohlstand gelangten Familie Gusjatnikov begegnen
gegen Ende des 17. Jahrhunderts im Dienst der Zobelkasse (Sobolinaja
kazna) beim Prikaz für Sibirien, die die Einkünfte der Krone an Zobelfellen
und anderen Kostbarkeiten verwaltete. 5
Petr Gusjatnikov gehörte mit seinen vier Söhnen Michail. Aleksei,
Prochor und Petr zu einem Konsortium von siebzehn Teilhabern, an das
1730 auf zehn Jahre der Vertrieb von alkoholischen Getränken in Moskau
verpachtet wurde. Michail Gusjatnikov war dann von den vierziger bis in
die siebziger Jahre der reichste Kaufmann Moskaus. Außer seiner Teil-
haberschaft in der Handelskompagnie, die das Monopol für den Spirituosen-
verkauf besaß, waren Industriebetriebe (Hüte- und Leinwandfabrikation),
ein auf zahlreiche Ladengeschäfte verteilter Großhandel in verschiedenen
Artikeln und Hausbesit die Quellen seines Reichtums. Unter den folgenden
Generationen ging die wirtschaftliche Machtstellung, die Michajl der Familie
errungen hatte, unaufhaltsam zurück. Michajls Nachkommen gehörten ihrem
Stand und ıhren Interessen nach nicht mehr ausschließlich der Kaufmann-
schaft an, sondern begegnen in wissenschaftlichen und Künstlerkreisen;
andere kamen als Gutsbesiger in nähere Beziehung zum grundbesigenden
Adel. F. Epstein.
122
G. A. Novickij: Pervye Moskovskie manufaktury XVII veka po
obrabotke koži (Die ersten Moskauer Manufakturen für Leder-
bearbeitung im 17. Jahrhundert): Trudy obScestva izulenija mos-
kovskoj gubernii, vyp. I (1928), S. 47—60.
In einem wertvollen Beitrag zur Geschichte der Wirtschaftspolitik im
Ausgang der Moskauer Periode ergänzt Novickij das Bild der Hofwirtschaft
des Zaren Alekséj Michajlovič, das A. |. Zaozerskij auf Grund der Akten
der Geheimen Kanzlei des Caren (Tajnyi prikaz) gezeichnet hat (,,Car
Alekséj Michajlovič v svoem chozjajstv&“, 1917). In der Untersuchung über
die Kronbetriebe zur Saffıan- und Lederfabrikation in den sechziger und
siebziger anren des 17. Jahrhunderts sind die Zusammensetzung und die
Lohnverhältnisse der Arbeiterschaft eingehend dargestellt. Die Werkmeister,
häufig Ausländer, wurden als Hüter des Fabrikationsgeheimnisses hoch be-
soldet. Die Verständigung zwischen Meister und Lehrlingen war oft recht
schwierig; so mußte z. B. für einen in Astrachan als Meister für die Her-
stellung von Saffan angeworbenen Armenier ein besonderer Dolmetscher
gehalten werden. F. Epstein.
A. L Voronkov: Kašira v XVII veke: Trudy obščestva izucenija
moskovskoj gubernii, vyp. I (1928), S. 35—46.
An Stelle des alten Kašira auf dem linken Okaufer (nahe der Ein-
mündung der Kaširka), das in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts stark
unter den Einfällen der Tataren zu leiden hatte, entstand zwischen 1613 und
1624 eine neue hölzerne Festung Kašira auf dem rechten Ufer der Oka.
Die Befestigung der Stadt und die Armierung mit Geschützen wurde
nach einer Periode der Vernachlässigung, in der größerer Wert auf die
Instandhaltung der vorderen Verieidigungslinie im Süden mit Putivl, Bel-
gorod, Ryrsk gelegt worden war, in den siebziger Jahren erneuert. Zwischen
1679 und 1687 ist in Kašira als Festungsbaumeister ein Deutscher, der „In-
genieur und Oberst“ Gabriel von Turner, bezeugt; in russischen Schrift-
stucken kommt er als Gavril Ferturner oder Hanka Fanturner vor.
Sehr bald nach der Verlegung der Stadt vom linken auf das rechte
Okaufer begann sich in Ka3ira Handel und Gewerbe in bescheidenem Um-
fang zu entwickeln. Eine Tabelle zeigt die berufliche Gliederung der Be-
völkerung von Kašira in den Jahren 1617 bis 1627, 1646 und 1678: 1646 zählte
die Stadt rund 600 männliche Einwohner, die überwiegend zur militärischen
Besakung gehörten.
in der Korrespondenz zwischen der Zentralregierung in Moskau und
den Voevoden der Stadt werden häufig Entsendungen von dienstplichtigen
Leuten, die in Kašira stationiert waren, nach südlicher gelegenen befestigten
Punkten (Tambov, Putivi, Belgorod, Ryl'’sk, Sevsk usw.) erwähnt. Im Jahre
1660 wurde der Voevode M. N. Pisarev angewiesen, von Ka3ira Handwerks-
meister mit den nötigen Vorraten zum Bau von Booten an den Don zu
schicken, wo eine Donflotte ausgerüstet werden sollte. Die Unlust der Ab-
kommandierten, dem Befehl Folge zu leisten, war so groß, dab seine Aus-
führung durch die Drohung, im Weigerungsfalle würden Dienst- und Erb-
güter unwiderruflich eingezogen werden, erzwungen werden W ,
. Epstein.
M. S. Pomerancev: Certy dvorcovogo chozjajstva v Dmiłrove v
XVI -XVIIl vv. Züge aus der Hofwirtschaft in Dmitrov im 17. und
18. Jahrhundert): Moskovskij Kraeved, vyp. 5 (1928), S. 3—8.
Dmitrov war im Ausgang des 17. und in den ersten Jahren des 18. jahr-
hunderts durch die sog. konjuSennaja sloboda, deren Abgaben an den
carischen Marstall gingen, durch Wiesengelände, das dem Herrscher gehörte,
vor allem aber durch seine Fischteiche in die Wirtschaft des Moskauer Hofes
125
-æ
verflochten. Aus der Zeit Peters d. Gr. werden einige wirtschafiliche Mag
nahmen der Regierung erwähnt: Die Heranziehung von Dmitrover Han
werkern zum Bau von Petersburg und Kronstadt; Anweisungen, Erzeugnisse
der Dmitrover Gemüse- und Obstkuliuren nach Petersburg zu ver-
pflanzen, usw. F. Epstein.
K. V. Sivkov: Podmoskovnaja voicina serediny XVIII v.: Trudy
ob3testva izučenija moskovskoj gubernii, vyp. 1 (1928), S. 75—96.
Das Kirchdorf Pavlovskoe mit Zubehör, über das der Aufsab handelt,
gehörte der Gräfin Anna Bestuževa, der Gattin des Vizekanzlers A. P.
BestuZev, aus ihrer ersten Ehe mit Graf P. I. JaguZinskij. Die Darstellung
gründet sich auf ein Liegenschafts- und Inventarverzeichnis vom Jahre 1743
und auf Akten über Bauernunruhen, die 1750 bis 1754 auf der Pavlovskaja
voicina stattfanden. F. Epstein.
V. I. Piéeta: Francuzskie diplomaty o torgovie Rossii s Franciej
v pervye gody carsivovanija Ekaleriny II (Französische Diplo-
maten über den Handel Rußlands mit Frankreich in den ersten
jahren der Regierung Katharinas ll): Trudy Belorusskogo Gosu-
darstvennogo Universiteta Nr. 20 (Minsk 1928), S. 172—197.
_ Piteta erläutert nach den in Band 140 (1912) und 141 11913) des Sbornik
imperat. russk. istoric. ob3testva veröffentlichten Korrespondenzen zur Ge-
schichte der diplomatischen Beziehungen zwischen Rußland und Frankreich
die französischen, völlig vom Gegensatz Frankreichs zu England beherrschten
Erwägungen für und wider den Abschluß eines Handelsvertrags mit Ruß-
land. Wiederholter Diplomatenwechsel und das Vorherrschen politischer
Fragen bereiteten einer handelspolitischen Erörterung Hindernisse. Der
Eindruck der Argumentationen des Botschafters Marquis de Beausset, der
seiner Regierung den Abschluß eines Handelsverirags nahelegte, weil er
im direkten Handel Rußlands mit Frankreich ein wirksames Mittel zur wirt-
schaftlichen und politischen Schwächung Englands erblickte, wurden paraly-
siert durch die Berichte des Vertreters der nichtoffiziellen Diplomatie des
Königs Ludwigs XV, des Konsuls Rossignol. Während de Beausset mit
Beklemmung das Zustandekommen des englisch-russischen Handelsvertrags
von 1766 beobachtete, leugnete Rossignol die Abhängigkeit der Handels-
beziehungen zwischen zwei Ländern von der jeweiligen politischen Kon-
unkfur und fand sich mit der Beherrschung des russischen Markts durch
England ab. Dagegen gehörte der französische Bankier und Vizekonsul
in Petersburg, Raimbert, zu den Befürwortern eines Vertrags.
__ Piéeta gelangt zu dem Schlusse, daß das Kontinentalsystem Napoleons I.
sich in seinen Ursprüngen bis in die Epoche des Ancien Régime zurückver-
folgen lasse, wo es in der offiziellen Korrespondenz der französischen Ge-
sandien in Rußland mit ihrer Regierung zum Ausdruck gelange, wobei den
Diplomaten interessierte und kompetente Vertreter des französischen Bür-
gertums, die mit dem Petersburger Platz in Geschäftsbeziehungen standen,
sekundierten. F. Epstein.
B. B. Kafengauz (Kafenhaus): Kupeceskie memuary (Memoiren
von Kaufleuten): Trudy obScestva izulenija moskovskoj gubernii,
vyp. I (1928), S. 105—128.
Kafenhaus gelingt mit Hilfe der lim Gegensatz zur Hinterlassenschaft
an Memoiren des russischen Adels) bisher vernachlässigten, bis auf den
Anfang des 19. Jahrhunderts zuruckgehenden, Aufzeichnungen von Ange-
hörigen des Kaufmannsstandes eine fesselnde Schilderung des Milieus der
Moskauer Kaufmannschaft und der Moskauer Fabrikantenkreise in der Mitie
des 19. Jahrhunderts. Besonders die Aufzeichnungen von N. Najdenov, der
124
1905 als Vorsitzender des Moskauer Borsenkomitees starb, erhellen die Be-
deutung der Reformen der sechziger Jahre für den Kaufmannsstand, der in
seiner sozialen Stellung gehoben wurde und in der Diskussion über einen
Handelsvertrag mit dem deutschen Zollverein der Regierung eindringlich
seine Wünsche vortrug. Der Aufsatz vermittelt Einblicke in die Psychologie
des russischen Unternehmertums; er erzählt vom Aufstieg einer Anzahl her-
vorragender Vertreter eines wesentlichen Teils des russischen Bürgertums
und zeigt, wie man in den Kreisen der Moskauer Großkaufleute im Wandel
der Zeiten verschieden über den eigenen Stand, den Staat und die Wirt-
schaft dachte. F. Epstein.
A. Koyré: La jeunesse d’lvan Kiréevskij. Le Monde slave. 5. Jg.
(1928), Nr. 2, S. 212—238.
Der Aufsatz, der sich mit einer größeren Arbeit des Autors: „Les ori-
gines ef la formation de la doctrine slavophile“ vielfach berührt, gibt eine
Vorstellung von der geistig angeregten Atmosphäre, in der Kiréevskij (geb.
1806) aufwuchs. An Hand der Briefe, die er 1830 von Berlin und München
an seine Angehörigen schrieb, überzeugend auszuführen, wie Kiréevskij sich
während seines Studiums mit Hegel, Schleiermacher und Schelling aus-
einandersebte, ist Koyré nicht gelungen. F. Epstein.
M. A. Bakunin (Neue Materialien). Krasnyj Archiv, Bd. 17, S. 138
bis 155.
Mit orientierenden Begleitworten bringt Vjaé. Polonskij den Text des
zweiten Aufrufs Bakunins an die Slaven von 1848 und.ein Elaborat der
I. Abteilung aus dem Jahre 1865 unter dem Titel „Michail Bakunin, wie er
sich selbst schildert“. .
Das erste Stück entdeckte Polonskij 1925 im Dresdener Staatsarchiv
unter den Akten Bakunins. Es fehlt in der Ausgabe der Werke Bakunins
und ist auch dem Bakuninbiographen Nettlau entgangen. Das zweite Stuck
von unbekannter Hand hatte den Zweck, den in Schweden 1863 mehr als
unbequemen Bakunin zu diskreditieren. Es wurde mit Allerhöchster Ge-
nehmigung eiligst auf Grund der „Beichte“ Bakunins, seines Briefes an
Alexander ll., seiner Briefe aus Sibirien an Fürst Dolgorukov usw., die alle
im 1. Bande der „Materialy dlja biografii Bakunina“ (Gos. Izd. 1925) ver-
Offentlcht worden sind, zusammengestellt. Aus unbekannten Gründen kam
es 1865 nicht zur Publikation der Schmähschrift, 1870 ist vorübergehend
wieder an die Publikation gedacht und in dieser Absicht die Schrift up to
date gebracht worden. Der hier publizierte Text folgt der Variante von 1870.
Harald Cosack.
Aus dem unveroffentlichten Roman von N. G. CernySevskij: „Die
Gleichnisse von A. A. Syrnev.“ — Novyj Mir, Nr.7, 1928, S. 182
bis 194.
Der bekannte Historiker P. Scegolev veröffentlicht hier unter dem
Titel ,,Pritéi A. A. Syrneva“ Fragmente eines Romans aus dem Nachlaß von
CernySevskij. Dieser Roman, „Erzählungen in einer Erzählung“ („Rass-
kazy w zasskaze“) betitelt, sollte nach dem Muster von „Tausend und eine
Nacht“ aufgebaut werden. Die literarische Produktivität CernySevskij’s ist
erstaunlich: während der 22 Monate seiner Haft in der Peter-Paulsfestung
(1862—64) schrieb er uber elf Druckbogen im Monat voll; dabei erstreckte
sich seine Tätigkeit auf sämtliche literarische Gebiete: er ubersefte, ver-
faßte wissenschaftliche Arbeiten, schrieb Erzählungen und Romane. Der
Einfluß seines Hauptwerkes ,,Cto delat’ („Was tun?) auf die Jugend der
60er Jahre ist bekannt. Es war sein erstes belletristisches Werk und zu-
gleich das einzige, das noch zu seinen Lebzeiten Verbreitung fand. Seine
125
übrigen Werke aus der Haftzeit wurden in der berüchtigten Ill. Abteilung
versiegelt aufbewahrt; erst die Revolution ermöglichte den Forschern das
Studium dieser Werke.
_ Die hier zum Druck gebrachfen Fragmente stellen ein „Gleichnis“ oder
eine kleine Geschichte dar, die in 4 ineinander übergehende, aber kaum mit-
einander organisch verbundene Teile zerfällt. Der Held der Gleichnisse ist
ein junger Schriftsteller Syrnev, ein „neuer Mensch mit einem neuen Moral-
kodex“, dessen Charakter einige autobiographische eige aufweist.
ugenie Salkind.
Das Attentat Karakozovs vom 4. April 1866. Krasnyj Archiv, Bd. 17,
S. 91—137.
Das, was hier Aleksej Silov und M.Klevenskij veröffentlichen, ist nicht
durch das 1928 im Verlage des Centrarchiv im 1. Bande erschienene Werk
„Pokušenie Karakozova. Stenograficeskij otlet po delu D. Karakozova,
l. Chudjakova, N. I3utina i dr.“, das von M. Klevenskij und K. Kotel’nikov
herausgegeben wird, überholt. Jenes Werk gibt nur die Gerichtsverhand-
3 während dieses Material, das z. T. in der Gerichtsverhandlung nur
leichthin, z.T. gar nicht erwähnt wurde, den Akten der Muravevschen Unter-
suchungskommission stammt und das schon damals in Vorbereitung befind-
liche obige Werk ergänzt. Der eine Teil der Veröffentlichung bezieht sich
auf das Zustandekommen des Aftentats und die Haltung der einzelnen
Verhafteten während der Untersuchung, der andere Teil gibt Einblick in
die Ideologie der einander bekämpfenden Richtungen mit dem Ziele der
politischen und der wirtschaftlichen Revolution. In Petersburg mit Chud-
jakov als Repräsentanten ist der Herd der politischen, in Moskau mit
I3utin als Zentralfigur ist der Sitz der wirtschaftlichen Revolution, kurz, es
sind die Anfänge der Ideologien zu erkennen, die in den siebziger Jahren
die Zemlevol’cy und Narodovol’cy vertreten. Harald Cosack.
P.S.Seremetev: Kreposinaja sukonnaja fabrika v sele Ostaf eve
1768—1861: Trudy obščestva izulenija moskovskoj gubernii, vyp. I
(1928), S. 97 — 104.
Die Tuchfabrik in Ostaf’evo wurde in den fünfziger Jahren des 18. Jahr-
hunderts von dem 1775 verstorbenen, aus bauerlichem Stand aufgestiegenen,
unternehmenden Kollegienassessor Koz’ma Matveevit Matveev ge-
gründet; Matveev besaß bereits im Gouvernement Kursk eine große Tuch-
fabrik, mit der er eine Zucht holländischer Schafe verband. 1792 gelangte
Ostaf’evo in den Besitz des Fürsten A. l. Vjazemskij und verblieb über
hundert Jahre im Besi der Familie. Zahlreiche Geschäftspapiere, sogar
mündliche Mitteilungen noch lebender Arbeiter aus den letzten Zeiten des
erst nach Aufhebung der Leibeigenschaft eingestellten Fabrikbetriebes ge-
statten, die Entwicklung des Unternehmens, dessen technische Ausstattung
von den Besitzern stets auf bemerkenswerter Höhe gehalten wurde, seit den
zwanziger Jahren ziemlich genau zu verfolgen. F. Epstein.
Der Bezobrazovsche Kreis im Sommer 1904. Krasnyj Archiv, Bd. 17,
S. 70-80.
B. Romanov publiziert unter dem russischen Titel ,Bezobra-
zovskij Kruzok letom 1904 g.“ 17 Auszüge aus perlustrierten
Briefen Abaza’s und Bezobrazov’s und 1 Auszug aus einem ebenfalls per-
lustrierten Briefe Wittes, die alle vom Polizeidepartement für den Minister
des Innern angefertigt wurden.
Die Dokumente sind wichtig, weil über die Tätigkeit der Bezobrazov-
leute nach Beginn des Russisch-japanischen Krieges bislang nichts bekannt
war. Der Feind, den es zu vernichten galt, ist trob seiner Kaltstellung
126
-
ra
(anes: Ge Pee, o eee 2
MA „ ee A . R TFT ‘a F „
Witte. B. Romanov meint in seinem Begleitwort, d das Endziel die
physische Vernichtung az gewesen sei, während Witte nach Lopuchin
(Otryvki iz vospominanij. Gos. izd. 1923) an die Vernichtung Nikolaus Il.
und seinen Ersa durch Michail gedacht haben soll. Ermordet jedoch wurde
Plehwe, der einzige Minister im Bezobrazovkreise, und ihr Ende fand die
Bezobrazovaffare mii der Amtsentfernung Alekseev’s als Oberkommandie-
renden am 12. Oktober 1904. Harald Cosack.
Zur Geschichte der Agrarreform Stolypins. Krasnyj Archiv, Bd. 17,
S. 81—90.
Nachdem das Osoboe soveščonie o nuždach N E EE eines
5 I unter Wittes Vorsitz eingesetzt worden N 7 und sich für
Einführung des Individualbesibes verg eblich ausgesprochen hatie, be-
deie es der Erschütterungen der ersten Revolution, um die “Stolypin’ sche
Agrarreform herbeizuführen. Um den Ubergang des Grofgrundbesi§es zum
Grundgedanken der Witteschen Pläne zu illustrieren, gibt hier A. Gajs ter
unter dem Titel „K istorii agrarnoj reformy Stolypina” Aus-
zuge aus drei Jahresberichien russischer Gouverneure vom Jahre 1904 an
den Caren, deren einer von Stolypin selbst als Gouverneur von Saratov,
die beiden anderen von den Gouverneuren von Kazań und Chersoń her-
rühren. Harald Cosack.
Aus dem Merkbuch des Archivars. Krasnyj Archiv, Bd. 17, S. 174
bis 232.
An der Spike der Miszellen „iz zapisnoj knizki archivista“ des
Bandes 17 steht eine Arbeit von B. Syroeckovskij, die „Nikolaus l.
und seinen Stabschef (Diebitsch) inden Tagen der Hin-
richtung der Dekabristien“ zum Gegenstande hat. Das Material,
das die allerpersönlichste Teilnahme des Caren an dem Spruche des Ge-
richts und der Ausfuhrungsbestimmungen der Hinrichtung nachweist, stammt
aus dem „Osobyj Otdel“ des Zentralarchivs der Oktoberrevolution, Fonds 21,
früher Abt. I B des Staatsarchivs, Nr. 648 unter dem Titel „Bumagi
načaľnika štaba e. v. barona Dibiča“. Als Detail sei bemerkt, dak der
eigenhändige Brief mit den genauen Angaben Nikolaus I. über alle zu
beobachtenden Einzelheiten der Hinrichtung an den Fürsten P. V. Gole-
niscev-Kufuzov sowie seine Kopie, die Leo Tolstoj in Besitz gehabt hat,
nirgends mehr zu finden sind. (S. 174—181.) — „Zur Geschichte der
zu Demonstrationszwecken abgehaltenen Totenmesse
fur die im Dorfe Bezdna im Gouv. Kazań getöteten
Bauernim)Jahre 1861“ steuert F.Kudrjavcev Materialien bei, die
sich unter den Papieren des Bischofs Meletij (M. K. Jakimov) bei der Ober-
nahme des Archivs des Selenginsker Dreieinigkeitsklosters, unweit Verch-
neudinsk, durch die Archivverwaltung der Burjatenrepublik fanden. Der
Bischof Meletij hatte, damals noch Priester, die Totenmesse gelesen, wofür
er nach Sibirien verschickt wurde, während der Geistliche Jachontov für
das gleiche Vergehen nach dem Solovecker Kloster verbannt wurde. Das
Material dient zur Aufhellung der Frage der Beteiligung der Studenten der
Kazaner Geistlichen Akademie, die die offizielle Untersuchung möglichst
vertuschen wollte, und zur Vervollständigung der Biographie Séapovs, der
die zentrale Figur jener Demonstration gegen das Regime unter Alexander Il.
gewesen ist. (S. 181—185) — N. Sergievskıj veröffentlicht einen
Brief des Franc Jacevié", der um die Wende von 1885 zu 1886
geschrieben sein muß. Er enthält die Bereiterklärung P. L. Lavrovs zur
Mitarbeit an der „Narodnaja Volja“ und die erschütiernde Mitteilung, daß
Lavrov auf seine alten Tage „fast hungert“. Die Mitarbeit Tichomirovs
stellt Jacevit ebenfalls in Aussicht (S. 185—186.) — E. Tarle publiziert
127
und kommentiert zwei „Berichte S. S. TatiSéevs aus Berlin on
V. K. Plehwe im Jahre 1904“. Tati8¢ev, der bekannte Historiker und
Agent des Ministeriums des Innern, war nach Berlin entsandt, um die Ruß-
land feindliche Stimmung zu bekämpfen. Im Bericht Nr. 1 gibt er eine
Übersicht über die Lage in Deutschland und nennt unter den Leuten, mit
denen er verhandelt, den Vizepräsidenten des Herrenhauses Manteuffel,
den Chef des Bankhauses Mendelssohn -Bartholdy, den Finanzmann Robert
Borchardt; als Organ benutzt er die „Preußische Korrespondenz“, um seine
eigene Einstellung zu Deutschland als freundlich zu bezeichnen und sich
über verschiedene Fragen, darunter den bevorstehenden Handelsvertrag, zu
außern. Der Bericht Nr. 2 beschäftigt sich mit der fragwürdigen Person des
aus Stettin gebürtigen René, der es verstanden hatte, uruguayischer Konsul
für Budapest mit Berlin als inoffiziellem Aufenthaltsort und 1904 Handels-
agent der Berliner Vertretung Uruguays zu werden. Dieser Mann hatte
durch seine Dienste im Spiel an der Börse und in anderen geschäftlichen
Affären Beziehungen zu damals einflußreichen Leuten; Tatiščev nennt
namentlich den Herzog Gunther, Bruder der letzten Kaiserin, Prinz Hohen-
lohe, General Werder, Manteuffel-Krossen. Trotzdem René Rußland zur
Zeit 28000 Mark pro anno kostet und selbständig nicht zu verwenden ist
(die ihm aufgetragenen prorussischen Broschüren ist er nicht imstande zu
schreiben, sondern läßt sie durch seinen Intimus Falkenhein schreiben), so
sei er, schreibt TatiScev, vorläufig in Ermangelung eines besseren Mannes
unentbehrlich. Schelking, an den TatiSlev gedacht halte, sei absolut un-
brauchbar, wovon ihn die Mitteilungen des Botschafters Osten-Sacken über-
zeugt hätten. (S. 186—192.) — Der anonyme Beitrag „Briefe Medni-
kovs an Spiridovic“ beleuchtet die Geheimpolizei zwischen den
jahren 1900 und 1904, in denen sich in Rußland die erste Revolution deutlich
ankündigte. Mednikov, Evstratii Pavlovic, und Spiridovic, Aleksandr
Ivanovic, hatten beide höhere Posten inne; Spiridovid ist derselbe, der
später zum Dienst beim Palaiskommandanten kommandiert wurde un
während des Weltkrieges die Geheimpolizei im Hauptquartier leitete. Ein
Personalregister als Anhang enthält wertvolle orientierende Daten (S. 192
bis 219.) — A. Drezen publiziert 4 Briefe Nikolaus Il. aus der „Korre-
spondenz Nikolaj Romanovs mit V. A. Romanov“, die sich
mit 16 anderen Briefen des Caren, die ausschließlich familiären Charakters
sind, im Archivalienfonds des ehemaligen Großfürsten Vladimir Aleksan-
droviè befinden. Diese 4 Briefe fallen in die Zeit von 1896—1905. Unter
ihnen behandelt nur Brief Nr. 2 vom 19. Dezember 1900 die auswärtigen
Beziehungen, und zwar die zu Deutschland. Nikolaus beauftragt Vladimir
mit der Vertretung zum 200jährigen jubiläum des Schwarzen Adlerordens,
das er am liebsten ignorieren wollte. Zugleich beauftragt er Vladimir, auf
den „hitzigen Wilhelm“ beruhigend einzuwirken und keinen Zweifel daran
zu lassen, daß Rußland sich aus China definitiv zurückgezogen habe. In
diesem Brief kassiert übrigens Nikolaus das Kapitel über die Ermordung
Pauls I. in der „istorija Kavalergardov“, die Panäulidzev geschrieben hat,
weil es einen Schatten auf das Regiment wirft (S. 219—222) — „Er-
schießenoderhängen“ ist der Beitrag V.N. Nečaev’s betitelt und
zeigt die Sorge um die Stimmung im Heere angesichts der vielen Hin-
richtungen 1905 und 1906 durch Erschießen, deren man Herr werden will
durch die Hinrichtung durch den Strang, den die Zivilverwaltung zu voll-
ziehen hatte (S. 222—225). — Den lebten Beitrag „Die Expedition des
Generals Ivanov gegen Petrograd liefert I. R. Gelis. Diese
Expedition war der lebte Versuch des Caris mus, die Situation zu seinen
Gunsten zu wenden und endete bekanntlich mit der Verhaftung Ivanovs in
Kiev am 13. März 1917. Am 9. April 1917 richtete Ivanov ein langes
Schreiben an den Kriegsminister Guckov, in dem er die gesamten Vorgänge
von seiner Ernennung zum Kommandierenden des Petersburger Militär-
bezirks bis zur Verhaftung darstellt und sich rechtfertigen will, wobei er
von der Person Nikolaus Il. deutlich abrückt. Dieser Brief ist hier repro-
duziert (S. 225—232). Harald Cosack.
128
M.Ch.Sventickaja: Aviobiografiteskie besedy O. N. Potanina:
„Severnaja Azija“, H. 17—18 = 1927, H. 5—6, S. 123—132.
Potanins Erinnerungen an seine Kadettenzcit in Omsk und Dienst-
leistung in Sibirien als Offizier illustrieren die gesellschaftlichen Zustände
in Sibirien um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Das Militär übte eine schran-
enlose Willkürherrschaft; Potanin erinnert an die „„ ges Ge-
neralgouverneurs Hasford, dessen Mißwirtschaft die Zeitung „iskra“ in den
sechziger Jahren an den Pranger stellte, indem sie aus Zensurrücksichten
nach seinem Wappenbild einem 11 „Ochsenkopf“ ankreidete, was
Hasford sich zuschulden kommen
Den Umschwung in seinen bolinschen Anschauungen von einem
„kosakischen Patriotismus“ — einem Patriotismus, der ihn in Nikolaus l.
einen zweiten Peter d. Or., den Verteidiger des Fortschritts und der euro-
päischen Ideen von politischer Freiheit hatte sehen lassen (S. 128) —, zu
liberaler Gesinnung führt Potanin auf sein Bekanntwerden mit dem Anhänger
Petra3evskijs Durov zurück. F. Epstein.
M. Sventickaja: Vospominanie o G. N. Potanine: „Severnaja
Azija“, H. 17—18 = 1927, H. 5—6, S. 144 — 122.
Grigorij Nikolaevič Potanin (1835—1920), einer der frühen Verfechter
der Sonderart Sibiriens (,Sibirskoe oblasinilestvo”), aus der im sibirischen
Bürgerkrieg die Gegner des Bolschevismus, „das sibirische Kleinbürgertum
und das sibirische Kapital“, ein politisches Programm machten, hat sich auch
als Geograph und Eihnograph einen Namen gemacht. F. Epstein.
Dmitriev: Oktjabr’skaja revoljuciia v Sibiri: „Severnaja Azija“,
H. 17—18 = 1927, H. 5—6, S. 5—21.
Sibirien hat seit der Februarrevolution 1917 etwa folgende Stadien, die
von Dmitriev näher charakterisiert werden, durchlaufen: Die Zeit des
Kampfes zwischen den sibirischen Räten und den (bürgerlichen) provinzi
Tendenzen (sibirskoe oblastnitestvo); Sibirien als Basis für die russische
Gegenrevolution; die Intervention der Alliierten; die Wiederherstellung der
Macht der Räte in Sibirien; die Intervention der Entente im Fernen Osten;
ee Zeit der Konsolidierung der Sovetherrschaft. in Sibirien und dem Fernen
pstein.
Jules Legras: L’agonie de la Sibérie 1918—1920. Le Monde
slave. 5. Ig. (1928), H. 2, S. 161—195.
Sibirisches Tagebuch vom 18. November 1918 bis zum 30. Januar 1919
aus dem Lager der Weißen. Die Aufzeichnungen sind aufschlußreich für
den Staatssireich des Admirals Koléak in Omsk am 18. November 1918,
den Konflikt zwischen Koléak und dem Obersten Semenov und die Zustände
in Irkutsk im Dezember 1918 und Januar 1919. F. Epstein.
EA.Adamov: Le probléme bessarabien et les relations russo-
roumaines. Le Monde slave. 5. Ig. (1928), Nr. 1, S. 65—106.
Adamov, dessen Arbeit zuerst russisch in Heft 6 und 7 des jg. 1927 der
vom Volkskommissariat für die Auswärtigen Angelegenheiten herausgegebe-
nen Zeitschrift „MeZdunarodnaja Zizn“ erschien, gibt eine diplomatische Ge-
schichte der befarabischen Frage, die namentlich für das 19. Jahrhundert
durch Verwertung der russischen Quellen in vielen Einzelheiten über alle
früheren Darstellungen hinausfiihrt. F. Epstein.
ONF 5 129
V. L. Popov: Na rubeZe pervogo desjaiiletija: „Severnaja Azija“,
H. 17-18 = 1927, H. 5—6, S. 22—36.
Hei 91% Landbevölkerung ist Popovs Rückblick auf die Wirtschaft
Sibiriens im Jahrzehnt 1917—1927, — auf die Periode der Zerrüttung der
sibirischen Wirtschaft 1917—1922 (unter Berücksichtigung der Einwirkungen
des Krieges bis 1916) und die Periode des Wiederaufbaus 1922 bis 1926 —,
eine auf der Statistik aufgebaute Geschichte der sibirischen Landwirtschaft
(Ackerbau, Viehzuchi, Fischfang) im angegebenen Zeitraum. F.Epstein.
„Sibirskij archiv“: Severnaja Azija, H. 17—18 = 1927, H. 5—6, S. 133
bis 155.
Unter der Uberschrift „Sibirisches Archiv“ beginnt die Zeitschrift „Nord-
asien“ mit dem Abdruck von Dokumenten zur Geschichte der Oktober-
revolution in Sibirien. Als erste Materialien gelangen (S. 150-155) die Be-
schlüsse des „Außerordentlichen gemeinsamen Kongresses“ aller politischen
Parteien Sibiriens (Crezvylajnyj ob3Cestvennyj s’ezd) in Tomsk (6.—15. De-
zember 1917) und die vom Zweiten Rätekongreß der Arbeiter-, Soldaten-,
Bauern- und Kosakendeputierten ganz Sibiriens in Irkutsk im Februar 1918
angenommenen Resolutionen und Thesen zum Abdruck (S. er .
Epstein.
L Zalkind (Salkind): Nlar) Klom) Knosir.) Diel v semnadcalom
godu [Das Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten
im Jahre 1917): MeZdunarodnaja Zizn 1927, H. 10, S. 12—20.
_ _ Salkind plaudert über Episoden aus der Besitzergreifung des russischen
Ministeriums des Außern und seiner Archive durch die Bolschevisten, den
Verkehr mit ausländischen Diplomaten (u. a. mit der von Graf Mirbach ge-
führten deutsch-österreichischen Mission für die Angelegenheiten der
Kriegsgefangenen) und mit Journalisten. Sodann teil er ein Schuld-
anerkenninis des Königs Ferdinand von Bulgarien (dat. Sofija 2. Sept. 1912)
mit, worin die Rückzahlungsannuiiäten für drei von der russischen Regie-
rung gelichene Millionen Goldfrancs fesigesetzt werden. Die Abmachung
trägt merkwürdigerweise den Charakter eines Personalkredits, indem nicht
bulgarisches Staatscigentum, sondern private Liegenschaften des Königs fur
den russischen Anspruch haften sollen. — Ob der russische Wortlaut
authentisch ist oder das Original vielleicht französisch abgefaßt war, wird
nicht gesagt. F. Epstein.
M. Vichniak: Deux historiens russes de la révolution russe.
Le Monde slave. 5. Jg.-(1928), Nr. 1, S. 27—64.
_ Vichniak bespricht die Darstellungen der Februar-Revolution, die P. N.
Miljukov (Istorija vioroj russkoj revoljucii) und Nik. Suchanov (Zapiski o
revoljucii) gegeben haben. Er zeigt an vielen Beispielen, wie Miljukov bei
den Februar-Ereignissen eine zu bedeutende Rolle spielte, als daß er ein
unparteiischer Historiker sein könnte (S. 54). Miljukovs Studie sei die Ge-
schichte und Philosophie des Anteils, den die Partei der Kadetten an der
russischen Revolution genommen habe (S. 46). Suchanovs Werk sei zu
literarisch, um Geschichte, zu wortreich und eintönig, um Journalistik oder
Literatur zu sein; indessen herrsche der Journalismus vor. Geschichte und
Literatur dienten ebensosehr als Grundlage wie als VERTIEFUNG = ree
. Epstein.
V. l. Veretennikov: Eijudi po voprosam istoriceskago konstrui-
rovanija. 1. Neskol’ko slov o klassifikacii mefodov istoriteskogo
postroenija: Naukovi Zapiski, praci naukovo-doslidéoi katedri
150
istorii Evropejs’koi kulturi. l. Metodologija nauk (= Scientific Ma-
gazine. Works of the explorating chair of the history of European
culture. I. The Methodology of sciences (Charkiv 1927), S. 147
bis 164.
Veretennikov erlautert den Denkproze§ und die psychologischen Postu-
late, durch die historische Urteile gewonnen werden, an Sergéevics Urteil
über die altrussische Volksversammlung (Véée) und Kljucevskijs Beurteilung
der Umbildung des Udélfiirstenstandes zum Bojarentum im 13. und 14. Jahr-
hundert, an den politischen Aspirationen des Moskauer Bojarentums im 16. und
17. Jahrhundert und der Bedeutung der Heeresdislokation unter Peter d. Or.
für die Verwaltung. F. Epstein.
30 jahre des Kiinstiertheaters. — „Novyj Mir“, Nr. 10, 1928, S. 192 ff.
Gelegentlich des 30jahrigen Jubiläums des Moskauer Künstlertheaters
gibt N.Volkov in seinem Artikel (,30 let chudoZestyennogo teatra“) einen
kurzen Überblick über die Geschichte der Entstehung des Theaters und
seiner Entwicklung. Die 90er Jahre des vergangenen Jahrh. kiindeten das
Ende einer Periode und die Anfänge einer neuen Zeit auf allen Gebieten
der Kunst und des gesellschaftlichen Lebens an. In der Literatur erwachen
die symbolistischen Strömungen, die bildende Kunst bringt den „Mir
iskusstva“ („Welt der Kunst” — eine Vereinigung der modernen Künstler),
in der Musik ertönen die ersten Werke von Skrjabin, und auch in der Ge-
schichte des russischen Theaters bedeuten diese Jahre einen Wendepunkt.
Moskauer Theater befand sich um diese Zeit in einer kümmerlichen
Lage; die 5 dramatischen Bühnen brachten nur nen ange Stücke heute
vergessener Autoren. Die besten Vertreter der Schauspielerwelt waren sich
der Unzulänglichkeit des Repertoires, der Unfähigkeit der Regie und des
allgemeinen Verfalls der Theaterkunst durchaus bewußt: auf dem ersten
allrussischen Kongreß der Bühnenkünstler (eröffnet am 9. März 1897) ertönte
die Stimme des großen Schauspielers Lenskij, der auf die besorgnis-
heh saad Lage des russischen Theaters hinwies. Und doch erwachte zu
gleicher Zeit ein neuer Geist im westeuropaischen Theater: im kleinen Her-
zogtum Sachsen-Meiningen, im Pariser Theater Antoine wurden erfolg-
reiche Versuche unternommen, die Theaterkunst durch den damals noch
revolutionierend wirkenden Naturalismus zu beleben. Auch ein neues russ.
Theater sollte geboren werden. Es ging jedoch nicht aus den kais. Bühnen
hervor, sondern aus der Vereinigung von 2 Gruppen der Theaterjugend, die
unter der Leitung von V. J. Nemirovi¢-Danéenko und K. S. Stanislavskij
arbeiteten. Sie haben das Moskauer Künstlertheater (ursprünglich: das
künstlerische allgemein zugängliche Theater) gegründet. Das dreißigjährige
Leben dieses Künsflertheaters (1898—1928) fiel in eine schwere, von gesell-
schaftlichen Krisen, Kriegen und Revolutionen erschütterte Zeit, doch das
Theater hat es immer verstanden, mit dem bewegten russ. Leben in Fühlung
zu bleiben: zum 10jährigen Jubiläum der Sovetregierung nahm cs den
„Panzerzug‘“, ein Revolutionsdrama von V.Ivanov, in sein Repertoire auf.
Die Revolution von 1905 wurde durch die Aufführung von Gorkijs „Kinder
der Sonne“ gekennzeichnet. Groß ist das Verdienst des Theaters auf dem
Gebiet der Repertoirebildung: es ist allgemein bekannt, daß das Künstler-
theater den Dramatiker Cechov gerettet, Gorkij und Leonid Andreev stets
das größte Verständnis entgegengebracht hat; auch die westeuropäische
Literatur fand hier immer Beachtung: Hauptmann, Ibsen, Hamsun und
Maeterlinck wurden neben Čechov, Gorkij, Andreev und den russischen
Klassikern aufgeführt. Ein Streben nach der Gestaltung des „wirklichen
Lebens“, eine angestrengie Arbeit, vom ernsten künstlerischen Geist durch-
drungen, hat dem Theater und seinen Mitgliedern ein besonderes Gepräge
verliehen. Für manche künstlerische Experimente wurden Theaterstudien
ins Leben gerufen, wo der künstlerische Nachwuchs unter der Leitung junger
Regisseure sich um .die Lösung neuer Probleme bemühte. Die Geschichte
151
des zeitgenössischen russ. Theaters beginnt mit der Geschichte des Mos-
kauer Kunstlertheaters: durch seine „Kinder“ und „Enkel“ wird es fort-
gesetzt — darum bedeutet auch sein 30jähriges Jubiläum keinen Schluß,
sondern eine neue Entwicklungsetappe. Eugenie Salkind.
Die Literatur als Werkzeug der Organisierung und des Aufbaues. —
„Novyj Mir“, Nr. 7, 1928, S. 195 ff.
Valerjan Poljanskij bespricht in diesem Aufsaß („Literatura —
orudie organizacii i stroitel’ stva“) die Aufgaben der zeitgenössischen Sovet-
literatur. Manche Kritiker vertreten noch immer die Ansicht, daß die Auf-
gabe der Literatur sich nur auf das Widerspiegeln des Lebens beschränke.
Dies ist nicht nur grundsäßlich falsch, sondern auch schädlich. Was sich zu
Belinskijs Zeiten als notwendig und zweckmäßig erwiesen hat, kann zu
unserer Zeit keinen Anspruch auf Geltung erheben. Im Sovetstaate hat die
Literatur in erster Linie „mit maximaler Aktualität die Organisierung des
Lebens zu fördern“. Laut den Prinzipien der marxistischen Soziologie ge-
hört die Literatur samt allen anderen schönen Künsten zum ideologischen
Gebiet. Ihr liegt also auch die organisierende Funktion ob. Die Frage der
„sozialen Bestellung“ wurde in der Publizistik oft genug erörtert; nach der
Meinung des Verf. ist die Literatur außerhalb der sozialen Bestellung über-
haupt nicht denkbar. Ihr Auftraggeber ist die herrschende Klasse; der
Dichter, der aus dieser Klasse hervorgegangen ist, muß sein Schaffen der
Kontrolle seines Klassenbewußtseins unterstellen. Das Thema des eigent-
lichen Schaffens bildet der konkrete sozialistische Aufbau des Staates, nicht
das „Theoretisieren über Kommunismus und Revolution“. Nach dieser
charakteristischen Einleitung geht Verf. zur Übersicht der positiven Ergeb-
nisse der heutigen Literatur über und stellt fest, daß die Schriftsteller ihren
Stoff zumeist in den Themen des ee und der Rekon-
struierung der Volkswirtschaft finden. Jedoch die Epoche der Industriali-
sierung und kulturellen Revolution wurde bisher kaum beachtet. Hier kommt
Verf. mit 1 Ratschlägen, z. B.: ein Mangel an Butter macht sich
in der lebten Zeit bemerkbar; auf den ersten Blick ist dies nur eine unbe-
deutende Erscheinung, doch steht sie im engen Zusammenhang mit den
sozial-ökonomischen Reformen der Oktoberrevolution, — welch reicher Stoff
für den Dichter, den Belletristen wie den Psychologen! Während des Pro-
zesses der künstlerischen Gestaltung darf der Schriftsteller nicht vergessen,
daß sein Leserkreis sich aus den Arbeitermassen zusammenscht. Die Lite-
ratur muß sireng realistisch, die formellen Elemente müssen mit dem Inhalt
eng verbunden sein. Der Sovetliteratur stehen wichtige Aufgaben bevor:
wie der Politiker, der Denker und der Gelehrte, trägt auch der Künstler die
Verantwortung vor dem Proletariat. Eugenie Salkind.
Das Sovet-Kino auf neuen Wegen. — „Novyj Mir“, Nr. 5, 1928, S. 243 ff.
K. Malcev widmet seinen Artikel („Sovetskoe kino na novych putjach“)
der aktuellen Lage des russ. Kinos und seinen Zukunftsaussichten. Das
lebte Jahr weist, laut statistischen Angaben, über 300 Millionen Kinobesucher
auf. enn man die spezifischen Eigenschaften des Films — seine künst-
lerischen Mittel, die verhältnismäßige Billigkeit und Transportfahigkeit — in
Betracht zieht, so wird es erst klar, mit welch mächtigem kulturellen Faktor
man es hier zu tun hat. In den lebten 4 Jahren hat das Sovetkino einen
großen Aufschwung genommen; i. J. 1926/27 machte die Sovetproduktion
bereits 49% der Gesamtzahl der aufgeführten Filme aus. Auch in tech-
nischer Hinsicht können große Erfolge verzeichnet werden. Allein der
ideelle Gehalt der Kinoproduktion laßt noch viel zu wünschen übrig. Die
Vertreter der mächtigsten Kinoorganisation „Sovkino“ behaupten zwar, der
Film bilde eine zuverlässige Waffe in den Händen der Partei und des pro-
letarischen Staates, anders urteilen aber die Kritiker: „Das Sovkino richtet
sich nach dem Geschmack des Spießbürgers, weil seine finanziellen Inter-
essen dies erfordern“: „Diese Zuschauer werden am stärksten durch aus-
182
landische Filme und prachisiroßende Bilder, die das Leben der Aristokratie
und der re darstellen, gefesselt.” „Mehr Romane,” sagt der Vor-
sitzende des Sovkino, „der Inhalt darf nicht überladen, die Frauen müssen
unbedingt schön sein.“ Das Urteil der Kritik wird durch Stimmen aus den
Arbeitermassen unterstützt. Eine Rundfrage in den Arbeiterkreisen ergab
Resultate, die für das Sovkino ungünstig lauten. Die Spitzenleistungen der
Sovetproduktion, wie der „Potemkin“, „Die Mutter” u. a. m. gelangen erst
mit großer Verspätung in die Arbeiterklubs, gewohnlich werden diese mit
Filmen minderwertiger Qualität versehen. „Immer nur über die Liebe, lauter
Quatsch,“ beklagen sich die Arbeiter, „solche Bilder brauchen wir nicht.“
Noch schlimmer ist es um das Dorf bestellt. Auch hier läßt sich das Sov-
kino von Gründen rein kommerziellen Charakters leiten. So werden ge-
wöhnlich nur abgenubte Streifen ins Dorf geschickt, die dauernd zerreißen
und die berechtigte Entrüstung der Zuschauer hervorrufen. Ferner pro-
testiert die Kritik auch gegen die Uberflutung der Leinwand durch auslän-
dische Filme, die „eine feindliche Klassenideologie propagieren“. Der
Sovetfilm ist noch nicht imstande, auf die ausländische Produktion voll-
ständig zu verzichten, doch könnte man sich auf die Einfuhr von Au ged
wissenschaftlichen Filmen beschränken. Das Filmwesen sebi sich aus
2 Elementen zusammen: 1. aus dem künstlerisch-ideologischen und 2. dem
materiellen Element. Als eines der wirksamsten Mittel der kommunistischen
Aufklärung trägt das Kino die revolutionären Ideen ins Volk; als ein In-
dustriezweig von großer Entwicklungsfähigkeit muß es eine neue Bezugs-
quelle bilden. Eine Reorganisierung der Kinematographie auf kapitalisti-
scher Grundlage tate not, doch würde dies einen enormen Kostenaufwand
verlangen. Um jedoch die Herstellung von ideologisch bedeutenden und
künstlerisch wertvollen Filmen zu sichern, müßte man die breiten Bevölke-
rungsschichten in die Arbeit einbeziehen, ihnen die Prüfung der Manuskripte
und der fertigen Filme überlassen; nur auf diese Weise ließe sich ein Kon-
takt mit dem Proletariat herstellen. Eugenie Sakind.
Georges Maklakof: Vers Paccord de Péglise orthodoxe avec
les Soviets. Le Monde slave, 5. Ig. (1928), Nr. 1, S. 1—26.
Der Friedensschluß der russischen Kirche mit der Sovetregicrung, den
die Kundgebung des Stellvertreters des Patriarchen, des Metropoliten
Sergej von NiZnij-Novgorod, vom 29. Juli 1927 den orthodoxen Gläubigen
bekannigab, hat die orthodoxe Kirche in der russischen Emigration in eine
außerordentlich schwierige Lage gebracht. Interessant ist Maklakovs Nach-
weis, dak die Emigranten keinen Grund hätten, sich über einen Mangel an
Toleranz von seiten der kirchlichen Zentralgewall zu ii T- = 126.)
pstein.
Die Thesen der Aufgaben der marxistischen Kritik. — „Novyj Mir“,
Nr. 6, 1928, S. 188— 196.
Der Vokskommissar für Aufklärung A. V. Lunacarskij veroffent-
licht unter dem Titel „Tezisy o zadacach marksistskoj kritiki“ seine Beirach-
tungen über das Wesen und die Aufgaben der marxistischen Kritik. Der
Kampf zwischen der alten und neuen Welt dauert fort. Die Einflüsse West-
europas, der bourgeoisen Vergangenheit, der alten und neuen Bourgeoisie
machen sich noch immer in der Literatur geltend. Das spießbürgerliche
Element beherrscht noch bis zu einem gewissen Grade das Leben der pro-
letarischen Massen, selbst der Kommunisten. Bei diesen Bedingungen ge-
winnt die prolet. Lit. an sozialer Bedeutung. Eine vielleicht noch wichtigere
Rolle im neuen Staat spielt die marxistische Kritik, der es obliegt, den
5 one richti ge Auffassung der literarischen Werke zu übermitteln. Die
unterscheidet sich von allen anderen in erster Linie
durch ren soziologischen Charakter; der Kritiker geht von dem Inhalte
des betreffenden Werkes aus und versucht seinen Zusammenhang mit den
sozialen Gruppen, für die es.bestimmt ist, festzustellen. Allein der Marxis-
155
mus hat nicht nur die Bedeutung einer soziologischen Doktrin: der Kritiker
muß es auch verstehen, auf das Milieu in einem bestimmten Sinne zu wir-
ken; er ist ein Kämpfer, er arbeitet an dem Aufbau des Staates mit. Von
welchem Standpunkt aus wird er nun ein neues Werk betrachten? Seine
Ethik wird sich mit der des Proletariats decken: „alles, was die Entwicklung
und den Sieg der proletarischen Revolution fördert, ist gut; böse ist, was
diese Entwicklung hemmt.“ So muß der Kritiker zunächst den Inhalt des
Werkes untersuchen, um seine soziale Tendenz aaneen zu können. Was
nun die Bewertung der Form anbetrifft, so muß sich der marxistische Kri-
tiker vor allen Dingen über die Bedeutung des formellen Elements in der
schönen Literatur klar werden. Folgendes ist dabei von Wichtigkeit: die
publizistische Tendenz darf keine überwiegende Rolle spielen. Die Form
muß eine gewisse Originalität aufweisen und das Werk allgemein zugäng-
lich sein. Jedoch birgt auch die elementare Popularisierung der Werke, die
dem noch niedrigen geistigen Niveau der Arbeiter- und Bauernmassen an-
gepakt werden, eine große Gefahr: die Gefahr der Nivellierung der Litera-
tur. Darum darf auch die Bedeutung solcher Werke, die nur den höher
stehenden Schichten des Proletariats zugänglich sind, nicht ‚unterschäbt
werden. Die Aufgaben des marxist. Kritikers tragen auch einen didak-
tischen Charakter: er muß dem Schriftsteller wie dem Leser ein Lehrer sein.
Den jungen Schriftsteller weist er auf seine Fehler formellen und inhalt-
lichen Charakters hin, dem Leser wird er ein erfahrener Führer und Weg-
weiser auf dem Gebiete der zeitgenössischen sowie der alten klassischen
Literatur sein. Dies ist bes. wichtig in unserer Zeit, die durch die unge-
heure Erweiterung der Leserkreise charakterisiert wird. Den marxist. Kri-
tikern wird oft vorgeworfen, daß ihre Tätigkeit zuweilen einen rein politi-
schen Charakter trage, da die Feststellung einer „bewußten konterrevolu-
tionären Tendenz“ in den Werken eines Schriftstellers für diesen recht un-
angenehme praktische Folgen haben könne. Diesen Vorwurf läßt L. nur
für solche Kritiker gelten, die sich von persönlichen Rachegefühlen und Ge-
wissenlosigkeit leiten lassen. Sonst darf das Resultat der sozialen Analyse
nicht verschwiegen werden, denn dadurch wird ja das eigentliche Wesen
der marxist. Kri ik verletzt. Zum Schluß wird noch die Frage der Zulässig-
keit einer scharfen Polemik aufgeworfen. Lunacarskij erblickt in der Po-
lemik ein wirksames Mittel, die Leser für das erörterte Problem zu inter-
essieren; natürlich darf diese Polemik keinen gehässigen Charakter tragen.
Ein echter Kritiker verhält sich überhaupt a priori wohlwollend zu allen
neuen Werken: etwas Wertvolles zu finden, um es dem Leser zeigen zu
können, muß ihn mit größter Genugtuung erfüllen. Eugenie Salkind.
Jacques Ancel: Les bases géographigues de la question des
détroits. Le Monde slave. 5. Jg. (1928), Nr. 2, S. 239—253.
Ancel versucht eine geographische Erklärung des wirtschaftlichen und
politischen Niedergangs von Konstantinopel. Er weist nach, wie die in
Konstantinopel kreuzenden Straßen, der See- und Landweg, gegen früher
an Bedeutung verloren haben und die Stadt dadurch wirtschaftlich herab-
sank, während das Aufhoren der türkischen Herrschaft auf der Balkanhalb-
insel und die Verlegung des Schwerpunkts der neuen Türkei nach Klein-
asien Konstantinopels politischen Niedergang verursachte. F. Epstein.
WEISSRUSSLAND
Mikola IljaSevié: Pachodzen'ne staradaunga vesiki i antro-
polegiönyja adznaki belarusau. — Studenskaja Dumka, Wilna,
1928, Heft 1, S. 9-15.
Vorliegende Abhandlung bildet den Auszug aus dem noch nicht er-
schienenen Werk des Verf. ...Weifr.gland, als anthropologische Einheit”.
154
XK r K EEE. TG Een a A K.
© 7 34 N eana aan
z }
„ FJ:
de- r oe. a a CF e A ~ i ae a ~ mn
Auf dem Territorium des gegenwärtigen Weißrußlands erschienen Menschen
nach der Eiszeit zunächst aus dem Süden — aus dem Gebiet der gegen-
wärtigen Ukraine. Die archäologischen Untersuchungen haben erwiesen, daß
Weißrußland bereits in der paläolithischen Periode besiedelt war. Und
zwar waren menschliche Siedlungen im nordöstlichen Teil Weißrußlands
vorhanden (Gouvernements Smolensk und Witebsk). Allerdings wurden nur
wenige Spuren von Siedlungen aus der paläolithischen Periode ermittelt.
Weit zahlreicher sind die Spuren menschlicher Siedlungen, die der neo-
lithischen Periode angehören. Diese finden sich besonders reichlich in
Nordwestweißrußland — an den Ufern der Düna, am Narev und auch am
Bug. Die Schädel, die man in den Gräbern gefunden hat, sind meist dolicho-
kephal, was den Gelehrten (Karski) Anlaß gibt, diese Urbevölkerung Weiß-
rußlands für den slavischen Urtyp zu halten. Die Langköpfigkeit hat sich
auch fast ausschließlich bei den Weißrussen erhalten, daher kann man wohl
annehmen, daß die Weißrussen die reinste Prägung slavischer Rasse bilden.
Die Ausgrabungen ergeben einen relativ hohen Stand der Kultur der Ur-
slaven, die das Gebiet in der neolithischen Zeit besiedelten (die Waffen und
keramischen Erzeugnise, die bei Ausgrabungen im Grodnogouvernement
gefunden haben, legen davon Zeugnis ab). Die weißrussischen Grabstatten
weisen sowohl in bezug auf den Ritus der Beisetzung. wie auch in bezug
auf die gefundenen Gegenstände wesentliche Unterschiede im Vergleich mit
den Grabstätten anderer slavischer Völker auf. Als Nachbarn der Weiß-
russen sieht die Palaonthographie die Litauer im Westen und die finnischen
Stämme im Osten an. Linguistische und anthropologische Motive bestätigen
diese Vermutung.
Die anthropologischen Untersuchungen Weißrußlands erhalten ihre be-
sondere Bedeutung im Zusammenhang mit Niederles Theorie über die Ur-
heimat der Slaven, die bedeutende Teile des eihnographischen Weißruß-
lands mitumfaßt (Grodno-, Minsk- und Mogilewgebiet).
ag Kenntnis von den weißrussischen Stammen haben wir erst
aus dem 9. Jahrhundert n. Chr. ©.
Die physikalisch-geographischen Bedingungen Weißrußlands (Wälder
und Sümpfe) verhinderten die Rassenmischung, die in dem Restieil der
ostrussischen Ebene infolge der Heeresziige der Nomadenvölker stattfand.
Während die Großrussen von tatarischen, türkischen und finnischen
Stämmen bedrängt wurden, die Westslaven dem germanischen Druck aus-
gesetzt waren, wurden die Weißrussen in ihren Sümpfen und Wäldern von
ähnlichen Invasionen verschont. Limafiski führt auch den Namen „Weiß-
rugland“ auf diesen Umstand zurück, d. h. das „weiße Rußland“, das von
Fremdherrschaft freie Rußland.
Die Anthropologie, die Archäologie und die Eihnographie sind sich dar-
über einig, daß die Weißrussen einen besonders reinrassigen slavischen
Stamm bilden. Verf. untersucht die anthropologischen Kennzeichen der
Weißrussen: der Weißrusse ist im Durchschnitt 1667 mm hoch, etwas höher
also als der Großrusse und Pole, und etwas kleiner als der Ukrainer. Unter
den Weißrussen bilden die Dolichokephalen 13% (unter den Oroßrussen 9%
und unter den Polen 11%), die Mesokephalen 23% (bei den Großrussen und
Polen 18%). Der Augenfarbe und der Haarfarbe nach bilden die Weiß-
russen gleichfalls den reinsten hellen slavischen Typ. 57% der Weißrussen
gehören dem hellen Typ an und nur 11% dem dunklen. Verf. bringt noch
weitere anthropologische Kennzeichen der Weißrussen, die nicht immer als
unumstritten gelten können. Es sei nur noch die außerordentliche Frucht-
barkeit der Weißrussen erwähnt, die vor dem Krieg dem Bevölkerungs-
zuwachs nach mit 1,8% den 3. Piat in Europa innehatten. Verf. wirft noch
verschiedene Probleme des Studiums des weißrussischen Volkes auf anthro-
F Grundlage auf, eine Aufgabe, die der neuen aka-
demisch geschulten weißrussischen Intellektuellengeneration erwachst. Diese
vom Verf. befiirwortete exakte Methode bietet immerhin einen gewissen
sa pen die Uberschwenglichkeit nationaler Begeisterung, die sich bei
eißrussen, wie bei allen Völkern, die soeben ihre staatliche
156
Selbständigkeit erlangt haben oder noch danach streben, gehend macht
und so die Objektivität der wissenschaftlichen R igt.
dimir Samojlo.
Dvaréanin: Uber das Geburtsjahr von Fr. Skaryna. — Rodnyja
Goni 1927, kn. 1.
Verl. beschäftigt sich mit der Feststellung des Geburtsjahres des ersten
weißrussischen Humanisten Fr. Skaryna. Im Zusammenhang mit der Feier
des 400jährigen Besichens weißrussischer Druckwerke ist das Interesse zu
Skaryna sehr gestiegen. Dv. ist der Ansicht, daß trob der umfangreichen
Monographie uber Skaryna, die Prof. Viadimirov 1888 veröffentlicht hat, uber
Skaryna relativ wenig bekannt ist. An neuerer Literatur über Skaryna
wären zu nennen die Abhandlungen von Prof. Stakacichin (in „Polymja”
1925, kn. 5) und Charevié (in „Polymja” 1925, kn. 7). Auf Grund dieser Ar-
beiten, sowie eigener Forschungen halt Dv. den 6. März 1486 für den Ge-
burtstag Skaryna’s, und zwar begründet er seine Hypothese einerseits durch
Urkunden der Universität Krakau betreffend die Promotion Skaryna’s zum
Bakkalaureus (1506), andererseits durch eine Analyse seines Wappens, ver-
bunden mit einer sehr geistreichen astrologisch-astronomischen Theorie.
Vladimir Samojio.
D. Masalski: Uber litauische und weißrussische Studierende des
Braunsberger Seminars 1578-1798. — Rodnyja Goni 1927, kn. 4.
Die kulturellen Beziehungen zwischen dem Großfürstentum Litauen und
Deutschland im 16. bis 18. Jahrhundert, die Prof. Georg L ü hir kürzlich be-
handelt hat, geben Anlaß zu einer Polemik zwischen Latovicus und Masalski
über die nationale Zugehörigkeit der Studierenden des Braunsberger Se-
minars, die in den Matrikeln als „Lithuanus”, „Ruthenus“, „Polonus“, „ex
Lithuania“, „ex Samogitia“ u. a. m. verzeichnet sind. Im Laufe von 220 Jahren
absolvierten über 1400 Studierende aus dem Oroßfürstenium Litauen das
Braunsberger Seminar. Während Latovicus alle Studierenden aus „Lithuania“
als Litauer und nur die Basilianer unter ihnen als Weißrussen ansicht, ver-
tritt Masalski den Standpunkt, daß es sich bei den meisten von ihnen um
Litauer nur im staatsrechtlichen Sinne handelte, während sie ihrer Nationali-
tät nach vorwiegend Weißrussen waren.
Seiner Ansicht nach sind nur die „ex Samogitia“ stammenden Stu-
dierenden Nationallitauer gewesen. Bei den anderen dagegen schließt er
aus den entweder echt weißrussischen (mit den Endungen „ič“) oder vor-
wiegend weißrussischen Namen (mit den weniger charakteristischen Endun-
gen „ski“ und „tzki“) auf Weißrussen. Ferner führt er für seine Vermutung
die Tatsache an, daß die Namen mehrerer Siudierenden die Laute „ch“ und
„h“ enthalten, die der litauischen Phonetik unbekannt sind.
Es ist wohl anzunehmen, daß die Wahrheit, wie es ja meist bei solchen
Streiten der Fall ist, in der Mitte liegt, obwohl bei den meisten Studierenden
die Vermutung eher für Weißrussen spricht. Vladimir Samojlo.
Zenjuk: Die Kirchenunion in Weißrußland. — Belaruskaja Kultura,
kn. 1. 1927, S. 42—45.
Verf. behandelt die Geschichte der Kirchenunion in Weißrußland und
schildert die Bemühungen um ihre Erneuerung in der Gegenwart. Während
die römisch-katholische Kirche erst im 12.—13. Jahrhundert sich in Weiß-
rußland festsebt, hatte die griechisch-katholische Kirche in den weiß-
russischen Volksmassen bereits seit dem 10. Jahrhundert Fuß gefaßt. Beide
Kirchen werden nun im Leyfe der Geschichte zu Sprungbreitern des staat-
lich-kirchlichen Imperialismus Polens und Moskaus. Der eigentliche Kirchen-
kampf sebt erst mit der Vereinigung des Großfürstentums Litauen mit
Polen ein. 1596 spricht sich die hohe griechisch-katholische Geistlichkeit
156
„ im Konzil von Brest-Litowsk für die Kirchenunion aus. Verf.
ist der Ansicht, daß dies aus patriotischen Beweggründen erfolgte, um eine
konfessionelle Einheit der Weißrussen zu verwirklichen und in der unierten
weißrussischen Nationalkirche eine Barriere gegen die Geliste des pol-
hen Katholizismus und der russischen Orthodoxie zu schaffen. Wie
wenig zuireffend diese Auffassung des Verf. ist, geht daraus hervor, daß
die unierte Kirche im späteren Verlauf der Geschichte siets Bundesgenasse
des polnischen Kathalizismus gegen die Orthodoxie und gegen die Re-
formationsbewegung gewesen ist, so oat von einer Barriere gegen den
polnischen Katholizismus wohl kaum die Rede sein kann. Zuzugeben ist,
daß die unierte Kirche eine Barriere gegen die Moskauer Orthodoxie ge-
wesen ist. Das hat der russische Zarismus ganz richtig erkannt, und wie
Verf. zutreffend schildert, mit der Vernichtung der Union die konfessionelle
Trennungslinie zwischen Weißrussen und Russen beseitigt. Der Kampf
gegen die unierte Kirche gehörte zum Russifizierungsprogramm des Zaris-
mus. Verf. behauptet, daß die Rückkehr der Unierten in die griechisch-
katholische Kirche aus Gründen der Unterwürfigkeit erfolgt ist — eine Be-
hauptung, über deren Richtigkeit sich streiten läßt. Es haben da vermutlich
auch andere Gründe mitgewirkt. Wie wenig wurzelfest die unierte Kirche
in Weißrußland war, zeigt die Tatsache, daß nach dem Staatsedikt vom
28. April 1905 Tausende Weißrussen zur katholischen Kirche übertreten.
Verf. schildert die Verdienste der unierten Kirche unter Hervorhebung
ihrer kulturellen Tätigkeit seit der Gründung des Basilianerordens. Er
verweist ferner auf das Beispiel Galiziens, wo die unierte Kirche das
ukrainische Nationalbewußitsein erhalten und gefördert hat.
Z. ist der Ansicht, daß bei günstigen Bedingungen (d. h, wenn Weib-
rußland nicht von Rußland verschlungen worden wäre) die unierte Kirche
in Weißrußland eine ähnliche Rolle gespielt hatte.
Verf. plädiert für Erneuerung der Kirchenunion auch aus dem Grunde,
weil die unierte Kirche im Interesse Polens liege und geeignet sei, die durch
das Medium der gricchisch-katholischen Kirche eindringenden Moskauer
Einflüsse abzuschwächen.
Zu den Ausführungen von Z. ware wohl zu sagen, daß die Idee der
unierien Kirche als weißrussischer Nationalkirche bereits um 1905 von der
weißrussischen Renaissancebewegung aufgenommen wurde. Ich habe in
diesem Sinne um 1905 mit einem ,Apostel” der galizischen Unierten, Vater
Lomnigki, verhandelt, doch die spätere Entwicklung ging andere Wege.
‚Der Vergleich des Verf. mit Galizien hinkt schon deshalb, weil in
Galizien die unierte Kirche sich 150 Jahre lang frei sowohl vom russischen,
wie auch vom polnischen staatlich-kirchlichen Imperialismus entwickelt hat,
und zwar unter österreichischer Herrschaft, die allen Nationalitäten und
Konfessionen die Freiheit ihrer kulturellen Entwicklung gewährt hat. Das
„österreichische“ Argument des Verf. erinnert an die während des Welt-
krieges von gewissen weißrussischen Kreisen veriretene Auffassung, daß
für die nationale Renaissance des weißrussischen Volkes, wie für die des
galizischen Ukrainertums das „deutsche Staaissanatorium” die günstigste
Form gewesen wäre. Eine Auffassung, die charakteristisch für das Miß-
trauen ist, das die weißrussischen Intellektuellen sowohl zu den Russen,
wie auch zu den Palen hegen. Vladimir Samojlo.
Jazep Zygolouski: Die Lage der weißrussischen Bewegung in
den lezten zehn Jahren. — Gramadzjanin 1928, Heft 13, S. 4—7.
In den Vordergrund seiner Beirachtung rückt Verf. die Stellungnahme
der russ. demokratischen Parteien zu den weißrussischen Unabhängigkeits-
bestrebungen. 1917 war die Idee der weißrussischen Unabhängigkeit reich-
lich unpopular. Ende 1917 fand eine allweißrussische Tagung statt, die sich
lediglich für eine Föderation mit Rußland, nicht aber für eine staatliche
Trennung aussprach.
157
Bewegung um 1917 noch im Stadium der Organisation. Nur die Belaru-
skaja sacyjalisti¢naja Hromada hatte bereits eine wohlgeformte Ideologie.
aber selbst diese Gruppe stellte sich noch nicht ganz klar vor, ob Weiß-
rußland gänzlich unabhängig sein oder eine Föderation mit irgendeinem
anderen Staate eingehen sollte. Noch im Mai 1917 sprach sich diese
Gruppe gegen national-weißrussische Heeresformationen aus. Verf. macht
der weißrussischen sozialistischen Hromada deswegen Vorwürfe, weil ihre
damalige Haltung in dieser Frage das jetzige Schicksal Weißrußlands be-
dingt habe. Nicht mindere Schuld trifft nach Auffassung des Verfassers die
Führer der russischen demokratischen Parteien, die die Reorganisation der
damaligen russischen Armee auf national-territorialer Grundlage aus groß-
russischen Motiven zu hintertreiben wußten. Trob dieser Stellungnahme
der Kommissare der provisorischen Regierung vollzog sich die territorial-
nationale Umgruppierung der Armee von selbst. Als charakteristisch für
die Stellungnahme der damaligen Führer der demokratischen russischen
Parteien bringt der Verfasser folgenden Ausspruch des bekannten russischen
Sozialdemokraten Wojtinski, der damals Kommissar der 12. Armee war:
„Es gibt überhaupt keine Weißrussen. Das ist eine Erfindung eines Häuf-
leins Intellektueller und polnischer Gutsbesitzer. Wir können nicht eine
Organisation zulassen, die die russische Armee zersetzen wird.“ Die
russischen Demokraten benutzten die Teilnahme von Skirmunt und der
Fürstin Radziwill an der weißrussischen nationalen Bewegung, um diese als
polnische Mache darzustellen.
Nicht minder feindlich als die Stellungnahme der russischen Sozial-
demokraten zu der national-weigrussischen Bewegung war die Stellung-
nahme der russischen Sozial-Revolutionäre. Der Bürgermeister von Minsk,
Kaščenko, der der Partei der Sozial-Revolutionäre angehörte, habe den
weißrussischen Frontdelegierten, die um einen Versammlungsraum baten,
erwidert: „Ihr könnt euch auf der Straße selbst bestimmen ...“
_ Die Tagung der weißrussischen Frontdelegierten, die die Schaffung
einer weißrussischen Armee erstrebte, kam zu spät. Inzwischen erfolgte
der Oktoberumsturz.
Wie wenig Verständnis die russischen Parteien für die nationalen Be-
strebungen der Weißrussen hatten, beweist die Tatsache, daß, als auf der
allrussischen Staatsberatung in Moskau die Weißrussen die Autonomie
Weißrußlands forderten, man sie als „deutsche Spione“ bezeichnete.
_ Selbst in der Emigration haben die russischen demokratischen Parteien
kein Verständnis für die national-weißrussischen Bestrebungen. So hat der
russische Sozialdemokrat Abramovič die Zulassung bos et Dele-
gierter zu dem Hamburger Sozialistenkongreß hintertrieben mit der Be-
gründung, daß die russischen Sozialdemokraten (Menschewisten) ganz Rub-
land, also auch Weißrußland, vertreten.
Es muß hinzugefügt werden, daß die Ausführungen des Verfassers cum
grano salis aufzunehmen sind. Wie wenig objektiv seine Darstellung ist,
ist daraus zu ersehen, daß z. B. in der Frage der Tagung der weißrussischen
Frontdelegierten in Minsk im Oktober 1917 auf mein Ersuchen für diese
Tagung die besten Säle des Gouverneurhauses zur Verfügung gestellt
wurden — gewiß eine unbedeutende Tatsache, die jedoch beweist, daß die
damaligen russischen Behörden die weißrussischen nationalen Bestrebungen
keineswegs so schroff bekampften, wie es der Verfasser darstellt.
Vladimir Samojlo.
Nach der Darstellung des Verfassers war die .
Kasimir Svajak: Das weißrussische Volkslied. — Belaruskaja
Krynica, 1927, Heft 21— 22.
Der Artikel stammt aus dem literarischen Nachlaß des früh verst. weiß-
russ. kath. Dichters und Priesters Ste po vi & (1890-196), der unter dem
Pseudonym Kasimir Svajak schrieb. Verf. weist darauf hin, daß der
an sich reiche Liederscha des weißruss. Volkes wenig religiöse Lieder auf-
158
weist. Dies sei darauf zurückzuführen, dak der Weißrusse in fremden
Sprachen (Polnisch oder Kirchenslavisch) betet, das Volksschaffen sich aber
nur in der Muttersprache entfalten kann. Aus der Zeit der Union blieben
noch einige weißruss. Kirchengesänge, doch seien sie farblose Ubersetzungen
aus dem Poin. ohne eigene Note. Dagegen weist der Liederschak des
weißruss. Volkes „halb-religiöse“ Lieder auf. Darunter versteht Verf. na-
mentlich die Beerdigungslieder, die sog. »plači« oder auch »zaplacki«, in
denen der Schmerz der Witwen und Waisen zum Ausdruck kommt. In alten
Zeiten wurden diese »zaplacki« von einem Chor bei Begehung der rituellen
Seite der Beisetzung gesungen. Das Christentum hat diesen heidnischen
Ritus durch die Totenmesse ersetzt. Von dem uralten Ritus blieb nur ein
Volksbrauch, der z. T. christliche Elemente aufgenommen hat. Verf. er-
wähnt auch die Gesänge der sog. „valačobnikau“, die zu Ostern durch die
Dörfer ziehen und die Auferstehung Christi verherrlichen. Indessen sind
diese Volkslieder gegenwärtig nur noch wenig verbreitet, und man muß
den Eihnographen Dank zollen, daß sie durch rechtzeitige Sammlung dieser
Gesänge sie vor der Vergessenheit bewahrt haben. Lebensfähiger sind da-
gegen die Volkslieder, die sich auf Familienfeste beziehen oder auch solche,
die mit verschiedenen Landarbeiten zusammenhängen.
Die Hochzeitslieder sind reichlich derb und anzüglich, was wohl dem
Umstand zuzuschreiben ist, daß sie unter der Wirkung reichlichen Alkohol-
genusses zustande gekommen sind. Besonders beliebt sind unter den Volks-
hedern die sog. ,castuski“, die aber mit den großrussischen
eCastuSki“ keineswegs identisch sind. Bei den großrussischen
„CastuSki” handelt es sich in der Regel um Proletenlieder, jedenfalls Poesie
des Asphalts. Die weißrussischen „Castuäki“ dagegen sind humoristische
„Dewirtungslieder“: „Lastavac“ bedeutet nämlich „bewirten“. „Castuski“
singt die Heiratsvermittlerin oder auch ein Madchenchor. Hinzu kommen
Volkslieder mehr oder minder phantastischen Inhalts über Wasser- und
Waldgeister. Aus diesem rasch Volksschatz haben weißrussische Dichter
Arsen eve. Bogdanovič) viele Motive und Gestalten geschöpft.
In musikalischer Hinsicht wird das weißrussische Volkslied durch die
Schönheit und Wehmut der Klage gekennzeichnet, in der sich die histori-
schen Geschicke der Weißrussen spiegeln. Verf. weist darauf hin, daß auch
fremdstämmige Dichter und Komponisten beim weißrussischen Volkslied
Anleihen machten, und zwar ohne Quellenangabe. Namentlich trifft dies
für Mickievicz und Moniuszko zu. Abschließend bemerkt Verf., daß das
weißruss. Volkslied in den Werken der jungen Dichtergeneration Weißruß-
lands seine Auferstehung feiert. Das Studium der weißrussischen Volks-
musik sei noch in dem Anfangsstadium.
Zu den Ausführungen des Verf. wäre zu sagen, daß er eine eigenartige
Symbiose von Katholizismus und weißrussischem Nationalbewußtsein bietet.
Er liebt das alte weißrussische Volkslied mit den Spuren heidnischer Ver-
gangenheit und bemängelt gleichzeitig das Fehlen weißrussischer Kirchen-
gesange! Wenn wir einen Vergleich mit Polen ziehen, so finden wir, daß
dort das katholische Christentum das alte heidnische Volkslied fast gänzlich
erdrosselt hat. Dafür ist allerdings die polnische „Volkspoesie“ an reli-
9 Kantaten reich genug. Es bleibt zu bezweifeln, ob Verf. für sein
olk das Gleiche gewünscht hatte! Vladimir Samojlo.
S.: Die Märchen der PaljaSuki. — Belaruski Dzen’, 1928, 16—21.
Aliaxander SerZputouski: „Die Märchen und Legenden der
Weißrussen im Kreis Sluizk.“ — Verlag des Instituts für weiß-
russische Kultur in Minsk. 1926.
Die Bewohner des Sumpfgebiets Polesje sind wohl der unbeweglichste
Volksstamm Europas. Fernab von den großen Verkehrswegen, verloren in
dem ewigen Einerlei der Sümpfe, schuf der geschichtslose Stamm der
159
Palja3uki eine üppige Volksdichtung. Diese Volksdichtung enthält bemer-
kenswerterweise nicht nur eine Moral des alltäglichen Lebens, sondern auch
Elemente einer Lebensphilosophie, die selbst von einer hohen Sozial-Ethik
Zeugnis ablegt.
Die Märchen der Weißrussen (insbesondere der PaljaSuki, d. h. der
Bewohner des Polesjegebiets) zeugen von einer hohen dichterischen Be-
gabung des Volkes. E. R. Romanov sammelte drei große Bande weif-
russischer Volksmärchen. Ferner liegen 2 Bande weigrussischer Volks-
märchen von M. Federovski vor. Hinzu kommen unzählige kleinere Samm-
Nach den Berechnungen von S. W. Savéenko sind in ganz Weiß-
rußland etwa 1500 Varianten von Volksmärchen aufgeschrieben worden.
Von allen diesen Sammlungen ist die von SerZputouski besonders wertvoll
dank den wissenschaftlichen Methoden der Aufzeichnung und dem Reichtum
des Materials.
Die Märchen der Palja3uki sind Anfang des 20. Jahrhunderts in den
Kreisen Sluck und Mosyr aufgezeichnet worden, wobei sich das Alter ein-
zelner Märchen kaum ermitteln laßt. Das Märchen wächst wie die Perle in
der Muschelschale. Das Körnchen völkischer oder fremdstämmiger Intuition
auf Grund moralischer Erfahrung oder aus dichterischer oder auch religiöser
Inspiration wird von anderen Schichtungen der Phantasie umgeben. In den
Volksmarchen kann man gewissermaßen die Historiographie des weiß-
russischen bäuerlichen Gedankens verfolgen. Manche dieser Märchen
stammen aus der heidnischen Vorzeit. Wie SerZputouski hervorhebt, werden
die Märchen in der Regel von älteren Leuten geschaffen und weitergegeben,
von Leuten, die den Höhepunkt ihrer geistigen Reife erreicht haben. Daher
sind diese Volksmärchen von Perlen synthetischer Volksweisheit gesattigt.
Sie enthalten in künstlerischer Form den Niederschlag der Lebensphilosophie
und Weltanschauung des Volkes. Sie enthalten eine Unzahl von Sprüchen,
Sprichwörtern, volkstümlichen Redensarten, die in präziser mnemotechnischer
Form die Lebenserfahrung des Volkes zusammenfassen.
Charakteristisch für diese Volksmärchen ist die Mischung christlicher
und heidnischer Elemente: im Laufe ihrer Entwicklung wird der ganze Olymp
der heidnischen Götter durch den christlichen Alleingott erobert und ver-
drängt. An Stelle des früheren mechanischen Gleichgewichts von Gut und
Böse tritt ein kritischer Volksoptimismus, der moralisch und religiös im
Christentum fußt. Der Kampf dieser beiden Weltanschauungen findet im
weißrussischen Volksmärchen einen starken Widerhall.
Charakteristisch ist eine Reihe Märchen, die die Herkunft verschiedener
Tiere erklären (Storch, Bar, Schwein u. a. m.) — als Menschen, die für eine
bestimmte Sünde bestraft seien. Es liegt hier offenbar eine spätere Um-
arbeitung der Grundelemente vor. Das Märchen „Vom weisen Salomo“ ist
der Ausdruck eines kosmologischen Optimismus des Volkes: selbst die
widerwartigsten Insekten und Tiere finden in dem Weltall eine der Gesamt-
heit nüßliche Stellung. Das Märchen klingt in der Weisheit ous. daß es ohne
das Bose auch das Gute nicht geben würde — ein Gedanke über die utili-
taristische Mission des Bösen in der Welt, der eines Leibniz würdig wäre.
Das weißrussische Volksmärchen spiegelt nicht nur das Volksleben wider,
sondern versucht es auch auf Grund moralisch-religiöser Prinzipien zu
reformieren. In dieser Art Märchen werden die Volksübel, insbesondere die
Trunksucht, verdammt und ihre schädlichen Folgen gezeigt.
Das Volksmärchen hebt die wahren religiösen Werte hervor, die Treu-
herzigkeit im Gebet und in den guten Werken und stellt sie der Uberheb-
lichkeit der offiziellen Geistlichkeit mit ihrer reglementierten Kirchengelehri-
heit entgegen: der „im Geiste arme Einsiedler“ geht über das Wasser wie
ein Heiliger und rettet den stolzen übermütigen Pfaffen, der ihm auf das
Wasser folgt und dabei beinahe ertrinkt. :
Nicht minder bemerkenswert ist die Sozial-Ethik des weißrussischen
Volksmärchens. Sie enthält eine scharfe Verurteilung des krassen Egoismus
des Individuums, eine kollektivistische Moral und chiliastische Hoffnungen.
Wilna. Vladimir Samojlo.
140
Jasep S’vetasar: Ales’ Oarun und sein literarisches Schaffen.
— Belaruskaje Slova 1927, Heft 27—29.
Unter dem Pseudon Ales’ Garun’ schrieb der weißrussische Dichter
PruSinski. (1887 1920.) stammte aus einer Arbeiterfamilie und war in
Minsk geboren. Früh widmete er sich der revolutionären Tätigkeit. Er
wurde 1906 nach Sibirien verbannt. Sein Aufenthalt in Sibirien (1908—1914)
bedeutet für ihn Sammlung und innere Einkehr. Statt revolutionärer No-
vellen schreibt er nun philosophisch-mystische Gedichte. Erst 1918 erschien
in Minsk sein Versband „Matöyn Dar“. Viele wertvolle Gedichte von G.
sind noch in Zeitungen und Zeitschriften zerstreut. Neben Bogdanovič ge-
hört Garun’ zu den Protagonisten des Impressionismus in der weißrussischen
Dichtung. Sehr eigenartig ist, daß trob seiner proletarischen Abstammung
und revolutionären Vergangenheit G. ın seiner Dichtung den weißrussischen
Romantikern des 19. Jahrhunderts näher steht als der proletarischen Dich-
tung der Gegenwart. Er ist Träger der Ideenwelt des adligen Liberalismus,
ein Dichter der „szlachta“. Gänzlich fehlen seiner Dichtung Motive des
proletarischen Klassenhasses. Im Gegenteil, patriotische Erlebnisse (?) und
philosophische Reflexionen bilden den Hauptinhalt seiner Poesie. Verf.
führt dies auf den Einfluß der konservativ-adligen polnischen Dichtung
zurück. Allerdings verschweigt Verf. auch nicht, daß diese polnischen Ein-
Nüsse dazu beitrugen, daß Garun’s Dichtung von Polonismen überfüllt ist.
Vladimir Samojlo.
AntonNavina: Anton Ljavicki. — Rodnyja Goni 1927, kn. 1.
Unter dem Pseudonym Anton Navina schreibt über Fragen weiß-
russischer Literatur und Kultur einer der besten Kenner der weißrussischen
Literatur und zugleich ein bedeutender Führer weißrussischer nationaler
Renaissance — Anton Luckevié. Die vorliegende 5 ist die
Wiedergabe eines Vortrags, den Anton Luckevié anläßlich des fünften
Jahrestages seit dem Tode des bedeutendsten weißrussischen Novellisten
Anton Ljavicki gehalten hat.
Ljavicki (t 1921) stammte aus jenem weißrussischen Kleinadel, der
unter dem Einfluß zweier mächtiger Bewegungen stand — einerseits die
national-romantischen Freiheitsbestrebungen der 2 andererseits der
soziale Befreiungskampf des russischen Bauernlums. Als Weißrussen fühl-
ten sie sich zu dem bluts verwandten Bauerntum hingezogen. Aber ihr
es alter ego zog sie wieder ins Lager der polnischen Klassengenossen.
So schwankte diese Schicht jahrzehntelang zwischen den beiden Bewegun-
gen, ohne sich endgültig zu binden. L., der ihr entstammte, der alle ihre
inneren Konflikte selbst durchmachte, konnte auch am besten diese Gesell-
schaftsschicht künstlerisch darstellen. Allmählich siegte beim weißrussischen
Kleinadel die nationale Solidarität über die Klassensolidarität. Wie Schuppen
felen von ihnen die Floskeln polnischer Kultur ab. Navina (Luckevic) zeigt
in seiner Abhandlung, wie allmählich Ljavicki sich von den polnischen Ein-
fliissen emanzipierte. Dieser Kampf mit seinem adligen alter ego fiel ihm
nicht leicht. Erst in seinen letzten Werken schildert er Typen der weiß-
russischen Volksmasse, ohne daß zwischen den Zeilen eine Spur seiner
früheren adligen Weltanschauung zu finden ist. Die Originalität der Idee, die
Aufrichtigkeit des Empfindens, die leicht faßliche Form der Darstellung und
eine üppige Volkssprache sind ce Eigenschaften der Werke von Liavicki,
die ihm den ersten Plak unter den modernen Prosaschriftstellern Weißruß-
lands verschafften. Verf. ist der Ansicht, dag Ljavicki zwar als Dichter zu
seinem Volk den Weg gefunden habe, als Mensch aber dauernd unter seiner
Zwittersteliung litt. Restlos glücklich hätte er sich wohl nur im Kreise eines
C Adels gefühlt, wenn es einen solchen gegeben
€... er Dichter Ljavicki, der höher stand als der Mensch vicki,
dagegen fühlte überall im weißrussischen Leben Betrug und Fälschung,
überall, mit Ausnahme der Bauernwelt und der Natur. In der künstlerisch-
141
wahrheitsgeireuen Darstellung dieser beiden — der Wahrheit der Natur und
der Wahrheit des Volkes — siegte die künsilerische an Ljavickis über
den Menschen Liavicki. dimir Samojlo.
Zum ersten Jahrestag seit dem Tode von Svajak. — Belaruskaja
Krynica, 1927, Nr. 19.
Der anonyme Artikel stammt vermutlich aus der Feder des Priesters
Adam Stankevič — des nahen Freundes und Gesinnungsgenossen des ver-
storbenen weißrussischen katholischen Dichters Priester Stepovié, der unter
dem Pseudonym Svajak schrieb. Verf. unternimmt den Versuch, die Ein-
heit der Weltanschauung des verstorbenen Dichters nachzuweisen, nament-
lich bemüht er sich um den Nachweis, daß sein Bekenntnis zur weiß-
russisch-nationalen Idee zu seinem katholischen Bekenntnis in keinem
Gegensab stand. _
Diese Frage ist von der Kritik seinerzeit lebhaft erörtert worden,
wobei insbesondere die Kritiker Navina und Sulima sich bemühten, diesen
Gegensab in der Dichtung Svajaks aufzudecken.
Verf. versucht die Ausführungen dieser Kritiker dadurch abzuschwächen,
daß er die gelegentlichen Widersprüche in der Dichtung Svajaks darauf
zurückführt, daß dieser „in seinen Überzeugungen schwankte“.
Jedoch habe im späteren Verlauf seines Lebens seine Aufrichtigkeit,
eifriges Nachdenken, die Kenntnis der weißrussischen Volksseele ihn in
seinen Überzeugungen bestärkt. Das Christentum ist für Svajak die ein-
zige Quelle seines Schaffens, der Inhalt seines Lebens und des Lebens
seines Volkes. „Mit dem Volk — zu Gott! Es gibt keinen anderen Weg!“
war laut Verf. seine Maxime. Von der Hohe seiner christlichen Welt-
anschauung betrachtete Svajak die Wege der Entwicklung seines Volkes,
wandte sich gegen den Nationalismus und predigte das friedliche Neben-
einanderleben freier Völker. Seine christliche Weltanschauung veranlaßte
ihn gleichfalls, sich gegen die soziale Ungerechtigkeit zu wenden. Sein
Ideal war das unabhängige demokratische Weißrußland — gegen die
Gegner dieses Ideals schleuderte er die Pfeile seiner grimmigen Satire.
Verf. ist der Ansicht, daß erst die Veröffentlichung der nachgelassenen
Werke von Svajak den vollen Nachweis der Einheit seiner Weltanschauung
erbringen wird. Es muß hinzugefügt werden, oap die Bedeutung von Svajak
mehr auf politischem als literarischem Gebiet liegt. „Seiner Lyrik fehlt“,
nach dem treffenden Wort von Sulima, „Musik“. Sie ist auch durch Motive
und Erwägungen gekennzeichnet, die weniger durch Religiosität als durch
die Soutane bedingt sind. Aber zwischen dem Priester Svajak und dem
Dichter Svajak kommt es mitunter zu scharfen Zusammenstößen, so dak
in der Lyrik des Priesters mitunter auch Motive des Kampfes gegen Gott
durchklingen. Vladimir Samojlo.
T.: Kirche, Rache und Gefängnis. — Chryscianskaja Dumka, 1928,
Heft 16.
Verf. behandelt die unter dem gleichlautenden Titel erschienene Novelle
von St. Grynkevié. Sie ist auf dem mittelalterlichen Triptychonschema auf-
gebaut. Der Tiefe der Idee und der künstlerischen Vollendung der Form
nach ist diese Novelle eins der bedeutendsten Werke, die in den lebten
Jahren in weißrussischer Sprache erschienen sind. Ihr liegt ein tatsächlicher
Vorgang im Kreis Sokol’ski des Grodnogouvernements zugrunde. Der
ethnographische Charakter ist getreu gewahrt worden. Von der römisch-
katholischen Geistlichkeit aufgehetzte Andachtige stürmten in Novy Dvor
(Sokol’ski Kreis) die griechisch-katholische Kirche, um sie zu demolieren.
Wie Verf. mitteilt, hatte die wahrheitsgetreue Schilderung dieser Begeben-
heit in der Novelle zur Folge, daß manches Detail dieses kulturgeschichilich
und massenpsychologisch interessanten Vorganges von der politischen
Zensur ausgemerzt wurde.
142
Diese Novelle isi kuliurgeschichtlich äußerst bedeutsam, da sie ein
geireues Bild der Verhältnisse in Polnisch-Weißrußland gibi, wo der
kriegerische römische Katholizismus in Anlehnung an die Idee der vom
Carismus seiner Zeit erwiirgten Kirchenunion Revanche gegenüber der
griechisch-katholischen Kirche sucht und selbst vor solchen Mitteln, wie der
Sturm auf die griechisch-katholische Kirche nicht zurückschreckt. Verf.
verurteilt, obwohl selbst römisch-katholisch, solche Kampfmethoden, da sie
das Gefühl der andersgläubigen Weißrussen verlesen und gerade der Idee
der Kirchenunion schädlich sind.
Neben der kulturgeschichtlichen Bedeutung der Schilderung der Glau-
benskämpfe verdient die Novelle auch Beachtung dank ihrer üppigen Volks-
sprache.
Der Dichter nkevié hat der weißrussischen Liferatursprache manchen
Ausdruck, manche Redewendung der Volkssprache zugeführt. Verf. emp-
fehlt die Novelle der Beachtung der Ubersefer. Vladimir Samojlo.
Anton Navina: „Unter dem blauen Himmel“, ein Versband von
N. Arseneva. — Na3a Prauda, 1927, Nr. 35.
Anton Navina (Luce vic) räumt Natalja Arseneva den ersten Platz
unter den Dichtern Polnisch-Weißrußlands ein. Sie gehört weder dem
Lager der Romantiker an, die passiv die Erlösung des weißrussischen Volkes
von einem Wunder erhoffen, noch dem Lager der Kämpfer, die predigen,
& man das Schicksal mit Blut und Eisen meistern soll. Ihre Lebens-
philosophie ist anders geartet — für sie ist das Leben an sich ein Glück.
Verf. behandelt die Einflüsse anderer Dichter auf das Schaffen der
Arseneva. Für ihre Lehrmeister hält er vor allem die beiden Koriphäen
weißrussischer lyrischer Dichtung — Kupala und Bogdanovič, zum Teil auch
die Dichterin Konstancija Bujlo. Kupala verdankt Arseneva die Farben-
buntheit ihrer Dichtung, die Uppigkeit des Rhythmus. Ihre Lieblingsfarben
sind Blau, Gold und Purpur. Ihm verdankt sie gleichfalls die Wucht ihrer
ry LE n Arseneva wuchs auf unter dem Einfluß der Technik
von Kupala.
Bogdanovič lehrte Arseneva jede Naturschilderung mit einer Reflexion
zu verbinden, mit Stimmungen, Betrachtungen. Aber der Lehrmeister Bog-
danovič war ein kranker, leidender Mann (schwindsuchtig), Arseneva’s Dich-
tung aber ist — trob des nachdenklichen Tons — getragen vom Gefühl der
Lebensfreude. Den blassen, anämischen Farben Bogdanovic’s seht sie die
üppige Farbenpracht ihrer Palette entgegen. Bogdanovič berührt mehr
breitere, allmenschliche Probleme, Arseneva ist individualistisch eingestellt.
Beiden gemeinsam ist die Vorliebe für Themata der Volksdichtung, die
Nachdichtung von Motiven der OPOE
Die feminine Art ihres Weltempfindens bringt Arseneva in Berührung
mit Konstancija Bujlo, doch die erotischen Motive der Dichtung der Lebteren
sind Arseneva fremd. Verf. führt gerade auf diese feminine Art des Emp-
findens der Arseneva die Tatsache zurück, daß diese Tochter der sonnigen
Krim Verständnis und Liebe für das arme und gedemütigte weißrussische
Volk aufbrachte und ihm ihre schöpferischen Kräfte widmete. Verf. er-
wartet von Arseneva, deren Schaffen dem Geist des weißrussischen Volkes
ın kongenialer Art entspricht, weitere bedeutende Werke.
Diese Charakteristik der Dichtung der Arseneva, die aus der Feder des
berufensten weißrussischen Kritikers stammt, ist sowohl der Knappheit und
Präzision der Darstellung, wie auch der Form nach eine Meisterleistung,
wie es ja bei den Abhandlungen von Navina (Luckevič) gewöhnlich der
Fall ist. Es bleibt lediglich zu bedauern, daß N. bei seiner Betrachtung
der Einflüsse anderer Dichter auf das Schaffen der Arseneva sich lediglich
auf weißrussische Dichter beschränkt hat und nicht viel weiter und breiter
gegriffen hat. Namentlich ware es verdiensivoll, den Einfluß von Goethe
auf die Lyrik der Arseneva einer Betrachtung zu unterziehen.
Wilna. Vladinfir Samojlo.
145
Fr. GrySkevié: Die weißrussische Literatur in russischer Uber-
tragung. — Belaruskaja Krynica 1927, Heft 39.
Verf. behandelt die in Minsk in russischer Sprache erschienene An-
thologie 1 i ssischer irischer Dichtung und weißrussischer Prosawerke.
Diese Anthologie ist unter dem Titel „Prostory“ im weißrussischen Staats-
verlag erschienen. Während in litauischer, lettischer, tschechischer, ukrai-
nischer, polnischer, deutscher und sogar in italienischer Sprache Überr
sesongen von Werken weißrussischer Dichter und Schriftsteller nee
war bisher in russischer Sprache die Auswahl an weißrussisch
Werken recht arm. Abgesehen von einem Versband von Kupala, der in der
Übertragung von Brjusov in russischer Sprache erschienen ist, gab es
in russischer Sprache an Übertragungen aus der weißrussischen Sprache
lediglich kleinere, in Zeitschriften zerstreute Novellen. Mithin füllt die
Sammlung „Prostory“ eine vorhandene Lücke aus. Sowohl der Auswahl
der Werke, wie der Vollendung der Übertragung nach kann die Anthologie
als gelungenes Experiment bezeichnet werden. Sie enthält Gedichte von
Kupala, Michasja, Carota, Alexandrovič und Dudar. Die Gedichte wurden
13 Russische von Brjusov, Korinfski, Cvetkov und M. Goldberg über-
agen.
Die Prosaabteilung enthält Ubertragungen von Werken von Taras Oušča
(das Prosapseudonym des unter dem Pseudonym jakub Kolas bekannten
Dichters K. Mickevié), Biadulja u. a. m.
Verf. bezeichnet die Übertragung von Briusov als die vollkommenste,
die dem Original selbst in den feinsten Details ausgezeichnet folgt.
Soweit ich den Auszügen nach beurteilen kann, sind die Übertragungen
von Brjusov wirklich ausgezeichnet. Er hat bereits während des Welikriegs
mit weißrussischen Kreisen Fühlung genommen, sich lebhaft für ihre Be-
strebungen und die weißrussische Dichtung interessiert. Übertragungen
von Brjusov bedürfen keiner Empfehlung. Vladimir Samojlo.
Berichtigung za N. F. IV, Heft 4 S. 574
Die Abhandlung: „J. A. Comenius“ usw. stammt von Herrn Prof.
Dr. Jan Kvačala (Pregburg). In der Überschrift war der Vorname des
Herrn Verf. versehentlich weggeblieben. E. H.
144
OSTEUROPA-INSTITUT IN BRESLAU
JAHRBÜCHER
FÜR
KULTUR UND GESCHICHTE
DER SLAVEN
IM AUFTRAGE DES OSTEUROPA-INSTITUTS
HERAUSGEGEBEN VON
PAUL DIELS-BRESLAU, FELIX HAASE-BRESLAU,
ERDMANN HANISCH-BRESLAU, ROBERT HOLTZ-
MANN-HALLE, JOSEF MATL-GRAZ, HEINRICH
FELIX SCHMID-GRAZ, KARL STÄHLIN-BERLIN,
KARL VÖLKER-WIEN, WILHELM WOSTRY-PRAG
SCHRIFTLEITUNG:
ERDMANN HANISCH
*
N. F. BAND v. HEFT u
1929
— ̃ ... «⅛ꝗ:a ... .. ,½⁰⏑0,ũ,ũĩ—i,ð,: ——ßß—ß8ß——
PRIEBATSCH’S BUCHHANDLUNG
BRESLAU, RING 58, UND OPPELN
Digitized by Google
|
ABHANDLUNGEN
N.V. GOGOL’ ALS MALER
Von
Emmy Haertel.
Wer als maltechnisch Erfahrener Gogols Werke aufmerksam
durchliest, dem wird sich häufig die Wahrnehmung aufdrängen, daß
es in ihnen Stellen gibt, welche deutlich erkennen lassen, daß Gogol
im Augenblick ihrer Niederschrift Farben- oder Licht- und Schatten-
phanomene im Geiste vor sich gesehen haben muß, wie sie das Auge
des Malers fesseln, wenn er sich darüber klar zu werden sucht, wie
sie mit den Mitteln seiner Kunst festzuhalten seien. Sei es, daß ein
Blick ins Weite ihm Lufflöne von ganz besonderem Reiz zeigt, daß
ein Gegenstand plößlich in ungeahnten Farben aufleuchtet oder daß
Sonnenlichter über dunklen Grund glitzernd hinziehen. Und verfolgt
man diese Außerungen einer ausgesprochen künstlerischen Seh-
technik, so kann man sehen, daß das eine oder andere Beleuchtungs-
problem sich durch ganze Perioden seines dichterischen Schaffens
hinzieht und daß sich in die Wortkunst Gogols häufig seine Malkunst
verflochten hat. Gogol als Asthet und Kunstkenner hat ja von jeher
die Gogolforschung beschäftigt, der Maler in ihm ist dagegen nur
auffallend wenig beachtet worden, obgleich doch seine großen natür-
lichen Anlagen zur Malerei an und für sich in dem gleichen Maße
hätten Interesse erregen sollen, wie das sonst bei starker Doppel-
begabung literarischer Größen der Fall ist. Ja, wenn man die Gogol-
literatur der letzten Jahrzehnte verfolgt, wird man die Beobachtung
machen können, daß in ihr das Interesse für diese Seite seines
Wesens abgenommen hat. Wer wird, wenn er z. B. Merezkovskijs
„Gogol'. Zizn’ i tvoréestvo" liest, auch nur im entferntesten ahnen,
daß die hier gezeichnete Persönlichkeit in die große Schar der
Malerdichter oder Dichtermaler gehört, welche — angefangen von
Michelangelo über Goethe, E. T. A. Hoffmann und Gottfried Keller
hinaus bis zu Strindberg und Wyspiański hin — durch die Doppel-
natur ihres geistigen Wesens auch ein doppeltes Interesse bean-
spruchen können! Und dabei bietet gerade Gogol in dieser Hinsicht
ein besonders interessantes Beobachtungsobjekt, da, wie bereits
145
gesagt, ın den literarischen Schaffensprozeß bei ihm malerische In-
spirationen sehr häufig eingedrungen sind, und, wie im Folgenden
nachgewiesen werden soll, gerade bei Neubearbeitungen älterer
Texte eine nicht unbeträchtliche Rolle gespielt haben.
Man muß zu den älteren biographischen Werken über Gogol
greifen, wenn man Unterlagen gewinnen will dafür, ob die Beweise
maltechnisch geschulten Sehens bei ihm auch wirklich gestützt werden
können durch Daten aus seinem Leben. Und hier zeigt gleich das
älteste unter ihnen, die von Pant. Al. Kuliš veröffentlichten Zapiski,
ein recht interessantes Bild von dem malenden Gogol. Kuliš war
nicht lange nach Gogols Tode herausgefahren nach Vasil’evka, hatte
dort noch die Mutter Gogols gesprochen, Malereien von seiner Hand
gesehen und die ganze zu dem künstlerischen Empfinden Gogols
untrennbar gehörende Atmosphäre einer ukrainischen Landschaft in
sich aufgenommen. Er hatte auch im Lyzeum von NeZin mit Gogols
Zeichenlehrer Pavlov eingehend gesprochen und bemerkt. dazu:
„Gogol hatte sich die Grundbegriffe der schönen Künste bereits in
der Schule angeeignet... und von jener Zeit ab fingen die Gegen-
stände an, sich vor seinen Augen so bestimmt abzuzeichnen, wie sie
nur Menschen sehen, welche mit der Malerei vertraut sind“. Kuliš
wird hier, nächst der visuellen Fähigkeit Gogols zu scharfster Er-
fassung charakteristischer Merkmale des zu Schildernden, seine
besonders malerisch anmutenden Landschaftsszenerien gemeint
haben. Es sei gleich hier darauf hingewiesen, daß es sich bei den
Beobachtungen, welche dieser Studie zugrunde liegen, im all-
gemeinen nicht um solche nach landläufigen Begriffen „malerischen“
Schilderungen handelt, sondern vielmehr um Textstellen, welche —
oft nicht einmal sprachlich sehr geglückt — meistens nur durch ein
paar Worte verraten, daß derjenige, welcher sie niederschrieb, fähig
war, mit den Augen des geschulten Zeichners und Malers Farben-
oder Lichtphanomene zu verfolgen. Unter der Fülle des Materials,
welches Senrok in seiner vierbändigen Biographie zusammengetragen,
drängen sich die Notizen über die Malinteressen Gogols nicht so
in den Vordergrund wie bei Kuli3 (leider konnte Bd. 3 mit der Schil-
derung der römischen Jahre nicht eingesehen werden, da er in keiner
unserer Bibliotheken vorhanden ist). Es wird aber häufig Bezug
genommen auf das Hineinspielen der malerischen Interessen Gogols
in sein literarisches Schaffen. Eine wertvolle Ergänzung findet dieses
biographische Material durch Memoiren der Freunde und Zeit-
genossen Gogols; die wertvoliste Auskunft stellen aber auto-
biographische Zeugnisse dar, welche man den Briefen Gogols ent-
nehmen kann. An erster Stelle sind hier zu nennen Äußerungen
Gogols, während der Schülerjahre an die Eltern, spaterhin an seine
Freunde gerichtet, welche von seinen eigenen Malstudien berichten,
daneben findet sein tätiges Verhältnis zur Malerei Ausdruck in Rat-
schlagen an Freunde, deren Malstudien betreffend, und schließlich
noch in einer Reihe von Bemerkungen, die seine Interessen für die
Malerei schlechthin bekunden. Einzelheiten daraus sind da und dort
146
in der Gogolliteratur zum Abdruck gelangt, wo von Gogol als Asthet
die Rede ist, am ausführlichsten bei Nazarevskij'), der für die Er-
kenninis der theoretischen Grundlagen der ästhetischen Anschauungen
Gogols bahnbrechend gewirkt hat. Es wäre eine lohnende Aufgabe,
das gesamte Material, das sich aus diesen Quellen über Gogol als
Maler, als Kunstkenner und Freund zeitgenössischer Maler gewinnen
laßt, im Rahmen einer größeren Veröffentlichung zusammenzustellen,
denn erst in seiner Fülle kann es überzeugend wirken dafür, daß
ein Verstehen Gogols in manchem Punkt kaum möglich sein wird,
wenn man die Bedeutung übersieht oder zu gering einschäbt, die
Gogols Malinteressen für sein ganzes Leben gehabt haben. Hier,
innerhalb eines räumlich beschränkten Rahmens, soll in möglichster
Kürze zitiert werden, was als Beweismaterial für seine — nicht ein-
mal allgemein bekannten — eigenen Anlagen zur Malerei und deren
technische Ausbildung dienen kann, und im Anschluß daran einige
der den Gogolschriften entnommenen Textstellen, welche ihn vor-
nehmlich als Landschafter erweisen.
Es folgen, soweit sie hierher gehören, Briefe in chronologischer
Reihenfolge nach der Senrokschen Ausgabe, auf die sich Band- und
Seitenzahlen beziehen. Briefe aus dem Gymnasium in NeZin. An
die Eltern, d. 22. 1. 1824. (l, 18) „.... Entschuldigen Sie, daß ich
Ihnen die Bilder nicht schicke. Sie haben anscheinend mißverstanden,
was ich Ihnen sagte: denn diese Bilder, welche ich Ihnen schicken
will, waren mit Pastellstiften gezeichnet und können nicht einen Tag
liegen bleiben ohne sich zu verwischen. Gogol bittet dann um
Ubersendung der entsprechenden Rahmen. — An die Eltern (vor
Weihnachten) 1824. (I, 23.) „.. lch habe mich lange abgemüht und
schließlich 3 Bilder gezeichnet und auch noch ein viertes an-
gefangen... Wenn Sie sie sehen würden, dann würden Sie gewiß
nicht glauben, daß ich das gezeichnet habe. Nur schade, daß sie
verderben werden, wenn sie ohne Rahmen bleiben, sie sind auf den
Grund gezeichnet und können nicht lange liegen bleiben...“ — An
die Eltern. März 1825. (l, 25.) „.. lch möchte Euch einige Bilder
schicken, die mit trocknen Farben auf Karton gezeichnet sind... ich
fürchte, daß sie unterwegs verderben könnten, denn es sind sehr
zarte Zeichnungen.‘ — An die Mutter. September 1825. (l, 35.)
„ . lch habe mit dem Zeichenlehrer gesprochen wegen meines Vor-
habens, nämlich wegen der Olmalerei. Er will die Besorgung einiger
Sachen übernehmen: Pinsel und einen Teil der Farben...“ — Von
der ersten Auslandsreise. An die Mutter. Lübeck 1829. (l, 131/32.)
„. Hier haben Sie den Blick auf die Straße aus meinem Fenster,
den ich schnell zu Papier gebracht habe...“ (Grigorij Danilevskij
berichtet von dieser Zeichnung anläßlich seiner Erinnerungen an
Vasil’evka.) — Aus Petersburg. An die Mutter 1830. (I, 159.) „.. Um
9 Uhr morgens begebe ich mich jeden Tag nach dem Amt und bleibe
dort bis 3 Uhr, um halb 4 Uhr esse ich zu Mittag, nach dem Mittag-
1) Ich verweise hier auf ae demnächst in der Zs. „Euphorion“ er-
scheinenden Aufs. „Gogol u. d. Kunst der deutschen Romantik“.
147
essen um 5 Uhr gehe ich in die Klasse der Akademie der Künste, wo
ich mich mit Malen beschäftige, das ich unter keinen Umständen auf-
geben kann, um so mehr als hier alle Mittel vorhanden sind, um sich
darin zu vervollständigen ... Durch die Bekannischaft mit den
Künstlern und sogar mit vielen berühmten, habe ich die Möglichkeil,
Vorteile und Mittel zu finden, die für andere unzugänglich sind.
— Briefe aus Rom. Im Februar 1839 an Gogols Jugendfreund Dani-
levskij. (I, 563.) „ . . (Gogol schildert den verdoppelten Genuß bei
der Betrachtung Roms durch die Anwesenheit des gleichfalls malerisch
hochtalentierten Zukovskij.) „Das war eine Art Himmelsbote für mich!
. . . Bis jetzt habe ich mehr den Pinsel in der Hand gehabt als die
Feder. Zukovskij und ich haben im Fluge die schönsten Blicke Roms
gezeichnet.. — An denselben (l, 565/66.) „ . . bitte, schicke mir
mit einem der Russen, die sich nach Italien begeben, einige Farben
der Fabrik Rapio .. .“ Es folgt dann die genaue Bezeichnung der
Farben nebst Nennung des Geschäftes, wo sie zu haben sind, der
Preise und der gecignetsten Art der Verpackung. — Im Februar 1839
an Zukovskij. (I, 568 ff) „... Meine Tasche mit den Farben ist
bereit, von heute ab ziehe ich den ganzen Tag zum Malen aus...
Gestern habe ich zu zeichnen versucht. Die Farben legen sich von
selbst hin, so daß Du Dich später wundern wirst, wie es gelungen ist,
Kolorit und Farbenübergänge zusammenzubringen. Wenn Sie nur
eine Woche länger hier geblieben wären, dann würden Sie nicht mehr
zum Bleistift gegriffen haben. Das Kolorit ist ungewöhnlich warm
geworden, jede Ruine, Säule, jeder Strauch, jeder zerrissene Straßen-
junge scheinen einen anzurufen und Farbe zu heischen ... Im Ko-
losseum haben Predigten angefangen. Volksmassen und Mönche mit
weißen Bärten, und alle vom Kopf bis zu den Füßen in Weiß ge-
kleidet wie antike Opferpriester. Die Drapierung ist ungewöhnlich
glücklich für unsereinen Halbmaler — ein Pinselstrich — und der
Mönch ist fertig. Gestern hatte mir die Sonne den einen beleuchtet,
während alle übrigen in Schatten gehüllt waren. Das war ein Effekt
zum Entzücken und so leicht zu malen.. Werde ich es noch er-
leben, daß wir beide zusammen sitzen werden, beide mit den Pinseln
in der Hand?“
Als Ergänzung zu diesen Briefstellen über die eigenen Arbeiten
muß hier noch der einzigen Stelle in den Werken Gogols gedacht
werden, wo er davon spricht. Sie steht in dem Aufsatz „Einige Worte
über Puškin“. „Mir kam ein Vorfall aus meiner Kindheit in Erinne-
rung. Ich habe immer eine kleine Leidenschaft für die Malerei in
mir gefühlt. Mich hatte eine von mir gemalte Landschaft sehr inter-
essiert, in welcher sich ein dürrer Baum im Vordergrund ausbreitet.
Dieses Bild und Tuschzeichnungen Gogols hat Kuliš bei seinem Be-
such in Vasil’evka gesehen, und an derselben Stelle, wo er davon
spricht (I, 22), erinnert er sich auch der Arbeiten Gogols, welche im
Lyzeum in NeZin aufbewahrt waren, einiger guter Landschaften,
Bilder historischen Inhalts und Porträts. Bei Kuli3 ist auch folgender
Vorfall aus einem gemeinsamen Aufenthalt Gogols mit der Smirnova
148
in Straßburg vom Jalıre 1837 erwähnt. Gogol hatte die Ornamente
der gotischen Säulen im Münster schnell mit Bleistift skizziert, und
auf die Bemerkung der Smirnova „Wie schön Sie zeichnen!‘ geant-
wortet: „Und das wissen Sie nicht?“ Er brachte ihr später eine
Federzeichnung davon mit. Schließlich bezeugen auch noch zwei
seiner Freunde die Maltalente Gogols. S. F. Aksakov erzählt in
seiner „istorija moego znakomstva s Gogolem“ von der gemeinsamen
Reise nach Petersburg, von Gogols begeisterten Gesprächen über
das Leben in Italien und über die Malerei, „die er: sehr liebte und für
die er entschieden Talent gehabt hat“. Und P. Annenkov erzählt, in
dem Gogol-Erinnerungen gewidmeten Aufsag der „Literaturnyja
vospominanija“, von gemeinsamen Spaziergängen mit Gogol zwischen
Albano und Castelgandolfo, bei denen es vorkam, daß Gogol „sich
als Maler begeisterte (er hat, wie bekannt, selbst gut gezeichnet)“.
Die hier erwähnten Erinnerungen Annenkovs sind nach jeder
Richtung hin ein äußerst wertvoller Kommentar für Gogols Verhältnis
zur Malerei, weil sie nicht nur einzelne Momente daraus berücksich-
tigen, sondern den gesamten psychischen Komplex zu erfassen
suchen, aus dem sich seine Eigenart erklärt. Annenkov sagt: „All-
gemein muß beachtet werden, daß seine Natur viele Eigenschaften der
südlichen Völker, welche er so sehr schätzte, besaß. Er legte auber-
ordentlich viel Wert auf äußeren Glanz, Reichtum und Mannigfaltig-
keit der Farben in Gegenständen . . auf das Effektvolle in Bildern
und Natur“ und weiterhin: „Im Leben war er sehr keusch und ent-
haltsam ..., aber in seiner Vorstellungswelti ist er ganz den
leidenschaftlichen südlichen Völkern ähnlich mit ihren nach außen
glänzenden Phantasiegebilden.“ Es drängt sich hier die Parallele
zu dem Landschaftsmaler Kuindži auf, über dessen, unserem moder-
nen Farbensinn so wenig adäquates, Kolorit Nevedomskij (Repin i
Kuindži. S. Ptbg. 1913) psychologisch sehr feine Bemerkungen macht.
Kuindži (der Abstammung nach Halbtatare) war im russischen Süden
geboren, was seine ausgesprochen südliche Natur ja vollkommen
verständlich macht. Nevedomskij hält in einer solchen das Sehen
elementar-kosmischer Farben für angeboren, da sich im Süden selten
feinere Farbenstimmungen dem Auge bieten. Wie immer man sich
den südlichen Einschlag im Farbenempfinden Gogols erklären mag,
daß er ursächlich mitgewirkt haben wird bei der Komposition der
ukrainischen Erzählungen und ihrer bunten Landschaften, wird nicht
bestritten werden können. Auch Kuindži hat, wie Nevedomskij sagt
65, ff.], in der grauen Natur Petersburgs von seinen Steppen ge-
träumt und diese Träume auf die Leinwand übertragen. „Süden und
Sonne erobern schließlich ihre Rechte endgültig in der Seele des
Malers. Die Aufgaben der Beleuchtung, die Macht des Lichtes: das
ist es, was ihn hauptsächlich interessiert‘ (46). In den nachfolgend
zitierten Texten wird man beobachten können, wie stark bei Gogol
ähnliche Tendenzen entwickelt waren. Es war gewiß kein Zufall,
daß Annenkov zu einem so in die Tiefe gehenden Urteil über Gogols
künstlerische Anlagen gekommen ist, denn er hatte ja Gelegenheit,
149
längere Zeit den römischen Aufenthalt Gogols als dessen Zimmer-
nachbar zu teilen und seine Reaktionsfähigkeit auf die Natur des
Südens zu beobachten. Gogols Freude an ungebrochenen Farben,
sein Nichibeachten feinerer Übergangstöne in der Natur veranlaßt
Pereverzev, die Gogolschen Landschaften, einschließlich der früher
so enthusiastisch gefeierten ukrainischen, einer sehr abfälligen Kritik
zu unterziehen, namentlich im Vergleich zu den Landschaftsbildern
Turgenevs und Tolstojs. Abgesehen davon, daß es vielleicht doch
nicht richtig ist, den zeitlichen Abstand zu Turgenev und Tolstoj in
Gogols Landschaftsschilderungen ganz zu übersehen, wird die Schluß-
folgerung, Gogol habe die Natur seiner Heimat gar nicht zu beob-
achten Gelegenheit gehabt, und seine ukrainischen Landschaften
seien ebenso aus Büchern und dem Folklore zusammengelesen und
konstruiert wie seine Kosakentypen, kaum zutreffend sein. Vermöge
seiner hochentwickelten visuellen Begabung und angeborenen Mal-
talenten, die er von klein auf gepflegt, muß Gogol alles, was sich ihm
auf den vielen Wagenfahrten zwischen Elternhaus und Schule und
im geselligen Verkehr zwischen Gutshof und Gutshof (man denke
hierbei bloß an das Gut TroStinskijs!) an Landschaft bot, mit größter
Eindrucksfähigkeit in sich aufgenommen haben. Außerdem hatte ihn
ja die Reise nach Petersburg auch mit neuen Bildern und Eindrücken
versorgt. Man wird also ohne weiteres annehmen können, daß Gogol
noch vor der Niederschrift seiner „Večera“ reichlich genug Gelegen-
heit zur Beobachtung der heimischen Landschaft gehabt hat, und
gerade in ihrer Schilderung spricht sich sein Farbengefühl sehr
deutlich aus.
Gogols exaltierte Sehnsucht nach Wärme und Farbe südlicherer
Himmelsstriche in dem, seinem Farbengefühl nach, ihm doppelt grau
und farblos erscheinenden Petersburg ist nicht nur aus dem physi-
schen Unbehagen einer besonders zart organisierten Körperlichkeit
zu erklären, sondern gehört mit hinein in seine ganze Reaktions-
fähigkeit auf visuelle Reize, löst das Rätsel seiner ltaliensehnsucht
und -liebe und ist für sein dichterisches Schaffen in der Petersburger
Periode von Bedeutung geworden. Eine Zusammenstellung alles
dessen, was in seinen Briefen von seiner Sehnsucht nach den Früh-
lingen und Sommern der Ukraine, nach ihren Farben und ihrer
üppigeren Natur spricht, würde es überzeugend vor Augen führen,
wie seine höchst reizbaren Gefühls- und Sehnerven zusammengezuckt
sein müssen unter dem Hauch von Kälte und Lichtlosigkeit. Hier nur
einige Proben daraus. Nach Briefen an die Mutter aus Petersburg,
in denen das leidenschaftliche Verlangen nach der Natur der Heimat
zum Ausdruck gekommen, ist es ein Brief an Dmitriev (l, 219), wo
Gogol von seiner ersten Fahrt nach Moskau berichtet: „. . . Bei der
Fahrt hat mich nur der Himmel gefesselt, der nach Maßgabe der An-
näherung an den Süden immer dunkelblauer und dunkelblauer wurde.
Mir ist der graue, fast grüne nordische Himmel langweilig geworden,
ebenso wie die einförmig düsteren Kiefern und Tannen, die auf der
Fahrt von Petersburg nach Moskau immer hinter mir herjagten.“ Und
150
hierzu stelle man vergleichsweise den Anfang’) der „Peterburgskie
Zapiski“: „Wahrhaftig, wohin die russische Hauptstadt nicht geworfen
worden ist, bis ans Ende der Welt! Ein sonderbares Volk, das
russische: die Hauptstadt war in Kiev — doch da war es zu warm,
zu wenig Kälte; da zog die russische Hauptstadt nach Moskau —
nein, auch da war zu wenig Kälte; nun, da bescher uns der Himmel
Petersburg! ... Was für Blicke, was für eine Natur! Die Luft von
Nebel durchzogen; auf der blassen, graugrünlichen Erde verkohite
Stumpfe, Kiefern, Tannenwald, moosige Hügel.. „Petersburg
liebt nicht bunte Farben“, heißt es weiterhin. Hier wird ohne weiteres
klar, daß in Gogols Widerwillen gegen Petersburg sein nach leb-
haften Farben verlangendes Auge eine wichtige Rolle spielt. Der
Niederschlag solcher unfrohen Farben-Empfindungen läßt sich be-
sonders gut im „Neskij Prospekt“ verfolgen. Das erste Auftreten
Piskarevs: „. . . ein Künstler im Lande des Schnees, ein Künstler
im Lande der Finnen, wo alles naß, glatt, eben, blaß, grau, neblig
ist!“ Die Studien dieser Petersburger Künstler und ihre Ateliers:
» . . die Wände mit Farben beschmiert, mit einem geöffneten
Fenster, durch welches die blasse Neva und blasse Fischer in roten
Blusen zu sehen sind. Bei ihnen trägt fast alles ein graues, trübes
Kolorit — der unverlöschliche Stempel des Nordens. Nicht nur
die Petersburger Fischer sind blaß, sondern auch die jungen Damen.
Die Leutnants vom Schlage des Pirogov verkehren in den Häusern
der Staatsräte, und deren Familientisch wird folgendermaßen geschil-
dert: „Einige blasse Töchter, ebenso vollkommen farblos wie Peters-
burg, von denen einige überreif sind, der Teetisch, das Fortepiano,
häusliche Tänze — das alles pflegt unzertrennlich zu sein von glän-
zenden Epauletten, welche beim Lampenlicht zwischen der wohl-
erzogenen Blondine und dem schwarzen Frack des lieben Bruders
oder eines Hausfreundes glitzern.“ Und diese Leuinants „besitzen
die besondere Gabe, diese farblosen Schönen zum Lachen und
zum Anhören (ihrer Witze! zu bringen“. Aber Petersburg wird
plötzlich an einem schönen, milden Frühlingsabend für Gogols
Malerauge interessant. Er schildert ihn und seine Einwirkung
auf die Farben des Stadtbildes kurz vor dem Ende der ,,Peter-
burgskie Zapiski“: „Die Neva war früh aufgetaut. .. . Die Haupt-
stadt veränderte sich plötzlich. Die Spike des Glockenturms
auf der Peter-Paulsfestung, die Festung selbst und die Vasilij-
Insel und die Vyborger Seite und der Englische Quai — alles
erhielt ein malerisches Aussehen ... Als ich ans Admiralitäts-
boulevard gelangt war . . als sich vor mir die Neva auftat, und als
) Die Textstellen werden nur nach Kapiteln, soweit eine solche Ein-
teilung vorhanden, oder nach der Zusammengehörigkeit zur ganzen Er-
zählung zitiert, nicht aber nach den Seitenzahlen irgendeiner bestimmten
Ausgabe. Benützt wurden zu dieser Studie die 4. Ausg. der Erben (M. 1880),
die Tichonravov-Ausg. und die mit dieser textlich übereinstimmende von
Ljackij. Die der Ausg. der Erben entnommenen Textstellen haben beim
Vergleich mit einer der beiden anderen Ausgaben nur geringfügige text-
hehe Abweichungen aufgewiesen.
151
die rosige Farbe des Himmels sich von der Vyborger Seite her mit
blauem Nebel umwölkte, da überzogen sich die Gebäude der Peters-
burger Seite mit einer fast lilaen Farbe, die ihre unansehnliche
Außenseite verbarg; als die Kirchen, bei denen der Nebel mit seinem
einfarbigen Bezug alle Wölbungen verhüllte, auf einen rosigen Stoff
gemalt oder geklebt erschienen, und als in diesem lila-blauen Nebel
nur allein die Spie des Glockenturms von Peter-Paul aufblifte und
sich in dem endlosen Spiegel der Neva widerspiegelie, — da schien
es mir, als wäre ich gar nicht in Petersburg, mir schien, ich wäre in
irgendeine andere Stadt verzogen, wo ich schon einmal war, wo ich
alles kenne, und wo das ist, was in Petersburg fehlt.. Und gleich
darauf wieder ein leidenschaftlicher Schrei nach dem Frühling, ähn-
lich denen, die in den Briefen an Maksimovié in Kiev wiederholt er-
tönen, in Briefen an Danilevskij u. a. O. „Ich liebe den Frühling leiden-
schaftlich. Sogar hier in diesem öden Norden ist er mein. Mir
kommt es vor, als liebe niemand in der Welt ihn so wie ich
Das Grausen vor Petersburg und seiner Natur spricht auch aus einem
Brief an die, Gogol von den Petersburger Jahren her befreundete,
Frau Balabina aus den ersten Zeiten seines römischen Aufenthaltes,
wo er seine Briefe aus Rombegeisterung von Gründung der Stadt an
datierte, hier mit dem Jahr 2588. (I, 491.) „ . . Sie gleichen jetzt einem
Gemälde, in welchem ein großer Künstler alle Mühe aufgewandt hat,
um eine schöne Gestalt zu schaffen, die er in den Vordergrund ge-
stellt. Darauf ist ihm die Lust vergangen, sich mit dem Übrigen zu
beschäftigen, den Hintergrund hat er hingeschmiert, wie es gerade
kam . . , und so ist es gekommen, daß sich hinter Ihnen Petersburg
befindet und die finnische Natur.“ Und in dem Brief vom 7. 11. 1838
(I, 544) an sie heißt es: „... bei dem Gedanken an Petersburg läuft
ein Kälteschauer über meine Haut, und meine Haut wird durch und
durch von fürchterlicher Feuchtigkeit und einer nebligen Atmosphäre
durchdrungen.
Und gegen die grau in grau gemalten Bilder des frostigen
blassen Nordens halte man, was Gogol von seiner Heimat zu be-
richten wußte! „Wie berauschend, wie üppig ist ein Sommertag in
Kleinrußland! ... Der blaue unermeßliche Ozean beugt sich, einer
wollüstigen Kuppel gleich, über die Erde ... Träge und gedanken-
los stehen himmelhohe Eichen da, als schlenderten sie ziellos dahin,
und blendende Sonnenlichter entzünden bliggleich ganze malerische
Laubmassen, während sie über andere nachidunkle Schatten breiten,
über die nur bei heftigem Winde Spriger von Gold ziehen. Smaragde,
Topase, Rubine ätherischer Insekten schütten sich über die bunten
Gärten aus, welche von stattlichen Sonnenblumen beschattet
werden ... Der Himmel, diese reine Spiegelflache, — der Fluß
innerhalb der grünen, stolz aufgerichteten Rahmen — wie voll von
Wollust und Wonne ist doch der kleinrussische Sommer!“ Und neben
diesem farbenglühenden Sommertag, auch in der Sorotinskaja jar-
marka, der Sonnenuntergang (Kap. 5). „Die müde Sonne schied von
der Erde, nachdem sie ruhig ihren Mittag und Morgen abgesegelt
152
hatte, und der verlöschende Tag hatte sich zauberisch und grell
gerotet. Blendend leuchteten die Spitzen der weißen Zelte und
leinenen Buden auf, die von einem kaum bemerkbaren feurig-rosigen
Licht getönt waren. Die Fenster in den haufenweise übereinander-
getürmten Rahmen brannten; die grünen Flaschen und Becher auf
den Tischen der Schenkstuben hatten sich in feuerfarbene verwan-
delt, die Berge von Melonen, Arbusen und Kürbissen erschienen wie
aus Gold und dunklem Kupfer gegossen.“ Kotljarevskij hat von den
ukrainischen Landschaften Gogols gesagt, sie seien keine Schil-
derungen von Gesehenem, sondern Ekstase über das Gesehene und
daher subjektiv bis aufs äußerste. Man wird dieses Urteil bestätigen
müssen, wenn man sich der Einstellung Gogols der Natur und ihren
Farbenstimmungen gegenüber erst einmal recht bewußt geworden
ist. Sie sind zum größten Teil, wenn nicht alle, höchst wahrscheinlich
der Reflex eines begeisterten Natursehens, das sich freilich von dem
Sehen anderer Menschen erheblich unterschied. Wenn man ihres
ekstatischen Tones wegen die ukrainischen Landschaften Gogols als
nur irgendwie nachempfunden beurteilen will, so muß man folge-
richtig auch die ekstatischen brieflichen Schilderungen der italieni-
schen Natur als nachempfunden ansehen. In beiden äußert sich: hier
Sehnsucht, da Freude an Licht, Wärme und Farbenreichtum. Die
Entbehrungen, welche die Natur Petersburgs ihm in dieser Hinsicht
auferlegte, mögen freilich viel dazu beigetragen haben, daß die
kleinrussische Heimat in um so rosigerem Lichte in der Erinnerung
aufiebte. Ein interessanter Beweis dafür, mit welchem farbenempfäng-
lichen Auge Gogol als Knabe die Bilder seiner Heimat in sich auf-
genommen haben muß, ist in der Geschichte von den beiden lvanen
enthalten. Wie Ivan Ivanovié durch den Hof des Ivan Nikiforovié
schreitet, betrachtet er die dort zum Lüften in der Sonne aufge-
hängten Kleider und sonstigen Sachen. „Das alles, kunterbunt
durcheinander, gewährte Ivan lvanoviè ein sehr fesselndes Schau-
spiel, während die Sonnenstrahlen, die bald einen dunkelblauen, bald
einen grünen Ärmel erwischten, einen roten Umschlag oder den Teil
eines roten Brokats, oder auch auf der Degenspike spielten, dies alles
zu etwas Ungewöhnlichem machten, ähnlich jenem Puppentheater
(vertep), welches herumziehende Landstreicher auf den Kosaken-
höfen herumfahren. Dieser Vergleich erscheint gezwungen, so-
lange man nicht Gogols Farbenbeobachtungen als einen wichtigen
Faktor im Apparat seines dichterischen Schaffens erkannt hat, ist
man aber eingedrungen in die Technik seines Sehens, so erscheint
diese Metapher ganz erklärlich. Eigenartig und beachtenswert ist
es aber, dab Gogol hier seine eigene visuelle Beobachtungsgabe
überträgt auf Ivan Ivanovié, zu dem sie eigentlich gar nicht paßt,
und dem man nicht zutrauen sollte, daß er imstande gewesen sei, die
aufgehangten und im Sonnenlicht lebhaft gefärbten Sachen als ein
fesselndes Schauspiel anzusehen. Ahnliches wiederholt sich mehr-
mals in den Toten Seelen, wo Citikov auch mit den Augen Gogols
zu sehen scheint. Es soll gleich hier ein typisches Beispiel dafür an-
155
geführt werden. Cicikov begegnet auf dem Ball im Hause des Gou-
verneurs (T. 2, Kap. 8) derselben zarten Blondine, welche er zu Beginn
seiner Fahrten einmal von seinem Reisewagen aus gesehen hatte.
„ . ihm schien es, wie er sich später selbst klar wurde, als wenn der
ganze Ball mit all seinem Geschwätz und Lärm um einige Minuten ent-
fernt wäre; Geigen und Horner schrillten irgendwo hinter den Bergen,
und alles umzog sich mit einem Nebel, der dem achilos hingemalten
Grund auf einem Gemälde glich. Und aus diesem nebeligen, irgendwie
hingeworfenen Grunde traten deutlich und vollendet nur die feinen Züge
der anziehenden Blondine hervor: ihr rundlich-ovales Gesichichen,
ihre zarte, zarte Gestalt, wie sie nur bei kaum entlassenen Schüle-
rinnen einer Unterrichtsanstalt anzutreffen ist, ihr weißes, fast ein-
faches Kleidchen, leicht und geschickt um die jugendlich schlanken
Glieder gelegt, welche sich in einer gewissen Reinheit der Linien
zeigten.. sie allein schimmerte weiß und trat durchsichtig und hell
aus der trüben und undurchsichtigen Menge hervor.. Gogol, der
gründliche Portratstudien getrieben haben muß — das geht aus der
Behandlung der Materie in „Portret“ und aus zahlreichen anderen
Stellen seiner Werke hervor —, läßt hier Ci¢ikov die hübsche Blon-
dine ebenso als auf einem unklar gemalten Grunde sich abhebend
sehen, so wie er selbst in dem Brief an Frau Balabina (s. S. 152) aus
Rom die Gestalt dieser Dame als Bildnis vor dem trüben Hintergrund
der finnischen Natur zu sehen glaubte. Die Behandlung des Grundes
ın einem Bilde scheint ihn besonders interessiert zu haben. Auch
Stellen aus „Portret“ und aus „Nevskij Prospekt“ beweisen das.
Hier ist aber noch die Vision der absolut weißen Gestalt zu beachten,
die auf eine besondere Vorliebe Gogols für das Weiße — merk-
wurdigerweise im Kontrast zu seinem sonstigen Verlangen nach
gluhenden Farben — hinweist. Im folgenden soll darauf noch ein-
mal zurückgegriffen werden.
Haben die bisherigen Ausführungen dem Zweck gedient, den
Zusammenhang zwischen Gogols Anlagen zum malerischen Sehen
und seinem dichterischen Schaffen nur in ganz allgemeinen Zügen
darzulegen, so soll im folgenden versucht werden, sein Verhältnis
zu einzelnen Problemen der Malerei näher zu erörtern. Im Jahre 1834
war aus Gogols Feder der kleine Aufsatz „Doslednij den’ Pompei“,
Kartina Brjullova, erschienen, welcher bis in die neueste Zeit hinein
in kunstinteressierten Kreisen Gegenstand abfälliger Urteile über
Gogols mangelhaftes Kunstverständnis gewesen, im allgemeinen aber
ziemlich unbeachtet geblieben ist. Dieser Aufsak verdient nun
gerade an dieser Stelle besondere Aufmerksamkeit, denn er ist das
beste Auskunftsmittel darüber, welche Probleme der Malerei Gogol
während der Petersburger Jahre besonders interessiert haben. Da
das Gemälde Brjullovs, welches z. Z. seines Bekanntwerdens einen
geradezu unerhörten Erfolg in Italien, wo es entstanden war, und in
Rußland gehabt hat, nun zu den am wenigsten außerhalb Rußlands
bekannten Werken der russischen Kunst zählt, wird es unausbleiblich
nötig sein, darüber einiges zu sagen. Es ist das Werk eines unge-
154
wöhnlich talentierten, aber auf Knalleffekte ausgehenden, ziemlich
seichten Künstlers. Die Wahl des Gegenstandes traf für ihre Zeit
ins Schwarze, sie war für Italien, wo man immer wieder die kühlen
Kompositionen klassizistischer Kunst zu sehen bekam, ein aufs
höchste aktuelles Thema und begeisterte restlos. Frankreich hatte
sich gegen dieses Bild ziemlich kühl verhalten, in Petersburg aber
raste ihm der Beifall entgegen. So ist es an sich recht begreiflich,
daß eine impulsive, zur Exaltation neigende Persönlichkeit wie Gogol
von der allgemeinen Begeisterung leicht mit fortgerissen werden
konnte, um so mehr, als die grellen Effekte dieses Bildes, welches
die Schrecken des Untergangs von Pompeji unter schwarzem Ge-
witterhimmel bei zuckenden Blitzen darstellte, Gogols natürlichem
Verlangen nach dem Effektvollen enigegenkam. Die Gestalten sind
tadellos gezeichnet und modelliert, bewegen sich aber in theatra-
lischen Gesten. Daß Gogol diesen Mangel nicht herausgefühlt und
Brjullovs Bild eine Leistung von Weltformat (vsemirnoe sozdanie)
genannt hat, wird ihm selbst in den neuesten Kunsigeschichten immer
wieder als Todsünde angerechnet. Es mag hier unerörtert bleiben,
wie weit dieser Vorwurf gerecht ist. Gogol war zu der irrigen
Schlußfolgerung, daß Brijullovs Gemälde die erste Meisterleistung
des 19. Jahrhunderts sei, auf einem an sich ganz richtigen Gedanken-
wege gelangt. Das 19. Jahrhundert, so führte er aus, hat bisher
nichts Zusammenfassendes auf diesem Gebiet hervorgebracht, son-
dern eine Zersplitterung der Kunst in Atome und Einzelstudien, und
er hebt die aus dieser Atomisierung hervorgegangenen Fortschritte
gegenüber der älteren Malkunst hervor: Kolorit und Licht. „.. Die
Malerei hat sich in Untergattungen zersplittert: Gravüren, Lithographie
und viele kleine Kunstzweige (javienija) wurden mit wahrer Leiden-
schaft bis ins kleinste ausgearbeitet. Das im 19. Jahrhundert an-
gewandie Kolorit zeigt einen großen Fortschritt in der Kenntnis der
Natur. Blickt auf diese unaufhörlich erscheinenden Skizzen, per-
spektivischen Studien und Landschaften, welche entschieden im
19. Jahrhundert den Menschen mit der umgebenden Natur in eins
zusammenfließen ließen — wie in ihnen die in Dunkelheit gehiillte
Perspektive der Gebäude zusammenfließt und die vom Licht ge-
troffene hervortritt! wie das beleuchtete Wasser hindurchscheint, wie
es im Dämmer der Zweige atmet! wie glühend und hell der schöne
Himmel zurücktritt und die Gegenstände direkt vor den Augen des
Beschauers stehen läßt! welche kecke, welche kühne Anbringung
von Schatten da, wo man sie früher gar nicht vermutet hat.
„Nehmt diese unaufhörlich erscheinenden Gravüren, diese Keime
eines glänzenden Talentes, in denen die Natur so atmet und weht,
daß sie erscheinen, als blühte in ihnen das Kolorit: in ihnen strahlt
die Abendrote am Himmel, so dab man meinen könnte, man sähe
den purpurnen Widerschein des Abends; die Bäume, die vom
Sonnenglanz übergossen sind, scheinen wie von feinem Staub be-
deckt, in ihnen glänzt das helle wollüstige Weiß mitten im tiefen
Dämmer der Schatten . . . Dieser ganze Effekt, welcher in der Natur
155
ausgegossen ist, welcher aus dem Kampf des Lichtes mit dem Schatten
hervorgeht, dieser ganze Effekt ist Ziel und Streben aller unserer
Künstler geworden. Man kann sagen, daß das 19. Jahrhundert das
Zeitalter der Effekte ist.. Und schließlich zu Brjullov übergehend,
rühmt er die Zusammenfassung der Ergebnisse aller dieser Einzel-
studien zu einem großen Ganzen in Kolorit und Beleuchtung.
Dieser kleine Aufsatz ist, ohne Rücksicht auf seinen kritischen
Wert oder Unwert, sehr beachtenswert. Er zeigt einmal das rege
Interesse, welches Gogol während der Jahre seines Akademie-
besuches den Neuerscheinungen auf künstlerischem Gebiet entgegen-
gebracht hat, und unterrichtet darüber, was ihn in diesen modernen
Arbeiten am meisten gefesselt: malerische Behandlung von Straßen-
bildern in der Verteilung von Hell und Dunkel, der Kampf des Lichtes
mit dem Schatten überhaupt, Glanzlichter auf Wasserflächen, kräftig
von der Sonne beleuchtete Laubmassen, die in „hellem wollüstigen
Weiß mitten im tiefen Dammer der Schatten“ stehen. Gerade diese
Beobachtungen sind es aber, die er mit Vorliebe in seine Natur-
schilderungen verflicht, wie die folgenden Zitate erweisen sollen.
Dabei sind die Glanzlichter auf dem Wasser ein so häufig wieder-
kehrendes Motiv, daß davon abgesehen werden mußte, hier dafür
Proben zu bringen, man begegnet ihnen fast in jeder Gogolschen
Landschaftsschilderung. Die malerische Behandlung beleuchieter
Laubmassen war bereits in der S. 152 zitierten Stelle aus der
„Sorotinskaja Jarmarka“ zu sehen, wo von den blendenden Sonnen-
lichtern die Rede ist, welche blitzgleich ganze malerische Laubmassen
entzünden, während sie über andere nachtdunkle Schatten ausbreiten,
über die, nur bei heftigem Winde, Spritzer von Gold hinziehen. Aber
bereits im Hans Küchelgarten interessieren Gogol solche Beobach-
tungen, er schildert (VII), wie das Abendrot mit lebhaften goldenen
Sprigern die Bäume berührt (VD, wie der Schatten der alten Kasta-
nien am Hause des Pächters Bauk von der Sonne „durcheilt“ wird,
wenn die Wipfel lebhaft vom Winde bewegt werden. Von besonderer
Bedeutung sind Gogols Licht- und Schattenbeobachtungen im Straßen-
bild und in der weiten Landschaft, aus denen im folgenden selbst
ganz kurze Bemerkungen mit aufgenommen worden sind, da sie als
Glieder einer ganzen Beobachtungsreihe angesehen werden können.
Unter ihnen, wie auch sonst in den für Gogols malerisches Schen
charakteristischen Texten, nehmen die Fragmente angefangener Er-
zählungen, deren Entstehung in die Jahre 1831—33 fällt, eine wich-
tige Stellung ein. Sie sind bei Tichonravov (Bd. 1) und in der Aus-
gabe der Erben (Bd. 4) unter dem Gesamitite! „Povesť iz knigi pod
nazvaniem Lunnyj svet v razbitom oko3ke ¢erdaka na Vasil’evskom
Ostrove, v 16 linii“ aufgenommen. In ihrer Einteilung herrscht in
beiden Ausgaben Unstimmigkeit, deswegen wird für die folgenden
Zitate die letztere Ausgabe zugrunde gelegt. Abschnitt 1 besteht
nur aus den Worten „Mitternacht war lange vorüber. Nur eine
Lampe beleuchtete launenhaft die Straße und warf ein etwas un-
heimliches Licht auf die steinernen Häuser, während sie die hölzer-
156
nen im Dunkel ließ; grau wie sie waren, verwandelten sie sich ganz
und gar in schwarze...“ Dasselbe füllt den Anfang von Ab-
schnitt 2. „Die Laterne in einer der entfernten Linien des Vasilij
Ostrov war im Verscheiden. Nur die weißen steinernen Häuser
zeichneten sich einigermaßen ab. Die hölzernen waren schwarz und
flossen mit der dichten Masse der Finsternis, die über ihnen lastete,
in eins zusammen." Es folgt nun die Beschreibung eines einsamen
Fußgängers, der den „denkbar längsten Schatten vor sich her wirft,
dessen Kopf sich in der Finsternis verliert“. Es sei hier beiläufig
hingewiesen auf dieses Schattenspiel, das Gogol ebenso wie andere
Schattenphänomene sehr lebhaft interessiert haben muß. Man er-
innere sich der Stelle zu Anfang des „Nevskij Prospekt‘, wo lange
Schatten an den Wänden und auf dem Pflaster entlang huschen, „die
mit ihrem Kopf beinahe die Polizeibrücke erreichen,“ und ebenso des
nächtlichen Fluges des Schmidts Vakula in der „Noč pered roZdest-
vom“, wo er sieht, wie die ungeheuren Schatten der Fußgänger an
den Wänden entlang huschen und mit ihren Köpfen „die Schorn-
steine und Dächer erreichen“. Auch im „Portret“ klingt dieses Mo-
tiv an. Hier in den Fragmenten aber ist es das Motiv der Lichiver-
teilung auf den Häusern und gleichzeitig das dabei charakteristische
Nebeneinander der hellen steinernen und der dunklen hölzernen
Häuser, welches im Vordergrunde steht. Gogol muß dafür schon in
der Schiilerzeit ein aufmerksames Auge gehabt haben. In den
„Klassnyja socinenija“, welche Tichonravov in Bd. 1 seiner Gogol-
ausgabe bringt (S. 51/52), wird beschrieben, wie „die Straße sich in
einer Wildnis verliert und eine einsame Laterne ihr ersterbendes
Licht über die blaßgelben Wände der totenstillen Stadt ergießt“.
Im „Nevskij Prospekt‘ kehrt dieses Bild wieder, „wenn die Nacht in
dichten Massen sich über ihn ausbreitet und die weißen und stroh-
gelben Hauser hervorireten läßt.“ Wie in den Toten Seelen Ciéikov
sich aufmacht, um die Gouvernementsstadt zu besehen (1, 1), da be-
frachtet er sie mit den Augen Gogols, „sie gab anderen Gouverne-
mentsstadten nichts nach: lebhaft stach die gelbe Farbe der steiner-
nen Häuser in die Augen, und bescheiden dunkelte daneben das
Grau der hölzernen“. Interessant wird in diesem Zusammenhang eine
Notiz von Gogols Hand, die nach Kuli3 (1, 253, Anm.) im Hause
Zukovskijs nach Gogols Tode in einem ihm gehörigen Koffer ge-
funden worden ist und sich sicherlich auf die Erzählung „Anunciata“,
die später in „Rim“ umgewandelt wurde, bezieht, „doch ihre Stirn,
ihre Schultern... das gleicht dem Sonnenglanz auf den weißen Wän-
den steinerner Häuser.“ Hier kann man herausfühlen, wie Gogols
Auge sich an dem Licht der südlichen Städte geweidet haben muß,
begeistert muß es aber auch dem kräftigen Licht- und Schatten-
wechsel in hellen Mondnächten zugesehen haben. Hierfür sind Stellen
aus der Geschichte vom Streit der beiden Ivane und aus den Toten
Seelen charakteristisch. In der Nacht, in welcher lvan lvanovié sich
entschließt, sich an Ivan Nikiforovié zu rächen, scheint der Mond.
„ . . . O, wenn ich Maler ware, ich würde den ganzen Zauber der
157
Nacht wunderbar darstellen! Ich würde wiedergeben, wie ganz
Mirgorod schläft... wie die weißen Wände der Häuser, welche das
Mondlicht trifft, weißer werden, die sie beschattenden Baume dunk-
ler, wie der Schlagschatten der Bäume sich schwärzer ausbreitet...
Ich würde darstellen, wie auf dem weißen Wege der schwarze
Schatten einer Fledermaus flattert, welche sich auf die weißen
Schornsteine der Häuser niedersetzt... Und ähnlich in den Toten
Seelen (T. I, Kap. 11). Es ist die bekannte Dithyrambe auf die Reise
durch die „Rus“. „Du erwachtest — fünf Stationen sind hinter Dir
geblieben; Mondschein; eine unbekannte Stadt; Kirchen mit alter-
tiimlichen hölzernen Kuppeln ..; dunkle aus Balken gezimmerte und
weiße steinerne Häuser; Mondlicht da und dort: gerade als wären
weiße leinene Tücher an den Wänden aufgehängt auf dem Pflaster
und den Straßen; wie Pfosten durchschneiden sie Schatten schwarz
wie Kohlen; wie glänzendes Metall glitzern schräg vom Licht ge-
streifte Dächer; und nirgends eine Seele: alles schläft... Mutter-
en vielleicht flimmert nur irgendwo im Fensterchen ein
Licht.“
Pereverzev tadelt die cinformige Sprache der Gogolschen
Mondnächte, ihr Licht sei immer nur silbern, die Szenerie der Mond-
nacht in „Vij“, in der die Hexe den Choma Brut durch die Felder
jagt, sei vollkommen unnatürlich, eine solche Mondnacht gabe es gar
nicht usw. Hineingestellt in den Rahmen dieser Beobachtungen, wird
diese Schilderung des Mondlichtes und der Mondschatten hoffentlich
ein Beweis für das Selbsterlebte und Selbsigeschene der Gogol-
schen Mondlandschaften werden, ebenso wie die anderer Erzählun-
gen auch. Für die Lichtekstase Gogols zeugen am besten die unter
den Skizzen bei Tichonravov aufgenommenen Bruchstücke, „wie
dieses Drama geschaffen werden soll“, und der „Anruf an die Nacht“
q, 474/75). Was dort in lyrischem Aufjauchzen über Sonnen- und
Mondlicht gesagt, klingt auch in den Texten wider, in denen Gogol
als Maler zu uns spricht, ungeachtet mancher Wunderlichkeit oder
wohl auch Ungeschicklichkeit der Sprache. Gogol drückt sich häufig
da ungeschickt aus, wo er in erster Linie als Maler empfindet, es soll
darauf noch hingewiesen werden. In „Vij“ zieht sich, wie die Hexe
auf Bruis Rücken aus dem chuior herausreitet, der Wald „schwarz
wie Kohlen zur-Seite hin, die umgekehrte Mondsichel leuchiete am
Himmel, das zarte mitternächtliche Leuchten legte sich wie ein durch-
sichtiges Laken über die Erde hin... die Schatten der Bäume und
Sträucher fielen wie Kometen keilformig über die abschüssige
Fläche“. In „Glava iz istoriteskago romana” spielt der Mondschatten
eine besondere Rolle. Gleich zu Anfang wird das Dunkelwerden
beschrieben. „Die Sonne verabschiedete sich langsam von der Erde.
Malerische Wolken, die an den Rändern von feurigen Lichtern um-
säumt waren, .. flogen durch die Luft. Die Dämmerung bewegte
düster ihren grau-blauen Schatten herauf... Der Mond war mittler-
weile scharf und klar am Himmel zu sehen. Das silberne Licht,
welches der Schatten der Bäume wirr kreuzte, fiel einem Sieb gleich
158.
auf die Erde, weithin die Gegend erleuchtend...“ Später kommi
der Held der Erzählung an einer verhexten Kiefer vorbei. „Das
silberne Licht fiel auf ihre düsteren Zweige, und die Schatten, welche
sie warfen, brachen sich, gerade als wären sie ihre Verlängerung,
an den gegenüberliegenden Bäumen und legten sich gleich einer
endlosen Leiter auf die Erde.“ Unter den Schilderungen des Mond-
lichtes nehmen begreiflicherweise die der „Majskaja Noč“ eine ganz
besondere Stellung ein. Auch sie begegnen jetzt abfälliger Kritik,
gerade sie aber sind es, die in besonders eindringlicher Sprache
Gogols sonstige Licht- und Schattenstudien widerspiegeln, es soll
daher hier der Versuch gemacht werden, sie in malerischem Sinne zu
interpretieren. Durch die ganze Erzählung geht der Wechsel der
Lichtphasen. Während Teil 1 das langsame Hinübergehen von der
Dämmerung zur Dunkelheit darstellt, strahlt Teil 2 im Glanze der
Mondnacht. Gleich zu Anfang umfängt der „nachdenkliche Abend
träumerisch den dunkelblauen Himmel, alles in Verschwommenheit
und Ferne verwandelnd". Galja sieht empor, „wo in unübersehbarer
Weite der laue ukrainische Himmel dunkelblau sich ausspannte, unten
verhängt durch die krausen Zweige der vor ihnen stehenden Kirsch-
baume“. Dann folgt die Beschreibung des verzauberten Hauses.
„Der Wald, der es mit seinem Schatten umfing, breitete öde Finster-
nis darüber aus“. Mittlerweile geht der Mond auf. „Noch war eine
Hälfte unter der Erde, und doch hatte sich bereits die ganze Welt
wie mit feierlichem Lichte erfüllt. Der Teich sprühte von Funken.
Der Schatten der Bäume fing an, sich klar auf dem dunklen Grün
abzuzeichnen...“ Nun hebt Teil 2 an mit den berühmten Worten
„Kennst du die Maiennacht in der Ukraine? .. „Die ganze Welt
ist in Silberlicht getaucht... Unbeweglich, feierlich sind die Wälder
geworden, ganz von Finsternis erfüllt, und riesige Schatten gehen
von ihnen aus... Noch weißer, noch mehr leuchten im Mondlicht die
dichtgedrängten Hütten, noch blendender heben sich aus der Finster-
nis ihre niedrigen Mauern ab.“ Nun kommt die Stelle, wo Levko
einschläft, die übrige Handlung ist bisher nicht einbezogen worden,
weil sie nicht unmittelbar in den Ablauf der Lichtiphänomene ein-
greift. jetzt aber beginnt oben auf der beleuchteten Höhe der Reigen-
tanz der Ertrunkenen, unten dagegen „dunkelte feierlich und düster
der Ahornwald, der gegen den Mond stand“. Wie Gogol es nun ver-
steht, in Worten zu malen, wie in der mondhellen Nacht die weiße
Vision des Mädchenreigens vor sich geht, wie sie, „leicht wie Schat-
ten, in Hemden, weiß wie eine Wiese von Maiglöckchen“ sich be-
wegen, „ihre Körper wie aus durchsichtigen Wolken gemeißelt er-
scheinen und fast durchsichtig im silbernen Mondlicht leuchten” —
das ist ein Meisterstück der Koloristik.
Neben dem Wechsel von Licht und Schatten, den die Himmels-
lichter bewirken, spielt bei Gogol der durch künstliche Beleuchtung
hervorgebrachte Effekt eine große Rolle. Man braucht hierbei nur
an den „Nevskij Prospekt“ zu denken, auf dem „die Lampen allem
ein gewisses, verlockendes, wunderbares Licht geben“, und der zu
11 NF 85 159
jeder Zeit lügt, am meisten aber dann, „wenn die Nacht in dichten
Massen sich über ihn ausbreitet und die weißen und blaßgelben
Häuser hervortreten läßt, wenn die ganze Stadt sich in Getöse und
Glanz verwandelt... und wenn der Dämon selbst die Lampen an-
zundet, um alles in einem unwirklichen Licht zu zeigen“, wie es am
Schluß heißt. Und es ist eine Beobachtung von psychologischer Be-
deutung, die sich hierbei machen läßt: Gogol scheint eine gewisse
Abneigung, ein leises Grauen vor den Effekten künstlichen Lichtes
gehabt zu haben, das „unwirkliche Licht“ vom Nevskij Prospekt
scheint ihm auch andererorts erschienen zu sein. So zeigt sich ihm
eine künstlich erleuchtete Landschaft in den „Toten Seelen“ in un-
heimlichem Licht (T. 1, Kap. 6). Beim Besuch Plju3kins vergleicht
Ci&ikov dessen dürftiges Leben mit der Lebenskunst eines gesellig
lebenden Nachbarn. „.. Theateraufführungen, Bälle; die ganze
Nacht hindurch glänzt der durch Illuminationslämpchen erleuchtete,
von Musik widerhallende Garten. Das halbe Gouvernement wandelt
aufgepubt und fröhlich unter den Bäumen auf und ab, und keinem
kommt diese Beleuchtung wüst und drohend vor, wenn aus dem
Baumdickicht, einem Theatereffekt gleich, ein durch das unnatürliche
Licht beleuchieter Zweig hervortritt, der seines hellen Grüns beraubt
ist, und wenn in der Höhe um so dunkler, sirenger und zwanzigmal
drohender der nächtliche Himmel hindurchscheint und hoch oben die
finsteren Baumwipfel, welche tiefer in die unerwecklich schlummernde
Dunkelheit hineinstreben, ihr Blattwerk erzittern lassen, unwillig über
den Flitterglanz, der von unten her ihre Wurzeln beleuchtet.‘ Auch
der unruhige Wechsel des Lichts auf Gesichtern wird von Gogol auf-
merksam verfolgt und scheint ein gewisses Unlusigefiihl hervor-
gerufen zu haben. In dem Fragment „Dlennik“ wird der Held der
Erzählung von einem kriegerischen Befehlshaber in ein unterirdisches
Verließ geführt, beim Schein eines Lichtes natürlich. „.. die un-
beständige Flamme des Dochts, die von einem dunklen Kreis um-
geben war, warf auf sein Gesicht ein blasses, gespenstisches Licht,
während der Schatten seines endlosen Schnurrbarts sich in die Hohe
erhob und mit zwei langen Strichen alle bedeckte.“ Ganz ähnlich
wird in „Glava iz istori€eskago romana“ die Wirkung des Lichts von
der Glut einer Tabakspfeife auf dem Gesicht ihres Besitzers Ursache,
daß dessen Gesicht „dem Gesicht irgendeines Vampyrs ähnlich
wurde“. Die Wirkung eines durch eigenartige Beleuchtung irritierend
wirkenden Bartes wird auch in den „Toten Seelen“ (T. 1, Kap. 6)
geschildert. Auf der Weiterfahrt von PljuSkin „... herrschte volle
Dämmerung ... Schatten und Licht hatten sich ganz durcheinander-
gemischt, und es schien, als ob sich auch die Gegenstände durch-
einandergemischt hätten. Der bunte Schlagbaum hatte eine gewisse
unbestimmbare Farbe angenommen, der Schnurrbart des wachhaben-
den Soldaten schien ihm auf der Stirn zu stehen und weit höher als
die Augen, und eine Nase schien er überhaupt nicht zu haben...“
Gogol mag auf seinen Fahrten dergleichen oft beobachtet haben,
hier scheint diese Bemerkung auch wieder Cicikov aufgegangen zu Sein.
160
Aus den Vospominanija Annenkovs kann man ersehen, daß Gogol
Wert darauf legte, eigenartige Beleuchfungseffekte in seine Erzäh-
lungen aufzunehmen. Auf einem Abendspaziergange in Albano
wurde einmal von einem der Russen in Gogols Begleitung bemerkt,
daß in Rußland abends um 6 Uhr in allen Provinzialstädten der
Samovar gerüstet wird. Da sähe man immer auf der Vortreppe
irgendeinen Jungen oder ein Mädchen kauern, die die Glut anblasen
und von ihr rot angestrahlt werden. Da blieb Gogol plötzlich stehen
und rief aus: „Mein Gott, wie konnte ich das fortlassen! Wie konnte
ich das fortlassen!“ Die Freude an dem Malerischen solcher Ein-
drücke, selbst wo es sich um Grausiges handelt, laßt sich gut beob-
achten in der grandiosen Schilderung des Lohens auf den Schlacht-
feldern der Zaporoger im „Taras Bulba“. Der Brand in einem
Klostergarfen gibt Gogol Gelegenheit, das Farbenspiel auf den von
Flammen angestrahlien Früchten zu beobachten. Reife Pflaumen
leuchten in einem phosphorisch-feurig-violetten Licht auf, gelbe
Birnen scheinen in rotes Gold verwandelt zu sein. Am deutlichsten
spricht sich Gogols Malerfreude aus an der Schilderung des Schreitens
zwischen Licht und Schatten. Das erstemal begegnet dieser Vorwurf
im „Nevskij Prospekt“, als auf dem abendlich erleuchteten Nevskij
Piskarev in Gesellschaft Pirogovs zwei Damen beobachtet, und wo
er dann in der Richtung geht, wo „der bunte Mantel in der Ferne
wehte, bald sich in hellem Glanze zurückschlagend, je nachdem er sich
dem Laternenlicht näherte, bald sich in Finsternis hüllend, je nachdem
er sich von ihm entfernte“. Das zweitemal schildert Gogol eine ähn-
liche Situation im „Taras Bulba“, und hier ist es bemerkenswert, daß
diese, wie eine folgende malerisch behandelte, Szene erst in die
Neubearbeitung eingeschoben worden ist. Da hier obenein auf einen
bekannten Maler Bezug genommen wird, ist gerade diese Stelle aufs
beste geeignet, auch dem nicht Malkundigen den Beweis zu erbringen,
daß derartige Schilderungen Gogols eben ihre Grundlage in einem
malerischen Sehen haben. Andrij und die Tatarin schreiten (Kap. 6)
bei der Belagerung von Dubno den finsteren unterirdischen Gang
entlang, und als die Tatarin an einer ewigen Lampe einen kupfernen
Leuchter angesteckt hat, „wird das Licht stärker, und während sie
gemeinsam weitergingen, bald grell vom Lichte beleuchtet, bald sich
in kohlenschwarze Finsternis hüllend, erinnerten sie an die Bilder des
Gerardo dalle Notti“. Der Niederländer Gerhard Honthorst, der im
Italienischen den Namen Gerhard der Nachtstticke erhalten hat, ver-
dankt eben seine Berühmtheit in erster Linie diesen. Die in diese
Neubearbeitung neu aufgenommene, dieser nächtlichen Wanderung
folgende Morgenbeleuchtung in der Kirche zeigt wieder einmal die
eigenartige Tatsache, daß Gogol eigene optische Beobachtungen
gelegentlich auf die Gestalten seiner Phantasie überträgt. „Das
bunte Glasfenster ersfrahlfe in rosigem Licht, und auf dem Fußboden
zeigten sich, davon ausgehend, hellblaue, gelbe und andersfarbige
Kreise, die plötzlich die dunkle Kirche erhellten. Der ganze Altar in
der fernen Nische strahlte ganz in Glanz auf... Andrej blickte nicht
161
ohne Erstaunen auf das Wunder, welches durch das Licht hervor-
gebracht wurde.“ Hat hier Gogol bei einer Neubearbeitung eine
Morgenbeleuchtung eingeschoben, so hat er in die 2. Redaktion des
„Portret“ eine Abendbeleuchtung neu aufgenommen. Als Cartkov
das Bild des Wucherers nach Hause trägt, beobachtet er sie. „Der
rote Schein der Abendröte war noch an der einen Himmelshälfte zu
sehen, noch waren die dieser Seite zugewandten Häuser durch ihr
warmes Licht angestrahit, aber indessen war das kalte bläuliche
Leuchten des Mondes bereits heller geworden. Halbdurchsichtige
Schatten, die von den Häusern und den Beinen der Fußgänger zurück-
geworfen wurden, fielen mit den Spitzen auf die Erde.“ Die Beob-
achtung dieser unbestimmien Himmelstönung veranlaßt den Maler zu
dem Ausruf: „Was für ein leichter Ton!“ Die Neubearbeitung des
„Portret“ enthalt schließlich noch eine in die Schattenstudien Gogols
gehörige, sehr eigenartige Szene. Der kvartal’nik mustert in Cart-
kovs Zimmer die angefangenen Studien und Akte und fragt, was der
schwarze Fleck unter der Nase eines weiblichen Aktes zu bedeuten
hätte, ob das Tabak sei, worauf Cartkov kurz antwortet: „Schatten.“
Senrok hatte geglaubt, diese kleine Episode hatte einen sozialen
Untergrund, solle die Wertschakung Gogols für das Urteil der kleinen
Leute bezeichnen, sie wird aber wahrscheinlicher aus der Erinnerung
an eine eigene Studie Gogols oder an ein geschenes Bild ent-
standen sein.
Es war auf S. 154 darauf hingewiesen worden, daß Gogol für die
weiße Farbe eine besondere Vorliebe gehabt zu haben scheint. Die
dort zitierte Stelle aus den „Toten Seelen“ hatte die Vision der
weißen Madchengestalt enihalten. Sie findet ihre Entsprechung in
der Schilderung der weiß gekleideten Dame in den bereits zitierten
Fragmenten, in einer Schilderung, die zu den eindrucksvollsten der
malerisch gesehenen Partien in den Werken Gogols zählt. Der
Student „mit dem denkbar längsten Schatten“ hatte beim Weiter-
gehen neugierig ein Auge an den Spalt eines Fensterladens gedrückt,
der wie ein feuriger Strich in der dunklen Straße sichtbar wurde, und
sah in einem hellblauen Zimmer eine wahrhaft malerische Unordnung
auserlesen schöner Seidenstoffe umhergestreut. „Doch am meisten
fesselte den Studenten eine in der Ecke des Zimmers stehende
(schlanke) Frauengestalt .. ] nur wie für den Studenten, in
einem wunderbar entzückenden, in einem blendend weißen Kleide,
im allerschönsten Weiß. Wie dieses Kleid atmete. .) Doch
die weiße Farbe — ist über jeden Vergleich erhaben. Die Frau
wird größer durch Weiß... Welche Funken sprühen durch die
Adern, wenn mitien aus der Finsternis ein weißes Kleid auf-
leuchtet! Ich sage — in der Finsternis, weil dann alles wie
Finsternis erscheint... Alle Empfindungen gehen dann in dem Duft
auf, der von ihm aussirömt, und in dem kaum hörbaren .. Geräusch,
das es verursacht. Das ist die höchste und wollüstigste Wollust.“
Gogol verbindet hier den Begriff der Wollust mit dem Anblick des
3) Die Punkte stehen im Text.
162
Weißen. Gesemann hat in seiner charakterologischen Studie über
Gogol Wendungen wie „Säulen so weiß wie die Brüste einer Jung-
frau“, „wollüstig weißer Marmor“ und ähnliche als Ausdruck sexueller
Triebe gedeutet und beruft sich hierbei auf Mere2kovskij, der auch
das blendende Weiß der Gogolschen Rusalken oder wirklichen Mäd-
chengestalten für den Ausdruck einer gewissen Lüsternheit nimmt. Es
mag vieles für diese Deutung sprechen. Nur wird man in diesem Zu-
sammenhang darauf hinweisen dürfen, daß gerade die bei MereZkov-
skij erwähnten schimmernden Leiber der Erirunkenen in der ,,Majskaja
Not” einen gewissermaßen koloristischen Zweck haben, ebenso wie
das einfache weiße Kleid der Blondine in den Toten Seelen, dessen
Farbenwirkung auf dem nebligen, irgendwie hingeworfenen Grunde,
d. h. der „trüben und undurchsichtigen Menge“ sichtlich von künst-
lerischen Gesichtspunkten aus zu verstehen ist. Diese Textstellen,
ebenso wie die aus den Fragmenten, und wie die eigenartige Wen-
dung „jarkaja belizna sladostrasitno sverkaet v samom glubokom
mrake teni“, die sich auf sonnenbeleuchtete Laubmassen bezieht im
Aufsatz „Posi. den’ Pompei“, lassen erkennen, daß tatsächlich das
Zusammentreffen des Weißen mit effektvoll davon abstechender
Dunkelheit, lediglich als Farbeneffekt, für Gogol von ganz besonde-
rem Reiz gewesen sein muß. Gogol hat in den Fragmenten noch eine
sehtechnisch sehr feine Beobachtung aufgenommen, nämlich die
optischen Wirkungen eines starken Regens auf Luft und Gegen-
stande, die beweist, daß ihm auch für solche farbenarmen Vorgänge
der Sinn nicht gefehli hat. Ein geschickter Radierer könnte danach
getrost eine Regenstudie arbeiten. „.. Das bewegliche Regenneb
hüllte fast vollständig alles ein, was vorher das Auge sah, und nur
die vordersten Häuser huschten hinter einer feinen Gaze vorüber;
trübe huschten die Aushängeschilder vorbei, noch trüber über ihnen
der Balkon, darüber noch ein Stockwerk, schließlich war das Dach
bereit, sich in dem Regennebel zu verlieren, und nur sein feuchter
Glanz unterschied es ein wenig von der Luft. Man könnte meinen,
einen Nachklang dieser Eindrücke zu sehen in den „Toten Seelen“,
wo nur Cicikov bei der Einfahrt in den Hof der Korobočka durch den
dichten Regen etwas einem Dache Ähnliches bemerkt.
Sonst ist gerade bei Gogols Beobachtungen der Luftione seine
Farbenfreudigkeit bemerkbar, man erinnere sich der Beobachtungen
in den ,,Peterburgskija Zapiski“ (s. S. 152), in denen er sich an den
blauen, lilalen und rosigen Lufttonen eines Frühlingsabends entzückt.
Es seien hier nur einige Proben gegeben, die zeigen sollen, wie
Gogol Lufttone unter nordischem und südlichem Himmel gesehen hat.
In den „Toten Seelen“ vom Tetetnikovschen Hause (2, 1) läßt er Ci&ikov
in die Landschaft blicken. „Endlos, grenzenlos enthiillien sich die
Weiten! Hinter den Wiesen, die mit Mühlen und Baumgruppen besät
waren, grünten in Gestalt einiger grüner Bänder die Wälder; hinter
den Wäldern ward gelber Sand durch die Luft, welche schon anfıng
den Nebelhauch der Ferne zu zeigen, sichibar, und wieder Wälder,
schon in dunkles Blau getaucht, wie Seen oder Nebel in lang hin-
165
gestreckten Streifen; und wieder Sandflachen, schon blässer, aber
doch noch gelb getönt.“ Gogols Vertrautheit mit Pastellfarben, die
durch seine Jugendbriefe an die Eliern bewiesen ist, spricht aus einer
Bemerkung im Kap. 3, wo Cicikov in Gesellschaft KostaZonglos in
die Ferne sieht. Da zeigt sich ihnen bei einem Blick ins Tal, über
das Haus des Generals Betriščev hinziehend, „die waldbewachsene
krause Hohe, welche bereits den dunkelblauen Staub der Ferne trug“
(pylivSaja sinevatoju pyl’ju ofdalenijal. Es ist gerade an diesen
beiden Textstellen besonders interessant, daß sie erst in eine spätere
Bearbeitung des 2. Teiles der „Toten Seelen‘ aufgenommen worden
sind, oder wenigstens, was die erstere anbelangt, der charakteri-
stische Zusak zu dem „und wieder Sandflächen“ das „schon blässer,
aber doch noch gelb getönt“. In der älteren Fassung hieß es nur
„zelteli peski“. In dieser kleinen Nuance verrät sich das auber-
ordentlich feine Sehen, welches auch die dichterische Arbeit begleitet
haben muß (vergl. Tichonravov-Ausg. 4, 314 u. 468/69). Der Hauch der
Ferne als ein farbiger Staub gesehen, dient Gogol als Ausdrucks-
mittel auch in einer Schilderung der römischen Campagna, deren
etwas trockener Ton dem Gegenstand wenig angemessen ist und
eher in einer maltheoretischen Schrift angebracht wäre. Gogol sieht
in der Campagna nach allen vier Seiten. „.. Nach der dritten Seite
hin waren auch diese Felder durch Berge bekränzt, welche sich be-
reits höher und näher erhoben, in ihren vorderen Reihen kräftiger
hervoriraten und leicht abgestuft sich in der Ferne verloren. Die
zarte hellblaue Luft umkleidete sie mit einer wunderbaren Abstufung
der Farben, und durch diese durchsichtig-blaue Hülle hindurch leuch-
teten kaum merklich die Häuser und Villen von Frascati, hier fein
und leicht von der Sonne gestreift, da übergehend in den hellen
Nebel in der Ferne verstäubender, kaum sichtbarer Gehölze.“ Dann
sieht der Fürst in „Rim‘ von einer Terrasse in Frascati oder Albano
herab auf die abendliche Campagna und ihre Wiesenflachen.
„ . . Dann erschienen sie einem unübersehbaren Meer gleich, das
sich leuchtend von der dunklen Brüstung abhob; Flächen und Linien
verschwanden dann in dem sie umhüllenden Lichte. Anfangs er-
schienen sie grünlich, und hie und-da waren auf ihnen zersireut
die Gräber und Aquadukte zu erblicken, darauf leuchteten sie in
hellem Gelb in den Regenbogenfarben des Lichtes auf, kaum die
antiken Ruinen noch erkennen lassend, und schließlich wurden sie
purpurfarbener und purpurfarbener und verschlangen in sich selbst
die gigantische Kuppel und flossen zu einem dichten Himbeerrot zu-
sammen.“ Man versteht die Ironie Turgenevs und den ästhetischen
Schauder, mit dem er sich von dieser Schilderung der römischen
Natur in seiner „Poezdka v Al’bano i Frascati: vospominanie ob
A. A. lvanove“ abwendet. Und doch ist es Gogol mit der Schilderung
eines römischen Sonnenunterganges sehr Ernst gewesen. Der Gogol
befreundete Kupferstecher und Rektor der Akademie der Künste
Fedor lv. Jordan gedenkt in seinen Zapiski eines mit Gogol, jazykov
und Annenkov unternommenen Abendspazierganges in Rom. Da
164
„entzückte sich N. V. Gogol an dem Sonnenuntergang, dessen Be-
schreibung ihm wahrscheinlich für eines seiner Werke nötig war. Da
er weder Feder noch Papier bei sich hatte, war er sichtlich bemüht,
das sich ihm bietende herrliche Schauspiel seinem Gedächtnis fest
einzuprägen.“
Ein südlicher Himmel gab Gogol noch einmal Gelegenheit zur
Beobachtung von Farbenphänomenen. 2ukovskij hatte ihn brieflich
gebeten, ihn durch eine Schilderung des Heiligen Landes zu seinem
„Vandernden Juden“ inspirieren zu helfen. „.. Ich brauche die
Lokalfarben Palästinas... ich möchte die malerische Seite Jerusalems
und des übrigen vor Augen haben.“ Und darauf erfolgte der lange
Brief Gogols (IV, 297. Der Brief Zukovskijs ist von Senrok in e. Anm.
wiedergegeben). Er schildert seine Enttäuschung an Palästina, an
Jerusalem im besonderen. „... Was kann heute dem Dichtermaler
der gegenwärtige Anblick ganz Judäas sagen?" „... Das alles,
freilich, war malerisch zu den Zeiten des Erlösers, als ganz Judäa
ein Garten war und jeder Jude im Schatten eines von ihm gepflanzten
Baumes ruhen konnte; doch jekt, wo man nur ganz selten fünf oder
sechs Oliven auf dem ganzen Abhang eines Berges antrifft, in ihrer
Erdfarbe ebenso grau und staubig, wie eben dort die Steine des
Berges sind, wenn nur eine dünne Moosdecke und hin und wieder
Grasbüschel inmitten dieses bloßen, zerrissenen Steinfeldes grün
schimmern, ... — wie soll man in einer solchen Landschaft das Land,
wo Milch und Honig fließt, erkennen? Stelle Dir inmitten einer sol-
chen Verödung Jerusalem vor. Nun folgt die bekannte Schilde-
rung des eigenen sterilen Seelenzustandes, der „&erstvo serdca“,
und unwillkürlich drängt sich für den, der Gogols malerische Exal-
tationen beim Anblick einer ihn fesselnden Landschaft verfolgt hat,
die Parallele zwischen der soeben geschilderten Landschaft und
seiner Ernüchterung bei dieser Reise auf. Nur ganz vereinzelt
tauchen freundlichere Erinnerungen an sie auf. Beim Herausreiten
aus Jerusalem zeigen sich „plötzlich in der Ferne in hellblauem Lichte,
als ein ungeheurer Halbkreis, Berge. Eigenartige Berge: sie waren
ähnlich den Seitenwänden oder dem Karnies einer ungeheuren
winkelförmig herausragenden Schüssel. Der Grund dieser Schüssel
war das Tote Meer. Seine Seiten waren von bläulich-roter Farbe,
der Grund blau-grünlih. Niemals habe ich solche sonderbaren
Berge gesehen... sie alle waren wie aus einer ungeheuren Menge
von Fazetien zusammengesetzt, die in verschiedenen Schattierungen
durch die allgemeine dunstige blau-rotliche Farbe schimmerten.
Dieses vulkanische Erzeugnis — ein aufgetürmter Wall fruchtloser
Steine — erglanzte in der Ferne in einer unbeschreiblichen Schön-
heit. Andere Blicke, die besonders eindrucksvoll gewesen waren,
hat die schläfrige Seele nicht mit hinweggenommen...“ An dieser
Stelle bringen die Erinnerungen Annenkovs wieder eine wertvolle
Ergänzung. Er beschreibt seine lebte Begegnung mit Gogol (P. V.
Annenkov i ego druzja, 1. 515 fl.). „... Anstatt des Sinnes für die
Gegenwart, den er im Ausland verloren hatte, und durch seine lebte
165
Entwicklung, war seine künstlerische Eindrucksfähigkeit im höchsten
Maße frisch geblieben. Er forderte mir das Ehrenwort ab, daß ich
auf dem Lande Bäume und Baumgruppen schonen sollte, und for-
derte mich einmal zu einem Spaziergang durch die Stadt (Moskau)
auf, den er.ganz mit der Beschreibung von Damaskus ausfüllte, der
wunderbaren Berge in der Umgebung der Stadt, der Beduinen in
ihrer altbiblischen Kleidung, die sich in rauberischer Absicht an ihren
Mauern zeigen..., aber auf meine Frage, „wie leben dort die
Leute 7“ antwortete er mir fast ärgerlich: „Was soll das Leben! (cto
Zizn’)). Daran denkt man dort doch nicht!“ Man sieht also, Gogol
ist nicht während der ganzen Orientreise cindruckslos gewesen.
Gerade die Freude an den malerischen Gestalten war ja so charakte-
ristisch für sein ganzes Sehen in Italien; sein „Rim“, seine Briefe und
auch wieder Annenkovs Erinnerungen bezeugen das in reichstem
Maße. Als bestes Zeugnis dafür kann Gogols Freude an der male-
rischen Wirkung der Kapuzinermonche in Rom herangezogen wer-
den. Annenkov erzählt in seinen Erinnerungen (S. 44) von einem
Gespräch Gogols mit Panaev, in dem er ihm die malerische Wirkung
eines rotbraunen Kapuziners unter einer Gruppe bunter Frauen-
gestalten auseinandersegte, er hatte in seinem „Rim“, gelegentlich
der Schilderung, welche Freude der junge Fürst am Wiedersehen
seines malerischen Roms hatte, den Farbeneffekt geschildert, den
die „malerischen Scharen der Mönche in ihren langen weißen oder
schwarzen Gewändern hervorrufen“, und wie „ein schmubiger rot-
brauner Kapuziner plötzlich im Sonnenlichte in hellem Kamel-
braun aufleuchiet“. Wie sehr ihn bei den eigenen Malsiudien gerade
die Mönchsgestalten fesselien, bezeugt ja auch der Brief an Zukov-
skij (s. S. 148), wo er von der gelungenen Farbenskizze spricht, die er
bei einer Andacht im Kolosseum gefertigt hatte. Annenkov erzählt
in seinen Vospominanija von einem gemeinsamen Spaziergang mit
Gogol in der wundervollen Galerie von Steineichen zwischen Albano
und Castelgandolfo und von der Begeisterung, in die sie Gogol ver-
schie. „Wenn ich Maler wäre, dann würde ich ganz eigenartige
Landschaften malen. Was malt man jetzt für Baume, was für Land-
schaften! Alles ist glatt, verständlich, vom Lehrer durchgeschen,
und der Beschauer kann es nachbuchstabieren. Ich würde Baum mit
Baum zusammenfassen, würde ihre Äste durcheinanderbringen, da
Lichter hinsetzen, wo sie niemand vermutet; solche Bilder müßten
gemalt werden! Und er begleitete seine Worte mit energischen,
nicht wiederzugebenden Gesten.“ Hier äußert sich wieder die Freude
an der malerischen Behandlung der Lichtmassen im Baumschlag.
Der Tadel, den Gogol hier ausspricht, wird sich vermutlich gegen
gewisse Arbeiten jüngerer russischer Künstler richten, über die er
sich in seinen Briefen wiederholt ungünstig äußert. Vielleicht ist
damit auch das allgemeine Niveau des in Rom für den Verkauf
Gearbeiteten und Ausgestellten gemeint. Daß in dieser Hinsicht der
Aufenthalt dort sehr verflachend wirken konnte, geht aus Mono-
graphien uber deutsche Kunstler jener Tage hervor.
166
Es ist in den bisherigen Ausführungen bei weitem nicht das ge-
samte Material herangezogen worden, was in den Werken Gogols
den sehgeübten Maler verrät. Seine Vertrautheit mit dcr Portrat-
malerei wurde ebensowenig berücksichtigt, wie solche Szenen, die
— ähnlich der stummen Schlußszene im „Revizor“, für die er ja
selbst die allbekannten Konturzeichnungen gefertigt hat — gewisser-
maßen als fertige Genrebilder aus seiner Feder hervorgegangen
sind. Der zur Verfügung stehende Raum zwang dazu, die Textaus-
wahl nur unter einem bestimmten Gesichtspunkt vorzunehmen, und
da es vornehmlich der Zweck dieser Untersuchungen sein sollte, die
Beziehungen zu verfolgen, die zwischen Gogols, in dem Aufsatz
„Doslednij den Pompei“ geäußerten Beobachtungen, an der Land-
schafismalerei seiner Zeit und seinen eigenen Naturbeobachtungen
bestehen, mußte naturgemäß das Hauptinteresse dem Landschaft-
lichen darin zugewandt werden und dem Figürlichen nur dann, wenn
es geeignet war, die Intensität seiner Studien an Beleuchtung und
Kolorit zu erweisen. Es mußte auch davon abgesehen werden, des
näheren auf das Zeitgemäße in Gogols Kunstbestrebungen einzu-
gehen; nur flüchtig sei erwähnt, daß er mit dem in seinem Sehen der
Lufttone und des Lichtwechsels ihm sehr nahestehenden Arzt Carus,
der sich als Maler und kunsttheoretischer Schriftsteller betätigt hat
— sicher wohl ohne eine Ahnung von dieser Seelenverwandischaft
zu haben — in persönliche Berührung gekommen ist. Er hat ihn
seines Leidens wegen konsultiert und berichtet darüber brieflich an
seine Freunde.
Die naheliegenden Fragen: Was ist aus Gogols Arbeiten gewor-
den? Kann man in ihnen seine besondere Art des Sehens verfolgen?
müssen hier leider unbeantwortet bleiben. Es wäre gewiß eine inter-
essante Aufgabe, diesen Untersuchungen an Ort und Stelle nach-
gehen zu können. Doch abgesehen davon, was Gogol als Maler ge-
leistet: die Bedeutung dessen, wie er als Maler gesehen hat, sollte
bei der Analyse seines dichterischen Schaffens nicht übersehen
werden.
Die Literaturangaben beschränken sich auf weniger bekanntes
oder nicht überall zugängliches Zeitschriftenmaterial.
Cernickaja, A. Portrety Gogolja. (Istor. Vesin. 1890, 1, S. 641 ff.)
CiZov, F. V. Vospominanija. (stor. Vestn. 1885, 11, S. 243 ff.)
Danilevskij, Grig. Znakomstvo s Gogolem. (Istor. Vesin. 1886,
Dek.)
Gesemann, Gerh. Grundlagen einer Charakterologie Gogols.
(Jahrbuch der Charakterologie. Jg. 1, Bd. 1, 1924.)
Gogol’ v Odesse. (Russk. Archiv, 1902, 1.)
Jordan, Fed. lv. Zapiski. (Russk. Starina, 1869—71.)
Miljukov, A. P. Vsireta s Gogolem. (stor. Vesin. 1881, T. 4,
S. 135 —38.)
167
168
Nazarevskij, A. A. Gogol’ i iskusstvo. In: Pamjat}? Gogolja,
S. 49 ff. (Univ. Izvestija. Kiev 1911, Priloz.)
Nekrasova, E. S. Gogol’ i Ivanov. (Vesin. Evropy, 1883, Dek.)
Repnina, V. N. knjaginja. Iz vospominanij o Gogole. (Russk.
Archiv, 1890, 3.)
Senrok, N. V. Druzja i znakomye Gogolja v ich k nemu pis’mach.
(Russk. Starina, T. 63, S. 366 ff., 1889.)
Ders. Gogol’ v neizdannych pis’mach i takže v pismach ego
druzej. (Russk. Starina, T. 65, S. 407 ff., 1890.)
Smirnova, Al. Oss. i N. V. Gogol’. (Russk. Starina, T. 58,
S. 47 ff., 1888.)
Diess. Zapiski. (Severnyj Vesin., 1893—95.)
Diess. Pis'ma k Gogolju. (Russk. Starina, T.66, S. 639 ff., 1890.)
Zolotarev, Iv. Fed. Raskazy o Gogole. (Istor. Vestn., I. 51, 1893.)
KATHARINA IL VON RUSSLAND
UND IHRE AUSWARTIGE POLITIK IM URTEILE
DER DEUTSCHEN ZEITGENOSSEN
Von
Ulrich Preuss (Breslau).
Fortsetzung.)
Kapitel III.
Die westliche Politik Katharinas Il. und die deutsche
öffentliche Meinung.
1.
In dem voraufgegangenen Kapitel über die Orientpolitik Katha-
rinas Il. und ihre Beurteilung durch die deutschen Zeitgenossen ist
dargelegt worden, wie das Zusammenwirken von mehreren ver-
schiedenartigen Momenten, von Momenten sowohl politisch-histori-
scher als auch ideengeschichtlicher Natur einen Umschwung in der
Haltung der öffentlichen Meinung Deutschlands herbeiführte, und wie
dieser Umschwung zuungunsten Katharinas während des Türken-
krieges von 1787 zum ersten Male in den deutschen Zeitstimmen
deutlicher zutage trat. Begreiflicherweise mußten die Gefühle der
Unlust und der Entriistung, mit denen ein betrachtlicher Teil der
deutschen Publizistik dem zweiten Türkenkriege Katharinas gegen-
überstand, noch erheblich wachsen, wenn sie auf die nach Westen
gerichteten Transaktionen der Carin blickten. Denn hier handelte
es sich nicht mehr um Vorgänge, die sich „hinten weit in der Türkei“
abspielten, und die man doch nur sehr von fern verfolgen konnte,
sondern Katharina suchte durch sie die russischen Grenzen und die
russische Einflußsphäre immer weiter nach Westen vorzuschieben und
rückte infolgedessen den deutschen Grenzen immer näher. Die An-
strengungen, die Preußen seit Friedrichs des Großen Tode gemacht
hatte, um im Bunde mit England und Schweden dem Expansions-
willen der Carin Einhalt zu gebieten, redefen eine deutliche Sprache.
Allzu deutlich, um nicht sogar auf die mehr ideologisch orientierte
als von eigentlichen politischen Erwägungen geleitete deutsche Pu-
blizistik Eindruck zu machen. Die Vorstellung einer „russischen
Gefahr“, die in der Diskussion der deutschen Publizisten über die
Türkenkriege noch so gut wie fehlt, ergriff angesichts der polnischen
Politik der Carin in der zweiten Hälfte der achtziger und in der
169
ersten der neunziger Jahre in Deutschland immer weitere Kreise,
und als absolute Parallelerscheinung zu dem Umschwunge in der
deutschen öffentlichen Meinung, die in ihrer so verschiedenartigen
Beurteilung des ersten und des zweiten russischen Türkenkrieges
zum Ausdruck kam, besteht ein wesentlicher Unterschied in der Ge-
sinnung und Haltung, mit der man in Deutschland die erste und die
beiden späteren polnischen Teilungen diskutierte.
Wenn Sybel in seinem Aufsatze über „die erste Teilung Polens“
behauptet, die gesamte Literatur sei bei und nach der ersten pol-
nischen Teilung von polenfreundlichen Stimmen bis zu dem Grade
beherrscht gewesen, daß es „beinahe keine andern“ gegeben hatte’),
so entspricht diese Behauptung, wenigstens für Deutschland, nicht
den Tatsachen. Denn die deutschen Zeitgenossen haben dies Er-
eignis, wie übrigens auch die spätere deutsche Forschung?) fest-
gestellt hat, mit einer auffällig kühlen Gelassenheit hingenommen.
Aber ebenso falsch ist die Behauptung in einer unlängst erschienenen
Schrift), daß die öffentliche Meinung Deutschland auch den späteren
Teilungen gegenüber die gleiche kühle Gelassenheit bewahrt habe,
und daß die „zeitgenössischen Humanitatsfreunde“ damals „kein
Wort der Sympathie oder des Mitleides für den zerstörten Staat“
übrig gehabt hätten. Vielmehr fand sie, wie noch zu zeigen sein
wird, in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts sowohl für den
Protest gegen das den Polen zugestofene Leid als auch für das
Mitgefühl mit dem untergegangenen Staatswesen Worte von einer
Herzhaftigkeit und einem Pathos, die denen der Höhezeit deutscher
Polenschwärmerei in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts nicht
viel nachstehen dürften.
Nachdem dieser Unterschied in der Stellungnahme der deutschen
öffentlichen Meinung gegenüber der Teilung von 1772 auf der einen
und denen von 1793 und 1795 auf der anderen Seite bereits in der
glänzend dargestellten und an Literaturkenninis kaum zu über-
bietenden „Geschichte der deutschen Polenliteratur“ von Robert
Franz Arnold eingehend geschildert und begründet worden ist, kann
es nicht unsere Absicht sein, die Veränderungen, welche das Bild
Katharinas infolge ihrer späteren Polenpolitik für die deutschen
Zeitgenossen erfuhr, hier noch einmal in allen Einzelheiten zu schil-
dern. Aber um des Zusammenhanges des Ganzen willen müssen
wenigstens die Hauptlinien dieser Entwicklung in der zeitgenössischen
deutschen öffentlichen Meinung noch einmal nachgezeichnet werden.
Zunächst ist für die relative Gleichgültigkeit, mit der sich die
deutsche zeitgenössische öffentliche Meinung gegenüber der ersten
polnischen Teilung verhielt, auf die Tatsache hinzuweisen, daß ihr
1) Kleinere histor. Schriften, Bd. Ill (1880), S. 160.
2) Vgl. z. B. Woldemar Wenck: Deutschland vor 100 Jahren. Bd. I (1887),
S. 256. — Am eingehendsten bei R. F. Arnold: Gesch. der deutschen Polen-
literatur. Bd. I (1900), S. 73 f.
3) |. Muller: Die Polen in der öffentlichen Meinung Deutschlands 1830
bis 1832. (1923), S. 5.
170
diese Teilung nicht unerwartet kam. Denn in dem langen Verfalls-
und Zersekungsprozeß des polnischen Staates, den die Geschichte
Polens mindestens seit dem Jahre 1662 darstellt, wo der König lan
Kasimir seinen Landsleuten den Untergang und die Zerstückelung
ihres Landes durch ihre westlichen Nachbarmächte prophezeite®), lag
der Gedanke einer polnischen Teilung sozusagen in der Luft. Er
hatte mehrfach die europäischen Kabinette beschäftigt’), und daß er
auch der weiteren Öffentlichkeit nicht fremd war, beweist Wekhrlin,
der in einer seiner vielgelesenen Zeitschriften, um die Notwendigkeit
dieser Teilung zu rechtfertigen, sogar auf das polenfreundliche
Frankreich hinwies, das selber „das Beispiel eines Teilungspro-
jektes“ gegeben hafte“).
Sodann hatten sich — worauf schon in anderem Zusammenhange
hingewiesen wurde — die Polen infolge ihrer fanatischen Unter-
drückung der Dissidenten, d. h. aller Nichtkatholiken — gleichviel
ob Protestanten, Griechisch-Unierte oder Juden — die Sympathien
dieser so stark auf ihre Aufklärung und religiöse Duldsamkeit
pochenden Zeit völlig verscherzt. Die Greueltaten der Konfoderierten
von Radom und Bar, jener blutdürstigen und grausamen Vorkämpfer
fanatischen Glaubenshasses, wie sie z. B. Gustav Freytag aus zeit-
genössischen Überlieferungen aus dem damals polnischen West-
preußen schildert”), wurden natürlich bald jenseits der nahen preu-
Bischen Grenze bekannt und erregten in Deutschland einen Abscheu
und eine Entriistung, die wir wohl vergleichen dürfen mit analogen
Wirkungen der bol3evistischen Greuel auf unser Volk und unsere
Zeit. Dazu kamen die traditionellen Vorstellungen von Polen als
dem klassischen Lande der Zwietracht®) und Unordnung, die zur Bil-
dung von historischen Schlagworten wie „polnische Wirtschaft" und
a) Vgl. B. v. Bilbasov: Gesch. Katharinas Il. Deutsch von P. v. R.
Bd. it (1893), S. 516 f.
s) Vgl. R. Koser: Gesch. Friedrichs d. Gr. Bd. Ill (1913 3 u. 4, S. 203 f. —
Ein noch früheres Beispiel (1575) bei F. Martens: Recueil des traités et
conventions conclus par la Russie avec les pays étrangéres. Bd. I (1874),
— Vgl. überhaupt über e Teilungs vorschläge Alexander
Brückner: Katharina die Zweite. (1883), S. 252 f. Die „Dessins“ von 1768
` 69 bei A. Beer: Die erste Teilung Bo Bd. Ili (1873), S. 262, u. Bd. Il,
. 39.
©) Chronologen, Jg. 1779, Bd. Il, S. 294.
7) „Der polnische Edelmann Roskowski zog einen rolen und einen
schwarzen Stiefel an, der eine sollte Feuer, der andere den Tod bedeuten;
so ritt er brandschakend von einem Ort zum andern, ließ endlich in Jastrow
(Kr. Deuisch Krohne) dem evangelischen Prediger Willich Hände und Füße
und zuletzt den Kopf abhauen und die Glieder in einen Morast werfen. Das
geschah 1768. Gustav Freytag führt aus anderen Beispielen auch eine da-
mals unter den Polen gängige Redensart an: „Vexa Lutheranum dabit
Thalerum.“ Bilder a. d. deutschen Vergangenheit. Bd. IV (1880 12), S. 271 F.
©) Im Gotterstaat der komischen Epopöen des 18. Jahrhunderts hat die
Zwietracht in Polen ihren Sib. Z. B. Das Strumfband. Ein comisches
Heldengedicht. (1765), S. 48 f. — Rathlef: Der Schuh. Heroisch-comisches
Gedicht. (1752), S. 15.
171
dergl. geführt hatten). Endlich war auch das unwürdige Verhalten
der polnischen Volksvertreter auf dem Reichstage von 1773, auf dem
die Teilung formell zum Abschluß kam, nicht gerade dazu angetan,
um aufkeimende Mitleidsregungen für die Polen zur Entfaltung zu
bringen?®).
Alle diese einzelnen Momente aber wirkten zusammen, um ein
eigentliches Mitgefühl weiter Kreise an dem Unglück, das Polen mit
der Teilung von 1772 widerfuhr, nicht aufkommen zu lassen. Selbst
das Volkslied, das doch sonst gewöhnlich für die Unglücklichen und
Unterdrückten ein Herz hat, verriet — wie die von Arnold bei-
gebrachte Probe zeigt?) — bei der Teilung von 1772 nur Spott und
Hohn über das von den Polen selbst verschuldete Geschick und die
schadenfrohe Weisheit:
„Also geht’s: Ist erst gewichen
Fried’ und Ordnung aus dem Haus,
Kommt ein anderer bald geschlichen,
Der es leichtlich plündert aus.“
Einem so diskreditierten Gegner gegenüber hatte Katharina, die
Bändigerin der „fanatisch-grausam-rasenden Polen“::), die in ihrem
eigenen Reiche „fremden Glaubensgenossen“ die „vollkommene Ge-
wissensfreiheit“ gewährte:®), es verhältnismäßig leicht, sich die Sym-
pathien ihrer deutschen Zeitgenossen auch dann zu erhalten, als sie
von der Befriedung der polnischen Republik zur Aneignung einzelner
ihrer Gebietsteile überging. Die deutsche Zeifstimmung in den
Jahren, die der polnischen Teilung vorausgingen und folgten, hat
ruckschauend der Göttinger Historiker Spittler mit den treffenden
Worten charakterisiert: „Die ersten Eingriffe in die polnische Frei-
heit, die bei der Konigswahl!*) geschahen, achtete man kaum, weil
Rußland jetzt nicht mehr tat, als was schon vor 30 Jahren geschehen
®) Georg Forster in sämtl. Schriften, hrsg. v. seiner Tochter, Bd. III
(1843), S. 305, schreibt in einem Briefe aus Wilna vom 24. Juni 1785: „Doch
ganze Bögen reichen nicht zu, um Ihnen einen Begriff von dem zu machen,
was in den angrenzenden Gegenden Deutschlands, mit einem emphatischen
Ausdruck, polnische Wirtschaft genannt wird.“
16) Koser, a. a. O. Bd. Ill, S. 337.
11) Arnold, a. a. O. Bd. I, S. 76 f. — Vgl. Müller, a. a. O. S. 6.
12) J. M. Hofmann: Katharina II., die einzige Kaiserin der Erde usw.
Bd. I (1787), S. 32.
18) P. Kirchhof: Die Glückseligkeit des russ. Staats usw. (1771), S. 35. —
Uber die spätere Aufnahme der Jesuiten in Rußland durch Katharina vgl.
die begeisterten Schilderungen von Frhr. von Tannenberg: Leben Katha-
rina Il. (1797). — Karl B. Feyerabend: Kosmopolitische Wanderungen durch
Preußen, Podolien usw. Bd. II (1800), S. 458 f.
14) Die Wahl Stanislaus Augusts, den Katharina 1764 im Einverstandnis
mit Friedrich d. Gr. den Polen aufdrangte, vgl. Bilbasov: Geschichte, a. a. O.
Bd. Il, S. 542. — Für das geringe Aufsehen, welches dieser Eingriff bei den
deutschen Zeitgenossen machte, ist bezeichnend, daß auch Arnold, Ge-
5 15 a. O. S. 57 f., die Nachwirkungen dieses Ereignisses nur ganz
ur z streift.
172
war. Die ferneren, aber tiefer fassenden Eingriffe aber vergaß man
um der guien Sache der Dissidenten willen und ließ das Völkerrecht
zu Ehren der Toleranz-Philosophie ruhen**).“
Die Gebietserweiterung, die Rugland bei der ersten Teilung da-
vonirug, schien mäßig?!®) und eine berechtigte Entschädigung für den
kostspieligen Türkenkrieg der Carin zu sein, welcher mittelbar aus
ihrem Eintreten für die polnischen Dissidenten erwachsen war?’).
Vor allem aber handelte es sich bei den erworbenen Landesteilen
um Gebiete, von denen man mit nicht ganz takifester Kenntnis der
russischen Geschichte behauptete, daß sie „noch im vergangenen
Jahrhundert“ russisch waren. Diese historischen Rechte Rußlands
wurden namentlich später, als die öffentliche Meinung Deutschlands
längst nicht mehr so einmütig wie 1772 die Politik Katharinas billigte,
mit besonderer Vorliebe von den Apologeten der Carin hervor-
gehoben und als Momente zu ihrer Verteidigung ins Feld geführt:“).
Wenn es auch nicht gänzlich an Stimmen fehlt, die das Schicksal
Polens beklagen — den sensiblen, auf jedes bedeutendere Welt-
geschehnis sofort poetisch reagierenden Schubart begeisterten die
Opfer der Teilung sogar zu einem seiner leidenschaftlichsten und
künstlerisch hochstehendsten Gedichte, dem ersten deutschen Ge-
dicht, „in dem sich deutsche Teilnahme an dem „Polenschmerz“ aus-
spricht“) — wenn ferner sogar schon Stimmen laut wurden, die
Anklage erhoben und die Schuldfrage stellten — zu ihnen gehören,
abgesehen vom katholischen Klerus, der allenthalben für die Polen
eintrat**), auch die von Rousseaus Ideen beeinflußten Zeitgenossen —,
so kennzeichneten diese Stimmen die deutsche öffentliche Meinung
noch nicht. So sehr sich später der Protest, den Rousseau vom
ethischen Standpunkt aus gegen die Teilung erhob, durchsetzte,
so wenig hat im allgemeinen dieser Protest auf die deutschen Zeit-
genossen, die die Teilung von 1772 miterlebten, gewirkt. Denn diese
betrachteten in überwiegender Zahl den Teilungsvorgang ohne ein
erkennbares Gefühl der Verwerflichkeit nur nach dem größeren oder
geringeren Vorteile, den die einzelnen Mächte davongetragen
hatten"*). Noch lebte in beinahe unbestrittenem Besitze seiner
18) Samtl. Werke, hrsg. von Wachter-Spitiler. Bd. IV (1828), S. 372.
10) Chronologen, Jg. 1779, Bd. II, S. 294.
17) Bilbasov: Katharina Il. im Urteile der Weltliteratur. Bd. I (1897), S. 194.
18) Vor allem Seume: Samtl. Werke, hrsg. v. A. Wagner (1837 2), S. 450. —
Vgl. Hist. geneal. Kal., Jg. 1798, S.112. — Mursinna: Katharina Il. In Galerie
aller merkwürdigen Menschen. Bd. XIII (1804), S. 47. — Denkwürdigkeiten
aus dem ablaufenden achtzehnten Jahrhundert. (1800), S. 270.
10) Arnold, Geschichte, a. a. O. Bd. I, S. 78.
* Ebd. S. 373. — Vgl. auch Beer, a. a. O. Bd. Il, S. 314 f.: „Die einzige
Macht, die zu Gunsten der Polen einen Schritt tat, war dıe römische Curie,
welche eine fieberhafte Tätigkeit entfaltete, um das Teilungsprojekt zu
hindern. Seit dem Frühjahr 1771 wurden die katholischen Mächte Österreich,
Frankreich und Spanien besfürmi, gegen die verabscheuungswürdige Politik
in die Schranken zu treten.“
31) Wenck, a. a. O. Bd. I, S. 256.
175
Führerschaft über die öffentliche Meinung Europas Voltaire, und Vol-
faire hatte in seinem Glückwunschbriefe an Friedrich den Großen")
die polnische Teilung sanktioniert. Rousseaus Einfluß auf Deutsch-
land gelangte dagegen erst gegen Ende der siebziger Jahre in der
Sturm- und Drangbewegung voll zur Entfaltung. Aber auch das
stärkere Einströmen seiner Ideen würde — wie bereits ausgeführt —
allein kaum ausgereicht haben, um für einen großen Teil der deut-
schen Zeitgenossen das bisher gültige Bild Katharinas zu zerstören,
wenn die Einwirkung seiner Ideen nicht zusammengefallen wäre mit
der Umgruppierung der Mächtekonstellation, die sich im Verlaufe
der achtziger Jahre vollzog.
In den siebziger Jahren aber behaupteten das Feld der offent-
lichen Meinung noch die Aufklärer von vorrousseauscher Prägung,
die Generation, die mit dem Erlebnis der Taten und Handlungen
Friedrichs Il. groß geworden war, die seinen aufgeklärten Absolutis-
mus als einen ungeheuren Fortschritt im Vergleich zu dem Despotis-
mus der früheren Herrscher empfunden und gefeiert hatte, und die
an ihm und seinen Nachahmern auf den Thronen von Petersburg und
Wien als vorbildlichen Gestalten des Herrschertums festhielt.
Auch der Kampf, den diese Apologeten des aufgeklärten Ab-
solutismus führten, verlief in der Hauptsache noch ganz in den her-
kömmlichen Formen. Wie einst Friedrich der Große seine Ansprüche
auf Schlesien in einer Reihe von „Staats- und Flugschriften“ offi-
ziellen und halboffiziellen Charakters’) vor der Öffentlichkeit be-
gründete und begründen ließ, so hatten auch die Teilungsmächie
von 1772 eine Reihe von Deklarationen erlassen, die ihren Eingriff
in das polnische Ländergebiet rechifertigten™). Diese riefen natürlich
sowohl von polnischer Seite als auch in den neutralen Ländern eine
Anzahl von Gegenschriften hervor, in denen die in diesen De-
klarationen aufgeführten Begründungen der Rechtmäßigkeit des
Vorgehens der Teilungsmachte untersucht und bestritten wurden»).
Gegen diese wandten sich wiederum die Apologeten der Monarchen
von Preußen, Österreich und Rußland. Für den Umfang, den diese
Polemik annahm, ist es bezeichnend, daß das Erscheinen einer der
heftigsten Anklageschriften aus dem neutralen Ausland, der mit der
Druckangabe London 1773 versehenen „Observations sur les décla-
rations des cours de Vienne, de Petersbourg et de Berlin au sujet
du démembrement de la Pologne“**), nicht weniger als von vier
solcher apologetischen Repliken begleitet war").
Unter diesen vier Repliken ist schon um der Persönlichkeit des
Verfassers willen die bemerkenswerteste die „Beantwortung auf die
in französischer Sprache erschienene Schmähschrift betitelt: An-
22) Oeuvres publiés par Beuchot. Bd. LXVIII (1833), S. 6.
ss) Koser, a. a. O. Bd. IV, S. 121 l.
24) Bilbasov: Weltliteratur, a. a. O. Bd. I. Nr. 182, 199, 201, 202, 205, 216, 236.
38) Ebd. Nr. 207, 209, 211, 212, 213, 234, 235, 243, 260, 261, 289, 297.
20) Ebd. Nr. 206.
31) Ebd. Nr. 208, 214, 215, 267.
174
merkung über die Erklärung der Wiener, Petersburger und Berliner
Höfe, die Zergliederung der Republik Polen betreffend von Fr.
v. d. Trenck, Aachen 1773“. In der Gesinnung und Haltung dieses
allerdings mehr durch seine abenteuerlichen Schicksale, seinen mehr-
fachen Wechsel in der Staatszugehörigkeit — er war nacheinander
preußischer, russischer und österreichischer Untertan —, durch seine
neuerdings angezweifelte romantische Liebesaffare mit einer preu-
bischen Prinzessin und durch seine lange Kerkerhaft auf preußischen
Festungen als durch seine publizistische Tätigkeit bekannten Mannes
kommt vielleicht am deutlichsten zum Ausdruck, wie sehr für die
durch ihn repräsentierte Generation „Credo der Aufklärung“ — um
diese Arnoldsche Wortpragung zu gebrauchen”) — und Antipathie
gegen Polen fast gleichbedeutende Dinge waren. Nach Trenck
retteten die drei Mächte Polen aus seiner „Blindheit“, und er fand
es sehr überflüssig und wenig angebracht, daß die polnische Pu-
blizistik und ihre Parteigänger in Europa fortfuhren, „unsere besten
Fürsten Europas“ Usurpatoren „eben der Provinzen zu nennen“,
welche der polnische konföderierte Klerus, dem Trencks besonderer
Haß galt und zu dessen Charakferisierung er bezeichnenderweise
das Wort „türkisch“ als Ausdruck für höchsten Fanatismus und
tiefsten Immoralismus braucht, „selbst zu einer Türkenmördergrube
machen wollte’. Der Pole sollte Gott auf den Knien für das Wunder
danken, daß seine Länder den „türkischen Mordklauen“ entrissen
und in die Hände toleranter Monarchen gelegt wären. „Welcher
Unterschied“ — so fragt er — „ein Unterthan der frommen, der
besten Theresia, des großen nordischen Friedrichs oder eines nieder-
trachtigen beirügerischen Mufti zu werden. Alles dieses hat Pohlen
eben der erhabenen Catharina zu danken, die es durch Verführung
arglistiger Brüder so grob beleidigie und dero Gnade und Mitleid
es sich durch so viel schändliche Manifeste und Blutbader unwürdig
gemacht hat. Mögte doch Pohlen unserm Europa zum Schreckbilde
dienen und denen die Augen öffnen, die dieses Reich in seinem
gegenwärtigen Zustande bedauern und über eine Zergliederung
murren“®). Härter konnte wohl nicht über Polen abgeurteilt und
energischer wohl kaum wenigstens das moralische Recht der drei
Ostmächte und insonderheit der russischen Carin, „welche ganz
Europa bewundert und die ihre despotische Gewalt nur für den
Wohlstand und für die Freyheit treuer Unterihanen braucht“), be-
gründet werden als in der Broschüre Trencks®). Daß sein Urteil
28) Ebd. Nr. 215.
20) a. a. O. S. 74.
30) Trenck, S. 17, 40f., 59.
31) Ebd. S. 65.
..») Arnolds Bemerkungen über diese Schrift, der „billig zweifeln“
möchte, „ob wir es mit einer ernsigemeinten Apologie“ zu tun haben
la. a. O. S. 74 f.) erscheinen nicht überzeugend. Bilbasov (Weltliteratur a. a.
O. Bd. I. S. 208 f.), der das Machwerk Trencks „äußerst oberflächlich“ findet,
setzt dennoch keinen Zweifel in die Ernstgemeintheit der apologetischen
Tendenzen Trencks.
12 NF 8 175
aber nicht als ein zu exiremes aus dem Chorus der übrigen Zeit-
stimmen herausfallt, zeigt ein Blick auf andere diesbezügliche
Außerungen deutscher Zeitgenossen. Trenck hatte ausgeführt: „Wenn
ein kluger Chirurgus dem Verwundeten das wilde Fleisch mit dem
Lapide infernali reinigt und ihm dadurch Schmerzen verursacht, um
den kalten Brand zu verhüten, thut er nicht ebenso recht und rühm-
lich als die drey benachbarte Mächte Pohlens?“*) Einen solchen
med:zinischen Eingriff hielt auch Wekhrlin für notwendig und wohl-
tätig; aber er dachte dabei nicht so sehr an das Wohl der Polen als
an das Interesse, das die Zivilisation Europas an dem Aufhören der
polnischen Wirtschaft hatte. Daher ging er in seiner Rechtfertigung
der Teilung Polens über Trenck noch weit hinaus und rief die
Teilungsmächte auf, den Teilungsakt zu wiederholen, da es auch in
dem polnischen Rumpfstaat niemals zu geordneten Zuständen
kommen werde”). Es war dieselbe Auffassung, die später Seume
vertrat, wenn er auch noch die folgenden Teilungen „kosmisch ge-
nommen“ als eine Wohltat für die Menschheit bezeichnete®®).
2.
Zur Zeit der ersten polnischen Teilung war die Parteinahme in
bezug auf das Für und Wider die Carin Katharina Il. unter ihren
deutschen Zeitgenossen in der Weise vor sich gegangen, daß alles,
was fortschrittlich und sozusagen liberal dachte — und das war der
ganz überwiegend größere und vor allem der namhaftere Teil der
damaligen deutschen Publizistik — sich mit seinen Sympathien auf
der Seite der Teilungsmächte sah, während die konservativ-reaktio-
nären Elemente — in Deutschland, wie überall, vornehmlich der
katholische Klerus — für die Sache der vergewaltigten Polen ein-
traten. Dazu kamen die Vertreter einer dritten, allerdings noch in
der ersten Entwicklung begriffenen Richtung, die Wortführer der
jüngeren Generation der Aufklärung, die sich mit demokratisch-
philanthropisch-pazifistischen Ideen erfüllten, wie sie mit dem Ein-
flusse der Vorbilder und Lehren aus den Romanen und philosophisch-
politischen Schriften Rousseaus damals in Deutschland gerade Fuß
zu fassen begonnen hatten. Diese Richtung wird aber in dem fol-
genden Jahrzehnt, den achtziger Jahren, immer stärker, so dab sich,
je mehr wir uns dem Untergange der polnischen Republik nähern,
der Charakter der oben skizzierten Parteistellung der deutschen
Publizistik von 1772 diametral verändert. Denn von nun an sind es
die „Erben der Aufklärung“, die sogen. Illuminaten, die in Deutsch-
land die Sache der Polen verfechten, und ihnen gegenüber nehmen
die als Dunkelmanner oder Obskuranten von den Illuminaten ver-
spotteten oder verschrienen Hüter des Bestehenden für Katharina
und Friedrich Wilhelm Il. Partei.
33) Trenck, a. a. O. S. 47.
34) Chronologen, Jg. 1779, Bd. Il, S. 94.
38) Seume, a. a. O. S. 449 f.
176
Die Bezeichnungen „Illuminaten“ und „Obskuranten“, die Robert
Franz Arnold zur Benennung der beiden Hauptrichtungen in der
damaligen deutschen Publizistik verwendet hats), wollen im großen
und ganzen dasselbe besagen wie unsere etwas weniger bestimmte
Unterscheidung in eine ältere und eine jüngere Generation von Ver-
iretern der deutschen Aufklärung, die im Streite der Meinungen sich
damals als Antagonisten befehdeten. Aber ganz abgesehen davon,
daß die Bezeichnung „Illuminaten“ fro der Ausdehnung auf sehr
weite Kreise, die man unter diesem Begriffe zusammenfassen darf),
vielleicht noch etwas zu speziell ist’), kann man diesen Ausdruck
doch erst seit den neunziger Jahren gebrauchen. Denn dieses Schlag-
wort, das seinen Ursprung zunächst bloß in dem 1776 von dem Ingol-
städter Universitätsprofessor Adam Weishaupt gegründeten und
1784 von der bayrischen Regierung aufgelösten „Illuminafenorden“
mit freimaurerischen und antijesuitischen Tendenzen hatte, erhielt
den vollen Umfang seines Begriffes erst, als die französische Revo-
lution und ihr Widerhall in Deutschland die deutsche öffentliche
Meinung in zwei große feindliche Lager schied. Damals wurde von
den Verteidigern des Bestehenden, die überall hinter den Vorgängen
in Frankreich die Wirkungen von geheimen Gesellschaften frei-
maurerischer Provenienz witterten, die Bezeichnung „Illuminat“ als
Schelte für jeden gebraucht, der auch nur von ferne der Sympathie
mit dem französischen Umsturze verdächtig schien, und die Geschol-
tenen replizierten, indem sie mit der Bezeichnung ihrer Gegner als
~Obskuranten“ die alte Wortprägung des sechzehnten Jahrhunderts
von neuem in Umlauf brachten. Wir dürfen uns daher dieses Schlag-
wortes erst nach dem Ausbruche der französischen Revolution
bedienen.
Mit der Einwirkung der französischen Revolution auf die gleich-
zeitige öffentliche Meinung Deutschlands aber haben wir ein Moment
berührt, das auch für die Beurteilung der beiden lekten polnischen
Teilungen durch die deutschen Publizisten von ausschlaggebender
Bedeutung geworden ist. Und zwar in mehrfachem Betracht: Denn
einmal führte dieses große welthistorische Ereignis dazu, daß sich
die deutsche Publizistik und das deutsche Publikum in einem viel
höheren Maße politisierten, als das bei den anderen Haupt- und
Staatsaktionen des Jahrhunderts: Palastrevolutionen, Kriegen, Frie-
densschlüssen u. dergl. bisher der Fall gewesen war**), Sodann
schien — wenigstens in ihren Anfängen — die Revolution in höch-
stem Maße die freiheitlichen und philanthropischen Forderungen der
se) Arnold, a. a. O. S. 73, 135 f.
87) Vgl. darüber auch das Kapitel: „Die Revolution und der deutsche
Volksgeist“ in K. T. Heigels Deutscher Geschichte seit dem Tode Friedrichs
d. Gr. bis zur Auflösung des alten Reiches. Bd. I (1899), S. 303 f.
33) Arnold, a. a. O. S. 73, sagt bezeichnenderweise „die Erben der Auf-
klärung, die Illuminaten und Freiheitsschwärmer“.
3) Vgl. die aufschlugreidren Belege in dem Kapitel „Die Revolution und
der deutsche Volksgeist“ bei Heigel a. a. O.
177
Zeit zu erfüllen und bestarkte daher nicht nur die bereits in dem
Geiste Rousseaus groß gewordene jüngere Generation der Auf-
klarung in ihren Ideen, sondern gewann auch unter der älteren
manchen Anhänger.
Es gab Zeitgenossen, die freilich stark übertreibend behaupten
wollten, daß alle Gelehrten des damaligen Deutschlands Illuminaten
seien‘). Selbst unter den Geistlichen beider Konfessionen griff der
»Philanthropisch-kosmopolitische Schwindel des Zeifalfers“ um sich,
so daß einer der führenden Obskuranten versicherte: „So viel ich
alte und junge Theologen nach modernem Schnitt habe kennen lernen,
so viel Demokraten und Verteidiger der französischen Revolution
habe ich kennen lernen).“ Diese deutschen Sympathien für die
französische Revolution kamen aber auch den Polen insofern zugute,
als die Zeitgenossen den Umschwung in Frankreich — wie wir noch
sehen werden — mit der freilich nur kurzen und Episode bleibenden
Wiedergeburt des polnischen Staatswesens um die Wende der acht-
ziger und neunziger Jahre zu vergleichen liebten. Wie gegen die
„polnische Revolution“, die sie schon im Keime zu ersticken wußte,
trat aber die russische Carin auch gegen die französische Revolution
als Vorkämpferin des Absolutismus in die Schranken. Zwar wollte
es russischerseiis zu keinen positiven Taten gegen Frankreich
kommen, wie sie die Obskuranten in Deutschland von Katharina
entsprechend ihres revolutionsfeindlichen Gestus erwarteten. Aber
die Autorität, die sie, die lebte der großen Monarchentrias des auf-
geklärten Absolutismus, als unversöhnliche Gegnerin in die Wagschale
zu werfen hatte, blieb ihr bei allen Revolutionsfeinden Deutschlands
um so weniger bestritten, als sie sich nicht wie die Mehrzahl ihrer
gekronten Standesgenossen zu irgendwelchen Kompromissen mit den
Neufranken herbeigelassen hatte, während natürlich diese doppelte
Kampfstellung der Carin gegen die östliche und die westliche Revo-
lution noch mehr dazu beitrug, ihr bereits infolge der Greuel des
zweiten Türkenkrieges stark geschmälertes Renommee bei den
deutschen Illuminaten völlig zu zerstören. So lenkten die Ereignisse
der Revolution in Frankreich das Interesse der deutschen Zeit-
genossen an den Vorgängen in Polen nicht nur nicht ab, sondern
ließen diese unter dem. Eindrucke der großen Geschehnisse im
Westen vielfach erst in einem neuen und interessanten Lichte er-
scheinen. Ja, es wird vielleicht nicht zuviel gesagt sein, wenn man
behauptet, ohne das Erlebnis der französischen Revolution wäre es
den deutschen Zeitgenossen nicht möglich gewesen, den Grad von
Wärme aufzubringen, den ihre Polensympathie beim Untergange des
polnischen Reiches aufweist.
Denn diesen Sympathien standen doch gerade für die geistes-
freien Kreise Deutschlands die größten Hemmungen entgegen, und
wir werden uns daher nicht wundern, wenn die deutschen Urteile
0) Ebd. S. 313.
1) Ebd. S. 285 f.
178
uber Polen noch lange nichi wesentlich anders klingen, als sie zur
Zeit der ersten polnischen Teilung lauteten. Anläßlich des Teilungs-
reichstages von 1773 hatte der sächsische Gesandte in Warschau,
Baron Essen, ein notorischer Polenfreund, im Hinblick auf die scham-
lose Käuflichkeit und die stumpfe Gleichgültigkeit der polnischen
Landboten, die den Teilungstraktat zu genehmigen hatten, seiner Re-
gierung mitgeteilt, daß die Zustände in Polen auch noch der schwär-
zesten Berichterstattung in den ausländischen Journalen spotieten.
Er hatte hinzugefügt: „Diese Verderbtheit und dieser Verfall der
Sitten laßt mich fürchten, daß das Unglück der Nation noch nicht auf
seinen Gipfel gelangt ist und daß sich über ihr ein neues Ungewitter
zusammenzieht).“
Blicken wir etwa ein Dutzend Jahre weiter, so fallt Forster, der
doch gewiß kein Polenfeind war, wenn auch bei seiner galligen
Schilderung sein Unbehagen über seine verfehlte Wilnaer Wirksam-
keit mit in Anschlag gebracht werden muß, in einem Briefe an
Lichtenberg vom 18. Juni 1786 über die physische und moralische
Verfassung des polnischen Volkes folgendes vernichtende Urteils»):
„Oft habe ich mir hier schon in vollem Ernst Ihren Blick und die
vortreffliche Art, die Sitten zu malen, gewünscht. Sie würden an
diesem Mischmasch von sarmatischer oder fast neuseeländischer
Roheit und französischer Superfeinheit, an diesem ganz geschmack-
losen, unwissenden und dennoch in Luxus, Spielsucht, Moden und
äußeres Clinquent so versunkenen Volke reichlichen Stoff zum
Lachen finden; — oder vielleicht auch nicht; denn man lacht nur über
Menschen, deren Schuld es ist, daß sie lächerlich sind; nicht über
solche, die durch Regierungsformen, Auffütterung (so sollte hier die
Erziehung heißen), Beispiel, Pfaffen, Despotismus der mächtigen
Nachbarn, und ein Heer französischer Vagabunden und italienischer
Taugenichtse, schon von Jugend auf verhunzt worden sind und keine
Aussicht zur künftigen Besserung vor sich haben. Das eigentliche Volk,
ich meine jene Millionen Lastvieh in Menschengestalt,die hier schlechter-
dings von allen Vorrechten der Menschheit ausgeschlossen sind und
nicht zur Nation gerechnet werden, ohnerachtet sie den größten
Haufen ausmachen; — das Volk ist nunmehr wirklich durch die lang-
gewohnte Sklaverei zu einem Grad der Thierheit und Fühllosigkeit,
der unbeschreiblichsten Faulheit und stockdummen Unwissenheit herab-
gesunken, von welchen es vielleicht in einem Jahrhundert nicht wieder
zur gleichen Stufe mit anderm europäischen Pöbel hinaufsteigen
wurde, wenn man auch desfalls die weisesten Maßregeln ergriff,
wozu bis jet auch nicht der mindeste Anschein ist. Die niedrige
Klasse des Adels, dessen äußerste Armuih ihn abhängig macht und
zu den verächtlichsten Handarbeiten verdammt, ist fast in der näm-
lichen Lage, was Dummheit und Faulheit betrifft; und in Ansehung
#2) Zit bei E. Herrmann: Gesch. des russ. Staats. Bd. V (1853), S. 542.
Š rE Scorch: a. a. O. Bd. VII, S. 343 f., angeführt bei Arnold, a. a. O.
179
der kriechenden Niederträchtigkeit und des zertretenden Mißbrauchs
seiner etwa bei Gelegenheit ihm zufallenden Macht ist er noch viel
verworfener. Der höhere und reichere Adel ist, im ganzen genom-
men, nur eine Schattierung der vorhergehenden Klassen, mit mehr
Gewalt. Jeder Magnat ist ein Despot, und läßt Alles um sich her
fühlen, wer er sei. Denn nichts ist über ihm, und selbst die größten
Verbrechen büßt er höchstens mit einer Geldstrafe oder einem Ver-
haft von etlichen Wochen, wobei er ein Palais zum Gefängnis hat
und die ganze Zeit mit seinen Freunden in Schmausen und Lusibar-
keiten aller Art zubringt.“ Und abermals rund fünf Jahre später
urteilt Fichte auf seiner polnischen Reise von 1791, daß er den pol-
nischen Staat reif für den Untergang halt gleich einer jener bau-
fälligen Hütten, wie sie die polnische Hauptstadt mitten unter Pracht-
palasten in so großer Zahl sehen ließ).
Dieses letztere Urteil darf jedoch kaum zeitgemäß genannt
werden. Denn Fichte kam in Warschau an, als die neue polnische
Verfassung vom 3. Mai 1791 bereits proklamiert war, und dieser von
den polnischen Patrioten mit den optimistischsien Hoffnungen
begrüßte Akt nun auch im Auslande wie mit einem Zauberschlage
die völlige Umstellung der öffentlichen Meinung zugunsten der Polen
bewirkte. Es vollzog sich damit ein Stimmungsumschwung von
solcher Plößlichkeit, daß er sogar in der Geschichte der so wandel-
baren öffentlichen Meinung ein Unikum darstellen dürfte. Der Stim-
mungswedhsel, der etwa fünfzig Jahre später gegenüber der Hohen
Pforte eintrat, als diese ihre europäisierenden Reformen begann,
und der einem verrugten Deutschen den spottenden Ärger entlockte:
„Die Turken hielt man alle für ebenso großmütig als den Bassa Selim
in Mozarts Entfuhrung“**) war jedenfalls viel länger vorbereitet.
Allerdings steht Fichte mit seiner Skepsis unter seinen begeister-
ten Landsleuten — denn wie überall, so war auch in Deutschland die
bisherige Polenverachtung umgeschlagen in eine glühende Polen-
verehrung — nicht völlig vereinzelt da. Aber die Stimmen, die
schon damals der neuen Schöpfung keinen langen Bestand pro-
phezeiten, wie der alte Polenfeind Wekhrlin**) oder wie Schiozer*’),
sind nicht gerade zahlreich.
Die neue Verfassung stellte die Krönung der Reformbestrebungen
des sogen. langen oder vierjährigen Reichstages dar“), der in erster
Linie die Macht der polnischen Krone verstärken wollte, damit sie
in Zukunft den Umirieben der russischen Partei und der unbot-
“) J. G. Fichtes Leben u. literar. Briefwechsel, hrsg. von I. H. Fichte.
Bd. I (1862), S. 125.
4s) A. v. Grimm: Wanderungen nach Süd-Osten. Bd. Il (1856), S. IV.
4¢) Paragrafen, Jg. 1791, Bd. Il, S. 217.
47) Staatsanzeigen Bd. XVI (1791), S. 328 und noch einmal Bd. XVIII
(1792), S. 130.
48) Vgl. Walerian Kalinka: Der vierjahrige polnische Reichstag 1788 bis
ited on sn Polnischen übersetzte deutsche Originalausgabe. Bd. Il
1898), S. 665 f.
180
mäßigen polnischen Aristokratie wirksam entgegenzutreten ver-
mochte. Sie war unter Überrumpelung dieser russischen Söldlinge
und unter Begünstigung des Gesandten des mit den Polen seit 1791
verbündeten Preußen auf dem Wege eines Staatsstreiches ins
Leben getreten. Durch sie wurden die beiden wichtigsten Adels-
privilegien der bisherigen Verfassung, das Recht der Königswahl
und das liberum veto, kassiert. Denn Polen sollte nach dem Tode
des kinderlosen Stanislaus August ein Erbreich mit einer Dynastie
aus dem sächsischen Herrscherhause bilden, und dem einzelnen
Landboten wurde mit dem Aufhören seines Einspruchsrechtes und
seiner Konföderationsfreiheit die Möglichkeit genommen, nach
eigener Willkür den ganzen Reichstag lahmzulegen. Des ferneren
verhieß die neue Verfassung, eine Milderung der ständischen Gegen-
sake und ein friedliches Zusammenleben der verschiedenen Kon-
fessionen herbeizuführen.
Man sieht, es waren Grundsätze, von denen die einen, wie die
Wiederherstellung der Erbmonarchie, bei den deutschen Obskuranten
ihren Eindruck nicht verfehlen konnten, während die anderen, die
Beschränkung der adligen Privilegien, der Ausgleich der ständischen
Gegensätze und die proklamierte Toleranz den Illuminaten wohl-
gefällig sein mußten. Daher der nahezu ungeteilte Beifall, den die
polnische Konstitution in der gleichzeitigen deutschen öffentlichen
Meinung hervorrief.
Unter den führenden Organen der Obskuranten feierte das im
allgemeinen maßvolle und besonnene „Hamburger Politische Journal“
mit großer Wärme die durch die Verfassung vom 3. Mai angebahnte
Restauration der Monarchie in Polen. Es pries den bisher zu sehr
verkannten Polenkönig wegen seines „Genies“ und seiner „Ent-
schlossenheit“, mit der er in kühner Tat dem kühnen Projekte zur
Wirklichkeit verholfen habe, und stellte die Prognose, daß fortan
Polen wieder im Rate der Völker die seiner Größe und seiner Ge-
schichte gebührende Stellung einnehmen würde; denn „solange Polen
monarchisch beherrscht wurde, war es blühend und der Gesekgeber
des Nordens“). Besonders glorwürdig erschien ihm der polnische
Konig im Gegensab zu dem französischen, der die Monarchie in
Frankreich zu völliger Bedeutungslosigkeit habe herabsinken lassen.
Nicht minder prompt als die Organe der Obskuranten reagierten
die Illuminaten auf die ihnen besonders zusagenden Verheißungen
der neuen Verfassung. Am promptesten sicherlich der immer von
der jeweiligen Tagesstimmung abhängige Schubart. Noch zu Anfang
April hatte er wieder einmal orakelt: „Der lezte Akt des polnischen
Trauerspiels dürfte sich wohl wieder mit einer neuen Zerstückelung
enden®).“ Nach dem 3. Mai aber kannte seine Polenbegeisterung
schier keine Grenzen mehr, und seine pathetischen Ergüsse konnten
kaum von den schwungvollsten Tiraden, in denen man sich in Polen
+) Jg. 1791, Bd. I, S. 479, angeführt bei Heigel a. a. O. Bd. l. S. 386.
se) Ges. Schriften, Bd. V, S. 255.
181
selbst über die neue Verfassung erging, übertroffen werden, wenn
er seine Hoffnungen auf die polnische Wiedergeburt in den dem
Homer abgeborgten Hexametern laut kundtat:
„Nenne Sarmatiens Dichter, nenn die heiligen Namen:
Einem Monde gleicht Stanislaus an deinem Olympos,
Ihn umglühen die Vaterlandsfreunde wie leuchtende Sterne.
Jauchze Polonia nun! Deine Nacht ist auf ewig gelichiet!**)“
Schubart, der schon im Oktober des Jahres 1791 starb, hat den Unter-
gang des polnischen Staates nicht mehr erlebt. Er hätte uns diesen
Proteus der damaligen deutschen öffentlichen Meinung vielleicht
wiederum in einem neuen Gewande gezeigt.
Wie Schirach, der Herausgeber des „Hamburger Politischen
Journals“, so hat auch Schubart die Vorgänge in Polen in eine Pa-
rallele zu den französischen gese i: „Es ist ein großes Gedankenfest
für den Philosophen” — so schrieb er —, „daß sich zu gleicher Zeit
zwei der mächtigsten Reiche in Europa aus einer verdorbenen Ver-
fassung in eine bessere hinauszudringen streben. Wiederherstellung
der Menschenwürde, Philosophie und Freiheit — Begriffe, die man
in despotischen Staaten kaum ahnen darf — sind jest in Warschau
wie in Paris im Schwange. Der Pole arbeitet sich aus Halbbarbarei
heraus; er ist gleichsam noch halb Mensch und halb Erdkloß. Der
Franke aber übernahm die weit schwerere Arbeit: die durch Gewalt-
tat und Sittenlosigkeit verlorene Schnell- und Tatkraft wiederherzu-
stellen. Beide Reiche brauchen einerlei Mittel, nämlich Wiederher-
stellung der bürgerlichen Freiheit und Auswurzelung des Despotis-
mus und Adelsstolzes‘s*). Ahnliche Vergleichungen zwischen den
beiden Ländern bringt er auch noch an anderen Stellen; unter dem
Eindrucke des zunehmenden Radikalismus aber fallen sie für die
Polen immer günstiger aus“).
Es sollte kein Mißklang in dem Jubel der öffentlichen Meinung
Deutschlands uber das sich wieder aufrichtende Polen aufkommen.
Fur diese Stimmung ist vielleicht das bezeichnendste Beispiel der
Reisebericht eines Anonymus, der 1791 und 92 in der „Berlinischen
Monatsschrift“, des von den Obskuranten besonders heftig des Illu-
minatismus verdachtigten**) Journals des alten „Löschpapierdespoten“
Nicolai erschien®). Er zeigt sich auf das geflissentlichste bemüht,
alles in Polen im rosigsten Lichte zu sehen und auch überall an den
Stellen, an denen man früher bei den Polen nur Tadelnswertes ge-
funden hatte, sie zu verteidigen oder zu entschuldigen. Auch die
„Nachrichten über Polen‘ des Militscher Kreisphysikus Kausch, der
51) Arnold, a. a. O. S. 120 f.
82) Vaterl. Chronik, Jg. 1791, S. 307.
88) Vgl. die von Arnold a. a. O. S. 121 Anm. 1 zit. Quellenstellen.
t) Vgl. Heigel, a. a. O. Bd. I, S. 313 f.
g b>) = XVIII (1791), S. 162 f. — Bd. XIX (1792), S. 545 f. — Bd. XX (1792),
. 166 f.
182
aus seiner großen ärztlichen Praxis unter dem benachbarten pol-
nischen Adel“) mit den polnischen Verhältnissen wohlveriraut war,
„sind ebenfalls nichts als eine lange Apologie und Palinodie von
seiten der Aufklärung“). Freilich vermochte der Anonymus der
„Berlinischen Monatsschrift" seine Besorgnis über die Schwierigkeiten,
auf die die Verfassung vom 3. Mai bei ihrer Durchführung stoßen
würde, nicht zu unterdrücken“). Solche Befürchtungen sollten nur
zu bald zur Wirklichkeit werden. Die durch den Staatsstreich vom
Mai 1791 überrumpelte russische Partei sammelte sich wieder in der
Konföderation von Targowice und rief die Carin als Garantin der
bisherigen Verfassung zur Intervention in Polen auf, die infolge der
Beendigung ihres zweiten Türkenkrieges in der Lage war, sich den
polnischen Angelegenheiten wieder mit vollem Interesse und mit
voller Energie zuzuwenden. Zum Unglück Polens kam es auch an-
gesichts der Vorgänge in Frankreich, die eine gemeinsame Aktion
der legitimen Mächte in Deutschland gegen die Revolution herbei-
führten, zu einer Verständigung zwischen Österreich und Preußen
und damit zu einem Systemwechsel der preußischen Politik im Osten,
dem bald auch die Verständigung mit Rußland folgte. Die Polen
hatten sich den Wünschen des Berliner Kabinettes nach der Ab-
tretung von Danzig und Thorn zur Abrundung der westpreußischen
Provinz immer hartnäckig widersebt.) Als aber nun Katharina mit
neuen Annexionsgeliisten polnischer Gebietsteile hervortrat, da ergab
sich für Preußen eine willkommene Gelegenheit, im Zusammenwirken
mit Rußland diesen Lieblingswunsch Friedrich Wilhelms Il. und seines
Ministers Herbkberg zu erfüllen. Infolgedessen wurde die bisherige
protektionistische Polenpolitik aufgegeben, und Preußen schwenkte
in das Lager der Gegner der Republik ab. Der Übermacht der rus-
sischen Truppen, die bereits im Jahre der Verfassungsproklamation
vom 3. Mai in Polen erschienen und denen nach der Verständigung
der Petersburger und Berliner Regierung im Januar von 1793 auch
noch preußische folgten, vermochten die Polen trok anfänglich tap-
feren Widerstandes unter dem Fürsten Poniatowski, dem späteren
napoleonischen General, und unter Taddeus Kosciusko auf die Dauer
sich nicht zu erwehren.
Troß des Sieges, den KoSciusko im Juli 1792 bei Dubienka er-
focht, war der König einer der ersten, der das polnische Reformwerk
preisgab und das Manifest der verfassungswidrigen Targowicer Kon-
foderation unterschrieb, durch das die Verfassung vom 3. Mai auf-
gehoben wurde. Auf dem sogen. stummen Reichstag von Grodno
wurde die Zustimmung der Nation zu der zweiten polnischen Teilung
erzwungen, die Preußen Danzig und Thorn, Rußland aber alles pol-
nische Land einbrachte, das östlich der Linie liegt, die Chocim und
se) Vgl. Joh. Jos. Kausch: Schicksale (1797).
67) Arnold, a. a. O. S. 119.
se) Bd. XVIII, S. 162.
s) Vgl. Kalinka, a. a. O. Bd. Il, S. 248 f.
185
Pinsk mit den Landstrichen oberhalb Dünaburgs und südlich der
kurlandischen Grenze verbindet).
Für den bereits erheblich gewachsenen Einfluß der öffentlichen
Meinung wie für die erschütterte Position des Absolutismus ist es
ungemein bezeichnend, daß die Teilungsmächte sich in ihren De-
klarationen über diesen neuen Eingriff in den polnischen Länder-
bestand nicht mehr wie 1772 mit „staatsrechtlichen Velleitäten“ be-
gnügen zu dürfen glaubten®:), sondern daß sie wirksamere Gründe
dafür ins Feld zu führen suchten. Denn wenn sie nun ausführten,
daß sie diesen Eingriff hätten vornehmen müssen, um wie in Frank-
reich so auch in Polen den Jakobinismus zu bekämpfen und durch
Einschränkung der polnischen Grenzen sein Übergreifen auf ihre
eigenen Staaten zu verhindern, so konnten sie darauf rechnen, mit
solchen Erklärungen — trokdem sie die Tatsachen völlig verdrehten —
zum mindesten bei den Obskuranten Beifall zu finden.
Man könnte nun vielleicht meinen, daß auch die Illuminaten,
deren Hoffnungen auf den Anbeginn einer neuen humanen und zivili-
sierten Epoche der polnischen Geschichte durch die Konföderation
von Targowice und den Reichstag von Grodno so jäh zusammen-
gebrochen waren, an ihren noch so jungen Sympathien mit den Polen
wieder irre geworden wären. Denn die Zwietracht in Polen und die
Schwäche des Königs, den sie soeben noch um seines Genies und
seiner Entschlossenheit willen in den Himmel gehoben hatten, hatten
zweifellos das meiste zu der Katastrophe beigetragen. Aber gerade
das Gegenteil war der Fall. Denn die deutschen Publizisten aus den
Illuminatenkreisen hielten, wohl nicht unbeeinflußt durch die polnische
Emigration, deren erste Welle sich damals über Deutschland ergoß,
an ihrer Voreingenommenheit, ihrem Mitgefühl und ihrer Bewun-
derung für die Polen fest und machten allein die Teilungsmächte,
insonderheit aber die Selbstherrscherin aller Reußen für das neue
Unglück des polnischen Volkes verantwortlich.
War, wenn man um 1772 die Schuldfrage gestellt hatte, von
Katharinas und Rußlands Anteil davon noch kaum die Rede ge-
wesen"), so wurde das „tyrannische russische Kabinett“ jetzt immer
lauter und schroffer der Anstiftung dieses neuen Verbrechens an der
„Sache der Menschheit“ bezichtigt. Man sprach von trügerischen
Furstenworten und Fürstenversicherungen, die nur gehalten würden,
wenn eine genügend starke Macht sie dazu zwängen]. Es erschien
eine „Untersuchung über die Rechtmäßigkeit der Teilung Polens“)
mit dem Motto „Habe ich Unrecht, so beweise mir, daß es Unrecht
eo) E. Hanisch: Die Geschichte Polens (1923), S. 260 f.
#1) Arnold, a. a. O. S. 122.
es) Ebd. S. 71.
es) Gesch. u. Darstellung d. polnischen Revolution in ihren nähern u.
entferntern Ursachen, entwickelt von einem Vetter des Hippolitus a Lapide.
Germanien (Leipzig) 1796 (von Carl v. Woyda), S. 73
*) Bilbasov: Weltliteratur, a. a. O. Bd. I, Nr. 731 und Arnold a. a. O.
S. 123, Anm. 1.
184
sei; habe ich aber Recht, was verfolgst Du mich?“ Es war eine
Schrift, „kalt, kühn, aber wahr“, wie sich der Publizist Andreas Reb-
mann ausdrückte®). Hierin wurde ausgeführt, daß Katharina als
Garantin über Polen zwar glauben konnte, ein Recht zu haben, die
alte Verfassung zu schützen und die neue zu verwerfen. Polen aber
bedurfte keiner fremden Hilfe, da es sich mit seiner Konstitution,
die keine Rebellion, sondern eine Schöpfung zur Herbeiführung eines
besseren Daseins war, selber geholfen hatte. Mit den Waffen in
der Hand wurde dies Werk vernichtet und das alte verkehrte System
in Polen von neuem begründet, und „das that die große gepriesene
Monarchin, die Wissenschaften und Künste beschützt, die Städte und
Länder anbaut, und sich durch ihre Klugheit und Festigkeit die Be-
wunderung von Europa und fast der ganzen Welt erworben, aber
durch diese einzige politische Finesse, durch diesen gewaltsamen
Eingriff in die politischen Rechte einer freyen respektablen Nation...
das ganze Gebäude ihrer Größe zerstört hat und bey jedem wohl-
denkenden Manne ein Gegenstand der Verachtung geworden ist").
Von jeher habe die Carin — fährt der Verfasser, die Entrüstung der
deutschen Philanthropen über die Greuel des zweiten Türkenkrieges
wieder wachrufend, fort — zur Befriedigung ihrer Herrschsucht Gut
und Blut ihrer Untertanen nicht geschont. Es koste ihr keine Skrupel,
einen fremden Staat zu vernichten. Sie erhebe Ansprüche auf pol-
nisches Gebiet mit derselben Maßlosigkeit, wie sie Alexander der
Große auf die ganze Welt und auf den „Mond gemacht hatte“). Der
anonyme Verfasser der „Untersuchungen“ versichert uns, daß seine
Meinung keineswegs subjektiv, sondern der „vollgültiige Ausspruch“
eines großen Teiles des Publikums sei*), und wir dürfen ihm um
so mehr vertrauen, als wir bereits bemerkten, wie eng die Sache
Frankreichs und Polens für das Empfinden der liluminaten sich ver-
schwisterte, und wie sehr sich Katharina bei diesen deutschen Pu-
blizisten dadurch in Mißkredit brachte, daß sie durch Tat und Wort
— ihre Annexionen und Deklarationen — beide bekampfte.
Aber wenn es sich bei solchen und ähnlichen Zornesausbrüchen
der Illuminatenblätter und Schriften im wesentlichen doch nur um
Abwandlungen desselben Themas handelte), des Themas von der
„ehrgeizigen“, „ruhmsüchtigen“, „ländergierigen Despotin“, das fur
diese im allgemeinen nur mit Moralbegriffen arbeitenden Philan-
thropen seit dem zweiten Türkenkriege ein feststehendes war und
blieb, so taucht im Verlauf der Erörterung der zweiten polnischen
es) Neues graues Ungeheuer, Jg. 1796, Bd. I, S. 12.
es) (1794), S. 10.
*] Ebd. S. 30.
ee) Ebd. S. 27.
es) Vgl. Der polnische Insurrektionskrieg im Jahre 179%. Nebst einigen
freimütigen Nachrichten und Bemerkungen über die letzte Teilung Polens.
Von einem Augenzeugen. (1797), S. 245. — Joh. Fr. Albrecht: Miranda,
Königin im Norden. (1798), S. 294. — Katharine vor dem Richterstuhle der
Menschheit. (1797), S. 9 |
185
Teilung zum erstenmal in der damaligen deuischen öffentlichen Mei-
nung ein Motiv auf, das, weil es bereits politischer gefärbt ist, unser
Interesse stärker in Anspruch nehmen darf als alle die bisher an-
geführten Äußerungen der Zeitgenossen: die nun aufkommende und
seither wenigstens in den Kreisen des deutschen Liberalismus nicht
mehr verstummende Furcht vor der russischen Gefahr.
Es warnten zwar einzelne Zeitstimmen davor, die russische Macht
zu überschätzen, wie die Wekhrlins, der 1788 auf die prekäre Stellung
Katharinas auf dem usurpierten Carenthrone und mit keineswegs
richtiger Beurteilung der russischen Verhältnisse auf die Möglichkeit
ihres Sturzes durch das Bojarentum hinwies™), oder wie die eines
der damaligen deutschen Rußlandreisenden, indem er das Carenreich
als einen bloß in Goldstoff gekleideten Koloß ohne Hemde nannte ri).
Aber in welchem Maße sich die Vorstellung einer russischen Gefahr
seit der zweiten polnischen Teilung in den deutschen Zeitgenossen
festgesetzt hatte, zeigt folgender Sak des hannöverschen Kanzlei-
sekretärs Johann Waekerhagen, der das berühmte Schlagwort des
jungen Deutschland vom „Koloß auf tönernen .Füßen“':) vorwegnahm:
„Sollte dieser Koloß, wie nach politisch-historischer Wahrscheinlich-
keit doch wohl zu erwarten steht, indessen unter seiner eigenen
Größe erliegen; sollte die eherne Obermasse die Füße von Ton zer-
malmen: wenn sie dann nicht auf uns fällt, so werde ich mich freuen,
zuviel gefürchtet zu haben).“ Das beweist ferner der Sab eines
Apologeten Katharinas, der zu ihrer Glorifizierung geschrieben ist,
aber dabei unbeabsichtigt gerade das bedrohliche Moment der un-
7 Hyperboräische Briefe, Jg. 1788, Bd. I, S. 51: „Merken Sie sich, daß
es vier bis sechs vornehme Familien in Rußland “gibt, welche ehrsiichtig
genug sind, ihre Gedanken bis zum Thron zu erheben. Wenigstens haben
sie thre geheimen Ansprüche darauf gewiß nicht aufgegeben. Dieses Ver-
hältnis droht dem russischen Reiche heute oder morgen mit Spaltungen und
Bürgerkrieg, und sichert Europa vor seinem Übermut.“ Vgl. auch Bd. Il,
S. 233. Wir können in diesem Falle R. F. Arnolds Bewunderung für Wekhr-
lin, dem er das Verdienst zuschreibt, „die tönernen Füße des Kolosses
lange vor der Journalistik unserer Tage“ entdeckt zu haben (a. a. O. S. 78),
nicht beistimmen. Seitdem die Kaiserin Anna Ivanovna im Jahre 1730 den
lebten bereits schwachlichen Versuch, die bojarischen Machtansprüche des
alten Moskauer Staates mit Hilfe ihrer deutschen Freunde, der Biron und
Münnich, niedergeworfen hatte, konnte von derartigen Ambitionen des rus-
sischen Adels in der russischen Geschichte nicht mehr die Rede sein. Vgl.
W. Recke: Die Verfassungspläne der russischen Oligarchen im Jahre 1750
und die Thronbesteigung der Kaiserin Anna Ivanovna. In Zeitschr. f. ost-
europ. Geschichte Bd. II (1912), Heft 2, S. 202 ff.
71) Minerva, Jg. 1797, Bd. Il, S. 312. — Zur Entstehung des Schlagwortes
„Koloß auf tönernen Füßen“ vol. auch Elisa v. d. Recke: Mein Journal.
Hrsg. u. erl. v. Johannes Werner. (1927), S. 183 (25. Mai 1794): „Bis jetzt
siegen die Polen noch immer. Hat das Unglück dieser Nation” Energie
gegeben und bleiben die Anführer unbestechbar, so kann der Koloß im
Norden durch sie erschüttert werden.“
73) O. Ladendorf: Historisches Schlagwörterbuch. (1906), S. 226.
78) Versuch eines Beweises, daß die Kaiserin von Rußland den West-
phälischen Frieden weder garantieren könne, noch dürfe. Nebst einigen
Bemerkungen über die nächsten Weltbegebenheiten. (1794), S. VII
186
erschöpflichen Machtfülle Rußlands sehr deutlich hervorhebt: „Wer
gerade dann“ — sagt Erich Biester in seiner Katharina-Biographie —,
„wenn die Staatskunstrichter seinen lezten Soldaten und seinen leb-
ten Rubel berechnet zu haben glauben, mit furchtbarer Menschenzahl
auftritt und Millionen in großmütiger Verschwendung wegschenkt,
muß doch nicht am Ende seiner Kräfte und seines Reichtums
stehen“ )].“ Wir werden bei unseren Betrachtungen über den Wandel
in der Beurteilung des Teschener Friedens und der Garantierechte
der deutschen Reichsverfassung, die Rußland in dem Friedensver-
trage von 1779 eingeräumt wurden, noch darauf zurückzukommen
haben.
Hier sei nur noch ein Zeitdokument erwähnt, das das Vordringen
der russischen Macht nach Westen weniger unter dem Gesichtspunkte
einer Deutschland bedrohenden Politik als unter dem kosmo-
politischen einer Zivilisationsgefahr behandelt und aufs engste mit
Katharinas Aggressivität gegen die französische Revolution in Ver-
bindung bringt. Es ist um so bedeutsamer, als es aus dem Kreise
eines aufgeklärten Fürsten jener Tage stammt. Der Herzog Friedrich
Christian zu Schleswig-Holstein und der dänische Dichter Jens Bag-
gensen haben dieser Art von Russenfurcht in ihrem Briefwechsel
typischen Ausdruck verliehen. Katharina figuriert unter den Chiffren
dieser Briefe als die Stierin, wobei wohl weniger an die erotische
Unersättlichkeit der Carin als an das schonungslose Vordringen ge-
dacht werden soll. Die beiden Briefschreiber empfinden es als eine
infamie, daß „die große Tartarei“ Polen nicht zur Ruhe kommen läßt
und daß diese „Madame Attila“ mit einem „hunnischen Aufmarsch“
gegen Frankreich drohe und in „überhunnischen Manifesten“ sich als
die Herrin der Welt aufspiele: „Ein barbarischer, abscheulicher, alle,
selbst die wenigst delikate Menschheit empörender Stoff.“ — „Er-
innern sich Ew. Durchlaucht“ — schreibt Baggensen noch vor Ab-
schluß der polnischen Teilung —, „die Besorgniß, die ich einst vor
etwa anderthalb Jahren äußerte — damals nur aus allgemeiner
Physiognomie der Weltgeschichte abstrahiert — es möchte unserer
heutigen Cultur eine ähnliche Zerstörung aus Nordasien bedrohen,
wie die aus Nordeuropa ehemals der Römischen? — wahrlich, die
Despotin scheint die Weissagung aufs Wort nehmen zu wollen. Der
überfall jener Hunnen und Gothen und Wandalen hat wenigstens
nichts barbarischeres als die gegenwärtige Verkehrungs- und Ver-
heerungs-Anstalten der nur einem Schirach noch immer verehrungs-
würdigen Nordischen Semiramis’).“ Wie sehr Friedrich Christian
mit solchen Ausfällen seines Freundes einverstanden war, zeigt sein
ungefähr um dieselbe Zeit geschriebener Brief an den Grafen A.P.
von Bernstorff, in dem er Katharinas Unternehmungen als ebenso
78) Abriß des Lebens u. d. Regierung d. Kaiserin Katharina Il. (1797), S. 120.
76) Timoleon und Immanuel. Dokumente einer Freundschaft. Brief-
wechsel zwischen Friedrich Christian zu Schleswig-Holstein und Jens Bag-
gensen. Hrsg. v. H. Schulz. (1910), S. 81, 166, 170, 224.
187
unklug wie unmoralisch verurteilt: Sie bedecke sich wirklich nicht mit
Ruhm, wenn sie, die Ehre der Kronen zu retien, mit Waffen gegen
republikanische Grundsafe kampft’®).
Eine weit herbere Einbuße aber als durch alles Bisherige sollte
das Katharinabild der deutschen Zeitgenossen erfahren, als nun den
vergewaltigten Polen in Taddeus Kosciusko ein Rächer erstand, der
noch einmal im allerletzten Augenblicke ihrer staatlichen Existenz
den alten kriegerischen Geist der Nation wachzurufen vermochte,
freilich nur, um nach glänzenden Anfangserfolgen im Oktober 1794
bei Maciejowice von den Russen unter Suvorov vernichtend ge-
schlagen zu werden und selber als Verwundeter in die Gefangen-
schaft des Gegners zu geraten. „Sein tapferer Versuch scheiterte
an der Überlegenheit der disziplinierten Truppen. Auch ein Kosciusko
konnte nicht aufhalten, was Jahrhunderte vorbereitet hatten, konnte
die Schlachta nicht zu einem Heere machen, das einem Suvorov
hätte widerstehen konnen’’)."
Wir vermögen uns das Ausmaß der Wirkung, welche die Er-
hebung der Polen unter Kosciusko auf die deutschen Zeitgenossen
hatte, etwas deutlicher zu vergegenwartigen, wenn wir an eine uns
zeitlich naher liegende analoge Erscheinung in der Geschichte denken
wie an den Heldenkampf der Buren gegen den britischen Imperia-
lismus. Aber vor dem Burenkriege, dessen zum Teil geradezu
phantastische Dimensionen annehmende Wirkung auf unsere öffent-
liche Meinung noch in aller Erinnerung ist, hat die polnische Er-
hebung von 1794 das voraus, daß sie in Kosciusko einen wirklichen
Helden hervorgebracht hat, „den einzigen Helden des Polentums
unter Stanislaus August‘ (v. d. Brüggen), und daß dieser infolge-
dessen im Vergleich mit der großen Gegenspielerin als eine kom-
mensurable Große gewertet werden konnte. Hinzu kam nach dem
meteorhaft plößlichen und glänzenden Aufstieg die Krone des Mar-
fyriums und das mit stoischer Würde „nach dem Vorbilde altrömischer
Burgerhelden“ ertragene Exil. Hinzu, daß durch seine Tat die
Schmach von Targowice, vor der doch auch die gluhendsten Polen-
freunde die Augen nicht vollig zu schließen vermochten, mehr als
gesuhnt gelten konnte, und das um so mehr, als es gerade die bis
dahin wegen ihrer halb tierischen Verstumpftheit so viel gescholtenen
polnischen Bauern waren — man denke an Forsters Schilderungen —,
die sich mit Kosciusko erhoben und zahlreich um ihn scharten?®).
Hinzu endlich das noch relativ große Freisein von nationalistischer
Befangenheit, die es in diesen Zeiten des sich erst keimhaft ent-
wickelnden Nationalismus selbst den gegen die Polen fechtenden
Offizieren wie Hermann von Boyen oder dem später durch seine
fruchibare Literatentätigkeit bekannt gewordenen Julius von Voß er-
ze) Aus dem Briefwechsel des Herzogs Friedrich Christian zu Schles-
wig-Holstein. Hrsg. v. H. Schulz. (1913), S. 105.
77) E. v. d. Bruggen: Polens Auflösung. (1900), S. 369.
78) Arnold, a. a. O. S. 123 u. 127.
188
möglichten, über Kosciusko nicht nur gerecht, sondern auch mit
sympathischer Wärme zu urteilen”).
Unter dem Zusammenwirken dieser einzelnen Umstände glühte
nicht nur die Flamme der deutschen Polenbegeisterung von neuem
hell auf, sondern wurde auch eine seltene Übereinstimmung der
Meinungen erzielt. „An Kosciusko, so scheint es“ — sagt Arnold —,
„erlahmte der Zwist der Parteien®).“ Es waren doch wohl nur ganz
wenige Obskurantenorgane, die forifuhren, ihren Lesern die ab-
gedroschene Mär von dem „lakobiner“ Kosciusko aufzutischen.
Wohl oder übel, zum Teil aber auch selber angesteckt von der überall
hindringenden Kosciusko-Begeisterung, mußten sich die meisten
schon aus Rücksicht für ihr Publikum dazu verstehen, Kosciusko
wenigstens mit Attributen wie „edler Schwärmer“, „wohlmeinender
Patriot“ und dergi. zu bedenken®:). Wenn Zeitgenossen überliefern,
daß die Polen halb Europa zu teilnehmenden Zuschauern ihres
Kampfes gehabt hätten, daß kaum je ein gefallener Feldherr so
beklagt worden sei wie Kosciusko, so ist das keine leere Phrase,
sondern im buchsiablichen Sinne des Wortes aufzufassen®®?).
Es ist hier nicht der Ort, um auf den deutschen Kosciusko-Kult
jener Tage, dem Robert Franz Arnold neben seiner „Geschichte der
deutschen Polenliteratur“ noch ein besonderes kleines Werk ge-
widmet hat"), näher einzugehen. Uns interessiert hier nur die Kehr-
seite der Medaille: die Frage: in welcher Weise oder vielleicht besser:
in welchem Grade hat die deutsche Kosciusko-Begeisterung auf die
damalige deutsche Beurteilung der Carin Katharina zuruckgewirkt?
Denn nach dem bisher Gesagten erscheint es beinahe selbstver-
ständlich, daß diese Rückwirkung das Katharinabild der Illuminaten
qualitativ kaum mit neuen Zügen auszustatten vermochte; es konnte
sich vielmehr dabei nur um eine quantitative Haufung von neuen
Einzelheiten aus der Gegenwart und bisher noch nicht angewendeten
Vergleichen aus der Geschichte handeln, die geeignet waren, die
einzelnen, seit dem Ende der achiziger Jahre bereits unveränderlich
feststehenden Grundzüge dieses Bildes immer mehr zu unterstreichen
und — zu vergröbern. So enthält die infolge der Vorgänge in Polen
abermals auf das heftigste enibrennende Polemik der Illuminaten
gegen die Carin kaum ein neues Argument oder auch nur einen
neuen Gesichtspunkt, sondern beschränkt sich darauf, die bereits
während des zweiten Türkenkrieges der Carin und der zweiten
Teilung gemachten Vorwürfe zu wiederholen. Die Phraseologie der
deutschen Zeitstimmen, die nach der mit großen Blutopfern erkauften
Einnahme von Praga, der festen Vorstadt Warschaus, durch Suvorov
(4. November 1794) laut wurden, gleicht beinahe bis aufs Haar dem
re) Ebd. S. 129 fl.
se) Ebd. S. 128.
81) Beispiele ebd.
ss) Hist. geneal. Kal., Jg. 1797, S. 112 f.
ss) Taddeus Kosciusko in der deutschen Literatur. (1898).
189
sentimentalen Wort- und Bilderschwall, in dem sich nach den Er-
stürmungen von Očakov und Ismail die Entrüstung dieser pazifisti-
schen Philanthropen entladen hatte: „Schlächter“, „Tiger“, „Henker“,
„Würgeengel“, „Sense“, „Tamerlan Il.“, „der neue Tamerlan“, „der
Tamerlan unserer Zeit“, „der Muley Ismael unseres Weltteils“, „Held
Suvorov mörderischen Andenkens‘“), solche Ehrentitel fielen auch
diesmal wieder hageldicht auf den russischen Feldherrn nieder. „Die
Würde der Geschichte wird entweiht“ — erklärte selbst ein so maß-
volles Organ wie die „Minerva“ des Hauptmanns von Archenholz —,
„wenn sie das Leben dieses Mannes aufzeichnet®).“ Es ist inter-
essant, zu beobachten, wie in den sehr erheblich voneinander ab-
weichenden Verlusiziffern, die verschiedene deutsche publizistische
Organe in ihrer Berichterstattung über den Sturm auf Praga ver-
öffentlichten, sich die Parteizugehörigkeit zu den Freunden und zu
den Widersachern der Carin deutlich widerspiegelt. Das reaktionäre
„Hamburger Politische Journal“ zählte 11000 Tote“), die „Minerva“
14 000°), der „Obskurantenalmanach“ 18 000°) und der Verfasser
des Pamphlets ,,Katharine vor dem Richterstuhle der Menschheit“
20 000 Opfer”). Teils, um die französischen Schreckensmanner zu
entlasten, teils um den russischen General durch diesen Vergleich
zu deteriorieren, wurde Suvorov von den radikalsten unter den
deutschen Illuminaten mit Robespierre, Carrier und Jordan coupe-
tete verglichen, der übrigens — wie das „Neue graue Ungeheuer“
versicherie — „auf der. Leiter der Geschöpfe“ noch um viele Stufen
höher stände als der Feldherr Katharinas*).
Das einzige, wodurch sich diese auf die Dauer recht eintönige
und öde Polemik von der der achtziger Jahre unterscheidet, ist eine
zunehmende Respektlosigkeit gegen die gekrönten Häupter und
— soweit das noch möglich war — eine zunehmende Verrohung des
Tones. Das Niveau des deutschen Journalismus der achtziger Jahre
war mehr oder weniger bestimmt worden durch Vorbilder wie
Schubart und Wekhrlin. Beide waren kurz nacheinander in den
Jahren 1790 und 91 dahingegangen. An ihre Stelle trat eine Art von
Wekhrlin-Epigonen, die den linken Flügel der Illuminatenpublizistik
immer mehr beherrschten. Allerdings wichen diese hyperradikalen
Zeitgenossen in ihrer Gesinnung erheblich von dem im Grunde seines
Herzens aristokratisch fuhlenden Wekhrlin ab, und ihr Epigonentum
bestand lediglich in einer ganz äußerlichen und häufig „bis zur Un-
kenntlichkeit vergröberten“ Nachahmung der journalistischen Metho-
è) Arnold, a. a. O. S. 156.
85) Jg. 1797. Bd. IV. S. 293.
86) Jg. 1794, S. 1293.
87) Jg. 1797, Bd. IV, S. 293.
a8) jg. 1798, S. 71. — Vogl. Jg. 1799, S. 38.
a) S. 39 f.
v0) Arnold, a. a. O. S. 158.
190
den des hochgepriesenen Meisters). Es möge genügen, wenn wir,
um diese Richtung zu kennzeichnen, nur ihren Hauptführer Andreas
Rebmann zu Worte kommen lassen.
Erst Rebmann blieb es vorbehalten, das lezte an Massivität, was
das überschwenglichste Pathos und die ausgekliigeltste Ironie der
Zeit hergaben, aufzubieten, um Katharina damit zu überschütien.
Erst er hat restlos alles ausgenukt und hervorgeholt, was ihm einer-
seits der Schlagwortvorrat der Zeitgeschichte und andererseits sein
Spüreifer nach Vergleichsobjekten aus übelbeleumundeten Epochen
der Vergangenheit zur Brandmarkung der Carin zur Verfügung
stellte. In einem Atem beschuldigt er sie des Jakobinismus und des
Moskovitismus und traf mit dieser Synthese sogar insofern das
Richtige, als sich ja tatsächlich Katharina nach den liberalen An-
fangen ihrer Regierung immer mehr zu einer strengeren Autokratin
entwickelt hatte, einer Entwicklung, die auch für die Lebensgeschichten
ihrer Nachfolger, Alexander I. und Alexander Il., so charakteristisch
ist. Mit schneidendem Hohn zitiert er die Verse Gleims: „Ergöbßen
möcht ich mich an den gepriesenen Ziigen des menschenfreund-
lichsten Gesichts“, um demgegenüber sein ganz in das düstere
Kolorit eines Gemäldes aus der Zeit Ivans des Grausamen getauchtes
Katharinabild aufzurollen: „Wer Katharina war, das erzählen die
Thränen ihrer Völker, die vor Hunger oder Knutenstriemen starben,
während die 16 Haupigünstlinge in 33 Regierungsjahren 400 Millionen
Livres wegfrazen Die Geschichte ihres kaiserlichen Lebens
war der vollendetste Jakobinismus, insofern dieser in Besudelung
aller göttlichen und menschlichen Gesche bestehen soll, es war eine
ununterbrochene Bordell- und Giftmischergeschichte, wobei die
Heucheley andachtelnd mit Crucifix, Bibel und Kniebeugung vor dem
Popenvolke in öffentlicher Kirche und bewaffnet mit Dolch, Strick,
Henkerstreichen und Verbannung für die Gegner der Einsiedeley von
Sarskoe Selo den Vorsik führte. In Catharinens Kopfe wohnte eine
Legion von Teufeln, die klug waren; ihr Herz war ein harter Diamant,
aber glänzend geschliffen; sie kannte das Licht, wußte es für sich zu
gebrauchen, aber in die Viehhöhlen zu ihren Russen sollte es nicht
kommen®).“ Und nichts lastete so drückend auf diesen fanatischen
Moralisten vom Schlage Rebmanns wie das Bewußtsein, daß das
Verdammungsurteil, das sie als angemaßte Richter ihrer Zeit immer
wieder von neuem uber dieses „Non plus ultra eines bösen Weibes",
„diese gekrönte Raubnachbarin des Königs von Polen“, „diese Mahl-
mühle“, „Sklavenpeitsche und Geißel der blutenden Menschheit” ge-
fallt und laut verkündet hatten, sicherlich an Katharina, wenigstens
zu ihren Lebenszeiten, nicht vollstreckt werden würde und daß sie
es der Nachwelt überlassen müßten, dieses Strafgericht zu voll-
ziehen. Sie wollten es jedoch nicht unterlassen, der Nachwelt dieses
Werk als heiliges Vermächtnis zur Pflicht zu machen:
1) Ebd. S. 165
03) Obskuranten-Almanach, Jg. 1798, S. 5, 42, 304 ff.: „Rußland — die
dunkle Landkarte oder ein Blik durch Europens Finsternis.“
13 NF 5 191
„Aber Fluch dem Ruhm und Fluch den gräßlichen Siegen,
Wie ihn der Tiger erstrebt, wie die Hyäne siegt,
Seid ihr ewig geschändet im Munde richtender Nachwelt,
Wie im weinenden Aug edlerer Mitwelt ihr seid**).“
So übertrieben und fast ans Lächerliche streifend uns heute viel-
fach diese Ergüsse der Illuminaten gegen Katharina erscheinen
mögen, die Apologeten der Carin hatten zweifellos solchen Pam-
phleten gegenüber einen schweren Stand. War der Ideenschaß ihrer
Gegner wenig reichhaltig und mannigfalfig, so war er in seiner pri-
mitiven Durchsichtigkeit desto eindrucksvoller und trug überdies dem
Empfindsamkeitsbediirfnis und der Tugendsehnsucht der Zeit im
höchsten Maße Rechnung.
Demgegenüber verfügte die Ideologie der Apologeten Katha-
rınas kaum über eine gleich zugkräftige Parole. Mit der einen Aus-
nahme Seumes, der es grundsätzlich ablehnte, „Völkersachen nach
den festgesekten Regeln eines philosophisch-bürgerlichen Moral-
systems zu beurteilen‘), wagten es die Verteidiger Katharinas und
der Teilungsmächte offenbar noch nicht, sich auf einen rein realpoli-
tischen Standpunkt zu stellen und die Vergewaltigung der Polen
zwar zuzugeben, aber sie mit den höheren Gewalten der biologisch-
historischen Bedingtheiten der Staatenbildung zu begründen und zu
rechtfertigen. Wie schwer und langsam eine solche Auffassung in
Deutschland an Boden gewann, dafür ist eine bisher wenig be-
achtete®) Stelle aus den Aufzeichnungen des Kanzlers von Müller
über seine mit Goethe geführten Gespräche überaus bezeich-
nend. Am 1. Januar 1832, mitien in der Höhezeit der deutschen
Polenschwärmerei, verteidigte Goethe ähnlich wie Seume die Politik
der Teilungsmachte mit folgenden Worten: „Ich stelle mich höher
als die gewöhnlichen platten moralischen Politiker; ich spreche es
geradezu aus: Kein König hält Wort, kann es nicht halten, muß stets
den gebieterischen Umständen nachgeben; die Polen wären doch
untergegangen, mußten nach ihrer ganzen verwirrten Sinnesweise
untergehen; sollte Preußen mit leeren Händen dabei ausgehen,
während Rußland und Österreich zugriffen? Für uns arme Philister
ist die enigegengesebte Handlungsweise Pflicht, nicht für die Mäch-
tigen der Erde.“ Der Kanzler bemerkte dazu: „Diese Maxime
widerte mich an, ich bekampfie sie, jedoch erfolglos®) “
Da die Apologeten der Carin es aber noch nicht wagten, sich
auf eine so amoralische Betrachtungsweise einzustellen, so blieb
ihnen nichts anderes übrig, als immer wieder mit den beiden bis zum
Uberdruß wiederholten Argumenten zu operieren, daß man den
Polen jede Entwicklungsmöglichkeit zu einer besseren Zukunft ab-
es) Daniel Falk: Satir. Werke. Bd. Ill (1826), S. 30 f.
%) Werke, a. a. O. S. 457.
ss) Die Goethesche Verteidigung scheint Müller a. a. O. unbekannt zu sein.
ss) Goethes Gespräche. Gesamtausgabe, neu hrsg. v. Fl. Frhr. v. Bieder-
mann. Bd. IV (1910), S. 425 f.
192
sprach") und die Carin als Pazifikatorin feierte, die den polnischen
Unruhen zum Heile Europas ein Ende gemacht habe“) und auch die
Revolution im Westen energisch bekämpfe. Allerdings ging Katha-
rına in ihrer Bekämpfung der Revolution nicht viel über eine
moralische Unterstiigjung der gegenrevolutionaren Elemente hinaus.
Die aktive Bekämpfung gedachte sie zunächst wenigstens den deut-
schen Herrschern zu überlassen, und in diesem Sinne schlug ihr
Gesandter am Wiener Hofe folgende Arbeitseinteilung vor: Jeder
von beiden Höfen hat eine ernste Mission zu erfüllen und eine
Gegenrevolution durchzuführen, der österreichische in Paris und der
russische in Warschau’). Erst nach der Durchführung der polnischen
Teilung hat sie sich zu einer aktiveren Politik gegen Frankreich ent-
schlossen, und wohl nur ihr Tod verhinderte sie an einer größeren
Aktion gegen dasselbe. Infolge dieser Zurückhaltung Katharinas
aber bite natürlich das Argument, das sie als Schuggeist und als
Erretterin Europas hinstellte, viel an seiner demonstrativen Wirk-
samkeit ein, und in der Obskurantenliteratur konnte es nur in der
Weise verwendet werden, daß sie ausführte: „Diese Vormauer wider
den französischen Schwindelgeist war stark genug, um die anderen
®©) Tannenberg, a. a. O. S. 242 f.
ei Das Polit. Journal, jg. 1794, S. 1293, vol. Jg. 1796, S. 1243, betrachtete
die Teilungen „als eine egebenheit, die wegen der damit verbundenen
Rückkehr des Friedens in dieses durch die unglückselige Freiheitsschwar-
merei verwüstete Land für die Menschheit ebenso angenehm ist, als sie
durch ihren bedeutenden Einfluß auf andere Länder von großen Folgen sein
wird“. — A Denkwiirdigkeiten aus dem ablaufenden 18. Jahrhundert.
(1800), S. — C. F. A. Grashoff: Einige Ideen zur Beantwortung der
Frage: Vie k täßt sich die Bildung einer Nation am leichtesten und sichersten
auf eine andere übertragen. (1796), S. VII.
Uber Katharina als energische Bekämpferin der franz. Revolution vgl.
W. Frhr. v. Byern: Was kann man von Rußland in den jchigen kritischen
Zeitumstanden zum Wohl der Menschheit hoffen? (1794), S. 62: „Von dieser
großen, mächtigen und weisen Macht können wir mit Recht hoffen und er-
warten, cas sie dem bedrängten Europa den goldenen Frieden wieder
Sehen, ab sie den französischen Horden Ziel und Schranken seben
wir
) Heigel, a. a. O. Bd. I, S. 454.
190) Eine aktivere Politik Katharinas gegen das revolutionäre Frankreich
= t ein nach Abschluß des Vertrages mit England (25. März 1793), in dem
beide Mächte zu gegenseitiger Hilfeleistung verpflichteten. Am 22. Juli
1793 verließ der russ. Admiral Cilagov mit einer aus 25 Linienschiffen,
7 Fregatten und 6 leichten Fahrzeugen bestehenden Flotte die Häfen von
Reval und Kronstadt, um vereint mit der englischen Flotte in der Nordsec
zu kreuzen. Vgl. Michailovskij-Danilevskij und Miljutin: Gesch. des Krieges
Rußlands mit Frankreich unter der Regierung Kaiser Pauls I. im Jahre 1799.
A. d. Russ. übersetzt on Chr. Schmitt, Bd. I (1856), S. 7. — Uber später
geplante Aktionen vgl. A. Brückner: “Katharina II. und die französische
Revolution in Russische Revue Bd. Ill (1873), S. 52 fl. und seine Geschichte
Katharinas, a. a. O. S. 552 f. — Wie sehr die Furcht vor einer kommenden
Aktion die deutschen Revolutionsfreunde in Atem hielt, bezeugt „Katharine
vor dem Richterstuhle“, a. a. O. S. 44: „Welche neue zum Verderben der
Menschheit reichende Plane würde ihr später erfolgter Tod vielleicht doch
noch zur Reife gebracht haben.“ — Vgl. auch kurzgefaßte Lebensgesch.
Catharina II. (1797), S. 76 f. u. S. 89 f.
195
Fürsten zu ermannen und Unternehmungen zu bewirken, die sonst
nie geschehen waren)", eine Wendung, die sich übrigens als
schmeichelhafte Floskel auch in einem Briefe Leopolds Il. findet
(9. September 1791), in dem er auf das Drängen der Kaiserin ant-
wortet, „nur die Lauheit der europäischen Mächte hindere ihn, mit
der nämlichen Entschiedenheit gegen die Revolutionäre aufzutreten,
wie sie die große Kaiserin, auch hierin Muster und Vorbild für alle
Souveraine, an den Tag lege“). Aber auch in solcher Form konnte
dieses Argument nicht mehr recht verfangen, nachdem der Konig
von Preußen, um bei der Verteilung der polnischen Beute in der
dritten Teilung nicht völlig leer auszugehen, von der gegenrevo-
lufionaren Koalition zurücktrat, durch den unrühmlichen Frieden
von Basel das linke deutsche Rheinufer den Franzosen preisgab und
damit erst recht eigentlich an die Revolution auslieferte.
Daß das andere Hauptargument der Apologeten Katharinas noch
von weit geringerer Wirkungskraft war, brauchen wir nicht erst aus-
drücklich hervorzuheben. Denn den Hinweisen der Obskuranten auf
die Unmöglichkeit einer Gesundung des polnischen Staates und der
polnischen Gesellschaft konnte von den Illuminaten jederzeit auf das
wirksamste mit der Erklärung begegnet werden, daß man den bereits
sich anbahnenden Gesundungsprozeß durch die Aufhebung der Kon-
stitution vom 3. Mai und durch die sich daran anschließenden
Teilungen mit roher Gewalt verhindert habe.
Vor allem aber wurde die ganze Aktion der Obskuranten da-
durch lahmgelegt, daß sich unter ihnen Zwietracht erhob. Denn
auch in diesem Lager war man. der Carin nicht mehr durchweg wohl-
gesinnt. Die Obskuranten strenger Observanz, die überall nach
Anstiftern des großen Umsturzes suchten, machten schließlich auch
nicht einmal vor der großen Revolutionsgegnerin Katharina halt,
sondern sekten sie auf die schwarze Liste „königlicher und fürst-
licher Philosophenschüler“, die den Revolutionsgeist mittelbar oder
unmittelbar gezüchtet hätten und somit eigentlich die Hauptschuld
an der schweren Not der Zeit trügen:®). Der Kuriosität halber sei
noch angemerkt, daß Katharina von den ihr treu Gebliebenen auch
gegen den Vorwurf in Schu genommen werden mußte, daß die
russischen Regimentskapellen die Marseillaise spielten!®*).
Weit wichtiger als dieser Streit der Meinungen unter den deut-
schen Tagesschriftstellern aber war es für die endgültige Beurteilung
Katharinas durch ihre deutschen Zeitgenossen, daß auch die vom
Streben nach Objektivität beseelte deutsche Geschichtsschreibung
sich infolge der zweiten und dritten polnischen Teilung gegen Ka-
tharina wandte und die Verurteilung ihrer polnischen Politik auch
auf die erste Teilung ausdehnte, um derentwillen die Carin in den
101) Vgl. Biester, a. a. O. S. 284 f. — Tannenberg, a. a. S. 233.
102) Heigel, a. a. O. Bd. I, S. 454.
103) Arnold, a. a. O. S. 146.
104) Mursinna Galerie, a. a. O. Bd. XIII. S. 77.
194
siebziger Jahren so gefeiert worden war’). Eine so innerlich un-
abhängige und freie Natur wie Ludwig Timotheus Spittler nannte die
polnischen Teilungen: „Ein kunstvolles Gewebe, recht nach Römer-
Art angelegt und nach Romer-Art vollendet. Nicht bloß ein zahl-
reiches freies Volk mußte um seine Freiheit und Nationalstolz ge-
bracht, sondern auch das europäische Publikum eingeschläfert werden.
Die Reunionen Ludwigs XIV. waren ein Geringes gegen das, was Ka-
tharına Il. in Polen und gegen Polen that. Wie laut aber und wie heftig
wurde gegen jene geschrien, und wie wenig Wahrheitsstimmen er-
hoben sich zu Ehren des alten Völkerrechts, da kein Recht mehr
zwischen Rußland und Polen zu sein schien?!**)“ Aber auch die
anderen Verireter der Göttinger Historikerschule haben mit wenigen
Ausnahmen das Verhalten Katharinas gegen die Polen öffentlich
gemißbilligt!”), und für die Durchschlagskraft der Wirkung ihres
Urteils ist es bezeichnend, daß auch die begeistertsten Verehrer
Katharinas sich ihren Einwendungen nicht völlig zu verschließen ver-
mochten?*),
3.
Der zweite Türkenkrieg Katharinas, ihr Krieg mit Schweden, vor
allem aber das Schicksal Polens hatte die öffentliche Meinung
Deutschlands gelehrt, die russische Macht zu fürchten. Dieses Ge-
fühl war ungefähr dreizehn Jahre vorher, als im Bayrischen Erbfolge-
krieg die Carin gemeinsam mit Frankreich die Friedensvermittlung
zwischen Österreich und Preußer übernahm, den deutschen Zeit-
genossen noch vollig unbekannt. Obwohl durch den Teschener Ver-
trag vom 13. Mai 1779 die russische Einmischung in die Angelegen-
heiten des Reichs gewissermaßen geseblich festgestellt worden
war!‘®), entsprach es nicht der damals vorherrschenden Auffassung,
an der Garantie des Vertrages durch Rußland irgendwelchen Anstoß
zu nehmen. Es war ganz selbstverstandlich, daß fremde Mächte
Verträge oder Verfassungen eines anderen Staates garantierten,
wie etwa Frankreich und Schweden den Westfälischen Frieden oder
Rußland die polnische! oder schwedische Verfassung. „Tröstliche
Aussichten vor die Erhaltung der Verfassung, Freiheit und Ruhe
Teutschlands“ — meinte der Jurist Gerstlacher in seinem Corpus juris
168) Joh. v. Müller: Sämtl. Werke Bd. XXIV (1853), S. 210, vgl. Bd. XXV.
S. 60 sagt ohne nähere Motivierung: „Ich bin übrigens weit entfernt ent-
schuldigen zu wollen, was der unglückseligen Republik geschah, doch poli-
tisch laßt sich für den König (Friedrich Il.) das meiste anführen.“ Diese
Stelle findet sich nur in der ersten Ausgabe (1787) der Darstellung des
Fürstenbundes, in der zweiten verbesserten (1788) dagegen ist sie fort-
geblieben. Vgl. David Fr. E. Preuß: Friedrich d. Gr. Eine Lebensgeschichte.
Bd. IV (1834), S. 44.
108) Werke, a. a. O. Bd. Il, S. 423.
107) Arnold, a. a. O. S. 135.
168) Vgl. Biester, der die erwähnte Stelle Spittlers zitiert, a. a. O. S. 122.
106) A. Unzer: Der Friede von Teschen. (1906), S. 424.
195
germanici — „wenn man zumal die ganz besonders teilnehmende
Art damit verbindet, womit die große Catharina von Rußland in Ab-
sicht auf Deutschland und den Wesiphälischen Frieden insbesondere
sich erkläret hat“:1e).
Das Publikum feierte die Carin als Friedensbringerin, da es froh
war, einen neuen Kampf zwischen den deutschen Mächten verhindert
zu sehen. Ihrer Befriedigung über den Schritt Katharinas verliehen
aber die einzelnen Höfe weit stärkeren Ausdruck. Friedrich der
Große teilte der Carin in schmeichelhafter Weise mit, daß Rußland
für das Reich in Zukunft ein Bollwerk zum Schutze gegen die
Tyrannei der Cäsaren sein würde); aber auch Maria Theresia
sprach Katharina aufs nachdrücklichste ihren Dank für die Friedens-
vermittlung aus:]. „Alle gebildeten Leute in Wien“, berichtete
Golicyn, der russische Gesandte am österreichischen Hofe, „bezeich-
nen die Kaiserin von Rußland als Schiedsrichterin in diesem Kriege
und als Reiterin der österreichischen Monarchie"). Die russische
Einmischung in diese Reichsangelegenheit wurde überall mit Genug-
tuung empfunden, und der Freiherr von Asseburg, der seit 1773 die
Interessen Rußlands am Regensburger Reichstage vertrat, hatte von
mehreren angesehenen Reichsfürsten Schreiben empfangen, in denen
diese der Carin ihre Befriedigung über die Intervention aussprachen:
„On ne demande pas mieux“, so bezeichnete er die Stimmung, „que
de voir l'influence de la Russie augmenter et s’affermir de plus au
plus dans |’Empire‘**). Dieser international gefärbte deutsche
Diplomat schmeichelte dem Verdienste Katharinas: „Es ist ein wahres
Glück für Deutschland, daß die Garantie unseres erhabenen Hofes,
welche durch den Beitritt des Reiches und seines Oberhauptes zu
dem Frieden von Teschen jekt anerkannt ist, ein Gegengewicht von
der größten Bedeutung gegen alles errichtet, was seine Verfassung
in Gefahr bringen kann.“ Den politischen Wert der Abmachung für
das Carenreich verstand Asseburg bereits vollkommen richtig ein-
zuschäßen, wenn er ausführte, daß Rußland von nun an nach Gefallen
an den weltlichen und geistlichen Angelegenheiten des Reiches teil-
nehmen werde:).
Die überwiegend kosmopolitisch gesonnene und von natio-
nalistischer Empfindlichkeit noch so gut wie völlig freie deutsche
Öffentlichkeit war beglückt, den Frieden erhalten zu sehen, und küm-
merte sich nicht sonderlich darum, ob ein Garant mehr oder weniger
die deutschen Reichsgrundgesefe verbiirgte. Dennoch waren ein-
zeine Politiker von Fach in Unruhe über die Stellung, die Rußland
116) Corpus juris germanici Bd. II (1784), S. 641.
R on ne imperatorskago istori¢eskago obščestva Bd. XX (1877),
118) Alexander Brückner: Katharina, a. a. O. S. 317.
118) Ebd.
118) Denkwiirdigkeiten des Freiherrn Achatz v. d. Asseburg. (1842), S. 341.
118) Ebd. S. 295. — Vgl. E. Reimann: Gesch. d. bayrischen Erbfolge-
krieges. (1869), S. 2%.
196
durch den Teschener Frieden in Mitteleuropa erhalten hatte. Bereits
1764 meinte vorausschauend der sächsische Diplomat Essen, als er
die Haltung Katharinas in Polen beobachtete: Alles, was in Polen
geschehe, erscheine nur als Vorbereitung für ein entfernteres Ziel
der Carin, nämlich die Vermehrung ihres Anschens und Einflusses
in Deutschland***).
Wenn Friedrich der Große in seiner „Histoire de mon temps“ in
dem Abschnitte über den Krieg von 1778 mit keinem Worte des Zu-
wachses von Einfluß gedenke, den Rußland im Teschener Frieden
auf die deutschen Angelegenheiten gewann, so läßt sich wohl sein
Schweigen am besten mit dem Unbehagen erklären, welches der
König darüber empfinden mußte, daß er, um sich die bereits gefähr-
dete russische Bundesfreundschaft zu erhalten, selber dazu bei-
getragen hatte, Katharina bei der Erlangung dieses Einflusses auf
Deutschland behilflich zu sein is). Daß die Handlungsweise Preußens
und Österreichs beim Abschlusse des Teschener Friedens späterhin
Angriffen von seiten der deutschen öffentlichen Meinung ausgesebt
war, wissen wir aus den Memoiren von Christian Wilhelm von Dohm,
und dieser eifrige Apologet Friedrichs des Großen hat auch in dieser
heiklen Angelegenheit seinen Helden mit dem Hinweise auf dessen
Zwangslage verteidigt. Nachdem der Wiener Hof — so führte er
aus — zuerst Rußlands Vermittlung in Anspruch genommen hatte,
konnte Preußen die Mitwirkung der Carin nicht ablehnen, „die es
bei den bestehenden freundschaftlichen Verhältnissen sich geneigt
halten mufte***).“ Daß das Schweigen Friedrichs ebenfalls nicht auf
Unterschätzung Rußlands zurückzuführen ist, zeigen andere Stellen
aus seinen Werken — z. B. das Politische Testament von 1768 —,
wo sich der König voller Besorgnis vor dem Anwachsen der russischen
Macht und vor der Möglichkeit eines Rückfalles in seine Lage von
1756 zeigt.
In ein akutes Stadium scheint die Frage der russischen Inter-
vention in die Angelegenheiten des Reiches für die deutsche öffent-
liche Meinung zum ersten Male im Jahre 1791 getreten zu sein. Als
das revolutionäre Frankreich den Kurfürsten von Trier bedrangte,
weil er duldete, daß die französischen Emigranten seine Residenz
Koblenz zum Zentrum ihrer antirevolutionären Bestrebungen machten,
da wandte sich dieser um Unfersfützung an den Kaiser und die deut-
schen Fürsten und schließlich, da seine Hilferufe ungehört blieben,
an die russische Carin als die „Garantin des westfälischen Friedens-
vertrages“. Diese Aktion, an der sich anscheinend auch noch andere
westdeutsche Reichsfürsten, namentlich die auf dem linken Rheinufer
beteiligten, rief mehrere Broschüren hervor, in denen für und wider
den Schritt des Kurfürsten Clemens Wenzeslaus gestritten wurde,
116) E. Herrmann, a. a. O. Bd. V, S. 425.
117) Vgl. A. Unzer, a. a. O. S. 424.
118) Vgl. die Ausführungen E. Herrmanns, a. a. O. Bd. VI, S. 21 f.
119) Denkwürdigkeiten meiner Zeit. Bd. 1 (1814), S. 246.
197
obwohl Katharina gar nicht daran dachte, in diesem Falle von ihren
Garantierechten ernsthaft Gebrauch zu machen?**). Diese Broschüren-
polemik ist außerordentlich aufschlußreich für die Entwicklung, die
die öffentliche Meinung Deutschlands in nationalistischem Sinne in-
zwischen genommen hatte. Zwei Momente stehen dabei im Vorder-
grund, die Auswirkung der französischen Revolution und der Eindruck,
den die beiden lebten polnischen Teilungen in Deutschland hervor-
riefen.
In seiner historischen Betrachtung „Jahrhunderts-Ende vor 100
Jahren und jet“ (1896) hat Max Lenz auf die Tatsache hingewiesen,
daß aus allen Revolutionen des neunzehnten Jahrhunderts die Natio-
nalitäten immer selbständiger hervorgegangen sind. Das war auch
— mindestens bis zu einem gewissen Grade — schon bei der ersten
dieser großen Umsturzbewegungen, der französischen Revolution
von 1789, der Fall. „Internationalere Ideen,“ sagt Lenz, „hat es nicht
gegeben als die Sage der Menschenrechte, mit denen die große
Revolution begann ..... aber alles schlug den Revolutionaren ins
Gegenteil um, und statt der Ara der Humanität kam die der natio-
nalen Demokraticen***).“
Wurde aber durch solche Auswirkungen der französischen Re-
volution in Deutschland eine bisher noch nicht gekannte nationa-
listische Empfindlichkeit geweckt, so mußten natürlich die beiden
letzten Teilungen Polens von einer Generation, die sich mit der
französischen Revolution auf das Recht der Nation auf freie Selbst-
bestimmung stübte, ganz anders angesehen und eingeschätzt werden
als von den kosmopolitischen Aufklärern, die der ersten Teilung aus
„kosmischen“ und dergleichen Gründen bedingungslos zugestimmt
hatten.
Das Schicksal Polens wurde jetzt wie eine drohende Warnung
empfunden, eine Warnung wie das biblische Menefekel: „Gezählt,
gewogen und zerstucki“ für das eigene Geschick. „Wieder und
wieder,“ sagt Robert Franz Arnold, „hebt die zeitgenössische Lite-
ratur und nicht bloß die der Radikalen gewisse unabweisbare
Ähnlichkeiten zwischen Polen und dem Heiligen Römischen Reiche
Deutscher Nation hervor... Selbst Halboffiziose des Wiener Hofes
wiesen geflissentlich darauf hin, daß auch das deutsche Reich wie
Polen durch systematische Schwächung der eigenen Zentralgewalt
allmählich von seiner Machtstellung in Europa zu einer fast komischen
Scheinexistenz herabgesunken sei; als Polen unterging, weissagten
viele Einsichtige dem deutschen Reich ein ähnliches Schicksal... So
einleuchtend waren diese Analogien, daß ein Anonymus von 1797 ein
Buch von 176 Seiten darüber aufbauen konnte und Herder sie ein
Jahr später poetisch verklärfein!).“
120) Vgl. B. v. Bilbasov: Ekaterina Il. i. Gr. N. P. Rumjancev. In Russ-
kaja starina, Bd. LXXXI (1894), Februarheff, S. 82 f.
i ‘isa Vortrage und Aufsage in: 9 Bücherei, Bd. 18/180
o.
122) Arnold, a. a. O. S. 144.
198
„Deutschland, schlummerst Du noch? Siehe, was rings um Dich,
Was Dir selber geschah. Fühl’ es, ermuntre Dich,
Ehe die Schärfe des Siegers
Dir mit Hohne den Scheitel bloki!
Deine Nachbarin sieh, Polen, wie mächtig einst,
Und wie stolz! o sie kniet, Ehren- und Schmuckberaubt,
Mit zerrissenem Busen
Vor drei Mächtigen, und verstummet.
Ach, es halfen ihr nicht ihre Magnaten, nicht
Ihre Edeln, es half keiner der Namen ihr,
Die aus tapferer Vorzeit
Ewig glänzen am Sterngezelt.
Und nun, wende den Blick! Schau die zerfallenen
Trümmer, welche man sonst Burge der Freiheit hieß,
Unzerstörbare Nester!
Ein Wurf stürzte die Sichern hin.
Weiter schaue. Du siehst, ferne im Osten sicht
Dir ein Riese; Du selbst lehretest ihn, sein Schwert,
Seine Keule zu schwingen.
Zorndorf probte sie auch an Dir.
Schau gen Westen; es droht fertig in jedem Kampf,
Vielgewandt und entgluht, trojend auf Glück und Macht
Dir ein anderer Kämpfer,
Der Dir schon eine Locke nahm.
Und Du säumeiest noch, Dich zu ermannen, Dich
Klug zu einen? Du säumst, kleinlich im Eigennuß,
Statt des Polnischen Reichstags,
Dich zu ordnen, ein mächtig Volk?
Soll Dein Name verwehn? Willst Du zerteilet auch
Knien vor Fremden? Und ist keiner der Väter Dir,
Dir Dein eigenes Herz nicht,
Deine Sprache nicht alles werth?
Sprich, mit welcher? o sprich, welcher begehrtest Du
Sie zu tauschen? Dein Herz, soll es des Gallier,
Des Cosacken, Kalmucken
Pulsschlag frohnen. Ermuntre Dich.
199
Wer sich selber nicht schüßt, ist er der Freiheit werth?
Der gemahleten, die nur ihm gegönnet ward.
Ach die Pfeile des Bündels!
Einzeln bricht sie der Knabe leicht***).“
Der Broschürenstreit, der sich an den Bemühungen Clemens
Wenzeslaus von Trier um Herbeiführung der russischen Intervention
entzündete, steht noch in dem Anfange dieser Bewegung. Damals
war die zweite Teilung Polens noch nicht vollzogen worden. Aber
Rußland war schon zugunsten der Konföderation von Targowice
eingeschritten, und die Teilung von 1793 warf bereits ihre Schatten
voraus. Dementsprechend stießen der Kurmainzische Hofrat Roth
und die „Unpartheiischen Gedanken über die vom Kurtrierischen
Hofe geschehene Anrufung der Kaiserin von Rußland um Unter-
stützung gegen die Eingriffe Frankreichs“ 1 auf den heftigsten Wider-
spruch. Sie hatten nämlich das Interventionsgesuch des Trierer Kur-
fürsten in der herkömmlichen Weise mit einem Hinweis auf die Geseb-
mäßigkeit der Garantieverträge verteidigt und bewiesen, daß die
russische Carin nach Artikel 12 des Teschener Friedens, der den
Westfälischen erneuerte, und nach Artikel 16, der die Garanten be-
stimmte, auch zur Garantin über die deutschen Reichsgrundgeseke
geworden wars). In den Repliken auf diese beiden Schriften wurde
darauf aufmerksam gemacht, daß in Artikel 12 die Verträge von
Osnabrück und Münster doch nur erneuert und bestätigt wären,
„comme s’ils y’etaient inserés mot à mot“, und daraus gefolgert,
daß nur die Garanten des Friedens von 1648 gemeint wären, während
Rußland damals nicht paktiert hatte und daher nur Bürge für Teschen
blieb. In einem so wichtigen Punkte hätte die Bestimmung über die
Garanten des Westfälischen Friedens abgeändert und in einem be-
sonderen Artikel die Garantie über die Neichsgrundgesetze auf das
Carenreich erweitert werden müssen. „Fehlt es aber an der Absicht
und dem Willen“ — so hebt v. d. Becke, der Verfasser der Broschüre:
„ist die Kaiserin von Rußland Garant der westfälischen Friedens-
schlüsse“, hervor —, „die Garantie des Westfälischen Friedens an
Rußland zu übertragen und so die Zahl der Garanten zu vermehren,
so folgt daraus, daß es deren Garant nicht geworden sey, wenn es
auch diese Garantie zu übernehmen den Wunsch und die Absicht
gehabt hatte. Wohithaten werden niemandem aufgedrungen, am
wenigsten solche, die für denjenigen, dem sie geleistet werden sollen,
123) Werke, hrsg. v. B. Suphan, Bd. XXIX (1889), S. 210.
124) (1792): Vgl. Bilbasov: Welliteratur, a. a. O. Bd. I, S. 670.
138) J. R. v. Ra Ist die Kaiserin von Rußland Garant des westphäl.
Friedens? (1791), S. 10 f.
136) Z. B. SeA Prüfung der Frage: Ob die Kaiserin von Rub-
land durch den Teschener Frieden die Garantie des westphäl. Friedens
übertragen erhalten habe und in der Eigenschaft als Garantin desselben
nun gegen Frankreich auftreten könne. (1791), 8 3.
200
höchst bedenklich seyn können, und unter unabhängigen souverainen
Staaten würde das gar eine Verletzung des Völkerrechts seyn.“
Aber viel starker als solche staatsrechilichen Deduktionen ge-
langte in diesen Repliken die neugeweckte nationale Empfindlichkeit
zum Ausdruck: ,,..... Jedes Mal soll unser Vaterland,“ heißt es in
der oben zitierten Schrift des hannöverschem Adelsgeschlechte ent-
stammenden v. d. Becke, „sich der Gefahr ausgesetzt sehen, daß
große Heere halbwilder Tataren und Kosaken, die Bestürmer Ok-
zakow’s in sein Innerstes wüthen! Welcher wahre Patriot schaudert
nicht vor diesem Gedanken zurück:“
Vollends aber in der bereits schon unter dem Eindrucke der
zweiten polnischen Teilung verfaßten Broschüre des hannöverschen
Kanzleisekretärs Johann Wackerhagen wurde der Versuch eines Be-
weises erbracht, „daß die Kaiserin von Rußland den Westfälischen
Frieden weder garantieren könne noch dürfen.“ Zwar lag es
Wackerhagen fern, „durch sinnreiche Sophismen“ die Absichten einer
großen Regentin wie Katharina. Il. zu verdächtigen und da, „wo
andere vielleicht den lieblichsten Nachtigallenschlag zu vernehmen
glauben, nur unglückweissagenden Eulenruf hören zu wollen“; aber
er wurde zu sehr beeinflußt von den jüngsten Vorfällen in Polen:
„Polen ist nicht mehr der Schlagbaum zwischen uns und Rußland.“
Wenn auch die Carin im wahrsten Sinne des Wortes die nordische
Semiramis sei, ihre Politik aber wolle es nicht vermeiden, bei jeder
Veranlassung ein gewisses protektorisches Interesse, eine Mittlerrolle
zwischen Kaiser und Standen zu „affektieren“. Namentlich seit dem
Teschener Frieden würdige sie das Deutsche Reich eines besonderen
Interesses ın geradezu furchtgebietender Weise, während sie doch
nur darauf zu achten habe, daß der Vertrag von 1779 aufrecht-
erhalten werde. Man käme nicht umhin, die deutsche Politik der
Carın als eine Vorbereitung für künftige Eroberungen, wie sie ın
Polen gemacht würden, anzusehen: „Nur noch einige scharfgeladene
Kanonen mehr vor das Rathaus zu Grodno, nur noch ein Tedeum
in der Kapelle zu Petersburg, und die ungeheure Lawine liegt vor
den Thoren unseres Vaterlandes. Und wir sollten russische Garan-
tieen unserer Konstitution annehmen? Unsere Freiheit vielleicht
dereinst von Kosaken und Tatarenschwärmen mißhandeln lassen?
Nein, nimmermehr:%)]“
Während die Möglichkeit eines Eingriffes Rußlands in die deut-
schen Angelegenheiten auf Grund des Teschener Vertrages eine
neue katharinafeindliche Welle in der deutschen öffentlichen Meinung
emporsteigen ließ, brachte ihr ein anderer Eingriff in die west-
europäische Politik, den Katharina ein knappes Jahr nach der
Teschener Friedensvermittlung tat, bei Freund und Feind Bewunde-
137) (1793), S. 35 u. 37.
138) Ebd. S. 35 f.
130) Versuch eines Beweises usw. (1794), a. a. O.
190) Ebd. S. 21, 111, 120, 143. — Die Garantie lehnt selbst Erich Biester,
a. a. O. S. 29, ab.
201
rung oder wenigstens Anerkennung ein. Am 10. Marz 1780 hatte die
Carın die Deklaration an die Höfe von London, Versailles und
Madrid erlassen, in der sie die Rechte des neutralen Seehandels
festsetzte und als Hauptpunkt die Anerkennung des Grundsatzes
„frei Schiff — frei Gut“ forderte**). Sie trat damit in einen Gegen-
sab zu England, das als geltendes Völkerrecht den Sak, „frei Schiff —
unfrei Gut“ bezeichnete und durch rücksichtslose Durchforschung der
neutralen Schiffe nach feindlicher oder für die Feinde bestimmter
Ladung sowie durch willkurliche Ausdehnung des Begriffs der Konter-
bande lebhafte Entrüstung in allen Handel und Schiffahrt treibenden
Kreisen veraniagte***). Katharina gelang es, durch die bewaffnete
Neutralität von 1780—83 alle ihre Ansprüche und namentlich die
Schubkraft der neutralen Flagge auch von England respektiert zu
sehen’). Noch nie zuvor waren die Grundsätze des freien Verkehrs
während des damals geführten amerikanischen Krieges so bestimmt
ausgesprochen und verteidigt worden wie jebt, und daher mußte die
bewaffnete Neutralität den Zeitgenossen als ein ebenso glänzender
wie berechtigter Triumph der russischen Kaiserin erscheinen.
In anerkennenden Worten pries Friedrich Il., der früher selbst
einmal genötigt war, gegen die englische Willkür auf See einzu-
schreiten**), Katharina als die Gesebgeberin der Meere und wollte
Peter dem Großen in den Elyseischen Gefilden unter anderen Groß-
taten der Carin auch die der Befreiung des Ozeans melden:“).
Joseph Il. ließ sich in seinen Briefen an Katharına kaum weniger
schmeichelhaft über dieses Ereignis aus), und ein weiterer Kor-
respondent der Carin, Friedrich Melchior Grimm, nannte sie die
„bewaffnete Neutralitatsprofessorin“, ohne welche Streitigkeiten in
Europa überhaupt nicht mehr zu schlichten wären:].
Hinter diesen gewissermaßen privaten Huldigungen blieben die
in der deutschen öffentlichen Meinung nicht zurück. Da schrieb das
„Politische Journal“, das in Hamburg an bester Quelle die Wirkung
der bewaffneten Neutralität studieren konnte, daß noch nie eine solch
allgemeine Sicherheit auf den Meeren, ein freier Handel und unein-
ä = Carl Bergbohm: Die Bewaffnete Neutralität von 1780-1783. (1883),
133) Seume, Werke, a. a. O. S. 452, sagt: „Die Engländer übten in dem
letzten amerikanischen Kriege mit ungewöhnlicher Willkür eine Despotie, die
unerhört war, indem sie mit ihrer überlegenen Seemacht alle Schiffe als
Prisen aufbrachten, von denen sie nur die entferntesten Mutmaßungen
haben konnten, daß sie mit den Feinden handelten. Sie dehnten dabei den
Begriff der Kriegsbedürfnisse so weit aus, daß man nach ihrer Bestimmung
den Franzosen oder Spaniern durchaus gar nichts hätte zuführen dürfen,
und nach dem Wohlgefallen der Briten allen Umgang mit diesen Nationen
hätte abbrechen müssen.“ Vgl. auch Krauel: Preußen u. d. bewaffnete
Neutralität in Forsch. zur brandenb.-preuß. Gesch., Bd XXI (1908), S. 410 f.
133) Bergbohm, a. a. O. S. 210
184) vgl. Krauel, a. a. O. Bd. XXL, S. 411 f.
138) Sbornik, a. a. O. Bd. XX (1877), S. 393 fl.
ıse) A. v. Arneth: Joseph Il. u. Katharina Il. Ihr Briefwechsel. (1869),
S. 44 f. u. 130 f.
187) Sbornik, a. a. O. Bd. XLIV (1884), S. 113.
202
geschränkte Schiffahrt mitten im Kriege gesehen worden wären bis
auf die Zeit, wo die „unsterbliche Katharina“ ein allgemeines See-
gesek gab: „Ein solches Ereignis ist ohne Beyspiel in der Geschichte,
sowie es die ausgebreitetste Wohlthat ist, die jemals einer Menge
von Ländern auf eine so wirksame Weise gegeben worden).“ Oder
andere hoben hervor, daß das ganze europäische Publikum, insonder-
heit das handeltreibende, Katharina zu unendlichem Danke verpflichtet
wäre. Denn unter dem Schube der bewaffneten Neutralität hatte der
Handel gewonnen „zum großen Verdrusse der Engländer“, die, wie
man sagte, „vorzüglich in ihren Kriegen dahin arbeiten, den Handel
anderer Nationen, die sie als Nebenbuhlerinnen ansehen, zu ver-
derben***).“ Ganz offensichtlich trat zutage, daß den größten Nutzen
Dänemark, Schweden und Preußen aus der neugeschaffenen Lage
zogen, während Rußland, das die bewaffnete Neutralität in Aktion
gesekt hatte, den verhältnismäßig geringsten Vorteil davontrug,
indem, da sein Aktivhandel nicht florierte, nur eine Steigerung im
Passivhandel zu vermerken war). Um so größer mußte daher das
Verdienst der Carin eingeschätzt werden, „je weniger sie selbst un-
mittelbar ausgezeichnete Vorteile dadurch gewann"). Nirgends
haben wohl die Zeitgenossen Katharina vorgeworfen, sie habe sich
bei der Begründung der bewaffneten Neutralität von Motiven der
Herrschsucht leiten lassen.
Vor allem aber wurde die bewaffnete Neutralität gepriesen als
Etappe auf dem Wege zur Humanisierung des Seekrieges. Man be-
merkte, daß die Carin bemüht war, „den Krieg in vernünftige
Grenzen einzuschränken“; und so konnten denn auch die Menschen-
freunde befriedigt sein: „Die Idee und ihre Ausfülnung war gewiß
so herrlich“ — führte Seume aus —, „hatte so sehr das Gepräge der
Humanität und der allgemeinen Philanthropie, daß ich kaum begreife,
warum man bloß dieses einzigen Gedankens wegen nicht Katha-
rinens Namen mit wahrer Dankbarkeit nennt“).
Der neutrale Seebund von 1780—83 richtete sich in seinen Be-
stimmungen gegen England. Die deuischen Zeitgenossen begrün-
deten die plößliche Abkehr der „anglomanen“ “e Carin von ihrer bis-
herigen freundschaftlichen Gesinnung für England mit dem Umstande
— zweifellos wohl kaum mit vollem Recht —, daß ihr Minister Panin
wider Wissen und Willen Katharinas, die mit der Deklaration und
Flottendemonstration etwas zugunsten Englands, zum mindesten aber
gegen Spanien ausführen wollte, die tatsächliche Spike der Aktion
138) Jg. 1781, S. 500 f.
130) Seume, Werke, a. a. O. S. 452. — Vgl. Biester, a. a. O. S. 259.
180) Seume, Werke, a. a. O. S. 452. — H. v. Storch: Gemälde v. Rußland
am Ende = Re Jahrhunderts. Bd. VI (1798), S. 27. — Vgl. dazu Bergbohm,
a. a.
1010 Seume, Werke, a. a. O. S. 452.
142) Ebd.
148) Katharina hat mehrfach in ihren Äußerungen, z. B. im Brief an Vol-
taire vom 6. Juli 1772, ihre Vorliebe für England und die englische Kultur
zum Ausdruck gebracht und diese Vorliebe als Anglomanie bezeichnet.
205
gegen England kehrte). Bei einer solchen Beurteilung der Vor-
gänge hätte — so könnte man meinen — der Ruhm der Carin als
der eigentlichen Urheberin der bewaffneten Neutralität leicht ge-
mindert und verdunkelt werden können, zumal in einer Zeit, wo der
Stern der Kaiserin in der deutschen öffentlichen Meinung schon im
Sinken begriffen war. Es sind aber Zeugnisse vorhanden, die das
Gegenteil beweisen. Der Göttinger Historiker Spittler, der als Han-
noveraner und gewissermaßen englischer Uniertan schon deshalb
Anlaß gehabt hätte, sich über das Vorgehen der Carin abfällig zu
äußern, stellie in einem seiner Hauptwerke den Sag auf, daß die
Carin seit der Stiftung der bewaffneten Neutralität ihre Größe mit
einem Glanze umgab, „mit dem wirklich in der ganzen Geschichte
nichts verglichen werden kann als die angebetete Autorität der
Römer nach geendigtem Illyrischem Krieg“).
Auch wenn. die Zeitgenossen wie Christian Wilhelm von Dohm
in Panin den intellektuellen Urheber der bewaffneten Neutralität
sahen, so wollien sie doch bei der Ausführung dieses Projektes
Katharinas Verdienst nicht vergessen. Nach Dohm war die bewaff-
nete Neutralitat ,das Werk der Geschicklichkeit des Staatsmannes,
welcher einer Laune seiner Monarchin eine andere Richtung gab, als
sie selbst ahndete, und einer Verlegenheit begegnete, in welche
diese Laune den Staat zu bringen drohete. Ist gleich dieser Ur-
sprung minder glänzend, als es oft behauptet worden, so bleibt
Panins Verdienst, der die Idee hatte, und Katharinens Verdienst,
welche sie annahm, nicht minder glänzend. Der Ruhm, den Katha-
rina ll., von ihrem Minister geleitet, sich in dieser Angelegenheit er-
worben, ist der edelste ihrer Regierung“). Und Dohms Urteil
wiegt um so schwerer, als dieser begeisterte Verehrer Friedrichs des
Großen im allgemeinen zu den notorischen Gegnern der Carin gehört.
Schluß.
Es liegt nahe, diese der zeitgenössischen Beurteilung von Ka-
tharinas Il. auswärtigen Politik gewidmeten Ausführungen nicht zu
beschließen, ohne noch die Frage aufgeworfen zu haben, ob und in-
wiefern die Tatsache der deutschen Abkunft dieser russischen Carın
als Faktor bei der Bildung der öffentlichen Meinung über sie im da-
maligen Deutschland eine Rolle gespielt hat. Da läßt sich nun so-
gleich feststellen, daß die Zeitstimmen, die dieses Umstandes ge-
denken, innerhalb der Fülle von zeitgenössischen deutschen Auße-
rungen, die wir über Katharina besitzen, doch stark zurücktreten. Es
laßt sich ferner feststellen, daß diese Zeitstimmen fast ausnahmslos
144) Graf Schlib-Goerb: The secret history of the armed neutrality
together with memoirs etc. by a German Nobleman, translated by St..
H... (1792). — Vol. Bergbohm, a. a. O. S. 236. — Dasselbe französisch
unter dem Titel: Mémoire, ou précis historique sur la neutralité armée et
son origine, suivi de pieces justificatives. (1801.)
145) Werke, a. a. O. Bd. IV, S. 376.
188) a. a. O. Bd. Il, S. 116 ff.
204
auf die Jahre um die Wende des 18. und 19. Jahrhunderts entfallen.
Endlich, daß die literarischen Gegner Katharınas — soweit wir schen —
diesem Momente überhaupt keine Beachtung geschenkt haben. Wenn
es die späteren, den Zeiten eines entwickelteren NationalbewuBtseins
entstammenden Beurteiler der Carin wohl nur selten unterlassen
haben, über das leidenschaftliche Bemühen dieser deutschen Fürstin,
„sich selbst zu russifizieren“:), ihre Betrachtungen anzustellen, wenn
es — um ein Beispiel anzuführen — in einem während des Welt-
krieges, d. h. einer Hochkonjunkturperiode des Nationalismus, er-
schienenen deutschen Zeitschrifienaufsake?) heißt: „Eine Freude ist
es wahrhaftig nicht, am weltgeschichilichen Beispiele der „deutschen
Carin“ Katharina ll., die ein Prinzeßchen von Anhalt-Zerbst gewesen,
zu beobachten, wie trefflich Deutsche zu verausländern imstande
sind“, so zeigen sich die Zeitgenossen Katharinas von solchen Emp-
findlichkeiten noch wenig berührt. Selbst denjenigen unter ihren
literarischen Widersachern, in welchen — wie wir sahen — die rus-
sische Expansionspolitik schon deutlichere Vorstellungen von einer
auch Deutschland mittelbar oder unmittelbar bedrohenden „russischen
Gefahr“ auslöste, scheint es nicht in den Sinn gekommen zu sein,
der Carin deswegen Vorwürfe zu machen, weil sie, die geborene
Deutsche, nur russische Politik trieb, ohne sich dabei um die deut-
schen Interessen zu bekiimmern. Eher schon wurde wohl einmal die
Hoffnung ausgesprochen, Katharina könne sich als Vertreterin des
aufgeklärten deutschen Absolutismus und seiner höheren Gesittung
dazu bereit finden lassen, den Expansionsdrang ihrer russischen Um-
gebung zu zügeln. In diesem Sinne wandte sich in einem Briefe
vom 23. Februar 1795 „der alte Hüttner“ Gleim an die Fürstin Pauline
zur Lippe, eine geborene Prinzessin von Anhalt-Bernburg, und bat
sie als nahe Verwandte und deutsche Standesgenossin der Carin,
durch persönliche Interzession bei dieser für eine Milderung der rus-
sischen Expansionspolitik zu wirken. Mit einer allerdings wohl kaum
zu überbietenden politischen und psychologischen Harmlosigkeit
schrieb er angesichts des Zusammenbruches der polnischen Erhebung
von 1794: „Ach! und jetzt gehen wieder erschreckende Gerüchte!
Rußland, sagt man, wolle bis ins Unendliche sich vergrößern. Hatte
es mit diesem Willen seine Richtigkeit, so fielen die eroberten Völker
in die alte Barbarei ohne Zweifel wieder zurück. Die Selbst-
herrscherin von Rußland kann nun aber diesen Humanität tödtenden
bösen Willen nicht haben; sie stammt ja aus dem humanen deutschen
Fürstenhause von Anhalt und liebt, wie Pauline, die Musen; also
hat ihr Senat den oben angeführten bösen Willen! — Ach! Durch-
lauchtigste Fürstin..... möchten Sie ihr doch sagen können: Sie
solle dem Willen ihres Senats nicht folgen; ihr eigener Wille, das
schon unübersehliche Reich im Innern zu einem unabsehbaren Pa-
on oo Gesch. Rußlands unter Kaiser Nikolaus |. Bd. I
2) V. Rath: Das Deutsche in Katharina Il. Konservative Monatsschrift,
jg. 74 (1916/17), Dezemberheft, S. 210.
205
radiese zu machen, sei der bessere Wille; folge sie diesem, dann
erst wäre sie Selbstherrscherin, wäre des Menschengeschlechtes
wahre Wohlthäterin?).“
Wenn praktische Politiker wie die europäischen Diplomaten am
Petersburger Hofe beobachteten, daß Katharina „sich selbst mit dem
entschiedensten Eifer für eine Russin gab“), daß sie — wie der
preußische Gesandte Graf Solms an Friedrich den Großen schrieb —
es als ihren Hauptfehler (,,vice capital“) betrachtete, nicht als Russin
geboren zu sein®), so nahmen sie das als ein durch die unsichere
Stellung der Kaiserin auf dem usurpierten Throne bedingtes Faktum
hin, das sie als eine gegebene Größe in ihre politische Kalkulation
einstellten. Für den sentimentalen Kosmopolitismus ihrer deutschen
literarischen Beurteiler hatte dagegen eine solche Beobachtung leicht
einen unangenehmen Beigeschmack, nicht deshalb, weil damit Ka-
tharına ihre deutsche Vergangenheit verleugnete, sondern weil ihm
jede nationalistische Einstellung eine mit der Weltweite des kosmo-
politischen Empfindens nicht zu vereinende Eingeschränktheit, ja
Beschränktheit bedeutete, im besten Falle eine „heroische Schwach-
heit“, wie Lessing gesagt hatte). Demgegenüber empfand dann
gerade der Bewunderer Katharınas das Bedürfnis, sich den vollen
Umfang ihrer Leistung als Vertreterin der Aufklärung und des
Toleranzgedankens zu vergegenwärtigen, um auf diese Weise für
sein Endurteil ihre ihm anstößige nationalistische Befangenheit zu
kompensieren. Hierfür ist eine Stelle aus den „Kosmopolitischen
Wanderungen“ des westpreuBischen Literaten Karl Feyerabend be-
zeichnend’). „Sie, aus Politik eine Russin“, schreibt Feyerabend,
»versiattete jeder Religionsparihey eine unumschränkte Freyheit in
ihren Gebräuchen und Sitten..... Nie ist irgendein Andersdenkender
seit dem Laufe ihrer merkwürdigen Regierung gemißhandelt oder
gar unterdrückt. Ihre Seele schien von dem edlen Wunsche des
großen Stifters unserer Religion belebt, sie wollte eine Herde und
einen Hirten schaffen.... Alle Menschen waren ihr gleich, was sie
glaubten und predigten, wenn sie nur ruhig und still lebten. Diese
in dieser Hinsicht so mustervolle Fürstin steckte in Verbindung mit
dem großen Friedrich das erste Licht der Aufklärung im Norden an.
Heiden und Muhammedaner, Griechen und Unierte, Catholiken und
Protestanten, alle lebten in süßer Einigkeit bey einander und ver-
folgten sich nicht. Um die Einigkeit der Partheyen zu erhalten, ver-
anstaltete sie zuweilen kleine Feste, wo die Geistlichkeit aus allen
3) P. Rachel: Fürstin Pauline zur Lippe und Herzog Friedrich Christian
von 5 (1903), S. 20 f.
4) Th. Bernhardi: Gesch. Rußlands und der europäischen Politik in
den Jahren 814-1831. Bd. II (1875), Teil 2, S. 207.
s) Am 7. August 1772. S. Politische Korrespondenz Friedrichs d. Ge.
Bd. XXXII (1908), S. 422.
©) Lessing an Gleim, bei W. Wenck: Deutschland vor 100 Jahren. Bd. I
(1887), S. 134.
7) Bd. II (1803), S. 456.
206
Sekten zusammenkam, sich freundschaftlich besprach, brüderlich die
gemeinschaftliche Freude genoß, die ihnen ihre große Monarchin
bereitete, und friedlich wieder auseinanderging“. Interessant ist auch
der ebenso echt aufklärerisch gedachte wie vom Standpunkte der
religiösen Denker unter den Slavophilen unmögliche Schlußsak
Feyerabends: „Vom Thron verbreitet sich das Licht der Duldung über
den ungesitteten Haufen. Das edle Beyspiel der Kaiserin wirkt auf
die Herzen ihrer Untertanen. Diese noch so roh, so ungebildei,
wissen nichts von Religionsverfolgung. Nirgends findet man weniger
Fanatismus wie bei den Russen.“
Nun war auch bei denjenigen, die sich zu einem mehr oder
weniger „reinen“ Kosmopolitismus bekannten, die weltbiirgerliche
Exklusivität in einem sehr verschiedenartigen Grade entwickelt, und
für so manchen von ihnen ließ sich die weltbürgerliche Gesinnung
recht wohl mit einem freudigen Stolze vereinigen, der betonte, was
gerade Deutschland und die Deutschen für die Sache der Menschheit
namentlich in kultureller Beziehung geleistet hatten. Woldemar
Wenck hat in seinem Buche „Deutschland vor hundert Jahren“ dieser
Stimmung deutschen Selbstbewußtseins, die mit dem Aufschwunge
der deutschen Literatur seit den siebziger und achtziger Jahren
gleichen Schritt hielt, als einer Vorform des deutschen National-
bewuBiseins eingehendere Beachtung geschenkt’). In diese geistes-
geschichtlichen Zusammenhänge reihen sich auch die deutschen Zeit-
stimmen ein, die bei der Verherrlichung von Katharinas Großtaten
sich mit Genugtuung an die deutsche Herkunft der russischen Carin
erinnerten. Je weniger aber die deutschen Zeitgenossen — wie wir
sahen — gegenüber dem Willen Katharinas, sich selbst zu russifi-
zieren, empfindlich waren, desto ungehemmter konnten sich ihre
stolzen Gefühle ausleben, daß diese Frau, „die größte des neueren
Zeitraumes“), deren Regierung „für alle Zeiten ein wichtiges Stück
in der allgemeinen Geschichte der Menschheit bleiben wird‘), eine
Deutsche war. Zwei Beispiele mögen diese Stimmung unter den
zeitgenössischen Beurteilern Katharinas noch etwas farbiger ge-
stalten. „Unter allen bisherigen Kaysern und Kayserinnen aus
Peters I. Stamme“ — so schrieb 1800 der Berliner Geistliche David
Jenisch — „war kein einziger des großen Urahnen würdig gewesen.
Endlich betritt denselben eine teutsche Prinzessin, auf welcher sein
Geist der Kraft, der Kühnheit, der Festigkeit ruht, verbunden mit der
feinsten Cabinets-Gewandtheit und Geschmeidigkeit. Von dem
schönen Lichte ihres Jahrhunderts erleuchtet, ein so großes Muster
als ihren unsterblichen Oheim Friedrich Il. im Auge, entwirft und
vollführt sie schöpferische Plane; fängt an, wo Peter I. aufhörie;
8) a. a. O. Bd. I, Abschnitt 3, S. 108 ff.
*) J. R. Forster: Run, 5 der Geschichte Katharinas II., Kaiserin
von Rußland. (1797), S.
10) Kurz gefaßte en Catharinas Il. Kaiserin und Selbst-
herrscherin aller Reußen. (1797), S. 100.
14 NF 5 907
vollendet, wo er begann“ ii]. Oder womöglich noch volltönender
heißt es im „Politischen Journal“ von 1796 aus Anlaß von Katharinas
Tode: „Dies große menschliche Wesen, welches in Rußland wohnte
und ein Drittheil des achtzehnten Jahrhunderts zu seiner Epoche
machte, war eine teutsche Prinzessin aus dem unmächtigen Anhalt-
schen Hause von Zerbst: Ein teutsches Geniel*?)“
Wenn man aber wie Wenck für die zeitliche Abgrenzung dieser
Stimmung deutschen Selbsibewußtseins bis auf die Behauptung
Wielands zurückgeht, er entsinne sich nicht, daß er in seiner Kind-
heit jemals das Wort deutsch ehrenhalber habe aussprechen hören:),
so wird man dabei natürlich das für den Durchbruch dieser Stim-
mung entscheidende Erlebnis Friedrichs des Großen und seines Welt-
ruhmes nicht übersehen. Gerade in der Begeisterung der Süd-
deutschen für Friedrich den Großen, die Preußen nach Goethes Wort
„nichts anging“), spielt das Moment eine Hauptrolle, daß durch
Friedrichs Taten der deuische Name dem Auslande gegenüber wieder
zu Ehren gebracht wurden. Insofern — wird man sagen können —
hat Katharina von dem Weltruhme Friedrichs des Großen profitiert,
als der Preußenkönig zuerst den neuen Fiirstentypus des aufge-
klarten Selbstherrschers in einer vorbildlichen Gestalt verkörpert
hatte und dadurch seit langer Zeit zum ersten Male wieder die
allgemeinste Teilnahme auf einen deutschen Fürsten gelenkt worden
war. Bei dem Stolze, mit dem diese Tatsache die deutschen Zeit-
genossen erfüllte, und bei der großen Zahl überdurchschnittlicher
Begabungen, die im 18. Jahrhundert unter den deutschen Fürstinnen
vorhanden waren, war es für den damaligen deutschen Publizisten
ein naheliegender und verlockender Gedanke, der Gestalt dieses
großen weltberühmten deutschen Fürsten ein deutsches weibliches
Gegenbild an die Seite zu stellen. Hierfür erschien aber, sowohl
was den politisch-militärischen Erfolg, als auch was die Sichtbar-
machung des herrscherlichen Eihos des Aufklärungsfürsten anlangt,
Katharina unter allen ihren deutschen Standesgenossinnen als die
vergleichbarste Größe, während die von Friedrich überwundene
österreichische Kaiserin Maria Theresia, die überdies stärker, als die
freigeistigen Literaten der Aufklärung wünschten, an den religiös-
oe Geist und Charakter des achtzehnten Jahrhunderts. Bd. III (1801),
12) Jg. 1796, S. 1247. — Ahnlich auch J. M. Hofmann: Katharina Il. Die
einzige Kaiserin der Erde usw. Bd. I (1787), S. 8: „Ist die einzige Kaiserin
sie bewundernder Welten nicht Deutschlands würdigste Tochter?" — Allg.
Deutsche Bibliothek, Bd. XXXVIII (1798), S. 174: „Unsere große Lands-
männin.“ — Historisch-genealogischer Kalender, Jo. 1798, S. 6 f: Nach Auf-
zählung von Katharinas Taten: „Es sind Unternehmungen einer Frau, ciner
Deutschen.” Usw.
18) Uber deutschen Patriotismus in Werke (Hempel), Bd. XXXIV, S. 318.
l 1 Dichtung und Wahrheit. Buch 2. Weim. Ausg. Abt. I, Bd. XXVI
1889
i 0 es Wohlwill: Weltburgertum und Vaterlandsliebe der Schwaben.
1875
208
gebundenen Traditionen des habsburgischen Hauses festhielt, dabei
ganz zurücktrat.
„Wie glücklich sind wir, in einem Jahrhundert zu leben, das
keinen gekrönten Unmenschen gezeuget hat! Wie glücklich, den
Zepter eines Friedrichs zu küssen, der sich der Schwäche der Mon-
archen ebenso sehr bewußt ist, als er sich bestrebet, ihre Hoheit zu
erreichen! Wir setzen ihm hierin seine große Bundesgenossin, die
glorreichst regierende Russische Monarchin Catharina zur Seite,“
so hieß es in einer Rede, die der Professor Johann Wilhelm Hecker
zur Feier des Geburtstages der Carin im Gymnasium ihrer Vater-
stadt Stettin im Jahre 1771 hielt!). Und ähnlich lautete es in den
1800 erschienenen „Denkwürdigkeiten aus dem ablaufenden Jahr-
hundert“): „Wenn je herrschende Personen sich in der Regierung
durch Vorzüge zu gleicher Zeit ausgezeichnet haben, so dürften
Friedrich der 2te von Preußen und Katharina die 2te von Rußland
dazu aufgestellt werden.“ Viel entschiedener aber und zugleich die
deutsche Stammeszugehorigkeit der beiden fürstlichen Persönlich-
keiten kräftig unterstreichend, drückte sich Johann Gottfried Seume
aus, wenn er in seiner Katharina-Biographie von 1797 schrieb: „Die
beiden nordischen Helden zum Anfange des Jahrhunderts ausgenom-
men, sind ohne Widerspruch in kosmischer Rücksicht ein deutscher
Mann und eine deutsche Frau, Friedrich der Zweite von Preußen und
Katharina die Zweite von Rußland, die wichtigsten.“ Und mit nicht
mißzuverstehendem Seitenhiebe auf die deutschen Revolutions-
enthusiasten fügte er hinzu: „So merkwürdige Männer auch in den
neueren Händeln der Franzosen aufgetreten sind, so ist doch keiner
derselben so wichtig, daß er nur entfernt in eine Vergleichung mit
diesen beiden gestellt werden könnte. Unser Vaterland darf stolz
sein, sie unter seine Kinder zu zählen.“ Wie für Friedrich, möchte
Seume auch für Katharina den Beinamen „die Einzige“ in Anspruch
nehmen, ja er meint, daß man diesen Namen für sie noch eher
behaupten könne als für den König von Preußen: „Friedrich findet
gewiß in der Geschichte der Männer noch mehr, wie er war: Es
würde aber schwer werden, noch eine Frau zu finden, die mit
Katharina durchaus verglichen werden konnte’®).“
Indem aber für die deutschen Zeitgenossen die Gegenüber-
stellung von Friedrich und Katharina immer mehr der gegebene Ver-
gleich wurde, bildete er auch den Ausgangspunkt für zahlreiche,
mehr oder weniger durchgeführte Parallelen zwischen den beiden
Herrschern, die sich ebensosehr auf ihre Taten wie auf ihre
Charaktereigenschaften ersireckten!®). Diese Parallelen waren schon
darum sehr beliebt, weil sie begreiflicherweise bequeme literarische
10) Der Monarch ein Mensch. (1771), S. 6.
17) (1800), S. 269.
18) Werke, hrsg. v. A. Wagner. (18372), S. 439 u. 475.
10) Polit. Journal, Jg. 1796, S. 1244 f. — Denkwiirdigkeiten aus dem ab-
laufenden achtzehnten Jahrhundert. (1800), S. 593. — H. v. Storch: Gemalde
von St. Petersburg. Bd. II (1793), S. 84 f.
209
Hilfsmittel zur Charakteristik Katharinas boten. Der wunderliche
Sak Theodor von Hippels: „Wenn diese Monarchin mit dem Könige
von Preußen ein Paar worden: Welt! Was meinst Du)?“ ist ohne
die den zeitgenössischen Darstellern so lieb gewordene Gewohnheit,
den großen Mann und die große Frau des Jahrhunderts gewisser-
maßen als „Pendants“ zu sehen, kaum verständlich. Aber Friedrich
hatte doch nicht nur dem Ruhme der Carin vorgearbeitet, indem er
durch seine Gestalt den Zeitgenossen die Sicht für eine Erscheinung
wie Katharina erst freimachte, sondern — wir sahen es bereits an
dem Beispiele Seumes — sein Ruhm diente doch auch wieder dem
Ruhme Katharinas zur Folie, von dem dieser sich desto heller abhob.
Hinzu kam, daß der Gestus der Liebenswürdigkeit, Heiterkeit und
Grazie, den Katharina in ihrem ganzen Auftreien bis zur Virtuosität
‚handhabte, den Menschenfreunden des achtzehnten Jahrhunderts
natürlich viel besser lag als die bissige Menschenverachtung des
Preußenkönigs in seinen Spätjahren. Wenn z.B. Johann Michael Lenz
in seinem Briefe an Lavater vom 15. April 1780 gegen das Bild, das
der große Physiognomiker von der Carin entworfen hatte, polemi-
sierend schrieb, der Blick Katharinas habe bei aller Majestät ihres
Auges und ihrer Haltung „nicht das schröckende Feuer des alten
Friedrichs“), so war das sicherlich ganz aus den Herzen aller
Humanitätsfreunde von damals gesprochen.
Durch nichts aber — so möchte man annehmen — hätte für den
zeitgenössischen deutschen Literaten der Ruhm Friedrichs durch den
Katharinas mehr verdunkelt werden können als durch die Tatsache,
daß der König von Preußen die deutsche Literatur verachiete,
während die seit ihrem vierzehnten Lebensjahre von Deutschland
entfernt lebende Carin den Zusammenhang mit Werken deutschen
Schrifttums nie völlig verlor. War es auch nicht die zukunftsreiche
deutsche Literatur, die Klassiker, an die sie sich wandte, als sie, des
zunehmenden Radikalismus der französischen Aufklärung über-
drüssig, seit Voltaires Tode immer ausschließlicher deutsche Schrift-
steller las, sondern die deutschen Aufklärer zweiten Ranges, die
Nicolai, Thümmel, Schummel usw., so glaubte sie doch in ihren
Briefen an Friedrich Melchior Grimm, den Herausgeber der „Cor-
respondance littéraire“, Friedrich den Großen wegen seiner Unkennt-
nis und Verachtung der deutschen Literatur beklagen zu müssen»).
Bei der Bedeutung, die Grimm für die damalige europäische Literatur-
berichterstattung hatte, sollte man meinen, daß diese Stellungnahme
Katharinas nicht unbekannt geblieben ist. Dennoch haben wir unter
den zahlreichen Parallelen, die von den deutschen Zeitgenossen
zwischen Katharina und Friedrich gezogen wurden, nur eine zu finden
vermocht, die diese Tatsache hervorhebt. Sie findet sich in Heinrich
20) Samtl. Werke, Bd. IV (1828), S. 256 f.
21) Bricfe von und an Joh. Michael Lenz. Hrsg. v. K. Freyhe und
W. Stammler. Bd. II (1918), S. 162.
8 en, Vgl. Karl Hildebrand: Zeiten, Völker und Menschen. Bd. V (1902),
210
Storchs „Gemählde von St. Petersburg‘), einem Buche, das Katha-
rina gewidmet ist. Storch, bekanntlich einer der Hauptvertreter der
sogen. deutsch-russischen Schule der Nationalokonomie™), wurde
1766 zu Riga geboren, bekleidete seit 1789 verschiedene Stellen im
russischen Staatsdienste und wurde nach dem Tode Katharinas Il.
Erzieher der Großfürsten Nicolaj und Michail. Es lag daher nahe,
daß er bei der Darstellung dessen, was Katharina in Petersburg für
die Wissenschaften und Künste Rußlands geschaffen hatte, auch ihres
persönlichen Verhältnisses zur Literatur gedachte. Vielleicht darf
man sogar annehmen, daß er dabei wenigstens mittelbar von Katha-
rina oder ihren Hofleuten inspiriert war. Immerhin ist diese Stelle,
schon weil darin bezeichnenderweise der Auslandsdeutsche das Be-
durfnis fühlt, den reichsdeutschen Leser wegen seiner Lobeserhebung
der russischen Herrscherin auf Kosten des deutschen Herrschers um
Verzeihung zu bitten, interessant genug, um hier zum Schlusse in
vollem Umfange wiedergegeben zu werden: „Friedrich der Zweyte
liebte die Wissenschaften, wie Katharina, seine erhabene Freundinn;
wie sie beschubte und pflegte er die Musen, denen er wie sie in
seinen sorgenfreyen Stunden manches Opfer brachte. Gleich ihr
suchte er unter seinem Volk Kenntnisse und Geschmack zu ver-
breiten, die Morgenröthe der Philosophie über der Dämmerung der
Vorurtheile und des Pedantismus herbeyzuführen und den Künsten
Tempel zu weihen. — Aber Friedrich, ein deutscher Fürst, kannte die
Sprache seines Volkes nicht, hatte den Eigensinn, sie nicht kennen
zu wollen, selbst da sie seiner Schätzung Werth geworden war,
selbst da seine Vertrauten ihn auf die Fortschritte seiner Nation auf-
merksam machten. Überall ein großer Mann, ließ er sich hier von
einem längst gefaßten und oft widerlegten Vorurtheil leiten, welches
der deutschen Nation seinen aufmunternden Beyfall entzog und ihr
die unersetzliche Ehre raubte, den größten aller Schriftsteller den
ihrigen nennen zu können. — Katharina die Zweyte, durch Geburt und
Erziehung mit zwey Sprachen vertraut, lernt die dritte, mitten im
berauschenden Gewühl eines glänzenden Hofes, unter den Sorgen
einer unermeßlichen Herrschaft, unter dem Jubelgeton errungener
Siege — aus dem Gefühl ihrer Pflicht und aus patriotischem Interesse
fur die Kultur ihres Volks! — Deutscher Leser! Für dich ist kein
Anstoß in dieser Vergleichung. Auch Sie ist ja dein, wie Er es war.“
Anhang P’.
Geschichien, Reisebeschreibungen, Programme usw.
1762. Joh. Gotth. Lindner, Programm zum Namenstage der Kaiserin Ka-
marina Il. (25. Nov. 62). Riga.
ss) Bd. Il (1793), S. 84 f.
34) Handwörterbuch der Siaatswissenschaften. Bd. VII (19264), S. 1143.
* Anhang | u. Il wollen, was die deutsche Literatur über Rußland und
Katharina Il. anbelangt, B. v. Bilbasov: Katharina Il. im Urteile der Welt-
literatur. Autor. Übersehung aus dem Russischen. Mit einem Vorwort
v. Th. Schiemann. Bd. I u. II. (1897) ergänzen.
211
1763.
1764.
1764.
1764.
1764.
1764.
1765.
1765.
1765.
1768.
1769.
1770.
1771.
1772.
1775.
1777.
1778.
1779 f.
1780.
1780.
1781.
1782.
1785.
212
Gespräch im Reiche der Todten zwischen einem österreichischen
Feldpater und russischen Popen von dem Leben und Ende Peters Ill,
Kaiser und Selbstherrscher aller Reußen. Frankft. u. Lpz.
D. Joh. Fr. Joachim, Fortgesebte Geschichte der Staatsveranderungen
des russischen Reichs, 3. Teil zu Herrn de la Combes Geschichte
von Rußland. Halle.
Kurze Beschreibung und Geschichte des russischen Reichs, wie auch
merkwürdige Staatsveranderung von anno 900 bis auf Peter d. Or.
und seit dessen Regierung und Ableben bis auf die Thronbesteigung
und den 4. Okt. 1762 geschehenen Crönung Catharina Alexiewna Il. s. l.
Anton F. Büsching, Gelehrte Abhandlungen und Nachrichten aus und
von Rußland. Lpz., Kbg. Pr. und Mitau.
Joh. Gotth. Lindner, Denkmal auf die allerhuldreichste Gegenwart
Catharina Il. zu Riga bei der Feyer des Kronungsfestes in einer
Schulabhandlung den 23. Sept. 1764 errichtet.
pao Programm zum Kronungsfeste der Kaiserin Catharina fl.
iga
Derselbe, 1 LOQEAIaND zum Namenstage der Kaiserin Catharina II,
ov iga
Dem hohen Geburtsfeste der allerdurchlauchtigsten Beherrscherin
aller Keußen widmen diesen Glückwunsch in unterthänigster Er-
ae die somes Alumni des Jageteufelschen Collegii zu Stettin
en 2.
(Christian. Fr. Schwan), Russische Anekdoten oder Briefe eines teut-
schen Offiziers an einen lievländischen Edelmann, worinnen die vor-
nehmsten Lebensumstände des russischen Kaysers Peter Ill. nebst
dem unglücklichen Ende dieses Monarchen enthalten sind. Wands-
beck 8 J. 1765 von C. F. S. de la Marche.
Joh. G. Herder, Rede am Namensfeste der Monarchin. April 1768 in
Riga in sämtliche Werke, hrsg. von B. Suphan Bd. XXXI, S. G. 47.
Derselbe, Tagebuch meiner Reise von Riga nach Nantes. Werke,
a. a. O. Bd. IV, S. 343 f.
Graf Viktor A. Henckel v. Donnersmarck, Tagebuch des russ.-türk.
Krieges in Milit. Nachlaß, Bd. II (1846), hrsg. von K. Zabeler.
J. G. von Boden, Erste Rede am feyerlichen Krönungsgedächtnisfeste
Ihro Majestät der Kaiserin Katharina d. Zweyten am 22. Sept./3. Okt.
1771 in einer Versammlung von Patrioten abgelesen. Vermischte
Schriften. Mitau.
J. G. Landgraf, Bemerkungen über den letzten Krieg wider die Türkei
als eine Erläuterung zum jebigen. Glogau.
Samuel Gottfr. Geyser, Programm zu der Feier des festlichen Tages,
welcher dem Andenken des 1764 mit den Türken geschlossenen
Friedens gewidmet ist. Reval.
Andreas Meyer, Briefe eines jungen Reisenden durch Livland, Kur-
land und Deutschland, 2 Bde. s. |.
Karl Aug. v. Struensee, Kurzgefaßte Beschreibung der Handlung der
Peen europäischen Staaten Bd. I, S. 469—510 über Rußland.
ing.
er Bernoulli, Reisen durch Brandenburg, Pommern, Preußen, Kur-
and, Rußland und Polen in den Jahren 1777—78, 6 Bde. Lpz.
Chr. Aug. Clodius, Die Schlacht bei Chios. Neue vermischte Schrif-
ten, Bd. II, S. 1—30. ;
Joh. Plan 15 Russisches Kriegslied zur See in Schriften,
Bd. l, S. 233. Gießen 1780.
Uber Rußland. An Ihre Majestät Catharina Il. Selbsthalterin und
Kaiserin aller Reußen, Bd. I. Breslau.
Joh. Chr. Moris, Das Namensfest Catharinas ll. und das Andenken
der Zurückkunft des Oroßfürsten Paul Petrowib. Riga.
von Kerten, Auszug aus dem Tagebuch eines jungen Russen auf
seiner Reise nach Riga. (Riga.)
1784.
1784.
1784.
1784.
1785.
1785.
1787.
1787.
1787.
1787.
1788.
17%.
1790.
1790.
1790.
1791.
1795.
er Gildenstadt, Reisen durch Rußland und im kaukasischen Ge-
ge, 2 Bde. St. Pbg.
Heinr. Chr. Gehe, Redehandlung bei der Feyer des Geburtstags-
festes Ihro K. M. Katharinen ll. nebst einem Programm usw. Reval.
S. M. Gmelin d. J., g cen durch Rußland, 4 Bde. St. Pbg.
Adam Fr. Geisler d . J., Katharina ll. in Gallerie edler deutscher
Frauenzimmer, Teil I. S. 1—86.
K. Th. M. Snell, Programm zur Charakteristik großer Regentinnen.
* Riga.
M. E. Tozen, Einleitung in die europ. Staatenkunde, 2 Bde. s. l.
Tagebuch der Reise eines Deutschen von Lübeck nach St. Peters-
burg im August 1785. Langensalza. Vgl. Allgemeine deutsche
Bibliothek Bd. 95, S. 560.
Heinrich Nudow, Rede am 25jahrigen Oedächtnisfeste der Thron-
besteigung Katharinas ll. St. Pbg.
8 Bapt. Cataneo, Eine Reise ‘durch Deutschland und Rußland.
a Michael Hofmann, Katharina Il. die einzige Kaiserin der Erde,
Selbstherrscherin aller Reußen, Tauriens würdige Tochter, machtigste
Erretierin und großmütigste Beglückerin, ein untertänigstes Opfer am
herrlichsten wonnevollen Kronungstage der allergutigen und ae
liebten Huldgottin zu Tauriens urerster Alleinbeherrscherin.
sang. Frkft. a. M. (Mehr nicht erschienen.)
Unparteiische Nachricht von dem Ursprung, den Eroberungen, dem
98 15 Regierung und der Kriegs verfassung der Türken. Frft.
a. M. u. Lpz.
J. M. Schweighofer, Politischer Zuschauer. Wöchentliche Beiträge
zur Geschichte des gegenwärtigen Feldzuges der Österreicher und
Russen wider die Türken. 13 Hefte. Wien.
Unpartheiisch-geographisch-historischer Kriegsweiser. Wien.
Ein Wort im Vertrauen über den Türkenkrieg. Wien.
Chr. Fr. Scherwinzky, Rußlands Flor. Riga.
(Joh. Rautenstrauch), Ausführliches Tagebuch des ibigen Krieges
zwischen Österreich und der Pforte, Bd. I. Wien.
oh. Eb. Fr. Schall, Drei Silhuetten, Katharina Il, Peter l., Friedrich ll.
iga.
Morib Boye, Beytrage zur Statistik von Rußland. Bayreuth.
(Adam Chr. Gaspari), Urkunden und Materialien zur näheren Kennt-
15 aan Geschichte und Sitaatsverwaltung nordischer Reiche, 3 Bde.
amburg
Benedikt. F. J. Herrmann, Statistische Schilderungen von Rußland in
Rücksicht auf Bevölkerung, Landesbeschaffenheit, Naturprodukte,
Landwirtschaft, Bergbau, Manufakturen und Handel. St. Pbg. u. Lpz.
Sammlung der merkwiirdigsten Stadte und Festungen, welche in den
Jahren 1788, 1789 und 1790 von den k. k. österreichischen und k. rus-
sischen Armeen der Pforte abgenommen worden, nach ihrer wahren
Lage bezeichnet und illuminiert, nebst einer kurzen Beschreibung der-
selben, nach Hof- und andern glaubwürdigen Berichten, 2 Teile mit
illuminierten Kupfern und Planen. Prag.
Th. Oldekop, Friedenspsalm, gesungen am Friedenstage. Dorpat.
Jakob Fries, Reise durch Rußland, 1770—80. Lpz.
Leprecht, Reise nach Petersburg und einem Teile von Deutschland.
Frft.a.M. u. Pest.
Unpartheiische Prüfung der Frage: Ob die Kaiserin von Rußland
durch den Teschener Frieden die Garantie des westfälischen Friedens
übertragen erhalten habe, und in der Eigenschaft als Garantin des-
selben nun gegen Frankreich auftreten könne? Frft.a.M.u.Lpz.
Ludwig Heinrich Frh. v. Nicoley, An die Kaiserin von Rußland —
poetische Epistel in Werke, Bd. IV, S. 1 f.
215
179).
1795.
1793.
1793.
1793.
1793.
1794.
1794.
1795.
1795.
1796.
1796.
1796.
1797.
1798.
1798 ff.
1798 ff.
1799.
1800.
1802.
1802.
1803.
1805.
214
Balthasar Frh. v. Campenhausen, Versuch einer geographisch- stati-
en Beschreibung der Statthalterschaften des russischen Reichs.
ingen.
Heinrich v. Storch, Gemählde von St. Petersburg, 2 Bde. Riga.
Mathias Chr. Sprengel, Grundriß der Staatenkunde der vornehmsten
europäischen Reiche. Halle, Bd. I, S. 181—229 über Rußland.
Graf Joachim v. Sternberg, Reise von Moskau über Sofia nach
Königsberg. Bin.
Georg Forster, Erinnerungen aus dem Jahre 1790 in historischen Ge-
mälden und Bildnissen von D. Chodowiecki.
Joh. Gottl. Willamov, Sämtliche poetische Schriften, 2 Bde. Wien.
1. Auf das Geburtsfest der russischen Monarchin, von Konfoderierien
in Thorn gefeiert (1767).
2. Auf die Wiedergenesung Ihro russ. kais. Majestät und des Groß-
fürsten von der Einimpfung der Blattern (1768).
3.Katharinens Einweihungsfest, auf das 40. Geburtsfest thro kais.
Majestät aller Reußen, den 21. April 1769.
4. Auf die Eroberung von Chocim (1769).
5. 77 der russischen Armee bei Eröffnung des Feldzuges
1770
6. Auf die Schlacht am Kagul (1770).
7.Abschiedslied der russischen Flotte (1770).
8. Auf die Seeschlacht bei Tschesme (1770).
9.Noch auf die Seeschlacht bei Tschesme (1770).
10. Siegeslied auf die Eroberung von Bender (1770).
11. Auf das Geburtstagsfest der russischen Monarchin (1772).
Amalie v. Lie mann, Reisen durch einige russische Lander. Gottingen.
Th. Gott. v. pees Lebensbeschreibung, Teil Ill: Rugland und Werke,
14 Bde. Bin. 1827—39.
Timotheus Frh. v. Spittler, Entwurf der Geschichte der europäischen
znan Rußland: Werke hrsg. von Wächter-Spittler, 1827 f., Bd. IV,
0
Daniel G. Balk, Was war einst Kurland und was kann es jebt unter
Katharinas Zepter werden? Mitau.
Joh. Heym, Versuch einer vollständigen geographisch-topographischen
Enzyclopädie des russischen Reichs. Göttingen.
Heinrich Friebe, über Rußlands Handel, landwirtschaftliche Kultur,
Industrie und Produkte. Gotha und St. Pbg.
Konrad Pfeffel, Unter ie Bild in Poetische Versuche. Stutt-
gart 1802 f., Bd. VII. S. 111
Karl Elzner, Gemählde, meiner Reise aus Rußland durch Litauen
un 17 nach Teutschland. Erfurt 1797, 1. Aufl., Hamburg 1802,
Aufl.
Zeichnungen eines Gemähldes von Rußland. Entworfen auf einer
Reise durch das russische Reich. Moskau und St. Pbg. Celle.
Daniel Falk, Taschenbuch für Freunde des Scherzes und der Satire.
Andreas Rebmann, Obs kuranten- Almanach.
Joh. Gottfr. Seume, Zwei Briefe über die neuesten Veränderungen in
Rußland seit der Thronbesteigung Pauls I. Lpz.
David Jenisch, Geist und Charakter des 18. Jahrh., 3 Bde. Bin.
Joh. Wilh. Möller, Reise nach Volhynien und Cherson in Rußland im
Jahre 1787. Hamburg.
Der russische Kolonist oder Christian Gottlob Züges Leben in Ruß-
land. Nebst einer Schilderung der Sitten und Gebräuche der Russen
vornehmlich in den asiatischen Provinzen, 2 Bde. Zeitz u. Naumburg.
Karl B. Feyerabend, Kosmopolitische Wanderungen durch Preußen,
Podolien, Liv- und Kurland, 4 Bde. Königsberg i. Pr
Heinrich v. Reimers, St.Petersburg am Ende seines ersten Jahr-
hunderts mit Rückblicken, 2 Teile. St. Pbg. u. Lpz.
1805. Georg Reinbeck, Flüchtige Bemerkungen auf einer Reise über
St. Petersburg, Moskau, Grodno, Warschau und Breslau und Deuisch-
land im Jahre 1805. Lpz.
1808. Samuel Bauer, Interessante Lebensgemählde und Charakterzuge der
denkwiirdigsten Personen aller Zeiten. Teil V: Peter Ill. Wien. .
1809. Joh. Petri, Neuestes Gemählde von Liev- und Esthland unter Katha-
rina Il. und Alexander Il. in statistik-politisch-merkantilistischer Hin-
sicht. 2 Teile. Lpz.
1811. D. W. Soltau, Briefe über Rußland und dessen Bewohner. Bin.
1812. Brockhaus’ Zeitgenossen, Bd. XI, Brief Elisas v. d. Recke an Friedrich
Nicolai vom Jahre 1795 aus St. Petersburg.
1813. Ernst Wilhelm von Drümpelmann, Beschreibung meiner Reisen und
merkwürdigen Begebenheiten meines Lebens. Riga.
1819. Chr. Jacob Kraus, Vergleichendes Olossarium aller Sprachen und
Mundarten 1 Kaiserin Katharina Il. in vermischte Schriften. Bd. VIII.
romga uei
8 Schlegel, Reisen in mehrere russische Gouvernements. 2 Teile.
iga.
1821. Christian Aug. Fischer, Kriegs- und Reisefahrten. Lpz.
s.a. Auszug aus dem Tagebuche einer Geschäftsreise nach Rußland mit
beigefügten Postrouten. Frft. a. M.
1897. Karl H. Frh. v. Heyking, Aus Polens und Kurlands letzten Tagen.
1907. Petersburger Tagebuch der Frau Erbprinzessin Auguste Karoline
Sophie von Sachsen-Coburg-Saalfeld, geb. Grafin Reub j. L. im Jahre
1795, hrsg. von W. K. v. Arnswaldt. Darmstadt.
1819.
Anhang II’.
Zeiischrifienartikel.
Im Chorus der öffentlichen Meinung Deutschlands im achizehnten
Jahrhundert spricht das heutzutage stärkste Instrument einer offent-
lichen Meinung nur mit einer schwach vernehmbaren Stimme. Die
deutschen Zeitungen von damals dienten nahezu ausschließlich der
Vermittlung von Nachrichten und kannten noch kaum das Räsonne-
ment unserer modernen Zeitungen, durch welches diese zu Ver-
treterinnen von politischen Parteien oder wirtschaftlichen Interessen-
gruppen werden. Infolgedessen können wir die Zeitungen aus den
Quellen für unsere Betrachtung im allgemeinen ausscheiden.
Bis zu einem gewissen Grade wurde diese Funktion unserer
heutigen Zeitung zu jener Zeit mitversehen durch die Zeitschriften-
literatur), die mit dem von der Aufklärung geweckien Bedürfnis
nach öffentlicher Erörterung allgemein interessierender Gegenstände
Auffallend lückenhaft erweist sich die Bilbasovsche Bibliographie hin-
sichtlich der zeitgenössischen deutschen Zeitschriftenliteratur, die eine so
reiche Ausbeute für unser Thema lieferte, daß die Rußlandartikel der da-
maligen deutschen Journale mit einer kurzen diese Quelle charakterisieren-
den Bemerkung hier ebenfalls verzeichnet werden sollen.
1) Vgl. die umfangreiche Bibliographie von J. H. Christian Beutler und
J. Chr. F. Guts-Muths: Allgemeines Sachregister über die wichtigsten deut-
schen Zeit- und Wochenschriften (1790). — Eine übersichtlichere Zusammen-
stellung der wesentlichsten deutschen Zeitschriften des achtzehnten Jahr-
hunderts gab R. F. Arnold in seinem in dieser Beziehung viel zu wenig
beachteten Buche: Allgemeine Bücherkunde zur neueren deutschen Literatur-
geschichte. (19192), S. 19 ff. u. 176 ff.
215
schnell und üppig?) emporgewachsen war. Ursprünglich auf ästhetisch-
belletristische und mehr oder weniger wissenschaftliche Themen be-
schränkt oder wie die große Masse der „moralischen Wochenschriften“
der Verbreitung praktischer Lebensweisheit auf populär-philoso-
phischer Grundlage dienend, strebten diese Zeitschriften seit der
zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts immer mehr dahin, auch
politisch-aktuelle Fragen und Ereignisse, soweit das in den engen,
von der scharfen absolutistischen Zensur gesteckten Grenzen möglich
war, in den Kreis ihrer Betrachtungen zu ziehen. Mit dem Jahre 1773,
dem Erscheinungsjahre des ersten Bandes von Wielands „Teutschem
Mercur“ entsteht — wie vor kurzem überzeugend dargelegt wurde —
in den „staatsbürgerlichen“ Journalen ein neuer deutscher Zeit-
schriftentyp, der sich durch eine intensivere Behandlung von ver-
fassungs- und sozialpolitischen Fragen sowohl von den moralischen
Wochenschriften, von denen er abstammt, wie von den ausgesprochen
literarisch-kritischen und gelehrten Zeitschriftenunternehmen deutlich
unterscheidet?). Daneben wurden gleichzeitig oder doch nur wenig
später Zeitschriften immer häufiger, in deren Titeln oder Untertiteln
das Beiwort „politisch“ erscheint). In dem „Hamburger Politischen
Journal“, das von 1781—1839 in dem damals dänischen Altona her-
auskam, wird durch dieses Beiwort sogar schon eine weitgehende
Spezialisierung auf das Gebiet der auswärtigen Tagespolitik aus-
gedrückt. Seine Berichterstattung war entweder revueartig, indem
mehrere Tagesereignisse und -fragen gemeinsam — in der Regel
durch den Schriftleiter — besprochen wurden, oder bestand aus Ein-
zelberichten der verschiedenen Korrespondenten, die mit oder ohne
Kommentar zum Abdrucke gelangten.
In der damaligen deutschen Zeitschriftenliteratur nahmen die Be-
richte über Rußland bereits einen ziemlich breiten Raum ein. Schon
viele von ihnen — auch die unpolitischen oder weniger auf das Poli-
tische gerichteten — waren offenbar bemüht, ihre Leser nach Mög-
lichkeit über das bisher so unbekannte Land im Osten, das unter
Katharina einen so schnellen und weithin sichtbaren Aufstieg erlebte,
zu unterrichten. Ihre Rußlandartikel enthalten zum größeren Teile
landeskundliche und statistische Mitteilungen wie etwa die des „Han-
növerschen Magazins“ (1750—1813), das von dem Kanzleisekretar
Klockenbring in Hannover herausgegeben wurde und seinen Leser-
2) Auf einen verwandten Vorgang in der russischen Publizistik des
neunzehnten Jahrhunderts hat G. Grupp: Literatentum der Aufklarungszeit
in Historisch-politische Blätter f. d. kathol. Deutschland, Bd. CXII (1893),
S. 390 ff., im Anschluß an Leroy-Beaulieu hingewiesen. Auch hier verhinderte
die Strenge der Zensur die quantitative, die qualitative Entfaltung des
Tageszeitungswesens wurde aber die Veranlassung für das Enistehen von
zahlreichen und inhaltlich wertvollen Revuen.
3) Johanna Schultze: Die Auseinandersekung zwischen Adel und Bürger-
tum in den deutschen Zeitschriften der lebten drei Jahrzehnte des achtzehnten
Jahrhunderts (1773—1806). In E. Eberings Historischen Studien, Heft 165
(1925), S. 24
) Vgl. z. B. Beutler und Guts-Muths a. a. O., S. 261 fl.
216
kreis vorzugsweise unter der im praktischen Leben stehenden Be-
völkerung suchte). Andere gaben mit Vorliebe Beiträge zu dem
damals überaus geschätzten Thema der Sitten und Gebräuche. Für
diese sei allein das von dem Weimaraner Bertuch — nach Goethe
„der größte Virtuos im Aneignen fremder Federn“ — redigierte und
namentlich in den oberen Schichten viel gelesene „Journal des Luxus
und der Moden“ (1776—1827) als artvertretend genannt“).
Aus der Reihe der an geisiigem Gehalt erheblich höher stehen-
den „staatsbürgerlichen‘ Journale muß hier zunächst des „Deutschen
Museums“ gedacht werden, das von 1776—73 von Dohm und Boie
herausgegeben, dann von Boie allein (1789—91) als „Neues Deutsches
Museum“ fortgeführt wurde’). Denn das „Deutsche Museum“ brachte
gleich im ersten Jahrgange den anonym erschienenen Aufsak „Ka-
tharina die Zweyie, Kaiserin von Rußland. Ein Gemäld ohne
Schatten.“ Dieser Aufsak, der der Feder eines so namhaften zeit-
genössischen Publizisten wie Friedrich Karl von Moser entstammte,
war eine Frucht der Reise, die Moser als Geleiter der großfürstlichen
Braut Natalja Alekseevna, Tochter der „großen Landgräfin‘ Karoline
von Hessen-Darmstadt, 1773 nach Petersburg unternommen hatte’).
Sein kleiner Aufsab, der 1773 geschrieben, zwei Jahre nach dem
Frieden von Kutschuk-Kainardsche, dem eigentlichen Kulminations-
punkt der auswärtigen Politik Katharinas, erschien, hat als der erste
Ansatz zu einer zeitgenössischen Biographie der Carin Epoche ge-
macht. Er ging, als beim Tode Katharinas die biographische Literatur
über die Kaiserin sich erst voll entfaltete, 1797 wörtlich in das Buch:
„Katharina ll., ein biographisch-charakteristisches Gemälde“ des
Plagiators H. F. Andra über“).
Während wir bei unserer Überschau über die damalige Zeit-
schriftenliteratur weitere Erscheinungen dieses durch das „Deutsche
Museum“ reprasentierien „staatsbürgerlichen“ Zeitschriftentypes als
minder ergiebig für unser Thema hier übergehen können, muß die
zu derselben Gruppe gehörige von Biester und Gedicke geleitete
„Berlinische Monatsschrift" (1799—1811) schon deswegen hier aus-
drücklich hervorgehoben werden, weil ihr Verleger, der aus der Ge-
schichte der Berliner Aufklärung hinreichend bekannte Friedrich
Nicolai, zugleich auch der Verleger von Katharinas Il. in deutscher
8) Vgl. W Stammler: Friedr. Arn. Klockenbring. Ein Beitrag zur Ge-
schichte des geistigen und sozialen Lebens in Hannover. In Zeitschr. des
histor. Vereins f. Niedersachsen, Bd. LXXIX (1914), S. 185 f.
©) Vgl. Goethes Gespräche. 5 Neu hrsg. v. Fl. Frhr.
v. Biedermann. Bd. II (1909), S.
7) Vgl. W. Hofstatier: Innere Oesch. v. H. C. Boies „Deutschem Museum“
(1776—1791). Diss. phil. Leipzig 1907, S. 18 ff. u. 35.
8) Vgl. Briefwechsel der großen 8 Caroline von Hessen.
Hrsg. v. A. Walther. Bd. II (1877), S. 4
e (1797).
217
Übersetzung erschienenen kleineren Schriften warte). Man könnte
daher geneigt sein anzunehmen, daß diese Zeitschrift dank der Be-
ziehungen, in die Nicolai zu Katharina trat, besonders häufig und
besonders gut uber Rußland unterrichtet hatte. Das ist nun aber
tatsächlich in einem bescheidenen Maße der Fall, wenn auch die von
ihr gebrachten Rußlandartikel wie z. B. der 1783 veröffentlichte
„Beytrag zur Geschichte des russischen Hofes“ zu den gediegeneren
Erscheinungen in der damaligen Literatur über Rußland gehören.
Diese befremdliche Tatsache laßt sich heute nicht mehr ohne weiteres
erklären. Teilweise darf man sie wohl auf Zensurschwierigkeiten
zurückführen. Denn die Berliner Zensur unter Friedrich dem Großen
war bei allen auf Rußland bezüglichen Druckschriften sehr peinlichii).
Nicolai fand indes in einer anderen seiner buchhändlerischen
Unternehmungen, der „Allgemeinen Deutschen Bibliothek“, jener
großen Rezensieranstalt, in der er in den Jahren 1765— 1806 alle
literarischen Neuerscheinungen Deutschlands vom Standpunkte des
„Aufklärungsberlinismus“ bekritteln ließ, Anlaß und Spielraum genug,
um seine Meinung über Rußland zum Ausdruck zu bringen. Es ist
wirklich erstaunlich, bis zu welchem Grade der Vollständigkeit hier
die in deutscher Sprache über Rußland erschienenen Werke ver-
zeichnet und besprochen worden sind. Die „Allgemeine Deutsche
Bibliothek“ bildet für den Bibliographen dieser Literatur geradezu
eine Fundgrube ersten Ranges, die aber von Bilbasov auch mit keinem
Worte erwähnt wird. Daß die Besprechungen in diesem Organ in
der Regel sehr rußlandfreundlich ausfielen, dafür sorgte nicht zulebt
der Umstand, daß Katharina seine Abonnentin war:2).
Wenn man auch die Wirksamkeit dieser in der Hauptsache kultur-
politisch eingestellten ,,staaitsburgerlichen“ Gruppe unter der da-
maligen Zeitschriftenliteratur für die Bildung einer öffentlichen Mei-
nung über Katharina ll., wie wir sahen, keineswegs unterschaben darf,
so kommt speziell für die zeitgenössische Beurteilung von Katharinas
auswartiger Politik den Journalen mit ausgesprocheneren außenpoli-
10) Es waren dies Katharinas „Aufsäbe betreffend die russische Ge-
schichte“, mehrere ihrer kleinen Schriften, ihre Märchen und moralischen
Erzählungen. Vgl. Bilbasov, Weltliteratur, Bd. I Nr. 414, 435, 455, 457, 482,
542, 549. Für die Wirkung dieser Schriften Katharinas in Deutschland ist es
bezeichnend, daß sich Musäus in der Vorrede zu seinen „Volksmärchen der
Deutschen“ bei der Rechtfertigung des Erscheinens seines Märchenbandes
auf Katharına als Vorgängerin beruft. Vgl. die Ausgabe der Musäusschen
an n S Leyenschen Sammlung: Märchen der Weltliteratur. Bd.!
1912), S.
11) Vgl. F. Ebin: Die Freiheit der öffentlichen Meinung unter der Regie-
rung Friedrichs des Großen. In Forschungen z. brandenb.-preuß. Gesch.
Bd. XXXIII (1921), S. 36 u. 107: „Alle künftigen Ereignisse im russisch-
türkischen Kriege mußten auf Befehl des Königs in russischer Beleuchtung
erscheinen. — Vgl. auch E. Widdecke: Geschichte der Haude und Spener-
schen Zeitung (1734—1874). (1925), S. 66. — Vgl. ferner Arend Buchholz:
Pic 5 Zeitung. Geschichtliche Rückblicke auf drei Jahrhunderte.
1904), S. 48 fl.
12) Vgl. Alexander Brückner: Katharina die Zweite. (1893), S. 591.
218
tischen Tendenzen naturgemäß noch eine weit größere Bedeutung zu.
Das einflußreichste von ihnen, das „Hamburger Politische Journal", ist
schon genannt worden. Es wurde 1781—1804 von Gottlob Benedict
Schirach (1743 — 1804), vordem Geschichtsprofessor an der Universität
Helmstedt, herausgegeben und spielte dank seiner geschickten
Schriftleitung und dank der für die damalige Zeit doch recht groß-
zügigen Organisation seines weitverzweigten Mitarbeiterstabes, der
sich aus Korrespondenten in allen namhafteren deutschen Städten
zusammensebte, unter den Gebildeten der damaligen deutschen
öffentlichen Meinung eine sehr beträchtliche Rolle. Wie hoch die
Machthaber jener Tage seinen Einfluß bewerteten, zeigt u. a. die
Tatsache, daß Maria Theresia den Herausgeber in den Adelsstand
erhob. Anfangs den liberalen Ideen der Zeit mindestens nicht feind-
lich, ließen seine guien Beziehungen zu den gekrönten Häuptern
Schirach immer mehr in ein reaktionäres Fahrwasser einlaufen, ohne
daß dadurch die Nachfrage nach seiner Zeitschrift gelitten hätte.
Trotz der Begeisterung, die der Ausbruch der französischen Revo-
lution überall in Deutschland weckte, fanden seine Hefte, in denen
er 1789 die deutschen Fürsten zur Unterdrückung der Revolution auf-
rief, einen so reißenden Abgang, daß ein Neudruck derselben nötig.
wurde. 1790 hatte es von allen politischen Schriften Deutschlands
zweifelsohne die größte Auflage**). Das Rußland Katharinas über das
Schirach dauernd und regelmäßig berichtete, erscheint in seiner
Zeitschrift geradezu als ein Wunderland von ungeahnten und un-
begrenzten Möglichkeiten. Eine ähnliche Gesinnung wie das „Ham-
burger Politische Journal“ zeigte bei geringerer Wirkung das von
dem historisch geschulten Karl Renatus Hausen) und dem staats-
wirtschaftlichen Schriftsteller Ferdinand Lüder:°) redigierte „Historische
Portefeuille zur Kenntnis der gegenwärtigen und vergangenen Zeit"
nn 1789), das ebenfalls ziemlich regelmäßig Artikel über Rußland
brachte.
Unter den weniger zahmen und weit weniger höfisch eingestellten
süddeutschen journalisten traten in der zweiten Hälfte des achtzehn-
ten Jahrhunderts besonders hervor die beiden Schwaben Christian
Friedrich Daniel Schubart (1739—91), der Herausgeber der „Deutschen
Chronik“ (1774—77), die er nach seiner Entlassung aus der zehn-
jährigen Haft auf dem Hohen Asperg als ,,Vaterlandische Chronik“
(1787—91) fortführte:"), und der geniale Pamphletist Wilhelm Ludwig
Wekhrlin (1739—92).
Beide, trob ihrer Stammesbrüderschaft und Gleichaltrigkeit, nach
Anlage, Charakter, Temperament, Gesinnung, Haltung, Überzeugungs-
18) Vgl. Allg. deutsche Biographie. Bd. XXXI (1890), S. 307.
2 a Ludwig Salomon: Gesch. des deutschen Zeitungswesens. Bd. 111900),
18) Vgi. Allg. deutsche Biographie. Bd. XI (1880), S. 87.
10) Ebd. Bd. XIX (1884), S. 377.
17) Vgl. E. Schairer: Daniel Schubart als politischer Journalist. Diss.
phil. Tübingen 1914.
219
treue, Blick für Realitäten usw., kurz in jeder Beziehung Antipoden.
Die ewige Geistestrunkenheit Schubaris des „Kraffbarden“, wie
Wekhrlin spottete, läßt sich wohl nicht leicht glücklicher charakteri-
sieren, als das Robert Franz Arnold in seiner „Geschichte der deut-
schen Polenliteratur‘:®) getan hat: „In verzückter Betrachtung der
Tagesereignisse schuf er rund um sich ein Pantheon und opferie
vor jedem Aliar..... Mit der großen Carin trieb er einen förmlichen
Kultus, der sich in allen möglichen biblischen, mythologischen, histo-
rischen Parallelen erschöpft. So oft er von Rußland spricht, erzeugt
dumpfes Furchigefuhl, gepaart mit jener Bewunderung für alles
Grandiose, in seinem Geist eine Flut kühner Metaphern ..... Was
die Midashand des schwäbischen Chronisten berührt, alles wird zu
poetischem Gold.... und so, je nach Laune den Gesichtspunkt wech-
selnd, bringt er es fertig, gleichzeitig Russen- und Turkenlieder zu
dichten.“
Ungleich moderner als Schubart — moderner im Sinne des Jour-
nalismus aus der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts —
erscheint Wekhrlin. Sein letzter Biograph hat die tiefe Verschieden-
heit in der Anlage und der Bildung der beiden schwäbischen Zeitungs-
schreiber: des „leichten, geistreichen, freigeistigen und aristokratisch
gesinnten“ Wekhrlin und des ,,pathetischen, frommeinden, demokra-
tischen, volkstümlichen“ Schubart auf die vielleicht etwas zu einfache
Formel gebracht: „Es war ein Gegensatz wie zwischen Wieland und
Klopstock:®).“ Denn was den Vergleich Wekhrlins mit Wieland recht-
fertigt, beruht doch in der Hauptsache nur darauf, daß die Bildung
beider durchaus im Französischen wurzelt. Wekhrlin hatte, wie er
selbst sagi, seinen Geist „größtenteils an der Quelle der gallischen
Pieriden genährt“*) und an den Vorbildern seiner französischen
Lieblingsautoren Montaigne, Montesquieu, Voltaire, Diderot, Galiani,
Raynal, Mercier gelernt, seinen Hang zu Humor, Witz und Satire zu
jener Vielseitigkeit, Fülle, Tiefe und Treffsicherheit zu entwickeln,
„die von keinem zeitgenössischen Schrifisteller, Lichtenberg aus-
genommen, überboten wurden‘). Deutlicher hat wohl G. Grupp den
Unterschied zwischen Schubart und Wekhrlin zur Anschauung ge-
bracht, wenn er sagt: „Er war in ersier Linie Literat, Freigeist und
Schöngeist. Der politische Trieb beherrschte sein Leben, und dieser
Grundzug gibt ihm ein einheitlicheres Gepräge als dem seiner aben-
teuernden Landsleute?®).“ Auch das nähert Wekhrlin den journa-
listen des neunzehnien Jahrhunderts, daß er ausschließlich von der
Zeitung lebte). So kurzlebig die meisten seiner Zeitungsunter-
18) Bd. I (1900), S. 78.
10) Gottfried Böhm: Ludwig Wekhrlin. Ein Publizistenleben des acht-
zehnten Jahrhunderts. (1893), S. 238.
20) Chronologen, Jg. 1782, Bd. IV, S. 39.
21) F. W. Ebeling: W. L. Wekhrlin. Leben und Auswahl seiner Schriften.
(1869), S. 7.
22) Literatentum der Aufklarungszeit, a. a. O. S. 383.
23) Ebd. S. 382.
220
nehmen, wie die „Chronologen“ (1779-81), das „Graue Ungeheuer“
(1784—87), die „Hyperboräischen Briefe“ (1788—90), die „Paragrafen“
(1791), waren, er hat immer aus ihnen seinen Lebensunterhalt schlechi
und recht zu bestreiten vermocht.
Als „Erben“ Wekhrlins hat sich ein anderer Siiddeutscher, der
Franke Andreas Georg Friedrich Rebmann aus Jugenheim*!) (1760 bis
1824) betrachtet und seine geistige Abhangigkeit von ihm mit Vor-
liebe dadurch bezeugt, daß er die Titel Wekhrlinscher Journale und
Broschüren für seine Zeitschriften und sonstigen publizistischen
Machwerke übernahm. Aber seine geistige Physiognomie ist der
Wekhrlins doch nur von ferne betrachiet ähnlih. Wie sein sprach-
liches und stilistisches Niveau ein wesentlich niedrigeres ist als das
Wekhrlinsche, so erscheinen auch seine geistigen Züge neben denen
Wekhrlins karikaturenhaft verzerrt. Wekhrlin war ein geradliniger,
aufrechter, von leidenschaftlichem Unabhängigkeitsgefühl erfüllter
Mensch. Rebmann, eine dem Magister Laukhard verwandie Natur,
gehört zu jenen zweifelhaften, brüchigen, hali- und hemmungslos
umhergeworfenen Existenzen, an denen auch in Deutschland das
stürmische Jahrhundertende nicht arm war).
Ein so fanatischer Kämpfer „für jede Revolution und gegen fast
jeden Thron“ fühlte natürlich häufig genug Veranlassung, sich in
seinen zahlreichen und kurzlebigen Zeitschriften: dem „Neuen Grauen
Ungeheuer“ (1795), der „Schildwache“ (1796), der „Geißel“ (1797), der
„Neuen Schildwache“ (1798) und dem „Obskuranfen- Almanach“
(1797 1800) mit der russischen Carin, der lezten Repräsentantin des
ausgehenden aufgeklärten Absolutismus großen Stiles, auseinander-
zusetzen.
Stellen wir uns nach dieser subjektivsien aller Berichterstattungen
auf den Boden einer objektiveren, so haben wir in unserer Überschau
der deutschen Journalliteratur schließlich noch zweier Zeitschriften
zu gedenken, die stärker als die bisher genannten wissenschaftliche
Ziele verfolgen. Die „Minerva“, ein Journal historischen und poli-
tischen Inhalts (1798 — 1809), geleitet von dem ehemaligen Hauptmann
der friderizianischen Armee und ersten Geschichtsschreiber des
Siebenjährigen Krieges Johann Wilhelm von Archenholz*) aus Lang-
fuhr bei Danzig (1741—1812), der sich schon vorher als Redakteur
der wissenschaftlichen Monatsschrift „Literatur- und Völkerkunde“
(1782—86) („Neue Literatur- und Völkerkunde“, 1787—91) versucht
hatte, sollte vorzüglich der neuesten Geschichte aller Länder gewidmet
sein, brachte aber dann zumeist nur Materialien zur Geschichte der
französischen Revolution. Erst nach seiner Rückkehr von Frankreich
34) Vgl. N. v. Wrasky: A. G. F. Rebmann. Leben und Werke eines
Publizisten zur Zeit der großen französischen Revolution. Diss. phil. Heidel-
berg 1907, S. 3.
26) Vgl. auch dafür Arnold, Polenliteratur, a. a. O. S. 161 fl.
38) Vgl. Friedrich Ruof: Johann Wilhelm von Archenholz. Ein deutscher
Schriftsteller zur Zeit der französischen Revolution (11741 1812). E. Eberings
Historische Studien, Heft 131 (1915), S. 44 f.
221
nach Deutschland griff Archenholz auf den anfänglichen Plan zurück
und brachte auch wieder andere Beiträge zur Zeitgeschichte. Für
das Urteil der deutschen Zeitgenossen über Katharina Il. ist die
„Minerva“ vor allem durch die Biographie des carischen Günstlings
Potemkim aus der Feder des sächsischen Legationsrates Helbig,
eines der unterrichtetsten damaligen Rußlandkenner, wichtig ge-
worden, um von anderen interessanten und aufschlußreichen Artikeln
ganz zu schweigen.
Noch mehr wissenschaftlich eingestellt und dem Charakter
unserer heutigen wissenschaftlichen Fachzeitschriften doch schon
recht nahe kommend, war das von einem der berühmtesten Geo-
graphen des Jahrhunderts, Anton Friedrich Büsching, herausgegebene
„Magazin für die neuere Geschichte und Geographie“, das von 1767
bis 1793 in 27 Bänden erschien. Büsching war zweimal in Rußland
gewesen, zuerst 1750 als Hauslehrer in der Familie des dänischen
Ministerresidenten Grafen Lynar, das andere Mal als Pastor der
lutherischen Gemeinde in Petersburg in den ersten Regierungsjahren
Katharinas Il. (1761—65). Unterstüßt und gefördert von maßgebenden
Persönlichkeiten wie dem Herzoge von Kurland, dem Feldmarschall
Münnich und dem Grafen Johann Jacob Sievers, dem aufgeklärten
Staatsmanne Katharinas ll., hatte er während seines Aufenthaltes in
Petersburg umfangreiche Sammlungen historischen, geographischen
und statistischen Materials anlegen können. Einen großen Teil dieser
Materialien, die die Hauptquellen für seine „Erdbeschreibung“
bildeten, hat er nach seiner Rückkehr nach Deutschland in seinem
„Magazin“ veröffentlicht, das zweifellos die genauesten, zuverlässig-
sten und reichhaltigsten Nachrichten enthält, die wir aus jenen Tagen
über Rußland besiken. Vollkommen erfüllte sich daher für seine
Zeit, was er sich im Vorworte zum dritten Bande des „Magazins“,
der vornehmlich der Geschichte Rußlands gewidmet ist, zum Ziel
steckte: „Der Staatsverfassung und neueren Geschichte dieses Reichs
die Aufklärung zu verschaffen, die es bisher nicht gehabt hat?”).'
Was den Quellenwert des in den deutschen Zeitschriften des
achtzehnten Jahrhunderts mitgeteilten Materials über Rußland betrifft,
so war dieser natürlich in den einzelnen Fällen ein sehr verschieden-
arhger. Die Rußlandartikel der kleineren Journale waren wohl nicht
allzu häufig „Originalbeifräge“, sondern aus der bereits gedruckten
Rußlandliteratur geschopft. Als willkommene Hilfsmittel für solche
Zwecke boten sich an das viel zitierte, von dem deutschen Überscker
der Werke Katharinas Il. C. G. Arndt herausgegebene „St. Peters-
` burger journal“ (1776—80), fortgesetzt als „Neues St. Petersburger
Journal” (1781—84), an dem auch Katharina selber mitarbeitete, oder
die von 1781—91 in Riga erscheinenden „Nordischen Miscellaneen“
(„Neue Nordische Miscellaneen“ 1792—98) des Pastors August Wil-
helm Hupel (1737— 1819):®), dessen Mitteilungen sich allerdings über-
37) Magazin, Jg. 1770. Bd. Ill. Vorrede. — Vgl. auch A. P. Büschings
Lebensgeschichte. (1789), passim. _
28) Vgl. Allg. Deutsche Biographie. Bd. XIII (1880), S. 422.
222
wiegend auf die Ostseeprovinzen bezogen. Beide, von denen die
eine sozusagen unter der Aufsicht Katharinas entstand, die andere
sich des Beifalls der Kaiserin rühmen durfte, waren von vornherein
auf Auslandwirkung berechnet, haben jedoch auf die Dauer ihren
Zweck nicht erfüllt).
Ein wesentlich höherer Wert kommt den Rußlandartikeln der
größeren deutschen Zeitschriften zu. Der weitaus größere Teil von
ihnen stammte doch wohl von Leuten, die Rußland aus eigener An-
schauung kannten; der Rest gewöhnlich von Gelehrten, die min-
destens mit der vorhandenen Rußlandliteratur wohlvertraut waren.
Die fortlaufenden Türkenkriegsberichte des „Politischen Journals“
können für ihre Zeit den Anspruch erheben, als gründliche Kriegs-
berichterstattung zu gelten. Sie berücksichtigen sorgfältig alles be-
kannt gewordene Material, in erster Linie natürlich das offizielle: die
Manifeste und Proklamationen der beiden kriegführenden Parteien.
Die zeitgenössische historiographische und biographische Literatur
hat aus eigenem Besitz selten etwas herausgebracht, was die Rub-
landkenninis des damaligen Deutschlands wesentlich gefördert hätte.
Sie betrachtete dieses gewöhnlich als Quelle, die sie in der Regel
ziemlich kritiklos benubte oder wohl gar einfach wörtlich ausschrieb.
Infolgedessen geht man kaum fehl, wenn man den Quellenwert der
Rußlandberichte in den größeren deutschen Zeitschriften höher ein-
schätzt als den der übrigen Erzeugnisse der damaligen deutschen
Publizistik, die Reisebeschreibungen im engeren Sinne ausgenommen.
Hannöversches Magazin.
. 1765. Rußlands vorteilhafte Lage zum Handel nach Ostindien.
.1774. Untersuchung über die Veränderungen, welche bis auf unsere
Zeiten in der russischen Oesebgebung vorgenommen sind.
.1779. Zustand der Chirurgie und Musik bei der russischen Armee.
g. 1780. Assemblee, Gesetze beschrieben von Wehrs.
1781. Bemerkungen über das Klima von King.
über die Einwohner Rußlands.
jg. 1786. Pallas, Beschreibung des Schlangenberges, des vorzüglichsten
russischen Bergwerkes.
2 1788. EIwas über die Russen und Türken.
1789. Eine bei dem Blutbade von Oczakow im Dezember 1788 gemachte
Bemerkung. Aus den Briefen eines russischen Offiziers.
Von Müller: Katharina befichit statt unterthänigster Knecht ge-
treuester Unterthan zu sagen.
journal des Luxus und der Moden.
Jo. 1791. Uber Rußland, seine Landesart, Sitten, Luxus, Moden und Ergob-
lichkeiten.
Deuisches Museum.
Ja. 1776. Nachricht von der Expedition des Prof. Lowiz in Astrachan, der
daselbst astronomische Beobachtungen anstellen sollte, von
Inochodzew.
Catharina Il. Ein Gemald ohne Schatten (Fr. Karl Moser).
über die Volksmenge.
se) Vgl. Bilbasov, Weltliteratur, a. a. O. Bd. I, S. 555.
15 NF 85 993
Jg. 1777. Rußlands auswärtiger Handel, beschrieben von Prof. Güldenstädt,
mit Anmerkungen konzentrieret von Ch. Dohm.
2 1782. Zustand der russischen Bergwerke.
g. 1783. Petersburgs neuester Handel.
Jg. 1786 f. Joach. Ch. Schulz, Aphorismen zur Kunde der kaiserlichen Staaten.
Goltingesches Magazin.
Jg. 3. Bemerkungen auf einer Reise von Petersburg nach der Krym.
Teutscher Mercur.
9.1774. Merkwürdigkeiten der russischen Volkerschaften aus Pallas.
9.1782. Einige nähere Umstände über den Guß von Peters Bildsäule.
Jg. 1789. Uber die esthnischen und russischen Bäder, von J. Bellermann.
Historisch-literarisches Magazin.
Ja. 1786. F. Ch. Jebe, Beitrag zu Katharinas Universalglossarium.
Ephemeriden der Menschheit.
Jg. 1776. Erziehungsanstalten in Rußland.
inschränkung gerichtlicher Instanzen.
a 1776. Handelsertrag in den Jahren 1760, 1768, 1775.
g. 1781. As kais. Verordnung über die Verwaltung der Gouver-
nementer.
An die kaiserliche Akademie der Wissensch. in re
Neue Anstalten zu Petersburg zur Beförderung der Wissen-
schaften und Künste.
Jo. 1782. Entwurf der bewaffneten Neutralität.
Polizeiverordnung für Katholiken.
Ja. 1785. Rußlands geographische Veränderungen.
Rußlands Knospen zu seinem künftigen Flor.
Russ. kais. Manifest bei Errichtung der Statue Peters d. Großen.
Etwas neues von der russischen Landwirtschaft.
Ja. 1784. Medizinalverfassung von Rußland, von J. C. S. aus Herren Hofrath
Baldingers neuem Magazin für Arzte Bd. VI, Stück 1, S. 9. .
Deutsche Monaisschrift.
Ja. 1793. Uber die öffentliche Sicherheit in St. Petersburg, von H. Storch.
eudenfest Peters d. Großen, von v. Wackerbart.
Lebensgenuß in St. Petersburg.
Berlinische Monaitsschrift.
Ja. 1783. Beitrag zur Charakteristik des russischen Hofes.
Ja. 1785. Nachrichten über die Jesuiten in Rußland.
Jo. 1787 f. Nachricht vom russischen Seekriege wider die Türken in den
Jahren 1769—1773.
Jg. 1788. Schreiben Katharinas Il. an Frau v. d. Recke.
Jg. 1789. 1 und Zustand der Jesuiten aus ihrem eigenen Staats-
alender.
Allgemeine deutsche Biblloihek!).
Bd. 54. 11,329. Nachricht von verschiedenen Völkern.
Bd. 60. 1,304. Katharina die Große lieset die A. d. B. u. a. deutsche
Schriften mit Vergnügen.
Bd.61.11,523. Beim Schulwesen soll ein höchst schädlicher Universal-
schuldespotismus herrschen.
Bd.63. 1,189. Mangel an Ärzten.
Bd. 66. I, 7f. Geseke wider Beschimpfungen.
Bd. 69. I, 7. Peter Ill. von Rußland, über seine große Liebe zum un-
mäßigen Trinken.
1) Hier sind nur die selbständigen Artikel aufgenommen, nicht aber die
auf die Rußlandliteratur bezüglichen Kritiken.
224
Bd.76. I, 3f. Beiträge zur topographischen Kenntnis dieses Reiches.
Bd. 79. 1,188. Kirchliche Statistik, welche von dem geg egenwärtigen kirch-
lichen Zustande dieses Reichs gute Nachrichten gibt.
Bd. 80. Il, 509. Unterstiibung Rußlands mit Geld und Offizieren durch
Preußen im vorigen Türkenkriege.
Bd. 86. 1,202. Ruglands Handel nach China
1, 261. ene die Oleichheit der Stande wiederhergestellt
Anhang V.2,1026. Rußlands berühmte Uneigennübigkeit wird bezweifelt.
Bd. 95. 11,341. Von Rußland und Österreich fiirchtet man, daß sie die
Freiheit schwächerer Staaten bedrohen.
Bd.105. J, 166 . Die Kronbauern besitzen kein erbliches Land.
Bd. 111.11, 530. Der Russen Anhanglichkeit an alte Gebräuche und Ab-
neigung gegen neue.
Il. Bi. n Kriege und Eroberungssucht schädigen den
andel.
Bd. 112. 1,165. Leibeigenschaft in Rußland.
Il, 507. Oewissensfreiheit in Rußland.
II. 508 f. Verteilung von Amtern ohne Rücksicht auf die Religion.
Hamburger Politisches journal.
Dauernde Berichte:
1. Allgemeiner Bericht von den politischen Merkwürdigkeiten und
Begebenheiten.
2. Nachrichten von verschiedenen Ländern.
Jo. 1783. Kriegsgeschichte. Anfang der Feindseligkeiten zwischen Rußland
und den Tataren.
Manifest der Kaiserin von Rußland bei Besisnehmung der Krym.
Kurze Beschreibung der Krym und der Kubanischen Tatarey.
An Katharina, Rußlands große Kaiserin, ein Gedicht.
Jg. 1784. Genauere Geschichte der russ. u. türk. friedlich geschlossenen
und österr. und türk. fortgehenden Negotiationen.
Jg. 1786. Schreiben des Herrn v. Kosodowlew aus St. Petersburg an den
Herrn v. Thümmel von den Schulanstalten und anderen merkwür-
digen neuen Einrichtungen in Rußland.
Jg. 1787. Vorfälle zwischen den Russen und Tataren und in Georgien und
Ägypten. Russ.-türk. Angelegenheiten.
Reise der russischen Kaiserin nach Kiew.
Briefe aus St. Petersburg.
Liste der Volksmenge in Rußland nach der neuesten Zählung in
allen Gouvernements.
a des römischen Kaisers und der russischen Kaiserin nach
erson.
Kriegserklärung der oflomanischen Pforte gegen Rußland.
Hung Fortgesebte Geschichte. S. auch Jg. 1788, 1789,
Ja. 1788. Wahre Darstellung von dem Betragen der Kaiserin in Angelegen-
heiten der Krym.
ja. 1796. Tod der Kaiserin; Hist. stat. Schattenriß von ihr und Rußland unter.
ihrer Regierung.
Hamburger Adreß-Comtoir-Nachrichien.
Jg. 1784. Nr. 13—16. C. D. Ebelings kurze Schilderung an gegenwärtigen
Gouvernementisverfassung des russischen Nei
Hislorisches Portefeuille.
Dauernder Bericht: Abriß der Begebenheiten.
Jo. 1786. Uber Rania ands Ärzte und medizinische Anstalten.
Be der u Tea im russischen Reich. Ein ungedruckter Auf-
sab aus
225
Übersicht der Vor- und Nachfeile, welche für Rußland durch die
Besitznehmung der Krym entstehen können.
Fabricius: Ungedruckte Briefe auf einer Reise durch Rußland im
Jahre 1786.
Jg. 1787. Fabricius: Ungedruckte Briefe usw.
Etat der Reichsleihebank in Petersburg.
Krieg zwischen Rußland und der osmanischen Pforte. S. auch
Jg. 1788, 1789.
jg. 1788. Bemerkungen über die russische gegen die Türken ziehende
Armee. Aus den Briefen eines bei derselben befindlichen Offiziers.
Briefe über den bevorstehenden Türkenkrieg zur Aufklärung des
zeitigen europäischen Handlungssystems.
Krieg der beiden Kaiserhofe gegen die osmanische Pforte.
Krieg zwischen Rußland und Schweden.
Russische und schwedische Ministerialschriften.
Deutsche Chronik.
Jg. 1774. Türkengesang. — Pugatschew. — Schlachigesang eines russischen
Grenadiers nach der Schlacht bei Chocim.
Jg. 1775. Rußland.
Vaterlandische Chronik.
Jo. 1787. Auszug in den Krieg. — Ein Bild aus dem Türkenkrieg. — Weis-
sagung Mahomeds.
Jg. 1788. Schlachtruf eines Ungarn. — Kriegsblicke. — Polen. — Moskovia.
— Gang des Türkenkrieges.
Jg. 1789. Otschekof: Ein russisches Siegeslied. — Der Kriegsdamon. —
Rußlands Entwicklung. — Rußland. — Katharina. — Hinblick auf
das sterbende Jahr 1789.
Jg. 1790. Katharina. — Friede.
Jg. 1791. Sistovo. — Vom Türkenfrieden: Geschlossen, geschlossen der
wütige Kampf.
Chronologen.
Ja. 1779. Russische Anekdoten.
Das graue Ungeheuer.
Ja. 1787. Kriegsgeräusche. 3 Briefe aus Rußland, Österreich, der Türkei.
Rußland und die Türken.
Hyperboraische Briefe.
Jg. 1788. Mentor an Egisth: Uber den Tod Peters Ill. u
Dragut an Resinowics, Zween Dragusanische Pafrizier: Uber
den Krieg.
Ja. 1789. Kultur und Barbarei.
Markulf an Rhynsold: Für den Liebhaber.
Rhynsold an Markulf: Zur Antwort.
Palinodie.
A. Schlözers Briefwechsel meist historischen und politischen Inhalis.
Heft 1. Stadt-, Dorf-, Diözesen-, Kirchen-, Manufakturen-, Bauernmenge
nach Peters d. Gr. Tode.
Heft 2. Truppenbesoldungswesen im Jahre 1762. .
Heft J. Abgabenzahlung aller kopfsteuernden männlichen Einwohner im
anre 1725, 1745, 1766. ,
Heft 4. erzeichnis der seit 1763 an der Wolga angelegten Kolonien.
Heft 5. Darstellung der Zunahme des Handels Rupana im 18. Jahrhundert.
Heft 8. Kirchenlisten der Provinz Nowgorod. — lands Holzhandel. —
Uber die Akademie der Wissenschaften in Petersburg.
Heft 11. Uber Petersburgs Handel, Größe, Rußlands Einkünfte, Land- und
Seemacht aus Reisenachrichten. i .
Heft 19. Extrait des remarques, qu'un voyageur a fait 1774 sur la Russie.
226
Heft 31. Volksmenge und Einkünfte der von Polen erhaltenen Provinzen.
Heft 48. rnal der russischen Flotte in der Levante 1770—74.
Heft 60. der Arzte, Aufwand im Innern des Landes, deutsche Be-
dente, Branntweinseinkinfte, Pockeninoculation, Papiergeld,
erende Städte.
A. Schlözers Staatsanzeigen.
Heft 11. Russische Schulprojekte. Vgl. Heft 17.
Heft 19. Russische Volksschulen.
Heft 20. Rußland er\.bert Konstantinopel nach einer alien Weissagung.
Heft 27. Errichtung des Gouvernements Riga und Reval betreffend.
Heft 37. Neue Kanäle.
Heft 46. Uber Schwedens Krieg mit Rußland 1741 und 1788.
Heft 48. Zustand des Schulwesens.
Heft 49. Rußlands Verhältnisse gegen Schweden.
Manifest das Papiergeld betreffend.
Archenholz’ Minerva.
jo. 1797. Justizpfiege in einigen russischen Provinzen.
.1798. Historische Züge und Nachrichten zur Lebens- und Regierungs-
geschichte der Kaiserin Katharina Il. gehörig.
Das neue graue lingeheuer.
Jo. 1798. Fragment einer Reise durch Rußland und Polen.
Neue nordische Miscellaneen.
Bd. 1/2. Uber die im russischen Reich gebräuchlichen Strafen.
Katharina Il.: Etwas von ihrem Charakter.
Bd. 3/4. Eine ruhmwürdige Privatanstalt für arme Kranke in St. Pbg.
Bd. 7/8. Welches sind die vorteilhaftesten Manufaktur- und Fabrikbeschäf-
figungen in Rußland? Von Herrn Hofrat Müller.
1 8 8 5 fl. Ihre vorteilhaften und weisen Einrichtungen des
andels.
Bd. 13. Katharinas Grogmut gegen Gelehrte.
Forigesegie neue genealogische Nachrichien.
Ja. 1762. Die ersten Handlungen des neuen russischen Kaisers. — Die
merkwürdige Regierungsgeschichte des Kaisers Petri Ill. — Die
Entthronung des russischen Kaisers Peter Ill. und dessen darauf
erfolgtes Ende.
Rigische Anzeigen.
Jo. 1765. St.27. Joh. G. Herder, Gedicht auf Catharinas Thronbesteigung. —
Lobgesang auf Catharina am Neujahrsfeste = in: Gelehrte
Beyträge zu den Rigischen Anzeigen 1765 St.
227
MISCELLEN
POLNISCHE STUDENTEN IN FRANKFURT
Von
Theodor Wotschke.
Im April 1506 wurde unfern der polnischen Grenze eine neue deutsche
Hochschule, die Viadrina, eröffnet. Sie sollte die Landesuniversitat des
Kurstaates Brandenburg sein, aber auch die Studenten des Ostens ab-
fangen, die die deutschen Hochschulen, besonders Leipzig und die vor
wenigen Jahren erst gegründete Leucorea besuchen wollten. Es ist ihr doch
nicht geglückt. Ihre Ablehnung der Reformation und die wunderbare Ent-
wicklung Wittenbergs ließ die lernbegierigen Jünglinge an ihr vorüber zur
Elbstadt ziehen, und als sie der Reformation ihre Pforten öffnete, auch
Georg Sabinus, der Schwiegersohn Melanchthons, dem Humanismus an ihr
einen Aufschwung gab, kehrten sie wohl bei ihr ein, aber doch nur um
bald weiterzuziehen, Wittenberg und Leipzig zuzustreben, da Lehrkräfte
fehlten, die sie dauernd hätten fesseln können. Als sie nach einem jahr-
hundert reformierten Charakter erhielt, steigerte sich ihre Anziehungskraft
für die Anhänger Calvins, aber schon war deren Zahl in Polen so stark
zurückgegangen, daß sie jährlich eine größere Zahl von Studenten nicht
mehr stellen konnten. Immerhin war Frankfurt ein bedeutender Kulturfaktor
für den Osten, die deutsche Universität, die selbst im 17. und 18. Jahrhundert
neben Königsberg noch etliche Studenten aus Polen aufsuchten. Diese
waren an der Oder noch zu finden, als sie in Leipzig und Wittenberg schon
wieder eine ganz unbekannte Erscheinung geworden waren. Unbemittelte
polnische Studenten lockten ja auch die Stipendien, die hier wie am
Joachimstaler Gymnasium für sie gestiftet waren. Ein interessantes Bild,
die Wogen polnischen Zuzugs in Frankfurt zu beobachten, zu verfolgen,
wie diese in 300 Jahren auf- und niedergingen.
Natürlich lockte die neue Universität zunächst die deutschen Bürger-
söhne in den Städten Großpolens. Schon im ersten Jahre ihres Bestehens
ließen sich an ihr zwei Posener einschreiben. Ihnen folgten Meseritzer.
Schweriner, 1520 auch zwei Krakauer aus den bekannten Familien der
Schilling und Gutteter. Einige Posener seien mit Namen genannt: Stanis-
laus von Watt, der Sohn des Schöffen Konrad von Watt, eines Bruders des
beruhmten Vadian, des Humanisten, Reformators und Geschichtschreibers
von St. Gallen, der sich in Großpolens Hauptstadt niedergelassen, aber die
Verbindung mit seinen Schweizer Verwandten immer aufrechterhalten,
Herbst 1518 auch den Besuch seines berühmten Bruders in Posen emp-
fangen hatte, ferner Kaspar Lindner, der Patriziersohn, auf dessen Stirn,
mit dem Humanisten Andreas Trzecieski zu reden, der heilige Lorbeer
grünte, ein Mediziner, der doch auch für die Sprachen das regste Interesse
hatte, noch mehr fur die große religiöse Frage, der Freund der Witten-
berger, der Korrespondent des Wittenbergers Paul Eber, schließlich die
Brüder und Vettern Ridt, die Söhne der Kaufherren Zacharias und Hierony-
mus Ridt, der reichsten Posener. Von ihnen hat Christoph Ridt (1568 Frank-
furter Student, t 3. Februar 1606) seinen Namen tief in die Posener Ge-
228
schichte eingegraben. Auch die polnisch-katholische Sage hat sich seiner
bemächtigt. Ausgehend von seinem Wappentier, der Rüde in seinem
Ritterschilde, läßt sie ihn nach seinem Tode in einen wilden Wolf ver-
wandelt werden und ruhelos umherirren. Den Posener deutschen Burger-
söhnen stelle ich zur Seite einen deutschen Bürgersohn aus Neustadt bei
Pinne, Andreas Volan, der 1544 uns unter den Studenten der Viadrina be-
gegnet. Doch war er wirklich ein Deutscher? Sein Vater Johann aus
schlesischem Adelsgeschlechte hatte sich in dem kleinen polnischen
Stadtchen niedergelassen und eine Kwilecka geheiratet. Als Sohn einer
polnischen Mutter und in polnischer Umgebung aufgewachsen, wird er sich
als Pole gefühlt haben. Er hat 1550 noch in Königsberg aus deutschem
Geistesleben geschöpft. In Litauen, wohin ihn sein Onkel Hieronymus Kwi-
lecki, der Verwalter der Güter der Königin Bona Sforza, gezogen, ist er
der Führer der Reformierten geworden, ihr leitender Theologe, unermüdlich
die Feder führend im Glaubenskampfe, zugleich der Vater eines Theologen-
geschlechtes, dessen Söhne noch nach zwei Jahrhunderten ihre Schritte zur
Hochschule an der Oder lenkten. Vor allem aber müssen wir einen Frau-
städter Schuhmachersohn nennen, den Frankfurt 1581 neben Leipzig ge-
bildet hat, Valerius Herberger, den größten und bekanntesten deutschen
Prediger im alten Polen, den frommen Schriftsteller und Dichter, dessen
Lied: „Valet will ich dir geben, du arge, bose Welt“ in jedem evangelischen
deutschen Gesangbuche sich findet, auch in unzählige Sprachen übersebt ist.
Ein Franzose Spak hat Volan in seiner Jugend unterrichtet, deshalb
wollen wir hier zwei Franzosen nennen, die in Frankfurt rasteten, hier
lehrten und lernten, ehe sie den Wanderstab nach Polen weitersebten, um
hier eine Lebensstellung zu gewinnen: Antonius Felix aus Poitou, 1524 an
der Viadrina immatrikuliert, dann unter dem Rektor Bedermann Lehrer an
der Lubranskischen Akademie in Posen, hier freilich bald durch den Leip-
ziger Magister Christoph Hegendorf in den Schatten gestellt, und Michael
Nigonius, Doktor der Jurisprudenz, Schützling Melanchthons, durch diesen
schon 1540 Lektor in Wittenberg, 1542 in Frankfurt. Er hat in den folgenden
zwei Jahren vergebens ein Amt in Polen zu gewinnen gesucht. Seine evan-
gelische Überzeugung, über die er in seiner Heimat fast zum Märtyrer
geworden wäre, war ihm allenthalben hinderlich. Selbst der Kastellan von
Sieradz, Stanislaus Laski, konnte oder wollte ihm nicht helfen; er empfahl
ihn nach Königsberg. Auch Jost Ludwig Dieb, der bekannte Krakauer Groß-
kaufmann, Diplomat und Humanist, schrieb für ihn an den Hohenzoller im
alten Ordenslande. Den beiden Franzosen seien einige italiener zur Seite
gestellt, die Frankfurt zum Sprungbrett ihres Fortkommens in Polen zu
machen gedachten. Georgio Negri aus Chiavenna und Franco Franci aus
Conegliano in Venetien, Frankfurter Studenten 1552 und 1605. Dieser, in
dem feurig das Blut kreiste und der in tollkühnem, falschem Eliaseifer eine
Prozession störte: „Was fut Ihr, das Brot, das Ihr herumtragt, ist nicht
Gotti" erhielt doch nur die Martyrerkrone 1611 in Wilna, und jener, der
Sohn des namhaften Orientalisten Francesco Negri aus Bassano, fand ein
nicht minder tragisches Ende. Pastor der italienischen Fremdengemeinde
in Pinczow, dann schroffer Gegner der altkirchlichen Trinitätslehre und
Parteiganger seines Landsmannes Socino, ist er gleichfalls eines gewalt-
samen Todes gestorben, 1570 wurde er erschlagen. Und der, der ihn nach
Polen gebracht und hier vier Jahre überlebt hat, Francesco Stancaro aus
Mantua, der unheilvolle Zänker und Stänker, der die kleinpolnisch-evan-
gelische Kirche 1559 f. in ein Chaos verwandelt, ihre werbende Kraft ge-
brocken, dem Antifrinitarismus die Tür geöffnet, der unheilvollste Mann der
polnischen Reformationsgeschichte? Welche Stellung er 1552 und Anfang
1553 in Frankfurt eingenommen, ist nicht recht klar. Als Hörer hat er sich
an der Akademie nicht eintragen lassen, auch Universitatslehrer war er
nicht. Privatim hat er unterrichtet, unter seinen Schülern mag er auch
manchen Polen gehabt haben. Dazu ließ er bei Eichhorn seine Canones
reformationis mit Widmung an den polnischen König drucken, ein Büchlein,
nach dem die Reformfreunde im Osten in den nächsten Jahren fleißig griffen.
229
Doch nicht von Ostdeutschen, Franzosen und Italienern unter den er
furter Studenten, die sich später in Polen einen Namen gemacht
dem Geschichtsfreunde Beachtung abzwingen, wollen die folgenden Zeilen
handeln, sondern von Polen, die es zum Oderstrande zwang und die hier
ihre Ausbildung gefunden haben. Als erster von ihnen sei Lukas Jenkowski
genannt, 1526 Student der Viadrina, Erbherr auf Krzeskowice im Kreise
Samter, der Schußherr der böhmischen Brüder in Großpolen. Als einer der
ersten von den adligen Herren hat er sich ihnen angeschlossen, und mit
seinem Schwager, dem Scharfenorter Grafen Jakob, der 1532 in Leipzig
studiert hat, wohin übrigens auch Jankowski zur Vervolistandigung seiner
Frankfurter Studien 1528 gegangen ist, war er immer zur Stelle, wo es galt,
bedrängte Glaubensgenossen zu schützen, Verfolgungen von ihnen abzu-
wenden. Einen Valentin aus Samter scheint er angeregt zu haben, gleich
ihm die Studienfahrt nach Frankfurt 1535 zu unternehmen. Bedauern wir
hier, daß uns der Familienname nicht genannt wird, so haben wir auch
sonst zu klagen, daß das Frankfurter Studentenverzeichnis die polnischen
Namen zuweilen in einer Fassung bietet, daß wir unter ihnen ihre Träger
nicht immer zu erkennen vermögen. Der Albertus Apenpufi, den die Ma-
trikel noc 1533 verzeichnet, ist doch ein Pempowski, Erbherrnsohn aus
Biechowo bei Wreschen. Er ist mit seinem Bruder Christoph, den er nach
sich zog, im folgenden Jahre auch nach Wittenberg gewandert. Auch ein
dritter Pempowski, Petrus, und ein Matthias Konarzewski haben 1535 und
1536 ihre Schritte von der Viadrina zur Leucorea gelenkt. Da unter dem
4. Februar 1534 der König Sigismund das Studium in Wittenberg streng
verboten hatte, sollte vielleicht das Frankfurter Studium die Wittenberg-
fahrt verschleiern. Martin Niegolewski, der 1537 vor den Rektor trat, hat
sich durch das Verbot wohl schrecken lassen. Er ist 1545 dafür nach Leipzig
gegangen, während sein Bruder oder Vetter Stanislaus in demselben Jahre
auch die Wittenbergfahrt wagte. Erasmus Glitzner, der großpolnische Ge-
neralsuperintendent, hat ihm 1565 eine kleine Schrift gewidmet, darin er vor
den modernen Antitrinitariern warnt und ihre Verwandtschaft mit den ver-
schrieenen Erzkebern der alten Kirche nachzuweisen sucht.
Im Jahre 1538 war der gefeierte Sabinus als Professor der Poesie und
Beredsamkeit nach Frankfurt gekommen, im folgenden Jahre erhiclt die
Universität eine evangelische theologische Fakultat, die mittelalterliche
Scholastik an ihr mußte dem siegenden Geiste der Reformation und des
Humanismus weichen. Der Zuzug aus Polen beginnt nun zu wachsen. Die
Oderuniversität ist auch fortan nicht mehr bloße Durchgangsstation für die
Söhne des Ostens nach Wittenberg und Leipzig, wenn natürlich auch der
Glanz der Leucorea weiter lockte. Manch einer läßt sich doch mit dem
Studium an der Viadrina genügen. So 1542 Stanislaus Jaromirski, Johann
Grocholski und Petrus Lanczki. Dieser war ein Schützling des Meseritzer
Hauptmanns Nikolaus Myszkowski. Durch ihn erhielt er das Pfarramt auf
seinem Erbgute Spytkowice unfern der oberschlesischen Grenze, dann 1557
die ertragreiche Meserib-Schweriner Pfründe, der erste evangelische Stadt-
pfarrer dieser Städte, nachdem evangelische Prädikanten hier schon ein
Jahrzehnt und darüber im evangelischen Sinne gepredigt hatten. Im Jahre
1543 steigt die Zahl der polnischen Ankömmlinge auf zehn. Ich nenne von
ihnen Johann Jaczinski aus der Gegend von Sierads, Johann Lawski, Hiero-
nymus Konarski. Jakob Rokossowski, der noch vor ihnen sich einschreiben
ließ, hat in Laube im Fraustädter Kreise die Reformation eingeführt. Er ist
Oberschakkaémmerer geworden und ist in Krakau 1580 verstorben, hat aber
sein Grab in der damals noch evangelischen Pfarrkirche in Samter gefunden.
Noch heute zeigt das Gotteshaus sein Sandsteindenkmal. Sein Studien-
freund Stanislaus Obernicki, der Neffe des Tenutarius von Obornik Gregor
Skora von Gaj, hat in Obornik die Reformation einzuführen gesucht, freilich
damit auch 1562 ein königliches Edikt wider sich heraufbeschworen. Sein
Bruder Albert ist noch 14 Jahre nach ihm 1557 zur Viadrina gekommen, dann
aber an Wittenberg und Leipzig vorbei nach Italien gezogen. In Bologna
hat er sich am 29. April 1561 einschreiben lassen. Noch in demselben Jahre
250
wurde er Ehrenrektor dieser altberiihmten Hochschule. Der beachtens-
werteste Student des Jahres 1543 ist aber Stanislaus Ostrorog, Erbherr von
Grab und Neustadt (Lwowek), deshalb als Lwowski in die Universitäts-
matrikel eingetragen. Wenn er im Gegensabe zu seinem Bruder, dem
Scharfenorter Grafen Jakob, der 1532 in Leipzig studiert hat, ausgeprägter
Lutheraner war, also gegen die böhmischen Brüder sich ablehnend verhielt,
so dürfen wir wohl annehmen, daß die lutherische Predigt in Frankfurt einen
tiefen Eindruck auf ihn gemacht hat. Er war das Haupt der Lutheraner in
Großpolen. Im engen Anschluß an Herzog Albrecht in Königsberg suchte
er für sie zu sorgen. Synoden berief er, mit Vergerio und Melanchthon
verhandelte er, um den Gemeinden eine Kirchenordnung zu geben, für die
Ubersetzung evangelischer Schriften ins Polnische sorgte er. Durch seine
Frau Sophie Tenczynska, „die andere Placilla“, war er mit dem Reformator
Johann Laski und mit Johann Boner, dem geadelten reichen deutschen Groß-
kaufherrn in Krakau, verschwägert. Zu früh, viel zu früh für seine Kirche
ist er 1567 heimgegangen, seine beiden Sohne, die ihm nach 18jahriger
kinderloser Ehe geschenkt waren, in unmündigem Alter zurücklassend. Sie
sind dann auch andere Wege gegangen als der Vater. Johann, der Marien-
burger Hauptmann und Posener Wojewode, trat 1590 zur römischen Kirche
über, Nikolaus, der Kastellan von Belz, zählte sich zu den Reformierten, ist
selbst auf seiner Studienfahrt 1578 ff. nach Altdorf, Straßburg, Basel, Zürich
an Frankfurt vorbeigezogen, hat auch seinen Sohn, einen Schüler des Dan-
ziger Theologen Keckermann, nicht zur märkischn Hochschule, sondern 1611
nach Herborn in das Haus des Theologen Alsted gesandt. Sein katholisch
gewordener Bruder hat dagegen seinen Sohn, der auch den Namen Nikolaus
führte, 1617 nach Padua geschickt.
Im Jahre 1544 ging der Humanist Georg Sabinus, Melanchthons Schwieger-
sohn, nach Königsberg, um dort an die Spitze der neu errichteten Hoch-
schule zu treten. Die Viadrina verlor in ihm viel Anziehungskraft, 1545
suchte sie deshalb nur ein Pole auf, Christoph Politek aus Posen. Er war
ein Verwandter des kursachsischen Kanzlers Brück. Für seinen Vater Petrus
hat Melanchthon am 25. Marz dieses Jahres zur Feder gegriffen und ihn
dem Grafen Johann Tarnowski empfohlen. Seinen Stiefbruder Georg, einen
Sohn aus der zweiten Ehe des Vaters mit der Tochter des Posener Patri-
ziers Jakob Korb, Hedwig, sehen wir 1558 in Leipzig. Von den wenigen
Studenten der beiden nächsten Jahre seien Erasmus Krenski, ein Glied der
Herrenfamilie in Kranz unfern Bentschen, genannt und Johann Bukowiecki,
also Schlichting aus dem alten Herrengeschlechte in Bauchwitz (Bukowiec).
1548 zieht unsere Aufmerksamkeit auf sich Johann Powodowski. Er hal
1533 schon in Krakau studiert und lenkte nun seine Schritte noch zur Via-
drina. Vielleicht wollte er zur Lutherstadt ziehen und hat ihn der Schmalkal-
dische Krieg mit seinen Nachwehen nur bis zur Oder kommen lassen. Selbst
vorübergehend ist er wohl für die neue Lehre nicht gewonnen worden,
jedenfalls hat er als Kanonikus in Posen und Propst von Kosten alles getan,
um die evangelische Predigt in dieser damals noch halb deutschen Stadt
verstummen zu lassen, dann, als der Antitrinitarismus, wohl auch das Täufer-
tum in Kosten um sich griff, dieses zu dämpfen. Verschiedene Edikte er-
wirkte er gegen die Neuerer und zwang sie zur Abwanderung nach Schmie-
gel, wo nun die unitarische Gemeinde mächtig aufbliihte. Als Kostens
Gegenreformator muß unser Powodowski gelten. Neben ihm trat 1548 in
Frankfurt vor den Rektor Petrus Potulicki, der Sohn des Wojewoden von
Brest, der selbst zum Kastellan von Priment, Wojewoden von Plozk, Brest,
schließlich Kalisch aufstieg (+ 1589). In Murowana Goslin hat er der Refor-
mation cine Stälte geboten, seine Söhne Johann und Stanislaus 1582 nach
Wittenberg geschickt, zur Stärkung des Protestantismus in Polen enge Ver-
bindung mit Danzig und dem Herzog in Preußen unterhalten. Diesen lud
er auch ein, als er am 13. Oktober 1585 seiner Tochter die Hochzeit aus-
richtete und dabei den evangelischen Hochadel um sich versammelte. Vier
Jahre nach ihm kam zur Viadrina sein Bruder Stephan, der Gönner des
Generalsuperintendenten Gligner, schon 1572 verstorben. Noch zeigt die
251
längst wieder katholisch gewordene Kirche in Cerads bei Buk, wo er die
evangelische Predigt eingeführt hatte, seinen und seines Schwiegervaters
Andreas jankowski, der 1534 in Leipzig studiert hat, Grabsteine.
Von den weiteren Studenten des Jahres 1548 fesseln unsere Aufmerk-
samkeit Franz Gorajski und Johann Kwiatkowski, der Sproß ruhmreicher
Türkenkämpfer, der 1558 noch nach Wittenberg ging, freilich um hier der
Schwindsucht zum Opfer zu fallen. Albert Caprınus aus Buk, der 1550 durch
Frankfurts Tore zog, hatte schon in Krakau studiert, dort auch magistriert,
dort 1542 mit Widmung an den Bischof Maciejowski auch ein um
astrologicum veröffentlicht. Er hat sich später in Posen zu dem Evange-
listen Trepka gehalten, durch ihn sich auch an Herzog Albrecht gewandt und
von ihm die Mittel zu einer Studienreise nach Italien zu bekommen gesucht.
Auch an Georg Sabinus machte er sich heran. Nur kurze Zeit blieb Johann
Iwinski, dem Trzecieski in dem Ruhmeskranze, den er den polnischen evan-
gelischen Adelsgeschlechtern geflochten, ein Blatt gewidmet hat, in Frank-
furt, dann zog er weiter nach Wittenberg. Adam Brzeznicki, der sich 1552
einschreiben ließ, war der Sohn des Posener Bürgermeisters Hieronymus
Brzeznicki (t 29.3.1563) und ein Bruder des Weihbischofs Jakob B., der fünf
ahre später zur Leucorea zog, des Biographen der Posener Bischöfe.
Hat auch der dritte Bruder Hieronymus, der wie sein Vater Bürgermeister
in Posen wurde, auf einer deutschen Universität seine Ausbildung erhalten?
Ich weiß es nicht. Weitere Studenten des Jahres 1552 sind Jakob Zlotowski,
Stanislaus Starzinowski und Johann Chlapowski.
Zu den eben genannten, dic an der Viadrina ihre Studien abschlossen,
traten im folgenden Jahre (1555) nahezu 20 neue Sohne des Ostens, darunter
Hieronymus Bojanowski, später Senior der böhmischen Brüder, Christoph
5 aus der Neustadter Linie, Sohn des Kastellans von Ostriszow, und
Simon Zegocki, ferner Gabriel Splawski, drei Brüder Jaskolecki, Bartholo-
mäus Ossowski und Christoph Krajewski. Verschicdene von ihnen haben
sich nach Wittenberg gewandt, so Christoph Ostrorog mit seinem jüngeren
Bruder Martin, dem späteren Kastellan von Kamieniec. War der Albert
Kaminski aus Posen, der im Wintersemester zur Hochschule eile, ein Sohn
der bekannten Goldschmiedfamilie Kamin, ein Sohn des Meisters Erasmus,
von dem die Bibliothek des Gewerbemuseums in Berlin noch Musterblatter
besitzt? Aus angesehener Posener Familie war jedenfalls sein Kommilitone
Stanislaus Grodzicki. Sein Vater Johann hat als Bürgermeister verschiedent-
lich an der Spibe der Stadt gestanden, sein Schwager Blasius Winkler, der
Gatte seiner Schwester Hedwig, war lange einflußreicher Stadtschreiber.
Aber war die Familie auch mit dem Schweizer Konrad von Wait in Posen,
dem freudigen Anhänger der Reformation, verschwagert, sie war doch
streng katholisch, und unser Frankfurter Student Stanislaus Grodzicki ist
1571 in Rom in den Jesuitenorden getreten, der Ordensgeneral Aquaviva
sein naher Freund geworden. Er hat spater in der Heimat viele der vor-
nehmsten Familien in den Schoß der römischen Kirche zurückgeführt. Hat
er schon in Frankfurt jenen Fleiß gezeigt, der ihm später den Namen
„Bücherverschlinger“ eingetragen? 1615 ist er in seiner Vaterstadt ge-
storben. Der junge Johannes Winkler, der zwei Jahre nach ihm zur Oder-
stadt kam, war doch wohl sein Neffe. Neben ihm trat in dic Hochschule
ein, bereits von Wittenberg kommend, Martin Ostrorog, der spätere Haupt-
mann von Kowel, 1586 auch Kastellan von Kamieniec.
1555 kehrte Georg Sabin von Königsberg nach Frankfurt zurück, und
sofort stieg der polnische Zuzug. 26 junge Edelleute des Ostens ließen sich
1556 einschreiben, unter ihnen die zwei Brüderpaare Lukas und Stanislaus
und wieder Stanislaus und Johannes Koscielecki, die Söhne des Lenschiger
Wojewoden Stanislaus und des Sieradzer Wojewoden Johannes Koscielecki,
der beiden bekannten Gegner der Reformation. Der letztere aber hat seine
Söhne selbst nach Wittenberg gesandt, auch mit Melanchthon wegen eines
Lehrers für sie Briefe ausgetauscht. Dorthin zog von der Viadrina auch Thomas
Okun, der Sohn des Hauptmanns von Rawa, und Johann Gorinski, der Sohn
des Wojewoden von Masowien. Diesen beiden letzteren hat Zacharias Prä-
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torius, der namhafte neulateinische Dichter, ein Karmen gewidmet, während
Wenzel Ostrorog Stanislaus und Johann Koscielecki eine kleine Dichtung
zueignete. In Frankfurt hat man wohl nicht weniger als in Wittenberg
lateinische Verse geschmiedet und den vornehmen Herrensöhnen überreicht,
sie sind uns nur nicht mehr erhalten. Eine „Catechesis sanctorum patrum“
hat am 16. April 1556 der Frankfurter Professor Muskulus den Führern der
Lutheraner im Posener Lande Nikolaus Myszkowski, Lukas Gorka und
Stanislaus Ostrorog gewidmet. Von dem niederen Adel haben sich 1556
einschreiben lassen Albert Kodowski, Thomas Rataiski, Stanislaus Laricki,
aus Kleinpolen Ambrosius Pempowski, aus Kujawien die Brüder Philipp
und Albert Zakrzewski, um nur diese zu nennen. Letztere kamen von
Wittenberg und waren auf dem Wege zur Heimat.
Der erste Litauer erschien in Frankfurt zum Studium, soweit ich sehe,
im Jahre 1557 in Stanislaus Kmita. Aus dem Posener Grenzlande kam in
demselben Jahre Troilus Policki, der zweite Sohn des Posener Notars und
Erbherrn von A Albert Policki, dazu zwei Brüder Petrus und Stanis-
laus Karnodowski. Nikolaus Latalski ging mit dem Krakauer Johann Rosz-
kowski von der Viadrina nach Leipzig, später auch Petrus Przylepski und
Albert Koscielski, den wir als Vertreter der Gemeinde Radziejow nahezu
vierzig Jahre später auf der Thorner Generalsynode sehen, während andere
mit einem Studium in Frankfurt sich begnügten. Besondere Beachtung ver-
dienen die vier Söhne des Kalischer, bald Posener Wojewoden Martin
Zborowski: Martin und Petrus, Andreas und Samuel, sie sind 1560 und 61
auch nach Wittenberg gegangen, haben aber wohl nicht die ganze Zeit seit
1557 an der Viadrina zugebracht. Der eine von ihnen, Andreas, war jeden-
falls inzwischen in Wien gewesen und dort von Hosius für den alten
Glauben zurückgewonnen worden. Er hat an ihm auch im Gegensatze zu
seiner ganzen Familie fesigehalten; der Aufenthalt in Wittenberg, wohin
ihn der bekiimmerte Vater Anfang 1561 kommandierte, hat ihn nicht um-
stimmen können. Er starb als Hofmarschall 1589, sein ältester Bruder Martin,
Kastellan von Kriewen, von dem Wittenberger Professor Georg Major durch
die Zueignung seiner Erklärung des Philipper- und Kolosserbriefes gechrt,
ging frühzeitig heim, der zweite Bruder Petrus, der Direktor der General-
synode zu Sendomir, schloß als Wojewode von Krakau 1580 seine Augen,
der jüngste Samuel mußte bekanntlich am 26. Mai 1584 das Schafott be-
steigen, worüber die Fehde der Häuser Zborowski und Zamojski entbrannte,
die uns Caro mit Meisterhand gezeichnet hat.
Noch können wir vom Jahre 1557 nicht scheiden, ohne Johann Trze-
buchowskis, des Neffen des einflußreichen königlichen Kammerers und Se-
kretärs Nikolaus Trzebuchowski, zu gedenken, sowie der Brüder Nikolaus
und Matthias Orzelski. Der lebte war später Richter von Nakel, die
Posener Februarsynode 1582 erwählte ihn, zusammen mit einem Severin
Palecki die Beiträge zum Ausbau des evangelischen Schulwesens einzu-
ziehen. Von Frankfurt sind die drei Genannten nach Wittenberg weiter-
gezogen. . Ebenso ein Johann Colmei aus Gostin, während Petrus Mier-
zwinski, Matthias Pronski, Bartholomäus Libarski, wie auch Jakobus Rosra-
zewski aus angcsehenem evängelischen Geschlechte anscheinend direkt
wieder nach der Heimat gingen.
1558 gewann die Viadrina in dem Professor und Poeten Johann
Schosser eine tiichtige humanistische Kraft. Von Wittenberg, wo er bis
dahin gelebt, gewirkt, gedichtet hatte, entliegen ihn die Freunde mit der
Mahnung, den Pieriden am Oderstrande eine rechte Heimstätte zu schaffen.
Er hat auch den Humanismus mit Nachdruck vertreten, gleichwohl begann
jet schon der Zuzug aus dem Osten etwas nachzulassen. Stanislaus
Sirzalkowski, seit 1554 schon in Wittenberg, folgte wohl dem geliebten
Lehrer Schosser zur neuen Wirkungsstätte, aus der Heimat erschienen
Johann Rozdrazewski, zwei Brüder Slupski, Andreas und Matthias und
Nikolaus Czarnotulski. Die Orzelski zogen zwei Brüder nach sich, darunter
Swientoslaus, den späteren Hauptmann von Radziejewo, den glänzenden
Redner und bedeutenden Historiker, der 1595 auch der Thorner General-
255
synode präsidierte. Der Zug seines Herzens führte ihn im Mai 1564 mit
seinen Brüdern Matthias und Johannes zur Lutherstadt; er wollte noch hefer
aus deutschem Glaubens- und Geistesleben schöpfen.
War 1558 ein Nikolaus Kaczkowski nach Tübingen und Basel gezogen,
so erschien ein Stanislaus Kaczkowski 1559 an der märkischen Hochschule,
ihm folgten Jakob Koszucki, Matthias Ponetowski, Valentin Ciwinski, Paul
Pawlowski, dieser anscheinend ein Sohn des vor Posens Mauern begüterten
Stanislaus Pawlowski, der die reiche Posener Patriziertochter Dorothea
Lindner heimgeführt hatte. Weiter traten 1559 vor den Rektor mit der
Bitte um Immatrikulation Martin Lipinski, Adam Balinski und Martin Skrze-
tuski. Dieser suchte, nachdem er seinen Bruder Johann noch hatte kommen
lassen, in den nächsten Jahren auch noch die Leucorea auf. Er war der
Sohn eines Posener Goldschmieds, Ratsherrn und Bürgermeisters, war
später Tenufarius in Meseritz, verschiedentlich auch Gesandter in Berlin;
mit Diestelmeyer hat er korrespondiert. Die weiteren Studenten des Jahres
1559 wollen wir übergehen, nur bei zweien von ihnen noch einen Augenblick
verweilen, Sebastian Grabowiecki und Stanislaus Reszka. jener, der Sohn
des Kämmerers der Königin Katharina, Stanislaus Grabowiecki, der Neffe
eines Wittenberger Studenten vom Jahre 1536, der sich als Gabriel Grabo-
fels in die Matrikel der Lutherstadt hatte eintragen lassen, ist noch nach
Italien gewandert und hat sich später mit einer Ehrendame der Prinzessin
Anna verheiratet. Früh verwitwet, ist er in den geistlichen Stand getreten,
hat 1585 auch, seine Frankfurter Studien verleugnend, wider Luther ge-
schrieben, ferner durch fromme Lieder sich einen Namen gemacht. 1592 ist
er Abt des alten deutschen Zisterzienserklosters Blesen geworden, das wie
die anderen deutschen Klöster in Polen sich schon seit Jahrzehnten pol-
nische Abte gefallen lassen mußte. Nachdem er noch die durch eine
Feuersbrunst zerstörte alte Klosterkirche wieder aufgebaut, ist er 1607 ver-
storben. Eine ähnliche Entwicklung durchlief sein Frankfurter Studienfreund
Reczka. Bald nachdem er die Viadrina verlassen, trat er in die Dienste
des Kardinals Hosius, folgte ihm auch nach Rom, Wien, Trient, half ihm
mit seinen an der evangelischen deutschen Hochschule erworbenen wissen-
schaftlichen Kenntnissen bei seinen literarischen Arbeiten, sammelte ihm
besonders die Stellen aus den Kirchenvätern, dic er in seiner Polemik gegen
die Reformation verwerten konnte, übernahm auch die Widerlegung der
ersten Centurie von des Flacius großem kirchengeschichtlichen Werke. In
Neapel ist dieser Frankfurter Student 1600 verstorben, nachdem ver-
schiedene Reisen ihn nach seinem Vaterlande gelegentlich zurückgeführt
hatten. Auch hat er sich als Biograph des Hosius einen Namen gemacht.
In seiner Polemik gegen den Protestantismus und gegen das Ideal seiner
ugend gefällt er sich im Unterschiede zu Grabowiecki oft in recht ge-
ässiger Schreibweise.
_ 1560 starb Frankfurts bekanntester Lehrer Sabinus, der schon infolge
seiner verschiedenen Gesandtschaftsreisen sich großer Wertschabung in
Polen erfreut hatte. Hatte ihm doch einst (1536) der Primas Krzycki gar
versprochen, zu seiner Hochzeit in Wittenberg in Melanchthons Hause als
Gast zu erscheinen. Sein Tod, dann der wenige Jahre darauf anhebende
Lehrstreit zwischen den Professoren Muskulus und Prätorius schwächte die
Anziehungskraft der Hochschule, der Zuzug aus Polen ließ nach. Für 1560
nenne ich von polnischen Studenten Johann Otto Kwilecki und Wenzel
Tolibowski, Albert Mielczynski und Albert Wolski, weiter Martin Strzal-
kowski, der von Wittenberg kam, und Martin Przepalkowski, der nach
Wittenberg ging. 1561 haben nur sieben Polen das akademische Biirger-
recht erbeten, wieder ein Mielczynski, Christoph mit Vornamen, Lisowski
und aus dem Dobrzyner Lande neben Wenzel Chodowski zwei Brüder Chel-
micki, Stanislaus und Johann. Waren es Brüder des Adrian Chelmicki, des
Dobrzyner Vogts, der 1554 in Wittenberg studiert, wie sein Onkel, der
Kruschwißer Kastellan Johann Grabski, auch mit Melanchthon korrespondiert
hat? Stanislaus Zawadski, also ein Kurzbach, der auf Zawada an der
schlesischen Grenze saß, als letzter der Polen 1561 immatrikuliert, ist im
254
September des folgenden Jahres mit den Scharfenorter Grafensöhnen
Wenzel und Johann noch nach Heidelberg, ihnen dann 1563 voran nach Basel
gc zogen. Vierzig Jahre später zog ein anderer Stanislaus Kurfbach von
awada nach Wittenberg, ein Lukas und Johannes 1604 auch nach Helmstedt,
wo der große Caselius sie aufs freundlichste aufnahm, Lukas gleichfalls
auch nach der Lutherstadt und nach Leipzig.
Die wenigen Studenten der Jahre 1562 und 65 übergehen wir, nennen
für 1564 Albert Chlapowski, Wenzel Obarecki und Kaspar Wilkowski aus
dem Süden des Posener Landes. 1564 sandte der Gorkasche Kanzler in
Posen Matthias Poley, ein Schlesier aus Schweidnitz, der 1538 in Witten-
aw studiert hatte und dann in die Dienste des Posener Hauptmanns
a getreten war, durch seine Heirat mit Lucie von Ende mit den ersten
Posener Familien sich verschwägert hatte, seinen ältesten Sohn Christoph
zur Viadrina. Professor Schosser nahm daran Gelegenheit, dem Posener
Kanzler ein Sinngedicht auf die Blume in seinem Wappenschilde zu widmen:
„in lilia et pulegium Matthiae Polegii.“ jakob Sarbski und Johann Boja-
nowski begnügten sich mit den Frankfurter Lehrern, aber von den beiden
Brüdern Matthias und Jeremias Wojnowski zog der letztere, „ein gelehrter,
versuchter Gesell, guter Poet, feiner Historiker, guter Graecus, perfec-
tissimus Hebraeus“, wie ihn Lorenz Müller in seiner polnischen und liv-
ländischen Geschichte nennt, 1567 nach Heidelberg, dann auch nach Basel.
Noch von Frankfurt aus hat er Jakob Ostrorog, als er die Posener Haupt-
mannschaft 1566 erhielt, einen poetischen Glückwunsch gewidmet.
Für 1566 nennt die Matrikel einen Stanislaus Minski, Andreas Skrzyd-
lewski, dazu Felix Kosmas aus bekannter Bromberger Familie. Er war
1563 schon nach Wittenberg gezogen, wie seine Brüder Valentin und Vitus
1559 auch die Viadrina aufgesucht hatten. Später finden wir die Söhne
dieses Bromberger Geschlechts auf dem Gymnasium in Danzig. 1567 lenken
unsere Augen auf sich Lorenz Jactorowski, der gleichfalls schon in Witten-
berg war, und Johann Chrostowski, vor allem aber die Brüder Andreas
und Petrus Czarnkowski, die Söhne des Schrimmer Kastellans und Kostener
Hauptmanns Albert Czarnkowski aus seiner Ehe mit Barbara Gorka. Mit
ihrem Lehrer Matthäus Wengierski waren sie zur Hochschule gekommen.
Der ältere Bruder wurde 1569 Ehrenrektor der Akademie. Viele Glück-
wünsche wurden ihm da in wohlgesetzten Versen dargebracht. Die Lati-
nisten Frankfurts wetteiferten, ihm ihre Aufmerksamkeit zu erweisen.
Natürlich fehlte in ihrem Chor auch Schosser nicht. Schon die Mutter
Barbara hatte seine Muse gefeiert, als er sie kennengelernt hatte, da sie
ihre Söhne in der Oderstadt besuchte. Ebenso eignete man Czarnkowski
Geleitsgedichte, Propemptica, zu, als er 1572 die Stadt verließ. So viele
auch sonst den Söhnen Sarmatiens bei ihrem Scheiden gewidmet sein
mögen, sie allein sind uns erhalten geblieben. Andreas Czarnkowski ist
dann nach Italien und Frankreich gezogen, „hat an nützlicher Lehre und
Sprachen einen rühmlichen a. sich erworben“, sagt eine alte Nachricht.
a der Aufenthalt in katholischen Landern loschte alles in seiner. Seele
was er in Frankfurt gesehen und gelernt hatte. Er wurde streng
katholisch, und als ihm nach dem Tode des kinderlosen Stanislaus Gorka,
des Wittenberger Ehrenrektors vom Jahre 1554, die weiten Gorkaschen
Güter zuſielen, nach dem Tode seines Schwie ervaters Stanislaus Latalski
und dem frühen Heimgange seiner Gattin auch ein Teil des Latalskischen
Besitzes, hat er alle Kirchen, über die er nun Patron geworden war, rekatho-
lisiert, der größte Gegenreformator im Posener Lande. Neben den Czarn-
kowskis finden wir 1568 an der Viadrina Johann Bronikowski, Johann Zych-
linski und drei Brüder Jaskolecki, ferner Albert Granowski, den Sohn der
Erbherrnfamilie in Granow bei Grab. Aus Posen ließ sich einschreiben
Andreas Trepka, der Sohn des Evangelisten Eustachius Trepka, des
dipen übersebers ee Bücher ins Polnische, der selbst an eine
pregung der Bibel sich machen wollte, 1558 aber jah durch einen
aan aus seiner fleißigen Tätigkeit herausgerissen worden war.
Seinen Sohn hatte Herzog Albrecht schon nach Preußen kommen lassen,
255
um ihn dort seinen Pagen einzureihen, jetzt erschien er in Frankfurt, doch
im nächsten Jahre ging er nach Meigen, wo ihm der sächsische Kurfürst auf
Vorstellungen des Grafen Lukas Gorka eine Freistelle gewährt hatte.
Naturgemäß kamen die Inischen ue meist aus dem nahe-
gelegenen Großpolen nach Frankfurt, elegentlich auch aus dem
ferneren Kleinpolen. So meldeten a = ufnahme dem Rektor 1569
vier Brüder Stadnicki aus Dubiecko unfern Przemysl, Nikolaus, Johannes,
Samuel und Andreas. Ihr Vater Stanislaus, durch seine Gattin Barbara
ein Schwager der obengenannten Zborowski, war einst der argste Priester-
feind gewesen. So hatte cr den Bischof Johann Dziaduski, dem er wegen
einer Gewalttat zürnte, überfallen, niedergeworfen und alle Anstalten zu
seiner Entmannung getroffen, in letzter Minute ihn aber noch unverstiimmelt
wieder freigelassen. Natürlich hatte er die Kirchen auf seinen Gütern
evangelischen Prädikanten eingeräumt, aber es war doch mehr der Geist
des Widerspruchs gegen Rom, der ihn beseelte, und der Haß gegen die
weltliche Macht der Hierarchie, der ihn trieb, als Freude an der evan-
gelischen Verkundigung Sein Widerspruchsgeist brachte ihn auch bald zu
den Evangelischen ın Zwiespalt, er entschied sich für den zänkischen Stan-
caro und seine Sonderlehre, wurde der Patron und Schubherr dieses
ltalieners, der die Entwicklung der Reformation in Polen so unheilvoll be-
stimmt hat, wechselle über ihn auch mit Calvin Briefe, konnte um seinet-
willen recht laubige Pastoren aus ihren Pfarren vertreiben. Sein ältester
Sohn Stanislaus, ihn in Trob, Eigensinn und Jähzorn noch überbietend, „der
Teufel von Lancut“, war 1565 nach Heidelberg gegangen, die jüngeren
Söhne, die später sämtlich zur römischen Kirche ubertraten, beschränkten
sich auf den Besuch des näher gelegenen Frankfurts.
Während daheim die Synode zu Sendomir zusammentrat, die einen
verheißungsvollen Zusammenschluß der evangelischen Bekenntnisse brachte,
nahten sich der Viadrina zwei Brüder Johann und Andreas Siedlecki, Söhne
des Landrichters von Hohensalza Johann Siedlecki. Auch die jüngeren
Söhne Nikolaus und Thomas kamen nach dem Tode des Vaters 1580 zum
Oderstrande, freilich um zum Elbestrande ein Jahr später wetterzuziehen.
Interessanter als sie ist ihr Kommilitone, Andreas Lubicniecki, der älteste
der drei Sohne des Lubliner Richters Stanislaus Lubieniecki, seit 1586 uni-
tarischer Pastor zu Schmiegel, der erste Antitrinitarier, von dem wir in
Frankfurt wissen. Weitere deutsche Universitäten hat er, soweit ich sehe,
nicht bezogen, dafür finden wir seinen Bruder Christoph, den Großvater
des bekannten Kirchenhistorikers, 1578 in Altdorf, 1581 in Basel, in dem-
selben Jahre auch in Genf, 1582 wieder in Altdorf. Schade, daß uns nichts
Näheres über seine religiöse Entwicklung bekannt ist, wir nicht wissen,
wann und wo er an der Trinitätslehre der Kirche irre geworden ist.
Die Ehrung, die die Universität Andreas Czarnkowski erwicsen, trug
ihre Frucht. Für die weitverzweigte Familie war es fortan selbstverständlich,
ihre Söhne zur Hochschule zu senden, die ihr Zepter cinem ihrer Glieder
anvertraut hatte. So sehen wir an der Viadrina schon 1570 Sendivogius
Czarnkowski, 1574 Andreas Sendivogius, den Sohn des Generalstarosten
und Hauptmanns von Peisern, mit Matthias Nadolski. Im nächsten Jahre
reichte die Universität auch seinem Bruder Adam das Zepter. Professor
Schosser mit seiner immer bereiten Feder hat ihn bei seinem Einzug in
die Stadt begrüßt und beglückwünscht zu seinem Studium. 1578 erschienen
noch die Brüder Stanislaus und Johann Czarnkowski. Als diese zur Hoch-
schule kamen, fanden sie dort unter anderen Landsleuten die Brüder
Andreas und Petrus Potulicki, die schon 1573 mit einem ganzen Gefolge
eingetroffen waren. Erst 1581 zogen sie weiter nach Wittenberg und
Leipzig. Sie waren Neffen der beiden Potulicki, die in den vierziger und
fünfziger Jahren zu des Melanchthon und Sabinus Füßen gesessen haben,
Söhne ihres Bruders Kaspar, der an behaglichem Landleben sich mehr er-
freute als an glänzenden Ehren, deshalb alle Amter, die auch ihm, dem
Wojewodensohne, angeboten waren, abgelehnt hatte. Seinen Namen bietet
weder die Frankfurter noch die Wittenberger Matrikel, doch muß auch er
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in engen Beziehungen zu dem Präzeptor Germaniae und seinem Schwie-
gersohne, dem gefeierten Humanisten, gesianden haben, wie ein Brief
Schossers an ihn verrät: „Devinxisti tibi duorum inter mortales clarissi-
morum benevolentiam Georgii Sabini et Philippi Melanchthonis, quibus una
cum fratre recte simul et intelligendi et vivendi magistris utebaris.“ Gelingt
es einmal alle Fäden aufzudecken, die die Edelsöhne des Ostens mit den
gro deutschen Lehrern verknüpften, ganz überraschend groß wird deren
influ in Polen sich erweisen. Frei war hier die Hinneigung zu
deutschem Glauben und Wesen nur eine vorübergehende Erscheinung.
Aus den siebziger Jahren seien noch genannt Friedrich und Sigismund
Gorski aus dem Miloslawer Erbherrngeschlechte, das durch einige Ge-
nerationen auch die Hauptmannschaft Fraustadt besaß, Stanislaus Jac-
torowski, verschiedene Kosmider, Johann Roznowski, für 1580 Lucas
Chrosciewski. Dieser war der spätgeborene Sohn des Stanislaus Chro-
sciewski, des unter dem Namen Niger bekannten Arztes aus Ciechanow in
Masowien, der in Posen gelebt und gewirkt hat, eines freudigen Anhängers
der Reformation, eines der besten Freunde Trepkas, bekannt auch mit dem
italienischen Romhasser Vergerio. lm Jahre 1567, in der evangelischen Zeit
Posens, da Jakob Ostrorog Hauptmann von Gro len war, stand er als
Bürgermeister an der Spitze der Stadt. Zu den berühmten Arzten Polens
wird er gerechnet, deshalb sei noch bemerkt, daß er 1537 in Leipzig studiert,
hier im folgenden Jahre auch ein Epicedion veröffentlicht hat. Am 5. April
1544 hat cr sich noch in Padua einschreiben lassen, wohin scin Sohn
Johann, der später auch in Posen praktizierte, 1611 auch Bürgermeister
wurde, aber die religiöse Stellung scines Vaters nicht teilte, auch im
Sommer 1582 ging.
Waren es meist junge polnische Edelleute, dic ihre Ausbildung auf der
deutschen Grenzuniversitat suchten, 1581 kam doch zu ihr auch wieder ein-
mal ein junger Theologe, Daniel Mikolajewski. Fünf Jahre später führte cr
als Prazeptor die Söhne des Kastellans von Lond, Albert und Wladislaus
Przyjemski, nach Heidelberg. Im Jahre 1601 ging er im Auftrage des
Lissaer Grafen Andreas nach Basel zu dem Theologen Grynäus und nach
Genf zum Patriarchen Beza, führte auch zwei gräfliche Stipendiaten von
Altdorf nach Basel. Nicht der lutherischen Formulierung der evangelischen
Erkenntnis, wie sie ihm in Frankfurt entgegengeireten war, gehörte also
sein Herz, sondern der reformierten. Als reformierter Pastor und Senior
in Radziejow hat er auch später gewirkt, hier alle Not der Verfolgung
kennengelernt, verschiedene Verwüstungen und Plünderungen seiner Kirche
durchgemacht, schließlich die Vernichtung seiner Gemeinde erlebt und zum
enstabe greifen müssen. In Swierzynek in Kujawien fand er, der
auf der Thorner Generalsynode übrigens als Schriftführer tätig gewesen,
ein neues Amt. Hier ist er lebenssatt 1633 gestorben. Raphael Nowo-
wiejski, 1581 eingeschrieben, trat in die Dienste des Erbherrn von Koz-
minek und begleitete ihn 1585 nach Heidelberg. Zehn Jahre später eilte er
zur Generalsynode nach Thorn. Für das Jahr 1582 nennt uns die Matrikel
Martin und Andreas Gorzenski, doch wohl Söhne des Herrengeschlechts in
Bucz unfern Posen, für 1584 Christoph Chelmski, Martin Silnicki und zwei
Vettern Przylenski, die sämtlich 1585 bzw. 1586 ihre Studien in Heidelberg
fortseßten. Als Begleiter hatte Chelmski auf seiner Fahrt zur Neckarstadt
den Posener Patriziersohn Konrad Ridt, mit ihm zog er 1587 auch nach
Freiburg, 1592 nach Padua. Im folgenden Jahre verzeichnet das Studenten-
album außer den beiden schon erwähnten Przyjemski Bonaventura Sobocki
und Matthaus Hermes. Beide gingen 1587 gleichfalls nach Heidelberg. Der
lebtere war der Sohn des Pfarrers in Cienin unweit Peisern, Nikolaus
Hermes, der selbst einst aus seiner Heimat Mähren 1560 zum Studium nach
Wittenberg gezogen, dann auf Veranlassung Wenzel Ostrorogs nach Polen
gekommen war. Noch an der Thorner Generalsynode hat er 1595 teil-
genommen, drei Jahre später aber seine Augen geschlossen.
1587 traten vor den Rektor zwei Briider Pronski, Florian Grozlicki und
Adam Nasitrecki, 1589 außer Stanislaus Rambinski und Theodor Karnkowski,
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die mit_ihrem Hofmcister Petrus Piotrkowski zur Hochschule gekommen
waren, Zbigniew Lanckoronski, der Sohn des Radomcr Kastellans Christoph
Lanckoronski. Sein Bruder Prädislaus war dagegen 1581 nach Wittenberg,
1584 nach Altdorf gewandert. Unser Frankfurter Student war einer von
den vielen, die sich später freigemacht haben von ihren Studienerinnerungen
und von dem Ideal ihrer Jugend; die Kirche in Olesnica an der Weichsel
hat er katholisiert. In dem letzten Jahrzehnt des Jahrhunderts begegnen
uns unter den Studenten in Frankfurt zwei Wolski, ein Johann Branski, zwei
Brüder Nikolaus und Albert Strzelecki. Zbygniew Gorkowski, drei Mynski,
Georg Rzeczycki. Dieser war ein Sohn des Lubliner Kammerers Andreas
Rzeczycki, den dic Sorge um seine Kirche 1595 nach Thorn auf die Synode
getrieben hatte. Ein Glied seiner Familie war schon 1577 nach dem un-
längst eröffneten akademischen Gymnasium in Altdorf gepilgert. Johann
Statorius oder Stoinski, der 1597 um Aufnahme bat, war der Sohn des Lus-
lawicer und Rakower Pfarrers Petrus Statorius, der selbst 1582 in Altdorf
studiert hatte. Er war wie sein Vater Unitarier. Er ist mit seinem Bruder
Stephan 1598 auch noch zur Palaeocome gezogen, dann Nachfolger seines
Vaters in Rakow geworden, hat hier den Raub der Kirche, die Zerstörung
der Schule erlebt und selbst geächtet nach Holland flüchten müssen. Ging
er von der Viadrina noch zur Palaeocome, so zog 1603 zur Ruperta Daniel
Jezierski, der Kurower Pfarrersohn. Als Präzeptor sehen wir ihn 1605 auch
noch in Genf und 1613 in Basel. Wieder nach Altdorf ging Johann Musonius
aus Koschmin, der Stipendiat des Grafen Andreas von Lissa, noch 1597 in
Frankfurt inskribiert, 1604 Rektor des Gymnasiums in Lissa, dann Pastor
in Kozminek und Marszewo bei Pleschen, der Stammvater eines bekannten
Pfarrergeschlechtes.
Im 17. Jahrhundert sank die Frequenz polnischer Studenten in Frank-
furt. Die steigende Abkehr des polnischen Adels von der Reformation
machte sich geltend. Nach Wittenberg, wohin im 16. Jahrhundert mehr als
ein halbes Tausend aus dem polnischen Osten gezogen war, ging überhaupt
kein Pole mehr. Doch begegnet uns im ersten Viertel des neuen Jahr-
hunderts in den Bursen Frankfurts immerhin noch eine verhältnismäßig
stattliche Zahl von Studenten polnischen Volkstumes. So 1602 Johann Gar-
czynski, Nikolaus Dokowski und Petrus Wielowieski, ein Glied jener
Familie, die in Wielkanoc bei Xions in Kleinpolen Schugherr der Re-
formation war und unlängst einen Sohn Andreas auch nach Altdorf hatte
gehen lassen. Wieder einmal ein Wojewodensohn erschien 1603 in Paul
3 dem Sohne des Erbherrn von Niszczyce hinter Plock, des
astellans von Belz, der 1597 auch noch die Wojewodschaft Belz erhalten
hatte. Mit Daniel Wlostowski und mit einem Belzer Bürgersohne kam er
zur Hochschule. Hatte der Vater einst 1575 in Leipzig studiert, so zog 1603
dorthin auch ein anderer Sohn Christoph, der spätere königliche Sekretär.
Ihm folgte dorthin 1605 unser Frankfurter Student, zog aber mit ihm und
einem dritten Bruder Stanislaus in demselben Jahre noch nach Basel. Die
Niszczycki waren die einzige Familie in der Plocker Wojewodschaft, die
eine Kirche der Reformation aufgetan hatten, übrigens deutschen Ursprungs,
ein polonisierter Zweig der von der Goltz. Dieses deutsche Herrengeschlecht
war einst im nördlichen Polen weit verbreitet, hatte im 14. Jahrhundert Plock
verschiedene Bischöfe und Wojewoden gegeben. Nach ihren verschiedenen
Herrensiken hatten sich die einzelnen Zweige der Familie verschiedene
polnische Namen beigelegt.
Petrus Biskupski, der 1604 durch die Tore Frankfurts zog, ging Ende
des Jahres 1606 nach Wittenberg. Er war wohl ein Stipendiat des Lissaer
Grafen Andreas. Als dieser im Alter von nur 47 Jahren am 24. Juli 1606
seine Augen schloß, hielt er ihm eine Gedachtnisrede in Frankfurt. Doch
auch zu dem polnischen Abte im alten Zisterzienserkloster Paradies unfern
Meserik, Stanislaus Ranizewski, hatte er Beziehungen, auch diesem ein
Schriftchen gewidmet; später wurde er sogar ein eifriger Vertreter der
Interessen Roms. Dem Biskupski folgte nach Frankfurt, ihm ging nach
Wittenberg voran Petrus Kozminski, den der Gräber Kaspar Speer, seit
258
1601 in Frankfurt, zur Bezeugung seiner Freundsdiaft in Versen gefciert
hat. Biskupskis und Kozminskis Freunde waren auch Jakob Musonius aus
Pakosch und Matthias Wengierski aus jener bekannten Theologenfamilie,
die der Kirche manchen tüchtigen Pastor, der Wissenschaft einen fleißigen
Historiker geschenkt hat, dessen kirchengeschichtliches Werk der historischen
Forschung noch heute unentbehrlich ist. Noch sei gedacht des Stanislaus
Niewierski, der später in Posen der polnischen Gemeinde predigte, im Mai
1610 aber nach Thorn an die Marienkirche ging. Diesem Gliede der Brüder-
unität, das in Frankfurt mit Petrus Felix aus Punitz und den beiden Brüdern
Andreas und Georg Prusinski verbunden war, sei zur Seite gestellt der
polnische Bruder, also Unitarier, Michael Gittich, seit dem 31. Mai 1605 an
der Viadrina, im nächsten Jahre an der Palaeocome, die jetzt für die Unitarier
die bevorzugte Hochschule wurde, der spätere Pfarrer von Nowogrodek,
ein in unitarischen Kreisen geschätzter Theologe. Als Polonus Venetianus
hat er sich in die Matrikel eintragen lassen, weil sein Vater, ein deutscher
Arzt in Venedig, vor den Schergen der Inquisition flücht end, sich nach
Polen gerettet hatte. Mit ihm war zu unscrer Hochschule gekommen
Christoph Pawlowski, wohl ein Sohn jenes königlichen Kämmerers Christoph
Pawlowski, den wir 1595 auf der Thorner Generalsynode sehen und der
1599 in Wilna zum Provisor der Kirche gewählt wurde, und die Brüder An-
dreas und Stephan Wojnarowski. Sie begleiteten ihn auch nach Altdorf.
Stephan Wojnarowski hat nach dem fernsten Osten den Ruf der märkischen
Universität getragen. Er ist der Kijewer jäger, der den Unitariern in
Szersznie unfern des Dniepr ein Gotteshaus baute. Wie einst Durchgangs-
schule für Wittenberg und Leipzig, wurde es Frankfurt jetzt vorübergehend für
Altdorf, denn dorthin zogen auch Albert Srdzinski und Christoph Kiel-
czewski, ein Verwandter des Fraustadter Hauptmanns Wenzel Kielczewski,
je zwölf Monate nach Gittich und seinen Schülern zum Oderstrande ge-
kommen waren und schnell mit ihnen Freundschaft geschlossen hatten, sie
nun auf der Studienfahrt nach Süddeutschland begleiteten.
Schon hatten sie die Viadrina verlassen, als 1608 anzogen Christoph
Bresinski, Petrus Borewski, Lukas Brodowski und Christoph Arciszewski, der
Sohn des theologisierenden unitarischen Erbherrn von Schmiegel, der 1623
den Käufer seines väterlichen Besitzes auf offener Strage niederschlug,
dann als Flüchtling in den Niederlanden zu hohen Ehren emporstieg, a
Admiral 1629 ein holländisches Geschwader nach Brasilien führte. A. Kraus-
har hat dem interessanten Leben dieses Frankfurter Studenten, der zuvor
das Thorner Gymnasium besucht hat, eine Monographie gewidmet. Dem
Schmiegler Erbherrnsohn folgte einige Jahre später zur märkischen Hoch-
schule der Schmiegler Pastorensohn David Caper. Im Gegensage zu seinem
Bruder Johann, dessen Name uns in den Briefen der unitarischen Theologen
begegnet, ist er früh verschollen. Kamen 1613 aus Großpolen mit ihrem
Lehrer Theophil Pitiskus, dem spateren ersten Pastor von Bojanowo, der
deutschen Exulantenstadt, Wladislaus und Petrus Ossowski, denen 1620
auch ihr Vetter Andreas Ossowski folgte, der verdiente Senior der
lutherischen Kirche und Hauptmann von Fraustadt, ferner Martin Nie-
wierski und aus Koschmin Andreas Musonius, später in Lobsens und Sluck
Rektor, schließlich Senior des Wilnaer Distrikts (t 1672), so aus Kleinpolen
mit ihrem Lehrer Christoph Jakobäus Samuel Domaradzki aus Lutcza unfern
Pilzno an der Wisloka und die beiden Bal Petrus und Samuel aus Hoczew
am Fuße der Karpathen. Nicwierski diente in der Folgezeit dem Grafen
Raphael von Lissa als Hausgeistlicher, wirkte dann in Lublin und in ver-
schiedenen Gemeinden Litauens, wurde endlich Senior von Herborn wo
Domaradski vertauschte die Viadrina mit der Hohen Schule zu Herborn, wo
er 1617 unter dem Theologen und Polyhistor Alsted disputierte und seine
Schrift seinem Vater Johann und seinem Onkel Peirus Bal, dem Kämmerer
von Sanok, widmete. Mit dem Lehrer Jakobäus, der schon in Marburg und
Leiden studiert hatte, zog sein Vetter Samuel Bal zur Ruperta am Neckar.
Dorthin folgte ihm 1618 auch Andreas Orlitz der Ältere und sein Schüler
Johann Stephan Grudzinski, die ein Jahr nach ihm (1616) nach Frankfurt
16 NF 5 939
gekommen waren. Der Kalischer Wojewode Sigismund Grudzinski, der
große Kolonisator, der seine weiten Besitzungen mit deutschen Kolonisten
zu bevölkern suchte, besonders den aus Schlesien um ihres Glaubens
willen Vertriebenen manchen Freiheitsbrief ausgestellt hat, bekundete seine
Wertschäßung deutschen Geistes und deutscher Bildung auch darin, d
zum Erzieher seines ältesten Sohnes einen Prazeptor gewählt hatte, der
in Leipzig und Danzig gebildet war. Die Abziehenden ersetzte in Frankfurt
1619 Daul Bochnicki, der spätere Pfarrer von Sienno im Radomer Lande,
der indessen auch bald zum reformierten Zion am Neckar weiterpilgerte,
dann 1620 der schon erwähnte Andreas Ossowski, Christoph Pentowski und
Simon Simonides, ein Sohn des bekannten Dichters am Hofe des Kanzlers
Zamojski, des Lieblings der Musen, des letzten polnischen Humanisten. Vie
dieser mit deutschen Humanisten, ich denke an Johann Caselius in Helm-
stedt, in Verbindung gestanden und manche Briefe mit ihnen ausgetauscht, so
suchte sein Sohn auch auf deutschen Hochschulen Lehre und Unterweisung.
Aus Litauen hatte sich ihm angeschlossen Johann Dzicwaltowski, der Sohn des
Bannerträgers von Nowogrodek Paul Dziewaltowski, den wir seit 1614 schon
in Thorn sehen, aus Großpolen ein Przylubski und Bonifaz Bronikowski
und andere. In dem siebzehnjährigen Andreas Rutkowski empfing an
unserer Universitat seine erste hohere Ausbildung ein junger Gelehrter, der
spater lange Jahre als Erzicher in vornehmen Hausern tatig war,. auch seine
Schüler nach dem Westen geführt hat, z. B. Georg Niemirycz, den Kam-
merer von Kiew. Damals hat ihn der gelehrte Ruar nach Paris an Grotius
empfohlen. Wie Ruar war er ein Freidenker, hatte er von dem altkirch-
lichen Dogma sich abgewandt.
Gering war der Zuzug 1621 aus dem Osten, ich nenne Martin Zakrzewski
aus jenem kujawischen Geschlechte, das seine Söhne vordem nach Witten-
berg geschickt hat, und Christoph Dziembowski aus Kranz an der mär-
kischen Grenze, aus jener Erbherrnfamilie, die ihren evangelischen Glauben
bis in die Gegenwart bewahrt hat. Um so stärker der Andrang das fol-
gende Jahr. Das schwere Verhängnis, das über Heidelberg hereingebrochen
war, die Vernichtung der blühenden reformierten Hochschule, ihre Katho-
lisierung, hemmte die Wallfahrt nach der Pfalz und empfahl Frankfurt,
führte hierher jetzt auch manchen, der sein Studium an der Ruperta hatte
abbrechen müssen, so Samuel Bochwiz und Johann Romanowicz, der
Johann Gerhards, des großen Jenaer Theologen, Meditationes ins Polnische
übersetzt hat. Bochw’5 kam über Herborn, wo er noch am 24. August
1622 disputiert hat. Er war ein jüngerer Sohn des Seniors von Weißruß-
land Philipp Bochwig, ein Bruder jenes Lukas Bochwif, den wir als Prä-
zeptor 1601 in Basel, 1606 in Heidelberg sehen. Seine Herborner Dis-
pulation hat er neben anderen dem Salomo Ryfinius gewidmet, der 1601
den jungen Christoph Radziwill zum Studium nach Leipzig, 1603 nach Basel
geleitet hatte. Direkt aus der Heimat erschienen in Frankfurt mit ihrem
Lehrer Nikolaus Niklassius aus Lobsens, der selbst 1614 in Marburg studiert
hat, die Brüder Johann und Christoph Potocki, Johann Potworowski und
Franziskus Gorzkowski sowie Abraham Goluchowski aus dem Krakauer
Lande. Schon nach einem Jahre setzle der lebte seine akademische Wan-
derfahrt fort und ging nach Leiden, wohin ihm nach neun Monaten auch
Gorzkowski und Potworowski folgten. Dagegen blieben in Frankfurt und
schlossen hier ihre Studien ab die Brüder Andreas und Lukas Gorski aus
der Miloslawer Erbherrnfamilie. Der Synode ihrer Glaubensbrüder hatte
diese Familie 1607 in ihrer Stadt Schub und Schirm gewährt und immer
freudig zu ihrem Bekenntnis gestanden. Der Erzieher, der ihre beiden
Söhne zur deutschen Hochschule geleitete, war auch ein Sohn des be-
kannten lutherischen Superintendenten Erasmus Glitzner, Bartholomäus, der
seine eigene Ausbildung 1607 fl. in Königsberg gefunden hatte. Als Brod-
nicki hat er sich immatrikulieren lassen, weil sein Vater, nachdem ihm die
Gegenreformation seine Gräber Gemeinde genommen, in Straßburg (Brod-
nica) gewirkt hatte. Von weiteren Studenien des Jahres 1622 seien noch
genannt: Andreas Cikowski, Andreas Petricius, wohl ein Sohn des Belzer
240
Seniors Thomas Pefricius, und Johann Chelmski, der spätere Krakauer
Jäger und Schutzherr des Gotteshauses in Góry. Stephan Chelmski hat da-
gegen 1619 die Hohe Schule zu Herborn bezogen und hier 1622 disputiert,
seine Schrift den Brüdern seines Vaters Christoph und Marcian, dem
Krakauer Bannertraéger, sowie dem Bruder seiner Mutter Stanislaus Zie-
linski, dem weitgereisten und vielversuchten Manne, gewidmet. Johann
Moskorowski, den die Matrikel noch unter dem Jahre 1622 verzeichnet, war
doch wohl ein Sohn jenes Hieronymus Moskorowski, der 1575 in Wittenberg
und in Leipzig studiert, später aber dem Unitarismus sich zugewandt, mit
Sozino Freundschaft 3 eine Tochter des bekannten Dudith heim-
geführt, seinen Olaubensgenossen in Czarkow an der Weichsel ein Gottes-
haus erbaut hat.
Der eben genannte Cikowski zog im folgenden Jahre aus der Heimat
nach sich zur Hochschule seinen Vetter Stanislaus Cikowski von Woys-
lawice, dessen Bruder ridley ik zehn Jahre zuvor nach Basel gegangen
war. Bemerkenswerter aber als dieser dem Kleinadel angehörige Student
sind die Brüder Nikolaus und Christoph Siupecki, die mit Peter Mlodecki
und Lukas Gluski gekommen waren unter Führung des Präzeptors Petrus
Sowinski, der bereits 1598 in Basel einen jungen polnischen Baron beauf-
sichtigt hatte. Waren es doch die Söhne des Lubliner Kastellans Felix
Stupecki, der selber in Heidelberg und Altdorf studiert hatte, und der
Lissaer Grafin Barbara. Drei Jahre später sehen wir sie in Leiden, wo sie
dem berühmten Vossius näher traten, dann auch in Paris, wo sie der große
Grotius seiner Zuneigung würdigte. Doch waren sie nicht mehr evangelisch,
schon ihr Vater war zur römischen Kirche zurückgetreten.
Gleichfalls mit einem Studium in den Niederlanden und besonders in
Leiden krönten ihre Frankfurter Lernzeit die Brüder Stanislaus und Paul
Spinek von Batkow aus dem Lubliner Lande, die auf Veranlassung ihres
Stiefvaters, des Hauptmannes von Horodlo Stanislaus Gabriel Zborowski
auf dem Thorner Gymnasium vorgebildet, mit Johann Kossowski und Albert
Wissakowski 1624 vor den Rektor getreten waren. Dagegen zogen mit
ihrem Lehrer Johann Wundergast aus Marburg, der bisher die Schulen in
Oksza und in Belz geleitet hatte, nach Leipzig weiter die Lissaer Grafen-
söhne Andreas und Raphael, Sohne des Belzer Wojewoden. Auch sie
hatten vorher das Thorner Gymnasium besucht. Dagegen begnigten sich
mit einem Studium in Frankfurt die Sohne des Kammerers Bal von Oczew,
obwohl sonst gerade Sohne dieser kleinpolnischen freu evangelischen
Familie auch nach Heidelberg, Marburg und Leiden gepilgert waren.
Wiederum zog nach einem dreijährigen Studium in Frankfurt nach Leiden
weiter Stanislaus Karwicki, der mit seinem Bruder Paul ebenfalls 1624 zur
Viadrina gekommen war. Sein Begleiter zur märkischen und holländischen
Hochschule war Martin Büttner, der spätere Senior der Gemeinden hinter
Wilna (t 1670), der als Sohn eines Bartholomäus Büttner in Straßburg 1614
in das Thorner Gymnasium eingetreten war. Sein Bruder Viktorin, der fünf
Jahre nach ihm die märkische Hochschule besuchte, ließ sich als Glombovicio-
Polonus eintragen, weil sein Vater inzwischen das Pfarramt in Glebowice
an der schlesischen Grenze angenommen hatte. Das Jahr 1625 führte einen
Andreas Czerniecki aus Zamosc nach unserer Universität.
120 Jahre waren seit Gründung der Viadrina vergangen, etwa 500 Söhne
des polnischen Adels hatten an ihr ihre Ausbildung erhalten, dazu so viele
Söhne deutscher Bürgerfamilien des Ostens. Diese strömten ihr auch
weiter zu, und immer mußte Frankfurt in erster Linie den Deutschen Polens
die in ihrem Lande ihnen fehlende deutsche Hochschule ersehen, aber
Polen begegnen uns hinfort an der märkischen Hochschule nur noch verein-
zelt. Die Abkehr des polnischen Volkes von der Reformation, der anwach-
sende jesuitische Einfluß wirkte sich aus. Doch nicht ganz wie in Wittenberg,
Leipzig, wurde in Frankfurt der Pole eine seltene Erscheinung. 1644 trat vor
den Rektor der Franziskanermönch Kasimir Malinowski aus dem Kalischer
Konvent, der in der Oderstadt auch zur evangelischen Kirche sich bekannte,
ein Jahr später Johann Latalski, den wir mit seinem Bruder Nikolaus seit
241
1645 unter den Thorner Gymnasiasten sehen und der 1662 uns auf der
Mielenciner Synode begegnet. 1650 erschienen mit ihrem Ephorus johann
Reczynski, der mit seinem Bruder Alexander das Jahr zuvor Thorn auf-
gesucht hatte, die beiden Brüder Stanislaus und Bogislaus Zbanski aus der
Korower Linie, freilich nur um schon im nächsten Jahre nach Leiden weiter-
zuziehen. 1650 führte Georg Ciachowski, bald unifarischer Pfarrer in
Czerniechow, dann nach der Achtung seines Bekenntnisses in Polen Seel-
sorger an den unitarischen Exulanten in der Mark, seinen Zögling Raphael
Gorayski, den Sohn des Chelmer, bald Kiewer Kastellans, des unermüd-
lichen Wortführers der Reformierten, auch ihr Vertreter auf dem Thorner
Religionsgespräch, zur Viadrina, 1651 Raphael Gorzynski den Andreas
Drohojowski. Mehr als hundert Jahre waren vergangen, daß dessen Ahn-
herr, der Przemysler Kastellan Stanislaus Drohojowski, zur Studienfahrt nach
Wittenberg sich gerüstet hatte, und in jeder Generation hatte sein Ge-
schlecht einen Sohn nach Deutschland geschickt, nun sehen wir in seinem
Urenkel Andreas den letzten seiner Familie auf einer deutschen Akademie.
1664 konnte der Rektor den Sohn des Bannertragers von Nowogrodek Paul
Frankiewicz Radzyminski einschreiben, 1677 einen Stanislaus Jurkiewicz,
1679 mit ihrem Lehrer Andreas Makowski zwei Brüder Orzechowski und
zwei Goluchowski, Severin und Martin. Ein jüngerer Bruder oder Vetter
Michael Goluchowski erschien noch 1687 und zog im folgenden Jahre nach
Leiden, und damit haben sich auch die Studienfahrten dieses kleinpolnischen
Geschlechts zu evangelischen deutschen Hochschulen erschöpft.
Für das Jahr 1694 verzeichnet die Matrikel einen Johann Borzymowski,
für 1696 einen Daniel Borzymowski aus Stuck, etwa in derselben Zeit drei
Brüder Wladislaus, Alexander und Johann Zychlinski und einen Alexander
Konsinowski, nachdem ein Petrus Konsinowski schon 1683 um Aufnahme
gebeten hatte. 1716 richtet ein Wladislaus Konsinowski einen Hilferuf nach
Berlin. Er habe die Starostei Deutsch Krone käuflich erworben, aber die
katholische Gegenpartei hindere die erforderliche königliche Bestätigung
mit der Begründung, Evangelische seien nicht berechtigt, Hauptmannschaften,
die mit Gerichtsbarkeiten verbunden, zu besitzen. Ob Berlin für ihn in
Warschau Vorstellungen erhoben hat? Von den in der Neumark ansässig
gewordenen unitarischen Polen bat 1689 Stanislaus Morstein, 1708 Johann Jakob
Wilkowski und Johann Wladislaus Suchodolski, 1716 dessen Bruder Friedrich
Samuel und schon 1709 Achatius Taszycki aus der Lustawicer Linie um
Aufnahme. Der Ahne des letzteren, Cyrill Taszycki, war 1616 nach Marburg
gezogen. Seit 1686 gingen durch die Frankfurter Kollegien verschiedene
Wolk, Söhne jener Familie, die in der Zeit, da das Los der Evangelischen
immer düsterer wurde, in Litauen mit Nachdruck dem Verhängnis sich ent-
gegenzustemmen suchten und gegen die Entrechtung sich wehrten. Johann
Wolk, der Jäger von Nowogrodek, der Vertreter seiner Glaubensbrüder
1710 in Warschau, hat als erster seines Geschlechts sich nach Frankfurt
gewandt. Ähnlich sandte die andere Familie, die damals in Litauen ihre
Kraft für die Glaubensfreiheit einsetzte, die Estko, ihre Söhne seit 1717 zur
märkischen Hochschule. Jener Alexander Gabriel Hulewicz, der mit Bogus-
laus Mikolajewski 1718 akademischer Burger wurde, hat bei der Druck-
legung der polnischen Bibel, die in Halle erschien, mitgearbeitet, ihre
Korrekturbogen gelesen. Die Twardowski, Kurnatowski, Bronikowski, die
um die Mitte des 18. Jahrhunderts nach Frankfurt zum Studium kamen, waren
Söhne der wenigen letzten polnischen evangelischen Adelsgeschlechter.
Ihre Namen finden wir unter der Urkunde der Thorner Konfoderation 1767.
Unter den Jahren 1777 nennt die Matrikel einen Paul Przystanowski,
Sohn des königlichen Kämmerers Michael Przystanowski, unter den Jahren
1773 und 1775 zwei Grabowski, also Söhne jener evangelischen Familie,
der es kurz vor dem Zusammenbruch des Reichs noch gelang, den
1Sojährigen Bann des Ausschlusses von höheren Amtern zu brechen und zu
Senatoren emporzusteigen.
Zahlreicher als polnische Edelsöhne waren in den letzten 150 Jahren der
Viadrina unter den Studenten polnische und litauische Pastorensöhne, An-
242
warter des geistlichen Amtes, die ihre Ausbildung und Zurüstung suchten,
angelockt zum Teil von den Stipendien, die die Herrscher Preußens in
ihrer Fürsorge für ihre verarmten und bedrängten Glaubensbrüder im Osten
an ihrer Landesuniversität gestiftet halten. dei Frankfurt wurde wesentlich
die Hochschule, die den Reformierten des Ostens den Nachwuchs für das
geistliche Amt lieferte. Wir wollen nicht alle anführen, die hier zu nennen
wären, doch aber die verzeichnen, die besonders ihre Namen in die Ge-
schichtsbücher ihrer Kirche eingeschrieben haben. So studierten Theologie
1651 der Pastorensohn aus Malice (Sendomir) Samuel Büttner, der spätere
Senior des Distriktes jenseits von Wilna, dann von Samogitien, der un-
ermüdliche Verteidiger der Rechte seiner Glaubensgenossen, der gegen-
uber der gesteigerten oo um um eine 5 Verbindung mit der
ähnlich bedrängiten orthodoxen Kirche sich bemühte, 1678 Georg Luto-
mierski, der Sohn des Seniors von Samogitien gleichen Namens, der selbst
einst seine Ausbildung auf englischen und holländischen Universitäten ge-
funden hatte. Er wirkte in verschiedenen Gemeinden und starb 1694 in
Kiejdany. Für 1681 sei Florian Swida genannt, der spätere Senior von
Nowogrodek, für 1686 der Lubliner Thomas Cien, später Pfarrer in Sielec,
etliche Meilen östlich von Pinczow, für 1689 Paul Cassius, dann Pfarrer in
Zychlin unfern von Kalisch, seit 1725 auch Senior der Brüderunität in Groß-
polen. Für 1689 verzeichne ich Johann Aram, der später in Sieczkow, dicht
bei dem genannten Sielec der Gemeinde am Worte Gottes diente, für
1698 Georg Rekuc. Da er der Sohn einer Mischehe war, deshalb ohne
Lebensgefahr in seinem Vaterlande nicht weilen konnte, wandte ihm
Jablonski, der bekannte Berliner Oberhofprediger, das reformierte Pfarr-
amt in Königsberg zu. In unermüdlicher Sorge hat er hier für die Kirche
seiner Heimat gearbeitet, fern von dem väterlichen Boden auch das Se-
niorat . von Samogitien bekleidet, das ihm seine dankbaren Glaubens-
genossen übertragen hatten.
Im Jahre 1703 finden wir in Frankfurt wieder Christian Sitkowski, den
Lissaer Pfarrer, 1734 auch Unitäts-Senior, 1705 Daniel Krosniewiecki, dann
Pastor in Radziwiliszki, 1710 Martin Dyakiewicz. Die Dissertation, die er
geschrieben, hat er Jablonski gewidmet ob seiner väterlichen Fürsorge für
die Kirchen des Ostens, in Wengrow hat er mit einem lutherischen Pastor
an demselben Gotteshause gestanden. 1715 wurde Student Andreas Skirski,
dann Geistlicher in Piaski, 1717 Michael Estko, dann in Nowe Miasto, schon
das Jahr zuvor der Sendomirer Boguslaus Petroselinus, dann in Belzyce,
gelegentlich auch Prediger in der preußischen Gesandtschaft in Warschau.
Im ae 1722 begann sein Studium Christoph Myslowski, in der Folgezeit
deuischer Prediger in der reformierten Gemeinde zu Wilna, 1724 Samuel
Nerlich, der dann in Lapczynska Wola in Kleinpolen ein Amt fand, in dem-
selben Jahre auch Samuel Majewski, der, fast siebzigjährig, in Zychlin 1767
seine Treue mit einem qualvollen Martyrertode besiegelte. 1727 ist immatri-
kuliert Samuel Pawlowicz, der in Sidra in Podlachien dann des Hirtenamtes
waltete, 1729 Stephan Izbicki, fortan Rektor in Birze, seit 1740 Pfarrer in
Lubecz, 1730 Daniel Begin, der dem schon genannten Senior Aram in Siecz-
kow als Diakonus zur Seite stand, 1731 Johann Ernst Vigilantius, eines
Pfarrers Sohn und Enkel, dann auch selbst Pastor in Lagwik, der bohmi-
schen Briidergemeinde. Fur 1737 sei erwahnt Jakob Reczynski, in der
Folgezeit Senior in Podlachien, für 1741 Stephan Volan, dessen Ahnherr
schon 1544 zur Hochschule am Oderstrande gewandert war, und Stephan
Wannowski, der 27 Jahre später auch seinen Sohn nach Frankfurt sandte.
Alexander Andreas Kopycki, 1768 Student der Viadrina, diente der Kirche
schließlich als Senior in Samogitien. Ein Blick in die Pastorenfamilie der
Cassius. Von ihr erhielf Franz Ernst, der Thorner Pastor, seine Ausbildung
in Frankfurt 1715, Samuel August, der Schwartower Pfarrer, 1721, Johann
Alexander, der Prediger in Orzeschkowo und Lissa, auch Senior, 1726,
Boguslaus David, der Schockener, 1732, Christian Theophil, der Posener,
1760, Boguslaus David, der Lissaer Direktor, 1766, sein Bruder Johann Lud-
wig, der Generalsenior, 1764, Johann Bogislaus, der seine Studien 1786 in
245
Leiden fortisekte, 1783. Noch 1804 hat der Orzeschkowoer Pfarrer und
Posener Professor Johann Wilhelm Cassius, noch 1805 der Lissaer Professor
Johann Friedrich Ludwig Cassius zu den Füßen Frankfurter Lehrer gesessen.
Auch der Pfarrer von Kieidany, uslaus Bernakki, um noch einmal nach
Litauen zu schauen, der Wilnaer Pastorensohn, der selbst 1770 an der
Viadrina aus dem Quell der Wissenschaften geschöpft, führte ihr noch 1805
seinen Sohn Alexander Boguslaus zu, der zuerst nach Königsberg gegangen
war. Wie mancher Pastorenfamilie ist die Alma mater am Oderstrande
durch mehrere Geschlechter Lehrerin gewesen!
Wir stehen am Schlusse. Nie hat Frankfurt den Zauber gehabt, den
Wittenberg für lern- und Ne DIENT al besessen, nie den Reiz,
den Heidelberg für die reformierten, orf für die unitarischen Studenten
hatte, aber länger als diese Bildungsstatten hat es dem Osten gedient, 300
e ihm Oeisteskräfte gespendet, gerade auch in einer Zei, da seine
evangelischen Kirchen unter schwersiem Drucke standen, bedrängt, ver-
folgt um ihre Existenz ringen mußien, ihre Widerstandskraft durch die
Pastoren, die es ihnen ausgebildet, gestärkt. Die Kultur und das Geistes-
leben Polens ist von der deutschen Grenzuniversitat auf märkischem Boden
anfänglich wesentlich beeinflußt worden, dann, als es sich in der Zeit seines
Niederganges und Zerfalls gegen deutsches und evangelisches Wesen be-
wußt verschloß, hat in ihm wenigstens noch das Häullein, das festhiell an
den Errungenschaften des 16. Jahrhunderts, der großen Zeit Polens, gelebt
von den Geisteskraften, die diese Grenzuniversität spendete.
244
Il
LITERATUR BERICHTE
ARCHEION
(Czasopismo naukowe poświęcone sprawom archiwalnym. Redaktor:
Stanisław Ptaszycki. Warschau 1927—1928, Bd. I- IV.)
Von
Dr. Kazimierz Tyszkowski
und Dr. Stanisław Zajączkowski (Lemberg).
Die große Entwicklung der Rechtspraxis im alten Polen, sowie
die genealogischen und finanziellen Interessen des polnischen Adels
waren Ursachen, daß das polnische Archivwesen mit besonderer Vor-
liebe gepflegt wurde. Die Grodbiicher und Landtafeln wurden mit
großer Pietät aufbewahrt, alle Familien besaßen eigene Archive, wo
genealogische Papiere und Güterdokumente aufgehoben wurden.
In der Hauptstadt hatte man alle Staatsarchive gesammelt, die unter
Obhut des Großkanzlers standen, der Teilungen wegen hatten sie
jedoch keine neuzeitliche Ordnung und Entwicklung erreicht. Ein
großer Teil des Kronarchivs wurde aus Warschau nach Moskau weg-
geführt, alle anderen wurden den drei verschiedenen Staatsorganis-
men einverleibt und anderen Vorschriften unterworfen. Die archiva-
lische Tradition wurde dadurch gebrochen; man mußte sie von neuem
im Jahre 1918 aufbauen, als die Archive in polnische Hände zurück-
kamen.
In diesem Momente sind viele Historiker vom Fach in den Archiv-
dienst getreten. Galizien, auch Preußen und Rußland haben einige
Spezialisten hinzugefügt, und die Arbeit begann. Zwei Richtungen
wurden in erster Linie verfolgt: die Ordnung und die Zutrittserleich-
terung der Schätze für die wissenschaftlichen und staatlichen Zwecke,
ferner die Revindikation der Archivalien, die einst dem polnischen
Staate angehörten, oder dem rechtsmafigen Leben unentbehrlich
waren. Dabei mußte man archivalische Studien auch im theoretischen
Sinne pflegen und die Archivwissenschaft auf dem polnischen Boden
einpflanzen. Dieser Aufgabe dient die im Jahre 1927 gegründete
Zeitschrift ,Archeion“ unter der Leitung des Generaldirektors
Professor Stanistaw Ptaszycki, vorher Universitätsprofessor
in Petersburg.
Schon während der Historikertagung zu Posen (1925) hat
Dr. Lopacinski die Gründung einer archivalischen Zeitschrift ge-
245
fordert. Auf diesem Kongresse wurden die bisherigen Resultate
und Arbeiten der Archivistik sichtbar und schufen dieser Disziplin
eine eigene Stelle inmitten anderer historischen Wissenschaften, da
die zahlreichen Referate durch ihren wissenschaftlichen Wert die
Aufmerksamkeit aller versammelten Historiker auf sich zogen.
Das Programm der neuen Zeitschrift wurde, wie in der Vorrede
des Redaktors auch bemerkt ist, weit bemessen. Wir sollen genaue
Informationen über den Zustand der polnischen Archive, über ihre
Entstehung und Organisation, über die Arbeiten und Studien er-
halten. Dabei werden theoretische Probleme des Archivwesens ge-
pflegt, ferner die Geschichte der Archive in Polen, die Berichte über
die Literatur und Archive im Auslande, die Bibliographie usw. Alle
diese Aufgaben haben in den vorliegenden vier Heften ihre Reali-
sation gefunden.
Dr. Anton Rybarski widmete den Organisationsproblemen
einen einleitenden Artikel u. d. T. „Centralny Zarzad Ar-
chiwalny w odrodzonej Rzpltej Polskiej“ (Archiva-
lische Zentralverwaltung in der neuen polnischen Republik Polen,
Bd. I, S. 1—14). Ausführliche Angaben über dieses Thema kann der
deutsche Leser in dem Artikel Bachulski’s in der Archiva-
lischen Zeitschrift!) oder noch besser, was die deutsche
Archivverwaltung in Kongreßpolen während des Welikrieges an-
betrifft, im Referate von Dr. Recke auf dem Deutschen Archiviage
zu Danzig?) finden.
Eine Übersicht über alle Staatsarchive gibt Dr. Lopacinski:
Archiwa Pafistwowe Rzpltej Polskiej (Die Staats-
archive der Republik Polen, Bd. I, S. 15—32). Als wichtige Ergan-
zung dient die in jedem Bande der Zeitschrift angegebene Chronik,
aus welcher wir genaue Informationen iiber die Geschichte und Ar-
beiten jeder Institution vom Weltkriege angefangen bis zum heutigen
Tage entnehmen.
In den letzten Jahren hat man in Polen einige solche Übersichten
zusammengestellt. Es erschienen in chronologischer Reihenfolge:
Handelsman „Historik“, Ptaszycki „Encyklopä-
die“), Wierzbowski „Vademecum“ ), dann ein Artikel uber
chulski a. Polnische Staatsarchive, Archivalische Zeitschrift
m. F. 84 IV., S. 241—261.
3) Recke, Walther: Das Archivwesen in Polen. Korrespondenzblatt des
„„ der Altertums- u. Geschichtsvereine. 1928. Jg. 76, S. 239
is 24
3) Handelsman, Marceli: Historyka. Część l. Zasady metodologii
historji. Zamość. Zygmunt Pomarański i Spólka. 1921. str. XI + 256. Wyd ll.
Warszawa. Naki. Gebethnera i Wolffa. 1928. str. XIII + 332.
] Ptaszycki, Stanislaw: Encyklopedja Nauk Pomocniczych Historji i
Literatury Polskiej. Część I. Wyd. II 3. Lublin, Nakł. Uniwersytetu Lubel-
skiego. 1922. str. 283 + V.
5) Wierzbowski, Teodor: Vademecum., Podręcznik dla słudjów archi-
walnych Wyd. II zmienione i rozszerzone po śmierci autora przez K. Tysz-
5 i B. Wiodarskiego. Lwów-Warszawa. Ksiaznica-Atlas 1926.
sir. 253 + A
246
die Archive von Dr. Paczkowski, ehemaligen Generaldirektor,
vorher im preußischen Staatsarchivdienste, im Handbuch über
Polen von Sujkowski*) und Kutrzeba „Geschichte der
Rechtsquellen“). Alle diese Verzeichnisse sind unvollständig
und erheben keinen Anspruch darauf, da sie nur für informations-
zwecke bestimmt sind.
Einen größeren Umfang und einen größeren Wert besitzt die
ll. Ausgabe von Chwalewik: „Polnische Sammlungen“)
samt den Materialien zum Verzeichnisse, die im Jahrbuche , Nauka
Polska“) publiziert wurden. Die Zahl dieser Verzeichnisse
beweist, wie notwendig diese waren, andererseits aber stellt deren
Menge ihre Zweckmäßigkeit in Zweifel. Die offiziellen Angaben von
Dr. Łopaciński können, obzwar unmittelbar von den Archivverwal-
tungen geliefert, doch manchmal bestritten werden, da sie nicht
gleich lauten und deshalb nicht in demselben Maße nukbar sind. Das
haben wir schon einmal in der Rezension des Archeion besprochen:“).
Eine besonders wichtige Frage des polnischen Archiviebens war
die Rückgabe der alten Archive und der gegenwärtigen Registra-
turen von den drei Herren Polens vor dem Kriege. Man widmete
deshalb diesem Probleme vier Artikel, wo wir genaue Informationen
darüber treffen; so besitzt die russische Revindikation schon eine
große Literatur‘), für den deutschen Leser sind die zitierten An-
©) Sujkowski, Antoni: e Niepodległa. Warszawa. Wyd. Kasy im.
Mianowskiego. 1926. str. 260 + 6.
7) Kutrzeba, Stanislaw: Historja źródeł dawnego prawa polskiego.
Lwów. Wyd. Zakładu Nar. im. Ossolińskich. T. I. str. IV + 286. r. 1925.
T. II. str. 462 +2. r. 1926.
*) Chwalewik, Edward: Zbiory Polskie. Archiwa bibljoleki, gabinety,
galerje, muzea i inne zbiory pamigtek przeszłości w Ojczyźnie i na ob-
czyźnie w porzadku alfabetycznym według miejscowości ułożone. War-
szawa-Kraköw. Wyd. J. Mortkowicza. T. I. A—M. str. IX + 490. r. 1926.
T. I. N- Z. str. 559. r. 1927.
J Nauka Polska. Rocznik Kasy im. Mianowskiego Instytutu popiera-
nia Polskiej Twórczości Naukowej f. VII. Materjały do spisu instytucyj i
atA a Naukowych w Polsce. Warszawa. Pałac Staszica 1927. sir.
10) Kwartalnik historyczny 1927. S. 591.
11) Dokumenty dotyczące akcji Delegacyj Polskich w Komisjach Mie-
. i Specjalnej w Moskwie. Zeszyt 1—9. Warszawa
1922 — 1
Kunge, E.: Sprawy rewindykacyjne. Pamietnik IV Powszechnego
Zjazdu Historyków en w Poznaniu 6—8 grudnia 1925. 1. Referaty.
Lwéw 1925. S. VI, S.
Tyszkowski, K.: Z deieiow rewindykacji. Kwartalnik historyczny. 1924.
Nr. 3 (auch separat).
Derselbe: Rewindykowane rekopisy Bibljoteki Publiznej w Petersburgu
jako materjal badań historycznych. Pamietnik IV. Powszechnego Zjazdu
Historyków Polskich. Bd. Il. 1927. S. 230-236 (und separat).
Chwalewik, E.: Losy Zbiorów Polskich w Rosyjskiej Bibljotece Pu-
blicznej w Leningradzie. Odb. ze „Zbiorów Polskich“, sfr. 43+5. Warszawa.
Wyd. Jakuba Mortkowicza 1926.
247
gaben von Bachulski in der „Archivalischen Zeitschrift‘ zugänglich.
Die großen Vorbereitungen und Vorstudien haben viele wissen-
schaftlich neue Resultate gebracht und im allgemeinen auch die Ge-
schichte der polnischen Archive stark gefördert und beeinflußt.
Siemiefski Józef: Revindikation der Kron-
archive. Wissenschaftliche Vorbereitung und Resultate (Rewindy-
kacja archiwöw koronnych. Przygotowanie naukowe i wyniki. Bd. !.
33—60).
Der heutige Direktor des Warschauer Hauptarchivs, der an den
Revindikationsarbeiten in Moskau teilnahm, stellt uns in seinem Re-
ferate, das auf der Posener Historikertagung gelesen wurde, alle
archivalischen Arbeiten vor, welche in Warschau und an Ort und
Stelle in Moskau vorgenommen wurden, um auf Grund des Friedens-
vertrages alle Kronarchive zurückzubekommen, welche im Jahre 1795
nach Rußland weggeführt waren. Man mußte dabei nicht nur die
Geschichte der Konfiskation durcharbeiten, sondern auch alle alten
Inventare und Verzeichnisse durchsuchen, um das ganze Material zu
identifizieren, welches teilweise an verschiedenen Stellen Rußlands
zerstreut war. Die Verhandlungen führten dazu, daß die russische
Regierung die Abgabe der polnischen Teile des ehemaligen Kron-
archivs bewilligte, die der anderen Archive jedoch, welche historische
Provinzen des alten Polenstaates betrafen, versagte. Von be-
sonderer Wichtigkeit ist hier die sogenannte „Litauische und Wolhy-
nische Metrik“. Dem abgegebenen Teile gehören die Dokumente
des Kronarchivs, die Kronmetrik und die Staatsakten des XVIII. Jahr-
hunderts bis zum Jahre 1795 an.
Biatkowski, Leon: Was sollen wir aus Kiew
revindizieren ? (Co powinniśmy rewindykowaé z Kijowa?
Bd. I, S. 61—65.) Ein Verzeichnis der Gerichtsakten und Gerichts-
bücher im Zentralarchiv in Kiew, welche sich auf Wolhynien polni-
schen Anteils bezichen.
Suchodolski, Witold: Die Ausführung des
Art. XI des Rigaer Vertrages hinsichtlich der
Staatsarchive (Wykonanie Art. XI Traktatu Ryskiego w za-
kresie archiwów pafstwowych. Bd. I, S. 66—78).
In diesem Artikel finden wir genaue Angaben, was für Archive
und Akten des XIX. Jahrhunderts von den Russen zurückgestellt
wurden. Es sind dies in erster Reihe neue Registraturen der rus-
sischen Behörden in Polen, die im Laufe der Zeit nach Rußland ge-
bracht wurden, und auch solche, welche während des Weltkrieges
evakuiert worden sind. Neben ganz neuen Akten, die doch für die
Administration des Landes von besonderem Wert sind, treffen wir
auch alte und wichtige Aktengruppen, wie z. B. die Archivalien der
Olkuszer Bergwerke. Hierher gehört auch das Archiv des Staats-
sekretariats für das Königreich Polen (1815— 1866). Die weiteren
Arbeiten bei der Rückgabe sind im Gange und werden noch viel
Material für den Historiker des XIX. Jahrhunderts ans Licht bringen.
248
Barwifski, Eugenjusz: Die Archivverhand-
lungen mit Österreich (Rokowania z Austria w sprawach
archiwalnych. Bd. I, S. 79-92). Der Lemberger Staatsarchivdirektor
schildert hier die Verhandlungen zwischen Osierreich und Polen
über die Ausgabe der Akten, wobei er selbst teilgenommen hatte
Die auftretenden Schwierigkeiten bestehen darin, daß Osterreich
das Provenienz-, Polen dagegen das Territorialprinzip vertritt.
Stojanowski, Jözef: Die Archivverhandlungen
mit Deutschland (Rokowania z Niemcami w sprawach archi-
walnych. Bd. I, S. 93—105). Die Archivverhandlungen mit Deutsch-
land sind über gegenwärtige Amtsakten nicht hinausgekommen; jene
Archivalien, d. h. Akten, welche an Archive schon verteilt wurden,
blieben dabei unberührt.
Alle anderen Aufsätze und Abhandlungen, welche in den vier
Heften des Archeion enthalten sind, können in fünf Abteilungen ge-
teilt werden. Die erste bilden Aufsätze, welche Probleme aus der
Theorie der Archivkunde, Einrichtung der Archive usw. beireffen, die
zweite Aufsäbe historischen Inhaltes, in der dritten sind Berichte
über einzelne Archive, Archivdepots und Sammlungen, die vierte
Kategorie ist den ausländischen Archiven gewidmet, die fünfte end-
lich umfaßt Literaturberichte und Bücherbesprechungen.
Konarski, Kasimir: Über Probleme der mo-
dernen polnischen Archivkunde (Z zagadnień nowo-
Zyinej archiwistyki polskiej) l, 106— 124.
Der Verfasser hebt die Schwierigkeiten, welche die polnische
Archivkunde zu überwinden hat, hervor. Diese treten bei der Fest-
stellung der archivalischen Terminologie und der Hauptaufgaben der
archivalischen Praxis auf. Der vorliegende Aufsatz wird der Be-
stimmung des Begriffes „archivalischer Fond“ (zespöl) und der Be-
zeichnung seiner Merkmale gewidmet; dabei schlagt der Verfasser
die Einführung des Ausdruckes „Prinzip der Kanzlei-Zustandigkeit“
anstatt des Ausdruckes ,,Provenienz-Prinzip“ vor. Zuletzt wirft er
die Frage der Aufbewahrung der Archivalien in der Zukunft mit
Hinweis auf die immer mehr anwachsende Masse von Papieren, die
den Archiven zukommen werden, und ferner das Problem der Akten-
skartierung auf.
Siemiefs ki, Joseph: Die bibliothekarmäßige
Repertorisierung der Archive (Katalogowanie archiwöw
po bibljotekarsku) I, 125—134. Kritik der Arbeit Jacek Lipski’s:
„Archiv des Schul-Kuratoriums des Fiirsten Adam
Czartoryski“, welche auf eine bibliothekarmäßige Weise, mit
Nichtbeachtung des Provenienz-Prinzips, durchgefuhrt wurde.
Manteuffel, Thaddäus: Registratur-Uber-
nahme und das Ordnen derselben (Dziedziczenie regi-
stratur i ich porzadkowanie) l, 135—139. Der Verfasser berührt
mit Hinweis auf ein konkretes Beispiel die Frage, wie man beim
Ordnen der übernommenen Registraturen, welche die älteren in sich
enthalten, vorgehen soll.
249
Ehrenkreutz, Stephan: Bereisungs-Archivisten
oder Konservatoren für Kunst- und Kultur-Denk-
maler (ArchiwiSci objazdowi czy konserwatorowie zabytków sztuki
i Kultury) I, 145—154. Besprechung der neusten polnischen Geseb-
gebung in betreff der Aufsicht uber Archivalien, mit welcher sowohl
die Bereisungs-Archivisten wie auch die Konservatoren für Kunst-
und Kultur-Denkmäler betraut wurden, wobei mancherlei Modifika-
tionen der bestehenden Vorschriften vorgeschlagen werden.
Handelsman, Marzell: Die Methode der For-
schungen in den Archiven (Metoda poszukiwań archiwal-
nych) II, 31—48. Indem der Verfasser vor dem Grübeln nach dem
unbekannten archivalischen Material warnt und das Verhältnis des
Ungedruckten zum Gedruckten richtig fesistellt, gibt er praktische
Ratschläge und Regeln, welche die Vorbereitung zu den Forschungen
in den Archiven, dann die Forschungen selbst in ihrer äußeren (tech-
nischen) und wissenschaftlichen Beziehung und endlich die Behand-
lung der Archivalien betreffen.
Ptaszycki, Stanisław: Archiv-Archeion. Ety-
mologisch-historische Betrachtungen (Archwun-
Archeion. Uwagi etymologiczno-historyczne) Ill, 1—11. Betrach-
tungen uber die Bedeutung und Geschichte des Wortes „Archiv“
(„archiwum“) sowie den Gebrauch desselben in der polnischen
Sprache.
Siemienski, Joseph: Terminologische Betram-
tungen (Roztrzasania terminologiczne) Ill, 12—22. Betrachtungen
uber archivalische Fachausdrücke in der polnischen Sprache, nämlich
„archiwum“ (Archiv), welches Wort, wie der Verfasser beweist, drei-
fache Bedeutung besikt: Behörde, die zur Aufgabe hat, Akten auf-
zubewahren (Archivdepot), dann Akten einer funktionierenden Be-
hörde, die vorlaufig keinen praktischen Wert haben, die aber von
derselben aufbewahrt werden, endlich Gesamtheit der Akten, welche
den Nachlaß der Wirksamkeit einer Behörde bilden und dem Archiv-
depot übergeben worden sind.
Pawłowski, Bronisław: Einiges über Akten-
skartierung (Nieco o brakowaniu akt) Ill, 23— 29. Der Ver-
fasser hebt die Wichtigkeit dieses Problems mit Hinweis darauf, daß
die Archive von Überhäufung mit modernen amtlichen Papieren be-
droht sind, hervor. Er stellt die Forderung auf, daß die Skartierung
der den Archiven von verschiedenen Behörden zu übergebenden
Akten von dem Personale dieser Behörden durchgeführt werde, was
aber durch genaue Vorschriften geregelt werden soll. Als Beispiel
führt er eine solche fur die Militärbehörden entworfene instruktion an.
Abraham, WIadys law: Die Gesetzgebung der
katholischen Kirche in betreff der Archive (Usta-
wodawstwo kościelne o archiwach) IV, 1—14. Der Verfasser be-
spricht die allgemeine, auf die Archive Bezug nehmende Gesch-
gebung der katholischen Kirche seit dem Tridentiner Konzil, dann die
gleichzeitigen Leistungen der polnischen Kirche in dieser Hinsicht.
250
Das Provlem der Einrichtung und Erhaltung der kirchlichen Archive
wird jetzt durch den neuesten Kodex des kanonischen Rechtes ge-
regelt, wobei aber, auf Grund des Konkordates zwischen Polen und
dem apostolischen Stuhl, der polnischen Regierung die Möglichkeit,
ihren Einfluß darauf auszuüben, eingeräumt wurde.
Kwolek, Johann: Die wissenschaftliche Orga-
nisation der Diözesanarchive (Naukowa organizacja
archiwów djecezjalnych) IV, 15—35. Der Verfasser hebt die Be-
deutung und das Bedürfnis der wissenschaftlichen Einrichtung der
Diözesanarchive in Polen hervor, wozu eine Grundlage im Art. XIV
des Konkordates zwischen Polen und dem Vatikan geschaffen wurde
und was im Sinne der päpstlichen Instruktion für die italienischen
Bistümer vom 15. April 1923 erfolgen kann, und bespricht alle damit
verbundenen Fragen.
Kryński, Adam Antoni: Archivist und Archivar
(Archiwista i archiwarjusz) IV, 36—44. Historisch-philologische Be-
trachtungen über die dienstlichen Titel „archiwista“ (Archivis und
„archiwarjusz“ (Archivar), wobei Verf. sich für den Gebrauch des
ersteren erklärt, da diese Bezeichnung schon im Großherzogtume
Warschau, dann in Kongreß-Polen in Anwendung war, der Ausdruck
„Archivar“ dagegen erst unter dem Einflusse der preußischen, dann
der russischen Behörden aufzutauchen begann. Im Anhang werden
die darauf Bezug nehmenden Meinungen des Prof. Dabkowski und
des Generaldirektors Ptaszycki beigelegt. l
Siemiefiski, Joseph: Terminologische Betrach-
tungen Il. Ausweise (Rozirzasania terminologiczne. Il. Wykazy)
IV, 45—53. Betrachtungen uber die Bezeichnungsweise der verschie-
denen Ausweise der Bestande, sowohl der einzelnen Archive wie
auch deren der Archivdepots. Verf. schlägt die Anwendung des
Ausdruckes „Inventar“ vor, erörtert verschiedene Kategorien der In-
ventare und stellt den Unterschied zwischen einem Inventar und
Katalog fest. |
Ketrzynski, Stanistaw: Uber die Anfänge der
Registerbücher der Kronkanzlei und ihren Cha-
rakter im XV. Jahrhundert (Uwagi o poczatkach Metryki
koronnej i jej charakter w XV. w.) Il, 1—30. Die ersten Nachrichten
von den Registerbüchern in Polen beziehen sich auf die geistlichen
Kanzleien seit dem J. 1320. Ihre Einführung in die königliche Kanzlei
ist-aber erst für den Anfang der zweiten Hälfte des XIV. Jahrhun-
derts anzunehmen. Regisferbücher der Kronkanzlei sind uns seit
dem J. 1447 erhalten. Sie waren in drei Kategorien eingeteilt (Re-
gister des Kronkanzlers, Unterkanzlers und Sekretärs) und bestehen
aus einzelnen Heften, welche später zusammengebunden worden
sind. In ihnen waren die Urkunden sowohl auf Grund des Konzepts
wie auch der Große, in extenso oder im Regest eingetragen. Die
darauf Bezug nehmenden Vorschriften und Regeln sind erst im Laufe
der Zeit festgestellt worden.
251
Prochaska, Anton: Ursprüngliche Anordnung
der landesgerichtlichen Akten (Pierwotny uklad akt
ziemskich) I, 140—144 u. II, 58—70. Der Verfasser stellt die ursprüng-
liche Einteilung der gerichtlichen Akten im XVI. Jhdt. in drei Kate-
gorien fest: Actiones, Perpetuitates, Obligationes, welche der drei-
fachen Einteilung der Grodbücher entsprechen.
Wolff, Adam: Uber die Relationsformelin der
mazowischen Kanzlei (Formula relacji w kancelarji mazo-
wieckiej) I, 176—208. Eine Studie über die Bedeutung der Formel
„Relatio..“ oder „Ad relationem ..“ in der Kanzlei der mazowischen
Teilfürsten, hauptsächlich im XV. Jhdt. In ihr waren diejenigen Per-
sonen bezeichnet, auf Grund deren Informationen die Nachricht von
einer Tatsache in die Kanzleibücher eingetragen wurde. Die in der
Formel Erwähnten waren für ihre Informationen verantwortlich.
Dabkowski, Przemystaw: Verzeichnis der In-
duzenten des Grodgerichtes in Halicz im XVIII.
Jahrhunderte (Wykaz inducentöw grodzkich halickich w XVIII w.)
II., 49—57. Alle Eintragungen in die Bücher der Grodgerichte ge-
schahen in doppelter Form, zuerst im Auszuge in das Protokoll, dann
mit Versehung der vorgeschriebenen Formeln in die sog. Inducta.
Die Inducta-Bücher waren von den Induzenten geführt. Verf. gibt,
auf Grund der Halicz’er Grodbücher, ihre Liste im XVIII. Jhdte an.
Iwaszkiewicz, Johann: Zur Geschichte des Àr-
chives alter Akten in Warschau. Das Ordnen der
Archive im Großherzogtume Warschau (Z dziejów
Archiwum akt dawnych w Warszawie. Uporzadkowanie archiwów
Ksiestwa Warszawskiego) li, 85—95. Darstellung der Wirksamkeit
des Matthias Wierzejski, Archivar beim Staatsrate des Königreiches
Polen in den Jahren 1815—1818, welcher die Archive der obersten
Behörden des ehemaligen Großherzogtumes Warschau (Regierungs-
Kommissär, Ministerialrat, Staatsrat, Oberster Rat) in Ordnung ge-
bracht hatte.
Budka, Vladimir, Dr.: Dieerste Anwendung des
gregorianischen Kalenders in den grod- und
landesgerichtlichen Akten der ehemaligen Woje-
wodschaftKrakau (Pierwsze zastosowanie kalendarza gregor-
janskiego w aktach grodzkich i ziemskich dawnego Wojewédztwa
krakowskiego) Ill, 30—34. Der Verfasser beweist auf Grund des
archivalischen Materials, daß die Einführung des neuen Kalenders
in die Bücher des Krakauer Grod-Gerichtes gleich nach der Kalender-
reform geschah. Diesem Beispiele folgten auch andere kleinpolnische
Grod-Gerichte, manche von ihnen mit einer kleinen Verspätung, alle
aber bis Ende Oktober 1582.
Ptaszycki, Stanistaw: Inventar des Kron-
archives aus dem Jahre 1613 (Inwentarz Archiwum Koron-
nego z r. 1613) IV, 98—130. Beschreibung der vier bis jet erhal-
tenen Handschriften des Inyentars des polnischen Kronarchivs aus
dem Jahre 1613, deren zwei im Hauptarchive in Warschau, die dritte
252
in der Stadtbibliothek zu Breslau, die vierte in der Universitäts-
Bibliothek in Krakau aufbewahrt werden. Dabei sind auch die
Spuren einer fünften nicht mehr vorhandenen aufzuweisen.
Karı asinska, Jadwiga: Über die ältesten
Bücher der sog. „Rechnungen der königlichen Hof-
haltung“ (O najdawniejszych ksiegach f. zw. „Rachunki dworu
królewskiego“) I, 155—175. Beschreibung der Rechnungsbücher der
ökonomischen Beamten der königlichen Güter in Kleinpolen aus der
Regierungszeit König Ladislaus Jagiełło (1386—1434), welche vor-
zugsweise im Haupt-Archive in Warschau aufbewahrt werden.
Przelaskowski, Richard: Aktendes Senatsdes
Großfürstentums Warschau und des Königreiches
Polen (Akta senatu Księstwa warszawskiego i Królestwa pol-
skiego). I, 209—214. Eine Abhandlung über das Archiv des Senats
des Grobfurstentums Warschau (1807—1815) und des Königreichs
KongreB-Polen (1815—1831), welches jetzt im Archiv alter Akten
(Archiwum akt dawnych) in Warschau aufbewahrt wird und im J. 1925
endgültig geordnet und inventarisiert wurde.
Mienicki, Richard: Notiz über das verlorene
Archiv der Familie JaroszyfAski in Kuna (Notatka o
zaginionem archiwum Jaroszyfiskich W Kunie) I, 215—219. Kurze
Nachricht über den Inhalt einer archivalischen Sammlung der Familie
Jaroszyński in Podolien, welche während der russischen Revolution
zugrunde gegangen ist. Die einzige Spur dieser Sammlung bildet
jekt die im Besize des Verfassers sich befindende Abschrift des In-
ventars derselben.
Jakubowski, Johann: Preußische Schulakten
aus den Jahren 1794-1807 im Archive der öffent-
lichen Bildung (Akta szkolne pruskie z lat 1794—1807 w Ar-
chiwum Oświecenia Publicznego) ll, 70—82. Beschreibung der Akten,
welche auf das Schulwesen der in den Jahren 1794—1807 dem preu-
kischen Staate angehörigen, später dem Großfürstentum Warschau
einverleibten Provinzen Süd- und Ostpreußen Bezug haben und
jetzt im Archiv der öffentlichen Bildung in Warschau aufbewahrt
werden.
Karwasınska, Jadwiga: Salinen-Rechnungs-
bücher im XIV. und XV. Jahrhunderte Aus dem Ar-
chivdes Krakauer Unterschakmeisters (Rachunki żup
solnych w XIV i XV wieku. Z Archiwum podskarbińskiego krakow-
skiego) III, 35—45. Die Verfasserin bespricht die ältesten verloren
gegangenen Rechnungsbücher der königlichen Salinen in Wieliczka,
Bochnia usw., deren Folge, die Zeit des XV. Jhdts. bis zum Anfang
des XVII. Jhdts. umfassend und eine Unterabteilung des Archives des
Krakauer Unterschaßmeisters bildend, bis auf unsere Tage sich er-
halten hat. Hauptsächlich beschreibt Verf. das neue im Haupt-Archiv
in Warschau entdeckte Rechnungsbuch der Salinen von Bochnia aus
den Jahren 1394 — 1421.
255
Stojanowski, Joseph: Akten des Permanenten
Rates (Akta Rady Nieustającej) IV, 54—89. Beschreibung der
Akten des Permanenten Rates (1775—1788), welche jetzt größtenteils
im Hauptarchive zu Wärschau aufbewahrt werden mit einem sum-
marischen Ausweis derselben.
Mańkowski, Thaddäus: Das Archiv in Jabłonna
(Archiwum w Jabłonnie) IV, 90—97. Summarische Beschreibung der
Geschichte und Bestände des Archivs der Familie Poniatowski in
Jabłonna. Den Kern dieser Bestände bilden die Papiere des letzten
Königs Stanislaus August.
Suchodolski, Witold: Organisation der Ar-
chive in Sovet-Rußland (Organizacja archiwów w Nosji
sowieckiej) Ill, 70—83. Der Verfasser stellt die neue Organisation
der russischen Archive, deren Grundlage die Dekrete des Volkskom-
missärrates vom J). 1918 und des allrussischen Wcik vom ]. 1922
bilden, dar. Alle russischen Staatsarchive bilden ein einziges Zen-
tral-Archiv der Republik (Centrarchiv). lhre Bestände sowie alle
anderen außerhalb des Zentral-Archivs vorhandenen, aber von ihm
registrierten Archivalien bilden ein einheitliches Archiv (Fonds),
welches dem Staate gehört. Das Verwaltungsorgan des Zentral-
Archivs verfügt auch über alle Archivalien in Rußland. Die Einrich-
tung des Archivwesens in Rußland und das Funktionieren einzelner
Archivdepots ist selbstverständlich von den politischen Anschauungen
stark beeinflußt. Dabei aber wendet die Zentralverwaltung ihre Auf-
merksamkeit den wissenschaftlichen Arbeiten zu, was die periodi-
schen Publikationen des Zentral-Archivs (Krasnyj Archiv, Archivnoe
Delo) beweisen.
Manteuffel, Thaddäus: Organisation der Är-
chive in Frankreich (Organizacja archiwöw francuskich) Il,
96-109. Darstellung der Organisation der Zeniralbehörde, sowie
der inneren Einrichtung der „Archives nationales“ und der „Archives
départementales“ nebst einigen Bemerkungen über Kommunal- und
Spital-Archive, sowie über die Fachausbildung der Archivare.
Bachulski, Alexius: Die belgischen Archive
(Archiwa belgijskie) Ill, 46-70. Eine gründliche Darstellung der Or-
ganisation der belgischen Staatsarchive, dann des Stadtarchivs in
Brüssel und des Archivs des Weltkrieges. .
Bachulski, Alexius: Bericht über die archiva-
lische Literatur in R. S. Ff. S. R. 1919 - 1926 (Sprawozdanie
2 literatury archiwalnej R. S. F. S. R. 1919—1926). ll, 110-129. Im
vorliegenden Berichte werden nachfolgende Publikationen bespro-
chen: 1. Historisches Archiv (Is forièeskij Archiv) Petrograd 1919, ver-
öffentlicht von der Archiv-Hauptverwaltung. 2. Archivalische Kur-
sus. Vorlesungen gehalten im J. 1918 (Archivnye kursy. Lekcji €ytan-
nyja w 1918 godu) Petrograd 1920. 3. Sammlung der das Archiv-
wesen betreffenden Dekrete, Zirkulare, Instruktionen und Verord-
nungen für die Zeit vom 15. 6. 1918 bis 15. 6. 1920 (Sbornik dekretov,
cirkularov, instrukcij i rasporjaZenij po archivnomu delu) Moskva
204
1921. 4. Archivwesen. Zentral-Archiv der R.S.F.S.R. (Archivnoe
Delo. Centrainyj Archiv R. S. F. S. R.) Moskva 1923—1926. Lieferung
I—IX, veröffentlicht von der Archiv-Hauptverwaltung.
Konarski, Kazimir: Aus der auslandischen Ar-
chivkunde (Z archiwistyki obcej) IV, 131—133. Besprechung der
Arbeit des Pio Pecchiai: Manuale pratico per gli archivisti. Milano.
1898.
Eine Ergänzung des Materials, das hier in den vier Heften des
„Archeion“ angehauft wurde, bildet die Chronik des archivalischen
Lebens und eine bibliographische Übersicht der Literatur über das
Archivwesen in Polen (Verzeichnis der wichtigsten Pu-
blikationenund Arbeiten über die polnischen Àr-
chive: Spis wa2niejszych wydawnictw i prac, tyczacych sie polskich
archiwów Bd. Il, S. 194—207 und die archivalische Literatur
im neuen Polen: Literatura archiwalna odrodzonej Polski,
1918— 1926. Bd. Ill, S. 84— 167), zusammengestellt von Dr. K. Ka c2
marczyk.
17 NF 5 955
BÜCHERBESPRECHUNGEN
von Taube, Prof. Dr. Michael Freiherr: Rußland und Westeuropa.
(Rußlands historische Sonderentwicklung in der europäischen
Volkergemeinschaft.) — Aus dem Institut für internationales Recht
an der Universität Kiel, 1. Reihe: Vorträge und Einzelschriften,
H. 8. Berlin, Georg Stilke, 1928. 63 S., geh. RM. 2,50.
Die Schrift geht aus von der Tatsache, daß sich nach Krieg, Revolution
und russischem Zusammenbruch wie im Zeitalter vor Peter d. Or. eine
tiefe Kluft zwischen Westeuropa und Rußland aufgetan hat, äußerlich da-
durch dokumentiert, daß die moderne Sovei-Regierung in and noch
keineswegs von allen genwartsstaaten der Erde anerkannt wurde, vor
allem nicht von dem materiell mächtigsten Tochterstaat Europas, den Ver-
einigten Staaten von Nordamerika, aber auch nicht von der geistigen
Autorität der christlich-katholischen Welt, dem Papst.
Auch heute wie vor etwa 60 Jahren, zur Zeit der „Slavophilen“, suchen
deren heutige Epigonen, die modernen „Eurasiaten“, Rußlands Größe in
Asien. Das hat in bezug auf Rußlands Stellung zu Deutschland zu einem
eigentümlichen Rückschlag in der Einstellung eines Teils der russischen
Intelligenz in der Diaspora und wohl auch in Rußland selber geführt, zu
einem Haß gegen Europa, ja, infolge der Sovet-Rußland freundlichen
Politik des offiziellen Deutschland auch zu einem Haß gegen Deutschland.
Für die ganze Kulturwelt, Deutschland keineswegs ausgenommen, ist aber
nach Meinung des Autors diese neueste Einstellung im Sinne einer „eurasia-
tischen“ Weltanschauung von ernster und noch nicht übersehbarer Bedeu-
tung. Kurz gefaßt und politisch betrachtet erklärt diese Lehre und Geistes-
verfassung nach Taube etwa folgendes: „Wir wollen nicht mehr die lebten
in Europa und dessen Diener gegen Asien sein; wir sind vielmehr die ersten
in Asien und, nötigenfalls, dessen Anführer gegen Europa.“ (Vgl. S.6.)
Unter diesen Umständen hält es der Verfasser, der früher russischer
Minister war, für wichtig und notwendig, den Versuch zu machen, aus der
Fülle ihm als Geschichtsforscher und Juristen zur Verfügung stehender
Kenntnis kulturhistorischer und völkerrechtliher Tatsachen die Erklärung
dieser verhängnisvollen Neugestaltung der europäischen Welt zu finden, und
zwar auf Grund einer das Wichtigste scharf hervorhebenden, erklärenden
Schilderung der historischen Sonderentwicklung Rußlands in der europäi-
schen Völkergemeinschaft. Das geschieht durch Betrachtung der folgenden,
auch sonst anerkannten drei großen Zeitabschnitte russischer Geschichte:
1. Das beginnende Kiever und Novgoroder Rußland innerhalb der
europäischen Staatengemeinschaft (Mitte des IX. bis Mitte des XII. jahr-
hunderts). 2. Das moskovitische Rußland außerhalb des europäischen
Staatensystems unter dem Tatarenjoch und unter den kulturell völlig talari-
sierten ersten Zaren von Moskau (Mitte des XIII. bis Ende des XVI. Jahr-
hunderts). 3. Das wiedererwachende Rußland der ersten Romanovs, be-
sonders seit Peter d. Gr. in der Periode allmahlicher Entwicklung des
russischen Reiches zu einem bedeutenden Faktor der allgemeinen Volks-
und Staatsgemeinschaft Pan-Europas.
256
Heute ist nun das so erst vor 200 Jahren von Peter d. Gr. wieder
in die europäische Völkerfamilie eingeführte Rußland nach Meinung des
Autors erneut in die „Moskovitische riode“ zurückgeworfen worden, so
daß von neuem ein Abgrund klafft zwischen Ost- und Westeuropa.
Wo für diese kulturhistorisch sehr merkwürdige und bedauerliche Tat-
sache der Grund liegt, sucht Nr durch Aufdeckung von Gründen
1. staatsrechtlicher, 2. privatrechtlicher, 3. kirchenrechilicher Natur zu er-
mitteln. Für ihn ergibt sich, daß zwar Rußland nach wie vor sehr vieles
vom übrigen Europa Abweichendes zur Schau trägt, trotzdem aber mit
unserm Kontinent durch fünf siarke historische Bande verbunden bleibt:
1. durch Zugehörigkeit zur indogermanischen Sprach- und Völkerfamilie,
2. durch das Christentum, 3. durch jahrhundertelange wirtschaftliche Zu-
gehörigkeit Rußlands zu Westeuropa, 4. durch die enge Verbindung der
russischen Intelligenz mit der westeuropaischen Kultur, 5. durch das 200-
jährige politische und völkerrechiliche Zusammenleben mit dem europäischen
Staatensystem seit Peter d. Gr. Zum Schluß wünscht Verfasser, es möchte
Rußland „womöglich mit Deutschlands Hilfe“ auf die historischen Bahnen
seiner europäischen Geschichte zurückkehren. f
Breslau. M. Friederichsen.
Graham, Malbone W.jr.: New Governments of Eastern Europe.
T. 1: Text, T. 2: Sammlung von Urkunden. — New York: Henry
Holt Co. 1927. VIII, 826 S.
Die Aufgabe, die sich der Verfasser von „New Governments of Central
Europe“ im vorliegenden Werk sebt, ist die Darstellung der Auflösung des
verfallenen russischen Carenreiches auf dem Wege über die bürgerliche
und proletarische Revolution in die UdSSR und die baltischen Staaten und
die Schilderung des Eigenlebens dieser Staaten und ihrer Beziehungen zur
Umwelt bis ins Jahr 1927 hinein. Hauptsache ist ihm hierbei die innere Ent-
wicklung, die äußere Politik wird einer relativ beschränkten Analyse unter-
worfen. Um das gleich vorwegzunehmen, die Einwirkung der Großmächte
auf die Gestaltung der Verhältnisse, beginnend mit der bürgerlichen rus-
sischen Revolution, wird nur so weit, als es irgend notwendig ist, hervor-
gehoben. Das Spiel der Kräfte steht bei ihm innen- und außenpolitisch
nicht im Mittelpunkt seines Interesses, er begnügt sich mit der Konstatierung
ihrer Resultate, seine. historischen Teile sind eine detaillierte Chronik der
Ereignisse, um an deren Aufeinanderfolge die Hauptentwicklungstendenzen
nachzuweisen.
Die treibenden Momente sind für ihn der Wille der Völker zur Selbst-
bestimmung und der Hunger nach Land. Ihre verschiedene Lösung in der
UdSSR und in den aus dem Bestande Rußlands ausgeschiedenen Staaten
werden durch die verschiedene soziale Struktur der Bevölkerung erklärt.
Rußlands Mittelschichten waren zu klein, um als herrschende Klasse das
Reich zu gestalten, während die sog. Randstaaten dank ihren Mittelklassen
den Weg der bürgerlichen Demokratie beschreiten konnten.
Daraus folgt aber nicht eine Zweiteilung des Werkes in die Darstellung
von zwei Gruppen, die UdSSR und die Randstaaten als Ganzes. Der Ver-
fasser weiß als guter Kenner der Verhältnisse, daß „no two of the Baltic
states started out with a common level of culture“, und darum behandelt
er jeden Staat einzeln. Ein Schlußkapitel fal die Gemeinsamkeiten der
baltischen Staaten zusammen, die ihren äußeren Ausdruck in den gemein-
samen Konferenzen der baltischen Staaten gefunden haben, ohne es_zu
einer einheitlichen Linie des Verhaltens zu bringen. Die Sicherung der Zu-
kunft der neuen Staaten sieht der Verfasser, abgesehen von Sicherheits-
pakten mit Rußland, in der Fundierung und Entwicklung ihrer staatlichen und
gesellschaftlichen Einrichtungen, um eine möglichst markante Grenzzone „of
two vasily different civilizations“ zu bilden.
Hier ist der Punkt, warum die Praponderanz auf den inneren Verhalt-
nissen ruht. Und wer sich über die Verfassung der Lander, die Parteien
a 257
und Parteineubildungen, die Behandlung der Minoritäten sowie die agrari-
schen Verhältnisse orientieren will, findet bei Graham bestes Material. Die
Auflösung der Gro§grundbesibverhaltnisse in eine tragfähige Schicht von
kleineren Landbesigern sei ihm die beste Gewähr für das Gedeihen der
neuen Staaten als demokratische Gebilde. Die Lex Kallio, die estnische,
lettische und litauische Agrarreform sind für ihn Dinge größter Befriedigung.
Selbst für die enischädigungsiose Form der Landenteignung in Lettland
findet der Verfasser, trojdem er das Privateigentum als den Kern der
„westlichen Zivilisation“ empfindet, Worte der Verteidigung: „Despite the
charges that the law was a brazen confiscatory act of „zold Bolshewism“,
the remarkable social effects... more than justify the change wrought.“
Die größte Schwierigkeit bereitet ihm Polen — nicht nur in Hinsicht
auf seine agrarischen Maßnahmen. Schon im Aufbau seines Siaatsgebiets
steckt eine Verlekung des Selbstbestimmungsrechts der Volker. Venn der
Verfasser auch der Ansicht ist, daß die Grenze gegen Deutschland im
großen und ganzen einschließlich des Korridors ethnographisch gerecht-
fertigt erscheint, so kann er nicht umhin, die Lösung der oberschlesischen
Frage (a distinct injustice was done) und des Danziger Problems, die Ein-
verleibung Osigaliziens, den Raub Wilnas und den Raubkrieg gegen Ruk-
land zu tadeln und als Gefährdungen des Friedens zu beirachten. Die Er-
wartungen, die die Alliierten auf ein gegen den Bolschewismus und gegen
Deutschland auf Kosten der Nachbarn stark gemachtes Polen gesebt haben,
seien ohne Aussicht auf Erfolg. Ausgesprochen fordert er nur die Rück-
gabe Wilnas an Litauen und glaubt an kein Ostlocarno ohne Bereinigung
des oberschlesischen Unrechts. Was die Minoritaten betrifft, so rechnet er
auf (den inzwischen zurückgetreienen) Bartel, der „was the first premier
since Paderewski to take his stand on a loyal fulfilment of the Minority
Guarantees Treaty“. Der ganze Verlauf der Entwicklung Polens, seine
soziale Rückständigkeit, die Stärke seiner antidemokratischen Kräfte, die
vor dem Mord des Präsidenten Narutowicz nicht zuruckschreckten, wird auf-
gezeigt. Merkwürdigerweise sicht der Verfasser in Pilsudski nicht eben-
falls eine Gefahr für die demokratische Zukunft Polens. Bereits im Kapitel
über Litauen hat er die sehr milden Worte über den Faschismus: „ihe coup
... scrupulously respected all formalities and avoided a break in the legal
order, hence it cannot in any sense be regarded as revolutionary“, und
an anderer Stelle sagt er über den litauischen und polnischen Faschismus:
„It has, in the last analysis, been only as a result of experience that the
new states have come to realize that the strength in executive arm is not
synonymous with autocracy.“ Inzwischen wird ihn der geschichtliche Ver-
lauf eines Besseren belehrt haben, sowohl in bezug auf Litauen, dessen
„constitution forecasts a benevolent régime of Christian state socialism“
und dessen „whole bill of rights is devoid of Marxism”, als auch in bezug
auf Polen. Für die Unzulänglichkeiten Polens hat der Verfasser fast immer
ein mildes Urteil, herbe Worte findet er nur für Polens Angriff auf die
UdSSR: „the rôle of Poland in 1919 and 1920 was a most sorry one, and
one, which exhibits a painful example of a nation losing, increasingly, all
contact with the political reality“.
Nimmt man das Bild, das der Verfasser von den baltischen Staaten
entwirft, in seiner Gesamtheit, so ist die beste Prognose für die Stetigkeit
staatlichen und gesellschaftlichen Lebens Finnland und Estland, die schlech-
teste Polen gestellt. Die „middle-of-ihe-road"-Politik, die die Voraus-
sebungen ruhiger Entwicklung bildet, hat sich dementsprechend seit den
Sturmjahren 1917 und 1918 am stärksten in Staat und Parteien Finnlands
durchgesebt, um nach Süden zu abzunehmen, bis ihr der Faschismus am
krassesten in Polen die Geltung: bestreitet. Der Verfasser kennt die
faschistischen Bestrebungen in Reval und Riga bereits, doch schenkt er
ihnen kaum Beachtung und erwähnt den faschistischen Umsturzversuc in
Lettland vom Januar 1927 überhaupt nicht. Befürchtungen für den bürger-
lichen Charakter irgendeines baltischen Staates hegt er nicht, und so ist
die Übersicht über die baltischen Staaten mit der Frage zu schließen, ob
258
er nicht die sozialistischen revolutionären Kräfte in diesen Ländern
unterschäbt.
In der UdSSR, die schon deshalb zum ersten Abschnitt des Buches
gemacht ist, weil seine historische Einleitung zugleich die Vorgeschichte
sämtlicher neuen Staaten bildet, sieht der Verfasser das Aufkommen einer
Staats- und Geselischaftsform, mit der ein modus vivendi möglich ist. Die
proletarische Revolution hat sich in der Epoche des Bürgerkrieges und der
Interventionen um die Einführung des Kommunismus bemüht, hat ihn aber
zugunsten der Neven Okonomischen Politik aufgeben müssen, die der Ver-
fasser mit „final abandonment of communism” gleichsekt. Seitdem gibt es
einen Staatskapitalismus, für den der Kommunismus „an end to be ap-
proximated, not a goal to be reached ist. Seitdem ist die UdSSR zu einer
stärkeren Wirtschaftseinheit geworden, als Rußland es unter den Caren
je gewesen ist, und befindet sich in ständigem, wenn auch langsamem Auf-
stieg. Und wie der Kommunismus auf dem wirtschaftlichen Gebiet sein
Ziel nicht erreicht hat, so auch nicht auf staatlichem und sozialem Gebiet.
Die Kommunisten haben nicht den „Einklassenstaat“, den klassenlosen
Staat, schaffen können und haben in der Nationalitätenfrage nachgiebig sein
müssen. Obwohl die Tscheka seit Mitte 1918, als „the ennemies of the
soviet government abroad did not scruple to resort to assassination“, die
Konterrevolution und mit ihr die alten herrschenden Schichten auszurotten
begann und tatsächlich ausgerotiet hat, blieben nur das Proletariat und die
Bauernschaft als Klassen übrig. Beide Klassen, die gemeinsam die Revo-
lution durchführten, stehen heute untereinander im Kampf um die Macht,
hier das Proletariat in Stadt und Land im Bunde mit der Dorfarmut, dort die
besitzliche Bauernschaft, bei der der Verfasser keinen Unterschied zwischen
den Kulaken und den Miltelbauern macht. Vor der besißlichen Bauernschaft
müsse „Moskau“ von Kompromiß zu Kompromiß weichen, „until the new
class of self-made peasants come to command authority“. In diesem Zu-
sammenhang berührt der Verfasser die Frage, ob irgendwelche Emigranten
je wieder eine Rolle spielen könnten, und lehnt sie verständigerweise rund-
weg ab. Alles in allem sieht der Verfasser Rußland „slowly returning to
the paths of democracy and national selfgovernment". Aus der Tatsache
dieses derart sich entwickelnden Staatswesens folgt aber nicht nur, daß
der modus vivendi möglich, sondern vielmehr, daß das friedliche Zusammen-
leben der Völker mit der UdSSR vom Willen der kapitalistischen Welt ab-
hängig ist. In bezug auf den litauisch-russischen Vertrag von 1926 sagt
der Verfasser, daß er auf einer Basis aufgebaut ist, „which could bridge
differences between a mildly bourgeois world and a world of pseudo-
communism”. Natürlich soll das ein Hinweis für alle analogen kommenden
Fälle sein. Und so möchte ich diesen Abschnitt mit der Frage schließen,
gibt es eine solche „mildly bourgeois world“? Die Interventionen der
Alliierten waren jedenfalls von dem Willen diktiert, den jungen Siaat zu
vernichten, und es geht nicht an, sie als Folge des bolschewistischen „un-
pardonable sin of defection from the ranks of the allies“ zu bezeichnen.
Man braucht nur an das Freundschaftstelegramm Wilsons an den Allrus-
sischen Ratekongre§ vom März 1918, als der Rücktritt Rußlands vom Kriege
entschieden war, zu erinnern, um zu wissen, daß die entscheidende Macht
jenes Jahres diesen Standpunkt nicht vertrat. Diese Tatsache kann nicht
aus der Welt geschafft werden, trojdem Wilson seine Truppen an der
Intervention teilnehmen ließ. Dieses letztere gehört zu denselben Sonder-
barkeifen wie die Tatsache, daß Wilson sich die l.osung der russischen
Emigranten vom „einigen unteilbaren Rußland“ in Paris zu eigen machte
und das proklamierte Selbstbestimmungsrecht der Völker für die baltischen
Staaten mit Ausnahme Polens nicht gelten ließ und die Anerkennung versagte.
Was Deutschland betrifft, so hat der Verfasser als Bürger eines demo-
kratischen Landes für das wilhelminische Deutschland nichts übrig, und das
antidemokratische baltische Deutschtum ist ihm ein Greuel. Man wird sein
Urteil manchmal nicht gerecht finden können, so z. B. wenn er für die Aus-
beutung der okkupierten Gebiete im Osten die Notlage, in die Deutschland
259
durch die Blockade versetzt war, nicht geltend macht, oder wenn er die
kulturelle Bedeutung der Balten durch Stillschweigen ignoriert und nur die
der schwedischen Herrschaft positiv bewertet. In den meisten Fällen wird
man ihn nicht ablehnen können, selbst wenn die Worte, in die er seine
Urteile kleidet, nicht sympathisch berühren. Manchmal wird man sogar mit
der Ironie des Verfassers mitgehen können, wie in dem Falle, wo er die
Umbenennung der Svecomanen in Schwedische „ Volks“ partei erwähnt und
dazu die Bemerkung macht, daß sie, die dabei ihren „essentially ultra-
conservative” Charakter beibehielten, deutschem Vorbilde folgten.
Ein so inhalls- und umfangreiches Werk wie das vorliegende läßt sich
im Rahmen einer Besprechung nicht erschöpfen, es sei daher betont, daß
es mit großer Akribie gearbeitet und zur Orientierung über den Verlauf der
Dinge im Osten Europas ein wertvolles Handbuch darstellt. Daß ein so
solides Werk zustande gekommen ist, ist um so erstaunlicher, als der Ver-
fasser keine Literatur in den osteuropäischen Sprachen benuft und die viel-
faltige und fast durchweg sorgfältig ausgewählte Literatur in westeuropäischen
Sprachen nur durch einige Hinweise auf die „Izvestija“ und durch einiges
neue Material, das die baltischen Staaten ihm zur Verfügung gestellt haben,
komplettiert. Da wir an Werken dieser Art nicht verwöhnt sind, so wird
dieses Buch sicherlich viele Benutzer finden.
Breslau. Harald Cosack.
Die Geschichtswissenschaft in Sowjet-Rußland 1917—1927. — Biblio-
graphischer Katalog, herausgegeben von d. Deutschen Ges. z.
Studium Osteuropas anläßlich der von ihr in der Preuß. Staats-
bibl. zu Berlin veranstalteten Ausstellung. Mit einem Vorwort
von Professor Dr. OttoHoetzsch. Ost-Europa-Verlag,
Berlin und Königsberg i. Pr. 1928. S. 193.
„Das Bedürfnis, einen Überblick über die geschichtswissenschaftlichen
Veröffentlichungen in Rußland zu gewinnen, wird von jedermann geteilt, der
dem Studium der osieuropäischen, der russischen Geschichte zugewendet
ist.” Diesen Worten, mit denen Professor Hoetzsch den der Ge-
schichtswissenschaft in Sovet-Rußland während der Revolutionsjahre gewid-
meten Bibliographischen Katalog einleitet, muß gewiß zugestimmt werden.
Den einleitenden Worten folgen im Vorwort allgemeine Betrachtungen dar-
über, was ein Historiker, der nach dem Kriege nach Rußland kommt, zu
beobachten hat. So ein Historiker sieht, daß zunächst zur Geschichte der
Arbeiterbewegung, des Sozialismus und der Revolution drinnen und draußen
sehr viel gearbeitet und gedruckt wird und daß auch ältere Perioden der
russischen Geschichte vom historischen Materialismus in Angriff genommen
werden. Der westeuropaische Historiker sieht ferner, daß neben der
marxistischen die nichtmarxistische, die idealistische Geschichtswissenschaft
nach westeuropäischer methodischer, kritischer, erkenntnis-theoretischer Auf-
fassung arbeitet und um 5 ihrer Studien kämpft. Dieser
Historiker sieht auch, wie das erwachte Selbstbewu§tsein der nicht grob -
russischen Nationalitäten im Sovetstaat, besonders in der Ukraine, a
auch vielfach sonst, in einer lebhaften historischen Arbeit seinen Ausdruck
findet und sich durchsetzt. Schließlich — daß das stark auf Aufklärung und
Propaganda in weiten Volkskreisen gerichtete Streben der herrschenden
Partei auch in der geschichtswissenschaftlichen Literatur zu lebhafter Pro-
duktion führt und naturgemäß dabei die Grenzen zwischen wissen-
schaftlicher Forschung und Arbeit der populären Aufklärung und Agitation
haufig verwischt. Alle ‘diese Beobachtungen beweisen, dag Professor
Hoetzsch ein scharfer und dabei objektiver Beobachter der e
ist, in denen die Geschichtswissenschaft in Sovei-Rußland sich zu belätigen
hat. Diesen Beobachtungen wären vielleicht nur einige Worte über die
Evolution, die diese Bedingungen im Laufe der Jahre der Sovetherrschaft
durchgemacht haben, beizufügen. Es wäre dann zu sagen, daß in den ersten
260
a 28 fe
* N
ON Za Se aT Sa AR FR u MA AH;
Jahren der Existenz der Soveiregierung die Geschichtswissenschaft zwar mit
einer durch den Kriegskommunismus hervorgerufenen Not an technischen
Mitteln zu leiden hatte, dag aber der „ideologische“ Druck erst später kam,
zur Zeit, als der Kriegskommunismus bereits überwunden war, daß der
ungleiche Kampf der idealistischen F um ihr Dasein
mit den Jahren immer hoffnungsloser wurde, und daß heutzutage nur von ein-
zeinen Trümmerstücken einer Geschichtswissenschaft, die „nach wesieuro-
päischer methodischer, kritischer, erkenntnis-theoretischer Auffassung” in
Sovetrugland arbeitet, die Rede sein kann.
Dem Titelblatt gemäß soll der Bibliographische Katalog uber die Ge-
schichtswissenschaft in Sovei-R nd 1917—1927 berichten. Gleich darauf
{S. 2) wird jedoch erwähnt, daß die Bücher, die mit einem Sternchen (°) im
Katalog versehen, in den Kriegsjahren 1914—1916 gedruckt worden sind.
Professor Hoetzsch spricht in seinem Vorwort über die Literatur der
Kriegsjahre (S. 4), ohne deren Anschluß an die historische Forschung Sovet-
Rußlands zu begründen. Es ist gewiß sehr erfreulich, wenn dem deutschen
Historiker auch eine bibliographische Zusammenstellung der russischen ge-
schichtswissenschaftlichen scheinungen der Kriegsjahre vorgelegt wird,
aber diese Erweiterung des Rahmens der berücksichtigten Literatur sollie
eigentlich auch auf dem Titelblatt erwähnt werden.
Der Katalog soll somit über die russische geschichiswissenschaftliche
Literatur der Kriegs- und Revolutionsjahre berichten. Die Zusammensteller
des Katalogs haben sich aber an diese chronologischen Grenzen nicht immer
streng gehalten: hier und da werden im Katalog Werke erwähnt, die aus
den Vorkriegsjahren stammen (die unter Nr. 112, 149, 905, 986, 1004, 1297,
1646 angegebenen Werke gehören dem Jahre 1913, Nr. 130, 1108, 1307 dem
Jahre 1911, Nr. 1047 sogar dem Jahre 1901). Was die Verfasser veranlaßt
diese vereinzelten Werke aus der Literatur der Vorkriegsjahre im Ka-
talog zu berücksichtigen, isi schwer zu erraten.
Der Katalog selbst enthält sechzehn Abteilungen [wobei einige dieser
Abteilungen weitere Unterabteilungen enthalten): 1. die Organisation der
russischen Geschichtsforschung, das russische Archivwesen, Bibli aphie,
2. Die russische Geschichtsanschauung der Gegenwart, der historische
terialismus, 3. Russische 5 (Quellen und Darstellungen zur politi-
schen und Kulturgeschichte), 4 ee der nichtrussischen Volker der
Sovet-Union, 5. Allgemeine Geschichte, 6 Historische Hilfswissenschaften,
7. Religions- und Kirchengeschichte, 8. Geschichte der Philosophie, 9. Ge-
schichte der Pädagogik, 10. Literaturgeschichte, 11. Archäologie und Ge-
schichte der bildenden Künste, Bic Musikgeschichte, 13. Theatergeschichte,
14. Rechts-, Verfassungs- und N 15. Wirtschafts-
geschichte, 16. Sammelwerke, Zeitschriften und periodische Veröffent-
lichungen der wissenschaftlichen Gesellschaften und der Universitäten.
A) Der erste Eindruck, den man bei der Durchblatterung des Katalogs
gewinnt, isi der, daß seine Zusammensteller einen äußerst weiten Begriff der
Geschichte angenommen haben. Aber auch diese äußersien Grenzen des
Begriffs der Geschichtswissenschaft sind mehrmals überschritten und in den
Katalog Bücher aufgenommen worden, die mit der Geschichte überhaupt
nichts zu tun haben. Um nur einige Beispiele anzuführen:
1. Im ersten Teil sind als bibliographische Werke u. a. fölgende Ver-
öffentlichungen angegeben:
a) Bibliographische Zehnjahresschrift über das Konsumgenossenschafts-
no (Kommunistische Genossenschaftsliteratur in den Jahren 1917—1927),
b) Junovié, Die ica tiber Weltwirtschaft und Weltpolitik fiir das
Dezennium 1917—1927, Nr.
c) Da lar a der Werke von Lunaéarskij (1875
bis 1925), Nr. 15.
2. Im zweiten, der russischen Geschichtsanschauung der Gegenwart ge-
widmeten Teil, finden wir das Buch von N.N. Alekseev, Abriß der all-
261
gemeinen Staatstheorie, 1919 (Nr. 44), das die theoretischen und methodo-
logischen Probleme der allgemeinen Staatslehre behandelt, von einem
Juristen verfaßt ist und nichts für die Erkenntnis der russischen Geschichts-
anschauung der Gegenwart bieten kann; ferner die marxistischen rechis-
theorelischen Werke von PaSukanis (Die allgemeine Rechtstheorie und
der Marxismus, Nr. 68) und von Razumovskij (Probleme der marxisti-
schen Rechtstheorie, Nr. 78).
3. In der dritten Abteilung, die die russische Geschichte behandelt, finden
wir das Buch des Dichters Alexander Blok — Rossija i intelligen-
cija 1907—1918 (die deutsche Ubersetzung lautet „Rußland und die Intelligenz
in den Jahren 1907—1918°), obwohl die eszahlen auf dem Titelblatt des
Büchleins nur die in ihm enthaltenen Aufsätze des Verfassers zu datieren
haben, der Inhalt der Aufsabe selbst aber keinesfalls geschichtlicher,
sondern kulturphilosophischer ist.
4. In der vierzehnten, der Rechts-, Verfassungs- und Verwaltungs-
geschichte gewidmeten Abteilung des Katalogs haben die meisten
Werke einen soziologischen oder rechtsdogmatischen Inhalt und gehören
daher keinesfalls der Geschichtswissenschaft an. Es sind dies ent-
weder Werke über die allgemeinen Lehren über den Sovetstaat (Stuéka,
Nr. 1784, 1785), über die Sovetverfassung im allgemeinen (Engel, Nr. 1766,
Gurvi&, Nr. 1767), oder über einzelne Fragen des Sovetverfassungsrechts
Ar chippov, Nr. 1762, Rejche l, Nr. 1780), über das Sovetverwaltungs-
recht (Kobalevskij, Nr. 1773), über das Völkerrecht Korovin,
Nr. 1774—1775), oder Werke, die in erster Auflage noch vor der Revolution
erschienen sind, wie das Werk von N. I. Lazarevskij, Das russische
Staatsrecht, dessen erste Auflage noch aus dem Jahre 1908 stammt und dessen
vierte Auflage im Jahre 1917 auf der ersten Lieferung abgebrochen wurde,
da die Februarrevolution von 1917 eine gründliche Neubearbeitung dieses
Lehrbuches für erforderlich gemacht hatte, zu der es allerdings nicht mehr
gekommen ist, und das Werk von V.M. Gessen über die Grundlagen des
Verfassungsrechts, das in erster Auflage im Jahre 1916 erschienen ist Gm
Jahre 1918 anastatischer Neudruck) und seinem Wesen nach ein Lehrbuch
des allgemeinen Verfassungsrechts der westeuropäischen Demokratie vor
dem Welikriege darstellt.
B) Wenn der Katalog einerseits Material enthält, das in einem der
geschichiswissenschaftlichen Bibliographie gewidmeten Katalog zweifellos
eig © ist, müssen andererseits erhebliche Lücken hervorgehoben
werden. Einige Beispiele müssen wiederum genannt werden:
1. Unter Nr. 130 wird die Festgabe für S.F. Platonov von 1911 angeführt.
Im Jahre 1922 ist aber zu dem vierzigjährigen Jubiläum der wissenschaftlichen
Tätigkeit des hochgeschäbten_ russischen Historikers von seinen Schülern
und Freunden wiederum eine Festschrift zustande gebracht worden: Sbornik
state} po russkoj istorii, posone ennyi S. F. Platonovu (Sammlung von
S. F. Platonov gewidmeten Aufsätzen über die russische Geschichte), "Peters
burg 1922, Verlag „Ogni“, S. XII u. 459. Diese Festschrift ist in den Katalog
nicht aufgenommen worden.
2. In den den Zeitschriften gewidmeten Abteilungen des Katalogs fehlen
zwei sehr bedeutende Zeitschriften:
a) die historische Zeitschrift der Petersburger Akademie der Wissen-
schaften — Russkij Istori¢eskij Zurnal (Russische Historische Zeitschrift), die
in den Jahren 1917—1922 herausgegeben worden ist und als wissenschaftlich
bedeutendsie historische Zeitschrift der Revolutionsjahre bezeichnet
werden muß;
b) die von P. E. Séegolev herausgegebene Zeitschrift „Byloe“ (Das
Gewesene), die speziell der Geschichte der Revolutionsbewegungen ge-
widmet war.
3. Der Katalog enthält eine Reihe einzelner von der Sovei-Union
abgeschlossenen Staatsvertrage, die stets nach ihrem Abschluß vom Volks-
262
kommissariat für Auswärtiges herausgegeben werden (Nr. 196, 205—206,
218—219, 236, 238, 1019), aber keine genaue Angaben über die für den prak-
tischen Gebrauch gewiß viel wichtigere Sammlung der Staatsvertrage, die
alle diese Verträge umfaßt: Sbornik dejstvujuScich dogovorov, soglaSenij i
konvencij, zakijucennych s inostrannymi gosudarsitvamı (Sammlung gelten-
der Vertrage, Abkommen und Konventionen, die mit den auslandischen
Staaten abgeschlossen ne Lieferung I, Moskau 1924, S. 436 u. IV u. IV;
Lieferung Il, Moskau 1925, S. 132; Lieferung Ill, Moskau 1927, S. 2791). Un-
erwähnt bleibt auch die dieser schon von der Union hergestellten Samm-
lung vorausgehende Sammlung der Staatsverträge der RSFSR (Sbornik
dejistvujuScich dogovorov, sogla3enij i konvencij, zakliucennyh RSFSR s
inostrannymi gosudarstvami [Sammlung geliender Verträge, Abkommen und
Konventionen, die von der RSFSR mit den 5 Staaten abge-
schlossen sindl; Teil I, Petersburg 1921, S. VII u. 252; Teil Il, Moskau 1921,
S. 159; Teil Ill. Moskau 1922, S. VII u. 339: Teil IV, Moskau 1923, S. 50; Teil V.
Moskau 1923, S. 32).
O) Das System, nach welchem die gesamte geschichtswissenschaftliche
Literatur im Katalog geordnet ist, ist oben wiedergegeben worden. Die
Einordnung selbst ruft jedoch öfters wesentliche Bedenken hervor. Um
wiederum nur ein paar Beispiele anzugeben, sei erwähnt, daß die Erinne-
rungen der Witwe des bekannten Chemikers Mendeleev „Mendeleev in
seinem Privatleben” (Nr. 117) in der Unterabteilung „Gesamtdarstellung und
Allgemeines“, die Theatererinnerungen der berühmten Schauspielerin M.G
Savina (Leiden und Irrwege. Aufzeichnungen aus den Jahren 1854—1877)
in der Unterabteilung „Revolutionäre und Arbeiterbewegung“ untergebracht
sind (Nr. 378), daß dagegen die Erinnerungen des Revolutionars N. S.
Tjutlev (Nr. 1511) in dem der Literaturgeschichte gewidmeien Teil auf-
gesucht werden müssen, neben den Briefen von F. l. Tjutéev, des be-
ruhmien Dichters, der keinesfalls mit dem gleichnamigen Revolutionär zu
verwechseln ist.
D) Wenn man sich der äußeren Seite des Katalogs zuwendet, so fällt
sofort folgendes auf:
1. Einige Werke werden zweimal genannt: z. B. Nr. 950 = Nr. 952
(PetrusSevskij), Nr. 1438 — Nr. 1914 (Aus dem Archiv Dostoevskijs).
2. In vielen Fällen werden einzelne Teile mehrbändiger Werke unter
verschiedenen Nummern angeführt (z. B. Nr. 108—110: drei Bände eines
Werkes von Firsov; Nr.916—917, zwei Bände eines Werkes von Buzeskul;
Nr. 939—941, drei Bände eines Werkes von Egorov und noch zahlreiche
andere Fälle); dadurch wird gewiß die Zahl der im Katalog angeführten
Nummern, aber nicht die Zahl der berücksichtigten Werke erhöht.
Berlin-Lichterfelde. A. N. Makarov.
Bindewald, Helene: Die Sprache der Reichskanzlei zur Zeit
König Wenzels. Halle a. S., Max Niemeyer, 1928. LXIX + 270 S.
Wenn die Hofkanzlei Karls IV. die Grundlagen des schriftsprachlichen
Ausgleichs geschaffen hat, ist die Kanzlei König Wenzels dadurch be-
deutungsvoll geworden, daß sie die neue Hofsprache übernahm und festigte.
Die Untersuchung des Kanzleigebrauchs zwischen 1380 und 1400 kann die
Ergebnisse der Untersuchungen über die Urkundensprache der vorauf-
gehenden Zeit nachprüfen und die Richtung verdeutlichen, in der der Laut-
wandel, die Anderungen in Formenbestand, Wortschatz, Sazbau und Stil
verlaufen. So kann ersichtlich werden, ob gewisse bereits erkennbare
1) Unter Nr. 236 ist allerdings der Titel dieser Ausgabe wiedergegeben,
gleich darauf aber der Titel des Handelsabkommens zwischen der U.d.St.R.
und Schweden vom 15. März 1924.
265
Richtungen der Entwicklung wieder im Sinne einer Angleichung an frühere
Gepflogenheiten preisgegeben worden sind, ob S Grundzüge = ranna.
sprache Karls sich behaupten konnten. Spradhli che Richtung ist Symbol d
Kulfurganges überhaupt. Aus der Geschichte des Prager Kullurverlaufes
und aus der Sonderart der sprachlichen Quellen (Urkunden) erleidet die
Ausdeutung der Untersuchungsergebnisse für die Geschichte der neuen
Hochsprache zwar wesentliche Einschränkungen, aber eine klare Einsicht
in die Frühgeschichte der neuhochdeutschen Gemeinsprache ist ohne eine
n eststellung des Sprachbestandes der Kanzlei Venzels nicht
denkbar. Mit der Andeutung dieses Sachverhaltes ist der Wert des Binde-
waldschen Buches gekennzeichnet. Daß eine Ergänzung durch sprachliche
Untersuchungen der zeitgenössischen Literatur nötig sei, betont Verf. selbst;
stellenweise sind die bereits vorhandenen Darstellungen auch zur Nach-
prüfung herangezogen worden. Daß es nicht in reicherem Maße geschah,
ist zu bedauern. Der beschränkte Wortschab und die Armut an sprach-
lichen Wendungen, die geringe Lebensnähe der Urkunde bieten für gewisse
Erscheinungen nur dürftige Belege und lassen Bedenken aufkommen gegen
eine Gleichsetzung der Übung der Kanzlei mit der Umgangssprache der
Hofgeselischaft. Besonders schmal ist die Basis für die Beurteilung des
syniaktisch-stilistischen Einflusses der lateinischen frühhunianistischen
Aus der Zeit Wenzels liegt z. B. nur eine Urkunde in lateinischer Fassung
und gleichzeitig deutscher Sprache vor. Syntaktisch-stilistische Vergleichs-
möglichkeiten bieten die Handschriften der Soliloquienübersetzung und des
Hieronymuslebens des Kanzlers Johann von Neumarkt, die die lateinischen
Originale neben die Ubersebung stellen lassen. Da ein großer Teil dieser
Handschriften aus der Zeit um 1400 überliefert ist, zeigen sie der Urfassung
Johanns von Neumarkt gegenüber wesentliche Anderungen in Wort-
gebrauch und Stil, die zum Teil auf einer Preisgabe allzu enger Anlehnung
an die lateinischen Muster beruhen. Die Urkunden Wenzels weisen diesen
Handschriften gegenüber auch manche mundartliche Unterschiede auf. So
ist in den Urkunden die Diphihongierung des mhd. f stärker fortgeschritten;
die Vorsilben uz—, uf—, zu— sind seltener geworden gegenüber auz—,
auf—, zer—; die Präposition kegen, kein (gegen), die früher beliebt ist, ist
dem gegen fast ganz gewichen, wogegen sie sich im Schlesischen mit stimm-
losem Anlaut bis heute gehalten hat: ei di kéne gen (entgegengehen); die
für Johann von Neumarkis Stil kennzeichnende Konjunktion auf die rede das
ist bis auf Spuren geschwunden. Auffallend ist die Abnahme des Ge-
brauches von i anstatt e in nebentonigen Silben: gebin usw. Nach meinen
statistischen Beobachtungen haben die ostmitteldeutschen Handschriften um
1400 noch in etwa ½ aller Fälle i für e: doch ist der folgende Konsonant
von starkem Einflusse: —ist und —est finden sich in gleicher Zahl; ir findet
sich etwa doppelt so oft als —er; —il fünfmal öfter als —el; —et dreimal
öfter als —il.
Doch ändern solche Einzelheilen nichts an der Gesamthaltung; die Hand-
schriften decken sich im ganzen mit der Kanzleisprache König Wenzels, die
man als ein durch bayrisch-österreichische Einschläge gemildertes Ost-
mitteldeutsch bezeichnen kann. Das ist, wie Verf. mit Recht betont, der
stark ostmitteldeutschen Zusammensetzung des Prager Kanzleipersonals zu
verdanken. Die Angaben darüber können noch vervollständigt werden; so
ist der S. 11 Anm. 1 gesuchte Johannes Jaurensis auch sonst nach-
weisbar; vgl. Ulm. Urkb., S. 825, Nr. 1011 v. 10. Okt. 1376; Cod. dipl. Mor. X,
221, Nr. 202 v. 3. Okt. 1373 u. 6. Er wird wohl ein Sohn des schon 1363 in
Karls Diensten nachweisbaren Peter v. Jauer sein. Mit der juristisch-
technischen Sonderart der Urkundensprache hängt es zusammen, wenn ihr
sprachschopferische Kraft fehlt. Doch sollte diese Wahrnehmung [S. 210)
nicht auf die literarische Sprache der Zeit übertragen werden, die sich be-
sonders in Wortzusammensekungen durchaus schöpferisch erweist. Ob das
Eindringen Cechischer Beamter auch auf die Hofsprache gewirkt hat, wird
sich am Urkundendeutsch kaum entscheiden lassen. Vielleicht sind hier
rein orthographische Einwirkungen spürbar, wenn im Ostmitteldeutschen
264
ganz allgemein cz für iz steht, 3 s und z durcheinander gehen (lezen),
wenn Schreibungen wie $üczei begegnen. Im übrigen zeigen die literarischen
Denkmäler der Zeit in syntaktisch-stilistischer Hinsicht kaum irgendwo slavische
Einwirkung. Oeschichtlich gesehen bedeutet die Sprache der Kanzlei Wenzels
Höhepunk ‘und Abschluß der von der Prager Kultur bestimmten Entwicklung
der neuhochdeutschen Schriftsprache: mit der Hussitenzeit tritt die schle-
sische und mehr noch die obersächsische Sonderart in den Vordergrund
und bestimmt die Weiterentwicklung.
Breslau. J. Klapper.
265
ZEITSCHRIFTENSCHAU
BULGARIEN
Renato Poggioli: N poeta bulgaro Nikolaj Liliev. Rivista di
letterature slave. Anno 3 (1928), 3, S. 221—230.
P. gibt als Einleitung zu einigen von ihm ins italienische übersetzten
Dichtungen Lilievs einen kurzen Überblick über sein Leben und Schaffen
und eine Charakteristik seiner Stellung innerhalb der bulgarischen Literatur.
Nachklänge aus der zeilgenössischen oder wenigstens neueren Lyrik an-
derer Völker: Verlaine, Rainer Maria Rilke, George, Blok in den Dichtungen
Lilievs, ebenso wie Reminiszenzen an die Gestalten Shakespeares und
enat aus der Weltliteratur, die sich bei Liliev eingestreut finden, scheinen,
der Meinung Poggiolis, ein Beweis dafür zu sein, dak Nikolaj Todorov
Fier ist nur Pseudonym) keineswegs sehr originell und neutönig ist,
P. fragt, worauf sich die a gemene Anerkennung, dab man in Liliev den
größten modernen Lyriker Bulgariens zu sehen habe, stübt. Und,
das paradox erscheinen könnte, glaubt er, dab gerade der starke west-
europäische Einschlag Lilievs die Ursache seines starken Einflusses auf die
jebige Generation in Bulgarien ausmacht. Er ist einem Instrument ähnlich,
welches die Schwin en, die der Lufthauch aus dem Westen in der um-
ebenden Welt auslöst, erklingen läßt. Der am meisten hervorstechende
ug Lilievs liegt in seiner Femininität, doch ist dieses Wort nicht in dem
Sinne einer Verweichlichung zu verstehen, sondern soll nur Lilievs eigen-
artige Gabe in Worte kleiden, in den Dichtungen, wo er in der ersten Person
spricht, aus der Seele einer Frau oder eines Mädchens heraus zu empfinden.
Eigen ist diesen Dichtungen eine jungfräulich keusche Stimmung oder ein
Nachempfinden der in der Volksiyrik ausgedriickten Stimmungen ver-
heirateter Frauen. Das Pseudonym Liliev nimmt wohl bewußt von dem
Wort lilija seinen Ausgang. Liliev hat aber auch das Gedicht „Vojna“ ge-
schrieben, doch auch in Dichtungen dieser Gattung spricht eine verfeinerte,
nicht kampfesharte Natur. Erklärlicherweise fehlen bei Liliev Dichtungen, in
denen er eine Frau verherrlicht, oder, wenn er sie besingt, zerfließi ihre
Gestalt ins Mystische, im Unterschied zu Blok, dessen prekrasnaja dama
zeitweise sehr greifbare Gestalt annimmt. Liliev trägt seine Frauenvision
nie herab auf die Erde. P. sieht eine Gefahr für die Individualität Lilievs
in dieser Art ekstatischer außerweltlicher Stimmungen und findet, daß sich
unter ihrem Einfluß auch der Wortschab der Dichtungen sehr beschränkt.
Seiner Dichtung fehlt das Rückgrat, sie ist zum Fragment verurteilt von
vornherein. Aber liegt nicht in der ganzen neuzeitlichen Kunst etwas Frag-
mentarisches? Die moderne Sensibilität ist impressionistisch und flicht
großangelegte Konstruktionen; vielleicht ist das ein Grund dafür, daß die
junge Generation Bulgariens Slavejkov ‚vergißt und dafür Liliev liebt. In
dem vergänglichen Duft dieser zarten Dichtungen, die wie die blaue Blume
des Novalis anmuten, spricht sich der Zeitgeist aus, um dessentwillen man
Liliev lieben muß. Emmy Haertel.
266
UKRAINE
J. Miréuk: H. S. Skovoroda, ein ukrainischer Philosoph des XVIII.
Jahrhunderts. — Zeitschrift für slavische Philologie. 5 (1928), 1—2,
S. 36—62.
Zum Verständnis des Zr. ammenhangs, der zwischen jeder genialen
Einzelpersönlichkeit und dens historischen Hintergrund, auf dem sie er-
wachsen, immer besiehen muß, auch dann, wenn die Originalität des be-
treffenden Individuums stark genug war, sich davon zu einem großen Teil
frei zu machen, gibt M. zur Einleitung in seine Darstellungen einen kurzen
Überblick über das 18. Jahrhundert der ukrainischen Geschichte, und zwar
vornehmlich über Geschehnisse und Zustände innerhalb der Jahre 1722—63.
In der Weltanschauung Sokovorodas spiegeln sich die sozialen, politischen
und wirtschaftlichen Verhältnisse dieser Zeit. Aus diesem Verwachsensein
mit ihnen erklärt sich der ungeheure Einfluß, den er ausgeübt, ungeachtet
der scheinbar widersprechenden Tatsache, daß in den ersten 100 Jahren
nach seinem Tode seine Schriften keine ihrer würdige Ausgabe erlebi
haben. Bei Gelegenheit der Lebensbeschreibung Skovorodas hebt M.
dessen früh sich äußernden starken Wandertrieb hervor, der ihm später
die Bezeichnung eines „Wanderphilosophen“ eintrug. Ein charakteristischer
Zug ist auch sein starker Widerstand gegen die damals herrschenden philo-
sophischen Richtungen. Seine Vorliebe für die Antike und besonders für
Plato ist z. B. auch aus den Schuleinflüssen der Kiever Akademie nicht zu
erklären. Die geistige Selbständigkeit Skovorodas führte während seiner
Tätigkeit als Lehrer für Poetik am Kollegium von Perejaslav zu Konflikten
mit dem dortigen Bischof, und ebenso fanden auch seine späteren Ver-
suche, an anderer Stelle eigene Anschauungen und von den Zeitgedanken
unabhängige Überzeugungen in Vorlesungen über christliche Ethik vor
seinem Hörerkreise zu entwickeln, Migdeutungen und kollegialen Neid.
Sein unstillbarer Wandertrieb mag das seinige dazu beigetragen haben,
daß Skovoroda nirgends warm werden konnie, er war auch eine Natur,
für die es keinerlei soziale Bindungen von vornherein gab. Sein Kritiker
A. Hasdeu hat ihn mit einem einzelnen Berg auf weiter Steppe verglichen.
Er widerstand auch innerlich vielem, was zur damaligen Zeit allgemein-
gültig war: dem Hang zu materiellen Erfolgen und Gewinn und trieb seine
Studien um ihrer selbst willen. Auch seine antirationalistischen religiösen
Überzeugungen stachen ab von der Zeitstimmung. Als armseliger Wander-
prediger seiner Weltanschauung zog er auf dem linksuferigen Dneprgebiet
umher und lehrte, wo seine Lehre gern angehört wurde. Sein herzliches
Verhältnis zu dem einfachen ukrainischen Volke trug dazu bei, daß Lieder
von ihm mit moralisierendem Inhalt sich lange unter dem Volke lebendig
erhalten haben. Daß bei ihm Leben und Lehre stark von Sokrates be-
einflujt war, springt in die Augen. Beider Philosophie entbehrte eines
fertigen Systems. Obgleich Skovoroda eine literarische Erbschaft hinter-
lassen, ist er doch ein „Philosoph ohne System“ genannt worden, denn
seine Haupigedanken sind ohne alle systematische Ordnung in seine nicht
gerade zahlreichen Werke eingestreut. Er hat auch, ähnlich wie Sokrates,
der praktischen Philosophie den Vorzug gegeben vor einer theoreti-
sierenden. Die an ethischen Idealen arme Gesellschaft der damaligen Zeit
drängte ihn dazu, vor ihren Augen ein Leben zu leben, welches nur einem
ethischen Ideal diente. Was Tolstoj nur im Alter getan, übte Skovoroda
in den besten Jahren seines Lebens, er kannte keine Kompromisse. Ab-
gesehen von dieser originellen Übereinstimmung von Lehre und Leben war
seine Philosophie keineswegs originell und spiegelt wider, was antikes
Denken und die Schriften der Kirchenväter an geistigem Gut aufgespeichert
aben. Weniger leicht zu verfolgen ist das Eindringen neuerer philo-
sophischer Strömungen bei ihm. M. führt die Literatur an, welche hier
analysierend gearbeitet hal. In religiöser Hinsicht vertritt Skovoroda einen
aus universellen, nicht nur konfessionell uninteressierten Standpunkt.
Er sieht auch im Heidentum und seiner Moral das schlechthin Göttliche.
267
Seine Bibelverehrung gründete sich auf die Anschauung, daß Golf sie zu
einem Werkzeug seines Verkehrs mit den Menschen bestimmt habe, was
ihn aber nicht hinderte, kritisch klar die in ihr enthaltenen Widernatürlich-
keiten zu erkennen und den unkritischen Geist ihrer Ausleger zu tadeln,
welcher in ihr alles wörtlich glauben wolle. Er hat es VE gestützt
auf die alten Kirchenschrifisteller, den Text der Bibel „mit Hilfe eines
Schlüssels von Symbolen zu erklären“, durch welche ein neuer und tiefer
Sinn auch in bisher schwer zu Deutendes gek¢immen ist. M. charakterisiert
dann kurz die Hauptgedanken der Philosophie Skovorodas. Das Höchste
für ihn bedeutet das Streben nach Wahrheit, ähnlich wie Lessing das
forderte, ein tiefer Anthropologismus durchzieht die Orundlagen seines
pirosopniioien D Denkens, und zwar ist sein Anthropologismus dreifacher
Natur: ontologisch, erkenntnis-theoretisch und moral-praktish. Makro-
kosmos und Mikrokosmos entsprechen einander. Nach seiner Auffassung
„bildet der Mensch den Ausgangspunkt jeder Erkenntnis“. Die sichtbare
Natur alles Seienden ist vergänglich und wertlos, nur das implicite in ihr
Enthaltene: Wahrheit, Schönheit... Gedanken, Geist „hat Wert. Infolge-
dessen existiert eigentlich jede Sache doppelt.“ — Der Einfluß Pilatos ist
hier unverkennbar. „Die Schaffung eines durchgeisti en Menschen aus
sich ist die zweite Geburt jedes Individuums.“ Aus der Selbsterkenninis
eines jeden Menschen fließen die moralpraktischen Zwecke und Forderungen
hervor. Alles Abstrakte ist bei Skovoroda praktischen Zwecken unter-
geordnet. Das Hauptgewicht a Denkens li bei ihm_im konkreten
Leben, ein Zug, der ihn, wie M. sagt, den allgemeinen Tendenzen :
Slaven freu erweist. Skovoroda ist Eudämonist, sein Streben nach Glick-
seligkeit trägt jedoch einen ganz eigenen Charakter. Daß der Mensch sein
Glück immer individuell suchen muß, unterscheidet ihn von der übrigen
Kreatur. Skovorodas Forderung, sich im leben dem Willen Gottes zu
fügen, verrät manche Verwandtschaft mit stoischen Lehren. Wie in der
Natur alles nach Gottes Willen seiner eigenen ‘dem Angeborenen gemab
lebt, soll der Mensch das ihm Gemäße suchen, nur dem An enen gemäß
leben und wirken. Skovoroda war überzeugt, daß in Natur des
Menschen bestimmte Anlagen vorhanden sind, die Ken werden
müssen. M. weist auf die Ähnlichkeit zwischen dem Glückseligkeitsprinzip
Skovorodas und dem Sokratischen Begriff der ager} hin. Daneben aber
zeigt sich auch die Verwandtschaft mit platonischen und soles aera
Gedanken. Gerade diese Theorie stand im Widerspruch zu den philo-
sophischen Lehren des 18. Jahrhunderts, welche die Gleichheit aller Menschen
verkündigten. Skovoroda aber sagt „es ist besser, ein natürlicher Kater
als ein Löwe mit einer Eselsnatur zu sein“ und „Je mehr Eintracht und Friede
mit Gott, desto seliger und friedlicher das Leben“. Emmy Haertel.
CECHOSLOVAKEI
Paul Diels: Ein Hussitenlied auf König Sigismund. Archiv für
slav. Philologie. 42 (1928), 1/2, S. 97— 108.
Auf der Innenseite der Predigthandschrift 1 O 395 der Breslauer
Staats- und Universitätsbibliothek befindet sich nebst anderem Nofizen-
material, stark beschädigt, der Rest eines Liebesliedes in polnischer
Sprache, welches D. späterhin zu bearbeiten gedenkt, und die Aufzeichnung
des Liedes, welches den Gegenstand der vorliegenden Untersuchung bildet.
Der sehr schlecht und unsorgfältig geschriebene Text ist hier zum Abdruck
gebracht, wobei D. aufmerksam macht, wie schwer eine Wiedergabe der
Handschrift war, da der Schreiber bei der Nachlassigkeit seiner Schrift
zwischen c, e und o fast gar keinen und zwischen o und a nicht immer
einen Unterschied erkennen läßt, ähnlich verhält es sich mit mehreren
‘anderen Buchstaben. Es müssen daher beim Abdruck Entscheidungen
gefällt werden, welche der Schrift selbst nicht zu entnehmen sind, woraus
folgt, daß bei dem Sinne nach nicht ganz klaren Stellen auch Zweifel über
268
den Buchstabensinn bestehen. Auch die Wortirennung des Textes ist unklar
und unfolgerichtig. Die fraglichen Stellen werden im folgenden besonders
vermerkt und besprochen. Es entsteht die Frage: ist das Lied nach dem
Gedächtnis oder nach einer Vorlage geschrieben? D. vermutet bei der
Menge des Unverstandlichen, daß Bruder Christian aus Guhrau, der dieses
Lied niederschrieb, vieles daraus selbst nicht verstanden haben wird. Ge-
wisse Worte sind schiechterdings unsinnig. Nicht nur die Schrift, auch die
Überlieferung selbst ist kläglich, die Reimanordnung der ersten Strophen
kehrt später nicht mehr wieder. D. versucht die einzelnen Strophen all-
gemein sinngemäß zu scheiden in: Erzählung, Antwort und so fort. Den
ursprünglichen Bau des Gedichtes und seinen Wortlaut herstellen zu wollen,
wäre ein aussichtsloses Unterfangen. D. hat den Text ins Cechische um-
gesetzt und dabei die Lautform gewählt, die etwa der Hussilenzeit eigen
gewesen sein kann, ohne Versuch, dialektische Färbung hineinzutragen.
Unverstandliches ist durch * wiedergegeben. Das überlieferte Lied selbst
ist polnisch aufgezeichnet, kann aber weder in Polen, noch bei den polnisch
sprechenden Schlesiern entstanden sein, da es vom Hussitenkrieg handelt
und außerdem einige Reimausgänge erst sich reimen, wenn man bei dem
betreffenden polnischen Wort die Cechische Lautform einsetzt. Der Dichter
kann aber selbst kein Ceche gewesen sein, sonst hätten die Worte „co
nam Česi pravili“ keinen Sinn, vielleicht war er ein Mahrer. Die in dem
Lied genannten Persönlichkeiten deuten etwa die Jahre 1420 und 1424 an.
D. verfolgt die Geschichte eines an den Hussitenkämpfen beteiligten Hašek
von Waldstein und Ostrov, der in dem Lied als pan Ostrovsky auftritt.
Unklar ist, wer mil Jan Kravovsky gemeint ist. Da sicher angenommen
werden kann, daß hier keine für die Zeitgeschichte unbedeutende Persön-
lichkeit mit hineingezogen ist, vermutet D., daß Bruder Christian einen
Namen verbalihornt hat. Er beleuchtet dann die Möglichkeiten, ob der
Geschlechisname Kravarsky, d. h. die Herren von Kravarn, gemeint sein
kann; die Tatsache, daß sowohl Hašek von Ostrov wie Wenzel von Kravarn
mährische Barone waren, daß beide die Sache Sigismunds i. J. 1421 offen
preisgegeben hatten, würden Spottworte im Liede, die sie gegen Sigismund
äußern, entsprechend ihrer Rolle in der Geschichte erscheinen lassen.
Allerdings sind in der Liedüberlieferung auch Widersprüche enthalten, und
die hier angenommene Namensform für die beiden Barone ist nur unter
Ausmerzung von allerlei Verdrehungen im Text möglich, doch wimmelt ja
dieser Text von Fehlern. — Daß dieses Lied, wie von vornherein zu ver-
mufen, zum Singen gedacht ist, geht aus den Noten unzweideutig hervor,
welche sich über der ersten Strophe befinden. Soviel zu erkennen,
bezeichnen diese undeutlichen Noten keine der bekannten Melodien aus
der Hussitenzeit, ob eine Melodie nichtbohmischer oder mährischer Her-
kunft dahintersteckt, vermag D. nicht zu entscheiden. — So schlecht und
rätselvoll die Überlieferung dieses Hussitenliedes auch ist, steht es stofflich
ohne Seitenstück da, es gibt nur noch ein Lied, das sich mit Sigismund
beschäftigt, mit dem aber das vorliegende Lied nichts gemein hat. Auch
aus den sonstig vorhandenen Hussitenliedern hebt es sich allein durch seine
Länge hervor. D. erwähnt hierbei kurz die in Betracht kommenden Lieder.
Das Lied der Breslauer Handschrift besingt die Ereignisse der Schlacht von
Kuttenberg, zu deren Zeit der Aufzeichner des Liedes noch ein Kind war
(er war im Jahre 1439 dreißig Jahre alt), und es knüpfen sich eine ganze
Reihe von nicht zu beantwortenden Fragen daran, wie er zu dem Liede
gekommen sein mag. Ob es vielleicht Hussiten mitgebracht haben nach
Schlesien? Zu bedauern ist nur, daß Christian den Text nicht besser im
Kopfe behalten hat. Emmy Haertel.
Karel Stoukal: „Die Anfänge der Nuntialur in Prag.“ — Cesky
časopis historický, Jahrgang XXXIV 1928, Heft I, SS. 1—24, Heft ll,
SS. 237-279.
Infolge des ungeahnten Aufschwunges des Katholizismus in Böhmen
in der zweiten Hälfte des XVI. Jahrhunderts hatten neben der ideellen
269
Wiedergeburt der ganzen römischen Kirche vier Ereignisse eine grund-
legende Bedeutung: die Einführung der Jesuiten in Böhmen (1556), die Er-
neuerung des Prager Erzbistums (1561), die Übertragung der kaiserlichen
Residenz nach Prag (1585) und die damit verbundene Verlegung des Sitzes
der Nuntiatur von Wien nach Prag, deren Anfängen Autor seine Arbeit
widmet. Er vermerkt zunächst, daß diese Ubersiedlung der Nuntiatur nach
Prag ein bis zu einem gewissen Grade unerwartetes Ereignis bedeute. Als
Nuntius Bonhomini Ende 1583 mit der Nuntiatur infolge der teilweisen
Ubersiedilung des kaiserlichen Hofes Rudolfs II. von Wien nach Prag über-
siedelte, ahnte er nicht, daß es eine dauernde Ubersiedlung sein werde.
Das Programm für die Tätigkeit der Nuntien in Böhmen wuchs automa-
tisch aus den gegebenen Verhältnissen heran. Die erste Sache, mit der
sich Bonhomini zu beschäftigen hatte, war die Durchsetzung des gregoriani-
schen Kalenders in Böhmen und Mähren. Als nächster Schritt des ersten
Nuntius folgte die versuchte Reformierung der Prager Universität im katho-
lischen Sinne, um diese in die Hand zu bekommen und sie im mittelalter-
lichen Sinn zu klerikalisieren, da sie sich in der Zeit der Hussiten in den
Händen der Utraguisten befand. Trozdem mußte diese Reformbestrebung
ad calendas graecas verschoben werden, weil der Nuntius nicht zu diesem
Mittel greifen konnte. Ferner erstreckte sich die Tätigkeit des Nuntius auf
die Ausweisung der Keber aus dem Königreiche Böhmen, inbegriffen die
Böhmischen Brüder. So sebte er durch, daß am 27. Juli 1564 cin Mandat
gegen die Keber erlassen wurde, das jedoch dem Nuntius eine Enttäuschung
brachte: denn es sprach nur im allgemeinen über „andere Religionen“,
ohne ausdrücklich die Lutheraner oder Böhmischen Brüder zu nennen. Bei
der Unklarheit der Stilisierung konnten sich auch die Böhmischen Brüder
darauf ausreden, daß sich das Mandat auf sie nicht bezieht, da auch sie sich
zu einer gesetzlich anerkannten Religion bekennen. Auf diese Weise konnte
auch Bonhomini das Oewünschte nicht erreichen. Der Nachfolger Bon-
hominis, der ihm im Dezember 1584 folgte, Malaspina, verurteilte den Plan
onhominis auf Rekatholisierung Bohmens und Mährens, doch anerkannte
die römische Kirche zahlreiche Punkte dieses Planes Bonhominis für richtig
und wies Malaspina an, diesem Plane mehr Achtung entgegenzubringen.
Eugen Perfeckii.
Wolfango Giusti: Karel Havlíček Borovsky. L’Europa Orien-
tale. Anno 8 (1928), 7—8. S. 207—226.
O. hat sich die Aufgabe gestellt, in der Charakteristik Havličeks, die er
hier gibt, zugleich die Frage zu erörtern, wie weit die häufig hervor-
gehobene Ähnlichkeit zwischen ihm und Mazzini tatsächlich zutreffend ist, oder
vielmehr, G. will es versuchen, die Gegensäßlichkeit beider ins rechte Licht zu
setzen, da ihr Lebenswerk eigentlich nur manche Äußerlichkeiten gemeinsam
hat. Selbst das ihnen Gemeinsame: Kampf gegen Österreich zum Zweck
der Erlangung größerer politischer Freiheiten für das eigene Volkstum ist
nach Zweck und Kampfmethode grundverschieden. Mazzini revoltierte,
predigte illegale Kampfmethoden, Havlíček wollte den Kampf innerhalb der
geseklichen Grenzen. Beiden gemeinsam ist die Behandlung des sozialen
Problems, über dessen Lösung jeder von ihnen Anschauungen besaß,
welche zu widerstreitenden Auslegungen führen konnten. G. behandelt
eingehend die aus Havličeks common sense resultierende Stellungnahme
zum Panslavismus und weist immer wieder hin auf die grundverschiedene
Ideologie des Slovaken Stur in dieser Frage. Er schildert Havličeks Ent-
täuschung an dem von den Panslavisten getraumten, in Wirklichkeit diesen
Träumen aber ganz unähnlichen Rußland, das er aus eigener Anschauung
kennengelernt und sowohl in Briefen wie in Aufsätzen der Prazké Noviny
und anderer Zeitungen lersch. unter dem zusammenfassenden Titel „Obrazy
z Rus. Praha, Laichter 1907) sehr abfällig beurteilt hat. G. zitiert besonders
charakteristische Stellen daraus. Nach Haviféeks Rückkehr aus Rußland
sind seine früheren panslavistischen Träume verflogen, und alle seine Inter-
essen gelten der Aufgabe, innerhalb des politisch Gegebenen das denkbar
270
Beste für das eigene Volkstum zu erreichen, er will Österreich nicht stürzen,
sondern umwandeln. Ähnlich wie Palacky ersehnt er ein foderatives Reich,
in welchem das slavische Element zu gleicher Bedeutung kame wie das
deutsche oder magyarische. Ebenso wie den Pangermanismus will er aber
auch den Panrussismus abwenden, das Untertauchen im „russischen Meer“,
welches die Slovaken ersehnen, lehnt er ab. Diese grundsäßliche Ein-
stellung Osterreich gegenüber zeigt, wie verschieden sein Programm von
dem Mazzinis war. interressant ist es, zu sehen, wie objektiv Havlíček,
trotz dieser politischen Gegensäßlichkeit zum Slovakentum, doch die kul-
turclle Geschlossenheit des letzteren anerkannt und seine „Reinheit“ gegen-
uber den westierisch affizierten Cechen hervorgehoben "hat. Er erhoffte
von ihm sogar für die Zukunft viel für das nationale Leben. Bei der Ab-
lehnung des panslavistischen Programms ging Havlíček sogar so weit, nächst
den Russen auch die Polen mit kritischer Kühle zu beurteilen. Seine Stel-
lung zu der in den vierziger Jahren aktuell gewordenen revolutionären Be-
wegung zeigt auch wieder Berührungspunkte mit Palacky. Im Grunde war
er mehr reaktionar als revolutionär veranlagt. Bakuninsche Ideen lagen
ihm nicht im geringsten, ein Glauben an die revolutionären Instinkte der Masse
ging ihm ab, Revolutionen taugen seiner Meinung nach dann etwas, wenn
sie Erfolg haben, sonst sind sie zu verwerfen usw., Anschauungen, die
erklärlicherweise seinen Gegnern Anlaß gaben, Havlíček des Opportunismus
zu beschuldigen. Nichtsdestoweniger hat er die Radikalen psychologisch
begriffen, er schätzte aber den Umsturz für zu gefährlich ein, als daß er
icht friedlichere Kampfmittel vorgezogen hatte. Auch hier zeigt sich der
gewaltige Unterschied gegenüber Mazzini, sowohl in der Wahl der Kampf-
methoden wie des Urteils über die politischen instinkte der Massen, die
nach Havličeks Meinung in erster Linie durch materielle und praktische,
nicht durch ideelle Motive geleitet werden. Weder ausschließlich mon-
archisch noch republikanisch eingestellt, hielt er für Osterreich an dem
monarchischen Prinzip fest, die Volksindividualitäten der österreichischen
Monarchie würden gerade durch das Herrscherhaus in gewisser Hinsicht
vereint, das hindere keineswegs das Besiehen einer Demokratic, eines
Parlaments usw. G. charakterisiert im folgenden Haviféeks Stellung zu
Fragen der Religion und stellt dabei fest, daß sein Verlangen nach einer
Reform der katholischen Kirche in der Cechoslovakei vieles Gemeinsame hal
mit den Wünschen, die dort nach dem Weltkrieg laut geworden sind, in beiden
Fallen ist ein starkes Nationalgefühl der Hauptbeweggrund, das sich mit
der austrophilen katholischen Kirche auseinanderzusefen bestrebt ist.
Schließlich erörtert G. noch Halfiéeks Stellung zum Marxismus. Bei seiner
Ablehnung jedes doktrinären Systems und jeder wirklichkeitsfernen Ideologie
konnte er auch hier nur zu einer Ablehnung gelangen, ähnlich wie Mazzini,
der allerdings eine gründlichere Kenntnis der marxistischen Lehre besaß
und sie durch wissenschaftlichere Methoden bekämpfte. Havlíček, der
grundsätzlich am Privateigentum festhiclt, war aber Gegner des großen
Kapitalismus, der sich in Böhmen wesentlich in deutschen oder jüdischen
Händen befand. In einem Rückblick auf diejenigen Verdienste, welche
Havificeks Ideen und seinem Wirken ganz entschieden zuzusprechen sind,
erwähnt G., daß sein unerschülterliches Vertrauen, daß auch bei augenblick-
licher Erfolglosigkeit des Kampfes für die nationalen Interessen seine Fol-
gen für die späteren Generationen nicht ausbleiben werden, sich wieder
mit den Überzeugungen Mazzinis berührt. Emmy Haertel.
POLEN
Wirtschaftliche Beziehungen Oberdeutschlands zu Polen und dem
Osten im Mittelalter. — Schles. Geschichtsblatier. Mitteilungen
d. Ver. f. Gesch. Schlesiens. 1927, Nr. 3, S. 49—57.
Hektor Ammann-Arau (Schweiz) bringt Mitteilungen „Zur
Geschichte derwirtschaftlihenBeziehungenzwischen
18 NF 5 971
Oberdeutschland und dem deutschen Nordosten im
Mittelalter.“ Der Nordosien lieferte nach Oberdeuischland Pelzwerk,
Wachs und, wenigstens im 15. Jahrhundert, Schlachtvieh, Oberdeutschland
dafür Wein aus dem Donaugebiet, dann aber gewerbliche Erzeugnisse:
Leinwand und Barchent aus Schwaben und vom Bodensee, Metallwaren aus
Nürnberg. Es werden durch Oberdeutsche teilweise auch die Beziehungen
zu den Niederlanden vermittelt zum Bezuge der dortigen Tuchwaren. Wich-
tiger aber war noch der durch Oberdeutschland laufende Verkehr mit
Italien. Die Verbindung mit dem Orient ging freilich, statt über Italien,
über das Schwarze Meer (vgl. dazu noch Heinrich Wendt chle-
sien und der Orient“, = Bd. 21 der „Darstellungen u. ellen z.
schles. Gesch.“, 1916). E. Hanisch.
Marjan Gumowski: Architektura i styl przedromafski w Polsce.
(Die Architektur und der vorromanische Stil in Polen) Przeglad
Powszechny Bd. 179 (1928), S. 129— 152, 285—312.
Diese Studie reiht sich der früheren über die ältesten polnischen
Kirchenbauten desselben Verfassers an. Das wichtige Resultat der mit
unermüdlicher Zähigkeit betriebenen Forschungen Gumowskis ist die ge-
sicherte Feststellung cines durch mehrere bedeutende kirchliche Bauwerke
vertretenen vorromanischen, byzantinischen Baustils auf polnischem Boden,
in dem außer der ältesten Krakauer Kirchen noch eine Anzahl Heiligtümer
im Herzen Großpolens errichtet waren. Uber dieses bedeutsame kunst-
geschichtliche Ergebnis ragt an Wert noch hinaus, daß für die Urgeschichte
des Christentums im vorpiastischen Polen durch die Zeugnisse der auf deut-
schen und über Mähren hereindringenden Einfluß zeugenden Baudenkmale
unmittelbare Quellen erschlossen werden, deren Steine, vom Zauberstab
des kundigen Gelehrten berührt, zweifelsohne noch viel reden mögen.
Otto Forst-Battaglia.
Kazimierz Tymieniecki: Z dziejów rozwoju wielkiej wias-
ności na Slgsku w XIII w. (Zur Geschichte der Entwicklung des
Großbesikes in Schlesien im XIII. Jahrh.) — Prace komisji Histo-
rycznej, Bd. IV, Posen 1927. S.235—298.
Im ersten Kapitel wird die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des
Großbesibes in Schlesien im 13. Jahrh., insbesondere der Klosſerbesitztümer
unter Berücksichtigung der Archivquellen des Zisterzienserklosters an der
Ohle untersucht. — Das zweite Kapitel ist der Organisation des Klein-
besitzes, der Kolonisierungspolitik des Klosters, seiner rechtlichen Lage etc.
gewidmet. Eugenie Salkind.
Dr. Kazimierz Bieszk: Der Kampf des Deutschen Ordens mit
Polen um kirchliche Abhängigkeit des Pommerschen Erzdiako-
nats. (Walka zakonu krzyżackiego z Polska o przynależność
koscielna archidiakonatu pomorskiego.) — Roczniki towarzystwa
naukowego w Toruniu, Nr. 34, Thorn 1927, S. 3—53.
Unmittelbar nach seinem Eindringen in die preußischen Länder sekte
der Deutsche Orden alle Mittel ans Werk, um kirchliche Macht über Pom-
mern zu bekommen. Kaum im Besitze des säkulären Rechtes, bemächtigte
er sich fast aller Bistümer und eignete sich das Patronatsrecht an. Diese
Maßregeln konnten natürlich nicht ohne Schwierigkeiten durchgeführt wer-
den, besonders in dem 1309 eroberten Teile Pommerns, der am linken Ufer
der Weichsel liegt. Der größte Teil dieser Territorien gehörte, vom kirch-
lichen Standpunkte aus, der Diözese von Wloclawek (Vladislaviensis), der
272
Rest der Erzdiözese von Gnezen. Die Erzbischöfe sahen sich oft genötigt.
bei den poln. Königen Hilfe zu suchen; sie befanden sich gleichsam in der
Lage poln. Vorposten inmitten der Territorien des Deutschen Ordens. Der
Orden machte inzwischen weitere Versuche, seine Stellung in Pommern zu
sichern, sei es durch Gründung neuer Diözesen oder durch Einführung ad-
ministrativer Institutionen. Die ersten Versuche, das pommersche Erz-
diakonat von der Diözese von Wioclawek zu trennen, wurden 1343 unter-
nommen, als Kasimir d. Or. Pommern dem Orden abtrat. Diese Politik
wurde im Laufe des 14. Jahrh. fortgesebi, doch der endgültige Erfolg blieb
aus, weil sich auch der Papst zuletzt mit Rücksicht auf Polen den Plänen
des Ordens widersetzte. Im Jahre 1400 unternahm der Großmeister einen
neuen Versuch dieser Art, doch als das Gerücht davon bis an den poln.
Hof vorgedrungen war, leugnete er alles aus Furcht vor einem neuen Kon-
flikt mit Polen, das jebt durch seine Union mit Litauen gefestigt war. Die
darauffolgenden Jahre brachten dennoch einen Krieg mil sich, der für den
Orden 1410 mit einer schweren Niederlage endete. Im Jahre 1421 starb der
Erzbischof von Włocławek, Jan Kropidio; der Orden schlug als Nachfolger
den Sohn des Fürsten von Mazowien vor. Der polnische König unterstübte
die Kandidatur des Bischofs Jan Pella, eines geschickien Diplomaten und
erbitterten Gegner des Ordens. Der Papst Martin V. fand eine Kompromiß-
lösung des schwierigen Dilemmas: er beschloß, den Bischof von Plock nach
Wioclawek zu versetzen und Pella das Bistum von Plock anzubieten. Jedoch
der polnische diplomatische Einfluß siegte in Rom: Pella wurde zum Erz-
bischof von WIoclawek ernannt. Die Jahre 1431—33 brachten den letzten
Versuch des Ordens, der sich auch in großen materiellen Schwierigkeiten
befand: der Großmeister wandte sich mit einer Bitte um Fürsprache an
König Sigismund, der zum Empfang der Kaiserwürde nach Rom reiste. Doch
waren die Aussichten des Ordens zunächst gering, denn der Papst Eugen IV.
unterstüßte Polen, während Sigismund zu der gegnerischen Partei, die sich
um das Basler Konzil gruppierte, hielt. Als jedoch zwischen dem Papst
und Sigismund eine Einigung erreicht wurde, beschloß man, den Bitten des
Ordens statizugeben. Man verbreitete bereits Pamphlete, in welchen Polen
der Unterstiijung der Hussiten beschuldigt wurde. Der Waffenstillstand
v. J. 1433 zwischen Polen und dem Deutschen Orden setzte allen Intrigen ein
Ende und gab dem Orden die Herrschaft über Pommern. Durch den Ver-
trag von Thorn (1466) bekam Polen diese Provinz zurück.
Eugenie Salkind.
Dr. E. Perfeékyj, PeremySler Chronik erster Redaktion als
Teil der Chronik von J. Diugosz. — Mitteilungen d. Sevcenko-
Ges. d. W. Bd. 147 u. 149, Lemberg 1927—28, S. 1—54, 31—83.
In einer umfangreichen, vorläufig noch nicht vollendeten Arbeit, ver-
sucht Dr. Perfeckyj, auf Grund des Textes der bekannten Historia Polo-
nica von Jan Diugosz, einen siidruthenischen (ukrainischen) Chronik-Kodex
zu rekonstruieren. Das verstorbene Mitglied der Petersburger Akademie
A. Sachmatow bediente sich bekanntermaßen bei der Abänderung des
Grundiextes des ersten Kiever Kodexes des XI. Jahrhunderts — und auch
anderer Kodizes — jenes Materials, welches im Texte späterer Chroniken-
Kodizes in südruthenischen (ukrainischen) und nordrussischen Redaktionen
uns erhalten blieb. Das Resultat seiner 25jahrigen, ersprießlichen Arbeit
ist die 1916 erschienene Rekonstruktion der ersten Auflage der Chronik.
In den Richtlinien und Meihoden seines Lehrers fortfahrend, machte uns
Dr. Perfeckyj auf eine fremde Quelle aufmerksam, aus welcher man ein
geeignetes Material zur Rekonstruktion eines Chronik-Kodexes, der uns im
Original leider nicht zugekommen ist, schöpfen kann. Diese Quelle ist
nämlich die bereits erwähnte Arbeit von Jan Dlugosz. Es ist auch weiter
bekannt, daß auch Diugosz sich der ruthenischen Chronik-Kodizes bei seiner
Arbeit bediente, was bis dato von keinem Gelehrten angewendet wurde.
Dr. Perfeékyj stellt anfangs fest, daß jener Kodex, aus welchem Dlugosz
275
das Material schöpfte, mit keinem der uns bekannten sudruthenischen Kodizes
gänzlich übereinstimmt. Es steht also der Gedanke nahe, daß Dlugosz einen
bisher nicht bekannten ‘Text vor sich hatte. Auf Grund einer Analyse stellt
Dr. Perfeckvi weiter fest, daß es sich hier um einen in Peremy3l zusammen-
gesetzten und bis zum Jahre 1225 zurückreichenden Kodex handelt. Daß
dieser Kodex gerade in Peremy3l zustande kam und nicht anderswo, be-
weist uns die Tatsache, daß wir in ihren zehn verschiedenen Aufzeichnun-
gen aus den Jahren 1117—1135, welche hauptsächlich Peremy3i betreffen,
vorfinden, was sich in keinen uns bekannten Kodizes findet. Gerade
Peremy3l hatte in der Hinsicht eine sehr bedeutende Tradition der Chro-
niken. Schon gegen 1110 wurde dort eine Redaktion der sogenannten
„Povist vremennych lit gegründet, die man mit dem Namen eines
Monches Nestor des Kiever Pecersk-Klosters verknüpfte. Als Autor
dieses Peremy3ler Kodexes des 1100. Jahriges halten Dr. Perfeckvi sowie
die übrigen Forscher den damaligen Seelsorger des Fürsten Vassilko,
Priester Vassyl. Dieser erste Peremy3ler Kodex wurde von Dr. Perfeckyi
als der „fürstliche Kodex“ benannt, während der zweite Peremy3ler Ko-
dex von 1225 von Dr. Perfeékyj als „bischöflicher“ benannt wurde, da lebt-
genannter Kodex am Hofe des Bischofs Antonius zusammengesetzt war.
Dr. Perfeékyj versucht weiter, auf Grund der Textvergleiche zwischen der
Dlugosz- und der Kiever Anfangs-Chronik, sowie der Novohoroder Chro-
niken — in letzteren sind bekanntlich sehr viele Fakten erwähnt worden —
vorlaufig nur die erste „Fürstliche“ Chronik von Peremy3l zu rekonstruieren.
Dazu verwendet er in erster Linie die bekannten Erzählungen über die
legendären Begründer Kievs, nämlich die drei Brüder Kyj, Scek und Choryv,
sowie über die Varjager-Fürsten Ruryk, Sineus und Truvor, welche einer
Sage nach den Varjager-Staal in Novohorod begründeten. Die Analyse der
Diugosz-Erzählungen zeigt uns, daß der Peremy3ler Kodex die Angaben der
alten Kiever Chronik erschöpfend ausnübte, hatte aber eine solche Redak-
tion derselben, die den Text der Novgoroder Chronik mit ihren archäischen
überlieferungen widerspiegelte, welche somit vollinhalllicher als alle an-
deren Redaktionen, die uns bekannt sind, war.
Schließlich rekonstruiert Dr. Perfeékyj den Inhalt der Erzählungen über
die Anfänge des Kiever Staates, auf Grund des Textes von Dlugosz, welchen
er mit den bekannten ruthenischen Chroniken vergleicht.
D. Doroschenko.
Stanislaw Tync: Die Geschichte des Thorner Gymnasiums
(1568—1793), I. Teil (Dzieje gymnazjum torunskiego). — Roczniki
towarzystwa naukowego w Toruniu. Nr.34, Thorn 1927, S.57
bis 284.
Das Thorner Gymnasium, das mit einem humanistischen Programm als
Erziehungs- und Bildungsstätte für die protestantische Jugend gegründet
wurde, hat in den Zeiten der alten polnischen Republik Epochen außer-
ordentlicher Blüte gekannt. Viele Historiker, die zum größten Teil dem
Lehrkörper des Gymnasiums angehörten, haben sich mit seiner Geschichte
befaßt; Verf. erwähnt sie und ihre Werke in seiner Einleitung.
Im vorliegenden I. Teil der Monographie wird die Geschichte des Gym-
nasiums in den Jahren 1568—1600 dargestellt; ihr wird ein kurzer Umriß der
vorhergehenden Geschichte (seit 1375) der Schule, die, als Parochialschule
gegründet, später zur munizipalen Schule umgebildet wurde, voraus-
geschickt. Als die Thorner Bürger zunächst heimlich, dann offen, zum
Luthertum übergingen, berührten die neuen religiösen Strömungen auch die
städtische Schule. Ihr protestantischer Charakter offenbarte sich jedoch erst
um 1550, als die Schule sich unter der Leitung von Urban Stürmer befand.
Seit 1557, als der Stadt das Privilegium der Konfessionsfreiheit verlichen
wurde, hatte die Schule nicht mehr nötig, ihren lutherischen Charakter zu
verbergen. Ihre ersten lutherischen Rektoren waren Simon Reymann und
Christoph Ortlob. Im Jahre 1568 fand die Gründung des Gymnasiums, das
274
aus sechs Klassen bestand, statt. Der Lehrkörper setzte sich aus zehn Pro-
fessoren zusammen, das Lehrprogramm wics ein sehr hohes Niveau auf
und entsprach ungefähr dem der westeuropäischen Schulen; es zeige auch
Spuren des Einflusses Melanchthons in der Wahl der Lehrfächer und
-mittel. Die feierliche Eröffnung fand am 8. März 1568 statt; Matthias Breu,
aus Chemnitz berufen, wurde zum Rektor ernannt.
Die Entwicklung der Schule begann unter guten Auspizien; die Stadt-
verwaltung stellte ihr beträchtliche Summen zur Verfügung. Doch bereits
nach Verlauf einiger Jahre beklagen sich die Professoren über das Aus-
bleiben ihrer Besoldung. Dem gelehrten und ehrgeizigen Bürgermeister
Stroband gebührt die Ehre, das Gymnasium auf die Höhe seiner Entwick-
lung gebracht zu haben. Seine im Auslande gemachten Studien gaben ihm
den ersten Impuls dazu. Als Muster diente ihm die von Johann Sturm refor-
mierte Schule von Straßburg. Stroband war auch bestrebt, das Lehrper-
sonal durch wissenschaftliche Kräfte zu ergänzen; er setzte sich mit einem
Doktor der Leipziger Universitat, Ulrich Schober, in Verbindung, der 1585
zum Konrektor des Gymnasiums ernannt wurde. Diese beiden Leiter faßten
den Plan, das Gymnasium zu einer akademischen Schule umzugestalten.
Im Jahre 1594 wurde eine „classis suprema“ mit zweijährigem akademischen
Kursus eröffnet; eine umfangreiche Publikation, die im selben Jahre unter
dem Titel „Orationes X“ erschien, enthielt das detaillierte Programm dieser
Klasse. Doch die Plane von Stroband gingen noch höher: gelegentlich der
Zusammenberufung einer protestantischen Synode in Thorn (21.—27. Aug.
1595) machte er den Vorschlag, in Thorn eine protestantische Akademie zu
gründen. Dieser Plan scheiterte an dem Widerstand anderer preußischen
Städte. In den folgenden Jahren geht die Entwicklung der Schule lang-
samer vor sich. Erst 1600 erhält sie ihr Reglement (ordynacja), das vom
Stadtrat von Thorn approbiert wurde. Verf. unterzieht dieses Reglement
einer eingehenden Untersuchung und stellt fest, daß das Thorner Gym-
nasium in allen seinen Einzelheiten dem Straßburger Muster nachgebildet
wurde. Die nachgedruckien Lehrmittel von Sturm, sowie die anderen, spe-
ziell für das Gymnasium verfaßten, erbringen den Beweis dafür. Zum
Schluß untersucht der Verfasser die polnische Unterrichtsmethode an der
Schule und erwähnt die Namen ihrer hervorragendsten Lehrer und Schüler.
Eugenie Salkind.
Klazimierz Piekarski: Data śmierci Jana Hallera. — Silva
rerum 1927, S. 78.
Das genaue Datum des Todes Jan Hallers war bisher unbekannt, wenn
auch von PtaSnik (in „Monumenta Poloniae Typographica“. Einltg. S.29) als
Todesjahr des Druckers 1525 ermittelt war. Tagebuchartige Aufzeichnungen
des Mikołaj Sokolnicki und des Marcin Biem z Olkusza am Rande sogen.
astronomischer „Almanache“ aus dem XVI. Jahrh. ergeben die Nacht vom
7.18. Oktober 1525 als Datum des Todes Jan Hallers. E. Koschmieder.
Wtodzimierz Budka: Muza Ksiąg sadowych XVI w. — Silva
rerum 1927, S. 85—88.
W. Budka veröffentlicht hier fünf Gedichte, vier lateinische und ein
polnisches, aus den Jahren 1564—1588, die sich in verschiedenen, zur Zeil
im Landesarchiv in Krakau aufbewahrien Gerichtsbüchern finden. Die Ver-
fasser sind Jan Kmita (der Neffe des Krakauer Landesschreibers Jan Kmita),
Stanislaw Zawada, Krzysztof Czarnocki und Adam Kröl, die alle in den
Kanzeleien gearbeitet haben. E. Koschmieder.
Stanisław Kot: Pierwszy wiersz polski tłoczony w Paryżu. —
Silva rerum 1928, S. 1—5.
Als Heinrich I., König von Frankreich, 1559 an den Folgen einer beim
Turnier erlittenen Verwundung starb, verfaßte der junge Humanist Karl
275
Utenhove ein Epitaphium auf ihn in mehreren Sprachen. Durch sprachkundige
Bekannte ließ er es dann noch in andere ihm selbst unbekannte Sprachen
— u. a. auch ins Polnische — übersetzen. Dieses polyglotte Epitaphium er-
schien dann mit anderen Gedichten zusammen 1560 im Druck u. d. T.:
„Epitaphium in mortem Herrici... per Carolum Utenhovium... et alios...”
Paris: Robert Estienne. St. Kot druckt den poln. Text in modernisierter
Orthographie ab und fügt photogr. Reprod. des Textes und des Titelblattes
bei. Bestimmte Anhaltspunkte für die Person des Ubersefers lassen sich
nicht geben, wenn auch manches dafür spricht, daß es sich um die gleiche
Persönlichkeit handeln dürfte, der wir die Gedichte verdanken, die von
Ign. Chrzanowski in der „Bibljoteka pisarzów polskich Akad. Um.“ Nr. 43,
1903, u. d. T.: „Anonima — protestanta XVI wieku Erotyki, fraszki, obrazki,
epigramaty” veröffentlicht worden sind. E. Koschmieder.
Szymon Czechowicz.
MaciejLoret: Z rzymskich lat Czechowicza. (Aus Czechowiczs
römischen Jahren) Tecza 1928, Nr. 34.
Ein paar Bemerkungen über die römischen Lehrjahre des vorzüglichen
Spatbarock-Meisters, der mit Konicz und Smuglewicz die polnische Malerei
der Sachsenzeit auf das beste vertritt. Loret leugnet die Möglichkeit, in
Czechowicz einen unmittelbaren Schüler des um 65 Jahre älteren Maratta zu
erblicken. Immerhin ist das Wirken des italienischen Künstlers dem Polen
in vielem ein Muster geblieben. Loret stellt aus den Dokumenten ver-
schiedene Daten von Czechowiczs römischem Aufenthalt sicher, die mit 1714
beginnen. Otto Forst-Battaglia.
Zofja Birkenmajerowa: Z miodzienczych lat jan Daniela
Janockiego. (Aus den jugend jahren von J. D. Janocki.) — Prace
Komisji Historycznej, Poznańskie Towarzystwo Przyjaciół Nauk,
Bd. IV. Posen 1927, S. 1— 126.
Verf. stellt sich zur Aufgabe, die Jugendjahre des ersten polnischen
Bibliographen des 18. Jahrh., J. D. Janocki (Jänisch), aufzuhellen. Generationen
der poln. Bibliographen — unter ihnen ist Estreicher an erster Stelle zu
nennen —, haben die Schriften von Janocki studiert, doch herrschte bisher
unter ihnen eine Meinungsverschiedenheit über die wichtigsten biographi-
schen Momente seines Lebens. Verf. gelingt es, an Hand einer J nd-
schrift J's. („Kritische Briefe, an vertraute Freunde geschrieben etc. , Dres-
den 1743 oder 1745) und anderer Originaldokumente, den Geburtsort und
tag., und somit auch die poln. Abstammung J’s., die von den Forschern off
bezweifelt wurde, festzustellen. Geb. 1721 in Birnbaum i. Pos. (Międzychód),
verbrachie der Bibliograph seine Jugend vornehmlich in Deutschland: zu-
nächst in Dresden, wo er die Erziehungsanstalt zum „heil. Kreuz“ besuchte,
dann in Schulpforta, wo er in der berühmten, aus einem Zisterzienser-
kloster hervorgegangenen Schule zum Bibliothekar ausgebildet wurde. Die
oft unvollständigen Angaben der „Kritischen Briefe“, die J's. Zeitgenossen
betreffen, werden von der Verf. ergänzt, und so entsteht, teils auf Hypo-
thesen aufgebaut, ein Bild der Schuljahre )’s., seiner Beziehungen zu den
polnischen und sächsischen Bibliophilen und Gelehrten und seines Verhält-
nisses zu Polen, seiner eigentlichen Heimat. Etwas länger verweilt Verf.
auch bei den heute vergessenen Werken des poln. Schrifttums des 18. Jahrh.,
die J in seinen „Kritischen Briefen“ erwähnt (2. Kap.). Im 3. Kap. untersucht
Verf. die Beziehungen von J. zu seinen Zeitgenossen, den Naturwissen-
schaftlern und Mathematikern; als eines „gewandten Mathematikers“ ge-
denkt er u. a. seines Schulfreundes J. A. Schlegel (Vater von Aug. Wilh. und
Friedrich Schlegel). In einem Überblick uber die geographischen Werke
der oH und ihre Verfasser wird besonders der sachsische Geograph Adam
Fr. Zürner, Herausgeber der damals bekannten Periodica „Fortgesebte
276
BI I AM
10 25
*
SAA AKA A TE we
geographische Nachricht von dem Markgrafthum Mähren“, hervorgehoben.
Das 4. Kap. ist der rätselhaften Persönlichkeit eines „Pan Tucholski“, den
J. oft in seinen „Briefen“ erwähnt, gewidmet. Verf. stellt die Hypothese auf,
„es sich hier um den Grafen Bieliński, einen Sohn Augusts Il. und der
Bezirkshauptmannstochter Marianna aus Tucholski, handelt. Das Verzeichnis
der außerordentlich wertvollen Bibliothek dieses Tucholski, die hebräische,
lateinische, griechische, deutsche und polnische Manuskripte enthielt, wird
in den „Kritischen Briefen“ angeführt.
Der Anhang bringt u. a. griechische und lateinische Gedichte von ja-
nocki, einen Brief an Załuski, den Bischof von Kiev (1769), und ein Namen-
register. Eugenie Salkind.
Stanislaw Staszic.
Tadeusz Grabowski: Największy Wielkopolanin. (Der größte
Großpole — sic!) Tecza 1928, Nr. 30.
Czeslaw Le$niewski: Bohusz — nie Staszic. [Bohusz und
nicht Staszic.) Przegląd Historyczny Bd. 26 (1927), 385—395.
_ „ Grabowskis Skizze ist weit besser, als der ungeschickte Titel vermuten
ließe, und überzeugt durch konzise Schilderung des edien Menschen, Staats-
mannes, Dichters und Gelehrten von Staszics hoher Bedeutung auch die,
denen der Geschmack an Schönheitskonkurrenzen auch auf dem Gebiet der
Politik, der Literatur und Wissenschaft und schon gar im retrospektiven
Begriff mangelt.
Leśniewski, der Autor einer vortrefflichen Arbeit über Staszic, zeigt auf
das klarste, daß die von Kraushar 1905 als Tagebuch Staszics von drei
Reisen veröffentlichten Aufzeichnungen nur zum geringen Teil das Werk
des großen Schriftstellers waren, dagegen in ihrer Mehrzahl von einem
anderen Autor herrührten. Als diesen Verfasser identifiziert Leśniewski
nunmehr den Prälaten Ksawery Michal Bohusz (1746—1820) des Wilnaer
Domkapitels. Die scharfsinnige Untersuchung ist zugleich ein charakteristi-
scher Beitrag zu den Methoden der dilettantischen Geschichtsschreibung im
ehemaligen Kongreßpolen, deren typischer Vertreter Kraushar war.
Otto Forst-Battaglia.
Franziszek Giedroyé: Casus notabilis. Przegląd Historyczny
Bd. 26 (1927), 365—366.
Man kennt die Episode aus Sienkiewiczs „Kreuzrittern“, wie Zbyszko
durch den Einspruch einer Jungfrau, die ihn vom Tode retten will, aus
Henkershand befreit wird. An diesem sogenannten Casus notabilis des alt-
Inischen Rechtes, daß eine Jungfrau durch ihre Bereitwilligkeit, einen zum
od Verurteilten zu ehelichen, diesen vor Strafe bewahrt, erinnert Giedroyé
durch die Erzählung eines Falles aus dem Jahre 1791. Leider versagen die
Akten gerade über das weitere Los des Delinquenten, von dem wir also
nicht wissen, ob das alte Vorurteil oder das grausame Urteil Sieger blieb.
Otto Forst-Battaglia.
Jan Nieczuja-Urbafiski: W sprawie „Prosiej odpowiedzi na
list rabina lizbońskiego do rabina brzeskiego“. (Zur schlichten
Antwort auf den Brief des Lissaboner Rabbiners an den Rab-
biner von Brześć.) Przegląd Historyczny Bd. 26 (1927), 367 — 384.
Der vorzügliche Kenner der Geschichte des polnischen Freimaurer-
wesens bespricht eines der seltenen Erzeugnisse antifreimaurerischer
Publizistik im alten Polen, die „Antwort“, welche der Wilnaer Domherr
Aloizy Korzeniowski (aus der Familie des polnischen Erzählers oder aus
der des Anglo-Polen Conrad-Korzeniowski?) dem für die Freimaurer be-
geisterten Pralaten Michal Dluski und dessen nach den Rezepten der Enzy-
277
klopädisten in rabbinisches Gewand gehüllter Broschüre gab. Korzeniowski
zerpflückt die salbungsvoll vorgetragenen Legenden vom uralten Ursprung
des Freimaurerwesens, und er zeigt die Unvereinbarkeit der maurischen
Grundsäße mit denen der katholischen Kirche, während Diuski den christ-
lichen Geist der Logen verteidigt hatte. Er wendet sich auch gegen die
revolutionären Tendenzen des Freimaurerordens. im ganzen unterscheidet
sich die Broschüre indes gar nicht von der Legion ähnlicher Erzeugnisse des
traditionalistischen Lagers, wohingegen der bekampften Schrift Diuskis die
Originalität wenigstens im Versuch, Katholizismus und Loge zu versöhnen,
nicht abzusprechen ist. Otto Forst-Battaglia.
Stanisław Pigof: Des „Aieux“ d’Adam Mickiewicz, sa genèse.
Revue des études slaves. T. 8 (1928), 1—2. S. 5—41.
_ In der Einführung zu seinen Untersuchungen weist P. darauf hin, daß
die „Dziady“ in ihrer Bedeutung für die polnische Romantik eine wichtigere
Stellung einnehmen als die, der Gewohnheit nach, ihnen in dieser Hinsicht
vorangestellten Balladen und Romanzen Mickiewicz’. Man könnte sagen,
daß „die ganze polnische Romantik sich in drei kurzen Stunden, in den drei
herausgegebenen Teilen der Dziady konzentriert habe“. — Von grund-
legender Wichtigkeit ist für das Studium der einzelnen Werke von Mickie-
wicz die Erkenntnis des ihnen zugrunde liegenden Entwicklungsprinzips, des
allmählichen Ausreifens ursprünglich einfacher Pläne zu großartigen Aus-
maßen. P. zitiert B. Chlebowskis Ausspruch (dessen Briefe, T. 4, S. 182),
daß Grundgedanke und Ausführung bei Mickiewicz sich zueinander ver-
hielten wie der Wildling zum veredelten Baum; Chlebowski, der als erster
die Genesis dieses Schaffens richtig erkannt, hat aber nach Pigofs Meinung
bei seinen Schlußfolgerungen geirrt, z. T. wohl deshalb, weil ihm Quellen
und erklärende Texte, welche unentbehrlich sind zur lebten Klärung der
Fragen, nicht bekannt oder nicht zugänglich gewesen sind. P. weist auf
die verwickelte Frage nach der genauen Datierung der Skizze zum 1. Teil
der „Dziady“ hin und nennt die bisherigen Deutungsversuche. Es ist ihm
hierbei gleichgültig, ob die eine oder andere Reihenfolge der Teile als die
ursprüngliche angesehen wird, Hauptsache ist es ihm dagegen zu wissen,
wo in ihnen der Ausgangspunkt für das ganze Werk zu sehen ist. Er tritt
in dieser Frage der schon von M. Konopnicka ausgesprochenen Meinung bei,
daß ursprünglich der jebige 2. Teil dem jebigen 1. vorausgegangen ist, lehnt
aber die von ihr angewandte Beweisführung ab. P. sieht bei der im Archiv
der Philomaten befindlichen Abschrift des 2. Teils der „Dziady“ nach einer
Autographie des Dichters von der Hand Czeczots cin wertvolles Moment in
den Änderungen, welche Mickiewicz an einer früheren Fassung vor-
genommen, er hat an Stelle des ursprünglich beim Feste der Toten gewollten
Priesters einen Guslenspieler eingesebt. Die Frage nach dem Warum?
beantwortet P. damit, daß die realistischere Form hier aus Stilgründen, zu-
liebe einer mehr fiktiven, aufgegeben worden ist, er weist auf Ahnliches
hin bei Umänderungen der in Kowno und Wilna entstandenen Teile. Sollte
selbst diese Schlußfolgerung nicht richtig sein, so gestattet sie doch mit
Sicherheit das Festseßen einer chronologischen Ordnung innerhalb der cin-
zelnen Teile der Dichtung. Der Entwurf zum 1. Teil enthält von Anfang an
bereits den Guslenspieler und erwähnt den Geistlichen nicht, hier ist also
die definitive Gestallung durchgedrungen, ja Mickiewicz spricht davon, daß
die Kirche diesem Totenkull feindlich gegenüberstehe, wie es auch im 4. Teil
gesagt ist. Der Guslenspieler tritt hier auf als Inkarnation der volkstüm-
lichen Glaubensvorstellungen. Von derartigem ist im jetzigen 2. Teil keine
Rede, es geht also deutlich hervor, daß der Entwurf zum 1. Teil erst ent-
standen sein kann, als der jetzige 2., wenigstens im groben Gerüst, bereits
komponiert war. P. halt also den 2. Teil der Dichtung für deren ältesten
Teil und somit für deren Ursprung. Er sucht in der Kopie Czeczots einen
Stubpunkt zu finden für die Mutmaßungen, wie die elementarste Form
dieses ältesten Teiles gewesen sein kann; hier geben auch die Ab-
änderungen von der Hand Mickiewicz’ Fingerzeige. Die Kopie Czeczots
278
ıst erheblich kürzer als der von Mickiewicz veröffentlichte Text des 2. Teils;
es entsteht die Frage: liegt hier eine verstümmelte Fassung vor oder zeigt
ste die älteste Gestalt dieses Teils? Der Schluß fehll. Hat Czeczot von
Mickiewicz nur diesen unvollständigen Text zum Äbschreiben erhalten, oder
hat er den erhaltenen nicht vollständig abgeschrieben? P. ist davon über-
zeugt, Czeczot das gesamte ihm zum Abschreiben übergebene Ma-
nuskript abgeschrieben hat, und daß im Archiv der Philomaten davon nichts
verloren gegangen ist. Die äußere Gestalt dieser Kopie spricht dafür. Die
Einteilung der gebrauchten Papierblätter bezeugt, daß weiter nichts mehr
abzuschreiben gewesen ist als abgeschrieben wurde. Die Kritiker der
„Dziady“ haben wiederholt darauf hingewiesen, daß der jetzige 2. Teil ur-
sprünglich kürzer gewesen sein muß, die Schlußszene fehlte mit der Er-
scheinung Gustavs. Die Kopie Czeczots beweist diese Hypothese, leider
ist es nicht möglich, sie fest zu datieren, sie wird aber nicht lange nach
Fertigstellung des Textes entstanden sein. P. nimmt an, daß sie im Sommer
1821 entstanden ist, gestützt auf Bemerkungen von Zeitgenossen Mickiewicz’.
P. verweilt des näheren bei den von Mickiewicz noch späterhin vorgenom-
menen Abänderungen dieses 2. Teiles und verfolgt seine Versuche, das
Heterogene der einzelnen Teile der Dichtung einheitlicher zu verschmelzen.
Im folgenden untersucht P. die Gründe für die Zutaten zu dem ur-
sprünglich kürzeren Text des 2. Teils, führt die Literatur über diesen Teil
der Mickiewiczforschungen an und Mickiewicz’ eigene Aussprüche darüber.
Bei der weitergeführten Erforschung der den „Dziady“ zugrunde liegenden
keimhaften Gedanken gewinnt für P. die Erscheinung des jungen Mädchens,
welches wegen seines Mangels an Fähigkeit zur Gegenliebe ins Fegefeuer
verwiesen ist, besondere Bedeutung. Sie hat ihre genaue Entsprechung in
der Ballade „To lubię“. Maryla und Zosia sind verwandte Seelen, auch
ihre Schicksale sind einander ähnlich. Hier kommt man den Grundgedanken
der Dichtung nahe. Das Verbrechen, sich dem Naturgesch der Liebe nicht
gefügt zu haben, wird durch Strafe geahndet, in „To lubię“ geschieht das
in galanter, launiger Weise, ohne Hinweis auf die katholische Eschatologie.
Auch in der ursprünglichen Fassung der betreffenden Stelle in den „Dziady“
klingt diese mehr scherzhafte Note an. In beiden Werken ist die gleiche
Idee ausgedrückt, die ältere Fassung in den „Dziady“ stellt einen Übergang
dar von der Liebeskomödie des „To lubię“ zu der ernsten Feierlichkeit im
endgültigen Text der „Dziady“. Die Art, wie hier, ohne in dem Leser
Grausen zu erregen, die Geisterwelt als Mittel zu didaktischen Erwägungen
benützt wird, widerspricht den sonstigen Gewohnheiten der Romantik, cs ist
vielmehr ein vorromantischer Zug und erinnert an die englische Literatur
des 18. Jahrhunderts. Mickiewicz zeigt sich in der ältesten Fassung dieses
Teils der „Dziady“ noch nicht als Adept der volkstümlichen Glaubensvor-
stellungen. Erst der persönliche Schmerz des Dichters hat in die Geister-
erscheinung die ergreifenden Töne hineingetragen. 5
Warum aber ist aus dieser in sich abgeschlossenen Szene später ein
unsterbliches Drama geworden, welches alle Leiden und Lebensphasen des
Dichters zum Ausdruck bringen sollte? Sicher hat hieran seine neu-
gewonnene Anschauung über das Drama Anteil, er bricht mit alten Bühnen-
traditionen und versucht Neues. P. weist hier auf W. Bruchnalskis Aufsatz
im Pamietnik literacki (9. 1910, S. 239) hin. Außerdem klingen hier auch die
demophilen Tendenzen der jüngeren Dichter Polens in jener Zeit mit an.
Man wollte an Stelle des durch die Rationalisten des 17. Jahrhunderts für
gut Gehaltenen, an der kirchlich zugelassenen Form des Totenfestes vorbei
zu seinen heidnischen Grundelementen gelangen. Mickiewicz folgte hier
dem Zuge der jüngeren Generation. Er gelangte auf diesem Wege zugleich
zu den Quellen der Bühnenkunst, zur griechischen Tragödie, und zwar zu
deren ältester Form, dem religiösen Drama. Er glaubte, im Totenfest die
uralten Überbleibsel einer autochthonen Zeremonie auf slavischem Boden,
ein Echo des griechischen Kulis entdeckt zu haben und glaubte auch, diese
Idee durch die Etymologie: koZlarz, husla, guslarz stützen zu können.
Die Fragmente des 1. Teils der „Dziady“ verdeutlichen den ganzen
Gedankengang des Dichters, wenn man in ihnen eine Weiterentwicklung des
279
früher Oeschaffenen sicht. Es lag ihm daran, für den Hauptpunkt, das
Totenfest, eine entsprechende Einleitung und Vorbereitung zu schaffen. In
diese neuen Bilder wird aber die Liebe eingeführt, hier tritt die Jungfrau
auf, welche die Geliebte Gustavs werden soll. Dadurch aber wird das
eigentliche Zentrum der Dichtung, der gegenwärtige 2. Teil, zu einer zweit-
gradigen Episode und der Nebensproß zur Bekrönung des Oanzen. Aus
der ursprünglichen Absicht, Maryla durch eine Ballade zu schrecken, wird
das Drama des eigenen Herzens. Es entsteht die Doppelaufgabe, für das
volkstiimliche Fest und für das Liebesdrama eine dichterische Form zu
finden. P. weist hier auf Mickiewicz’ Liebesabenteuer dieser jahre hin. In
der Psychologie des Helden und der Heldin: Gustav und der Jungfrau
kommen charakteristische Züge der romantischen Zeit zum Ausdruck.
Sicher hat der Gedanke, eine psychologische Zeitstudie in der Liebes-
geschichte der Dichtung zum Ausdruck zu bringen, stark mit eingewirkt auf
die Ausgestaltung des ursprünglichen Planes der „Dziady“.
P. sucht schließlich noch die Verbindung zwischen dem 1. und dem
4. Teil der Dichtung zu deuten. Trob aller Verschiedenheit besteht ein
geistiges Band unter ihnen. Hier ist der Chor der jungen Leute von beson-
derer Wichtigkeit. Drückt er die persönlichen Gedanken des Dichters aus
oder ist er das unpersönliche Sprachrohr der Gerechtigkeit? Dieser Chor
verurteilt Gustav. Sah Mickiewicz in diesem Typ eine Verirrung der Ro-
mantik? Die Konopnicka hatte die rationalistische Kälte der in diesem
Chor ausgedrückten Meinungen herausgefuhit. Der Entwurf zu dem Chor
der jungen Leute im 1. Teil ist sicherlich die älteste Fassung und besonders
aufschlußreich. Er zeigt sich hier weit entfernt von der allwissenden Weis-
heit des antiken Chors, ja er erscheint sogar kleinlich voreingenommen, der
guslarz allein hat Weltweite des Blicks und Urteils, der Chor der Jungen
ist fast trivial in seinen Aussprüchen. Er erinnert an die Gestalt des roman-
tischen Gelehrten in „Romantyczność“, und das gestattet die Schlußfolge-
rung, daß Mickiewicz auf der Seite der Jungfrau stand und nicht auf der
des Chores. Da in „Romantyczność“, wo Mickiewicz Śniadecki in der
Gestalt des Gelehrien verkörpern wollte und dessen Gedankengang, ganz
ähnliche Gedanken ausgesprochen werden wie im Chor der jungen in den
„Dziady“, vermutet P., daß auch hier Mickiewicz Zeitlgenössisches zu ver-
körpern sucht, und glaubt, hier Erinnerungen an die Freunde Mickiewicz’ in
Wilna wiederzufinden, welche seine Liebesexaltationen verurteilten. Wenn
hier also die persönlichen Erinnerungen des Dichters und sein Zusammen-
prall mit dem Positivismus seiner Umgebung einen Platz gefunden hatten,
so liegt es nahe, zu vermuten, daß er schließlich im 4. Teil seiner großen
Dichtung das Drama der eigenen Seele einführen wollte.
Emmy Haertel.
Adam Mickiewicz: Pani Twardowska. Z autografu wydał po
raz pierwszy józef Kallenbach. — Silva rerum 1927, S. 113—118.
In der Bibljoteka Kérnicka hat sich ein Autograph der Mickiewicz’schen
Ballade „Pani Twardowska“ gefunden. Das Wasserzeichen im Papier be-
stätigt (1820), daß d:e Ballade in Kowno oder Wilna entstanden ist. Der
Text selbst, den Kallenbach genau abdruckt, ist schon eine Abschrift aus
einem Konzept und weicht verschiedenflich von der uns im Druck der
„Ballady i romanse“ überlieferten Fassung nicht unwesentlich ab.
E. Koschmieder.
Jözef Korpala: Kraszewski jako wydawca „Pism“ Brodzif-
skiego. — Silva rerum 1928, S.5— 11.
Auf Grund der in der Jag.-Bibl. aufbewahrten Korrespondenz J.I. Kra-
szewski’s, und zwar besonders von Briefen F. S. Dmochowski’s, Fr. Dobro-
wolski’s, Gebethners, der Familie Rucz und L. Vasiutynski's, gibt J. Korpala
hier einen interessanten Einblick in die Genesis der achtbändigen Ausgabe
der Werke K. Brodzifski’s, die in Warschau, von Kraszewski bearbeitet, bei
280
Gebethner erschien. Die Initiative zu dieser Ausgabe war von F.S.Dmo-
chowski ausgegangen. Sie sollte eine kritische und vollständige Ausgabe
werden und mithin alle die reichhaltigen Materialien mit aufnehmen, die
Dmochowski selbst gesammelt hatte, und zwar mit Rücksicht auf die russ.
Zensur in einem besonderen Bande. Jedoch es kam weder zur Veröffent-
chung dieses Bandes noch der Biographie Brodzifiski’s, die Kraszewski
versprochen halte, woran wohl hauptsächlich auch Rucz und Gebeihner
schuld sein dürften. Da nun überdies die Ausgabe Kraszewski’s gegenüber
den Materialien Dmochowski’s viele Ungenauigkeiten, Auslassungen etc.
aufweist, erscheint Korpala eine vollständige Neuausgabe der Werke Bro-
dzifski’s geboten. E. Koschmieder.
Z. L. Zaleski: Jan Kasprowicz: Le Monde slave. 5. Jg. (1928), Nr. 2,
S. 196—212.
_ Gedachtnisrede auf Kasprowicz. Die leitende Idee ist, daß Kasprowicz
eine der drei wesentlichen Vollendungen und Offenbarungen der moralischen
Existenz Polens in der Zeit vor dem Kriege verkörpert habe: Ce que fut
Wyspianski pour le drame de la destinée collective, ce gue furent Zeromski
et Reymont pour le spectacle épique de la vie, tout strié d'ailleurs d'éclairs
tragiques, Kasprowicz le devint spontanément et puissamment pour le mode
Iyrique de Ylexistence, source premiere de tout mouvement ef de toute
création. (S. 197.) F. Epstein.
Chrzanowski, Ilgnacy: Adam Asnyk. — Przeglad współczesny
XVI. S.3—21.
Im Hinblick auf die bei dem Verlag „Bibljoteka Polska“ in Vorbereitung
befindliche Gesamtausgabe der Werke Asnyks, die außer der Lyrik auch die
dramatischen Werke, Novellen, Litcraturstudien, Reden und Artikel des
Dichters umfassen soll, wirft Chrzanowski die Frage auf, ob es etwa ge-
nüge, sich auf die Lyrik zu beschränken. Im ersten Kapitel seiner Studie
zeigt nun Chrzanowski, wie Asnyks dramatische Werke von lyrischen Ele-
menten durchdrungen sind, und daß schon deswegen eine Ausgabe seiner
Lyrik allein ohne das dramatische Schaffen ein ganz unvollständiges Bild
seiner Lyrik gäbe. In einem zweiten Kapitel führt Chrzanowski aus, daß
Asnyk, wenn auch vielleicht nicht vom romantisch patriotischen Gesichts-
punkt, so doch vom ästhetischen aus, unbedingt zu den „großen Dichlern“
Polens zu rechnen und somit eine . Ausgabe aller seiner Werke
völlig gerechtfertigt sei. Das nächste Kapitel weist auf die Vereinigung von
höchster Vollendung der Form und größter Einfachheit mit Erhabenheit des
Inhalts in Asnyks Lyrik hin. Nicht, wie Wyspiański es boshaft aussprach, ein
ausgestopfter Adler ist er, sondern ein lebender, wenn auch ein verwun-
deter, dem die nationale Katastrophe im Januaraufstand die Kraft der
Schwingen gebrochen. Das letzte Kapitel beschäftigt sich mit der Religiositat
und der Philosophie des Dichters. E. Koschmieder.
Polnische bildende Kunst der Gegenwart.
Z. St. Klingsland: La sculpture de Zamoyski. Pologne Litté-
raire 1928, Nr. 19.
Derselbe: La peinture de Tadeusz Makowski. Ibid. Nr. 22.
Mieczysław Wallis: Die Gruppe des „Rhythmus“. Ibid. Nr. 21.
Die mit schönen Reproduktionen verschenen Artikel von Klingsland
und Wallis tragen sehr viel dazu bei, eine knappe Übersicht über die her-
vorragendsten polnischen Maler und Bildhauer unserer Tage zu vermitteln.
Die reiche Skala der Ausdrucksmöglichkeiten, die von der derben Realistik
des Malers Makowski über die ironische, klassisch stilisierende „Formistik“
des Bildhauers Zamoyski zur Gruppe des „Rhythmus“ führt, bezeugt in
281
überraschender Weise die Vielfalt des polnischen Kunstschaffens. In der
Würdigung des „Rhytumus“ durch Wallis vermisse ich einen Hinweis auf die
Paralielerscheinungen in der Literatur. Skoczylas, der bedeutendste unter
den Leuten des „Rytm“, ist das Gegenstück zu Zegadlowicz, auch er der
Erde verhaftet und aus ihr seine Inspiration holend. Auch innerhalb der
Gruppe ist reicher Raum für individuelle Sonderheit geblieben. Neben
Skoczylas, der wie ein technisch vervollkommneter Wowro anmutet — wer
kennt nicht den naiven Holzschniger aus den Beskiden, dem Zegadlowicz
seine Balladen von den „Dorfgängern“ dankt?l! — neben W z, der
ganz im Schatten von Skoczylas, dem Meister der Graphik, sicht, ist der
zarte, träumerische Eugenjusz Zak, der 1926, zu früh, dahinsterben mußte
und sich den westlichen Einflüssen schon mehr gefangen gab. Ganz
Europäer aber Ludomir Slendzifiski, während Henryk Kuna irgendwo in
einer christlichen, strengen Antike wurzell. Otto Forst-Battaglia.
RafalMalczewski.
Stanislaw Ignacy Witkiewicz: Malarstwo (nie sztuka)
Rafała Malczewskiego i lo jego powstanio. (Die Malerei — nicht
Malkunst — Raphael Malczewskis und der Hintergrund ihres
Entstehens) Wiadomości Literackie 1928, Nr. 21.
Von aufrichtiger Bewunderung getragene und diese Bewunderung
schamhaft hinter kühler Sachlichkeit und ein paar Absagen an das ver-
faulende Europa verbergende Anmerkungen zum Schaffen des ungemein
begabten Landschaftsmalers Rafat Malczewski, den Träger eines großen
Namens der polnischen Malerei und dennoch eine starke eigenwillige In-
dividualitat. Die beigefügten Reproduktionen überzeugen uns von der tech-
nischen Vollkommenheit und dem künstlerischen Wert dieser Bilder, die ganz
im Geist der sogenannten „neuen Sachlichkeit“ gehalten sind. (Ich weiß
nicht, warum Witkiewicz sich so gebärdet, als wüßte er nicht, wie sehr Rafat
Malczewski in einer mächtigen Kunststromung seiner Zeit untertaucht.) Uber
diese im Grund gar nicht so neue Sachlichkeit hinaus hat Malczewski einen
Vorzug: er ist nicht nur der talentierte Schuler der holländischen Realisten
des Landschaftsgemäldes, sondern auch der polnische Segantini, dem kein
zweiter die Gebirgsfirne der Tatra ebenbürtig erfaßt. Wovon aber Wit-
kiewicz mit keinem Wort Erwähnung tut. o Forst-Battaglia.
M. J. Wielopolska: Rembrandt i Re-Rembrandty. (Rembrandt
und die Re-Rembrandt.) — WiadomoSci Literackie 1928, Nr. 28.
Vgl. ibid., Nr. 24.
Jan Wiktor: Wskazania Ossolińskich, Czartoryskich, Krasińskich.
(Die Mahnungen der Ossoliński, Czartoryski, Krasiński.) — Ibid.
Nr. 36.
Die Polemik um den von Graf Tarnowski nach den Vereinigten Staaten
gesandten Rembrandt dauert fort (vgl. diese Jb. NF. 4, 357). Die Wielopolska
verteidigt mit Verve und Eloquenz den Besitzer des Gemäldes, das angeb-
lich nur zum Zweck der Restaurierung nach Paris gebracht worden sei und
jedenfalls sich nunmehr wieder in Polen befindet. Dem Unbeteiligten, der
die Verhältnisse kennt, will es scheinen, daß erst der im ganzen Lande er-
hobene Lärm den voreiligen Verkäufer bewog, das Bild aus New York,
wohin es unzweifelhaft den Weg genommen hatte, mit großen Opfern zu-
rückzuholen. Sicherlich hat Jan Wiktor recht, wenn er die Angelegenheit
nicht als abgeschlossen betrachtet, und zwar nicht, wie recht unnotigerweise
die Redaktion der „Wiadomości Literackie“, nach dem Staatsanwali, doch
nach einer gründlichen Revision der beklagenswerten Zustände ruft, die in
den meisten Sammlungen der Magnaten herrschen. Man kann den Skandal
nicht oft genug, und auch vor dem Forum des Auslands annageln, daß die
282
* 5 „ KA KW Raa Bp E
Potocki, Branicki, Popiel und viele andere ihre, auf nicht immer einwandfrei
rechtlichem Wege gesammelten Archivalien verwahrlosen und zugrunde
gehen lassen, unter den verschiedensten Vorwänden Gelehrten den Zutritt
verweigern und, im Besib von Revenuen, die in die Millionen gehen, die
bescheidenen Mittel zur Erhaltung der ihnen anvertrauten historischen
Schätze verweigern. Nicht nur die Tradition der Ossoliński, Czartoryski,
sondern auch ein Blick auf die Sorgfalt, mit der etwa die deutschen mediati-
sierten Häuser und die großen englischen Familien die dokumentarischen
Vermächtnisse ihrer Vorfahren behandeln, sollte der unhaltbaren Mißwirt-
schaft ein Ende bereiten. Oder aber der Staat greife energisch, ohne
falsche Scheu vor dem Privateigentum, ein. o Forst-Battaglia.
Jan Parandowski: Kazimierz Chiedowski. Pologne Littéraire
1928, Nr. 22.
Niemand war mehr berufen, die Silhouette des feinsinnigen Magnaten
zu zeichnen, der die Mußestunden nach emsiger politischer Tätigkeit dazu
verwendete, um wunderschöne Bücher über die vornehme Gesellschaft ver-
gangener Jahrhunderte und ihr Mazenatentum zu schreiben, als Paran-
dowski, der unvergleichliche Beseeler antiken Kulturguts. Wir vernehmen,
als seien wir in einem behaglichen Salon, auf das anmutigste von der Her-
kunft, vom Wesen und vom Werk Chiedowskis, des österreichischen Mi-
nisters und polnischen Schriftstellers, der doch vor allem ein verspäteter
Nachfahre jener italienischen Renaissance war, der er seine beiden besten
Bücher gewidmet hat. Etwas von dem farbenfrohen Prunk der Epoche
Julius II. und der Medici war in Chiedowskis Schilderungen, die, mit Klaczkos
Schriften vereint, als polnischer Beitrag zur Erkenntnis der glänzendsten
Epoche frei erstrahlender Persönlichkeit ihren Rang neben Burckhardt und
Gregorovius, Gobineau und Pater behaupten. Otto Forst-Battaglia.
Wlastinil Hofmann.
Marjan Morelowski: Wlastimil Hofmann. Tecza 1928, Nr. 18.
Hofmann, von weiterher deutscher, dann unmittelbar Cechischer Ab-
stammung, doch durch seine polnische Mutter dem Polentum geworben, ist
als Maler seit den Tagen der Sezession auch in Mittel- und Zentraleuropa
wohlbekannt. Sein 25jähriges Jubiläum war der Anlaß dieser Studie, die
ebenso wie ihr Gegenstand guter Durchschnitt ist. Otto Forst-Battaglia.
Stanistaw Wasylewski: Listy Heleny Modrzejewskiej. (Briefe
Helene Modrzejewskas.) Tecza 1928, Nr. 28.
Abdruck dreier Briefe der berühmten Tragödin, an den Lemberger
Kritiker Romanowicz und an józef Nikorowicz, den Vater des bekannten
Schriftstellers Ignacy Nikorowicz. Willkommene Ergänzung zu Franciszek
Siedieckis Monographie der Künstlerin. Otto Forst-Battaglia.
Artur Schroeder: Zofja Stryjefska. Tecza 1928, Nr. 18.
Die prächtigen Reproduktionen des Tanz-Zyklus der genialen Künst-
lerin, die durch ihre plötzliche Erkrankung ihrer Wirksamkeit, hoffentlich nur
für kurze Frist, entrückt wurde, geben eine ausreichende Vorstellung von
den Qualitäten dieser vom Geist der malerischen, stolzen, bunten polnischen
Vergangenheit erfüllten Frau. Ich glaube, man wird das Richtige treffen,
wenn man ihr gegenüber dem polnischen Folklore das zubilligt, was man
von Matejko für die polnische Geschichte anerkennt, daß sie in die Schöpfun-
gen ihrer Hand den Extrakt ihres Volkstums gebannt habe. Das verbindet
sich mit dem glücklichsten technischen Können. Welcher Rhythmus in den
sich im Tanz drehenden oder würdig zu den Klängen der Polonaise einher-
schreitenden Paaren. Schröder kargt nicht mit dem Lob. Er hätte noch
285
stärkere Akzente anschlagen können und ware noch nicht der Stryiefiska
gerecht geworden, die als Buchillustratorin kaum in Europa ihresgleichen
hat und meines Erachiens das stärkste, originellste Genie unter den pol-
nischen Malern des 20. Jahrhunderts ist. Otto Forst-Battaglia.
Taszycki, Witold: Jan Los. W czterdziestolecie pracy
naukowej. — Przegląd Współczesny. T. XVI, S. 22—38.
Taszycki zeichnet hier ein Bild der wissenschaftlichen Laufbahn seines
Lehrers, des für die Polonistik so bedeutenden Gelehrten jan Łoś. Er
Bug dabei seine bedeutenderen Werke und Schriften, indem er sie in
ihre Entstehungszeit mit ihren Erfordernissen und Schwierigkeiten hinein-
stellt. Eine bibliographische Liste aller Schriften Los's bis 1922 befindet sich
in den Sprawozdania Towarzystwa Naukowego we Lwowie. Rocznik Il,
1922, S. 47—49. E. Koschmieder.
Zdzisław Morawski
LeonPinifski: Zdzislaw Morawski. Ruch Literacki Bd. 3 (1928),
S. 103— 106.
Stanislaw Wedkiewicz: Zdzislaw Morawski jako historyk
N włoskiej. Przegląd Współczesny Bd.25 (1928), S. 492
is 498.
Zwei Nachrufe, die, einander ergänzend, die hohen Qualitäten des ver-
storbenen Historikers der Renaissance würdigen. In beiden wird Morawski
über den bekannteren Chiedowski erhoben, an den er durch seine Abkunft
aus halbaristokratischer Familie, seinen Hauptberuf als politischer Beamter
in k. k. Diensten und seine elegante Schreibweise erinnert. Morawski,
übrigens ein Bruder des verewigten großen Latinisten und Präsidenten der
Polnischen Akademie der Wissenschaften und ein Onkel des nur zu früh
verstummien Historikers, ein Verwandter des christlichen Philosophen und
eines anderen Historikers des 19. Jahrhunderts, ven: einer Familie an, in
der, wie bei den Koźmian, das literarische Talent erblich und der Drang zu
den ,,Lettres“ unbezwingbar ist. Seine Werke sind solide Denkmale gründ-
licher Fachbildung und Zeugnisse vortrefflicher stilistischer Begabung.
Unter ihnen kommt der erste Platz den Studien „Z Ravenny“ und „Z Odro-
dzenia włoskiego“, sowie „Epilogi krucjat XV wieku“, endlich der Mono-
graphic über den „Sacco di Roma“ zu. Unter den polnischen Schriftstellern
war wohl Klaczko, der Sohn des Wilnaer Ghettos, dem großpolnischen
Szlachcicen am nächsten verwandt. Otto Forst-Battaglia.
Stanislaw Wedkiewicz: Zaniedbana dziedzina humanistyki.
(Ein vernachlässigtes Gebiet der Geisteswissenschaften.) Przegląd
Współczesny Bd. 25 (1928), S. 283—307, 470—485, Bd. 26 (1928),
S. 276—320.
Nach den spanischen Reisebriefen Windakiewiczs ist Wedkiewiczs un-
gemein lebendiges Plaidoyer für eine intensive Beschäftigung mit den iberi-
schen Kulturen kein Vorstoß in unvorbereitetes Terrain. Der Krakauer
Romanist bietet eine fesselnde Uberschau des Standes der iberischen
Kulturkunde in Europa. Er beginnt mit der spanischen Literaturwissenschaft
im eigenen Lande, spricht hernach über spanisch-französische, spanisch-
italienische Wechselbeziehungen, und, nach kursorischem Verweilen bei
Skandinavien, Holland, England, über das Aufblühen der spanischen Studien
im deutschen Sprachgebiet (unter den markanten Reisebüchern fehlen
Emil Lucka, Kasimir Edschmid). Für diese Jb. ist am wichtigsten, was Wed-
lee über den Stand der polnischen Forschungen zur spanischen Ku
mitteilt.
284
NICH KK N Sy
Die Zeit des alten Polen wird vom Verfasser nur flüchtig beachtet. Für
die neuere Literaturgeschichte erhallen wir dagegen ein fast vollständiges
Bild. Unter den verzeichneten Büchern fehlt nur Freilich, Legion gen.
Bema. Den Einfluß der spanischen Literatur auf die neuere polnische möchte
Wedkiewicz doch nicht so gering anschlagen, als es Windakiewicz tat. Zu
ergänzen: Ligockis „O Don Kiszocie błękitnym“. Es folgt eine Zusammen-
stellung der geschichtlichen und literargeschichtlichen Arbeiten über spa-
nische Themen. Meine dabei zitierte Studie über Unamuno ist im „Czas“
vom 2. und 24. April, nicht im Sommer, erschienen. Den Beschluß bildet
ein Kapitel über Polen und das portugiesische Sprachgebiet. Der Ruf nach
Pflege der iberischen Kulturkunde wird in Polen sicher Gehör finden.
Otto Forst-Battaglia.
Polnische Anglistik der Gegenwart.
Roman Dyboski: Polska historja romantyzmu angielskiego.
(Eine polnische Geschichte der englischen Romantik) Przeglad
Współczesny Bd. 26 (1928), S. 140— 152.
Stanislaw Helsztyfiski: Polish Autors on English Matters.
Pologne Littéraire 1928, Nr. 21.
Wladislaw Tarnawski: Rezension von Andrzej Tretiaks
„Literatura angielska w okresie romaniycznym“. Ruch Literacki
Bd.3 (1928), S. 128— 180.
Nicht ohne Zusammenhang mit der politischen Entwicklung — die An-
näherung an England ist einer der Hauptpunkte im Programm des Mar-
schalls Pilsudski — ist seit einigen Jahren ein starkes Aufblühen der pol-
nischen Anglistik zu bemerken. Die Professoren Dyboski, Tretiak, Tar-
nawski, dann Stanislaw Helsziyfiski haben zahlreiche Bücher, Broschüren
und Artikel veröffentlicht, die durchwegs auf sehr hohem Niveau stehen.
Der englische Aufsa& von Helsziyfiski in der „Pologne Littéraire“ führt
außer den standard works auch eine Anzahl bedeutender Monographien an,
so „Shakespeare”-Bücher von Pinifiski und Dyboski, die älteren Schriften
von Windakiewicz und Szyjkowski über den Einfluß der englischen auf die
polnische Literatur. Dyboskis und Tarnawskis Besprechungen von Tretiaks
Geschichte der englischen Romantik sind reich an wertvollen Ergänzungen
und Anregungen, stimmen übrigens in der verdienten Anerkennung für das
schöne Buch des Warschauer Professors überein.
Otto Forst-Battaglia.
Das Ausland über Polen.
Juljan Krzyżanowski: Z polonikéw angielskiech. (Englische
Polonica.) — Przeglad Wspölczesny Bd. 26 (1928), S. 334— 340.
Roman Pollak: Polonica włoskie. (Italienische Polonica.) —
Ibid. Bd. 25 (1928), S. 316 f.
Stanislaw Wedkiewicz: Z motywów polskich w publicystyce
francuskiej. — Ibid. Bd. 25 (1928), S. 318—324; Bd. 26 (1928),
S. 341—352.
Die Randbemerkungen zu fremden Veröffentlichungen über Polen sind
sehr dankenswert, wenn sie von so kundiger Seite geschehen, wie im
„Przegląd Współczesny“. Krzyżanowski stellt am Beispiel eines englischen
Handbuchs von Magnus fest, wie wenig der gebildete Engländer von Polen
weiß — es drängt sich der Vergleich mit den sehr ähnlichen Verhältnissen
in Frankreich auf, wo Van Tieghem ganz in den Bahnen von Magnus wen-
delt. — Er verzeichnet hernach die polnischen Aufsäbe in der „Slavonic Re-
285
view“. Zur Ergänzung noch der Hinweis auf die sich mehrenden polnischen
Artikel in der berühmten Kunstzeitschrift „The Studio“. Pollak analysiert in
derselben Weise die „Rivista di letterature slave“ und lobt besonders die
Arbeit Mavers über Slowacki. .
Weit reichlicher sind freilich die, wie stets, von stupender Belesenheit
zeugenden Notizen Wedkiewiczs. Sie betreffen des Grafen Comminges
„Blerancourt“, dann wenig aufregende und mit eleganter Ironie abgefer-
tigte Romane von Dunois, Dekobra, St. Yves, P. Girard. Der Streit Ossen-
dowski-Montandon (was Wedkiewicz übersah, in den „Nouvelles Littéraires“
protokollarisch festgehalten), der Bohémien Zborowski, von dem Carco be-
richtet, Floquets „Vive la Pologne, Monsieur“ (Wedkiewicz eniging, was
darüber Wiadystaw Mickiewicz in seinen Denkwürdigkeiten schreibt: er
trägt es im Przegląd Współczesny 25, 508 nach), Abouts Konflikt mit Klaczko
und die angebliche polnische Herkunft Jules Vernes bilden den Gegenstand
weiterer Glossen. Paléologue, der französische Botschafter in Petersburg,
wird anläßlich seiner Wahl in die Akademie als Polenfeind und mittelmäßiger
Literat geschildert. Endlich bringt Wedkiewicz, als Ergänzung zu Janiks
»Geschichte der Polen in Sibirien“ Stellen aus Vigny und Amiel, die von
polnischen Verbannten handeln. Otto Forst-Battaglia.
JanParandowski.
Jözef Aleksander Gałuszka: Klejnot prozy polskiej. (Ein
Kleinod polnischer Prosa.) Tecza 1928, Nr. 7.
Enthusiastische Würdigung der großen formalen Vorzüge von Parandow-
skis Griechenlandbuch „Dwie wiosny“, die im weiteren Umfang der gesamten
Leistung des ausgezeichneten Hellenisten gilt. Otto Forst-Battaglia.
Edward Chwalewik: Zbiory polskie.
Kazimierz Kaczmarczyk: Rezension von Edward Chwale-
wiks „Zbiory polskie“. Kwartalnik Historyczny Bd. 42 (1928),
S. 87—100.
Ungemein wichtige und gewissenhafte Besprechung des in diesen Jb.
angezeigten Werkes (vgl. Jb. NF. 4, 85 ff.), die sich hauptsächlich mit den
polnischen Archiven beschäftigt. Otto Forst-Battaglia.
Stanistaw Brzozowski.
Józef Czapski: O Towarzystwo im. Stanislawa Brzozowskiego.
(über eine Brzozowski-Gesellschafi.) Wiadomości Literackie
1928, Nr. 28.
Aufforderung, eine Vereinigung von Freunden des verstorbenen Kritikers
zu bilden, in dem Czapski, wie manche andere, den lebten Vertreter einer
schöpferischen Kritik erblicken. Otto Forst-Battaglia.
Jerzy Kossowski.
Walerjan Charkiewicz: Na ostainim szafıcu. (Auf der le$-
fen Schanze.) Przeglad Powszechny Bd. 178 (1928), S. 306—318.
Tragikomische Beiträge zur Geschichte der von Rußland erzwungenen
Union in Litauen. Es handelt sich hauptsächlich um den Krieg, den die
Gattinnen der zwangsbekehrten Priester und Laien gegen die Russifikation
und gegen das Schisma führten. Ein wichtiges Kapitel in diesem Krieg bildet
der Kampf um den Bart. Die meist polnisch-adeliger Herkunft sich rühmen-
den Kleriker weigerten sich, äußerlich den verachteten Popen zu gleichen,
286
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1 5
bei diesem Widerstand von ihren besseren Hälften unterstüzt. Der Erz-
bischof Siemaszko sucht mit List und gelegentlich mit Gewalt die Wider-
spenstigen zu zähmen. Otto Forst-Battaglia.
Stanislaw Wasylewski: O wpływie mody na jezyk polski.
(Vom Einfluß der Mode auf die polnische Sprache.) Tecza 1928,
Nr. 1.
„Dahin sind die Trachien, sie kamen nicht nur aus der Mode, sondern
es verschwand im Meer der Zeit sogar die Spur ihrer Benennungen. Trob-
dem blieb im Sprachschab die ewige Erinnerung an sie wach, es blieb das
Wort, das suggestiv auf die Einbildungskraft der Massen wirkt.“ Zu dieser
auch aus anderen Sprachgebieten genugsam bekannten Tatsache bringt
Wasylewski einige treffende Illustrationsfakten aus Polen. In der geist-
reichen Untersuchung vermissen wir ein Wort über die Spuren nationaler
Wechselwirkung, die auf dem Umweg über Sprache und Mode sich, oft
ungeahnt, aus irgendeiner versteinerten Redewendung ergeben.
Otto Forst-Battaglia.
M. Kacprzak: O sianie zdrowia publicznego w Polsce. (Uber
den Stand der öffentlichen Gesundheit in Polen) Przeglad
Powszechny Bd. 179 (1928), S. 58—90.
Besagter Stand stellt sich als sehr betriiblich heraus. Nach den Epide-
mien, die im Gefolge des großen und des russisch-polnischen Krieges auf-
traten, ist Polen noch immer von Seuchen, wie dem Fleck- und Bauchtyphus,
der Ruhr geplagt, die eine Begleiterscheinung der allgemeinen Unreinlich-
keit sind. Die staatlichen Organe kämpfen aufopfernd und heroisch gegen
die Indolenz der meisten lokalen Behörden, gegen den cingewurzelten
Schmut der Kleinbürger, Bauern und Juden. Kacprzak macht mit seiner
Studie im jahre 1927 halt. Seither hat der gegenwärtige Innenminister mit
verdoppelter Kraft die Gesundung Polens in Angriff genommen. Während
in den ehemals deutschen Gebieten die sozialen Verhältnisse und die Kultur
auf einer so hohen Stufe stehen, daß die sanitäre Lage der Mitteleuropas
gleicht, steht im verschlampten Galizien und besonders in den halbasiati-
schen, unter der russischen Tradition lebenden Ostprovinzen der Regierung
ein harter Strauß bevor. Auch die venerischen Krankheiten, ein anderes
Kriegserbstuck, machen genug zu schaffen. Otto Forst-Battaglıa.
Kaschubische Literatur.
RajimundBergel: Kaszubska literatura gqwarowa. (Die kaschu-
bische Dialekiliteratur.) Tecza 1928, Nr. 28.
Nach spärlichen Bruchstücken um die Mitte des 19. Jahrhunderts beginnt
sich das kaschubische Schrifttum um die Mitte des 19. Jahrhunderts zu regen.
Florian Ceynowa (1818—1881) gibt eine volkskundliche Zeitschrift heraus,
Hieronym Derdowski (1852—1902) erringt zuerst als Dichter einen Namen.
Aleksander Majkowsk vereinigt unter den lebenden kaschubischen Schrift-
stellern beides, die publizistische und die dichterische Begabung. Budzirza
und Sedzicki sind an zweiter Stelle zu nennen. Als Hauptmotiv der kaschu-
bischen Poesie findet Bergel das patriotische des Gemeinschaftsempfindens
mit Polen: „Me Kaszube, jesz strzezeme Polsci morskich granic“ und „Nima
Kaszub bez Poloni, a bez Kaszub Polści“. Otto Forst-Battanlia.
Ilja Ehrenburg: „In Polen“. — Krasnaja Nov’, Febr./März 1928.
Der bekannte Schriftsteller Ehrenburg erzählt über seine Eindrücke in
Polen. Polen klagt über eine schwere Erbschaft, die des caristischen Ruß-
19 NF 6 287
lands. Diese Erbschaft hat Polen voll angetreten, aber nur im negativen
Sinne; es hat die Methoden des Kampfes mit politischen Feinden und Fremd-
stämmigen übernommen. Die russische Kultur ist aber vollkommen zerstört;
es existieren keine russischen Bibliotheken, keine russischen Schulen mehr;
die russische Sprache wird verfolgt. Nur in den deutschen Schulen in Lodz
wird die russische Sprache unterrichtet. Über Rußland weiß man in War-
schau weniger als in Berlin. Es ist unmöglich, in Warschau Zeitungen aus
Sovet-Rußland zu bekommen. Und doch ist der Einfluß Rußlands enorm.
Nach einer Umfrage der Zeitschrift „Wiadomości literackie“ in Krakau be-
steht das größte Interesse in Polen für die alte russische Literatur. Der
polnische Dichter Tuwim übersetzt das Igorlied.
Die Lodzer Fabrikanten aber erinnern sich mit Wehmut: „Ja, es waren
Zeiten. Da kam Mitrofanov oder Vlasov: gib alles her.« jezt kommt ein
Rumäne — und kauft ein paar Meter.“ Ehrenburg sieht einen inneren Zu-
sammenhang der beiden großen slavischen Völker. Der französische
Schrifisteller Luc Durtain behauptet, das andere Europa beginne irgendwo
neben Lodz. „Die Negerstämme können untereinander hadern,“ sagt Ehren-
burg, „es bleiben doch dieselben Neger.“ Der Chauvinismus der Polen ent-
setzt den russischen Schriftsteller. Der Russe, der Deutsche, wie scharf und
treffend bemängeln sie das Eigene! Den Polen entzückt alles Polnische.
Die Werke des englischen Schriftstellers Konrad werden in den Himmel
N weil er polnischer Abstammung war, obwohl er nie auch nur eine
eile polnisch geschrieben hat
Ein Heldenkultus lebt in der polnischen Gesellschaft, daher die fast
krankhafte Schwärmerei für Pilsudski.
Das Leben des polnischen Schriftstellers ist schwierig. 5000 verkaufte
Exemplare sind ein großes literarisches Ereignis. Die polnische Literatur
ist nur lokal, sie hat keine europäische Bedeutung. Und doch erwähnt
Ehrenburg auch interessante Talente, das eines Hetel, eines Kaden-
Bandrowsky, mit seinem schönen Buch: „Miasto matki mojej,“ die feine
Ironie eines Slonimski. Besondere Sympathie erweckt in Ehrenburg der
Dichter Tuwim, den er vom Stamme Tollers oder des Russen Pasternak
nennt. Aber trob der großen Reklame der „La Pologne Litteraire“ für die
polnische Literatur gibt es in Polen weder einen Gorkij, noch einen Thomas
Mann, noch einen Duhamel.
Ehrenburg besuchte auch Lodz. Die Ruhr, Lille, Charleroi, sämtliche
Fabrikstadte des Westens sind ihm Idyllen im Vergleiche mit Lodz. Hier
sieht man nur Hasten und Rennen. „Drei Waggons“, „Scheck New-York",
das sind die einzigen Unterhaltungen, die man in den Siraßen vernimmt.
Neben Palästen der Millionäre haust hier unglaubliches Elend, das ans
XV. Jahrh. erinnert. 50% der arbeitenden jüdischen Bevölkerung sind tuber-
kulos. Und kein Wunder bei einem Verdienst von 20 zi. die Woche und
einer Ernährung ausschließlich durch Heringel Lodz kann mit Europa nur
durch Billigkeit seiner Waren konkurrieren. Diese Billigkeit wird aber nur
durch schlechte Arbeitslöhne erreicht.
Ehrenburg besuchte auch Krakau, und es versebte ihn in Entzücken; nicht
die kleine österreichische Stadi, sondern der Wawel. Wenn man am Wawel
steht, versteht man die vergangene historische Größe Polens; nur eine Groß-
macht konnte so etwas erbauen. Und wenn man den Markiplag sieht, ver-
steht man, daß Polen doch zur westeuropaischen Kultur gehört: dieses
Latein, das Polen verstand, schuf den großen Unterschied zwischen ihm und
Rußland, zwischen Wawel und Kreml. Tragisch findet Ehrenburg die Lage
der Juden. Sie haben auf dem Papier sämtliche Bürgerrechte. Die Wirk-
lichkeit kennzeichnet ein Anschlag an einem Kloster: „Eintritt Juden und
Hunden verboten.“
Ehrenburg interessierte sich für den Chassidismus. Im XVII. Jahrh. er-
scholl aus den dumpfen Ghettomauern zwischen Weinen und Klagen auf
einmal der Ruf: „Es lebe das Leben.“ Das war der in Chelm entstandene
Chassidismus, eine Bewegung wie die der Franziskaner im Katholizismus,
wie das ,,staréestvo" bei den Orthodoxen: die tote Erfüllung des Geseges
288
sei unwichtig, wichtiger als alle Religionssitten sei die Reinheit des Gefuhls.
Man kann zu Gott beten, nicht in der Synagoge, sondern im Walde. Man
braucht nicht zu trauern und zu ‘ok n. Man muß sich freuen, denn in der
Freude nähert sich der Mensch Gott. Diese neue Bewegung gewann alle
Träumer, alle Dichter, auch alle Verrückten. Die Chassiden wollien das tote
Buch durch die Erfahrung erseben. Nicht die Buchstaben sollten Führer sein,
sondern Menschen, heilige Menschen, die „Zadiks“. Aber der Chassidismus
schuf eine Erbschaftsfolge; der Sohn des Zadik wurde auch als Zadik ver-
ehrt. Das war gegen die Gesebe der Natur. E. erwähnt bedeutende unter
diesen Zadiks; in den 60er bis 70er Jahren wohnte in Kozk ein Zadik, dessen
Lehre an die Philosophie Dostoevskijs erinnert. Er segnete vor seinem
Tode auch die Sünde.
E. erwähnt auch die Chassiden aus dem kleinen Städtchen Brazlau,
deren Zadik ein wahrer Poet und Philosoph war und keinen Nachfolger
hatte. Dieser Zadik war ein Prophet der jüdischen Armen. Den Gottes-
dienst dieser Brazlauer Chassiden besuchte E. in Warschau. Ihn über-
raschte das Singen und Tanzen der Gläubigen, das ihn an die russischen
Sektierer erinnerte.
_ Einen anderen Zadik der Armut besuchte E. persönlich in Warschau und
bringt nun viele seiner schönen, tiefen Aussprüche: „Die Armut ist der We
zu Gott.” „Gott hat viele Gewänder, doch umhüllt Er sich nur mit dem Gebe
des Armen.“ „Was ist Paradies und Hölle? Nach dem Tode erlebt der
Mensch sein ganzes Leben. Die Freude über die von ihm geschenkte
Liebe — das ist das „Paradies“. Und die Hölle? Die Hölle ist die Reue.”
Ein Zadik anderer Kreise ist der ,Gerer“ Zadik, der im Städichen „Góra
Kalvarja“ residiert. Die Verehrer dieses Zadik rekrutieren sich aus wohl-
habenden jüdischen Kreisen. Er ist selbst Millionär, besibt in Lodz eine
eigene Bank. Er verfügt bei den Wahlen über 50000 Stimmen. Der Wert
seiner moralischen Persönlichkeit ist gering, er gilt allgemein für käuflich.
E. besuchte das Städichen am Freitag, an einem Tage, wo die Verehrer den
Rabbi aufsuchten. Eine große Zahl reicher jüdischer Kaufleute war aus
allen Ecken Polens herbeigekommen. E. wohnte der Zeremonie der
iraim“ bei, einer Zeremonie, bei der die Speisereste des Rabbi an die
Gläubigen verteilt wurden. Solche Speisereste, denen man eine wunder-
tätige Kraft zuschreibt, werden mit schwerem Gelde bezahlt.
E. kam auch mit der jungen jüdischen Intelligenz zusammen und lernte
die Vertreter der jüdischen Literatur kennen. Er findet, daß diese Literatur
noch zu jung sei und die Kulturstufe des jüdischen Volkes noch nicht erreicht
habe. „Das jüdische Volk ist älter, höher, reicher und vielseitiger als die
jüdische Literatur,” sagt E. Dadurch erklärt er das Interesse der jungen
für Überseßungen. Besonders gilt das Interesse des Judentums der
russischen Literatur; die polnische berührt sie kaum. Die Juden suchen eine
Antwort auf allgemein menschliche Fragen, die lokale, eng-nationale pol-
nische Literatur kann sie nicht befriedigen; die russische Literatur ist aber
eine Antwort auf alle menschlichen Probleme.
Was ist der Gesamteindruck E.s? Er nennt Polen das Land eines vom
Größenwahn erfaßten Volkes, hofft aber, daß nach der Genesung von dieser
Krankheit Polen andere Wege betreten werde. N. Jaffe.
NEKROLOGE
lv. D. SiSmanov t.
Am 22. Juni 1928 starb während des internationalen Kongresses des
Pen Klubs in Oslo, fern von der Heimat, der bulgarische Literarhistoriker
Iv. D. SiSmanov, Professor für vergleichende Literaturgeschichte an der
Universität in Sofia. SiSmanov wurde geboren am 22. Juni 1862 in SviStov.
Als er die höhere Ausbildung in Osterreich und Deutschland hinter sich
hatte, bereiste er studienhalber Frankreich, Italien und Rußland und kehrte
mit einer wirklich europäischen Bildung und einem an ro geistigen
Horizont in die Heimat zurück. Hier war er zunächs Gymnasiallehrer
tätig, bis er als Vorstand (naéalnik) in der Sektion. für Mittelschulwesen
und als Hauptinspektor (glaven inspektor) in die Schulverwaltung ins
Unterrichtsministerium berufen wurde, in welcher Funktion er sich für den
Ausbau des höheren Bildungswesens in Bulgarien große Verdienste erwarb.
Als Unterrichtsminister (1905-7) sorgte er dafür, daß es zur Errichtung je
einer Lehrkanzel für germanische und romanische Philologie in Sofia kam.
Als es 1925 auf der niversität in Sofia zur Vereinigung der germanischen
und romanischen Philologie in eine eigene Abteilung „Nova filologije i
literatura” kam, wurde er Chef dieser Abteilung. Als ordentliches itglied
der bulgarischen Akademie der Wissenschaften war er Vorsitzender der
historisch-philol Ra Abteilung. Ferner war er Präsident des ugs
rischen Pen Klu 1918-19 war er bevolimachtigter Minister in der
krame, hernach bis 1924 Professor in Freiburg im Breisgau.
Was Sišmanovs na ee literarische Tätigkeit und Bedeutung
betrifft, so ist zu sagen, daß er der Erforschung der neueren bulgarischen
Kultur-, Literatur- aus 5 und ihrer Zusammenhänge mit dem
übrigen 5 en Kulturleben bahnbrechend die Wege gewiesen hal.
Sein dsr heat itsgebiet war die neuere bulgarische Literaturgeschichte und
Folklorishk, ferner allgemeine Literatur- und Geistesgeschichte. In dieser
Hinsicht beschäftigte er sich besonders eingehend mit der italienischen
Renaissance, mit dem französischen Klassizismus und dem germanischen
humanistischen Idealismus und hielt auch allgemeinkulturgeschichiliche Vor-
lesungen über Dante, Shakespeare und Voltaire. Wie gut er die west-
europäische, vor allem deutsche wissenschaftliche Literatur kannte, beweist
auch sein vor einigen Monaten erschienener Aufsatz in der Bigarska Istori-
česka Biblioteka, God. I, T. I, S.145—94 (Sofia 1928), in dem SiSmanov
synthetisch die westeuropäische und die bulgarische Wiedergeburts-
bewegung in den wesentlichen Zügen vergleicht und zeichnet. — In seinen
Arbeiten zur neueren bulgarischen Kultur- und Geistesgeschichte untersucht
Siämanov mit seiner psychosozialen Methode den Ursprung und den Verlauf
der Ideen und Tendenzen in der reg ze Literatur von Paisije bis
zur Gegenwart. Er legte die organische Entwicklung des neueren Bildungs-
wesens, der politischen und Kulturideale, in einer Periode von 100 Jahren
bei dem Übergang zweier großen Epochen, der älteren Epoche eines Aprilov,
Fotinov, Neofit Rilski, Neofit Bozveli, Mamarcov und Beron einerseits, der
jüngeren Epoche eines 5 Slaveikov, 1 Makimpolski, Krsfovič
Botjov anderseits, dar. Er zeigte den Gang und die Mittel der legalen und
der revolutionären Kämpfe um die geistige, kirchliche und politische Frei-
290
heit der Bulgaren im 19. Jahrhundert auf und stellt die erreichten Resultate
als objektiv und subjektiv notwendige Folgen der allgemeinen historischen
Bedi gen, Temperamente und Ideologien hin. Seine Hauptleistung war
die tige Erforschung der bulgarischen Wiedergeburtsepoche, des
vazraidane.
In seinem zweiten este boners aan in der Arbeit an der Erforschung
der reichen bulgarischen Volksliteratur, der Volkslieder, Sagen, Märchen
vnd Legenden sowie des allgemeinen volkskundlichen Tatsachenmaterials,
war er Anhänger der vergleichenden Methode. Durch eine Reihe folklori-
stischer und az Studien hat er als erster Licht in das
Chaos der Mythen, der Überlieferung, des Volksglaubens und der Bilder
der Volksphantasie gebracht. Schon eine seiner ersten Arbeiten auf diesem
Gebiete, die in deutscher Sprache erschienene Studie: „Der Lenorenstoff
in der bulgarischen Volkspoesie“, Straßburg 1894 (SA aus den Indogerma-
nischen Forschungen IV), in der auf breiter, vergleichender Basis der Ur-
sprung, die Grundidee des Lenorenstoffes, sowie das genealogische Ver-
halinis und die Wanderung desselben untersucht werden, war diesem
Problem gewidmet und zeigt die weite Beherrschung des gesamten Ver-
gen erials. SiSmanov hat den Ursprung, die Genesis und die reale
deutung einer Reihe von Motiven nicht bloß der bulgarischen, sondern
auch der gesamten Balkanfolklore klargelegt. Er war der eigentlidie
Gründer des volkskundlichen wissenschaftlichen Sammelor des Sbornik
za Narodni Umotvorenija, jahrelanger Redakteur dieser anfangs vom Unter-
richtsministerium, später von der bulgarischen Akademie herausgegebenen
Publikationsreihe und erzog in dieser Tätigkeit eine ganze Reihe page
bulgarischer volkskundlicher Forscher. — Seine wissenschaftlichen Arbeiten
erschienen zum Hauptteil in dem oberwähnten volkskundlichen Sbornik
Sb. N. U.), dann in Sbornik der Akademie (Sb.B.Ak.N.), ferner in ver-
schiedenen Zeitschriften, vor allem in Bigarski Prégled, dann in der heute
noch erscheinenden, sehr ut redigierten, außerordentlich materialreichen
Kulturzeitschrift Blgarska Mis], dann im Učilišten Prégled, ferner arbeitete
SiSmanov auch in deutschen Organen mit, so in dem seinerzeitigen „Bulga-
rischen Echo“, ferner im Archiv für slavische Philologie.
‚In der ihm anläßlich des jährigen Jubiläums seiner wissenschaftlichen
Tätigkeit 1920 gewidmeten Festschrift werden 214 wissenschaftliche Arbeiten
aufgezählt. Hier_seien nur seine wichtigsten größeren Arbeiten erwähnt:
I. Folklore und Ethnographie: 1. Znacenieto i zadalata na naSata eino-
grafija. Sb.N.U. 1, 1—65; 2. Prinos käm it he narodna erie ier
Sb. N. U. IX, S. 445—648; 3. Der Lenorenstoff etc. (siehe oben); 4. Glick
und Ende einer berühmten literarischen Mystifikation: Veda Slovena.
A. f. sl. Ph. XXV, S. 580-611; 5. Kritičen prégled na väprosa za prabligarité
ot ezikovo glediScé i etimologiité na imeto „bigarin“. Sb. N. Ul. XVII, S. 505
bis 754. — Il. Geschichte der Wiedergeburt: 6. Paisij i negovata epocha.
Sp.B.A.N. VIII, S. 1—18; 7. Studii iz oblast’ta na bigarskoto vdzrazdane.
Sb. B. A. N. VI, S. 1—221, ferner XXI. — Dazu kommen eine ganze Reihe
kleinerer Studien, ferner Aufsätze über bulgarische Kultur- und Erziehungs-
fragen, Rezensionen und Kritiken, die allein Bände füllen.
SiSmanovs Bedeutung liegt nicht nur in seiner wissenschaftlichen und
akademischen Lehrtätigkeit, sondern auch in seiner Tätigkeit im öffentlichen
Leben. SiSmanov war kein Stubengelehrter, sondern ein Mann, der ständig
aktiv Anteil nahm am Öffentlichen, vor allem am kulturellen Leben seiner
Zeit und seines Volkes. Als ihm vor 25 Jahren das Amt eines Unterrichts-
ministers anvertraut wurde, zeigte er sich als Vertreter einer großzügigen
Kulturpolitik und einer von jeder parteimäßigen Engherzigkeit freien poli-
tischen Toleranz, als Vertreter des Humanitats-, Toleranz~ und Fortschritts-
gedankens, damit als Gegner der alten aus der Türkenherrschaft und dem
geistigen und politischen Kampf gegen die geistige Knechtschaft unter den
Phanarioten stammenden brutalen Methoden; als Vertreter eines gesunden,
aus der seelischen Verbundenheit mit der heimatlichen Scholle erwach-
senden und die Tradition der patriarchalischen Entwicklungsepoche der
weiteren Volksschichten achtenden Nationalismus, als „fanatischer Anhänger
291
des bulgarischen nationalen Genius“ wie er selbst gelegentlich sagte (vgl.
Bigarska Mis! Ill, S. 601). Er war durchdrungen von dem Glauben an die
kulturellen Fähigkeiten der Bulgaren und an ihre Mission in der Geschichte
der Menschheit. Aus diesem uben heraus unterstützte er in jeder Weise
alle die, welche an dem Fortschritt der nationalen Kultur tätig waren, schickte
junge abte Lehrer, Schriftsteller, Künstler zur Spezialisierung und
weiieren Ausbildung ins Ausland. Bei aller Anerkennung der Bedeutung
955 litischen Selbständigkeit war er sich doch bewußt, die Weckung
ermehrung der intellektuellen Kräfte eines Volkes von ebenso wesent-
licher Bedeutung für seinen Weiterbestand waren: Er war der Griinder
einer Reihe bulgarischer Kulturinstitutionen und arbeitete in den lebten
40 Jahren unermüdlich daran, die Bulgaren zu einem Sleichberedikigien Glied
der europäischen Kulturfamilie zu erziehen. — Bei alledem war Siämanov
als geistige Persönlichkeit kein nationaler Chauvinist, sondern ein be-
geisterter eee der kosmopolitischen Ideen und der neuen paneuro-
ischen Bewegu Beim Paneuropäischen Kongreß in Wien vor einigen
en vertrat er garien. Wie Herder war SiSmanov der Anschauung.
es Volk einen Organismus mit eigener Physiognomie und mit dem
Rechte auf eigene Existenz und auf Weiterentwicklung seiner e
Charakterzüge darstelle. Er trat für die Aufnahme westeuropäischer Kul-
turelemente ein und sein Ideal war eine Synthese der b rischen mit den
westeuropaischen Kulturelementen. Ebenso wie der große Dichter Pento
ouie Eur vertrat auch er den Standpunkt: Wir müssen gute Bulgaren und
uropacr werden. ). Mati
Vjekoslav Kiaić.
Am 1. Juli 1928 starb in Agram eb) im 79. Jahre seines Lebens der
Nestor der kroatischen Geschichisfor ung Vjekoslav Klaić. Klaić stammt
aus einer slavonischen Lehrerfamilie, geboren 28. 7. 1849 in Garčin bei
Slavonisch-Brod. Die ersten drei Klassen Gymnasium maie q in Wa-
rasdin, die nächsten drei in Agram, wo er Jagić und den P
A. Weber zu Professoren hatte. Mit 14 Jahren frat er in das A
Klerikat ein, wo er vier Jahre (1863—67) verblieb und die 7. und 8.
Gymnasium und die ersten zwei Jahrgänge Theologie machte. In diesa
Zeit las er sich in die kroatische belletristische Literatur ein, daneben las er
am liebsten historische Werke, vor allem Abhandlungen von Racki und
ukuljeviec. Im 2. Jahrgang trat er aus der Theologie aus, um sich dem
Lehrberuf zu widmen. Nachdem er zwei Jahre (1867—69) als Supplent am
Warasdiner Gymnasium tätig gewesen war, wurde er 1869 von
kroatischen Landesregierung nach Wien geschickt, um dort Geschichte und
Geographie an der Wiener Universität zu hören und die Lehramispriifung
aus diesen Fächern abzulegen. In Wien studierte er bei Aschbach, Jäger,
Lorenz und Sickel. Bei Aschbach lernte er die Methode kritischer Unter-
suchung historischer Denkmäler, bei Sickel Paläographie, Chronologie und
historische Diplomatik, bei Jäger österreichische Geschichte. N Ablegung
der Professursprüfung in Wien (1873) wurde er zum Professor am Agramer
Gymnasium ernannt. Als 1878 der Professor für kroatische Geschichte an
der Agramer Universität Matija Mesić starb, wurde Klaié berufen, der
1879—82 als Supplent für dieses Fach fungierte. Nach Ernennung des älteren
Smičiklas zum ordentlichen Professor für kroatische Geschichte mußte
Klaié wieder in die Mittelschule zurückkehren. Doch zwei Jahre später
(1884) wurde er wieder und zwar als n für „ der
Südslaven an die Universität berufen. Als die
kroatischen Kultuschefs Kršnjavi eine zweite en für allgemeine oe
schichte errichtet worden war, wurde Klaić 1893 zum ordentlichen 1
für allgemeine Geschichte ernannt. In dieser Stellung war er 29 jahre, bis
zu seiner Pensionierung im Jahre 1922 tätig. Während Nodilo, der die erste
Lehrkanzel für allgemeine Geschichte innehatte, alte und mittelalterliche
292
Geschichte vortrug, trug Klaić neuere vor. Nach seiner Ernennung zum
ordentlichen Professor an der Universitat hatte Klaić endlich die Möglich-
keit, sich gonz der Erforschung der kroatischen Gebiete zu widmen. Die
jugoslavische Akademie ernannte ihn 1893 zum korrespondierenden, 1896
zu ihrem wirklichen Mitglied. 1922 wurde ihm von der Prager &echischen
Universität das Ehrendoktorat verliehen.
Sein wissenschaftliches Arbeitsgebiet umfaßte die ganze kroatische Ge-
schichte, und zwar politische, Kultur-, Sozial- und Rechtsgeschichte, ferner
kroatische und jugoslavische Geographie. Methodisch gehört Klaić der
positivistisch-kritischen Richtung an, und zwar war er ein Vertreter der
enetischen Schule. Seine literarische Tätigkeit begann Klaić als Hörer
er Wiener Universitat mit Aufsäßen zur slavischen Geschichte (über den
Gott Svetovit und über König Samo, Vijenac 1870) und von diesem Jahre
an war er bis zu Ende seines Lebens, also 58 Jahre, unermüdlich literarisch
tätig. Da es an einer Bibliographie der kroatischen Geschichtswissenschaft
fehlt und ein Großteil der Zeitschriftenaufsäße von Klaić auch heute noch
für den Historiker Wert besiben, seien im Folgenden auch seine in Zeit-
schriften verstreuten Aufsäße aufgezählt: Zunächst veröffentlichte Klaić
mehrere kleinere Studien zur älteren kroatischen Geschichte im Vijenac
1871—74: „Oporuka 0 Dr2islavica“, „Dmitar Svinimir, kralj
hrvatski", „Petar Kresimir IV. Veliki“ (alle drei 1874); „Smrt kralja Svini-
mira“, „Seoba Hrvata“, „Hrvatska Straža u Spaniji“ (1872); „Deter Svačić,
pösljednji kralj hrvatski“, „Pavao Šubić i sin mu Mladen“ (1873), „Matija
Gubec“ (1874). In dieser Zeit war Klaić auch belletristisch tätig und ver-
Offentlichte im Vijenac 1873—74, später auch in der „Hrvatska Lipa”
Gedichte und Novellen. Im Jahre 1875 übernahm Klaić die Redaktion des
belletristischen Organs „Hrvatska Lipa“, in dem er neben literarhistorischen
Skizzen (über die Technik in dem Epos Smrt Smail age Cengiéa, über den
Vers der kroatischen Volkslieder) eine historische Studie: „Tomislav“
brachte. In den folgenden Jahren kehrte Klaić wieder zum Vijenac zurück
und wir finden 1876—79 folgende historische und geographische Studien von
ihm: „Grobničko polje“, „Potres Dubrovnika“, ,Otok Brač“ (1876); „Simeon
Veliki, car bugarski“, „Petar Veliki“, „Jaice u Bosni“ (1877). im gleichen
r gab die Matica Hrvatska sein geographisches Werk „Prirodni zem-
jopis Hrvatske” heraus, im folgenden Jahre seine große Geographie Bos-
niens: „Zemljopis Bosne“. Im Vijenac 1878: „Tri erte iz hrvatske povijesti
XII. stoljeća“, ferner geographische Aufsätze: „Nehaj grad u Arbaniji.‘,
„Bitolj“, „Maglaj“, „Banjaluka“, „Travnik“, „Ključ“, „Trebinje“, die Auszug
aus seinem obgenannten geographischen Werk über Bosnien darstellen. im
Vijenac 1879: „Stjepan Kotromanić“, ,Podatci za povijest grada Osijeka“.
Daneben schrieb Klaić in den 70er Jahren und später in den 80er Jahren
noch, mehrere historisch-geographische Schulbücher. Nach langer Vor-
bereitung erschien 1880-85, herausgegeben von der „Hieronymus-Oesell-
schaft“ (Društvo sv. Jeronima) Klaić’ historisch-geographische Beschreibun
der kroatischen Länder „Opis zemalja, ukojih stanuju Hrvati
in 3 Bänden. Der erste beschreibt Kroatien-Slavonien und die Militär-
grenze, der zweite Band Dalmatien, der dritte die kroatischen Ansiedlungen
ın Ungarn, Österreich, Mähren und Süditalien. Das Werk wurde mit großer
Freude aufgenommen und trug viel zur intensiveren Kenntnis der einzelnen
kroatischen Gebiete untereinander bei. Nach eingehender Erforschung der
een zur bosnischen Geschichte brachte Klaić 1882 die erste kritische
schichte Bosniens heraus „Povijest Bosne“, die auch ins Deutsche
Ungarische übersetzt wurde und erst in neuester Zeit durch die Arbeiten
Prelogs und VI. Corovié teilweise überholt wurde. Von politischer Be-
deutung ward die Abhandlung „Slavonija od 10. do 13. stoljeća“ (Vijenge
1882), in der gegen die madjarısche These nachgewiesen wurde, dak Slavo-
nien schon vom 10.—13. Jahrhundert ein kroatisches Land war. Die Abhand-
aoe rae auch von Bojničić ins Deutsche übertragen. 1883—90 war Klaić
Redakteur des in jener Zeit führenden kroatischen Kulturorgans Vijenac.
Hier brachte er neben ständigen Notizen über das kroatische wissenschaft-
liche, künstlerische und literarische Leben auch eine Reihe weiterer Stu-
dien: „General Matija Rukavina u Trogiru“, „Pulj“ » „Rihard Wagner” (1883),
„Cetvrii srpanj 1848", „lme Srb“, ,,Blaino jezero“, „Hrvatska i srpska knji-
ževnost g. 1883“, „Pred Novim Dvorom“, „Novela i roman u Hrvata” (1885);
sararan, nameng braće, Sto su łobož Hrvate dovela na jug“, „Glazba u
r
1886 veröffentlichte Klaić eine Karte Kroatiens, Slavoniens, Dalmatiens
Bosniens und der Herzegovina, im gleichen jahr gab die Hieronymus-
Gesellschaft seine „Pripovijestiiz hrvatske povijesti” (später
durch zwei weitere Bändchen fortgesebt) eine populäre Darstellung der
kroatischen Geschichte für weitere Volkskreise. Erwähnenswert sind auch
die zahlreichen Biographien von Zeitgenossen (Franjo Markovié, Jos. Eug.
Tomić, Janko Drašković u. a.), die Klaić als Redakteur des Vijenac veröffent-
lichte. Von den Aufsätzen im Vijenac sind noch zu nennen: „Hrvatski knezovi
u 13. stoljeću“, „Uspomene na Nikolu Tordinca” (1888); „Kako su Turci osvo-
jili Požegu“ ‚„Borba za hrvatski pravopis“, „Slava ı na Gosposvetskom polju”
„Kosovo“, „Život za cara“, „Babinska republika“, „Priča o Čehu, Lehu i
Mehu“ (1889); „ime Hrvat u historiji slavenskih naroda“, „Razboj na Krbav-
skom polju“, „ime Dubrovink“ (1890); ,,Crtice o Vrbovskom“, „Ivan Crnoje-
vić, posljednji gospodar Zete“, „Velika i Bijela Hrvatska“ (1891); „Kako je
postala pjesma: Jos Hrvatska ni) propala“ (1892), „Hrvati i Srbi“ (1893);
„Ne3to o krsnom imenu“ (1895), „Ban Mladen II Subié", „Ban Pavao I Šubić“
(1897), daneben im gleichen Jahre kleinere Skizzen und Rezensionen. 1897
gab die Matica Hrvatska Klaić’ Buch „Bribirski knezovi od ple-
mena Subideva“ heraus, in der uns Klaić die Geschichte der Familie
Subié bis 1347 (in welchem Jahre die Familie Subié zu Fiirsten Zrinski wurde)
gibt. Die Geschichte der ebenso bedeutenden kroatischen Adelsfamilie
Frankopan bis zum Jahre 1480 gab Klaié in dem Werke ,Krékiknezovi
Frankopani“, herausgegeben 1901 von der Matica Hrvatska. Leider
kam Klaić nicht mehr dazu, die beiden Monographien fortzusetzen bzw. zu
vollenden. Einen Teil der im Vijenac erschienenen historischen Skizzen gab
Klaić gesammelt in dem Buch „Slike iz slavenske povijesti” (1905
Matica Hrvatska) heraus. Eine Sammlung der in verschiedenen Tages-
organen erschienenen historisch-patriotischen Aufsäße übergab Klaić kurz
vor dem Tode der Matica Hrvatska, die sie demnächst unter dem Titel
„Crtice iz hrvatske povijesti“ herausgeben wird. Die ebenfalls
von der Matica 1914 herausgegebene Monographie „Zivot i djela
Pavia Rittera-Vitezoriéa“ gehört heute noch zu den besten
kroatischen literar- und kulturhistorischen Arbeiten über die zweite Halfte
des 17. und erste Hälfte des 18. Jahrhunderts. Als der vor kurzem ver-
storbene Ivan Bojničić, zuletzt Direktor des kroatisch-slavonischen Landes-
archivs (jest Staatsarchivs] in Agram“ 1900 die historische Zeitschrift
„Viesnik kr. hrvatsko-slavensko-dalmatinskoga ze-
maljskog arkiva“ herauszugeben begann, gewann er in Klaié einen
eifrigen Mitarbeiter. In diesem Organ brachte Klaié folgende Abhandlungen:
„Porietlo banske časti“, „Hrvatski bani za narodne dinastije“, „Hrvatski
bani za Arpadovića“ (1), dazu mehrere Notizen: ,,Crtice o Vukovskoj župa-
niji i o Djakovu u srednjem vijeku“, „Admirali ratne mornarice hrvatske
g. 1358—1413“, „Povelja kralja Stjepana Dabiše, izdana Hrvoju Vukčiću
g. 1392“ (D; „O neupotrebljenom dosad prilogu za povijest hrvatsku na
početku XII stoljeća“; „Tri Sekelja, rodjaci Ivana Hunjada“, „Dubrovačka
vlastela Žunjevići u Senju i Vinodolu g. 1477—1502“, „Dva priloga za povijest
cisterčanskoga samosłana u Topuskom“ » „Pismo ugarskoga kralja Ladi-
slava I opatu montekasinskomu Oderiziju“ (III); „Gradja za povjesnicu zagre-
bačkih biskupa od g. 1433 do g. 1466“ (IV), „Pismo ninskoga biskupa Jurja
Divnića papi Aleksandru VI, pisano u Lici 27. rujna 1493“ (V); „Pad Obrovca,
Udbine i Jajca“ (VIII, „Popis ratne daće u Slavoniji g. 1543", „Matija Kirinić
(1746—1805) i njegov sinovac Valentin Kirinié (1785—1840), „Kandidacija
* Ober Bojničić’ Leben und Werke vgl. Vjesnik Kr. Državnog Arkiva u
Zagrebu, II (1926), S. 1 ff.
294
hrvatskom saboru za viadanja kuće Habsburg“, „Osnutak mana-
re epoglave i povijest njegova u XV. stoljeću“, „Povelja, izdana u
Varaždinu 15. listopada od kneza i bana Ulrika Celjskoga za samostan
Pavlina u Lepoglavi“, „isprava od 10. junija 1370, u kojoj se spominje sloboda
dvanaest plemena hrvatskih“ ‚ „Darovnica Bernardina Frankopana za Mar-
tina Osireheriéa od g. 1481“ (IX); „Tužba Franja Taha protiv kmetova su
jedgrada i Donje Stu dice“ (XD; ,Savremeni opis 5 pot ara od
g. 1706“, „Zanimiva isprava od g. 1605“ (XII. Für die Geschichte des kroa-
tischen Staatsrechtes wichtig ist die Abhandlung „Regnum Croatiae et Dal-
matiae“ (ibid. XID; „Prilozi za voces Bartola Oeorgijevica, pisca o Tur-
cima u XVI. stoljeću (XIID; „Pavao Zondinus i osnutak ugarsko- ah
kolegija u Bologni g. 1553 do g. 1558", „Nekoliko priloga za povijest hrvat
pragmaticke sankcije od g. 1712“, ,Smrt Gregorija Tepelica i njegovih dru-
gova“ (XIV); „Prilog za povijest Poljica u XV. stoljeća“, „Dva priloga za
povijest Isusovaca u Zagrebu“ g
n dem „Vjesnik Kr. Državnog Arkiva (1925—28, I-IM ver-
öffentlicht Klaié eine neue Monographie zur Geschichte der kroatischen
Adelsgeschiechter „Hrvatsko peme Kreščić ili Kri8¢ié“ (1), ferner 2 Studien
zur neueren kroatischen Geschichte „Borba za hrvatske prekosavske kra-
jeve i njihova reinkorporacija g. 1814—22 (li), ferner ein auf die Reinkorpo-
ration bezügliches Gedicht. Im Ill. und bisher letzten Band des Vjesnik
brachte Klaié einen weiteren Beitrag zur Geschichte des kroatischen Staats-
rechtes „Prilozi za historiju državnoga prava hrvatskoga“.
Im Rad der Jugoslavischen Akademie erschien in der knj. 130 die kultur-
geschichtlich heute noch grundlegende Studie „Hrvatska plemena ad
12. do 16. stoljeća. Im Rad 134: „Rodoslovlje knezova Krbavskih od
plemena Gusić“; Rad 136: „O hercegu Andriji“; Rad 142: Hrvatski hercezi
i bani za Karla Roberta i Ljudevita 110. 1301—82); Rad 157 die agrar- und
sozialgeschichtlich wichtige Abhandlung: „Marturina, slavonska daća u
srednjem vijeku“; Rad 199 eine weitere genealogische Studie: „Plemići
Svetacki ili Nobiles de Zempche“; Rad 206 die staatsrechilich wichtige Ab-
handlung: 5 pragmaticka sankcija“; Rad 211 eine umfangreiche Ge-
aa Kroat iens in der Zeit 1617—22: „Banovanie Nikole Frankopana
a“.
Weitere Abhandlungen Klaić’ finden wir im „Vjesnik ars
ArheoloSkoga Društva“: „Croatia superior et inferior“ „Rodo-
slovlie knezova Nelipića od plemena Svačić“ (D; „Ime i porijeklo Franko-
pana”, „O knezu Novaku g. 1346" (IV); „Rimski zid od Rijeke de Prezida“
(V); „Gradja za topografiju ličko-krbavske županije u srednjem vijeku“ (VI,
VID; »indagines i Portae u Hrvatskoj i Slavoniji“, „Castrum antiquum Paga-
norum kod Ka3ine u gori zagrebačkoj“ (VID, „O krunisanju ugarskih Arpa-
dovića za kraljeve Dalmacije i Hrvatske g. -1091 —1207“, ko kra-
lievstvo u 15. stoljeću i u prvoj četvrłi 16. stoljeća“ Wim, „Topografske
silnice“ (IX), „Zanimljiv peat hrvatskih banova ‚Jurja Draškovića i Franje
Frankopana“, „Krapinski gradovi i predaje o njima“ (X), „Novi koledar u
Hrvatskoj i Slavoniji“, „Prilozi za povijest grada Zeline“, „Zaključci hrvatskih
sabora i njihova sankcija za prva tri Habsburgovca“ (XD, „Episcopatus
Ludrensis u Dalmaciji“ (XID. — Eine kurze Darstellung der Geschichte
Agrams beinhaltet die Broschüre „Zagreb“ 1918. Einen kulturgeschichtlich
wertvollen Beitrag zur Geschichte des kroatischen Buchhandels bringt die
Broschüre „KnjiZarstvo u Hrvata“ (Zagreb 1922). Eine ichte
oct T ipe der Agramer Stadtverwaltung 1609—18 bringt das Buch
„Status grada Zagreba“. Aus der Beschäftigung mit der histori-
schen Geographie entstand 1898 der historische Atlas der kroatischen Länder.
Die von Klaić ursprünglich auf 4 Bände berechnete und in Angriff ge-
nommene kritische Gesamtdarstellung kroatischer Geschichte blieb leider
ein Torso. Von dieser vorzüglichen „Povijest Hrvata od najsta-
rijih vremena do svr3eika XIX stoljeća“ erschienen 1899 bis
1911 fünf Bände, die die kroatische Geschichte bis 1608 bringen. Für dieses
Werk wie für seine Abhandlungen verarbeitete Klaié neben dem bestehen-
295
1 gedruckten Material auch zahlreiches neues, ungedrucktes archivelisches
Anläßlich der Jahrtausendjahrfeier des Bestandes des kroatischen
reiches veröffentlichte Klaić in der Festschrift der Matica Hrvatka
Matice o tisuéoj godišnjici Hrvatskog Kraljevstva 1925) noch zwei Studien:
»Narodni Sabor i krunisanje kralja na Duvaniskom pom, fes ferner „Hrvatski
sabori do godine 1870“, in der Festschrift der arg vischen are
(Zbornik kralja Tomislava Jugoslavenske Akademije ne anae ae
Studie über L. Hauptmanns Arbeiten zur ältesten kr
»Dva slovenska učenjaka o starijoj historiji Hrvata do 1102 goan in der
Denkschrift des Akademischen Senates der Agramer Universität anläßlich
der SOjährigen Bestandsfeier gab Klaić eine eingehende Darstellung der
Entsteh und Entwicklung dieser führenden kroatischen Kulturinstifution.
Zu den lebten Studien Klaić’ gehört die Studie „Crvena Hrvatska i Crvena
Rusija“ in dem seit 1927 wieder neu erscheinenden Hrvatsko Kolo der
Matica Hrvatska (Knj. VIII, 1927)“.
Graz. J. Mati.
Cedomil Jakša (Dr. jakov Cuka) tł.
Am 1. November 1928 starb der unter dem Pseudonym Cedomil
in der neueren kroatischen Literaturgeschichte bekannte Literaturkritiker.
Jakša war ein Dalmatiner, geb. 1868 in Zaglava bei Zara. Nach Absolvierung
des italienischen Gymnasiums und der Theologie in Zara und nach längeren
Studien in Rom, wo er sich den juridischen Doktorhut holte, wirkte er zu-
nächst als Kaplan in der Seelsorge, dann als bischöflicher Sekretär und
als Professor am italienischen Gymnasium in Zara, dann als Kanonikus des
Domkapitels daselbst. Nach dem Weltkriege übersiedelte Jakša nach SHS.
Da er als ausgezeichneter Kenner der kirchlichen Verhältnisse der katholi-
schen Südslaven und ihrer Beziehungen zum Vatikan bekannt war, wurde
er zu den Konkordatsverhandlungen in Beograd herangezogen. Als zwischen
der j en und der italienischen Regierung ein Einverständnis hin-
sichtlich des Institutes des hl. Hieronymus in Rom hergestellt war, über-
nahm Cuka die Leitung dieses Institutes. Cuka war literarisch in serbo-
kroatischer und italienischer Sprache tätig und gehörte in der Zeit von 1887
bis 1903 zu den führenden Vertretern der kroatischen Literaturkritik. Eine
große und gründliche literarische Erudition, eine vorzügliche Kenntnis der
westeuropäischen, vor allem italienischen Literatur, ferner eine genaue Ver-
trautheit mit den grundsäßlichen ästhetischen und literatur-kritischen Fragen
befahigten ihn, durch seine Kritik die Literaturentwicklung und die literarische
Bewertung durch Jahrzehnte hindurch entscheidend zu beeinflussen. Seine
literarischen Arbeiten sind in verschiedenen Zeitschriften verstreut. Seine
kritische Tätigkeit begann er 1887 im Narodni List, und von da an finden
wir seine Abhandlungen und Referate über ältere und neuere kroatische
Dichter, über italienische Literatur des 19. Jahrhunderts, über russische Lite-
ratur, über französische Literatur, über Niebsche, über die Theorie der
literarischen Kunst und der Literaturkritik, in allen führenden kroatischen
Literatur zeitschriften: Iskra (Zara), Novi Vijek, Prosvjeta, Vijenac, Nada,
Život. Von literarhistorischer Bedeutung wurden vor allem seine kritischen
Abhandlungen über die kroatischen Realisten, so über Kumičić, Kovačić,
Gjalski. Sein Verdienst war es, daß er in einer eingehenden kritischen
Untersuchung der damaligen kritiklosen Verherrlichung des kroatischen
Pseudonaturalisten Kumičić ein Ende machte. Methodisch war ihm Vorbild
Sainte-Beuves psychologische Kritik, die versucht, im künstlerischen Werke
und durch das künstlerische Werk den Dichter zu entdecken. Weltanschau-
lich gehörte er der katholischen Richtung Brunetitres an. Dauernden Wert
besitzen auch seine Studien über die kroatische Dorfnovelle und über den
* über Klaić vgl. R. Horvat, Nastavni Vjesnik XXXVII (1928), S. 3—19;
ferner J. Nagy, Savremenik XXI (1928), S. 273—77.
296
kroatischen Roman. In dem Kampf der Jungen und Alten beim Beginn der
sogenannten Moderne in der kroatischen Literatur nahm er eine Vermittler-
rolle ein, weltanschaulich stand er auf Seite der Alten, Konservativen.
Geistesgeschichtlich gehört er zusammen mit dem Dichter Tresié und
dem katholischen Dichter Marin Sabié zu den Führern der idealistisch-
romanischen Bewegung — romanisch wurde die Bewegung deshalb bezeich-
net, weil in ihr die Einflüsse des zeitgenössischen französischen und italie-
nischen geistigen und literarischen Lebens idealistischer Richtung ent-
scheidend waren —, die in der Zeitschrift Novi Vijek (Spalato 1897) ihr
geistiges und literarisches Zentrum fand.
(Eine eingehende Analyse der literatur-kritischen Arbeiten JakSas gab
sein Landsmann, der dalmatinische Literarhistoriker Ante Petravi¢, in
senan Treće Studije i portreti, Split 1917, S. 11—36.) 1 Matt
. Mall.
297
OSTEUROPA-INSTITUT IN BRESLAU
JAHRBÜCHER
FÜR
KULTUR UND GESCHICHTE
DER SLAVEN
IM AUFTRAGE DES OSTEUROPA-INSTITUTS
HERAUSGEGEBEN VON
PAUL DIELS-BRESLAU, FELIX HAASE-BRESLAU,
ERDMANN HANISCH-BRESLAU, ROBERT HOLTZ-
MANN-HALLE, JOSEF MATL-GRAZ, HEINRICH
FELIX SCHMID-GRAZ, KARL STÄHLIN-BERLIN,
KARL VÖLKER-WIEN, WILHELM WOSTRY-PRAG
SCHRIFTLEITUNG:
ERDMANN HANISCH
*
N. F. BAND v. HEFT m
1929
— a Zn :T——!᷑ ĩd.«—ñ
PRIEBATSCH’ BUCHHANDLUNG
BRESLAU, RING 68, UND OPPELN
Beiträge und Mitteilungen sind zu richten entweder an das
Osteuropa-inatitut in Breslau oder an die Anschrift
des Schriftleiters: Prof. Dr. Erdmann Hanisch,
Breslau 15, Körnerstraße 5/7.
I
ABHANDLUNGEN
DIE NIEDERE VOLKSGERICHTBARKEIT UNTER DEN
SLOVENEN VON ENDE DES 16. BIS ANFANG DES
19. JAHRHUNDERTS’)
Von
Dr. Method Dolenc, Ljubljana (Laibach).
Inhaltsangabe: l. Einleitung: 8 1. Bergtaidinge als
autonome Volksgerichte. 8 2. Andere Volksgerichte. Il. Außere
Organisationder Volksgerichte. 83. Zahl und Zeit der
Bergtaidinge nach den Bestimmungen der Bergrechtsbücel. 8 4.
Zahl und Zeit der Bergtaidinge in der Praxis. 85. Ort der Abhaltung
der Bergtaidinge. 8 6. Pflicht der Teilnahme an den Bergtaidingen.
8 7. Die übrigen Volksgerichte. Ill. Innere Organisation
der Volksgerichte. A. Die Bestimmung der Bergrechtsbüchel.
8 8. Allgemeine Charakterisierung. 8 9. Bestimmungen des Originals
des Bergrechtsbichels. 8 10. Bestimmungen der slovenischen Uber-
setzungen. B. Die Bergtaidinge in der Praxis. 8 11. Der Bergherr.
§ 12. Die Richter. § 13. Der Bergmeister. § 14. Die Suppane. § 15.
Die Referenten. 8 16. Protokollführer. 8 17. Andere Hilfsorgane
des Bergherrn. C. Unterschiede bei den übrigen Volksgerichten.
8 18. Billich- und Quatemberrechte. 8 19. Unparteiisches Recht.
IV. Zuständigkeit der Volksgerichte. 8 20. Nach den
Bergrechtsbücheln. 8 21. In der Praxis. V. Verfahren bei den
Volksgerichten. 8 22. Prozefeinteilung. 8 23. Hauptgrund-
sake des Prozeßverfahrens. § 24. Höhere Instanzen. 8 25. Die Ent-
wicklung in der Praxis.
„Abkürzungen: CZN. = Časopis za zgodovino in narodopisje
(Zeitschrift für Geschichte und Volkskunde), Maribor (Marburg a. d. Drau);
IMD. = Izvestja Muzejskega Društva za Kranjsko (Mitteilungen des Muscal-
vereins für Krain), Ljubljana (Laibach); LMS. — Letopis Matice Slovenske
Jahrbuch der Slovenischen Matica), Ljubljana; ZZR. = Zbornik znanstvenih
razprav, izdaja Profesorski Zbor juridiène Fakultete (Sammlung wissen-
schaftlicher Abhandlungen, herausgegeben vom Professorenkollegium der
Juridischen Fakultät der Universität Laibach), Ljubljana; BRB. — Bergrechts-
büchel aus dem Jahre 1543 (Vgl. Anm. 2); Beradt. BO. — Beradthschlagte
Perkrechtsordnung aus dem Jahre 1595; BT. — Bergtaiding; U. = Übersebung;
299
I. Einleitung.
81. Bergtaidinge als autonome Volksgerichte.
Anton Mell ist es zu verdanken, daß wir nunmehr über die
Entstehungsgeschichte der Bergartikel Ferdinands I. vom 9. Februar
1543 genau informiert sind®). Unter ihren Vorgängern, den Aufzeich-
nungen der gewohnheitsrechtlich entstandenen Bergrechtsregeln, be-
findet sich auch eine Handschrift in der Laibacher Studienbibliothek,
die wohl in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrh. entstanden isi*). Sie
bietet uns den urkundlichen Beweis dafür, dab auch auf dem Ge-
biete, dessen breite Volksschichten Slovenen gebildet haben, schon
vor dem Jahre 1543 eine Volksgerichtsbarkeit in Weinbergsachen
geübt wurde‘). Die Bestätigung des BRB. ist von den steirischen
slov. = slovenisch; Rezl- U. = slov. U. des BRB. von Andreas Rezi aus dem
J. 1582 (veröffentlicht von V. Oblak, Starejši slovenski teksti, LMS. 1889,
S. 180—191, und von A. Koblar, Slovenica, IMD. IX, 1899, S. 147—158);
Kapsch-U. = slov. U. des BRB. von l. Kapsch aus Reittenburg aus d. J. 1683
(beschrieben und teilweise [Art. 25—34] veröffentlicht von V. Oblak, a. a.
O., S. 199—201, Layb.-U. — slov. U. des Laibacher Domkapitelbeamten Hans
Laybasser aus dem jahre 1646; Stud. B.-U. = slov. U, entstanden um
1639, verwahrt in der Laibacher Studienbibliothek (veröffentlicht von
V. Oblak, Trije rokopisi slovenski, LMS. 1887, S. 298—305); Mus.-U. =
slov. U., entstanden im 18. Jahrh., verwahrt im Laibacher Nationalmuseum:
Wagensb. Torso = slov. U. der ersten 16 Artikel des BRB., Fundort Wagens-
berg; Wagensb. Exc. — stark gekürzte slov. U. des BRB. Fundort Wagens-
berg; lebtere beide entstanden Mitte des 18. Jahrh., beide veröffentlicht von
M. Dolenc, in der unten S. 347, Anm. 106 angeführten Abhandlung, S. 101 bis
104; Weißenst. U. = slov. U., entstanden vor 1781, bei der Herrschaft Weißen-
stein a. d. Save, aufbewahrt im Laibacher Nationalmuseum; Ain.-U. = slov.
U., entstanden bei der Herrschaft Ainodt a. d. Gurk in der ersten Hälfte des
18. Jahrh.; Ubermurg.-U. = slov. U., entstanden im Übermurgebiete zwischen
1807 und 1811, auszugsweise gedruckt im Kalendar Najszvetesega Szrca je-
zusovega na 1912. leto, Szombathely, 1912; Hoff-BRB. — deutsche U. der
slov. Mus.-0., gedruckt in 1 Georg Hoff, Gemählde vom Her-
zogthume Krain, Laibach 1808, Il. S. 17—31. — Näheres über die an-
geführten slovenischen W des Bergrechisbüchels in den Ab-
handlungen von M. Dolenc, Pravni izrazi v prevodih gorskega zakona
(Die juridische Terminologie in den Ubersetzungen des Bergrechisbüchels),
Časopis za slovenski jezik, književnost in zgodovino (Zeitschrift für slo-
venische Sprache, Literatur und Geschichte), II, Ljubljana 1920, S. 72—91,
Dokedaj so veljale „Gorske bukve“ na Slovenskem? (Wie lange war das
„Bergrechtsbüchel“ in Slovenien in Geltung?), CZN. XX, 1925, S. 113—119;
Kmečko dedno nasledsivo za časa veljavnosti gorskih bukev (Die bäuer-
aae Erbfolge zur Zeit der Geltung des Bergrechisbiichels), CZN. XXII, 1927,
. 105—148.
3) Anton Mell, Das Steirishe Weinbergrecht und dessen Kodifikation
im Jahre 1543: Aka d. d. Wissensch. in Wien, Philos.-hist. Kl., Siķungsberichte,
207. 4. Abh., 1928. Vgl. auch desselben Grundriĝ der Verfassungs-
und Ver A Steiermarks, Heft 1/2, Graz 1929, S. 63 f.
3) Vgl. Mell, Weinbergrecht, S. 58—60. Der Text ist veröffentlicht
von F. Bischoff und A. Schönbach, Steirische und kärnthische Tai-
dinge, Österreichische Weistumer VI, Wien 1881, S. 411 f.
4) Das Vorhandensein n Bestimmungen wird für alle
fünf „niederösterreichischen Lande“ (Nieder- und Oberösterreich, Steier-
mark, Kärnten und Krain) vorausgesetzt in „Der Fünf niderösterreichischen
500
Landständen erst nach elfjährigem Bemühen der Regierung in Wien
abgerungen worden’). Selbsiredend galt das BRB. vorerst nur für
Steiermark. Allein seine Geltung griff auf Grund der Bestimmun-
gen der 1460 von Kaiser Friedrich Ill. bestätigten und erganzten Land-
handfeste für Krain (erlassen 1338 von Herzog Albrecht II.) selbst-
tätig auch auf dieses Land samt seinen Annexen (Windische Mark,
Karst, Istrien) über®).
Tatsächlich kennen wir eine sozusagen wörtliche slovenische
Ubersefung der gedachten Bergartikel, die im Jahre 1582 Pfarrer
Andreas Rez! aus Arch bei Landsiraß (Markt in Unterkrain)
besorgt hat’). Die Annahme, daß die Bergartikel für Steiermark
alsbald auch in Krain galten, findet hierdurch in bester Form ihre
Bestätigung. Nun haben die Landstände von Krain im Jahre 1595
allerdings eine „Beradihschlagte Perkrechtsordnung für Krain, die
windische Mark, Histerreich und Kharst‘‘ entworfen, wie aus einer
privaten Aufzeichnung des Laibacher Domkapitelsbeamten Hans Lay-
basser ersichtlich ist®). Auch in dem Grazer Joanneum habe ich einen
Teil dieser neuen Bergrechtsordnung — einen Torso von 18 Artikeln —
gefunden und mir abgeschrieben’). Zwei slovenische Geschichts-
Lannde und Fürstlichen Grafschaft Görk Vergleichung eic. Anno MDXXXII
(sc. 9. Okt. 1552)" (Druck o. O. u. J.). Einzelne, auf die Organisation der
Gerichtsbarkeit in Weinbergsachen bezügliche Bestimmungen bietet auch
Das Urbarium der Herrschaft Gotischee vom Jahre 1574, (auszugsweise)
veröffentlicht und erläutert von P. Wolsegger, Mittheilungen des Museal-
vereines für Krain Ill. Laibach 1890, S. 140—183, IV, 1891, S. 13—45 la. a. O.
IV. S. 28 f., das jedenfalls aus älteren, wahrscheinlich in die Zeit vor der
Verbreitung der Bestimmungen des BRB. zurückgehenden Quellen schöpft
(vgl. Wolsegger, a. a. O. Ill, S. 140 f.), zumal seine weinbergrechtlichen
Bestimmungen von diesen unabhängig zu sein scheinen.
8) Siehe Anton Mell, Weinbergrecht, S. 73ff.: Arnold Lus chin
v. Ebengreuth: Österreichische Reichsgeschichte (Lehrbuch), Bamberg
1896, S. 353. Vgl. A. Luschin v. Ebengreuth, Handbuch der öster-
reichischen Reichsgeschichte lz, Bamberg 1914, S. 158.
*) Vgl. bezüglich der Landesgerichtsordnung für Steiermark von 1574
Hugo Hoe gel. Geschichte des österr. Strafrechts, I., Wien 1904, S. 34, 35.
7) Rezl-U. Die ganz geringfügigen Abweichungen müssen auf lapsus
calami zurückgeführt werden.
e) Die Handschrift Laybassers stammt aus dem Jahre 1646 und ist u. W.
in deutscher Sprache noch nirgends behandelt worden. Sie enthält For-
mularien und andere Aufzeichnungen für den praktischen Gebrauch. Den
Text der Beradt. BO. bringen wir im Anhang I (unten S. 357).
$) Es geschah knapp vor dem Ausbruche des Weltkrieges. Die Ab-
schrift befindet sich noch in meinen Händen und deckt sich vollkommen mit
den ersten 18 Artikeln der Beradi. BO. aus dem Jahre 1595. Die Urkunde
zu zitieren bin ich außerstande, weil meine Aufschreibungen bei den fol-
genden Ubersiedlungen zum großen Teil abhanden gekommen sind. — An-
merkung der Redaktion: Die Auffindung des Textes ist trob mehr-
facher Bemühungen verschiedener Grazer Fachleute bisher nicht gelungen.
Daß er vorhanden ist, wird von Herrn Hofrat Univ.-Prof. Dr. Anton Mell
bestätigt. H. F. Schmid.
20 NF 8 301
forscher — Gruden und Verhovec —‘**) glaubten, in der ge-
dachten Beradt. BO. der Landstände in Krain ein regelrechtes Gesch
erblicken zu müssen. Meine eingehenden Nachforschungen in den
verschiedenen Archiven von Wien, Graz und Laibach haben keine Be-
statigung dieser Annahme gefunden. Sie erscheint übrigens auch
dadurch entkraftet, daß weitere in Krain entstandene slovenische
Üübersekungen der Bergrechisartikel aus der Zeit nach 1595 der Fas-
sung aus dem Jahre 1543 und nicht jener der Beradt. BO. von 1595
folgten und sich direkt auf steiermärkische Verhältnisse beriefen, was
im Fall der Promulgierung eines neuen Gesetzes für Bergrechtssachen
in Krain bestimmt nicht vorgekommen wäre.
Hierbei ist allerdings noch eine andere, bedeutungsvolle Tatsache
zu konstatieren: Während das deutsche Bergrechisbiichel wiederholt
im Drucke erschienen ist und bei seinem ursprünglichen Texte ver-
blieb (nur valutarische Betrage wurden zeitgemäß abgeändert), diffe-
rieren die zehn bisher bekannten slov. Ubersezungen der Bergrechts-
artikel sowohl vom Originaltexte, als auch untereinander. Dies konnte
nur die Folge des Umstandes sein, daß die Übersetzer, die ja ihre
Übersetzungen zu verschiedener Zeit in verschiedenen Gegenden an-
fertigten, notgedrungen den Wünschen ihrer Bergherren folgen muß-
ten; allein sie konnten dabei keineswegs die gewohnheitsmäßig ein-
hergehende Entwicklung des Volksrechtes unbeachiet lassen. Waren
doch diese Übersekungen dazu bestimmt, zu Beginn der Bergtaidinge"*)
nach Art eines Weistums verlesen zu werden! Dies wird in einigen
slov. U. am Anfange des Textes auf das deutlichste vorgeschrieben.
Nun waren aber die Bewohner auf den Weingebirgen Krains durch-
aus nicht geneigt, sich willkürliche Anderungen der Bergartikel ohne
weiteres gefallen zu lassen‘). Darüber sind wir aus einer zweiten,
noch viel wichtigeren Quelle des Gewohnheitsrechtes genauer infor-
miert: aus den Protokollen, die über die Vorkommnisse auf den
Volksgerichten berichten. Sie sind in deutscher Sprache verfaßt, nur
hier und da sind slov. Worte oder Sake, auch ganze Eidessprüche
eingesireut worden. Diese Protokolle geben uns, da sie aus ver-
schiedenen Herrschaften (Deutsche Rittersordenresidenz in Rudolfs-
wert, Zisterziensergrundherrschaften in Landstraß und Klingenfels,
Jesuitenresidenz in Pletriach, Herrschaft Ainödt, Seisenberg und
16) Josip Gruden; Slovenski župani v preteklosti (Die slovenischen
Zupane in der Vergangenheit), Ljubljana 1916, S. 63; Ivan Vrhovec,
Gorski zakon in gorske pravde (Das Weinberggeseb und die Bergtaidingel,
IMD., VII., 1897, S. 37—41, 69—77, 101—110, 145—151.
_ 41) Das Hauptwort Bergtaiding (Perktading, perktaiding, perktiding) ist
im BRB. bald sächlichen (Art. 1), bald weiblichen Geschlechts (Art. 14).
13) Alfred Fischel, Das österreichische Sprachenrech?, Brünn 1910
(S. XX), prägte das Wort, in Krain habe „die dumpfdahinbrütende Masse
der untertänigen Bauern für das öffentliche Leben der Alpenländer nichts
bedeutet“, nimmt aber den Gebrauch der slov. Sprache bei den Dorfge-
richten dennoch an. Die nachstehenden Ausführungen werden dartun,
von einer Charakterisierung der slov. Bauernschaft als „dumpfdahinbrütende
Masse“ keine Rede sein kann.
802
TATA A
Weißenstein) und auch aus verschiedenen Jahrhunderten stammen, die
verläßlichste Auskunft darüber, welches Verhältnis zwischen den
Bergherren und ihren Untertanen herrschie!). Vorweg sei betont,
daß insbesondere in der Zeit bis etwa Anfang des 18. Jahrh. die
Untertanen ihre Autonomie voll zu wahren wußfen und wiederholt
sich selbst zu Richtern in Prozessen zwischen ihren Bergherren und
deren Untertanen aufgeworfen haben. Zur Zeit der französischen
Revolution haben sie sich sogar selbstherrlich das Bergrechtsbüchel
nach eigenem Geschmacke umgewandelt, ohne daß irgendeine Be-
horde dagegen Stellung genommen hätten).
82. Andere Volksgerichte.
Wir haben gesehen, daß sich in den slovenischen Weinberg-
gebieten das auf fränkischen Ursprung hinweisende Institut der BT.
zähe erhalten hat. Wie noch ausführlicher zu erörtern sein wird,
befaßten sich diese BT. mit allgemeinen Verwaltungsfragen sowie
auch mit der Rechtssprechung; allerdings nur in Ansehung der unter
den Bergstab fallenden Angelegenheiten. Wenn erwogen wird, daß
in Unterkrain etwa die Hälfte des produktiven Bodens dem Weinbau
gewidmet war, so kann es nicht wundernehmen, daß sich das Volk
auch dort die niedere Gerichtsbarkeit nicht aus den Händen ent-
winden ließ, wo es sich um andere als Weinbergsachen handelte.
So sind also neben den Bergtaidingen noch lange die sogenann-
ten Quatemberrechte (in den Gebieten von Landstraß, Ple-
triach, Stein und Veldes) sowie Billichrechte (in den Gebieten
von Landstraß und Pletriach) erhalten geblieben. Die ersten waren
die Nachfolger der alten Wötschengerichte:®), deren Existenz Anton
Kaspret für das 15. und 16. Jahrh. in Südsteiermark, Krain und
Küstenland urkundlich nachgewiesen hate]. Sie hatten Streitigkeiten
aus dem gewöhnlichen Leben der Burgfriedleute zu schlichten.
18) Vgl. uber diese Quellen die Abhandlungen von M. Dolenc, Pra-
vosodstvo kostanjeviske opatije v letih 1631 do 1635 (Die Rechtspflege in der
geistlichen Landgerichisherrschaft Landstra§ in Unterkrain in den Jahren
1631 —1655), CZN. XI, 1914, S. 33—66, Pravosodstvo pri novomeškem inkor-
poriranem uradu nemškega viteškega reda v letih 1721 do 1772 (De iuris-
dictione apud Rudolfsvertense incorporatum officium Ordinis equestris
Teutonici annis MDCCXXI—~MDCCLXXIl), ZZR. I, 1920/1921, S. 22—100, Pra-
vosodstvo cisłercienške opatije v Kostanjevici in jezuitske rezidence v Ple-
terju od konca 16. do konca 18. stoletja (La jurisdiction de l'abbaye de
Cisterciens à Kostanjevica {Landstrass! de la fin du 16@me à la fin du 18ème
siècle et de la Résidence des jésuites à Pleterje [Pletriach)), ZZR. Ill,
1923/1924, S. 1—118 (franz. Résumé S. 116—118), Pravosodstvo klevevške in
bošłaniske graščine od konca 17. do začetka 19. stoletja (La cour de justice
populaire auprès des seigneurs de Klevevž (Klingenfels} et Boštanj [Weiben-
stein) depuis la fin du XVIle jusqu'au commencement du XIXe siècle), ZZR.
V, 1925/1926, S. 153—247 (franz. Résumé S. 246 f.).
14) Siehe Anhang Il.
18) ,,Wotsche™ aus slov. ve C a, urslav. *vétja „Ratsversammlung“. Vgl.
serbokroat. vijeéa. und (mit anderem Suffix) alibulg. v&äte, russ.
véée, ukrain. viče, poln. wiecle), čech. véce.
10 Vol. A. Kaspret, O veéah, CZN. IV, 1907, S. 214— 222.
Die Billichrechte fungierten als Kausalgerichte in Gegenden, wo
das Vorkommen der Billiche (Siebenschläfer, myoxus giis) in
großen Massen eine besondere Regelung der aus der Jagd auf dieses
Tierchen sich ergebenden Divergenzen heischte.
Uber die Gerichtsbarkeit der Quatember- und Billichrechte sind
wir gleichfalls aus den Protokollen der Grundherrschaften informiert.
Sie wurden in dieselben Folianten aufgenommen, in denen die Berg-
taidingsprotokolle eingetragen worden sind. Nur für die Veldeser
Herrschaft ist die Ausnahme zu konstatieren, daß sie für die ersten
20 Jahre des 17. Jahrh. in den Protokollen des Grundobrigkeits-
gerichtes bloß Erwähnung fanden.
Wenn sich auch die Quatember- und Billichrechte nicht so lange
erhalten haben wie die Bergtaidinge, so kann dennoch festgestellt
werden, daß auch bei ihnen das Rechtsbewußisein des niederen
Volkes als die einzige Rechtsquelle für Prozeßentscheidungen in
Frage kam, wofür allerdings das Vorbild der Gerichtsbarkeit auf den
Bergtaidingen von ausschlaggebender Bedeutung war.
ll. Außere Organisation der Volksgerichte.
83 Zahl und Zeit der Bergtaidinge nach den
Bestimmungen der BRB.
Im Originaltexte des BRB. aus dem Jahre 1543 steht die Bestim-
mung, die Bergtaidinge müssen jedes Jahr zwischen Ostern und
Pfingsten an jenen Orten abgehalten werden, wie es von alters her
gewohnlich gehalten wurde; in dieser Beziehung darf ohne besondere
Ursache nichts abgeändert werden’). Die Erfordernisse des echten
Taidings (Tage-Dings) sind dadurch deutlich hervorgehoben, nur
wurde mit Rücksicht auf die dem Bergstab untertanigen Personen
dieses Taiding zu einem Bergtaiding gestempelt.
Die älteste slov. Ubersetzung der Bergartikel (1582) blieb bei der
einmaligen Abhaltung der Bergtaidinge’*). Die Beradt. BO. aus dem
Jahre 1595 ordnet eine jährlich zweimalige Abhaltung der BT. an, wie
es gewohnheitlich feststeht: das erste Mal zwischen Osfern und
Pfingsten, das zweite Mal im Herbste, und dies am Orte, wie es nach
alter Gepflogenheit geübt wurde’*). Die Übersekung des Johann Lay-
basser (1646) folgt der Beradt. BO. Kapsch-U. bleibt bei der Zwei-
zahl der Taidinge im Jahre, gibt aber die Reihenfolge umgekehrt an.
In der Stud. B.-U. heißt es, obwohl in ihrer Anschrift die Geltung
dieser Bergrechtsartikel für Steiermark, Krain und Kärnten an-
gegeben wurde, die Bergtaidinge sollen einmal im Jahre, und zwar
zwischen Ostern und Pfingsten gehalten werden, wobei jedoch die
Bestimmung aus dem Urtext betreffend das Verbot der Abänderung
17) Art. 1, Mell, Weinbergrecht, S. 109.
š > Rezi-U. Art. 1, ed. Oblak, a. a. O. S. 181, ed. Koblar, a. a. O.
. 147
19) Beradt. BO. Art. 1, unten Anhang I.
504
at!
der Dingstatte nicht übernommen wurde”). Wortlich wurde der Ur-
text in die slov. Übersekung übernommen, die sich im Laibacher
Nationalmuseum befindet und im 18. Jahrh. — doch vor dem Jahre
1781 — entstanden ist (Mus.- U.]: auch der Saf bezüglich der Ding-
stätte fand hier seinen Plab. {Nach dieser slov. U. hat Heinrich
Georg Hoff, Gemahide vom Herzogthume Krain (1808) die Berg-
artikel ins Deutsche übersetzt, ohne den deutschen Urtext gekannt zu
haben.! Im Schlosse Wagensberg, dem ehemaligen Herrschaftssige
des berühmten Verfassers der „Ehre des Herzogtums Krain“ namens
Johann Weikhard Valvasor, wurden zwei handschriftliche Übersebun-
gen gefunden, die eine blieb beim Artikel 16 stehen, die andere
kürzte den Text in einer Weise, daß nicht einmal die Hälfte des In-
halts der Artikel blieb und auch deren Umfang auf ein dürftiges
Konzept zusammengeschrumpft ist. Sicherlich wurde auf den BT. nur
der zweite gekürzte Text verlesen. Beide entstanden in der Zeit von
1744—1781. Im Wagensb.-Torso heißt es: In Steiermark oder anders-
wo sollen die Bergtaidinge einmal im Jahre, oder wie es Gebrauch ist,
gehalten werden); im Exzerpt findet diese Bestimmung überhaupt
keine Erwähnung mehr. Im Weißensteiner Manuskript (aus dem
18. Jahrh., Verfasser unbekannt) wird angeordnet, daß die Bergtai-
dinge in jedem Weingebirge je zweimal im Jahre, das erste Mal im
Herbste, das andere Mal zwischen Ostern und Pfingsten abzuhalten
sind. Die Übersetzung, die im Schlosse Ainodt (an der Gurk) ge-
funden wurde und aus der Zeit Mitte des 18. Jahrh. stammt, ohne den
Autor zu verraten, enthalt die Wendung, der Bergherr habe ein jedes
Jahr das BT. abhalten zu lassen und dürfe es niemals absagen. Die
zehnte Übersekung, die für das Über-Mur-Gebiet galt und von un-
bekannten Verfassern Anfang des 19. Jahrh. angefertigt wurde, ver-
langt eine dreimalige Abhaltung des Bergtaidings in jedem Jahre,
und zwar am Tage des hl. Martin (11. Nov.), zu Lichtmeß (2. Febr.)
und am Tage des hl. Georg (24. April); der Bergmeister (hegymesier)
hat die Pflicht, die Leute hierzu zusammenzurufen??).
§ 4. Zahl und Zeit der Bergtaidinge in der Praxis.
Aus den vorstehenden, mit Gesekeskraft ausgestatteten Bestim-
mungen geht es klar hervor, daß das BRB. nicht als ein unabänder-
liches Gesek aufgefaßt, sondern daß in dieses alles das hineingefügt
wurde, was man nach dem Gewohnheitsrechte für billig gehalten hat,
ohne daß es für die verschiedenen Gegenden unbedingt gleich lauten
se) Stud.-B.-O. Art. 1, ed. Oblak, a. a. O. S. 298.
31) Wagensberg-Torso Art. 1, ed. Dolenc, a. a. O. S. 101.
_ %) Das Goftscheer Urbar von 1574 schreibt u. d. T. „Perckhrechts be-
sibung” (ed. Wolsegger, a. a. O. IV, S. 29) vor: Das Perckhrecht bey
hievor beschribnen Pergen besitzt jarlich ain Innhaber der Herrschafft
Gotschee oder von seinetwegen ain Pfleger und Ambischreiber mit allen
Perckhgenossen unnd wirdet solch Perckhrecht alle Jar im Monet September
am Suntag nach khlain unnser Frauentag (8. Sept.) gehalten.
505
müßte. Die Bergtaidingsprotokolle bieten uns viele Beweise, daß
sich die Praxis keineswegs verpflichtet hielt, die gesetzlichen Vor-
schriften einzuhalten. Schon die ältesten Protokolle des Landstraßer
Zisterzienserklosters, die uns vom Jahre 1590 an erhalten blieben,
zeigen, daß die Bergtaidinge in einigen Gegenden einmal, in andern
zweimal im Jahre abgehalten wurden. Also 60 Jahre nach der Gesek-
werdung des BRB. bestand unter demselben Bergstab keine Einheit-
lichkeit der Praxis mehr. Unter dem Klingenfelser Bergstab, aller-
dings 100 Jahre später, wurde die zweimalige Abhaltung der BT. im
Jahre beinahe zur Regel. Auch unter dem Bergstabe der Auersperger
Herren in Seisenberg sind zu Anfang des 17. Jahrh. die meisten BT.
noch zweimal im Jahre abgehalten worden.
In den ersten Dezennien des 18. Jahrh. machte sich jedoch schon
die Tendenz der Bergherren stark bemerkbar, die Anzahl der. Berg-
taidinge einzuschränken. Dies wurde zum Teil auf diese Weise in
die Wege geleitet, daß mehrere benachbarte Weingebirge, die ehe-
mals jedes fur sich ihr BT. abzuhalten berechtigt waren, zu einem
einzigen zusammengelegt wurden, zum Teil wurden aber einige Berg-
taidinge auch ohne weiteres ohne Ersak abgeschafft. Allerdings mag
mit Recht der Umstand als Begründung ins Treffen geführt worden
sein, daß einzelne Weingebirge ein ungenügendes Erträgnis ab-
warfen und in andere Kuliurarten umgesebt wurden.
Allein die Weingärtner haben, wie uns einige Protokolle dartun,
der Verringerung der . Anzahl der Bergtaidinge bemerkenswerten
Widerstand geleistet. Im Klingenfelser Gebiete verlangten sie noch
im Jahre 1767 und erreichten auch, daß die bereits eingestellten Berg-
taidinge wieder abgehalten wurden. Wiederholt wurde der Wunsch
der Weingäriner protokolliert, man soll die Bergtaidinge regelrecht
abhalten. Einmal, am 4. März 1771, wurde verlangt, daß deren Zahl
auf vier vermehrt werden solle, so daß sie in jeder Quatemberwoche
abzuhalten wären. Ein anderes Mal (16. März 1767) haben die Wein-
gärtner, der Verfügung des Bergherrn zum Trob, die Bergtaidinge
nicht mehr abzuhalten, beschlossen, daß am Tage des hl. Michael alle,
die das Bergrecht zu entrichten haben, aus eigenem Antriebe er-
scheinen und ihren Gerichtstag abhalten sollen.
In der Zeit nach Josef ll. haben die Bergtaidinge in vielen Ge-
genden zu bestehen aufgehört, doch erhielten sie sich. im Klingen-
felser Gebiet bis 1804, unter dem Bergstab von Ainodt sogar bis
1843, allerdings mit der wesentlichen Einschränkung, daß es voll-
ständig im Belieben der Bergbehörde stand, wann und wo, sowie fur
welche Gebiete immer es ihr beliebte, das BT. zusammenzuberufen.
Dies wurde auf dem Bergtaiding der Herrschaft Ainodt am 14. Sep-
tember 1784 sogar als Befehl des Bergherrn zur Kenntnis genommen,
ja die Weingärtner haben der Bergbehörde für die Abhaltung des
BT. dessenungeachtet wiederholt Dank ausgesprochen. Zu dieser
Zeit kam es bezeichnenderweise zu einer Umbenennung der Berg-
taidinge. Sie wurden schon vorher im Laufe der Jahrhunderte Berg-
datting, Bergtäding, Bergdeutung geheißen, offenbar in Unkenntnis
506
der Herkunft des Ausdruckes Bergtaiding. Nun zeitigte die Un-
kenninis eine ganz falsche Vorstellung: das BT. ist zu einer „Berg-
raittung“ geworden, als ob es zu einer rechnerischen Auseinander-
sekung bestimmt wäre. Erst das allerletzte Protokoll vom 29. Sep-
tember 1843, abgehalten in der Herrschaft Ainödt, bekam wieder die
Bezeichnung ,,Bergtaiding“**).
Nach dem Wortlaut des Urtextes sollten für die Zusammensetzung
und Tagung der BT. im Rahmen der Bestimmungen des BRB. die
alten Gewohnheiten maßgebend sein. In der Praxis hat man
daran lange zähe festgehalten, und doch sind im Laufe der Zeit die
Tage des BT. ganz außerhalb des gedachten Rahmens geraten. So
wurden im Klingenfelser und Seisenberger Gebiet die Bergtaidinge
schon in den Wintermonaten Anfang des Jahres, also vor Ostern, ab-
gehalten, im Landsitraßer Gebiet aber im Hochsommer, nämlich am
10. August, und wurde deshalb das BT. nach dem Tagesheiligen
„St. Laurenzenrecht“ genannt. Ahnlicherweise hieß im Seisenberger
Gebiet das BT. nach der hl. Gertraud (17. März) „das Gertraudisrecht“.
Mit gutem Grunde kann angenommen werden, daß diese BT. schon
vor 1593, vielleicht schon seit Jahrhunderten an den Tagen dieser
Heiligen abgehalten wurden, und daß dies auch das BRB. nicht ab-
zuschaffen vermochte.
Wenn der Tag des BT. entgegen der aligepflogenen Gewohnheit
abgeändert wurde, mußte dies besonders verlautbart werden. Dar-
aus entwickelte sich gegen Ende des 18. und zu Anfang des 19. Jahrh.
die Gewohnheit, daß jedes BT. öffentlich verkündet wurde, während
sich in dem 17. Jahrh. die Protokolle noch ausdrücklich darauf be-
rufen, daß jedermann „ohne Verkündigung“ dazu zu erscheinen habe.
In einigen Gegenden wurde das BT. eingelautet, d. h. unter Glocken-
geläute festlich begonnen, vielfach ging ihm auch eine hl. Messe
voraus. In den Protokollen liest man auch von den Bemühungen
der Weingärtner, daß das BT. spätestens um 9 Uhr vormittags zu
beginnen habe. Es scheint, daß sich die Abgesandien der Berg-
behörde gerne Zeit ließen, insbesondere, wenn sie auf das Wein-
gebirge nicht leicht fahren konnten.
.. 733) Daß das Wesen der Bergtaidinge schon Anfang des 18. Jahrh.
nicht mehr richtig erfaßt wurde, beweisen die Texte der Instruktionen, die
das Auerspergsche Inspektorat in Laibach an die Verwalter herausgab und
die von diesen mit „landschadenbündigem“ Reverse unterschrieben werden
mußten. (Die Landschadenbund-Klausel bedeutete die Einwilligung des
Verpflichtefen zur sofortigen Exekution bei Nichterfüllung) P. 11 der Inst.
vom 27. 7. 1703 (Verwalter Joh. Georg Peer) schreibt vor, daß die Verhöre
oder Klagen, insonderheit aber die Perkhihaiding sorgfältig durchzuführen
sind. In der Instruktion vom 30. Okt. 1729 für den Verwalter Johann Anton
Kraillingh hieß es aber, er solle über Bergehren oder Klage „sonderlich
über die haltend Verheidigungen ordentlich Protokoll führen“. Daß dies
nicht ein bloßes Vorschreiben war, ersieht man aus der weiteren Instruktion
vom 6. Okt. 1725 für Joh. Bapt. de Fabiani, in der der Ausdruck „Verheidi-
gung“ wiederholt wurde, wenn auch in anderem Zusammenhang. Anschei-
nend dürfte er mit „Vereidigung“ verwechselt worden sein. Seit der Mitte
5 a Jahrh. verschwindet in den Instruktionen auch jede Erinnerung an
507
85. Ort der Abhaltung der Bergtaidinge.
Die Texte des deutschen Originals und aller slov. U. des BRB.
lauten in Ansehung des Zusammentrittes der Bergtaidinge (Gerichts-
statte) übereinstimmend, dies sei jener Ort, der nach der alten Ge-
wohnheit dazu bestimmt ist. Troßdem einige slov. U., wie z. B.
Kapsch-U., Vagensb.- Torso, besonders betonen, daß die Gerichts-
stätte ohne zwingenden Grund nicht abgeändert werden darf, ersehen
wir dennoch aus den Protokollen, insbesondere des 18. Jahrh., daß
sich bei den Bergbehörden ein geradezu lebhaftes Bestreben ein-
stellte, die Gerichtsstätte an den Sif, ihrer Herrschaft zu verlegen.
Gründe der Bequemlichkeit dürften wohl in erster Linie dazu den
Anlaß gegeben haben. Die Weingärtner haben dagegen ab und zu
remonstriert. In einem Protokolle des Klingenfelser Gebiets (17. Fe-
bruar 1769) lesen wir, daß sich die Weingärtner geradezu verab-
redeten, daß sie bis zum lekten Manne von dem BT., das nicht mehr
auf den Weinberg Bojnik, sondern in das Schloß Klingenfels ein-
berufen wurde, ausbleiben wollten. Erst als der Bergherr nach-
gegeben und das BT. an die uralte Dingstätte einberufen hatte, sind
sie wiederum erschienen. Allerdings dauerte der Widerstand nicht
zu lange, insbesondere nicht unter den Bergstäben der Herrschaften,
deren Inhaber Laien waren. Im Ainodter Bezirk (Furstlich Auers-
pergsche Verwaltung) wurden die Gerichtsstatten schon zur Zeit
Josefs Il. beliebig verlegt, zumeist auf den Herrschaftssi selbst
oder in ein nahe gelegenes Dorf. Dabei wurden oft mehrere Gebiete
zusammengelegt, wohl um die Mühe des öfteren Bergtaidingbesuches
zu ersparen.
Die nähere Angabe der Stelle der Gerichtsstatte ist in den Pro-
tokollen selten ersichtlich gemacht worden. Oft war es eine Kirche
oder ein zur Kirche gehöriges Gebäude, doch scheint noch vielfach
der alte, für die Wötschengerichte beglaubigte Brauch geübt worden
zu sein, daß man unter einer schattigen Linde in der Nähe der Kirche
tagte, bzw. wenn schlechtes Wetter war, in einem herrschaftlichen
Weinzierlhause?®).
86. Pflicht der Teilnahme an den Bergtaidingen.
I. Bevor wir in die Erörterung dieser wichtigen Frage eingehen,
müssen wir feststellen, welchem Stande die Weingärtner ange-
hörten. Die Protokolle über die bergrechtlichen Prozesse, insbeson-
dere jene aus dem 16. und 17. Jahrh. erwähnen außer den Bergherren
(Kloster oder Herrschaftsbesiker) und seinen Abgesandten ausdrück-
lich dreierlei Arten von Weingärtnern, nämlich die Mejaschen
(auch Measchen geschrieben), Bergholde und Inwohner.
Der Ausdruck „Mejas ch“ ist aus dem slovenischen Worte
meja, die Grenze, der Rain, abzuleiten. Er wird in den deutsch
geschriebenen Gerichtsprotokollen ständig in dieser Form ohne er-
se) Weinzierl — Winzer.
508
klarenden Beisa gebraucht und ist daher als terminus technicus
für die Zeit bis Ende des 18. Jahrh. anzusehen, doch durfte er
in Unterkrain schon aus einer Zeit weit vor dem BRB. stammen.
Man könnte glauben, daß er bloß das nachbarliche Verhältnis kenn-
zeichnen sollte. Dem ist aber nicht so. Als Mejaschen sind nämlich
alle jene Weingartenbesiker bezeichnet worden, die dem Bergherrn
nicht mit ihrer Person, sondern lediglich mit ihrem Weingartenbesike
untertänig waren. Dies waren Angehörige anderer Stände, wie
adelige Gutsbesitzer, Geistliche, Stadtbürger, Freibauern (Freisassen),
die meist gar nicht auf dem Weinberge ansässig waren, jedoch Wein-
gärten besaßen, die unter die Hoheit des Bergstabes fielen. Es
ist klar, daß es insbesondere in den als besonders gut geltenden
Weingebirgen auch anderen Leuten und nicht nur den dort ansässigen
Bergholden gefiel, dortselbst einen Weingarten zu besifen. Diese Art
der bloß sachlich und nicht persönlich untertanigen Besitzer wurde
in dem deutschen Texte der Bergrechtsartikel mit „Berggenossen“
bezeichnet, doch sind die Begriffe Berghold und Berggenosse keines-
wegs scharf auseinandergehalten worden).
Die zweite Art der Weingärtner waren Bergholde, in slov.
Sprache in Krain als sogorniki (etwa Mitweingärtner), in Steier-
mark als gormani**) (etwa Bergleute schlechtweg) bezeichnet.
Diese waren sachlich und persönlich Untertane des Bergstabes, daher
bis zu den Reformen Josefs Il. glebae adscripti. Wenn ein
solcher Weingärtner von seinem Bergherrn zu einem andern Berg-
herrn entlief, durfte ihn erster noch während zweier Jahre für sich
reklamieren. Das Verhältnis zwischen der Zahl der Mejaschen und
Bergholde war selbstredend je nach Gegend und Zeit verschieden.
Aus einem Zehentregister aus der Mitte des 18. Jahrh. haben wir für
das Gebiet einer Herrschaft feststellen können, daß etwa ein Zehntel
der Weingärtner zu den Mejaschen gehörte.
Die dritte Gruppe der Weingärtner bildeten die Inwohner (slov.
vsobenjki, auch osabeniki, eigentlich: Stubenbewohner*’).
Dies waren Leute, die aus irgendeinem Grunde ihren Besif im Tale
verlassen haben, um sich im Gaden (Weinkellerhaus) im Weingebirge
wohnlich einzurichten. Ein großes Kontingent der Inwohner haben
aber auch die Uskoken abgegeben. Dies waren Flüchtlinge aus Bos-
nien, Herzegovina, aber auch aus Kroatien, die seit dem Beginne des
16. Jahrh. aus ihrer Heimat von den Türken verdrängt und sohin ins-
ss) Vgl. Dolenc, Pravni izrazi, a. a. O. S. 81.
se) Vgl. K. Strekelj, Slovensko cesarsko odločilo iz l. 1675 (Eine
slovenische kaiserliche Entscheidung aus d. J. 1675), CZN. I, 1904, S. 28 f.
27) Vgl. über diese Bezeichnung M. Dolenc, Odkod-vsobénjki? (Wo-
her stammt die Bezeichnung v.?), CZN. XXIV, 1928, S. 165—175, Dodatna
pojasnila k vprašanju o poreklu vsobenjkov (Weitere Beiträge zur Frage
der Herkunft der vsobeniki), CZN. XXV, 1929, S. 90—94. Uber eine ab-
weichende Etymologie des Wortes vsobeniki vgl. noch Fr. Ramovš,
Osobénik, inquilinus, advena, in Casopis za slovenski jezik, književnost in
zgodovino (Zeitschrift für die slovenische Sprache, Literatur und Geschichte),
VII. Ljubljana 1928, S. 171, 172.
509
besondere an den Siidabhangen des Gebirges an der Grenze Krains
kompakt angesiedelt wurden**). Man wollte sie als eine ständige
Militärhilfe gegen die türkischen Invasionen zur Hand haben. im
Verlaufe der Zeit mußten sie sich aus Not einen anderen Erwerb
suchen und fanden ihn vielfach als Weingartenarbeiter, wobei sie eine
dirftige Unterkunft in den Weingarten oder wenigstens in ihrer Nahe
bezogen. Sie waren von sämtlichen Steuern und anderen Giebig-
keit befreit. Im allgemeinen waren alle Inwohner Habenichise und
vielfach dem Müßiggang ergeben; nicht selten waren unter ihnen auch
eigentumsgefährliche Individuen. Bei den Bergherren waren daher
diese Inwohner (ab und zu auch „Untersassen‘ genannt) nicht beliebt.
Wenn sie einheimische Leute waren, die einer anderen Bergbehörde
entlaufen waren, entstanden dem neuen Herrn häufig sehr unange-
nehme Prozesse.
Die Bergherren fanden im Art. 20 des Original-BGB. einen guten
Anhaltspunkt, um die Besiedlung der Weingebirge mit Inwohnern
oder Untersassen hintanzuhalten. Hier stand es, daß diejenigen, die
mit „aigem Rucken im perkrecht gesessen“, den Weinberg zu ver-
lassen und sich auf ihre Huben zu begeben haben v]. Nun ist der
Ausdruck „mit aigem Rucken“ dahin zu verstehen, daß dies Leib-
eigene waren, die mit eigenem Rauche (Ofen, Herd) dienten). Die
Bestimmung des zitierten Artikels hatte daher den Sinn, wer im Tale
oder sonstwo außerhalb des Weinberges das Rauchgeld als Steuer
zahlte, soll auf seinem Besitztum bleiben und darf nicht als Inwohner
auf den Weinberg übersiedeln. Welche Schwierigkeiten sich bei der
Übersetzung der Stelle „mit aigem Rucken“ ins Slovenische ergaben,
mag daraus entnommen werden, daß zwar die älteste Rezl-U. (1582)
noch die wörtliche Wiedergabe der Wendung „mit eigenem Rücken“
bringt, alle nachfolgenden aber die Sache so umschrieben haben, als
ob es sich schlankweg um Weinbergbewohner im allgemeinen handeln
würde, was selbstredend keinen vernünftigen Sinn ergab. Zwei Uber-
sefungen {Layb-U. und Ainodi-U.) haben aber die Sache dahin ver-
einfacht, daß sie an die besagte Stelle „osabeniki“ (gleich: In-
wohner) sekten. Allerdings wurde dadurch instinktiv der Unver-
ständlichkeit des Anfangsabes des Artikels 20 zum Troge das richtige
gelroffen. Gemeint waren ja die Ofen bzw. Herde (mit dem Rauch-
fange), die im Weinkellergebäude errichtet werden mußten, um darin
eine Stube oder Wohnung zu schaffen. Noch heute wird auf den
Sudabhangen des Uskokengebirges zum symbolischen Zeichen, daß
28) Vgl. J. Mal, Uskočke seobe i slovenske pokrajine (Die Siedlungen
der Uskoken und die slovenischen Gebiete), Srpska Kraljevska Akademija,
Srpski etnografski Zbornik XXX (Naselja i poreklo stanovništva 18). Ljub-
jana 1924
29) Mell, Weinbergrecht, S. 126.
30) Siehe J. Schatz, Glossar zu den 5 Weis-
tümern, Österreichische Weistümer XI, Wien 19t3, S. 702, O. H. Sto-
wasser, Niederösterreichische Weistumstexte, Wien 1925 (— Osterreichische
me Nr. 9), S. 19. Eine andere Ausdeutung des Ausdruckes ergäbe
einen Sinn.
510
die Hauskommunion (Zadruga) zu bestehen aufgehört hat und die
dazugehörigen Familien fortan geirennt leben wollen, der gemein-
same Herd zerstört. Allein wenn auf der einen Seite die Bergherren
diese Inwohner aus dem Weingebirge hinauszuschaffen besirebt
waren, so glaubten die Weingärtner auf der anderen Seite, insbeson-
dere diejenigen, die nicht ständig geradezu im Weingarten wohnten,
ohne die Inwohner als ständige Taglohner nicht auskommen zu
können. Diese Gegensätze der Interessen haben sich insbesondere
dort ausgebildet, wo nicht die verhaßten Uskoken den Haupfanfeil
der Inwohnerleute ausmachten. Während noch in der zweiten Hälfte
des 18. Jahrh. im Ainodter Gebiet Urteile des Volksgerichtes erflossen,
die die Ansiedlung der Inwohner verboten, weil sie Uskoken waren,
ja selbst einer einheimischen Frau die Errichtung eines Herdes in
dem Weinkellergebäude energisch untersagten, haben sich im Land-
straßer Gebiete schon in dem Jahre 1705 auf einem BT. wüste Szenen
abgespielt, weil der Bergherr — es war der Zisterzienserabt aus
Landstra — die Entfernung sämtlicher Inwohner aus den Wein-
gebirgen verlangte: das BT. wurde gewaltsam verhindert. Nun kam
es im Gebiete des Unterlaufes des Flusses Gurk wiederholt zu Er-
örterungen bezüglich der Inwohnerfrage. Da handelte es sich offen-
sichtlich um einheimische Inwohner und nicht um Uskokenflüchtlinge.
Schließlich erzielten die Weingariner im Jahre 1784 eine Kompromiß-
lösung, nämlich, daß jeder Weingärtner je einen Inwohner im Wein-
gebirge für sich behalten dürfe. So hat das Volksrecht die Bestim-
mungen der Bergrechtsartikel außer Kraft gese§t**). Auf diese Weise
wurde eine Nivellierung der ursprünglich bedeutenden Unter-
schiede zwischen den Weingärtnern und Inwohnern in die Wege ge-
leitet, um schließlich und endlich durch die bekannten Reformen
Josefs Il. zur Gänze durchzudringen.
Allein auch die Unterschiede zwischen den Mejaschen und den
Bergholden, die vor dem 16. Jahrh. gewiß noch viel deutlicher waren,
verloren im Laufe der Zeit an Bedeutung. Schon die Ausdrucksweise
des Original-BRB., die Berggenossen und Bergholden nicht scharf
auseinanderhält, weist auf den beginnenden Ausgleichungsprozeß
hin. Nun ergab es sich in der Praxis, daß die Bergherren, die selbst
auf dem BT. den Vorsitz zu führen gehabt hätten, im Laufe der Zeit
bloß ihre Abgesandten dorthin schickten; ja, bei einigen Berg-
behörden ergab sich dies von selbst, zum Beispiel bei der Herrschaft
in Seisenberg, da die Grafen (seit Anfang des 18. Jahrh. Fürsten)
Auersperg ständig außerhalb ihres Herrschaftsgebietes wohnten. So
wie diese Bergherren, unterliegen auch adelige Mejaschen den per-
31) Allerdings hat ein hervorragender Okonom und Gelehrter, der selbst
Bergherr war, Franz Anton Edl. von Breckerfeldt aus Alten-
burg bei Rudolfswert, in einem Berichte an die k. k. Landwirtschaftsgesell-
schaft für Krain in Laibach noch im Jahre 1781 eine Reformierung des BRB.
verlangt und dabei das Verbot des Haltens von Inwohnern beizubehalten
geraten, obschon dadurch den Bergherrn „der Rauchgulden“ entgehen
wurde. Der Bericht befindet sich im Nationalmuseum zu Laibach.
511
sönlichen Besuch des BT.; auch sie schickten ihre Bediensteten als
Vertreter zum Volksgerichte. Freilich geschah dies nicht überall ın
gleichem Maße. In einigen Protokollen, z. B. von den Bergbehörden
Landstraß und Klingenfels, werden die Ausdrücke Mejaschen und
Bergholde schon seit dem 17. Jahrh. zum Teil promiscue gebraucht,
zum Teil gleichgestellt und für die wirklich persönlich freien
Weingärtner der Ausdruck „Freisassen“ ausgeführt. Aus anderen
Bezirken, insbesondere aus Weißkrain (südlich des Uskokengebirges)
zeigen uns aber die Protokolle aus dem Jahre 1728 eine sehr deut-
liche Unterscheidung zwischen Mejaschen und Bergholden. Die ersten
werden mit „ehrsame“ Mejaschen tituliert, während die Urkunden
hinsichtlich der Bergholden immer nur von „arbeitsamben“ Berg-
holden sprechen. Die Mejaschen durften der Bergbehörde Ratschläge
erteilen; sie hatten das Recht, das Bergrecht als Steuer nicht in
natura abzustatten, sondern in Geld zu reluieren. Auch im Klin-
genfelser Gebiete nennt man noch im Jahre 1744 die Mejasche „ehr-
same“. Noch am 4. September 1787 werden in einem Protokolle der
Herrschaft Ainödt die Gruppen der Mejaschen und Bergholde im
Sinne unserer Auffassung auseinandergehalten. Interessant ist es,
daß Heinrich Georg Hoff eine deutsche U. der im Laibacher
Museum vorfindlichen slov. U. der Bergrechtsartikel anfertigte und
die Ausdrücke ,sogornik“ und „meja3“ mit „Weingärtner“ und
„Bergnachbar“ verdolmetschie, wobei ihm beide als gleichbedeutende
Begriffe galten, — allerdings dürfte er den deutschen Urtext nie zu
Gesichte bekommen haben??).
ll. Nach diesen grundsätzlichen Erörterungen können wir uns nun
der Frage der Dingpflicht zuwenden. Der deutsche Urtext (1543)
sagt im Art. 14: „Ain jeder“ (ohne Beisab) habe auf das Bergtaiding
zu kommen oder an Stelle seiner einen andern zu schicken, sonst
trifft ihn eine Geldbuße von 72 Pfennigen. Hierzu kommt noch ein
motivierender Beisak: man sei nicht schuldig, „jedem besonder für-
zubieten“, damit er da sei und hore, ob welche Klagen gegen ihn
vorkommen würden»). Die Rezl-U. (1582) hat diese Bestimmungen
wortwörtlich gebracht*4). Die Beradt.-BO. (1595) blieb desgleichen in
demselben Rahmen, nur sagt sie: Ein jeder Berghold habe zu er-
scheinen). Die Layb.-U. (1646) hat die Sache vereinfacht; es heißt
da, ein jeder Berghold habe persönlich zu erscheinen; die Bestim-
mung, daß ein Stellvertreter abgesendet werden darf, und die Moti-
vierung, warum dies so bestimmt werde, fiel unter den Tisch. Jeden-
falls ist in den beiden lektgenannten Texten die Dingpflicht für die
33) H. G. Hoff, Historisch-statistisch-topographisches Gemählde vom
Herzogthume Krain, Laibach 1808, Il. B., S. 17—31, siehe Art. XIII., XIV,
XV. etc., die infolge der Verwechslung der Begriffe nicht richtig verstanden
werden können.
33) Mell, Weinbergrecht, S. 118.
5 eer Art. 14, ed. Oblak, a. a. O. S. 183 f., ed. Koblar, a. a
35) Beradt. BO. Art. 14, unten Anhang I.
512
i
=
=:
1a
— M om =
8 Ww A E OER. oe
Mejaschen nicht mehr aufrechterhalten. Die Möglichkeit, daß ein
Berghold einen Ersatzmann schicken dürfe, fand vielleicht deswegen
keine Berücksichtigung, weil ohnehin alle Bergholde auf dem Wein-
gebirge ansässig waren. Die Kapsch-U. (1683) sagt in ihrem Art. 11,
ein jeder Berghold habe persönlich anwesend zu sein oder einen
rechischaffenen Mann zu schicken. Die Ehegattin könnte nach dieser
Textierung den Berghold nicht vertreten; übersehen wurde aber da-
bei, daß es auch weibliche Weingartenbesiker gab. Wohl brachte
dieser Text auch die Motivierung der Bestimmung. Die Stud.-Bibl.-U.
(Mitte des 17. Jahrh.) halt sich an den Text der Beradt.-BO. und sagt,
ein jeder Berghold habe selbst zu erscheinen oder einen anderen zu
schicken; die Begründung wird beibehalten). Die Mus.-U. (18. Jahrh.,
vor 1781) bringt die Wendung, ein jeder Mejasch oder Berghold
müsse persönlich erscheinen oder einen rechtschaffenen Ersabmann
schicken; die obgedachte Motivierung fehit. Im Wagensb.-Torso (An-
fang des 18. Jahrh.) wurde ein ganz neuer Gedanke zum Ausdruck
gebracht; es heißt da, ein jeglicher (also sowohl Mejasche als auch
Berghold) müsse persönlich erscheinen und dürfe sich' nicht durch
einen Ersatzmann vertreten lassen. Die Motivierung lautet selbst-
redend nunmehr ganz anders: Sollte der Bergherr aus dem Grunde,
weil ein Weingärtner nicht erschienen ist, jemand besonders zum
Bergtaidinge zu kommen auffordern, so verfällt dieser einer Geld-
buße, doch könne ihn der Bergherr aus wichtigen Gründen immerhin
von der Strafe „verschonen“. Das Wagensb. Exzerpt sagt im Art. 6
bloß, daß derjenige Mejasche, der zum BT. nicht kommt, gestraft
werden wird:]. Die Ain.-U. betont bloß die Pflicht, persönlich zu er-
scheinen. Die Übermurg.-U. (zirka 1809) geht vom Standpunkte aus,
es müsse allen Familienvorständen anbefohlen werden, zum BT. zu
erscheinen; die entfernt wohnenden müssen 10 Tage vorher aufge-
fordert werden; wer nicht erscheint, wird bestraft.
Die obigen Feststellungen zeigen deutlich, wie das Gewohnheits-
recht in den verschiedenen Gebieten im Laufe der Zeit die Lösung
dieser Kardinalfrage umzuändern verstand. Die Grundlinien weisen
aber sicher darauf hin, daß ursprünglich ein jeder, ob bloß persönlich
oder sachlich und persönlich Untertane des Bergstabes, am Berg-
taidinge teilzunehmen hatte, daß aber, vornehmlich wohl die nicht im
Weingebirge wohnenden Mejaschen (Berggenossen), einen Stellver-
treter schicken durften. Später, als die Grenzlinien zwischen den
Bergholden und Mejaschen verwischt zu werden begannen, sind die
Weingärtner der höheren Standesgruppen nur dann persönlich er-
schienen, wenn sie aus besonderen Gründen etwas auf dem Berg-
taiding vorzukehren hatten. Alles dies bestätigen nun auch die Pro-
tokolle. Selbst ein Graf Barbo (Kroisenbach) oder ein Edler
von Breckerfeldt hat als Mejasch am Bergtaidinge teilgenommen.
Sehr häufig werden Gutsverwalter, Pfarrer, Kaplane oder Stadter
s) Stud.-Bibl.-U. Art. 19, ed. Oblak, a. a. O. S. 301.
87) Wagensb.-Torso Art.14, Exz. Art. 6, ed. Dolenc, a.a. O. S. 103, 104.
514
(ein Doktor medicinae und dergl.) als anwesende Parteien und Wein-
gartenbesiker erwähnt. Allerdings muß angenommen werden, daß
alle diese ein Interesse ad hoc zur persönlichen Teilnahme drängte,
weil sie sonst bloß einen Stellvertreter geschickt haben würden. In
der Tat treten sie vornehmlich als Kläger oder Beklagte auf, hie und
da aber auch als Beschützer ihrer eigenen Untertanen, die eine Klage
vorzubringen oder abzuwehren hatten. Man kann übrigens an-
nehmen, daß solche vornehme Parteien von einer wider sie bevor-
stehenden Klage noch vor dem BT. benachrichtigt werden mußten.
Klar und unbestritten war aber die Dingpflicht der Bergholden, die
das Bergrecht zu entrichten hatten; ihre Pflicht wurde nie gelockert.
Dies war auch das Kriterium, an dem die Weingärtner bei dem oben
erwähnten Beschlusse vom 16. März 1767 festgehalten haben, näm-
lich, daß alle Weingärtner, die um Bergrecht dienen, auch selbst am
Bergtaidinge des 29. September des gleichen Jahres erscheinen und
ihre Angelegenheiten austragen würden, sofern die Bergbehörde das
BT. nicht mehr selbst verkündigen wollte. Ein halbes Jahrhundert
später, allerdings in einer anderen Gegend, in Ainödt und in Weiß-
krain, wurden die Namen sämtlicher Weingärtner zu Anfang des BT.
verlesen, die fehlenden festgestellt, um sie der Bestrafung zuzu-
führen.
87. Die übrigen Volksgerichte.
Hinsichtlich der Quatembergerichte ist es klar, daß die
Bestimmungen des BRB. an und für sich für sie keine Geltung haben
konnten. Um so bemerkenswerter erscheint die Tatsache, daß in
den Protokollen über die Quatembergerichtsverhandlungen dennoch
auch Zitate der Bergrechtsartikel vorkommen. Nun sind die lebt-
gedachten Protokolle in das gleiche Buch eingetragen worden wie
die Bergtaidingprotokolle. Auch muß fur den Großteil der in Frage
kommenden Gebiete angenommen werden, daß wohl zwei Drittel,
wenn nicht gar drei Viertel aller dauernd angesiedelien Bewohner
Weingärten besaßen. Man kann daher ruhig annehmen, daß das
Volksrecht, das sich auf Grundlage des BRB. entwickelte, als Volks-
recht für alle Bewohner des Gebietes, ob Weingärtner oder schlecht-
weg Bauern oder Handwerker, gleichmäßig seine Geltung bean-
spruchte, daß es daher als Volksrecht kat’exochen angesehen
wurde. Nur so kann man es verstehen, daß Appellationen von den
BT. an das Quatemberrecht, desgleichen aber auch umgekehrt Be-
rufungen vom Quatemberrecht an das BT. als höhere Instanz ab und
zu vorkamen. Hieß es ja im Schwabenspiegel, eine gute Gewohnheit
sei ebenso gut wie ein geschriebenes Geseg§.
Da nun die Quatemberrechte (gleich -gerichte), wie der Name
besagt, in jeder Quatemberwoche, zum Beispiel in Landstrag an
jedem der Quatembermittwoche, in der Kirche zusammenzutreten hatten,
so war es ein leichtes, die Zeit und den Ort dieser Taidinge gewohn-
514
= ff
se PF oo eR ee fw AO p
heitsmäßig aufrechizuerhalten. Sie wurden, wenn nicht in der Kirche,
so doch bei der Kirche abgehalten.
über die Dingpflicht sind wir in Ansehung der Quatemberrechte
wenig informiert. Die schriftlichen Quellen versagen, weil allbekannte
Bestimmungen in die Gerichtsprotokolle nicht eingetragen wurden,
sie versiegen aber auch bald, weil die Quatemberrechte im Laufe des
17. Jahrh. wahrscheinlich überall abgestellt worden sind. Die Analogie
mit den Bergtaidingen weist allerdings dahin, daß auf den Quatember-
gerichten alle Burgfriedenleute, seien es ländliche Besitzer, seien es
städtische Bewohner, zu erscheinen hatten, zumindestens aber jene,
die von der Herrschaft oder von der Gegenpartei zum persönlichen
Erscheinen aufgefordert wurden. Waren doch die Quatemberrechte
bloß für die Erledigung von anhängig gewordenen Klagen bestimmt,
während die Bergtaidinge, wie noch später des näheren erörtert
werden soll, vorzüglich auch autonome Verwaltungsgeschäfte aus-
zuüben hatten.
Die Billichrechte, die für das Landstraßer und Pletriacher
Herrschaftsgebiet urkundlich nachgewiesen sind, wurden in jedem
Jahre bloß einmal abgehalten und dies stets am „Erchtage“ nach
Pfingsten (Pfingstdienstag). Die Ähnlichkeit der Billichrechte mit den
BT. ist allerdings insofern gegeben, als beide reine Kausalgerichte
waren. Nichtsdestoweniger geben die Protokolle über die Billich-
rechtstagungen keinen Aufschluß, wer an ihnen teilzunehmen ver-
pflichtet war. Wir neigen zur Annahme, daß nur jene Bewohner der
Dörfer und Siedlungen an den Berghangen des Uskokengebirges
erscheinen mußten, die wegen eines bevorstehenden Prozesses be-
sonders aufgefordert wurden, weil sie sich in einen Rechtsstreit
wegen der Jagd auf Billiche verfangen haften“).
il. Die innere Organisation der Volksgerichte.
A. Bestimmungen der Bergrechtsbüchel.
88 Allgemeine Charakterisierung.
Die slovenischen Volksgerichte des 16., zum Teil auch noch des
17. Jahrh. weisen Grundzüge auf, die die von Karl dem Großen ein-
geführten Gerichte kennzeichneten. Wir müssen annehmen, daß die
Slovenen schon in der Zeit vor der Unterjochung Carantaniens ihre
Zupanengerichte besaßen, auf denen die allgemeinen Fragen im
Interesse der gesamten Z up a erörtert wurden, während die Streitig-
keiten der einzelnen Familienkommunionen deren Ortsgerichte regel-
ten®). An diese Organisation mußten die Franken ihre Reformen
2% Schon hier sei erwähnt, daß „nach dem Landgebrauch“ das Rechts-
institut des „Besuchens“ galt, d. h. bevor die Klage anhängig gemacht
wurde, mußte der Gläubiger den Schuldner wegen allfälliger gütlicher Be-
reinigung des strittiigen Anspruches aufsuchen.
%) Vgl. L. Hauptmann, Das Schöffentum auf slowenischem Boden;
„ des Historischen Vereines für Steiermark, X, Graz 1912, S. 181
is :
515
anknüpfen. Sie führten ihre Thinge ein, geboten die allgemeine
Pflicht, hierzu zu erscheinen, ließen aber nur besonders ausgewählte
Männer die Urteile in Streitsachen schöpfen“). Aus dieser Form
haben sich die Wotschengerichte für die allgemeinen Rechtsange-
legenheiten in den Talsiedlungen, die Bergtaidinge in den Wein-
gebirgen entwickelt, wo eine Kausalgerichtsbarkeit mit Rücksicht auf
die besonderen Verwaltungsumsiande geboten erschien. Diese
Grundlinien des Werdeganges finden ihre Bestätigung vorzüglich ın
dem Umstande, daß der Prozeß auf den Bergtaidingen keineswegs
dem kanonischen Summarprozesse nachgebildet erscheint. Es kann
nicht der geringste Anhaltspunkt ins Treffen geführt werden, daß der
Grundsatz gegolten habe: „Simpliciter et de plano ac sine strepitu
ac figura iudicii.“ Im Gegenteil! Der Summarprozeß auf dem BT.
hat die fränkische Form der Prozeßführung intakt gelassen, denn
der mündlichen Klage folgt die Antwort des Beklagten, beiden die
Beweisführung ohne jede schriftliche Aufzeichnung, worauf es sofort
zur mündlichen Verkündigung kommt.
Allerdings drängt sich die Frage von selbst auf, warum sich
gerade unter den Slovenen Unterkrains dieses Institut mit seinen
fränkischen Wurzeln jahrhundertelang bis zur großen Kodifikations-
ara am Ende des 18. Jahrh. erhalten konnte. Die Antwort hat zu
lauten: Der slovenische Bauer und Weingariner war ungemein kon-
servativ veranlagt gewesen, da er von allem Anfang mit Rücksicht
auf die große Abgeschlossenheit seines Siedlungsgebietes und auf
die häufigen Turkengefahren auf sich selbst angewiesen war, zumal
die adligen Herrschaftsbesifer seine Sprache selten oder auch gar
nicht beherrschten. Auch bedeutete das BRB. als eine Kodifikation
der Rechtsregeln, die sich im Zeitalter der großen Bauernunruhen
geltend machten, eine Errungenschaft des niederen Volkes, eine
Magna charta libertatum und genoß deswegen eine große
Autorität. Die ältesten uns bekannten Bergtaidingsprotokolle da-
tieren ja aus dem Jahre 1590 und entstammen einem Gebiete — Land-
straß —, wo noch viele Weingärtner persönliche Erinnerungen mit
dem am 15. Februar 1573 in Agram (5 Stunden Gehwegs von Land-
strak entfernt) hingerichieten ,,Bauernkonig“ Mattias Gubec ver-
banden. Schließlich ist es nicht zu verkennen, daß auch unter den
Slovenen, wie auch bei anderen Völkern, der Spruch gegolien hat,
daß es unter dem Krummstabe gut zu leben sei. Allerdings haben
die vielen Klöster die Bauern als Verteidiger gegen die Türken-
invasionen benötigt und ihnen ihre Rechte — vornehmlich in den
ersten in Betracht kommenden Jahrzehnten (etwa bis 1650) — gerne
40) Freilich konnte diese Neuordnung dabei wahrscheinlich in weitem
Umfang bereits vorhandene, gemeinslavische Rechisinstitute benuken; zu
ihnen ist jedenfalls die Heranziehung ausgewählter Vertreter der dingpflich-
tigen Bevölkerung zur Urteilsfindung zu zählen. Vgl. über verwandte Er-
scheinungen auf kroatischem und serbischem Boden WI. Namystowski,
Die Teilnahme der Bevölkerung an der Rechtssprechung in den mittelalter-
lichen kroatischen und serbischen Ländern, Jahrbücher für Kultur und Ge-
schichte der Slaven N. F. Ill, 1927, S. 345— 364.
516
belassen, dadurch aber eine solche Lage geschaffen, daß auch die
weltlichen Herrschaftsbesiger sich ähnlich verhalten mußten.
Wenn es heißt, die Grundzüge der BT. zu charakterisieren, muß
im voraus noch deren zweifache Funktion hervorgehoben
werden: Sie waren als Vollversammlungen aller Wein-
gartner das autonome Verwaltungsorgan für alle
gemeinschaftlichen Angelegenheiten einer- und
vorzüglicherseits, anderseits aber waren sie in
derFormdes den „Ring“ bildenden Kollegiums der
auserwählten Repräsentanten der Vollversamm-
lung das Organ zur Ausübung der Justiz für die
Rechtsstreitigkeiten der einzelnen Weingärtner.
89 Die Bestimmungen des Original-BRB.
Die steirischen Landstände entwarfen das BRB. auf Grund ge-
wisser Voraussetzungen, die sie als allgemein bekannt und unzweifel-
haft gultig erachteten. Im Art. 1 wird vom Bergherrn gesprochen
und bestimmt, er solle „solch recht (d. h. das BT.) mit seinen perk-
holden“ besefen. Im Art. 17 werden aber diese Richter als „Perk-
genossen“ bezeichnet). Welche Zahl der Richter notwendig war, gibt
das BRB. nicht an. Auch die Zahl wird als bekannt vorausgesegt.
Der Bergherr wurde nämlich angewiesen, im Falle, daß er die er-
forderliche Anzahl aus dem in Frage kommenden Weingebirge nicht
zur Verfügung hat, sie aus anderen Weinbergen zu nehmen. Da
kann gefragt werden, ob unter den anderen Weinbergen bloß die
eigenen oder auch solche unter fremden Bergstäben stehenden ge-
meint waren. Die Praxis hat diese Frage im Sinne der zweiten
Variante gelöst..
Neben den beiden eben erwähnten Instituten — Bergherr und
Bergrichter — werden im BRB. im Art. 21 und 29 der „Hergmeister“ “)),
im Art. 27 der „Hubmeister“ ), im Art. 48 der Bergsuppan oder
Bergmeister genannt»). Außerdem finden wir im Art. 51 die Aus-
drücke „Paumann“ und „geschworn pauleut und perkgenossen“*), die
nach dem Sinne nichts anderes bedeuten können als Weingariner*’).
41) Mell, Weinbergrecht, S. 109, 122.
83) So lautete 2. B. das „Gemein Urtl“ vom 23. April 1730 auf einem BT.
des Klingenfelser Bergstabs, die Strafandrohung fur Viehschaden habe zu
gelten, „sowohl in den Klingenfelsischen als in des woll Ehrwiirdig Herrn
Sigmundien Khinskyschen Perkrechts jurisdiction, massen von beyden das
Assessorium gewest”.
3) Mell, Weinbergrecht, S. 129, 134.
“) In der Wiedergabe des BRB.-Textes bei Mell, O. S. 133,
dürfte im Art. 27 durch einen Druckfehler aus „Hubmeister“ - — e
geworden sein. Im Verzeichnisse der Worte und Sachen auf Seite 151 steht
richtig „Hubmeister“ mit dem richtigen Fundort „Art. 27“.
s) Mell, Weinbergrechi, S. 143.
s) Mell, Weinbergrecht, S. 145.
37) Das ergibt sich u. a. aus der von Mell, Weinbergrecht, S. 128, zu
Art. 20 angeführten Urkunde von 1360.
21 NF 5 817
Nach Art. 4 hatten die angeführten Faktoren das BT. als ein „ordent-
lich Gericht wie von alter herkommen“ zu halten, also als das Gericht
der ersten Instanz, „wo all Sachen so das perkrecht beruhrt vur-
genommen und gehandit werden‘).
Als zweite Instanz hatte das Amt zu handeln „der Kellermeister“,
(Art. 60, bzw. „des Landsfursten Kellermeister“ (Art. 28), als dritte
der „Landshauptmann, landsverweser und vizedomb“, allein nur in-
soweit „solches ir kuniglich majestat bewilligt“ (Art. 28)*). Doch die
hier angeführte Organisation hat das BRB. nur in betreff der gericht-
lichen Funktionen begründet und auch dies nicht erschopfend. Die
Praxis haf neben dem Bergherrn noch andere Gerichtsfunktionare
ins Leben gerufen: den Schriftführer, die Delegaten, die unpartei-
ischen Richter, den Gerichtsaltesten, die Referenten für Urteile,
weiter in Ansehung der Beschlüsse der Vollversammlung — die Re-
ferenten des „Gemeinurtels“, in Ansehung der Exekutionsdurch-
führung die Petschafter, auch „Weinzedl“. Uber die Bedeutung
dieser Funktionäre soll erst später gesprochen werden.
8 10. Bestimmungen der slovenischen
Übersetzungen.
Pfarrer Andreas Rez! (Rezl- U.) hat die Ausdrücke Bergherr
und Bergholden sprachlich richtig ubersebt („gorski gospod“
bzw. „ogorniki“). Bloß die Wendung „die erste Instanz“ wurde
übersebt, als ob es hieße „die rechte Instanz“ (Art. 4). Im Art. 17,
wo steht, daß die Entscheidungen (,,erkantnus“) die Perkgenossen
zu schöpfen haben, gebraucht Rezi denselben Ausdruck wie im
Art. 1 für die „Perkholden“. Im Art. 13 wird in der Wendung „on
urlaub aines Perksuppan“ dieser Funktionär einfach mit dem Aus-
druck für Bergmeister bezeichnet. Der Ausdruck „Hubmeister“ wurde
als unübersekbar einfach mit demselben deutschen Worte wieder-
gegeben (Art. 27). Im Art. 48 sind die beiden Ausdrücke „perk-
suppan oder perkmeister“ sprachlich sinngemäß richtig wieder-
gegeben. Im Art. 51 wird ,,paumann“ mit einem dem deutschen Be-
griffe des Hauswirts adäquaten Ausdrucke („gospodar“), die „ge-
schwornen pauleute“ mit einem dem Begriffe „beeidete Weingärtner“
adäquaten Worte (,sapersesheni vinogradarye') wieder-
gegeben®!).
In der Beradt. BO. (1595), die in demselben Formularienbuche
von derselben Hand wie die Layb.-U. niedergeschrieben wurde, ist im
Art. 1 wie auch im Originale nur von ,,perckholden“ die Rede“). In
4) Mell, Weinbergrecht, S. 112.
a) Mell, Weinbergrecht, S. 112.
se) Mell, Weinbergrecht, S. 133 f.
81) Rezl-U. Art. 4, 17, 1, 13, 27, 48, 51. ed. Oblak, a. a. O. S. 182, 184,
181. 183, 186, 189, 190, ed. Koblar, a. a. O. S. 14, 151, 147 f., 150, 153, 156.
53) Unten Anhang I.
518
der Layb.-U. steht es aber ,Sagornike ale Meiasche“ gleich
Bergholden oder Mejaschen, wobei aber aus fremden Weingebirgen
bloß Mejaschen zu nehmen erlaubt war, was gleichfalls einen Beweis
für die Unterscheidung zwischen Bergholden und Mejaschen be-
deutet. Im Art. 25 der Beradt. BO. steht nicht mehr „Hubmeisfer“,
sondern Kellermeister®). In der Layb.-U. wurden die Ausdrücke
Baumann und geschworene Bauleute nicht übersekt, sondern um-
gangen. Die Stelle, wo die Urschrift vom Hubmeister spricht, ließ
Laybasser unübersekt. Bezüglich der übrigen slov., übrigens
weniger bedeutungsvollen Übersekungen wollen wir der Kürze
halber ein gemeinschaftliches Bild ihrer Bestimmungen entwerfen,
sofern sie für den inneren Aufbau der Volksgerichte in Betracht
kommen und von der Layb.-U. stark differieren.
Die beiden Ausdrücke Berghold und Berggenosse wurden pro-
miscue bald mit „sogorniki“, bald mit „mejas“ übersebt,
was mit unseren obigen Fesistellungen im Einklange steht, daß die
Standesgruppen mit der Zeit ausgeglichen worden sind. Das Berg-
recht als Gericht wird mit „gorska pravda“ übersetzt, was soviel
als Recht oder Gerechtigkeit heißt]. Die Kapsch-U. besagt, daß das
Bergrecht vom Bergherrn mit seinen eigenen Mejaschen zu besefen
sei, auf das Bergtaiding müssen alle Bergholden kommen. Die
Mus.-U. drückt sich umgekehrt aus, daß auf das BT. alle Mejaschen
kommen müssen, während das Gericht von den Bergholden gebildet
wird. Der Wagensb.-Torso erwähnt bloß die Bergholden, das
Wagensb.-Exzerpt überhaupt nur die Mejaschen, doch bringt es keine
Bestimmungen uber die Besetzung des Gerichtes. Die Sfud.-Bibl.- U.
kennt als Richter nur Bergholde, der Ausdruck Mejasch wird nur dort
angewendet, wo er als Übersekung für „Anrainer“ zu dienen hat.
Als Bezeichnung einer besonderen Standesgruppe der Weingärtner
kommt er nicht vor. In der Weißenst.-U. begegnen wir zum ersten
Male der Bestimmung, daß die Zahl der Richter zwölf zu betragen
habe, die Bergholde oder Mejaschen sein können. Doch ist hier auch
die Rede einmal von einem Erkenntnis der Mejaschen, das andere
Mal vom Erkenntnis der Mejaschen oder Bergholde Die Ain.-U.
gebraucht bloß die Bezeichnung Mejaschen, spricht aber wohl, wie
schon oben erwähnt, von „osabeniki“ gleich Inwohner, die aller-
dings in indirekter Weise von der Teilnahme an der Richterbank
ausgeschlossen waren. Die jüngste Übersekung aus dem Übermur-
gebiete kennt „hegyszek“, was in der magyarischen Sprache
Berg + Stuhl, also Bergstuhl (Bergtaiding) zu bedeuten hat; weiters
erwähnt sie den ,hegy-biro“ gleich Bergrichter, der in einer
Wendung auch Ritar, recte Richtar gleich Richter genannt
wird, verlangt auch 12 „esküt“, d. h. Richterbeisiker, spricht aber
63) Unten Anhang I.
%) Dasselbe Wort (pravda) kennen wir aus dem Kampfrufe des „Win-
dischen Bauernbundes“ zu Anfang des 16. Jahrh.: „Aus irer gemain, theten
sy schreien „Stara pravda“. „Ain newes lied von den kraynerischen
bauren“, veröffentlicht von J. Bleiweis, LMS. 1877, S. 200 f.
319
durchwegs von Mejaschen, Bergholde werden in dieser Übersekung
überhaupt nicht erwähnt.
Das Institut des Bergmeisters ist in allen Übersekungen bekannt
und wird mit „gornik“ oder in der Ain.-U. mit „gors che k“ über-
sekt, was aber gleichbedeutend ist. Nur die Übermurg.-U. bedient
sich der wortwörtlichen Übersekung des Ausdruckes, indem es den
Bergmeister mit ,hegy mester“ bezeichnet. Die Bezeichnung
Bergsuppan des Originals des BRB. wird nur in der Rezl-U. in einem
Fall richtig mit „gorski Župan“ übersetzte), überall sonst aber
wird der Begriff auch sprachlich mit „gornik“ (Bergmeister) iden-
tifiziert.
Das Amt des Hubmeisters (eines landesherrlichen Rentenver-
walters) war in Krain nicht bekannt: infolgedessen ist in den
slov. 0.57) statt seiner der „Grundherr“ (Kapsch-U.) oder der Berg-
meister (Stud.-B.-U.)®®) genannt. Die Beradt BO. ersebt sinngemäß
den Ausdruck „Hubmeister“ durch ,Kellermeister“*).
Alle Ubersebungen bezeichnen konform dem Urtexte das BT. als
die rechte oder die erste Instanz, auch „ordentliches Gericht“. Eine
Sanktion für die Nichtbeachtung dieses Gerichtes steht aber nur in
der Übermurg.-U. Diese sagt nämlich im Art. 14: „Wer mit Umgang-
nahme des Bergrichters und der Beisitzer sofort seinen Bergherrn
oder Gebieter angeht, das Bergtaiding aber verwerfen würde, wird
zur Geldbuße von 2 Gulden verurteilt.“ Hierbei ist noch hinzu-
zufügen, daß nach dieser Übersekung nicht der Bergherr, sondern
der hegymester (gleich Bergmeister) allein die Bergtaidinge zu
verkünden hatte.
B. DieBergtaidingeinder Praxis.
§ 11. Der Bergherr.
Aus den Protokollen betreffend die bergrechilichen Prozesse
lassen sich deutliche Unterschiede zwischen den Verhältnissen er-
kennen, die nach den gesetzlichen Bestimmungen eintreten müßten,
ss) Rezi-U. Art. 48, a. a. O.
s) Vg. F. v. Krones, Landesfurst, Behörden und Stände des Herzog-
thums Steier 1285—1411, Forschungen zur Verfassungs- und Verwaltungs-
geschichte der Steiermark IV, 1, Graz 1900, S. 189, Mell, Grundriß, Heft 4
1929, S. 174. Zur Tätigkeit des Hubmeisters in Bergrechtssachen vgl. auch
die Berufung des Bergtaidings im Grazer Hubamte, Ende des 15. Jahrh,
Steirische Taidinge (Nachträge), herausgegeben von A. Mell, und E. Frhrn.
v. Müller, Österreichische Weistumer X, Wien 1913, S. 201—203, Nr. 34.
67) Mit Ausnahme der wörtlichen Rezl.-U., die in Art. 27 (ed. Oblak,
a. a. O. S. 186, ed. Koblar, a. a. O. S. 153) vom „huebmastr“ spricht.
88) Stud.-B.-U. Art. 27 (ed. Oblak, a. a. O. S. 304).
se) Art.25, unten Anhang I. Entsprechend hat schon das BRB. in Art. 44,
Mell, Weinbergrecht, S. 140 f., den „huebmaister zu Grezz“ des um die
Mitte des 15. Jahrh. niedergeschriebenen Steirischen Bergrechts (Mell,
a. a. O. S. 141, ad 44, B. R. A. Ill, Art. 2) durch des „landsfursten keller-
maister“ erscht.
520
u
2 = B A „ T
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. A a as 3
5.
und jenen, die sich bei der praktischen Durchführung dieser Bestim-
mungen herausgebildet haben. Dies gilt auch für die Stellung des
Bergherrn, sofern er bei den Bergrechtsprozessen mitzuwirken hatte.
Die Bergtaidingsprotokolle der Landstraßer Abtei, die vom Juli
1590 an erhalten blieben, führen in dieser Zeit und noch fast ein
halbes Jahrhundert lang zu Beginn der Aufschreibungen stets Tag,
Monat, Jahr und Ort der Tagung an. In den ersten Jahrzehnten stets,
später sporadisch wurde auch ausdrücklich angegeben, daß der Abt
Iscil. vom Landstraßer Zisterzienserkloster) das Taiding anbefohlen
und gehalten hat. Er hat selbstredend die Tagung eröffnet und ge-
schlossen. Er war der Gerichtsherr und Inhaber des Bergstabes,
dem die Giebigkeiten und Strafen (sei es in Geld, sei es in Wein
oder Most — Bannwein) zufielen. Doch war seine Rolle in diesem Ge-
biete grundverschieden von jener, die er im Weinberggebiete von
Niederösterreich“) hatte: Die Ausübung der Gerichtsbarkeit fiel
keineswegs ihm, sondern den Gärichtsbeisikern unter dem Vorsike
des Gerichtsaltesten zu, die alle dem Namen und Vornamen nach im
Kopfe des Protokolles angeführt waren. Der Gerichtsherr besorgte
bloß vornehmlich im eigenen fiskalischen Interesse die Aufschreibung
aller Beschlüsse der Richter, ja hier und da hat er sie selbst nieder-
geschrieben, meist aber bloß diktiert. Seine Aufgabe bestand darin,
daß er die in den Bergtaidingsprotokollen beurkundeten Beschlüsse
und Urteile nach der Tagung den Parteien ausfertigte und mit Siegel
und Unterschrift versah.
Mit der Zeit hat sich aber das Interesse der Bergherren für die
bloß formelle Beteiligung an dem BT. sichtlich abgekühlt: Hierzu hat
neben dem allgemein bemerkbaren persönlichen Abrücken der Herr-
schaftsinhaber vom gemeinen Volke sicher auch der Umstand viel
beigetragen, daß das Verhalten der Bergbehörde häufig eben auf
den BT. zum Gegenstande einer scharfen Kritik gemacht wurde.
Denn das Volksgericht urteilte auf den Bergtaidingen auch bezüglich
der Begehren, Klagen und Beschwerden der eigenen als auch frem-
der Bergbehörden gegen die Weingärtner, aber auch — allerdings
seliener — umgekehrt über die Beschwerden und Klagen der Wein-
gariner wider die Bergbehorde oder ihre Funktionäre, insbesondere
den Bergmeister. Es kam ab und zu vor, daß der Bergherr einen
Prozeß verlor, ja auch offener Widerstand wurde seitens der Wein-
gariner seinen Anordnungen entgegengesetzt]. Kein Wunder, daß
die Bergherren keine Lust hatten, persönlich an den BT. teilzu-
% Dort hat der Bergherr das iudicium rurale et ius vinearum geleitet,
doch wurden keine Urteile gesprochen, sondern er hielt seinen Weingartnern
eine Standrede und machte sie auf ihre Fehler aufmerksam. Die kleinen
Rechtssachen haben bloß vier Geschworene, die auf dem Bergtaiding ge-
wählt worden sind, zu erledigen gehabt. Allerdings war in Niederösterreich
kein BRB. in Kraft.
en) Die einzelnen Fälle von dieser Art werden in den oben S. 303 Anm. 13
angeführten Abhandlungen angeführt. Auf eine detailliertere Wiedergabe
der fraglichen Prozesse kann wegen der notwendigen Raumersparnis hier
nicht eingegangen werden.
521
nehmen, und es vorzogen, sich durch eine andere Person ihres Ver-
trauens vertreten zu lassen. Doch war dies nicht überall gleich. Ja
nicht einmal ein und derselbe Bergherr hat stets den gleichen Vor-
gang beliebt. So haben sich der Zisterzienser-Abt von Landstraß
oder der Jesuiten-Superior von Pletriach durch den Prior oder Vor-
stand des Kelleramtes oder einen Konfrater ohne Ehrenfunktion ver-
treten lassen. Der Klingenfelser Bergherr war der Abt von Sittich
(Zisterzienser), er residierte aber nie in Klingenfels und besuchte
auch niemals die Bergtaidinge. In Verwaltungsangelegenheiten ließ
er sich ständig durch zwei Patres oder Fratres als Administratoren
vertreten; einer von den beiden präsidierte bei den Bergtaidingen.
In Rudolfswert, wo die Kommende des Deutschen Ritterordens keine
Geistlichen beherbergte, führten auch erbetene Adelige, z. B. Johann
Siegmund Edler von Breckerfeldt aus Altenburg, den Vorsitz. In
Seisenberg, dem Herrschaftssike der Grafen bzw. später Fürsten
Auersperg, nahmen die Verwalter als Vertreter der Bergbehörde an
den Bergtaidingen teil. Seit Anfang des 18. Jahrh. bemerken wir
immer häufiger, daß an Stelle des Bergherrn als Vorsikender der
Bergtaidings ein iudex delegatus angeführt wird, bald der
Inhaber eines fremden Bergstabes, bald ein Geistlicher. Noch später
übernahm die Leitung ein Beamter, wie der Hofrichter oder Ver-
walter, schließlich sogar bloß ein Bergmeister.
Nach Auflösung der Sitticher Abtei mit der kaiserlichen Verord-
nung vom 25. Oktober 1784 kamen die Klöster Sittich wie auch
Klingenfels unter die Verwaltung des Religionsfonds. Dennoch
hat noch bis zum 21. Februar 1786 Pater Josef Köschner die Berg-
taidinge als „administrator et iudex“ eröffnet und geleitet. Erst nach
seinem Abgange übernahm den Vorsitz der jeweilige Verwalter des
Religionsfonds auf der Herrschaft Klingenfels. In den Weißenstein-
schen Bergtaidingsprotokollen wird bis in die Anfangsjahre des
19. Jahrh. bald der Verwalter der Herrschaft, bald ein Gemeindevor-
steher (Zupan) als Vorsikender angeführt. Wenn das BT. für meh-
rere zusammengelegte Weinberggebiete abgehalten wurde, prä-
sidierten auch zwei Gemeindevorsteher zugleich. Die jüngsten Pro-
tokolle, die bis zum Jahre 1843 reichen, entstammen der Herrschaft
Ainodt. Hier führte stets der jeweilige Verwalter oder Kontrollor
den Vorsik, allerdings war das Bergtaiding zu dieser Zeit schon zu
jener „Hergraiftung“ umgestaltet worden, auf der die Weingärtner
fast durchwegs nur mehr die Befehle ihrer Herrschaft entgegen-
zunehmen hatten.
8 12. Richter.
Die gerichtliche Funktion war in den Händen der Bergrichter
geborgen, die ihren Obmann in der Person eines besonders ausge-
zeichneten und geachteten ,,Altesten“ (starešina) hatten. Die
Protokolle bezeichnen ihn als ,,Perchrichter“ oder „Perchtaidings-
richter“, hier und da auch als ,,Unparteiischer Richter“ oder „iudex“
522
schlechthin. Die Richter — das gesamte Kollegium wird einige Male
als ,,Beysibertoffel“ bezeichnet — werden „Beisizer“, „Asses-
sores“ oder auch kurzweg „Mejaschen“, aber auch „Perchholden“
genannt. In der Regel werden ihre Namen angegeben, nur wenn es
dieselben waren wie bei den vorhergehenden Bergtaidingen, gestat-
teten sich die Schriftführer die Abkürzung „Die gewöhnlichen Me-
jaschen und Perchholden“.
Der Obmann präsidierte in einigen Gegenden mit dem Richter-
stab in der Hand. Wenn auch er nie in die Gelegenheit gekommen
sein kann, den Gerichtsstab nach Art der Bannrichter über einen
Schuldigen zu „brechen“, was dessen Verurteilung zum Tode be-
deutete, so scheint es doch, daß die ständige Urteilsphrase „er wurde
von der Klage entbrochen“, sowie die ständige Benennung der frei-
sprechenden Urkunde als „Entbrechsbrief“ ihre Herkunft einer sym-
bolischen Anlehnung an die bezeichnete Verwendung des Gerichts-
stabes des Bannrichters zu verdanken haben:). Ein und dieselbe
Person durfte öfter, ja Jahre hindurch als Richter-Obmann sowohl
bei den Bergtaidingen, als auch bei den Quatemberrechten fun-
gieren. Besonders beliebt waren als Obmänner Stadtrichter und
Gemeindevorsteher (župani) Seine Würde bekleidete der Ob-
mann als „Gerichtsältester‘ (stareSina) lebenslänglich oder
wenigstens bis zum Zeitpunkte, in dem er seines Alters wegen selbst
um seine Enthebung ersuchte. Die Verleihung war in einigen Gebieten
sicher einem Wahlakte der Beisitzer zu verdanken; doch war die
Wahl wohl noch von der Genehmigung der Vollversammlung, eventi.
auch des Bergherrn bzw. seines entsandten Vertreters abhängig. Im
Seisenberger Gebiete kam es Anfang des 18. Jahrh. dazu, daß die
Verwalter der Herrschaft als Bergherren und zugleich als Obmänner
der „Beisiseriafel“ fungierten; noch später — in der zweiten Halfte
des 18. Jahrh. — arrogierte sich der Verwalter auch selbständige Ge-
richtsfunktionen und trat sozusagen als geseßlich bestimmter Prä-
sident des Gerichtes auf. Einmal — es war am 16. September 1783
in Altstrascha bei Ainodt — wird als iudex delegatus neben
einundzwanzig Beisigern ein „Herr Josef Ambroschitz“ angeführt, der
wahrscheinlich ein Abgesandter des Laibacher Inspektorates war,
denn der damalige Verwalter, der sonst schon oft den Vorsitz führte,
begnügte sich mit der bescheideneren Funktion eines Beisibers.
Die Beisitzer bildeten den „Ring“, der das Zentrum der
versammelten Weingärtner bedeutete. Der Ausdruck ist dem Ori-
ginalbergbüchel entnommen (Art. 31) und wurde in die slov. U. in
der deutschen Form übernommen, hat aber im Volksmunde sicherlich
auch „srenja“ (von sredina = Mitte) geheißen. Die Zahl der
Richter-Beisiger war nicht so genau bestimmt, daß die Besekung in
es) Vgl. dazu auch Grimm, Deutsches Wörterbuch Ill, Leipzig 1862,
S. 502 s. v. „Entbrechen“ ad c), E. v. Moeller, Die Rechtssitte des Stab-
ee Zeitschr. d. Savigny-Stifig. f. Rechtsgesch. XXI, Germ. Abt., 1900,
e) Mell, Weinbergrecht, S. 135.
525
einem ein wenig geringeren oder größeren Umfange ein Hindernis
der Funktion in Prozeßsachen bedeutet hätte. Übrigens war
dies für die verschiedenen Gebiete verschieden eingerichtet. In den
meisten war die Grundzahl zwölf, aber auch die Zahl vierundzwanzig
war vertreten. Ihrer Standeszugehorigkeit nach waren die Beisiber
insbesondere in der Zeit, als die Unterschiede zwischen Mejaschen
und Bergholden noch stärker hervorstachen, in der Mehrzahl Me-
jaschen, ja in einigen Gebieten vielleicht ausschließlich Mejaschen.
Später trifft man Protokolle, in denen Bergholden als einzelne Bei-
sitzer, aber auch für die gesamte „Beisitzertafel“ angeführt werden.
Man liest sehr oft in den Protokollen, daß als Richter anwesend
waren „die gewöhnlichen 12 (bzw. 24) Mejaschen und Perckholden“,
aber auch „Mejaschen oder Perckholden“. Nicht selten wird ein
Pfarrer, der Hofrichter oder ein benachbarter Guisbesiger als Bei-
sitzer angeführt, was von einer hohen Auffassung der Ehre, im
„Ringe“ zu sitzen und zu richten, zeugt.
Auf welche Weise wurde man Beisizer? Nach den Bestim-
mungen des BRB. sollte der Bergherr das Gericht besetzen. Dies
scheint aber kaum je praktiziert worden zu sein. Denn in den Pro-
tokollen liest man häufig, sie seien gewählt worden, hier und da
wird es aber auch bloß konstatiert, der und der sei in den „Nat“
eingetreten. Nirgends haben wir aber eine Angabe gefunden, durch
wen, wo und wie die Wahl getroffen wurde; sicher war dies
nach dem Gewohnheitsrechte so allgemein bekannt, daß es einer
Erwähnung gar nie bedurfte. Nun waren die Namen der Beisitzer
Jahr für Jahr die gleichen. Also müssen wir uns vorstellen, daß die
Zugehörigkeit zum Ringe so lange bestand, bis der eine oder andere
infolge Krankheit oder Alters oder Todes ausfiel, worauf die not-
wendig gewordene Wahl durchgeführt wurde. Sie vorzunehmen
waren nach unserer Anschauung die übriggebliebenen Beisitzer be-
rechtigt. Dies folgern wir erstens aus dem Umstande, daß für die
Beisitzer ein Wahlakt durch die Vollversammlung oder eine Bestah-
gung seitens der Bergbehörde in keinem einzigen Protokolle be-
urkundet ist, was bei den vielen Tausenden der Protokolle jedenfalls
eine auffallende Erscheinung ist; zweitens aus dem Umstande, daß
diese Art der Berufung der Richter in einigen istrianischen Statuten*)
*) So heißt es im Statut für Kastav (Castua) bei Fiume in Kap. 67 (in
Ubersebung des kroatischen Textes): Am Tage des 11. Januar 1611 in der
Stadt Kastav im Hause des Richters Johann Gosčić, wann die ehrsamen
Richter und Räte der Stadt Kastav versammelt waren (folgen elf Vor- und
Zunamen) — wurde von uns ein Kapitel des Gesees verstanden, in dem
es heißt, daß wann einer von den zwölf Räten aus dieser Welt scheidet,
die übrigen sich einen rechtschaffenen Mann an dessen Stelle auszuwählen
haben, der ihnen als tauglich erscheint, keineswegs darf es aber gehen
nach der Erbfolge, noch nach Bitten. Statut kastavski, uredio Fr. Raéki,
Monumenta historico-juridica Slavorum Meridionalium edidit Academia
scientiarum et artium Slavorum Meridionalium, vol. IV (Statuta lingua Croa-
tica conscripta), Zagrabiae 1890, S. 198. Vgl. dazu C. Mikuž, Notranii
ustroj avtonomnih mestnih občin ‘vzhodne Istre po kastavskem, veprinaskem
324
ausdrücklich erwähnt wird und ein Grund für eine andere Vorgangs-
weise bei der Gleichheit der Stammeszugehörigkeit nicht erfindlich
ist. Dadurch ist es auch am leichtesten erklärlich, wieso ein Fremder
so leicht ad hoc, d. h. auf einem einzigen Bergtaiding Eingang
in den Ring finden konnte; es bedurfte eben nur der Zustimmung
der übrigen Beisitzer, selbstredend in erster Linie des Obmannes.
Nun wurde aber einige Male auch ein Ausschluß eines Beisitzers
aus dem Ringe beschlossen. Vor allem, wenn der Beisiker seine
Pflicht, zum Bergtaiding zu kommen, nachlässig erfüllte. Im Jahre
1688 haben in Pletriach die Richter im Ringe selbst den Grundsak
aufgestellt, daß nur „Oottesgewalt“ oder „wichtige Geschäfte“ ein
Ausbleiben entschuldigen können, und wenn keine Entschuldigung
zugebilligt werde, den Ausgebliebenen die Strafe von 6 „Viertel“
Wein zu treffen hat. Für den Fall des ad hoc-Ausbleibens „sine
legitima causa“ wurde die Anzahl aus den anwesenden ange-
schenen Weingarinern ergänzt. Aber auch aus anderen Gründen
konnte ein Ausschluß erfolgen, so z. B. wegen Verübung einer straf-
baren Tat oder wegen zänkischen Wesens. Selbstredend bedeutete
dies eine ungemein schwer in die Wagschale fallende Ehrenstrafe.
Dennoch ist sie einige Male vorgekommen. Nebenbei bemerkt,
haben die Richter nicht nur den Anspruch eines solchen Ausschlusses
eines Beisizers aus dem Ringe als ihre Gerechtsame aufgefaßt, sie
haben, wenn auch bloß vereinzelt, so doch sogar das Recht in An-
spruch genommen, einen Weingärtner durch ihr Urteil aus dem Ver-
in moščeniškem statutu (Die innere Verfassung der autonomen Stadigemein-
den des östlichen Istriens nach den Stafuten von Kastav, Veprinac und
Mošćenice), Pravni Vestnik (Der Rechtsbote), VII, Trst (Triest) 1927, S. 146.
“) Das „Viertel“ als bergrechtliches Weinmaß ist im allgemeinen dem
„Tischkandl“ gleichzusetzen. Solcher „Tischkandin“ gingen zwölf bis sechs-
undzwanzig, meist aber sechzehn, in einen „Emper“ oder „Eimer“. Der In-
halt des Eimers wechselte wiederum nach den Gegenden. Nach den Ein-
tragungen betreffend den Zehent- und Bannwein aus der Mitte des 18. Jahrh.
wurde für die Herrschaft Seisenberg ein Emper mit 24 Kandl, für die Herr-
schaft Klingenfels bald mit 12, bald mit 13 Viertl berechnet. Vgl. dazu
F. Frhr. v. Mensi, Geschichte der direkten Steuern in Steiermark bis zum
Regierungsantritt Maria Theresias, Forschungen zur Verfassungs- und Ver-
waltungsgeschichte der Steiermark, Vil, Graz und Wien 1910, S. 429—435:
Der Grazer Eimer (105,01 1 — 1,858 Wiener Eimer) enthielt bis 1556 64 Tisch-
viertel oder Tischkandl, die lokalen Flüssigkeitsmaße in Steiermark kennen
Eimer von einem Inhalt, der zwischen 12 Tischvierteln und 1% Grazer Eimern
schwankt. Vgl.auch A.Luschin, Vorschläge und Erfordernisse zu einer
Geschichte der Preise in Österreich, Wien 1874. Nach dem Gottscheer Urbar
von 1574 (ed. Wolsegger, a. a. O. IV, S. 28) faßten die als Weinmaß
in der Herrschaft Gottschee gebräuchlichen „Most-Emper“ oder „-Emer
teils 12 „altter Weinmaß Tischkhanndlen oder Viertl“ und ein Seidel, teils
16% ,Viertl Kanndlen“. — Im Zehentregister der Herrschaft Wagensberg ©
aus den Jahren 1747—1749 wurde ein Emper mit 4 Quart zu 4 Vierteln
gerechnet. — Nach „Der Fünf niderösterreichischen Lannde ... Ver-
gleichung“ von 1532 (vgl. oben Anm. ) kommt der Inhalt zweier in den
krainischen Weinberggebieten gebräuchlicher „Emper“ dem eines Wiener
„Emers“ gleich (demnach etwa 28,25 I). Dann wäre der Inhalt des „Kanndis“
oder Viertels auf etwa 2 | zu bestimmen.
525
bande der Weinbergbesiker auszuscheiden und ihn seines gesamten
unbeweglichen Besiktums für verlustig zu erklären, am häufigsten
bei Diebstahl und Unzuchtsfällen, wozu auch die Zeugung eines un-
ehelichen Kindes gezählt wurde.
Weder der Obmann noch die Beisiker wurden für ihre
Richtertätigkeit in bar entlohnt. Im BRB. wird einer Entlohnung
ihrer Mühewaltung keine Erwähnung getan. In der Praxis fanden
die Beisitzer allerdings Mittel und Wege, sich eine entsprechende
Entschädigung dadurch zu verschaffen, daß sie Strafen in einer be-
stimmten Anzahl von Eimern oder „Vierteln“ Weins diktierten, den
sie dann gemeinschaftlich vertranken. Daß sie berechtigt waren, den
Wein zu verkaufen und den Erlös zu teilen, erscheint weniger glaub-
haft, weil davon in den Protokollen nirgends eine Erwähnung zu
finden war. Wohl aber bezeugen die Protokolle und slov. U. des
BRB., daß es auf den BT. nicht ohne Zechereien einherging. Einmal
steht bei einem Beisitzer der Beisab „Weingastgeber“. Die Kapsch-U.
befiehlt aber in der Einleitung ausdrücklich, daß die Teilnehmer an
dem Bergtaiding nüchtern bleiben müssen und daß kein „Leitkauf“
aufgetragen werden dürfe, während nach einigen Protokollen aus
anderen Gebieten die Strafe in Wein eben als „Leiikauf“ für die
Beisitzer diktiert wurde.
§ 13. Der Bergmeister.
Das Rückgrat des wirtschaftlichen und rechtlichen Lebens in den
Weingebirgen waren die Bergmeister. Dieses Institut überlebte
selbst die Lebensdauer der BRB. Es war von allem Anfang des
Weinberglebens in allen Vorgängern des BRB. vorgesehen, fand in
allen slov. U. ausnahmslos Eingang, spielte in jedem Bergtaidings-
protokolle eine gewichtige Rolle, es wurde auch noch in der Wein-
leseordnung vom 28. Jänner 1832 Zl. 27049 beibehalten, die für den
Neustädtler (Rudolfswerter) Kreis herausgegeben wurde und bis zum
Jahre 1860 in Geltung verblieb.
Trob der hervorragenden Bedeutung, die dem Institute der Berg-
meisterschaft zukam, war der Wirkungskreis der Bergmeister nicht
eindeutig bestimmt, ihre Funktionen waren je nach dem Gebiete ver-
schieden, ja selbst unter demselben Bergstabe konnten sie un-
gleich sein. |
Im allgemeinen war der Bergmeister das Organ, welches die
Verwaltung der Weinberge in einem abgeschlossenen Gebiete führte.
In der ältesten Periode unserer Protokolle war er in einem gewissen
Sinne geradezu der Stellvertreter und Vertreter des Bergherrn. In
einigen Gebieten trug er noch im 18. Jahrh. ein sichtbares Zeichen
seiner Würde, einen Bergmeisterstab, in der Hand. Wenn dies nur
einmal in den Gerichtsprotokollen erwähnt wurde, so mag das darauf
zurückgeführt werden können, daß es zu bekannt war, als daß man
es in das Protokoll besonders eingetragen hätte. Er war derjenige,
526
der Klagen im Namen des Bergherrn vorbrachte. Überall kam er
als Erster zum Worte; erst nach ihm durften Privatparteien als Kläger
auftreten. In einigen Gebieten fungierte er gewissermaßen selbst-
verständlich als Beisitzer, sehr häufig auch als Obmann der Beisiker-
tafel. Dies beweist, daß er zugleich Vertrauensmann des Bergherrn
und der Bevölkerung war. Hundert Jahre später änderte sich das
Bild. In der Rudolfswerter Umgebung war er bloß Exekutionsorgan
des Bergherrn, desgleichen in Seisenberg und Ainodt; er urteilte nie,
sondern klagte bloß im Namen der Bergbehörde an. Als er einmal
in Ainodt als Richter dem Ringe beigezogen wurde, hat dies eine
besondere Anmerkung im Bergtaidingsprotokolle zur Folge gehabt.
Im übrigen sank seine Rolle im Laufe der Zeit vielfach zu der eines
Weinbergpolizisten herab, der bei etwas strengerer Auffassung
seiner Pflichten entsprechend angefeindet wurde.
Seine Pflichten in ökonomischer Hinsicht umfaßten die Aufsicht
darüber, daß die Wege ausgebessert und neue nicht angelegt wurden;
daß die Zäune in sicherem Zustande erhalten blieben; daß mit der
Weinlese nicht früher begonnen wurde, als es die Bergbehorde an-
ordnete; daß das Vieh im Weingebirge nicht Schaden verursachte.
Besonderes Augenmerk hatte er in letzterer Beziehung auf die Ziegen
und Schweine zu richten. In moralischer Beziehung hatte er dafür
zu sorgen, daß die Weingärtner an den heiligen Messen und Pro-
zessionen teilnahmen; daß sie den nach uralter Gewohnheit am Tage
eines bestimmten Heiligen (z. B. in Landsfraß des hl. Florian oder
auch Sigismund) begangenen Festzug durch das Weingebirge mit-
machten; weiter, daß im Weingebirge keine unerlaubten Verhältnisse
zwischen Leuten beiderlei Geschlechtes geduldet wurden; daß etwa
vorgekommene Fälle der Unzucht mit Tieren der Strafe zugeführt
wurden; daß das Fluchen im Weinberge nicht einreiße und dergl. mehr.
In rechtlicher Beziehung war er der Vermittler zwischen dem Berg-
herrn und dessen Untertanen. Bei ihm wurden Anzeigen wegen un-
sittlichen Verhaltens, Diebstahls, Viehschäden, Raufereien angebracht;
bei ihm wurde das auf fremdem Boden im Schadenzufügen angetrof-
fene Vieh zur Aufbewahrung eingestellt, damit es als Pfand für die
Entschädigungsanspruche diene. Der Bergmeister war Schatzmann
bei Schadensfällen, Vollstrecker der Beschlüsse des Bergtaidings,
Aufseher in Ansehung der Wein- und Getreideausfuhr, des Wetter-
schießens®‘) usw. Er hatte das ungemein wichtige Recht, im Namen
der Bergbehorde in dem Weingarten vor dem Eingang ein Kreuz
aus Brettern oder aus Strohbündeln aufzustellen oder den Wein-
gartenkeller („Gaden“) unter Petschaft zu seen. Dies bedeutete
das strikte Verbot, den Weingarten oder die Felder zu betreten. Die
es) Das Wetterschiefen wurde im 18. Jahrh. in den Weingartengebieten
vielfach geübt; allerdings beruhte es auf abergläubischen Motiven, da durch
das Schießen die Hexen aus den Wolken vertrieben werden sollten. (Vgl.
Dolenc: „über das Schießen in Slovenien“, erschienen in slov. Sprache
in der Monatsschrift Gruda (Die Scholle), Jg. 1924, S. 113 ff.)
527
Ubertretung dieses Verbotes zog eine Strafe nach sich, die bei
Wiederholungen so weit gesteigert werden konnte, daß es zum Heim-
fall des Weingartens an den Bergherrn kam. (Nur nach einer Hand-
schrift der Ainödt-U. traf die Strafe den Schuldigen erst beim zehnten
Ubertretungsfalle.)
Fur seine Diensiverrichtung bekam der Bergmeister eine Ent-
lohnung in der Form einer Quote von den eingebrachten Straf-
beirägen; so war es im Orig. BRB. im Art. 48 bestimmt, dabei wurde
sein Anteil an den Strafgeldern, ohne Rücksicht auf deren Höhe, mit
jeweils zwölf Pfennig fesigesebt"). In einigen slov. U. ist aber
dieser Artikel zur Gänze ausgelassen worden. Auch sind in den
Bergtaidingsprotokollen keine Vermerke enthalien, ob etwas bzw.
wieviel von den Strafgeldern auf den Bergmeister entfallen ist.
Allerdings wird ab und zu, wenn eine Strafe in Bannwein diktiert
wurde, ein gewisses Quantum direkt dem Bergmeister zugesprochen.
In den Protokollen vom Jahre 1801, in denen eine autonome Abande-
rung des Inhaltes der Bergartikel ersichtlich gemacht worden ist,
wird angegeben, daß er für die Schätzung und den dabei zu machen-
den Weg je ein „Viertel“ Wein zu bekommen habe. Aus anderen,
noch jüngeren Protokollen erfahren wir, daß er jährlich ein gewisses
Quantum, zehn Eimer, in Wein als Entlohnung von der Gesamtheit
der Bergleute beanspruchen durfte, dabei aber von der Pflicht, die
abliefernden Weingärtner zu bewirten, losgezählt wurde. In vielen
Gebieten war der Bergmeister von vornherein frei von der Verpflich-
tung, das Bergrecht und den Zehent zu leisten, wobei er allerdings
die Abgeordneten des Bergherrn gastlich zu empfangen, den Ab-
geordneten des Zehentherrn aber bloß „Speis und notdurff“ zu
reichen hatte.
Die Bergmeister waren aber in Ansehung ihrer Dienstverrich-
tungen nicht bloß dem Bergherrn, sondern auch den Weingarinern
verantwortlich. Die Bergtaidingsprotokolle berichten ziemlich oft
von Klagen gegen die Bergmeister; bald sollen sie ihren Dienst zu
lax versehen, bald die Grenzen ihrer Machtbefugnisse überschritten
haben. Auch Klagen sind verzeichnet, daß sich ein Bergmeister zu
sehr der Trunksucht ergeben hätte. Das „Gemein-Urtl“ (von dieser
Einrichtung wird noch weiter unten die Rede sein) hat ihm Besserung
aufgetragen, weil er sonst seines Amtes enfsezf werden würde.
Nicht gar selten kündigte der Bergmeister auf dem Bergtaiding
seinen Dienst auf, weil er von den Weingarinern zu viel Unangeneh-
mes hören mußte
Die Ehre, als Bergmeister zu fungieren, war in einigen Gebieten
erblich. Die Protokolle führen durch Jahrzehnte die gleichen Familien-
namen an und erwähnen, daß der neue Bergmeister des alten Sohn
ist. Wo aber solche Verhältnisse nicht bestanden, wurde der Berg-
meister gewählt, und zwar in der Vollversammlung, allerdings war
die Zustimmung der Bergbehörde zur getroffenen Wahl notwendig
°) Mell, Weinbergrecht, S. 143.
528
Erst im 19. Jahrh. konnten die Bergmeister, z. B. von der Bergbehorde
in Ainödt, einfach bestellt werden, und die Bestellten mußten auch
gegen ihren Willen den Posten übernehmen, weil sie sich sonst einer
Strafe ausgesetzt haben würden“).
8 14. Die Suppane (župani).
Der Dienst der Suppane stand in einer engen Beziehung mit jenem
der Bergmeister. In den Protokollen werden zweierlei Suppane er-
wähnt, nämlich der „Bergsuppan“ und der „Suppan“ schlechthin.
Die erstgedachten waren Ortssuppane auf dem Weingebirge, die
dortselbst die Funktionen eines Ortsvorstehers mit jenen des Berg-
meisters verbanden; die zweiten hatten nur Ortsvorsteherdienste zu
versehen. In einem Beeidigungsprotokolle aus der Umgebung von
Rudolfswert (vom 24. Okt. 1730) werden beide zugleich, aber jeder
unter seiner eigenen Bezeichnung, als Zeugen des Beeidigungsaktes
angeführt.
In zwei Gebieten — Pletriach und Weichselburg — gab es auch
Suppleuth; ihre Existenz ist wenigstens beurkundet worden.
Sie haften dafür Sorge zu fragen, daß die herrschaftlichen Unter-
tanen rechtzeitig zur Robot erschienen. Diese ganze Einrichtung
beweist, daß die Suppane in der Vergangenheit als Ortsvorsteher
niedere wirtschaftliche Bedienstete der Herrschaft waren®). Die
Herrschaften haben sie vornehmlich aus einer bestimmten Familie
entnommen, solange diese hierzu geeignete Personen darbot. Als
Entlohnung wurde ihnen der Fruchtgenuß bestimmter Acker, die
„zupanice‘ — Suppansäcker genannt wurden, überlassene). Wo
mehrere Ortschaften mit mehreren Suppanen auf ein und demselben
Weingebirge lagen, wurde derjenige unter ihnen, der zugleich Berg-
meister war, Bergsuppan genannt.
815. Die „Referenten“
Zweierlei Funktionäre, die bei den Bergtaidingen eine Rolle
spielten, hat die Praxis ins Leben gerufen; von ihnen ist weder im
Originale noch in den slov. U. des BRB. die Rede, ihre Existenz ist
jedoch durch Bergtaidingsprotokolle sichergestellt. Sie waren das
Produkt der praktischen Bedürfnisse.
es) Ausführliche Bestimmungen über die Einkünfte und Lasten der
»Perkembtleuth", deren Tätigkeit in der Herrschaft Gottschee derjenigen
der Bergmeister in den übrigen Weingebirgen entsprach, enthält das Gott-
scheer Urbar von 1574 led. Wolsegger, a. a. O. IV, S. 28 f.].
„ Vgl. über die Entwicklung des Suppansamtes jetzt auch F. Gor-
šič, Župani in knezi v jugoslovanski pravni zgodovini (Les „joupani“ et les
princes dans Fhistoire du droit yougoslave), CZN. XXV, 1929, S. 16—49
(S. 48 f. deutsches Résumé).
) Vgl. über derartige Amtsgüter L. Hauptmann, a. a. O, passim.
Beispiele für derartige als Supnicza, Suppwissl, Supp-Ge-
rechtigkeit, Suppgründte bezeichnete Amtsgüter im Golischeer
Urbar von 1574 led. Wolsegger, a. a. O. Il, S. 14—177).
529
A. Die erste Art waren die „Referenten für Gemein-Urieile”.
Wie schon oben (3 8) erwähnt, wurde auf jedem BT. ausnahmslos zu
Anfang der Tagung über solche Angelegenheiten verhandelt, die das
allgemeine Wohl und Wehe der Gesamtheit aller Weingärtner be-
trafen. Nach der Eröffnung des BT. und der Verlesung lim 19. Jahrh.:
„Ausdeutung“ des Inhalts) des BRB. kam es sofort zu der Erörte-
rung jener Punkte, die ins „Gemeinurfl“ aufgenommen werden sollten.
Die betreffenden Beschlüsse waren nicht Akte der Judikatur, sondern
Akte der autonomen Verwaltung, durch welche zum Ausdruck ge-
bracht wurde, was die Vollversammlung der Weingärtner eines in
sich abgeschlossenen Gebietes als für die Gesamtheit niiglich oder
zweckdienlich betrachtet und daher im Interesse aller Weingärtner
als allgemeinverbindlich erklart wissen will. Dieser autonome Ver-
waltungsakt, der nach einer gemeinsamen Beratung in der Vollver-
sammlung gesetzt wurde, hieß das „Gemein-Urtl“. In der Ein-
leitung zu einem solchen Gemeinurteile gaben die Weingärtner ihre
ergebenste Versicherung ab, daß sie nach den eben zuvor vor-
gelesenen Vorschriften des BRB. leben wollen. Hier und da wurde
in diese einleitende „Resolution“ eine Wendung eingeflochten, die
darauf hindeuten sollte, daß auch der Bergherr durch den Inhalt des
BRB. gebunden erscheint, z. B.: „Die Pergarticl wurden punctatim
vorgehalten, sollen allseits observiert werden“. Im Laufe der Zeit,
insbesondere seit dem Beginne des 18. Jahrh., wird die Einleitung
fast ständig dahinlautend beschlossen, daß sich die Weingäriner fur
die Abhaltung des Bergtaidings bedanken, ab und zu mit dem Bei-
safe, „daß die kk. Freiheiten‘ oder „die kais. kön. Artikel“ genaue-
stens eingehalten werden sollen. Allerdings haben sich die Wein-
gariner im Klingenfelser Gebiet in der Zeit vom 12.—18. Marz 1801
an drei aufeinanderfolgenden BT. die Bergartikel autonom abgeändert
(siehe Anhang II)”:) und sich gegenseitig verpflichtet, sie unter Straf-
sanktion halten zu wollen. Dies ist um so bezeichnender, als die
Protokollierung dieser Eigenmächtigkeiten der Vertreter des Reli-
gionsfonds besorgte.
Wie bereits oben (86) erwähnt, gab es auch Gemeinurteile, die
der Bergbehörde gegenüber Ungehorsam, ja troķigen Sinn bekunde-
ten. Einige Male wurden Gemeinurteile geschöpft, daß die Berg-
behörde in Hinkunft nur die alten Maße und nicht die größeren ge-
brauchen dürfe, wann das Bergrecht eingehoben wird. Einmal
(11. Okt. 1594) wurde der Beisaķ der Weingärtner protokolliert, sie
würden, wenn der Herr oder seine Abgesandien mit einem neuen
Maße kommen, das ihren gerechtenForderungen nicht entspricht, dieses
in kleine Stucke zerschellen. Auch darüber wurde einmal ein Gemein-
Urteil geschöpft, daß die Dingstatte auf einen anderen Ort über-
tragen werden solle, wodurch die Weingäriner selbst in Mißachtung
der alten Gewohnheit eine augenscheinliche Neuerung schufen. Spe-
zielle Anordnungen des Bergherrn wurden bei dieser Gelegenheit
71) Unten S. 367 f.
550
meist zur Kenninis genommen, hier und da wohl auch einer Kritik
unterzogen. Aber auch okonomisch-praktische Beschlüsse wurden
im ,,Gemein-Urtl“ gefaßt. Es wurde die Herrichtung der Wege, Er-
haltung der Zäune, das Zuschilten der Pfützen angeordnet, die
nachbarliche Hilfe bei Viehschäden bewilligt, der Anfang der Wein-
lese bestimmt, der aleatorische Verkauf der Weintraubenernte „am
grünen Ast“ verboten, die Verrichtung von Arbeiten einschließlich
des Fisolenklaubens am Freitag oder an Sonn- und Feiertagen oder
während der Prozessionen, die im Frühjahr auf dem Weingebirge
veranstaltet wurden, unter Strafsanktion gestellt. Nicht selten wur-
den Strafbestimmungen pro futuro aufgestellt, z. B. das Erschießen
des Tieres, das Schaden verursachte, oder die Durchprügelung der
Nachlesediebe und dergl. Hier wurde die Errichtung einer Kapelle
oder eines Wahrzeichens beschlossen und die Aufteilung der dadurch
entstehenden Kosten bestimmt. Gemein-Urteile setzten die Beiträge
fest, die die einzelnen Weingärtner in Geld zu entrichten hatten,
damit das Weiterschießen — zur Verscheuchung der Hexen aus den
Wolken — sowie das Wetterlauten besorgt werden konnten. Auf
der Vollversammlung wurden, wenigstens in der Zeit bis zum 18. Jahr-
hundert, letztwillige Anordnungen der einzelnen Weingärtner getroffen,
zur Kenntnis genommen und im Protokolle beurkundet. Hier wurden
ab und zu die Besitzver änderungen angezeigt und für einen drohenden
Schaden antezessorische Entschädigungsansprüche gestellt.
Den gesamten Komplex dieser Fragen mußte jemand evident
führen. Da die diesfälligen Entscheidungen nicht im Ringe der Bei-
siber, sondern in der Vollversammlung der oft nach Hunderten
zählenden Weingärtner zu schöpfen waren, kann es nur als natürlich
erscheinen, daß eben für die Angelegenheiten besondere „Urteils-
referenten“ aufgestellt waren. Meist waren es zwei besonders
erfahrene und angesehene Weingartenbesiger, Mejaschen oder Berg-
holden, die zunächst den anwesenden Bergherrn oder dessen Ab-
gesandten im Namen der gesamten Weingarinergemeinde ehrfurchts-
voll begrüßten; ob ein Zeremoniell festgesetzt war, kann den Proto-
kollen nicht entnommen, wohl aber vermutet werden. Sodann legten
sie die ihrer Ansicht nach entsprechenden Vorschlage dem Plenum
zur Schlußfassung vor. Sofern kein Widerspruch erhoben wurde,
galt der Vorschlag als ,,Gemein-Urtl“ und wurde von dem Abge-
sandten des Bergherrn protokolliert. Man darf annehmen, daß später,
etwa im 18. Jahrh., nur jene Gemeinurteile in das Protokoll auf-
genommen wurden, die auch die Bergbehörde zu genehmigen
befunden hat.
Diese beiden Urteilsreferenten waren zumeist nicht Beisiber:
aus den BT.-Protokollen kann allerdings das Gegenteil auch nicht
erwiesen werden. Die Namen der Beisitzer wurden nämlich stets,
jene der Urteilsreferenten aber nur selten angeführt. In einigen Ge-
bieten, so in Seisenberg und Ainödt, werden Urteilsreferenten nicht
einmal erwähnt. Doch kann u. E. daraus nicht gefolgert werden, daß
es in diesen Gebieten solche nicht gegeben habe. Viel näher liegt
551
die Annahme, daß sie allgemein so bekannt waren, daß sich schon
aus diesem Grunde die Anführung ihrer Namen erübrigte. Wir
dürfen sogar annehmen, das Institut habe sich dahin entwickelt, daß
aus diesen Urteilsreferenten — Ausschußmänner geworden sind. Ende
des 18. Jahrh., als die BT.-Gebiete vielfach zusammengelegt und die
Dingstätten in die Schlösser verlegt wurden, was die Teilnahme an
den Bergtaidingen stark beeinträchtigt hat, tauchen auf einmal
— eben im Gebiete Ainodt — je zwei Ausschußmänner für je ein
Gebiet auf, die gewisse Funktionen übernehmen mußten, im 19. Jahrh.
sogar die Person des Bergmeisters ohne Mitwirkung der Veliver-
sammlung oder des Richterkollegiums vorzuschlagen hatten. Die
gleiche Erscheinung finden wir auch im Klingenfelser Gebiet zu An-
fang des 19. Jahrh. Es liegt auf der Hand, daß die ehemaligen Urteils-
referenten nunmehr als Ausschußmänner die gemeinschaftlichen
Interessen der stark gelichteten Weingärtnerversammlung zu ver-
treten hatten, andererseits aber auch für die Durchführung der An-
ordnungen, die die Bergbehörde auf der „Bergraiſtung“ zu ver-
kündigen beliebte, sorgen mußten.
B. Eine andere Gathmg von Referenten bildeten die Bericht-
erstatter bei der Schöpfung der konkreten Entscheidungen in dem
einzelnen „im Ring“ vor der Beisitzertafel anhängig gemachten
Rechtsstreite. Nachdem Klage und Antwort der Prozeßparteien an-
gehört, die Zeugen vernommen worden waren, mußte jemand unter
den Beisitzern sozusagen als erster Votant das Wort bekommen, um
seinen Rechtsstandpunkt bekanntzugeben und eine dementsprechende
Entscheidung — Urteil oder vorläufigen Verfagungsbeschluß — in
Antrag zu bringen. Die Parallele zwischen diesen Referenten und
den Urteilsfindern des altgermanischen Dings, dem späteren Rachim-
burgen, liegt auf der Hand. Wer nun als Urteilsfinder bei den Wein-
bergsprozessen des 16.—18. Jahrh. berufen war, kann aus den Ge-
richtsprotokollen nicht entnommen werden. Ihre Berufung entsprach
wohl althergebrachter Sitte. Auch wurden diese Urteilsfinder in den
Protokollen nur in einigen Gebieten mit Vor- und Zunamen angeführt.
Vielfach waren es Beisitzer, doch nicht immer. Es gibt eine Reihe
von Fällen, in denen nicht eine unter den Richtern angeführte, sondern
eine ganz fremde Person die Urteilsfindung in Vorschlag brachte.
Man darf wohl annehmen, daß es vielleicht ein besonders angeschener
Weingärtner war, der seines Alters wegen schon aus dem Ringe aus-
geschieden war. Auch ist es ab und zu geschehen, daß die Richter
selbst jemand aus dem Auditorium aufgefordert haben, er möge als
ein mit den Verhältnissen besonders gut vertrauter Mann seine
Meinung abgeben. In ein und demselben Protokolle finden: wir der
Reihe nach für verschiedene Prozesse verschiedene Urteilsfinder.
Aber auch solche Fälle wurden protokolliert — allerdings sehr
selten —, daß jemand aus dem Auditorium der Vollversammlung mit
seinem Rate in vorlauter Weise hervorgetreten ist, dafür aber aller-
dings an Ort und Stelle gestraft wurde.
Eine Einflußnahme der Vertreter der Bergbehörde auf die Be-
352
stimmung der Urteilsfinder kann nicht ausgeschlossen werden, zumal
in der späteren Zeit und in den Gebieten, wo die Abgesandten der
Bergbehorde auch die richterlichen Agenden als Obmänner der Bei-
sifertafel an sich gebracht haben.
Bei der Schlußfassung ist fast immer Einhelligkeit erzielt worden.
Selten wird der Vermerk gefunden, die Entscheidung sei nur mit
Majorität der stimmberechtigten Beisitzer geschopft worden. Aller-
dings wird hier und da die Stimmeneinhelligkeit des Beschlusses ver-
merkt, um der Wichtigkeit der Sache Nachdruck zu verleihen.
8 16. Die Protokollfuhrer.
Die Notwendigkeit, alles Wichtige aufzuzeichnen, was auf dem
BT. vorgefallen ist, machte sich vorzüglich auf Seite des Bergherrn
bemerkbar; flossen doch die zahllosen dort verhängten Geldbußen
in seine Kasse. Weiter hat der Bergherr auf Verlangen der Parteien
Ausfertigungen der Urteile und Beschlüsse der Bergrichter heraus-
geben müssen, wofür ihm wiederum Gebuhren zu zahlen waren.
Schließlich betrafen die Entscheidungen der Bergrichter vielfach
Rechtsgeschäfte, die nach Vorschrift des BRB. nur unter Genehmi-
gung des Bergherrn wirksam werden konnten, z. B. die Besifver-
änderung, Verpfändungen, letztwillige Anordnungen usw. Die Ge-
nehmigung wurde aber auch von der Entrichtung gewisser Gebühren
(laudemium, mortuarium, Gewährtaxe) abhängig gemacht.
Die Protokolle sind in deutscher Sprache geführt worden, nur
hier und da wurden slovenische Ausdrücke, die schwer übersekbar
waren (z. B. Schimpfworte) oder aber eine technische Bedeutung
hatten (so „Mejaschen“] in den Inhalt des Protokolles eingeflochten.
Vereinzelt wurden auch Eidesformeln in slovenischer Sprache nieder-
geschrieben, da die Parteien nur dieser Sprache mächtig waren.
Zweifellos haben sich aber die Verhandlungen auf dem BT. in slove-
nischer Sprache abgewickelt. Daher war die Beiziehung eines Schrift-
fuhrers notwendig, der beide Sprachen, die slovenische und die
deutsche, gut beherrschte. Die hierzu geeigneten Personen hat die
Bergbehörde selbst ausgesucht und zum BT. geschickt. Doch erhellt
aus einigen Protokollen, daß sie nach dem Diktate des Bergherrn
geschrieben waren, der auf dem BT. den Vorsitz geführt hat. In
diesem Falle war die Beiziehung des Protokollisten zwar nicht un-
bedingt erforderlich, immerhin aber auch nicht ausgeschlossen. Die
Protokolle sind häufig nicht an Ort und Stelle, sondern erst später
am Site der Herrschaft oder sogar an einem anderen Orte nieder-
geschrieben worden (z. B. in Laibach). — Die Protokolle wurden fur
die BT. unter allen Umständen angefertigt, wenn es auch keine
Rechtsstreitigkeiten gab, die bei dieser Gelegenheit zu schlichien
waren. Gab es doch unter allen Umständen ein Gemeinurteil zu
schöpfen, und war es noch so knappen Inhaltes, so mußte es jeden-
falls stets in ein Protokoll aufgenommen werden.
Nach der Übung der damaligen Zeiten vor zwei, drei Jahrhunder-
22 NF 5 335
ten, wurden die Protokolle von niemandem unterschrieben. Nur ganz
vereinzelt, z. B. zum ewigen Gedachinisse, daß einmal zufällig keine
Klagen vorgekommen, unterfertigte das Protokoll mit einem ent-
sprechenden Vermerke der Abt als Bergherr selbst. Erst in der Zeit
unmittelbar nach Josef Il. werden die BT.-Protokolle häufiger, seit
etwa 1820 aber regelmäßig vom Bergherrn und vom Schriftführer,
allenfalls auch vom Bergmeister und den Ausschußmännern gefertigt.
Die Protokolle aus der Zeit, in der die Bergherren nicht mehr
selbst den Vorsitz führen wollten, geben beredte Kunde davon, daß
auch hochgebildete Protokollisten an den Bergtaidingen teilgenom-
men haben, die mit dem römischen und kanonischen Rechte vertraut
waren. Es finden sich eine Menge fachmännischer Zitate aus den
erwähnten fremden Rechten vor.
Die Protokolle wurden mächtigen gebundenen Folianten einver-
leibt. Doch nicht allel Hier und da fehlen für eine Zeitperiode alle
Protokolle. Es ware unangebracht, daraus folgern zu wollen, daß
in der besagten Zeit kein BT. stattgefunden habe. Es kann sein,
daß das Protokoll auf besonderen Bogen niedergeschrieben und
dann in den Folianten lose eingelegt wurde, später aber verloren
ging. Solche bloß eingelegte Protokolle sind keine Seltenheit. Es
kann aber auch sein, daß kein Protokollist zum BT. erschienen war,
so daß die Weingärtner das BT. ganz unter sich abhielten. Schließ-
lich war es auch gewiß möglich, daß ein Protokollist aus Nachlässig-
keit die Niederschrift des Protokolles unterließ”?).
8 17. Die Hilfsorgane des Bergherrn.
Jede Bergbehörde mußte sich gewisser niederer Organe be-
dienen, wenn sie solche Anordnungen vollziehen lassen wollte, die
der Bergmeister nicht durchführen konnte, bzw. die man ihm nicht
anvertrauen oder überantworten wollte, etwa wegen der weiten Ent-
fernung vom Sige des Bergherrn. Im Ainödter Gebiete war z. B. vom
Sige der Herrschaft bis zum Wohnorte des Bergmeisters in Weißkrain
fast eine Tagereise nötig.
Solche Organe werden in den verschiedenen Protokollen unter
verschiedenen Namen angeführt. So hört man von „Ouartherrn“
oder ,,Dezimatoren“. Sie waren Bedienstete, die das Bergrecht,
Zehentrecht, den Bannwein und auch andere Giebigkeiten einzu-
bringen hatten. In vielen Gegenden durften sie nur unter Begleitung
des Bergmeisters ihren Dienst versehen. Im Klingenfelser Gebiete
treffen wir „Petschafter“ an. Vermutlich waren es Pfandungsorgane,
die die Keller oder andere Gebäude zu „verpetschieren“ (versiegeln)
hatten, allerdings unter Beobachtung von bestimmten formellen Vor-
72) An dieser Stelle sei es gestattet, auf die vielen Parallelen zu
den Ehedingen der Zittauer Ratsdörfer hinzuweisen. Siehe F. M. Mitter,
Die Grundlagen der Gerichtsverfassung und das Pacang der Zittauer Rats-
Hörer on Beguine des 16. bis zum Ende des 18. Jahrh. (Leipzig 1928); vergl.
ins 12 u
554
schriften, die hier nicht des nähern erörtert werden sollen. Im Seisen-
berger und Ainodter Gebiete bediente sich die Bergbehorde der
„Weinzedl“; sie waren Zustellorgane und mußten auch das vom
Bergmeister gepfändete Vieh in den Herrschaftsstall einbringen.
Es ist nicht ausgeschlossen, daß in anderen Weinberggebieten,
von denen uns keine BT.-Protokolle erhalten blieben, noch andere
niedere Hilfsorgane verwendet wurden. Welchen Namen immer sie
in den verschiedenen Zeiten und Gegenden führten, ihre Aufgabe
war wohl stets mit dem Zustellungs- und Vollstreckungsdienste ver-
quickt.
C. Unterschiede bei den übrigen Volksgerichten.
§ 18. Billich- und Quatemberrechte.
Da die Billichrechte ebenso wie die BT. reine Kausalgerichte
waren, bestanden nur unbedeutende Unterschiede in deren innerer
Organisation.
Gesetzliche Bestimmungen bezüglich des Billichrechtes sind uns
nicht bekannt, sie dürften auch höchstwahrscheinlich nie besonders
aufgestellt worden sein. Wir können nur annehmen, daß sie in Nach-
ahmung des Institutes der BT. entstanden sind und sich fortan ge-
wohnheitsrechtlich erhalten haben. Im ganzen sind überhaupt nur
rund neunzig Protokolle über abgehaltene Billichrechte bekannt, wo-
mit aber selbstredend nicht gesagt sein soll, daß außer den pro-
tokollierten Billichrechten keine anderen abgehalten worden wären.
Wir müssen im Gegenteil bei den horrenden Mengen des Billiches,
wovon geradezu märchenhafte Dinge erzählt wurden’), annehmen,
daß auch anderswo außer in Landstraß und Pletriach Streitigkeiten
in Ansehung des Billichfanges durch Volksrichter geschlichtet werden
mußten. Jedenfalls ersehen wir aus den erhaltenen Protokollen, daß
der innere Aufbau des Billichrechies jenem der beiden Bergtaidinge
im großen und ganzen ähnlich war und nur geringfügige Besonder-
heiten aufwies. Es gab vielleicht auch da Vollversammlungen, doch
ist es nicht beurkundet, daß sie sich mit den allgemeinen Fragen des
Billichfangs befaßt hätten. Wir wissen auch nicht, ob die Grund-
herrschaften besondere Jagdreviere aufgestellt haben. Vermutlich
haben die Teilnehmer des Billichrechfes, nämlich alle in der Nahe
der Wälder mit Billichbeständen angesiedelten Bauern, an den Re-
vieren, wie sie sich von selbst gewohnheitsrechtlich gebildet haben,
festgehalten. Die Jagdberechtigten mußten der Herrschaft eine be-
stimmte Anzahl der gefangenen Billiche abliefern, vielleicht auch nur
deren Felle, im Seisenberger Gebiete den zehnten Teil.
Die Anzahl der Richter betrug zehn bis zwölf, den Vorsitz führte
ein gewählter Obmann.
Die Prozesse drehten sich vielfach um „Billichgruben‘“, um Ent-
rs) Siehe J. W. Valvasor, Die Ehre des Herkogthums Crain. Lai-
bach 1689. I. B., S. 437—442.
555
wendungen und dergl. Sie wickelten sich aber genau so ab wie
jene auf den BT. Auch die Vollstreckung der Urteile, die auf dem
Billichrechte beschlossen worden waren, wurde nach Art derjenigen
der BT.-Urteile durchgeführt..
Bezüglich der inneren Organisation der Quatemberge-
richte ist vorauszuschicken, daß für Krain eine besondere Bestim-
mung der Landgerichtsordnung vom 18. Februar 1535, also aus einer
Zeit knapp vor Sanktionierung des BRB. in Geltung stand, die die
Zuständigkeit fur die niedere Gerichtsbarkeit betraf. Sie lautete
folgendermaßen: „So sollen ... unsere (sc. die landesherrlichen)
Pfleger, Ambt-Leuth oder ihre nachgesekten Land-Richter, wann
sich unter den gemainen Bauersleuthen, auch andern der Landleuth
Unterthanen, Unzuchten und Unbescheydenheyten zutragen, als offi
beschicht, daß einer den andern an seiner Ehre antast oder einer
Unthat, als Dieberey beschuldigt, dazwischen sich Maulstreiche und
Harrauffen begehen, und daß man mit Wohren zu drucken Streichen
kommt, aber doch niemands kein Leibschaden zugefügt, oder so einer
beschädigt, Blutrust und Lahm geschlagen wirdet, wo er auch seiner
Wöhr nur schlechtlich entplöst, zu verstehen, daß dadurch kein Pein-
liche oder Halsstraff verdient wird, Solch und dergleichen schlechter
Sachen für Land-Gerichts-Händel achten: Erklähren wir ihnen, daß
nun füran unsere Land-Rifchlier sich solcher schlechten Sachen zu
richten nicht unterstehen, sondern die einen jeden Grundherrn selbst
in krafft ihrer Freyheiten handlen und richten lassen sollen’®).“ Diese
Differenzierung hat allerdings die geringfügigeren Delikte noch nicht
den Volksgerichten zugewiesen, jedenfalls aber die Existenz von
niederen Gerichten für sie vorausgesekt, deren Weiterbestand der
Gesebgeber nicht beseitigen wollte. Da aber, wie urkundlich be-
wiesen”), schon vorher Quatembergerichte in Krain auch für solche
causae minores ihre Urteile schöpften, waren die Patrimonial-
herrschaften gerne bereit, sie in ihrer Tätigkeit zu belassen, zumal
die diktierten Geldbußen in ihren Säckel flossen’*). Allerdings wurde
784) Landgerichts-Ordnung Def Loblichen Hörkogthumbs Crain Und der
Angeraichten Herrschafften Windischen March, Mottling, Ysterreich und
Karsst (vom 18. Februar 1535). Einleitung, im Druck von Johann Georg Mayr,
Laibach 1707, S. 3f. l
75) Darüber vgl. die oben S. 303 Anm. 16 angeführte Abhandlung von Anton
Kaspret; den Ausdruck Quatemberrecht hat Kaspret noch nicht ge-
kannt. Zweifellos waren die Wotschengerichte, die er in Südsteiermark,
Unterkrain und im Küstenlande verfolgen konnte, genau so organisiert wie
die Quatemberrecte, ja die letzteren können nur eine Fortbildung der
ersteren gewesen sein; zunächst waren alle Burgfriedensleute verhalten, sie
zu besuchen, in der zweiten Hälfte des 16. Jahrh. kamen aber bloß die
Suppane als Vertreter der dem Gerichte unterworfenen Herrschaftsunter-
gebenen. Jedenfalls sind auch die von Valvasor, op. cit., B. III., S. 95,
96 aufs Korn genommenen Gerichte mit den „hölzernen Protokollen“ eine
Art von Wötschengerichten gewesen. Darüber 3. unten Anm. 1°).
76) Mit Recht bezeichnet J. Polec, Razpored sodnih instanc v slo-
venskih deželah od 16. do 18. stoletja (Aperçu des tribunaux dans les pro-
vinces slovenes du 16° ou 18e siècle) ZZR. VI, 1927/1928, S. 116—142 (S.
140—142 franz. Résumé), das Problem, wie sich 'die Patrimonialgerichte or-
556
diese niedere Gerichtsbarkeit auch in Zivilsachen geübt und wohl
nach Erscheinen des BRB. dem Verfahren auf den BT. noch mehr
angepaßt, als es ohnehin schon vorher der Fall gewesen war.
Die Patrimonialbehorde war bei den Quatembergerichten durch
ihren Pfleger vertreten, der die Prozesse leitete und nach gepflo-
gener Umfrage deren Ergebnisse protokollierte.
Nur eines war sicher anders als bei den Bergtaidingen: Gemein-
urteile konnten nicht geschöpft werden, da allgemeine Fragen nicht
zu behandeln, sondern lediglich konkrete Streitsachen zu entscheiden
waren.
Im allgemeinen war das Geltungsgebiet der Quatemberrechte
nicht ausgedehnt, vielleicht nur auf den Burgfrieden eingeschränkt,
weshalb eine Zahl von zwölf oder dreizehn Richtern genügte. Die
Referenten (Urteilsfinder) gaben ihre Ratschläge, wie bei den BT.;
ia in den schriftlichen Protokollen über Quatemberrechte findet man
Zitate zur Begründung von Entscheidungen, die aus dem BRB. ent-
nommen wurden. Der Fall, daß die Protokolle bloß zu konstatieren
hatten, es habe keine Klagen gegeben, war hier viel häufiger als
bei den BT.
8 19. Unpartetisches Recht.
In Anlehnung an die BT. und Quatemberrechte entwickelte sich
noch eine weitere Form der Volksgerichtsbarkeit, die jedenfalls auf
dem Boden des gemeinen deutschen Gewohnheitsrechts entstanden
ist. Diese Form hatte keine Beruhrungspunkte mit den Bergrechts-
bestimmungen, die Protokolle über die BT.- und Quatemberrechts-
prozesse registrierten aber ihre Tätigkeit genau so, als ob es sich
um die eben angeführten Sachen gehandelt haben würde. Dies
waren die „Unparteiisch Rechte“ oder ,,extraordinary rechte“, die in
Wirklichkeit als ad hoc einberufene Schiedsgerichte zur Entschei-
dung bestimmter Streitsachen bezeichnet werden müssen. In Steier-
mark und in Niederösterreih waren sie nach Nicolaus de
Beckmann”) geboten: 1. wenn der Patrimonialherr mit seinem
eigenen Untertanen wegen einer unbeweglichen Sache in Streit ge-
raten war und daher nicht als iudex in propria causa auftreten
konnte; 2. wenn ein Untertan einer fremden Obrigkeit mit einem
Untertanen des Gerichtsherrn in causis personalibus eine Streit-
sache auszutragen hatte, wobei die Gefahr hintangehalten werden
ganisierten als noch ungelöst. Uns will es scheinen, daß eine gewisse Zeit
hindurch Volks- und Herrschafisgerihte nebeneinander existierten,
wofür wir für die Brixener Herrschaft in Veldes Beweise bis ins 17. Jahrh.
verfolgen konnten; dort aber, wie in Unterkrain, — wo Bergtaidinge existier-
ten, dürften die Grundobrigkeiten überhaupt sehr lange nur eine vermit-
teinde und vorbereitende Rolle in Streitsachen gespielt haben. Erst im
Laufe des 17. Jahrh. begann der Abbröckelungsprozeß, der bis zur Änstel-
lung besonderer Hofrichter bei den größeren Herrschaftsbesikern führte.
77) S. Nic. de Beckmann, Idea juris statutarii et consuetudinarii
Stiriaci et Austriaei, Graecii, 1688, S. 544, 545
557
mußte, daß der Gerichtsherr zugunsten seines Untertanen hätte
entscheiden wollen. Die Entscheidungen des unparteiischen Rechis
waren anfechtbar, und der Rechtszug ging an den Landeshauptmann
bzw. in Bergrechtssireitigkeiten an den Kellermeister.
Die Rechtsverhältnisse, wie wir sie aus den ziemlich zahlreichen,
in den Gerichtsprotokollen beurkundeten Fällen bezüglich der Tatig-
keit des unparteiischen Rechts kennenlernten, stimmen mit den
eben angeführten Bestimmungen für Steiermark und Niederösterreich
nicht ganz überein. In Unterkrain waren viele Prozesse des Berg-
oder Patrimonialherrn als Klägers gegen seine Untertanen anhängig,
einige Prozesse sind aber auch mit umgekehrten Rollen durchgeführt
worden, und dennoch wurden sie von dem autonomen Volks-
gerichte durchgeführt. Die Beschwerden gegen die Entschei-
dungen der Unparteiischen Gerichte gingen ab und zu wirklich an
den Kellermeister, einige Male aber — bezeichnend genug — an das
Bergtaiding des betreffenden Gebietes!
Im allgemeinen kamen vor das unpariciische Recht besonders
wichtige und bedeutsame oder aber besonders dringliche Prozesse.
Nicht einmal causae criminales waren von ihrer Zustandig-
keit ausgeschlossen. So trat ein Unparteiisches Recht am 7. Marz
1635, das am 29. August 1636 fortgesekt wurde, in Landstraß zu-
sammen, um in Sachen eines großen Viehdiebstahles ein Urteil zu
fällen, — allerdings kam es zu einer Verurteilung nicht, weil der
Kläger seine Entschädigungsansprüche zu spät gestellt hatte. Am
1. Juli 1639 war sogar der Krainer Bannrichter Hanns Frankh in Land-
straß Obmann des Unparteiischen Rechtes und judizierte in Sachen
der Beschuldigung wegen eines Diebstahles von fünf Schweinen,
wobei es zu einem Freispruche gekommen ist. Die Bestellung des
Unparteiischen Richters und seiner Beisiker war Sache des Patri-
monialherrn. Doch sind auch Fälle beurkundet, wo die Parteien den
Unparteiischen Richter selbst erwahliten, worauf erst dessen Be-
stellung durch den Patrimonialherrn erfolgte. So steht es in einem
Protokoll vom 29. August 1636 (Landsiraß): „Durch mich Caspar
Kherin als von Ihro Gnaden Herrn Ruppertus Abten zu Landstra
und beiden Thaillen Erkhisten Unparteiischen Richter.“
Dem Unparteiischen Richter wurde durchgehends eine Anzahl
richterlicher Beisitzer beigegeben, deren Zahl zwischen drei und vier-
undzwanzig variiert; im allgemeinen wurde aber doch eine niedrigere
Anzahl als bei den BT. verwendet. Im Landstraßer Gebiete war es
gewohnheitsrechtlich festgesetzt, daß die Beisitzer des Unparteiischen
Rechtes nicht Untergebene desselben Patrimonialherrn sein durften.
Am 21. Dezember 1598 hat der Beklagte gegen die Zusammensebung
des Unparteiischen Rechtes Protest eingelegt, weil vier Untergebene
des Abtes von Landstraß „im Ringe“ saßen. Das Unparteiische Ge-
richt hat „den von der Landsobrigkeit aufgebrachten Brauch“, daß
„fremde unparteiische Leut bei diesem recht sein sollen“, bestätigt
und „das recht derzeit aus solchen Ursachen willen aufgehebt“. In
späteren Zeiten hat man jedoch diesen Gebrauch vergessen, denn
858
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Medi hg A a a
u
wir finden Protokolle über unparteiische Rechte, in denen — noch
im 18. Jahrh. — unter dem Vorsise des Bergmeisters — zwölf Berg-
holden den „Ring“ bildeten.
Obmann des unparteiischen Gerichtes war stets eine prominente
Persönlichkeit. Das Protokoll führte derselbe Abgeordnete der
Patrimonial- bzw. Bergbehörde, der auch die Bergtaidingsprotokolle
niederschrieb. Auch die äußere Form war die gleiche, und die Ver-
handlungen der Unparteiischen Gerichte wurden ebenfalls in die-
selben Folianten eingetragen, in denen sich die Bergtaidings- und
Quatemberrechisprotokolle vorfanden. Mit einem Worte, alles war
so eingerichtet wie bei den Bergrechts- und Quatemberrechts-
prozessen — nur die innere Organisation des Unparteiischen Rechtes
war eine andere. Diese Art der Ausübung der Gerichtsbarkeit war
bei den meisten Bergherren beliebt und wurde von ihnen auch be-
günstigt; denn auf diese Weise konnte sie am leichtesten aus der
Hand der autonomen Volksgerichte in die Hand des Bergherrn oder
wenigstens seines Vertrauten hinübergespielt werden, wodurch sie
auch in die erwünschte Abhängigkeit von ihnen gelangte.
IV. Zusiändigkeit der Volksgerichte.
820. Die gesetzlichen Bestimmungen.
Eine systematische Einteilung derjenigen Rechtssachen, die in
die Zuständigkeit der Bergtaidinge fallen, würde man im Bergbüchel
vergebens suchen. — Nur das eine mag aus der Anführung der Arten
der Rechtssachen entnommen werden, auf welche von ihnen der
Gesetzgeber ein größeres Gewicht gelegt hat.
a) Als die wichtigsten in die Zuständigkeit der BT. fallenden
Gegenstände erscheinen die in dem BRB. gleich zu Anfang angeführ-
ten Erbrechisklagen (Art. 2)*). Doch finden sich noch später in An-
sehung des Erbrechts die eingehendsten Bestimmungen vor, so im
Art. 22 und 23 bezüglich des Heimfalles und der Kaduzität des Wein-
gartens als Berglehen; weiter in Art. 12 bezüglich der Desertion des
väterlichen Hauses und Besiftums, die Kaduzität zur Folge haben
kann; über die Legate in Ansehung der Weinberge (Art. 21), über die
Zuerkennung der Erbschaft (Art. 44), über die Erbschaftsannahme
(Art. 49), über die Verschweigung des Klagrechts bezüglich der Erb-
schaft (Art. 45), schließlich bezüglich der Haftung der Erbschaft für
die Hereinbringung der Abgaben und Steuern (Art. 19)**). Dieser Zu-
ständigkeitskomplex betrifft aber lediglich die Streitigkeiten um Grund
und Boden, der im Besige der Mejaschen oder Bergholden steht. Die
Zuständigkeit ist eine absolute; eine Einschränkung etwa nach dem
Werte des Grundes war nicht vorgesehen.
Im Bergbüchel sind die Fragen der Zuständigkeit für die Klagen
um das Erbrecht in Ansehung des den Mejaschen außer den Wein-
rs) Mell, Weinbergrecht, S. 110; vgl. auch Art. 2, a. a. O. S. 115f.
re) Mell, Weinbergrecht, S. 130, 116, 129, 140 f., 143 f., 142, 124 f.
859
gärten gehörigen Besibtums nicht geregelt worden. Wir müssen
daher annehmen, daß die Weingärten, die unter den Bergstab der
Bergbehörde gehörten, in die Zuständigkeit der BT. fielen, während
die übrigen Realitäten (außer den Weingärten) nach dem gemeinen
Erbrechte zu behandeln waren, so daß Herren und Landleute vor
dem Landrechte des Schrannengerichtes (forum nobilium), Stadt-
bürger vor dem Stadtgerichie, die persönlich freien Mejaschen Frei-
sassen) aber vor dem Landeshauptmann um das Erbe zu klagen
hatten.
b) An zweiter Stelle befassen sich die Bestimmungen des BRB.
mit den Fragen der allgemeinen Ordnung während der BT., als auch
überhaupt im ganzen Weinberggebiete. Dies waren meistens Dinge,
die in die autonome Machtsphäre der Vollversammlung gehörten.
Dazu gehörten z. B. die Pflicht, an den BT. persönlich zu erscheinen
(Art. 14), während der Versammlung die Waffen abzulegen, im nüch-
ternen Zustande zu bleiben und auf den Gang der Verhandlungen
aufzupassen (Art. 3), weiter die Pflicht, sich wieder auf der Hube
niederzulassen, wenn sie ohne Genehmigung des Bergherrn ver-
lassen wurde (Art. 20°). — Zu den Weisungen über die Erhaltung
der Rechtsordnung im allgemeinen zählen die Vorschrift, daß alle
Verlezungen der „Bergfreiheiten“ beim BT. anzuzeigen sind, ins-
besondere aber die Gewalittätigkeiten der heimischen und fremden
Leute (Art. 7); dann die Vorschrift betreffend die Erhaltung der
Wege, Zäune und dergl. (Art. 8, 9, 10)°2). Daß alle diese Vorschriften
sowohl die Berggenossen (Mejaschen) als auch die Bergholden be-
treffen, erhellt deutlich aus dem Umstande, daß die Originalberg-
artikel keinen Unterschied zwischen den beiden machten. Eine jede
Verletzung dieser Vorschriften kann Gegenstand eines BT.-Urteiles
werden. Freilich sind einige Vorschriften im Laufe der Zeit obsolet
5 so insbesondere die über die Pflicht der Teilnahme an
en BI.
c) Ein breites Feld nehmen jene Weisungen der Bergartikel ein,
die die Pflichten der Weingärtner gegenüber dem Bergherrn in An-
sehung seiner Einkünfte betreffen. Die erste Gruppe dieser Vor-
schriften sorgt für die Erhaltung der Weinbergbestände sowie für die
entsprechende Ertragsfähigkeit der Weingärten. Weinberggrund darf
ohne Genehmigung des Bergherrn weder verkauft noch zu Pfand
gegeben werden (Art. 23, 41); die Art der Bodenkultur darf nicht
eigenmächtig verändert werden (Art. 20); die Weingärten müssen
technisch richtig behandelt werden, die erste Haue, das Beschneiden
der Reben und dergl. kamen da in Frage (Art. 24, 26). Mit der Wein-
lese darf nicht zu früh, daher nur auf Anordnung des Bergherrn be-
gonnen werden (Art.51). Der Most darf mit keinen Zutaten versebi
werden; der Bergherr hat den ersten reinen Beerenmost als Berg-
recht zu bekommen, nicht etwa den aus den Trebern ausgepreßten
s) Mell, Weinbergrecht, S. 118, 111, 126 f.
81) Mell, Weinbergrecht, S. 113 f.
540
(Art. 15). Ohne Erlaubnis des Bergherrn oder Bergmeisters darf
kein Wein oder Getreide aus dem Weinberg ausgeführt werden
(Art. 13). Ist ein Jahr die Weinernte schlecht oder überhaupt nicht
geraten, hat der Weingärtner die benötigte Quantität des Mostes
anderswo zu kaufen, um sie dem Bergherrn als Bergrecht zu reichen
(Art. 15002).
Die Hohe des Bergrechts (Giebigkeit in Most) wird in dem BRB.
nicht angeführt; nur bei den Kulturveränderungen, die vom Bergherrn
genehmigt worden sind, wird angeordnet, daß man ein „zimlich perk-
recht darauf schlahen“ soll, allein „nach erkanninuss der perk-
gnossen“ (Art. 20)*); auch ist bestimmt worden, daß das Berg-
recht, falls es in einem Jahre nicht „gezahlt“ wurde, das andere Jahr
im doppelten Ausmaße und weiterhin stets verdoppelt zu reichen ist
(Art. 16)°). Übrigens wurde das Bergrecht nicht nur vom Weingarten-
erirag, sondern auch von Holz, Getreide, vom Honig aus dem Bienen-
hause, von den gefangenen Billichen und dergl. gegeben, es hieß in
einigen Bezirken schlechthin Zehentrecht. Aus dieser Bezeichnung
kann man auf das zu reichende Quantum schließen. In der Beradt. BO.
(1595) werden in einem besonderen Artikel am Schlusse des Textes
einige Gebühren für den Verkauf oder Kauf der Weingärten sowie
für die Umschreibung in bestimmten Beträgen angegeben®). Daß
auch „Empfach“- und ‚„Toten-Gebühren“ (laudemium, mortuarium)
bezahlt werden mußten, ist selbstverstandlich. Im Ainödter Bezirk
wurden seit Ende des 18. Jahrh. die diesfälligen Vorschriften auf dem
BT. wiederholt eingeschärft.
Unter die Dienste, die der Weingärtner zu leisten hatte, gehörte
die Pflicht, den Wein oder das Getreide aus dem Weingarten so weit
zu führen, als man an einem Tage bis zum Sonnenuntergange ge-
langen kann (Ari. 180%. Eine sonstige Vorschrift zur Leistung von
Frondiensten ist in den Bergartikeln nicht vorgesehen. Die Erzwin-
gung der Erfüllung einer dem Bergherrn schuldigen Leistung war
dadurch ermöglicht, daß vorerst der saumige Weingärtner zum Berg-
herrn oder Bergmeister zitiert wurde; sohin aber auch der Eingang
in den Weingarten oder in den Keller durch Anbringung des Kreuz-
zeichens verboten wurde (Art. 19)87). (Erst durch die Praxis kam
auch das ,,Verpetschieren“ des Kellers auf.)
d) Der größere Teil der Vorschriften der Bergartikel ist — im
Sinne der heutigen Terminologie — strafrechtlichen Inhaltes®®).
Nirgends wird angegeben, was als Grenze zwischen den causae
maiores und minores gelten sollte. Allerdings sind schwerere
Delikte ausgeschieden, da die Strafen nur bis zu 10 Mark gesebt
82) Mell, Weinbergrecht, S. 130, 139, 126 f., 131, 132, 150, 119, 117, 119.
83) Mell, Weinbergrecht, S. 127.
&) Mell, Weinbergrecht, S. 120 f.
es) Unten Anhang I.
es) Mell, Weinbergrecht, S. 123.
e) Mell, Weinbergrecht, S. 124 f.
ee) Art. 33—43, Mell, Weinbergrecht, S. 136—140.
541
wurden. Fast durchgehends wurde zugleich mit der Strafsankhon
auch die Entschädigungspflicht statuiert. Nur an zwei Stellen ist die
Rede von Leibesstrafen. — Im Art. 36 heißt es, daß auf den Einbruch
„in die preb oder keller“ eines Weingärtners, wobei der Tater auch
„mit fravel auf in schlecht“ eine Strafe „an leib und guet” gesetzt
wird. Darunter war u. E. keine „blutige Strafe“ (an Hals und Hand)
zu verstehen; es konnte auch eine Prügel- oder eine spiegelnde
Strafe bedeuten. Die zweite Strafe war die alternativ mit der Geld-
strafe von 4 Schillingen statuierte Strafe des Ohrabschneidens (Art. 40).
Auch hier wird bloß ein entehrendes Abschneiden des Ohrlappchens
gemeint gewesen sein. So kommen wir zum Schlusse, daß in den
Bergartikeln ungeachtet der beiden Leibesstrafen bloß causae
minores gemeint waren. Nur bezüglich der Diebstähle, die im
BRB. vorkommen, ohne daß auf die Wertbetrage, die die Straftat
nach der Peinlichen Halsgerichtsordnung Karls V. zu einer causa
maior stempelten, Rücksicht genommen ware, scheint es dem Er-
messen der Bergtaidingsrichter anheimgestellt worden zu sein, ob die
Sache an das Landrecht zu überweisen war oder in eigener Zu-
ständigkeit zu verbleiben hafte).
Die einzelnen strafbaren Handlungen wollen wir nicht anführen,
wohl aber müssen wir betonen, daß die moderne Regel nullum
crimen, nulla poena sine lege im BRB. nicht nur nicht zur Vor-
schrift gemacht wurde, sondern daß es im Gegenteile aus dem
Art. 29% — wenn seine Entstehungsgeschichte berücksichtigt
wirds) — erhellt, daß die Volksrichter auch befugt waren, außer der
„um ain jeglichen artikel begriffen“ Strafe, auch selbst solche Strafen
urteilsmäßig zu statuieren. So finden wir denn auch in den slov. U.
dem Original ganz unbekannte strafbare Handlungen mit ebensolchen
Strafandrohungen (z. B. Diebstahl von Mist oder Kot in der Ain.-U.;
Gotteslasterung in der Weißenst.-U.; Ehebruch, Kartenspiel, Lotter-
wesen in der Weißenst.-U.; üble Nachrede über den Bergherrn im
Wagensb.-Exz.). Man sieht sofort, daß sich darunter einige straf-
bare Handlungen befinden, die auch in der CCC. vorkommen und
dort als causae maiores qualifiziert waren (Art. 106, 129)*). Man
muß jedoch auch das eine berücksichtigen, dag in den Berg-
artikeln die strafbaren Handlungen gar nicht nach der Schuldart
charakterisiert waren, weswegen man zur Annahme berechtigt wäre,
ee) Art. 157—160, vgl. Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V.,
Constitutio Criminalis Carolina, herausgegeben von J. Kohler und W.
Scheel (= Die Carolina und ihre Vor gängerinnen I), Halle a. S. 1900,
S.85~—87. Vgl. betreffend den Grundsab: „Wo kein Kläger, da kein Richter“
für die CCC. insb. Radbruch, Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser
Karls V., S. 119 nachf.
do) Mell, Weinbergrecht, S. 134.
n) Vgl. bei Mell, a. a. O. die textkritische Anmerkung B), die zeigt,
daß in der Originalausfertigung durch einen Schreibfehler aus „gesaczi“
„gesagt“ geworden ist.
ee) Kohler-Scheel, a a. O. S. 57 f., 66 f.
542
daß nur leichtere Fälle, etwa solche ohne ausgesprochenen bösen
Vorsak, in die Zuständigkeit der BT. fielen.
e) Von dem großen Komplexe der zivilrechtlichen Bestimmungen
hat das BRB. auffallend wenige aufgenommen.
In die Zuständigkeit der BT. fielen die Rechtsstreite um Ent-
schädigung des Nachbarn wegen Tierschadens (Art. 31), wegen des
ihm durch zu nahe stehende Bäume verursachten Schadens (Art. 46),
um Grenzberichtigungen (Art. 47), Prozesse wegen des Einstands-
rechtes (ius retractus, im Original wird der Ausdruck „Anfaillung“
gebraucht, Art. 50), und wegen Auflösung des Kaufvertrages,
wenn die Kaufsumme in der bedungenen Frist nicht bezahlt
wurde (Art. 41)*). Die Rechtsgeschäfte Kauf, Tausch, Bürgschaft,
Verpfändung wurden zwar erwähnt, begrifflich aber nicht festgelegt
(Art. 21, 41, 49)*). Allgemeine Bestimmungen aus dem Obligationen-
rechte fehlen zur Gänze, die Ersigung von Grund und Boden wird
aber geregelt (Ari. 45)*).
Ð Schließlich gehörten in die Zuständigkeit der BT. die Siritte
wegen der Gebühren oder der Bezahlung des Bergmeisters und der
Tagwerker. Betreffend den Bergmeister haben das Original des
BRB.®), die Beradt. BO. %, die Rezl-*), Kapsch-, Museal-U. fast
übereinstimmende Vorschriften, nämlich daß ihm „von jedem Fall oder
pueß“, die der Bergherr zu bekommen hat, zwölf Pfennige für seine
Mühe zu bleiben haben. Die Stud.-Bibl.-U. schärft nur ein, daß der
Bergmeister keine Strafe oder Buße der Bergbehörde gegenüber
verheimlichen darf”). Die Weißenst.-U. hat den Bergmeisteranteil
an der Geldsirafe auf einen Groschen eingeengt, die Layb.- und
Ainödt.-U. sowie das Wagensb.-Exz. haben aber die entsprechende
Stelle überhaupt — gestrichen! Die Übermurg.-U. stellt sich auf
einen anderen Standpunkt; sie warf für viele besonders angeführte
Geschäfte des Bergmeisters (hegymester) als auch Richters
(esküt) besondere Honorare aus. Besondere Tagwerklohne werden
im Original), in der Rezi-**) und Kapsch- U. angeführt, sonst aber
in keiner anderen.
Bei allen Ubersetzungen finden wir die Strafbetrage in verschie-
dener Valuta angegeben. Das Verhältnis zwischen den Pfennigen,
Marken, Kronen, Schillingen, „Denaren“ und kleinen Denaren (de -
narič) wird bloß in der Kapsch- und Ain.-U. geregelt. In der
ee) Mell, Weinbergrecht, S. 135, 142, 143, 144, 139.
ea) Mell, Weinbergrecht, S. 129, 139, 143.
e) Mell, Weinbergrecht, S. 142.
es) Art. 48, Mell, Weinbergrecht, S. 143.
07) Art. 4, unten Anhang l.
Š 3 Rezi-U. Art. 48, ed. Oblak, a. a. O. S. 189, ed. Koblar, a. a. O.
©) Stud.-B.-U. Art. 47, ed. Oblak, a. a. O. S. 305.
100) Art. 52, Mell, Weinbergrecht, S. 145 f.
8 fore Rezl-U. Art. 52, ed. Oblak, a. a. O. S. 190, ed. Koblar, a. a. O.
545
Beradt. BO. heißt es nur, daß eine Mark-Pfennig gleichbedeutend
mit einem Golddukaten sei‘); die übrigen Ausdrücke fur die Geld-
sorten sind in ihr nicht erläutert worden.
§ 21. Zuständigkeitsfrageninder Praxis.
Aus den BT.-Protokollen, aber auch aus den Quatemberrechts-
protokollen gewinnen wir vor allem einen Rückblick in das Verhalt-
nis zwischen dem Bergherrn und seinen Weingärtnern. Bezüglich
der Quatemberrechtsprozesse müssen uns die vorhandenen Proto-
kolle als die einzig zur Verfügung stehenden Wegweiser betreffs der
Frage der Zuständigkeit dienen, da wir außer der oben im 8 18
zitierten Vorschrift der Gerichtsordnung keine geseßliche Bestim-
mung kennen.
Bezeichnenderweise haben die Weingärtner selbst darauf ge-
achtet, daß sich keine fremde Bergbehorde in die Angelegenheiten
des eigenen Bergherrn einmischen durfte. So wurde auf dem BT.
vom 10. März 1711 im Klingenfelser Gebiete beschlossen, die eigene
Bergbehörde zu bitten, sie möge keinem fremden Bergherrn gestatten,
sich ohne Vermittlung der BT.-Versammlung herauszunehmen, die
Weinkeller zu ,,verpetschieren“ und ihr nicht untergebene Untertanen
vor sich zu laden. Anderseits wurde noch am 20. März 1802 in dem-
selben Gebiete beschlossen, ein jeder Weingärtner, der sein Recht
bei der eigenen Bergbehörde mit Umgehung des BT. suchen würde,
verfalle der Strafe von einem „Viertel“ Wein. Demselben Gedanken
sind wir in der Übermurg.-U. begegnet (Art. 14), was schon oben im
§ 10 am Schlusse erwähnt wurde. Die Tatsache, daß dieselbe Vor-
schrift in zwei weit auseinanderliegenden Gebieten bis ins 19. Jahrh.
lebendig erhalten blieb, kann wohl nur als Beweis dafür gelten, wie
zähe das niedere Volk an seiner autonomen Gerichtsbarkeit festhielt.
Es ist kaum anzunehmen, daß die Losungsworte der französischen
Revolution die Bauernschaft in den slov. Gebieten schon zu dieser
Zeit zu solchen Beschlüssen aufgestachelt hätten. Übrigens haben
wir auch aus den vorherigen Jahrhunderten Beweise für den auto-
nomen Charakter der Volksgerichte genug. Mußte doch der Berg-
herr einige Male persönlich oder durch seinen Vertreter als Partei
vor das BT. treten, und dies nicht nur in der Rolle eines Klägers,
sondern auch eines Beklagten, um dortselbst das Urteil der seinem
Bergstabe unterworfenen Weingärtner anzuhören! Da handelte es
sich nicht etwa bloß um Beschwerden allgemeinen Charakters, son-
dern um ganz konkrete Rechtsfragen, gleich wie die BT. auch ın
Streitsachen fremder Adeliger und Nichtadeliger, Geistlicher, Pfarrer,
Städter usw., mögen sie nun Kläger oder Beklagte gewesen sein,
ihre Urteile schöpften. Hier galt es nicht, daß nur Angehörige eines
höheren Standes den Angehörigen des gleichen oder tieferen Stan-
des Recht sprechen durften, nicht aber umgekehrt: Das Band der
103) Art.3, unten Anhang I.
544
Bergstabshoheit hat die Unterschiede der Standeszugehörigkeit ver-
wischt. Die Kausalgerichtsbarkeit bezüglich der Bergrealitaten ge-
hörte vor das Volksgericht, mag der Besitzer der Realität wer immer,
ja selbst der Bergherr selbst gewesen sein, — nur daß die Urteile
eines bestimmten BT. — wie einmal ausdrücklich iudiziert worden ist,
bloß im Gebiete des eigenen Bergstabes Geltung haben durften.
In der ersten Zeit nach der „stara pravda“, d. i. nach dem
Bauernaufstande vom Jahre 1573, der ein für die Bauern so kläg-
liches Ende gefunden hat, waren sogar die Bergherren selbst be-
müht, die Autonomie der Volksgerichte zu schützen. Protokolle aus
dem Ende des 16. und vom Anfange des 17. Jahrh. bekunden, daß die
Äbte von Landstraß und die Superioren von Pletriach die Volks-
richter selbst befragten, was in einem bestimmten Falle rechtens sei,
z. B. wenn ein Weingärtner schon einige Jahre hindurch keine Berg-
steuer entrichtet oder seinen Weingarten nicht ordentlich bearbeitet
hatte. Dies entsprach übrigens dem Inhalte des BRB., weil dieses
in beiden Fällen die Besikentziehung von dem ,,erkanninus der perk-
genossen“ abhängig gemacht hat (Art. 17, 2600. Der Bergherr be-
kam zuweilen auf solche Fragen Antworten, die ihm nicht gepaßt
haben mögen. Ja, sozusagen ein Aufsichisrecht hat sich das BT. in
Ansehung des Verhaltens des Bergherrn angemaßt. Ein Bergsuppan
verklagte am 5. Oktober 1604 (Landstraßer Gebiet) vier Weingariner,
daß sie die bergbehördlichen Petschaften abgerissen haben, und
stellte das Verlangen, diese deswegen zu bestrafen. Die Richter
haben aber die Bestrafung abgelehnt, denn der Bergherr hätte den
Weinkeller verpetschieren lassen, ohne zuvor Klage vor dem BT. er-
hoben zu haben. Daß es Gemeinurteile gab, die das Verhältnis der
Bergbehörde kritisierten, ja sogar mit Drohungen kamen, wurde
schon oben in 8 6, Il, angeführt. Den dortigen Fällen möge noch
einer hinzugefügt werden: Die Klage verlangte von dem BT. — es
handelte sich um die lekterwähnte Versammlung , es solle der Wein-
gärtner, der den Bergmeister anläßlich der Abholung der Bergsteuer
durchprügelte, aus dem Verbande der Weingartenbesiker ausge-
stoßen werden. Der Täter bekam keine Strafe, sondern er wurde
begnadigt; bloß den Auftrag gab man ihm, sich mit dem Bergmeister
zu versöhnen. Fälle, in denen der Bergherr keinen Erfolg erzielen
konnte, könnten noch mehrere angeführt werden. Zwei besonders
charakteristische sollen hier kurz Erwähnung finden: Der Landstraßer
Abt verklagt als Bergherr sämtliche Beisitzer eines BT., weil ein
Weingärtner gegen ihr Urteil die Beschwerde an den Kellermeister
in Laibach erhoben hat und tatsächlich mit ihr durchgedrungen ist.
Der Abt verlangte nun von den Richtern, sie sollen ihm die entstan-
denen Kosten wiedererstatten. Sie lehnten dies ab. Nun hat der
Abt einen Befehl von der Landeshauptmannschaft erwirkt, daß die
BT.-Richter den Beisitzern des Kellermeistergerichtes die Reisekosten
zu ersetzen haben, weil sie vom Lande in die Stadt kommen mußten.
108) Mell, Weinbergrecht, S. 122, 132 f.
545
(Nach Art. 6 BRB. mußten es „landleute und burger, so perkrechi
haben oder dienen“ sein:, in der nächsten Umgebung von Laibach
gab es aber keine Weingärten) Auch diesem Befehle gaben die
BT.-Richter kein Gehör, vielmehr ließen sie protokollieren, man solle
jene zum Kostenersabe verhalfen, die falsche Behauptungen in der
Beschwerdeinstanz durchgesebt haben, „als ob etwas auf dem Wein-
berge geschehen wäre, was in der Tat nie der Fall war“. Dies steht
geschrieben in dem BT.-Protokolle vom 30. März 1606 bzw. vom
10. September 1606, des unter Landstraß fallenden Weinbergs
Jablangen. In einem anderen Falle wurde der Bergherr, der durch
seinen Hofrichter vertreten war, am 11. April 1658 in Arch bei Land-
stra von seinen Untertanen verurteilt, er habe einen Weingarten,
den er an sich gezogen hatte, dem Sohne des verstorbenen Besigers
auszufolgen.
Zu den Gegenständen, die unter die Zuständigkeit der BT. fielen,
gehörten auch Beschwerden wegen Nichtbezahlung der Steuern. In
diesem Belange haben aber die Bergrichter in den weitaus meisten
Fällen dem Bergherrn zu seinen Rechten verholfen; nur selten fanden
sie sein Verlangen nicht gerechtfertigt und schützten die Be-
klagten. Mehrmals sind Urteile gegen fremde Gufsbesizer oder
Zehentherren ergangen. Es wurde z. B. ein Urteil geschöpft, daß die
Zehentherren nicht berechtigt seien, ihren Zehent einzuheben, bevor
der Bergherr sein Bergrecht eingebracht hat. Ein anderes Mal er-
klärten die Bergrichter, der Zehentherr dürfe seinen Anteil nicht von
dem ganzen Quantum einschließlich des Bergrechtweins, desgleichen
nicht vom Geläger (aus Weintrebern gebrannter Schnaps) bestimmen
und an sich nehmens). In gleicher Weise behaupteten sie die
Kompetenz für sich in Ansehung der Beschwerden gegen die Berg-
meister, Hofrichter und Zehentleute. Selbstredend urteilten sie auch
über Vergehen der Beisitzer aus „dem Ringe“.
Die Skizze möge genügen, um darzutun, welch weitgehende
Autonomie die Volksrichter auf dem BT. für sich beanspruchten. Wie
schon oben bemerkt, ist kaum anzunehmen, daß neben dem BT. auch
noch besondere Grundobrigkeitsgerichte hätten existieren können,
sofern sie nicht bloß vorbereitende oder ausführende Agenden ver-
sahen. Wir glauben diese Erscheinung aus dem Umstande erklären
zu können, daß bis zur Mitte des 17. Jahrh. vielleicht die meisten Bei-
10) Mell, Weinbergrect, S. 112.
108) In der Zehentordnung fiir Krain, Istrien und den Karst vom 27. Marz
1575 ist nirgends die Rede von einem Zehent in Wein; reguliert wurde nur
der Zehent in Getreide. In der steiermärkischen Zehentordnung vom 10.
März 1605 wird aber auch vom Weinzehent gesprochen, nicht aber von
einem Gelägerzehent. Nur in der Zehentordnung für. Niederösterreich vom
25. März 1546 hieß es, daß der Zehent nicht von der ganzen Menge, sondern
von jener, die nach Wegnahme des Bergrechtes verbleibt, berechnet werden
darf. S. Ph. O.v. Ottenthal, Der Zehend, nach canonischem und öster-
reichischem Rechte, Linz, 1825, S.64. Hierzu soll nochmals bemerkt werden,
daß in einigen Gebieten im 18. Jahrh. auch das Bergrecht schlechihin Zehent
heißt. (So in Seisenberg und Ainodt.)
846
sitzer — Mejaschen waren, also Leute, die persönlich gar nicht dem
Bergherrn untertan waren. Jedenfalls empfanden es aber die Berg-
herrn mit der Zeit als einen Hohn auf ihre Herrlichkeit, daß sie die
Bauerngerichte neben sich dulden mußten, vermieden es, auf den-
selben den Vorsi§f zu führen und blieben ihnen schließlich ganz
fern’). Nun wollten aber auch die Gutsbesitzer als Mejaschen nicht
mehr persönlich mittun; sie blieben auch aus. Die Bergholden nahmen
allerdings ihre Richtersige ein, allein diesen gegenüber hatten die
Vertreter des Bergherrn ein leichteres Spiel. Wenn es auch hinfort
fast bis zur Wende des 19. Jahrh. in allen Weinberggebieten dennoch
bei der Bergtaidingsgerichtbarkeit verblieb, so geschah dies haupt-
sächlich darum, weil die Zusammensebung der Beisiterfafel die
Gewähr bot, daß es zu sachlichen Gegensäben zwischen den Wein-
garinern und der Bergbehörde nicht mehr kommen konnte. Tatsächlich
gehören fortan Stellungnahmen wider die Bergbehörde zu den
größten Seltenheiten. In einigen Gebieten, wie im Seisenberger und
Ainödter Gebiete, verbanden übrigens die Bergherren die Stellung
eines Vorsitzenden mit jener des Obmannes im Richterkollegium, wo-
durch Konflikte überhaupt unmöglich gemacht wurden. So kam es
also, daß die Quatembergerichte im Laufe des 17. Jahrh. hier früher,
dort später, der Gerichtsbarkeit der Grundobrigkeiten, bei der
anfangs auch noch Laien mitzuwirken hatten, wenn auch mit anderen
Befugnissen, weichen mußten, wogegen die BT. konsequent ihre
Zuständigkeit für alle Rechtssachen behaupteten, die sich auf das
Leben in den Weingebirgen bezogen, mag es sich um Fragen aus dem
Personen-, Sachen-, Erb-, Obligationen- oder Strafrecht gehandelt
haben"). Das größte Kontingent lieferten die Straf- und Erbschafts-
108) Johann Weikh. Valvasor, der Verfasser der „Ehre des Herzog-
ums Krain“ (1689), ein glühender Verehrer seines Heimatiandes, führt im
IX. Buche seines großen Werkes sieben verschiedene Gerichisinstanzen für
Krain an, übergeht aber mit Stillschweigen die Bergtaidinge und das Keller-
gericht, ja nicht einmal die Geltung der Ber el registrierte er.
war aber Valvasor, wie wir urkundlich nachgewiesen haben, selbst Bergherr
und als solcher über die Bergtaidingsjustiz auf seiner Herrschaft Wagens-
berg und zweifellos auch bei anderen Grundherrschaften informiert. Es
fällt auf, daß Valvasor wohl die „hölzernen Urteile“ der Volksgerichie
Istriens und in der Windischen Mark, die schon Mitte des 16. Jahrh. abge-
schafft worden sein sollen, einer beißenden Kritik unterwirft (a. a. O. Bd. M,
S. 95), von der Existenz der noch funktionierenden Volksgerichte in Unter-
krain aber keine Notiz nimmt. Wie wir im Glasnik Muzejskega DruStva za
Slovenijo (Bulletin de l'Association du Musée de Slovénie) IX, Ljubljana
1928, S. 98—106 in einer Abhandlung uber Valvasors Stellungnahme zu den
slovenischen Volksgerichten (Valvasor in slovenska ljudska sodišča) aus-
geführt haben, kann dies merkwürdige Verhalten nur damit aufgeklärt
werden, daß er es als eine Schmach für die Landstände empfunden hat, daß
sie diese Volksjustiz noch nicht abgeschafft haben, weshalb er sie der aus-
wärtigen Leserschaft gegenüber lieber unerwähnt lassen wollte.
107) Das angewendete Volksrecht weist vielfach ganz eigenartige Auf-
fassungen auf. Auf Grund der aus drei Jahrhunderten stammenden Ge-
richtsprotokolle lassen sie sich gut verfolgen. In dieser Abhandlung können
wir allerdings nicht einmal eine Skizze davon geben, weil dies den Rahmen
der Abhandlung zu sehr erweitern würde.
547
klagen. Bei Straffallen ging die Zuständigkeit manchmal so weit, daß
die BT.-Richter darüber entscheiden zu sollen glaubten, ob eine Sache
als causa maior vor den Bannrichter kommen müsse. Sogar in
den Arrest steckten sie einen Beschuldigten für zwei Wochen, mit der
Begründung, er solle in dieser Zeit seine Unschuld erweisen, widrigens
werde er als „Malefizperson“ dem Landgerichte überstellt werden.
(Beschluß vom 14. September 1601, Landstraßer Gebiet.) So zeigt sich
auch hier die ausgesprochene Tendenz, die Autonomie der BT. zu
behaupten.
Auch den Stadigerichten gegenüber wollten die BT. keine Kon-
zessionen bezüglich der Zuständigkeit zulassen. Hatte der Beklagte
einen Weingarten, konnte nur das BT. in Weingartensachen ein Urteil
fällen. Desgleichen konnte der Hofrichter der Herrschaft die Zu-
ständigkeit der BT. lange nicht zum Wanken bringen, obschon er
Klageaufnahmen besorgte, den Weingartenbesib evident führte usw.
Erst im Laufe des 18. Jahrh. haben einzelne besonders angesehene
und beliebte Hofrichter (wie z.B. Franz von Garzarolli in Landstraß)
zunächst als Stellvertreter des Bergherrn, dann als Vorsitzende der
Beisigertafel einen entscheidenden Einfluß auf die Gerichtsbarkeit in
Bergrechtssachen gewonnen. Schließlich wußten die Hofrichter die
BT. dem selbständigen Wirkungskreis des Grundobrigkeitsgerichtes
einzugliedern, um zu guter Lebt die Mitwirkung der Volksrichter
gänzlich auszuschalten.
V. Das Verfahren bei den Volksgerichien.
82. Prozeßeinleitung.
Wie die Angelegenheiten ins Rollen gebracht wurden, die zu
einem Gemein-Urteil führen sollten, wurde bereits besprochen (oben
§ 15). Hier kommen nur mehr die Privatklagen von Person zu
Person in Betracht.
Das Original des BRB. enthält keine allgemeine Bestimmung dar-
über, ob der Bergherr eine streitige Rechtssache allein ohne Mit-
wirkung des BT. (,,erkanninus der perkgenossen“) entscheiden darf.
Wohl hat das BRB. gleich im Art. 2 angeordnet, der Bergherr habe
„denen, so umb erb zu clagen haben albeg in jar recht ergeen lassen,
im schriftlich oder mundlich furpot thuen und in des zu ainer jeden
zeit nicht verziehen, sonder furderlich recht ergeen lassen, dann dise
recht nicht verzug leiden mugen“:®). Diese, fast an die Spike des
BRB. gestellte Vorschrift stand in engster Beziehung mit einer andern
in den Art. 44, also fast ans Ende gerückten Bestimmung, der Berg-
herr solle „ainem jeden erben auf sein gerechtigkait, so ime aner-
storben ist, leihen, was er ime von recht daran zu verleihen hat“. Die
weitere daran anschließende Bestimmung besagt: wenn der Erbe im
Beisein von zwei Berggenossen um die Verleihung des Erbes
angesucht, aber durch drei Stunden vergeblich darauf gewartet hat,
108) Mell, Weinbergrecht, S. 110.
548
kann er sich beim Kellermeister beschweren, und dieser hat die Ver-
leihung binnen vierzehn Tagen schriftlich zu befehlen. Wenn aber
der Bergherr glaubt, er sei dennoch nicht verpflichtet, diese zu voll-
ziehen, so soll er binnen dieser vierzehn Tage „die perkgenossen
nidersezen und erkennen lassen. thot er das nicht, so soll alsdann
des Landsfursten kellermaister ime (sc. dem Erben) solch erb auf
sein gerechtigkait verleihen und ime darzue zu recht schermen“:®).
Der Sinn der zweitgedachten Vorschrift kann nur der gewesen sein,
ein Streit, der zwischen dem Untertanen und dem Bergherrn ent-
standen, soll durch einen Urteilsspruch des BT. aus der Welt geschafft
werden; der Bergherr aber, der diesen Urteilsspruch nicht selbst
anzuregen beliebt, sei dem Urteilsspruche des Kellermeisters unter-
worfen. Dieser Gedanke kam in der Beradt. BO. noch klarer zum
Ausdruck. Dort heißt es im Art. 2: „item soll ein Jeder Perkherr,
denen so umb Erb zu clagen haben, die zwischen den Angestellten
Perkthaiding angefallen währen, allerwegen im Jahr recht ergehen
lassen, im schrüft oder mündlich Fürpitte thuen vund in daz zu einer
ledenzeit nit verziehen, sondern fürderlich recht ergehen lassen“),
Daraus geht hervor, daß der Bergherr im 16. Jahrh. nicht nur
berechtigt, sondern verpflichtet war, selbst die Bergtaidingsrichter
auch außerhalb der althergebrachten Versammlungstage zur Ver-
handlung und Urteilschopfung einzuberufen.
In ähnlicher Weise wird im Art. 13 des BRB. angeordnet: Wenn
der Bergherr der Person, die ohne Erlaubnis Wein oder Getreide
aus dem Weingebirge ausgeführt hat, nicht habhaft werden konnte,
solle er sich die Geldbuße, der der Frächter verfallen, sowie den
Wert des Frachiguies aus dem Grund und Boden verschaffen, —
„doch das dasselb verpot in vierzehn Tagen darnach gerechtfertigt
werde"). Wie die Rechtfertigung geschehen solle, ist hier nicht
genauer angeführt; desgleichen auch nicht in der Beradt. BO.**) und
in der Rezi-U.:1:). Doch hat die Kapsch-U. ausdrücklich bestimmt, dies
müsse durch einen Prozeß binnen vierzehn Tagen erkannt werden.
Selbstredend hat der Bergherr seine BT.-Richier zu einer außer-
ordentlichen Versammlung einberufen müssen. Doch muß bemerkt
werden, daß eben diese Vorschrift in einigen anderen Übersekungen
überhaupt nicht mehr übersetzt oder sogar ins Gegenteil verkehrt
wurde, z. B. im Wagensb.-Torso, wo es heißt, alles müsse dem Berg-
herrn binnen vierzehn Tagen bezahlt werden***).
Auch noch in einem dritten Falle konnte es zu einer außerordent-
lichen Verhandlung der BT.-Richter kommen. Nach dem Art. 19 des
BRB. kann der Bergherr den Weingarten wegen Nichibezahlung der
100) Mell, Weinbergrecht, S. 140 f.
110) Unten Anhang I.
111) Mell, Weinbergredht, S. 117.
113) Art. 13, unten Anhang I.
3 oc Nezl-U. Art. 13, ed. Oblak, a. a. O. S. 183, ed. Koblar, a. a. O.
114) Wagensberg-Torso Art. 13, ed. Dolene, a. a. O. S. 103.
23 NF 6 349
„fäll und wandel“ verkreuzigen lassen, womit der Eintritt in den
Weingarten bei einer Geldstrafe verboten wurde. Bei jeder Ober-
tretung dieses Verbots verfällt die Geldstrafe, so daß der Uberireter
deren Summe zu bezahlen verpflichtet istus). Wenn aber diese
Häufung der Strafbetrage nicht mehr genehm ist („wann das den
perkherrn verdreust‘), dann mag er den Übeltäter vor einen Richter
und die Berggenossen stellen, die ihn vor sich zu rufen und die Straf-
betrage zusammenzuzählen haben, worauf sich der Bergherr seines
Erbgutes für so lange bemächtigen darf, bis er Bezahlung bekomme).
Diese Einberufung der Richter, die durch ihren Spruch dem Berg-
herrn zu seinen Rechten verhelfen sollen, ist noch in der Beradt. BO.
beibehalten worden’), fand auch eine richtige Aufnahme in der
Rezi-11*), Kapsch-, Weißenst.- und Ain.-U. Die Mus.-U. lautet dahin,
es können der Bergrichter selbst oder der Richter die Sache durch
einen Spruch erledigen. In der Layb.-U. wurde aber eine Fassung
gewählt, nach der mit der Erledigung der Sache bis zum nächsten
BT. zuzuwarten ist.
Wurde nun im Art.4 BRB. angeordnet, daß „ain jeglicher“ (scil.
Berghold oder Berggenosse — Mejasch) sein ordentliches Gericht in
erster Instanz vor dem BT. haben soll***), so muß damit nicht nur das
ordentliche BT. als Gericht, sondern auch das außerordentlich ein-
berufene Kollegium der BT.-Richter gemeint gewesen sein. Die Ein-
berufung war stets vom Bergherrn anzuordnen.
Allerdings wurde für zwei Fälle ausnahmsweise vorgesehen, daß
eine Strafe vom Bergherrn selbst ohne Mitwirkung der Bergrichter
verhängt werden dürfte. Nach Art. 21 straft mit einer Mark Pfennige
der Bergherr, wenn ein Vermächtnis, Kauf, eine Pfandbestellung
nicht „mit des perkherrn oder seines perkmaisters hand“ geschehen: !.
Die zweite Ausnahme betrifft den dreimal nacheinander an den Tag
gelegten Ungehorsam eines vor den Bergherrn oder Bergmeister vor-
geladenen Weingariners. In diesem Falle war dem Bergherrn eine
Strafe von drei Mark verfallen (Art. 25)*#1). Diese Vorschrift wurde
in einigen slov. U. ausdrücklich dahin ergänzt, daß die Strafe zur
Zeit des Ungehorsams, also sofort, ohne Bergrichterspruch verfällt.
In der Layb- und Ain.-U. wurde sie noch weiter dahin verschärft, daß
die Strafe schon nach dem ersten, und nicht erst nach dem dritten
Ungehorsamsfalle zu verhängen sei.
Allein von diesen leSigedachten Bestimmungen abgesehen, waren
doch einige Angelegenheiten in Erb- und Strafsachen gegeben, die
a ae
118) Ganz vereinzelt heißt es in Art. 16 der Ain.-U, daß die Geldstrafe
erst verfallen ist, wenn das Verbot schon zehnmal übertreten wurde.
119) Mell, Weinbergrecht, S. 124 f.
117) Art. 17, unten Anhang l.
Š Er Rezl-U. Art. 19, ed. Oblak, a. a. O. S. 184 f., ed. Koblar., a. a. O.
110) Vgl. oben 8 6, Il.
130) Mell, Weinbergrecht, S. 129.
121) Mell, Weinbergrecht, S. 132.
550
von der allgemeinen Vorschrift, daß alle Streitigkeiten sofort vor
das ordentliche BT. zu kommen haben, ausgenommen waren. Der
Bergherr war aber nicht befugt, sie selbst endgültig zu erledigen;
ihm kam bloß die Befugnis zu, die Sache für die lurisdiktion der
BT.-Richter dadurch vorzubereiten, dab er die seinem Bergstabe
untergebene Person verhörte, ja sogar ihr Weisungen erteilte, allein
sie hatte die Möglichkeit, sich an das Gericht des BT. zu wenden.
Die Bestimmungen des BRB. sprechen nicht davon, daß Streit-
sachen oder Klagen noch vor dem BT. bei der Bergbehörde anzu-
bringen oder anzumelden gewesen wären, und daß diese befugt ge-
wesen wäre, sie abzulehnen oder niederzuschlagen. Aus dem Art.5
ist eher das Gegenteil zu erschließen, daß jedes eigenmächtige
Zurückhalten der Streitsachen eine Beschwerde an den Kellermeister
zur Folge haben kannn). Auch steht es in dem Art. 7, der fast in
alle slov. U. sinngetreu aufgenommen wurde, daß auf den BT. alle
Verlekungen der Bergfreiheiten anzuzeigen sind‘**). Nichtsdesio-
weniger kann nicht angenommen werden, daß es einer betroffenen
Partei verwehrt gewesen wäre, in dringlichen Angelegenheiten die
Hilfe des Bergherrn oder seines Bergmeisters in Anspruch zu nehmen.
In diesem Sinne möchten wir für die Rechtsgebiete, in denen das
BRB. Geltung hatte, die Angaben Ferdinand von Rechbechs
richtigstellen, daß eine jede Grundobrigkeit als erste Instanz in Zivil-
sachen ihre Untergebenen entweder selbst oder durch einen unpar-
teiischen Richter verhören und sentenzieren durfte**). Damit steht
nicht im Widerspruche die Bestimmung des Art. 27, unfersfützt viel-
mehr unsere Auffassung, daß der Bergherr oder der Hubmeister
(siehe oben § 10) auf ein Begehren (sic!) „ain furpot“ erlassen kann,
freilich gegen Bezahlung einer Taxe von 12 Pfennigen*™*). Die Stud.-
B.-U. spricht hier von dem Begehren eines Briefes oder eines Siegels
(Petschaft):*), dessen Übersendung als Vorladung gewertet werden
mochte*#"). Doch waren diese Vergleichsversuche durch Inanspruch-
132) Mell, Weinbergrecht, S. 112.
133) Mell, Weinbergrechi, S. 113.
1%) Siehe Ferdinand von Rechbach, Observationes ad Stylum
curiae Graecensis et subordinatorum tribunalium Styriae, Carinthiae, Car-
nioliae, Ooritiae, Tergesti, Fluminis et Anplety (Grab 1680), S. 115. VgL
auch Nicolaus de Beckmann, a. a. O. S. 544, 545. In gleichem Sinne,
wie oben, vertritt seine Anschauun in der Sache auch Polec, a. a. O.
S. 34. Selbstredend ist die öglichkeit nicht auszuschließen, dag
von Rechbach für die übrigen Gebiete, außer den Weingegenden,
recht hatte. Vol. übrigens auch von Rechbach, a. a. O. S. 55-57,
über das Bergrecht in Steiermark.
138) Mell, Weinbergrecht, S. 133.
138) Stud.-B.-U. Art. 26, ed. Oblak, a. a. O. S. 303.
137) Vgl. über die ver cues des Ladungssiegels in den slavischen
Sjedlunosgebielen M. von Sufflay, Az idézo pecsét a szláv források
vilá világánál (Das Ladungssiegel im Lichte der slavischen Quellen),
Századok (Jahrhunderte) XL, Budapest 1906, S. 203-312, im Auszug (Sigillum
citacionis) auch Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichts-
forschung XXVIII, Innsbruck 1907, S. 515—518. — Eine Vorladung wegen
551
nahme der Bergbehörde keineswegs obligatorisch gemeint. Eine
solche Annahme würde mit der Bestimmung des BRB. in Widerspruch
kommen, daß jedermann verpflichtet sei, persönlich oder durch seinen
Stellvertreter an dem BT. teilzunehmen, damit er höre, ob der Berg-
herr oder jemand anderer gegen ihn etwas zu klagen oder zu melden
hat, mit der Begründung „dann man nit schuldig jedem besonder
furzupieten“ (Art. 14). Auch wurde hinsichtlich der Erbansprüche
ausdrücklich bestimmt, daß sie im BT. anzumelden seien (Art. 11}1®).
U. E. war daher das Recht, Klage zu führen, ohne vorher die Berg-
behörde als Vermittlerin anzurufen, von alters her so bekannt, dab
es gar nicht im BRB. besonders statuiert zu werden brauchte. Was
aber für die BT. recht war, mußte für die Quatember- und Billich-
rechte gewohnheitsrechtlich für billig gelten. Wie aber die Parteien,
wenn sie das persönliche Erscheinen der Gegenpartei unbedingt ge-
sichert haben wollten, vorgehen mußten, das regelten in den einzelnen
Weinberggebieten die bestehenden Gewohnheiten.
§ 23. Hauptgrundsake des Prozeßverfahrens.
Uber die Art des Prozeßverfahrens auf dem BT. erfahren wir
aus dem BRB. fast gar nichts. Allerdings müssen wir annehmen, dab
das fiskalische Interesse des Bergherrn die Prozeßführung stark
beeinflußt hat. Es heißt im BRB., daß jede Partei, die in Erbsachen
Klage zu führen hat, eine Taxe zu erlegen habe (Art. 1 10. Diese
Vorschrift wurde in einigen Übersekungen ausdrücklich auf Klag-
ansprüche jedweder Art ausgedehnt. Ähnliche fiskalische Bestim-
murigen bestanden für das „Fürbol“, für die Übersendung eines
Gerichisbriefes mit einer Urteilsausfertigung, für die Abfertigung
eines „Dingnusses“ (Beschwerde an die höhere Instanz (Art. 27)***).
Die slov. U. variieren untereinander in erheblichem Maße. Auch die
Bestimmung des Art. 27 BRB., daß die Taxen gemäßigt werden sollen,
wenn es sich bloß um eine geringfügige Sache handelt, kam in
einigen Übersekungen gar nicht zum Ausdruck.
Ober den Gang der Prozesse schreibt das BRB. nichts vor. Wohl
wird das Verbot aufgestellt, bewaffnet zu erscheinen, und das Gebot,
sich anständig zu benehmen und jeden Anlaß zu Prügeleien und
dergl. zu vermeiden (Art. 3)***). Eine besondere Vorschrift über die
Vertretung beim Prozesse ist allerdings darin zu erblicken, es dürfe
sich keine Streitpartei einen „prokurator oder Redner“ selbst auf-
nehmen, sondern sie könne ihn, wenn ein solcher erwünscht ist, beim
einer gerichtlichen en, wurde in einigen Weinberggebieten auch
„ genannt rimm, Deutsches Wörterbuch Il, Leipzig
860 ;
128) Mell, Weinbergrecht, S. 118.
139) Mell, Weinbergrecht, S. 115 f.
180) A. a. O.
1851) Mell, Weinbergrecht, S. 131.
183) Mell, Weinbergrecht, S. 115 f.
352
Ring, d. h. von der Beisikertafel begehren, und diese stellt ihn ihr
bei (Art.30}**). Diese Vorschrift dürfte jedoch nur für die Bergtaidings-
prozesse angewendei worden sein, da beim Quatember- und Un-
parteiischen Rechte die Zulassung des Beistandsherrn aus Landstraß
namens Dittrich Rab um 1639 urkundlich erwiesen ist.
Weitere Vorschriften, wer als Partei aufireten kann, in welcher
Reihenfolge sie während der Verhandlung zu sprechen haben, wie
die Beweise aufzunehmen sind, wie die Beratung, wie die Urteils-
Schöpfung zustande kommt — alles dies wird im BRB. nicht an-
gegeben. Augenscheinlich war es jedermann nach mündlicher Über-
lieferung bekannt. Nur in Ansehung der Hereinbringung der Taxen
und der Geldbußen für den Bergherrn oder Bergmeister wird der
Weg der indirekten Exekution durch Verkreuzigung des Weingariens
festgesetzt (Art. 19; siehe oben § 13).
82%4. Höhere Instanzen.
Daß das BRB. eine zweite und dritte Instanz über den BT. vor-
gesehen hat, wurde bereits oben erwähnt (8 9). Allein Verfahrens-
vorschriften für diese Instanzen finden sich in den Bergartikeln nicht
vor. Die zweite Instanz, der Kellermeister, erhielt allerdings Wei-
sungen organisatorischen Inhalts, er habe in einem Richterkollegium
zu iudizieren, das mit „landleuten und burgern, so perkrecht haben
oder dienen“, zu besetzen sei (Art. 6). Die Kausalgerichtsbarkeit
ist dadurch strenge betont, doch nicht angegeben worden, wer, wann
und wie die Besekung anzuordnen hat. Wir müssen annehmen, daß
dies alles gewohnheitsrechtlich allgemein bekannt war.
Etwas mehr erfahren wir über die Fälle, in denen die zweite
Instanz angerufen werden darf. Der erste Fall ist die Verzögerung
bei der Erledigung eines rechtlichen Anliegens, an der der Bergherr
schuld trägt. Der Beteiligte konnte Abhilfe suchen nach der Ur-
schrift des BRB. beim Kellermeister (Art. 5)***), nach einigen Über-
setzungen beim Landeshauptmann. (Auf den Grund dieser Divergenz
kommen wir später noch zurück.) Ein zweiter Fall des Beschwerde-
rechtes war gegeben, wenn die eine oder die andere Streitpartei mit
dem Urteile oder Bescheide der Richter auf dem BT. nicht zufrieden
war: Sie mußte sich vor dem Bergherrn oder seinem Bergmeister
beschweren und das Urteil (haubturtl) von dem ersten und lekten
Richter „gleich wol dingen für den landsfürsten kellermeister“
(Art. 28). Es soll hier sofort festgestellt werden, daß das Richter-
kollegium nach den Vorschriften des BRB. nicht berechtigt erscheint,
eine solche Beschwerde a limine abzuweisen.
Von dieser zweiten Instanz sprechen außer dem Original und
188) Mell, Weinbergrecht, S. 135.
338) Mell, Weinbergrecht, S. 112.
188) Mell, Weinbergrecht, S. 112.
188) Mell, Weinbergrecht, S. 133 f.
der Beradt. BO. noch die Rezl-, Layb.-, Stud.-Bibl.- und Ain. U. ,
die übrigen schweigen überhaupt von der Möglichkeit der Beschwerde
an den Kellermeister gänzlich.
Von der dritten Instanz, die über eine Beschwerde über das
Urteil des Kellermeisters zu entscheiden hatte, wird außer im Original
BRB. (Art. 28)***) und der Beradt. BO. (Art. 26)**) gleichfalls nur mehr
in den Rezl-, Layb.-, Stud.-Bibl.-**) und Ain.-U. gesprochen. Die
Rechtsprechung in dritter Instanz kommt dem Landeshauptmann selbst
ohne weiteres, dem Landesverweser und Vizedom aber bloß dann
zu, wenn ihnen dies von der königl. Majestät übertragen wurde.
Einen besonderen Standpunkt nimmt die Mus.-U. ein. Sie laßt die
Beschwerde gegen die Urteile der BT. zu, doch geht der Rechtszug
nicht an den Kellermeister, sondern sofort an den Landeshauptmann.
Betreffend die Zusammensegfung der dritten Instanz weist nur
die Beradt. BO. einen besonderen Beisab auf, nämlich, wer sich
gegen das Urteil des Kellermeisters beschwert, „der mag alsdann
daz für den Herrn landshauptmann landsverwessern wund Vizedomb
dingen, die als dan solche appellation vnd in bey sein des er herrn
verordneten oder anderer herrn landleuth zu erledigen haben“ .
825. Die Entwicklung in der Praxis.
Die un vollkommene Darstellung der Verfahrensgrundsäße vor
dem BI., insbesondere aber auch noch die Auslassung der ohnehin
durftigen Vorschriften des Original-BRB. in den slov. U., beweisen
zur Genüge, daß die Art und Weise des Prozeßbetriebes geradezu
zu einer Domäne des Gewohnheitsrechtes geworden ist, wobei aller-
dings einzelne Bestimmungen in den verschiedenen Weinberggebieten
durchaus nicht gleichen Inhaltes zu sein brauchten. Ein wenig mehr
Klarheit bringen die Gerichtsprotokolle, allerdings nur für die ersie
Instanz. Für die zweitinstanzliche ludikatur sind uns bisher noch
keine urkundlichen Quellen bekannt. In den nachstehenden Er-
orterungen wollen wir die notwendigsten ergänzenden Bestimmungen
kurz und ohne Einzelheiten anführen.
a) Die Fälle, in denen der Bergherr die Bergrichter zu einer
außerordentlichen Tagung einberufen hat, wurden sehr selten und
ohne Anführung des Einberufungsgrundes angegeben. Es scheint,
187) Beradt. BO. Art. 26, unten Anhan a Rezl-U. Art. 28, ed.
Oblak, a. a. O. S. 186, ed. Koblar, a. a. S. 153, Stud.-B.-U. Art. 27,
ed. Oblak, a. a. O. S. 304
138) A. a. O.
180) A. a. O.
140) A. a. O.
141) Art. 26, unten Anhang I. „Landileuih“ waren Mitglieder der Land-
stände, die Verordneten Mitglieder der Verordnetenstelle. S. Rech-
bach, a. a. O. S. 59 f., 79 f., 114. „Die Verordnetenstelle war auch berufen,
in Sachen der Steuern, Tab- und Mauthgebühren sowie Kontributionen ia
erster Instanz zu entscheiden.“
554
daß diese Art des Vorgehens im praktischen Leben weder bei der
Bergbehörde, noch bei den Volksrichtern beliebt war. Die Beisitzer
sind wohl nicht gerne dem Rufe in das Herrschaftsschloß gefolgt,
weil sie im Weingarten saßen, am liebsten vor dem versammelten
Volke iudizierten, zumal hier die Garantien für eine unbeeinflußte
Rechtsprechung gegeben waren, während sie dort aber zum min-
desten zweifelhaft war. Auch über Vorladung und andere vorbe-
reitende Schritte für die Bergrechtsklagen ist in den Protokollen
kaum eine Erwähnung zu finden. Erst für die erste Hälfte des
18. Jahrh. haben wir urkundlichen Beweis dafür, daß die Verwalter
in Ainödt Klagen, die auf das BT. kommen sollten, in ein Verzeichnis
aufgenommen haben, was wohl beweist, daß die Parteien — ob
fakultativ, ob obligatorisch wissen wir nicht — ihre Streitfälle im
voraus dem Bergherrn vorgebracht haben. Beschwerden gegen Ver-
fügungen des Bergherrn betreffs der Strafen und Gebühren gab es
keine; wohl aber sind einige gegen den Ausspruch, daß der Wein-
garten verfallen sei, verzeichnet worden.
b) Aus den Protokollen ersehen wir, daß vor der Klageeinleitung
in Zivilrechtssachen eine Aufforderung zur gütigen Beilegung des
Streites notwendig war; dies war das Rechtsinstitut „des Besuchens“,
das von Person zu Person erfolgen mußte. Dafür wenigstens, dab
diese außergerichtliche Mahnung vor der Prozeßeinleitung durch
berggerichtsbehördliche Organe ausgeführt werden konnte, haben
wir keine urkundlichen Belege gefunden. Nun hat eine solche Be-
suchung, die die Gerichtsordnungen für Steiermark aus den Jahren
1573 und 1618 ausdrücklich vorgeschrieben haben), in Unterkrain
schon im Jahre 1590 existiert. In einem Protokolle vom 16. September
1590 aus Strascha bei St. Margareten heißt es wörtlich, da „wider
den landsbrauch geklagt vund der Kläger nit zu vor ersucht, ist der
Beklagte derzeit der Klag und von der Antwort müßig erkanndt
worden, ferner soll sy es it suchen, wie es recht ist“. Ein anderes
Mal wurde angenommen, die ohne Besuchen angebrachte Klage
werde nur als eine Ankündigung oder Meldung einer erst in Zukunft
richtig anzubringenden Klagserhebung angesehen. Sogar im 18. Jahrh.
ist dieses Institut gewiß noch gehandhabt worden. Anderseits sind
uns aber unzählige Fälle aus den Gerichtsprotokollen bekannt, in
denen auch ohne vorheriges Besuchen Klagen erst am BT. selbst
angebracht worden sind, so insbesondere wegen strafbarer Hand-
lungen und der dadurch bedingten Entschädigungsansprüche.
c) Eine Anwendung der fiskalischen Bestimmungen über die
Klagetaxen ist in den Gerichtsprotokollen nirgends verzeichnet
142) Vgl. Ainer Ersamen Landschafft des Löblichen Fürstenihumbs Steyr
new verfaßte Reformation des Landts me Hofrechts daselbst im MDLXXIll
Jar aufigericht. Augsburg 1575. Art. 20, f. 10. — Des Loblichen Fürsten-
thumbs Steyer Gerichtsordnung Wie ear der Landtshauptmanschafft und
dem Schrannengericht Procedieret werden solle. Reformiert im Jahre 1618,
Grab 1620, Art. 23, f. 17 v., 18 r. Vgl. darüber Schenk, Übersicht der
österreichischen Gesetzgebung über Civilprozeßrecht bis zum Schlusse des
XVI. Jahrhunderts, Wien 1864, S. 85.
555
worden. Vermutlich haben die Bergherren die Anhängigmachung
der Prozesse nicht erschweren wollen, weil dies ja nur eine Min-
derung ihrer Einkünfte aus den Geldstrafen zur Folge gehabt hätte,
während der Abgang der Klagetaxen wirklich nicht schwer ins Ge-
wicht fiel. Auch bei Appellationsanmeldungen wurden keine Taxen
angemerkt; vielleicht sind sie in der Kanzlei des Guisherrn unmiitel-
bar eingehoben worden.
d) Die Entscheidungen sind zum weitaus größten Teile einhellig
geschöpft worden; doch finden sich auch ab und zu Vermerke, daß
eine Entscheidung nur mit Stimmenmehrheit erfolgte. Als Kläger
traten nicht nur Weingariner, sondern auch der Bergherr, der Hof-
richter, der Bergmeister, die Beisiker selbst, die ganze „Nachbar-
schaft“, die „gesamte Beisikeriafel“ auf, desgleichen konnten aber
alle diese auch Beklagte sein. Auch für den Bergherrn galt keine
diesfällige Ausnahme, allerdings nur bis etwa Mitte des 17. Jehrh.
Inhabilitat der Richter war nicht bekannt.
Als Beweismittel wurden hauptsächlich Zeugenvernehmung und
Lokalaugenschein in Anwendung gebracht. Es herrschte sozusagen
absolute Mündlichkeit des Verfahrens. Von irgendwelchen Schrift-
saben der Parteien war keine Rede. Die Urteile wurden nach der
Beweisdurchführung beschlossen und „stehenderweise“ verkündet,
es wäre denn, daß erst eine Beweisdurchführung außerhalb des Ge-
richtes durch den Bergmeister oder die Schäkleute angeordnet wer-
den mußte. Die Exekutionen geschahen durch Verkreuzigung oder
Verpetschierung des Weingartens bzw. Weingartenkellers unter An-
drohung weiterer Strafe für den Fall, daß der Anspruch nicht be-
friedigt würde.
e) Das Verfahren in Beschwerdesachen ging seine eigenen
Wege, die irh BRB. nicht vorgesehen waren. Zunächst bestand wohl
in allen Gebieten die Rechtsübung, daß es dem Ermessen des i u d e x
a quo anheimgestellt war, den Beschwerdeweg an den iudex a d
quem zuzulassen oder aber zu versagen. Allerdings sind auch
einige Fälle der Beschwerde gegen die Versagung des Beschwerde-
weges verzeichnet. Weiter ging aber der Beschwerdezug nicht nur
an den Kellermeister, sondern ziemlich häufig an ein Unparteiisch-
Gericht, ja sogar von dem BT. an das Quatemberrecht, wie auch um-
gekehrt. Das Amt des Kellermeisters dürfte zu Anfang des 18. Jahrh.
aufgelassen worden sein‘). im 18. Jahrh. finden wir, daß die Be-
schwerden direkt an den Landeshauptmann erhoben werden, was
den obangeführten Vorschriften der Mus.-U. entspricht. Allem An-
scheine nach war der Kellermeister nicht genügend beschäftigt, sein
Gericht aber zu kostspielig, weshalb man seine Entscheidungsbefug-
nis sofort auf den vorher als dritte und lekte Instanz vorgesehenen
143) Ferd. von Rechbach, op. cit., S. 56, 57, berichtet, daß die Be-
schwerden an das Kellergericht von Bergherren "unmittelbar ebracht
wurden, daß er sich, anderseits, wenn er etwas verschuldeie, vor dem ge-
nannten Gerichte verantworten mußte —; dies galt also noch 1688. Siche
auch Nicolaus de Beckmann, op. cit, S. 254, unter „Keller-Gericht”.
856
Landeshaupimann überiragen hat. Übrigens haben wir in den viele
Tausende von Fällen verzeichnenden Protokollen eine förmliche Be-
schwerde an die dritte Instanz nirgends erwähnt gefunden.
Anhang L
Beradihschlagte Pergrechts Ordnung In Crain vund der Windischen
Marckh, Ysterreich vnd Kharst eic.)
1595.
1. Wan man die Perkhrechtthaiding halten soll.
Anfenglichen sollen alle Pergkhthaiding im Lanndt Crain, vund
der windischen Markh Ysterreich vund Kharst Erstens zwischen
St. Gregorio vund St. Oeorgitag jahrlich bessessen vund gehalten,
die annder aber Zum Herbst, wie es in Jedem Perkhg gebräuchig, an
dem ort, wo es von olters herkomben ist, vnd ohne sondrer Ursache
oder ehehafte noth an khein ander Ort nit gewendet werden, darzu
soll ein jeder Perckchherr solich recht besetzen, mit seinen Perkch-
holden, so Er aber deren nit souill hat, mag Er auß anderer Pergn
Perkhholden nemben, vund die Perkh Thaiding besezen darzu soll
ein Jeder Perckch holde zeitlich, vund aufs langest umb 9. Uhr vor
Mitag persöhnlich Erscheinen, oder so daß genuegsambe Vrsachen
zu khomben verhindert, einen anderen Eirbaren man an seiner Statt
schicken vund wan sy alßdann zu den Rechten sizen sollen die Par-
theyen fleißig hören vnd mit Einander, sich auch still vund vnuer-
weißlich halten.
2. Vie man umb Erb Klagen vnd recht ergehen
lassen soll.
Item es soll ein Jeder Perkhherr, denen so umb Erb zu Clagen
haben (die zwischen den angestellten Perkgthaiding angefallen
währen) alllerwegen im Jahr recht ergehen lassen, im schrüft oder
Mündlich Fürpitte thuen vnd in daz zu einer Jedenzeit nit verziehen,
sondern fürderlich recht Ergehen lassen, da diese recht nit Verzug
leiden mig.
J. Wie sich die Pergholden am Pergkhthaiding
halten sollen vnd von Poen dern so sich unge-
buerlich halten.
Item an den angestelten Rechtstag, so lang man die Perkch-
thaiding nit ausgesessen und alles abgehandelt hat, so sollen die
Perkhholden sich ganzlichen enthalten und kheinen Likauf wein oder
1) Wörtliche Abschrift aus dem Manuskripte: „Mein Hanngen Laybasser
Formular Buech — Von sybendten Septembris des 1641 Jahrs“ — Seite
93—99 — aus dem Archive des Laibacher Domkapitels.
857
r
most aufiragen lassen, Sonndern daz biß daz gar verricht anstöllen,
und welcher da khombt Zu dem Pergkhtaiding, solle jer jeglicher
sein währ, von ihme thun, wo aber einer, ein währ hat, so solle er
dis nicht müßbrauchen, auch sich mit worten gebürlich halten noch
deshalb ainicherley Unzuecht treiben, vund nich Ursach geben, zu
Auffrur, wo aber einer darwider thäth vnd sich mit worden vund in
annder weg vngebürlich hielt, der soll gestrafft werden: vmb 72 D.,
zukht aber einer ain währ, soll die straff sein ein?) pfening: Darfur
ain Ducaten in Goldt zu verstehen, vund so einer ain schlegt, solle
die Straff sein Zwo Markh pfening, daz ist Zwoo Ducaten in Goldt,
und nichts weniger, dem beleidigten sein schaden vnd Forderung
vorbehalten sein.
4. Wo man Erster Instanz handlen soll.
Item es soll ein Jeglicher in der ersten Instanz vor seinem orden-
lichen Gericht, wie von alter her khumben, alle sachen so das Pergkh-
recht betrifft, fürgenomben, vnd gehanndelt werden.
5. Wann ainem der Perkherr Recht verzeücht.
Wo aber der Pergkherr einem das recht verzüg, oder der Jemand
auf sein ersuchen khein gebürliches recht wolt her gehen lassen, daß
wissentlichen wurde, als dann da derselb für des Landesfürsten
Khellermaister bringen, vnd anzaigen, der soll sich des erkhundigen
was sich befindt, vnd weißlich gemacht wirt als dann mag der Kheller-
maister die billigkheit darinnen hanndlen ohne des solle der Kheller-
maister die Partheyen nit für sich fordern.
6 Wie der Khellermaister Recht Besetzen vnd
handeln soll.
Es soll auch der Khellermaister, so ein Sach für Ihme khombt,
daß er mit Erkhandinus des Rechtes handeln soll, solich recht mit
Landileuten vnd bürgern so bergrecht haben, oder dienen, besetzen
vnd nach Lauth des Pergsbuechs darinnen handln.
7. Was man erstlich an den Pergkhthaidung
Anzaigen soll.
An den Perkgthaiding soll man anzaigen alle Gerechtigkeit vnd
freyheit des Perkhrechts, Eingrüff, einlauff, Frauel vnnd gewalt-
geschehen, die Frauel vnd Pueß melden, vnd welcher Frauel oder
gewalt verschweigt vnd nit meldet der ist dem Pergherrn 72 Pfenig
verfallen.
s) Ausgelassen: Mark.
508
8 Vonden weegen zun Weingärten.
Alle unrecht weg zu den Weingärten, vnd von den Weingärten
die von alter nit gewöhnlich herkhomben seindt, die sollen nach
St. Matthiaßtag alle verpoten sein, welcher sich aber solichen ver-
botnen weeg nach der gemeleten Zeit gebraucht, soll dem Perkh-
herrn 72. Pf. verfallen sein.
9 Von weeg Machen.
Item so noth an den weegen zu den Weingarten Zu machen, vund
zu bessern sein will, soll den Perkhgenossen darzue verkhündt vnd
bey der Pues 4. Pf. denselben weeg machen vnd bessern, wellicher
aber nit khombt, vnd jemandt ohn redliche Vrsach schicket, dauon
soll die Pueß von jeglichen genomben versäumbten Tag wie obsichet
genomben werden.
10. Von Zeiner.
Item man soll auch gemain Zäun vnd frieden bey den weingärten
an fürhaubten, vnd allenthalben, wo es noth ist, zu stund nach
St. Mathiastag machen, verzäunen vnd befrieden, welcher da schuldig
war zu thun und das verbrach, der soll dem Perkherrn zu Pueß ver-
fallen sein 72 Pf. vnd den anderen so schaden dardurch besehehen
ist den schaden ablegen.
11. Wie man vmb Erb Klagen soll.
Item Es soll ein ieder Erb, der vmb Erblich Gerechtigkheit zu
sprechen hat, das melden die Perkhthaiding vnd verlegen mit einem
Pfening that er das nit so ist man Ime khein recht darüber zu
sprechen, oder zu bessiezen schuld, außgenomben, Er were dan
außguetten gegründten Vrsachen, aus dem landt geweßen.
12. Wellicher ohn Vorwissen auk dem Land zeuchti.
litem wellicher aber ohne Vorwissen seiner Grundiherren oder
obrigkheit, auch ander redlich Vrsach aug den landt zeucht vnd
seines Vaters sein Guetel nicht hilft pauen, der soll alßdan desselben
Erbtheil verzigen sein, doch mag Ime gnadt gethan werden.
13. Von denen so most ohne Erlaubnis aus dem
Perg führen.
Hem wellicher wein, most, oder Traidt vill oder wenig übers ver-
bot, auß denn perkhrecht, ohne Vrlaub eins Perg Suppan fürt, so ist
als dan der furman 72 Pf. zu Pueß verfallen, vnd der anndere den
wein most, oder traidt dem Perkhherrn verfallen, wo aber der Perk-
herr, den wein most, oder thraidt auf seinen griindten nicht betreten
mag alb dan mag Er sein volligkheith aug den weingarten oder
859
Grundten haben vnd bekhenen doh das Verbot in 14 tagen darnach
gerechtfertigt werde.
14. Von denen so zu Pergthaing nicht khommen.
Item es soll ein ieder Perkhold, auf den Tag wellichen man daß
Perkhrecht oder Pergkhthaidung berueft vnd besitzt Persohnlichen
sein, allein so denn genuegsambe Vrsach zu khomen verhindern,
einen anderen Erbaren man an seiner statt darzue senden, da schen
vnd hören ob der Perkhherrn oder Jemandt ander zu Ihme waß zu
Clagen, oder zu melden hat, denen man nicht schuldig ein Jeden
besonnder für zu puetten, wer aber darzue nicht khombt oder wie ge-
meldt nicht sendet, der ist völlig dem Perkhherrn 72 Pf. schuldig.
15. Wie man Pergkrecht geben soll.
Item wer von einem weingarten Most dient der soll sein Herrn
den vorlaß geben, vund soll ihn nicht auß den Tröstern gewehren,
vnd soll den most nicht in ein stünkendes Assach güeßen, noch dan
mit einerley zuesaz felschen, vnd soll den Most von Stunden aindt-
worten, also sueßen, so Er also schierist mag. Er soll auch seinen
Herrn gewehren auß dem weingarten, davon er ihme dient, wiert es
Ime aber in dem weingarten nicht, so mueß er anderst wo khauffen
an Enden, da also gueter wein wahst als in seinem weingarten, vnd
weill in disem landt an etlichen orthen gebreuchig, das der Perkholdt
seinem Perkhherrn des Perkhrechts anhaimbs, so weit er in einen
Tag bey Sonnen schein fahren mag zu führen schuldig ist an den
mehreren orthen aber ist es gebreuchig, demnach werde es noch-
mallen also, wie es von alter herkhomen vnd an iedem orth ge-
breuchig gewest, gelassen, vund soll darüber niemand gedrungen,
oder beschwört zu werden.
16. Wie ein Pergholdt des Pergrecht halben
sein weingarten mag verwirkhen.
Wo aber ein Pergholdt sein Perkherrn in dreyen Jahren nach-
einander das Perkhrecht wie obgemelt ist nicht dient, so mag der
Perkhherr, mit erkhanndinuß der Perkhgenossen sich des weingariens
holz oder Akcher, am vierten Jahren woll vunterstehen, daselbst auch
einziehen vnd leßen.
17. Wie man Pfendten soll.
Item es ist, vnd soll ein Jeder Pergherr oder Perkhmaister vmb
sein verpoth frevel vnd wandl, Pfenndien auf den Pergen?), vmb sein
8) Hier hat der Abschreiber einige Worte aus dem Original verseheni-
lich ausgelassen. Im BRB. aus dem Jahre 1543 steht es „nach dem perk-
taiding, mag er aber phandnuß auf den pergen” etc. Mell, Weinberg.
recht, Art. 19, S. 124.
560
naw vo hf
vorgemelt forderung vnd Pueß nicht gehaben, so soll er sein Creuz
für die stig] oder eingang des weingartten, schlagen vund Im ver-
bitten bey 72 Pf. wo Er aber jemandt seinetwegen in den wein-
garten vnd darauß gehet, ist er alb oft schuldig vnd fällig 72 Pf: ist
dan das verbrechen so groß, so mag dem Pueßfählichen darzue ein
Kheller oder weingartien verpetschiert worden, bricht er das ab so
ist er fällig 2 Margkh so das mehr mallen gesicht, vund wan daß
den Perkh Pergkherrn verdrüßt, so soll er Ime einen richter vund
seine Pergenossen darüber niderseten vnd in darauf fürfordern, vnd
solche Pueß dan raiten vnd sumiren lassen, vnd sich dan des Erbs
vnierwinden, vnnzi so lang Er darüber bezahlt werde, vnd solch recht
suechen, mag der herr oder sein Pergmaister an seiner statt ihuen.
18. Die so im Perg seßhaft sein betreffend:
Item alle die so mit aignem Rukhen in Pergrechten wohnen, vnd
gessessen sein, sollen darauß ziehen sich aufhiieben vnd güetier
seben, vnd ohn sonderliche Vrsachen, alters vnd schwachheit halber,
auch ohne zugeben des Pergherren darinen nicht gelassen werden,
ausgenomen es were den das Pergrechf zu zins güelttern‘) widerum-
ben ein weingartien gemacht wurde, alß dan mag der Pergh: darauff
ein zimbliches Perkhrecht anschlagen,
19. Wie Vermächt, Stift, khauff beschehen sollen.
Item alle Vermächt, Stift, Kaiiff oder saz die auf Pergrechten
beschehen, die sollen mit des Perkherrn oder: seines verwaliers
handt eruolgen, auf geben, verliehen vund darüber bestannden wer-
den, vnd von dem Pergherrn ein Vrkhundt nemen, sonnsten hat es
khein Craft wellicher aber das Verpräch, soll dem Perkherrn, vmb
ein Markh Pfenning, oder wie gehört einen Ducaten in golf gepücßt
werden, vund solch veranderung khein Crafft haben vnd von wegen
mehrer richtigkheit, so auch ein ieder Pergkh genoß wellicher khein
Vrkhundt, aber seinen weingartien hat, da selb nochmallen, von dem
Pergherrn Inner eines Jahrs, nach Publizierung dises Pergbüchleins,
ersuchen vnd begehrn, die sollen Ihnen, die zugeben kheinesweegs
nicht waigern, es wer den das dieselbe Pergrechisgiietier von andren
anspriichig wären wenglich an seinen rechten vnuorgreiflich.
20. Von Todts fallen.
Hem wan ein Pergholdt, mit Todt abgehet, vund kheine ehelichen
leibs Erben oder andre Erben, läßt, so ist daselbs dem Pergherrn
mit recht ledig worden, doh was redlicher schulden darauff sein die
sollen auß allen seinen guett bezalt werden, souer es erraichen mag.
) Die Worte aus dem BRB. fehlen hier: „worden, wo aber aus dem-
selben oder anderen“. Mell, Weinbergrecht, Art. 20, S. 127.
861
21. Vonendziechung der Gründe.
Item wellicher Perggenoß sein herrn, sein Perkhrecht oder
gründt endtzeucht, vnd einem anderen der im selbst aignet, zue sagt
vnd gibt, vnd so das außfündig wiert so ist daselb Er seinem Perg-
herrn ledig vnd verfallen.
22. Von Abschneidung vnd Hauen der weingärtien.
Item wellicher einen weingartten ein Jahr vngeschnitten läßt, das
ist dem Pergherrn ein ander Jahr, mit recht heimbgefallen, vund
wellicher aber ein Jahr in einem weingartien, die Erste haue vor
Pfingsten nit hatt, der ist dem Pergherrn verfallen ein March-Pfen-
nig, das andere zwo Marckh Pfenig vnd das dritte Jahr der wein-
gartien gar verfallen,
23. Von Fürfordern.
Item wan der Pergherr oder Pergmaister einen fiirfordert vund
zum dritten mall nit khombt ein fall drey Margkh Pfening.
24. Von denen so die weingartten nit wesenlich
halten.
item wellicher Perkholdt sein weingartten, mit grüeben vnd allen
andern nottürftigen, weingartien gebey, nicht wesenlich wie darzue
gehört halt, soll der Pergherr solch sein versambnuß, den Perk-
holden anzaigen, vnd sye dariiber erkhennen lassen, vmb ob solch
sein versambnus zu nachil des grundts Im Pergrecht gelegen khombt
so mag Ime der Perkherr gebietten den weingarten notturfilich zu
pauen oder in ainem halben Jahr zu uerkhauffen, bey seinem faal,
vier markh Pfening wo aber der Perkholdt dem auß trobigkheit oder
aignen Muetwillen nicht nachkhäm, als dan mag der Pergherr
darumen erkhennen, vnd schäzen lassen, dan in gleichen werth
zuuerkhauffen.
25. Waß man vmb fiirpott vnd behebnug geben soll.
Item wer von Pergherrn, oder den Khellermaister ein furpott
begehrt, der soll darfür geben drey Khreizer vmb ain gerichtsbrieff,
da nit haubt vril zuen begriffen 3 K vnd vmb*) ain behebnuß 30 Kr:
doch wo die khlein soll auch gleichmeßiger sach dauon genomen
werden.
26. Von dingnus vnd Appellationen.
Item so sich ainer beschwort eines vriels vor dem Pergherrn
oder seinem Pergmaistern, der mag von dem Ersten oder lezien
s) Im Original (1593) „ain Dingnuß a. phenig”“ (Mell, Weinberg-
recht, Art. 27, S. 133), was hier offensichtlich ohne Absicht ausgelassen
wurde, weil schon der nächste Artikel von „Dingnis“ spricht. Auch wurde
der Fehler im letzten Sage des letzten Artikels gutgemach.
562
rechtsprecher, das haubt vril dingen für des landts fürsten Kheller-
maister, wellicher sich aber des Khellermaisters vril beschwört, der
mag al dan daz, für den herrn landis haubtman landtsverwefern,
vnd Vizdomb dingen die als dan solche appellation vnd in bey sein
des der herrn verordneten, oder anderer herrn landtleuth zuerledigen
haben.
27. Vom Faal vnd wandl.
Item die wandel vnd faall in Pergthaiding, die einem Pergherrn
oder Pergmaister verfallen sein, bey der Pueß hernach geschriben,
vmb im jeglichen Articel begrüeffen, auch die Perggenossen, selbst
gesagt vund zu recht gesprochen haben darumb daz sy ihr erb vund
guett auch den leib desto sicherer haben mögen.
28. Redener.
Item es kheinem khlager noh Andtwortter, der in Pergrechts-
rechten zu Clagen, oder zu andtwortten hat gestatt werden, daz er
sich einen redner Iren laß sundern so Er eines mangelt mag er im
ring aines begehren der solle Ime alls dan verschafft werden.
29. Vieschäden.
Item wellicher mit Vieh einen schaden thuet in einem Weingarten
oder Pergkhrecht, der ist den schaden schuldig wider zukhern vund
dem Pergherrn von Jedem haubt 32 pfening es sey im Sommer oder
Winder. |
30. Die sich nit wöllen Pfendten lassen.
Item ob sich einer nit wolf pfendien lassen, vund Ime daß frauen-
lich wehren, oder wehrt der ist fallig das: Markh Pfenig 1.—
31. Obstpaum.
Item wellicher einem ein Pelzer oder obsipaum nimbt abhakht
dert, der ıst fällig 3 markh Pfennig vund den Pelzer wider zu
erstatten,
32. Hey: Holtz.
Item wellicher einem sein Hey: Holz, Im Pergrecht abschlecht von
iedem Stamb 72 Pf. vund Ime so uill zui wider zu uerstatten oder zu
herren nach erkhennditnuß der Perggenossen,
33. Stekhen.
Hem wan einer ein stekhen stillt, auch ein markh Pfening vnd
dem so die siekhen geweßen zwiffach zuerstatten vnd zubezallen,
565
C 7 ˙ EEE N
34. Kheller Prechen.
Item wellicher einem einbricht in die Preß oder in Kheller vnd
mit frauel auf Ihn schlecht, der soll am leib vnd guett gestrafft werden
35. Uberlauffen.
item schlecht oder überlaüfft einer den andern, vnd zeucht im
schaden zu, Im Pergrecht, auch bey 5 March Pfenig vnd sein schaden
wider zu kheren.
36. Wild gaill.
Item wellicher dem andern sein erdtrich auffhobt, vund zu wildt-
gaill in seinem weingarten wegttregt oder füredt der ist fällig 72 df:
vnd dem sein erdtrich widerzubezallen.
37. Pidt markht.
Item wellicher Pidtmarkht außhaut, oder den gemainen weeg zu
nachet haut, der verwürkht die Pues 5 Markh Pfenig, vnd was an
dem weeg gebräch denselben schuldig wider zumachen.
138.1 Obst und weinbeer.
ltem wer einem seine weinpres, oder allerley Obst wie es genent
ist, stilt, der ist fällig zu ersten mall fünff markh Pfenig, zum andern
ain ohr, zum dritten nach erkhandnuß der Pergkhgenossen, zu
straffen, vund dem andern sein schaden abzulegen.
39.1 Frist vmb verkhauffte griindt.
Item wan einer ein weingartien verkaufft, vnd nimbi vmb die
schuldt Pürgen, Er helt in die früßt nicht vnd gehet: hin, vnd vnier-
windet sich, ohn sein, vund des Pergmaisters willen, des weingart-
tens mit frauel, so soll der Perkhmaister, dem der weingartten ver-
khaufft hat, wider einandtwortten vnd ob er Ichi darzue gearbeit hat
das soll Er verlohren haben, vnd darnach dem Pergmaister fällig
5 March Pfenig, vmb das er sich des gerichts unter wunden hat.
40. Absegnen.
Item wer mit absegnen, weingartten gehäger, oder bei holz ver-
5 der ist völlig 10 M: Pf: vund anndern sein schaden wider
ukhern,
41. Wer Weinstegkh abhackt.
Item wer mit frauel einen wein stagkh abschlecht, oder abhagkht,
der ist völlig 3 Mr: Pf vund dem andern sein weinstakh wider Zukhern.
564
*r
L
*
42. Angestorbene Erb Zu uerleichen.
ltem ein Pergherr soll einem Jedem Erben auf sein gerechtigkheit
so Ime anerstorben ist, Leyhen, was er ime von recht darann Zu-
uerleichen hat, vund wan er Erb 3. stundt in beiwessen zweyer Perg-
genossen an Ihne fordert, daz wissentlich ist, vund will Ihme darüber
niht leyhen, so mag dann der Erb des landt fürsten Kheller maister
darumb besuechen, der soll dem Perkherrn schreiben, vund beullchen,
daz er den Perkhschaden, auf sein Gerechtigheit, in 14 tagen ver-
gleiche wo aber der Pergherr daselb nicht schuldig zu sein vermaint,
so soll er doch in den 14 tagen die Pergkhgenossen nieder setzen
vund erkihennen lassen. Thäte Er das nicht so soll als dann des
lanndisfürsten Khellermaister, Ime solch Erb auf sein gerechtigkheit
verleichen vund Ime darzue zu recht schirmen, vund vergreiffen dem
Pergherrn an sein Grundt Zins vnd Pergrecht,
43. Poseß.
Item welcher weingartien vund grundt in Pergrechi gelegen, Jar
vnd tag vnuersprochen bey einem der Innef landts wonhaft ist, in
nuz vnd gewehr gessessen ist, mag Er daz bezeugen als recht ist,
vnd soll füran vnuerfochien bleiben außgenomen, vnuogtbare Khinder
die nit Vormünder haben, oder Gerhaben, den soll es biß zu 16
Jahrren zuersuchen beuorstehen.
44. Holz zu nahendt bey den weingartten.
Item so ainem, ein holz bey einem weingartien zu nahendt sichet,
dardurch den weingartien schaden beschach, soll daselb durch die
Perggenossen besichtigt werden, befindt es sich als dan, daz es Im
zu nachendt stehet, oder zu nachtheill khumbi, so soll daselb ab-
gestellt werden.
45. Rain zuraumen.
Item Gehäger vnd Rain zu raumen bey vund zwischen den wein-
garten sollen baid anrainer mit einander außreuten vnd ob sy sich nit
vergleichen so soll es nach erkhandinus der Perggenossen be-
schechen,
4. Des Perg supan oder Pergmeister gebür.
hem in allen Puessen, fahlen vnd wandelen, wie vor angezeigt
ist, soll einem ieden Pergsuppan oder Pergmaister, von Jeden fall
oder Pueß so dem Pergherrn verfallen 12 Pf. vumb sein Mühe daz
Er die dem Pergherrn einbringt, geben werden oder bleiben.
47. Lechen zuempfangen.
Item welcher ein weingartien oder ander griindt, in Pergrecht
gelegen durch Erbschaft, Khauff, aug wexl, geschafft oder vermacht
24 NF 5 365
zu stende vnd in ein Monath von des Pergherrn, handen oder ainem
andern, dem Ers beuilcht nit enpfieng, der ist dem herrn Pfahig
4: Markh Pfening.
48. Die Khauf anzubieten.
Item so ein weingartien, oder ander Erb in Pergrechten faill ge-
sezt wierdet, so soll der Pergherr, für all ander mit den Khauff, an-
genath werden, doch daz der Pergherr solchen weingartien, in dem
werth wie der vorkhäuffer, denselben einen ander geben meh,
annemb, vund in dar wider nit beschwar, wo aber der Pergherr den
nicht khauffen wolt, alß der nechst freundt, damit angenoth wo der
selb auch nit khauffet, so soll der anrainer damit angenöth werden,
vnd wo derselb auch nit khauffet al dan mag Er solchen wein-
gartien oder Erb verkhauffen wem Er will,
49. Vom Lesen.
Item es wierdt auch mit dem Zeitlichen leßen großer miesbrauch
gehalten, dardurch den Pauman Pergherrn vnd Zehendiherrn,
schlechter most wierdet, daz all die weill man mag, die Weinper
ohne nachil stehen lassen, daz Kheiner ohne erlaubnuß des Perg-
herrn oder Pergmaisters nit leße, vnd ob es die notturfit erfordert,
daz man geschworene Pauleit vnd Perggenossen zu besichtigen vnd
zu erlauben daz lesen sezt, dardurch bessrer wein gemacht, vnd
man desto Ehr verkhauffen mag.
50. Markschillig.
Vund nach dem in diser ordnung der Marchschilling etlich mall
angezogen wierdet, vnd aber in disem landis Crain vnd der selben
anrainundien herrschafften daselb nit gebreüchig so soll alg offt fur
ein Marchschilling ein Ducaten in golt verstanden werden.
Sondere gebreüch.
Wen ainer ain weingartien verkhaufft, sol er dem diag are
geben g En oy ae a ee e ee A wes a A A K 12
der in khaufft . 8 „ 8
der sich laßt ein schreiben oe ..... K3
auch der sich last ausschreiben vnd einschreiben K 3
72 Pf machen... . ... XK 8
40 Pf machen e 10
ain markh ist ein ducaten in golt
Wan ein Perkholdt sein Perkrecht nit zalt mueß Ers daz andere
Jahr topelt bezallen vnd für vnd für also zuraitten.
Vmb ein dingnuß 60 Pfenig ist K 15 K.
566
Anhang Il.
Actum Weinberg den 18ten May 18011).
Bergdeutung.
(Einleitung.)
Gemeindurtheil.
Der Bergmeister, Ausschuß und gesamte Bergholden haben sich
zur Erhaltung guter Ordnung in dem Weingebirge folgende all-
gemeine Anordnungen einverstanden, welche sonach von jedem
Bergholden als ein unverbrüchliches, sich selbst gegebenes Gesek
unter den nachgesezten Strafen beobachiet werden müsse.
jress: Die alt gewöhnlichen Weingebirge Weege sollen jährlichens,
und zwar, um die heil. Georgens, oder Si. Markus Zeit, für dieses
Jahr aber in der Kreuzwoche im Herbst repariert, und hergestellt
werden; hiezu ist jeder Berghold einen Arbeiter beizugeben schuldig,
oder im Unterlassungsfalle 1 Quart Wein abzureichen.
240: Jeder Berghold, der sich unterfängt einen anderen Berg-
holden einen Rebenstock aus seinem Weingarten zu entwenden, ver-
fallt nebst Schadenersatz für den Beschädigten 1 Quart Wein.
3tio: Eben so, wenn ein Berghold dem andern Weintrauben, Obst
oder sonstige Nuzfriichte bis auf den Werth von 5 fl oder darunter
entwendet, verfällt nebst Schadenersa für den Beschadigten die
Strafe von einem Landeimer Wein.
4: Wenn jemand einen Reinstein heimlich, oder gewaltthätig
herauswirfi, oder übersezt, verfällt nebst Ersaz aller Unkösten ein
Landeimer Wein.
Sto: Für jeden persöhnlich, oder realen Unfug, oder Gewalt ver-
fällt der Beleidiger mit Vorbehalt aller Rechte für den Beleidigten
den gesamten Bergholden die Strafe von ein Quart Wein.
6°: Da in dem Weingebirge keine Waide zugestanden werden
kann, sich aber vorzüglich die Inwohner das Waiden zum Nachteil
anderer erlauben, so wird für jeden Beschädigungsfall dem Berg-
meister für seinen Weeg, und die Abschäzung 1 Quart Wein, dem
Beschädigten aber die wohl ausgemessene volle Entschädigung zu-
erkannt; die Gaise aber sind so wie die Schweine in den Weingärten
vor Jedermann schußfrey.
7m0; Sind jene Bergholden, die an einem Fahrwege oder Ge-
meinde Weingarten besigen, diesen längst bis Gregorn gehörig ein-
zuzäumen schuldig, im Widrigen sie auf keine Entschädigung einen
Anspruch zu machen haben.
80: Nachdem die Geistlichkeit ihre Bergandachten und Messen
gehörig und wie von jeher gewöhnlich verrichten, so sind auch aber
1) Entnommen aus dem „Bergihaidungsprotocol bei der Herrschaft
Klingenfels No 12“. Diese Herrschaft liegt in Unterkrain. In diesem Fo-
lianten beginnen die Protokolle am 3. März 1777, schließen am 27. Mai 1806
ab. Ganz ähnliche „Gemein Urteile“ wie das obige wurden am 12. Mai 1801
in Slanzberg und am 13. Mai 1801 in Skurschowib gefaßt.
567
Bergholden im Gegentheile die ihr gebührenden Wutschen?) Most
unweigerlich abzureichen verpflichtet.
Hierüber übergeben die Bergholden dem Bergmeister und Aus-
schußmänner die volle Executions Macht, und berechtigen sie mit
diesen zum Besten des Bergs zu disponieren.
.. . (Folgen noch 6 Klagsprotokolle, die erledigt worden sind.)
3) „Wutschen”, slov. „buča“, ursprünglich pect Kürbis“, cucurbita
pepo; dann Flaschenkürbis, ein daraus verfertigtes Oefäß; schließlich ein
bauchiger Krug (Anm. des Verf.].
568
DER KAISERTITEL PETERS DES GROSSEN
UND DER WIENER HOF
Von
Emmerich Lukinich.
Bekanntlich legte sich der russische Car, Peter der Große, im
Jahre 1722 zu Moskau unter großen Feierlichkeiten den Kaisertitel
bei. Mit dieser Tatsache endete ein langer diplomatischer Kampf,
der damals die öffentliche Meinung Europas hauptsächlich aus dem
Grunde recht lebhaft beschäftigte, weil die Annahme des Kaiser-
titels nicht auf Grund eines Übereinkommens mit den europäischen
Mächten, sondern durch einen einseitigen Willensakt des Caren er-
folgt war. Im Nachsiehenden möchte ich eine Einzelheit des diplo-
matischen Kampfes, der um den Kaisertitel geführt wurde, auf Grund
archivalischer Forschungen, ausführlicher beleuchten.
Car Peter machte schon im Jahre 1687 Schritte, um sich vom
deutschen Kaiser Leopold l. den Kaisertitel zu erwirken. Die in Wien
erschienene feierliche Gesandischaft erzielte aber keinen Erfolg,
weil Leopold l. mit der Begründung, daß die Verleihung des Kaiser-
titels nicht ihm, sondern den Kurfürsten des Reiches zusiche,
die Entscheidung von sich abwalzte’). Jahre hindurch hatte es den
Anschein, als hatte sich der Car mit dieser Stellungnahme des Wiener
Hofes abgefunden; zumindest findet sich keine Spur in der Richtung,
daß er, sei es bei Leopold l., sei es bei dessen unmittelbarem Nach-
folger Josef I., weitere Schritte uniernommen hätte. Um so größere
Überraschung rief daher am Wiener Kaiserhof die im Sommer 1710
erfolgte Unterbreitung des neuen russischen Gesandten Baron
Johann Urbich hervor, worin er mit Berufung auf seine Instruktion
für seinen Herrn den Titel „Majestät“ und die Bezeichnung „Kaiser“
forderte, für sich selbst aber außer dem Exzellenztitel- feierlichen
Empfang und Zollfreiheit verlangte, „Widrigenfalls er“ — wie Josef l.
dem am Carenhof weilenden kaiserlichen Gesandien Graf Wilczek
schriftlich mitteilte — „erklären sollte, daß vorgedachte Seine
Liebden von uns keine Schreiben mehr annehmen und ferner alles
commercium mit uns aufheben würden“ ).
1) Grundmäßige Untersuchung von dem Kayserlichen Titul und Würde,
1 auch von der Czarischen Titulatur etc. gehandell. Cöln, 1723,
p. SE e
2) Concept im Staatsarchiv Wien. Russica 1710, 28. Juni.
Das kaiserliche Ministerium, dem die Lenkung der Politik des
Reiches oblag, wurde durch diese Forderung des Caren in eine un-
bequeme Lage versetzt. in Wien kannte man sehr wohl die un-
berechenbare, launenhafte Natur des Caren und mochte von ihm
voraussetzen, daß er eine allfällige Zurückweisung seiner Ansprüche
nicht gleichmütig hinnehmen werde. Auch wußte man, daß zwischen
dem Caren und dem gewählten Fürsten von Ungarn und Sieben-
bürgen, Franz Rákóczi Il., seit 15. September 1707 ein bündnisartiger
Verirag bestand, und war sich darüber im reinen, daß der Car
diesen Fürsten in seinem Kampfe gegen den Kaiser bereitwillig zu
unterstugen geneigt sei, wenn dies die politischen Ziele Rußlands er-
fordern. Zwischen dem Caren und Rákóczi bestanden damals tat-
sachlich rege diplomatische Verbindungen. Auf Grund der nach
Wien gelangten Meldungen glaubte man zu wissen, Räköczis Diplo-
maten seien bemüht, den Caren in den zwischen dem Kaiser und
Räköczi im Gange befindlichen Krieg unmittelbar einzuschalten. Für
den Wiener Hof gestaltete sich jetzt die Lage allerdings sehr heikel,
weshalb die politische Klugheit erfordert hätte, daß die Eitelkeit
oder Empfindlichkeit des Caren durch die ihm zu erteilende Antwort
nicht verletzt werde. In Wien aber wollte man damit nicht rechnen,
und so erteilte man dem am Carenhof weilenden kaiserlichen Ge-
sandten die Weisung, er möge die Minister des Caren wissen lassen,
daß der in der Titelfrage eingenommene frühere Standpunkt des
en Hofes derzeit unverändert sei und es auch in Zukunft bleiben
werde.
Die Minister des Caren zeigten sich zur Annahme der vom
Grafen Wilczek vorgebrachten Argumente nicht geneigt. Sie be-
riefen sich darauf, daß doch der Kaiser jedem König Europas den
Majestätstitel zuerkenne, weshalb es völlig unverständlich sei, aus
welchen Gründen gerade die Person des Caren hievon ausge-
schlossen bleiben solle, der doch auch von der Pforte „Majestät“
tituliert werde. Man fand sich demnach zu der Erklärung veranlaßt,
daß, falls sich der Wiener Standpunkt in dieser Frage nicht ändern
sollte, künftighin keinerlei von dort herstammende Zuschrift ent-
gegengenommen würde). Die Lage des kaiserlichen Gesandten
wurde auch noch durch die — wie es scheint — aus der Umgebung
des Caren tendenziöserweise verbreitete Nachricht erschwert, daß
der unterwegs befindliche preußische Gesandte Marschall die Zu-
stimmung seines Königs zur Annahme des Titels „Kaiser von Ruß-
land“ mit sich bringe’). Diese Nachricht erwies sich zwar als un-
richtig, und später beeilte sich der preußische Gesandte sogar, dem
Grafen Wilczek zu versichern, daß „sein König dem Zaren den Titul
eines Kaisers von Rußland gewißlich nicht geben werde"), — zum
s) Ebenda.
4) Originalbericht des Grafen Wilczek v. 16. Juli 1710. Wiener Staats-
archiv. Russica.
s) Originalbericht des Grafen Wilczek v. 3. August 1710. Ebenda.
€) Originalbericht des Grafen Wilczek v. 18. Oktober 1710. Ebenda.
870
besagten Zeitpunkt jedoch erschien besagies Gerücht wohl geeignet,
den Standpunkt des Wiener Hofes vor der öffentlichen Meinung
Rußlands als unfreundlich hinzustellen, wobei noch in die Wagschale
fiel, daß auch England in seinen Korrespondenzen mit dem Caren
den fraglichen Titel damals schon regelmäßig gebrauchte").
Graf Wilczek hatte bei seinen mit den Minisiern des Caren ge-
pflogenen Verhandlungen wiederholt Gelegenheit sich zu überzeugen,
dag er, falls er an die Wiener Instruktionen sich zu halten gezwungen
wäre, die Interessen und den Standpunkt seiner Regierung mit Er-
folg zu vertreten außerstande sei. Nach seinen, aus der Umgebung
des Caren erhaltenen, am 27. August 1710 schriftlich gemeldeten
Mitteilungen sei anzunehmen, daß „Seine zarische Majestät gewiß
von der Praetension nicht ablassen, sondern den Titel Majestät von
Ew. K. M. zu bekommen forthin verlangen, und daß ohne dessen
allhier nichts zu negotiiren oder zu erhalten“. Dieser Meldung ist
die Befürchtung hinzugefügt, es sei nicht unmöglich, daß sich der
Car Frankreich nähern werde; „ob also nicht zuiraglicher bei der
Sachen Beschaffenheit zu erachten, deßwegen zu traktiren und wegen
dieser erteilenden Titeln einige Avantage zu suchen“].
Die Gegensätze der Standpunkte konnien wegen der Schroffheit
beider Parteien auch durch die späteren Verhandlungen nicht über-
brückt werden. So blieb auch die Konferenz vom 22. September
1710, die zwischen Wilczek und den beiden Kanzlern des Caren vor-
nehmlich zwecks Bereinigung der Titelfrage stattfand, völlig erfolg-
los’). Wilczek war gleich den Vertretern der Gegenpartei durch die
Instruktionen gebunden, und so kam es, daß die Titelfrage später
mit stillschweigender Übereinkunft aus der Verhandlungsmalerie
ausgeschaliet wurde. Von den zwei Kanziern des Caren wurde auf
einer späteren Konferenz nur noch erwähnt, daß der Wiener Hof
im Jahre 1704 keine Einwendungen gegen die Note des Fürsten
Galicyn gemacht habe, worin dieser den Caren „Kaiser“ nannie*®).
Das diplomatische Verhältnis der beiden Regierungen aber erkaltete
zusehends. Wilczek konnte zu seinem nicht geringen Befremden
alsbald wahrnehmen, daß die Emissäre des Fürsten Rákóczi in dem
Carenreich, wohl mit stillschweigendem Einverständnis, jedenfalls
aber mit Nachsicht des Carenhofes, eine lebhafte Tätigkeit zu ent-
wickeln begannen. Demgegenüber hüllten sich die Minister des
Caren in Schweigen, und obgleich sie dem kaiserlichen Gesandten
ihre Verbindung mit Rákóczi ableugneten, war Wilczek überzeugt‘!),
daß der Car und seine Minister Wien gegenüber eine doppelzüngige
Politik trieben, deren Ziele einstweilen wohl unbekannt seien, den
Bestrebungen der kaiserlichen Politik aber kaum entgegenkamen.
7) Originalbericht des Grafen Wilczek v. 3. August 1710. Ebenda.
®) Originalbericht des Grafen Wilczek v. 27. August 1710. Ebenda.
o Protokoll. Ebenda.
18) Originalbericht des Grafen Wilczek v. 3. November 1710. Ebenda.
11) Originalbericht des Orafen Wilczek v. 15. Oktober 1710. Ebenda.
571
Inmitien dieser unsicheren und unfreundlichen Atmosphäre
wurde dem Grafen Wilczek miigeteilt, daß „Ihro Carische Maiestat
soviel als resolvirt haben sollen, in das Carlsbad zu gehen‘, seine
Absicht indes vorläufig geheim zu halten wünschten. Dem Wiener
Gesandten gelang es zunächst, bloß so viel in Erfahrung zu bringen,
daß der Car „mit kleinerm Gefolge incognito gehen“ werde, wes-
halb ihn die Gesandien der auswärtigen Höfe nicht begleiten
würden). Die Nachricht wurde später auch von den Gesandien
Preußens und Dänemarks bestätigt, nicht minder wußte davon und
sprach darüber auch „die Fürstin von Gallicin, welche bei dem Car
in seinem Pallast wohnet und mit ihm gar confident ist“). In Wien
diente der einschlägige Bericht des Gesandien vorläufig zur Kennt-
nis. Mit Rücksicht darauf, daß der Car die Karlsbader Heilquellen
vor Jahren schon gebraucht hatte und auch Wilczek zu berichten
wußte, daß seines Wissens der Gesundheitszustand des Caren eine
Bäderkur tatsächlich geboten erscheinen lasse, wurden hinter der
Karlsbader Reise keine verborgenen Zwecke und Pläne gesucht.
Man sah auch keine Notwendigkeit, in der Titelfrage sich nachgiebig
zu zeigen, und so wurde an der im kaiserlichen Erlaß vom 4. De-
zember 1710 enthaltenen Erklärung, wonach der Kaiser dem Caren
„den Titul Maiestät keineswegs geben können“ !“), auch nichts ge-
ändert. Am Wiener Hof scheint man angenommen zu haben, die
Karlsbader Reise sei zur Winterszeit ohnehin nicht aktuell, und sah
demnach auch keine Ursache, sich mit deren etwaigen politischen
Folgen zu beschäftigen.
Während der Wintermonate erfolgte in der Titelfrage keinerlei
Wendung. Der Car war durch die Vorbereitungen des bevor-
stehenden Turkenkrieges und durch die Abwehr der Tatarenangriffe
in Anspruch genommen, wodurch natürlicherweise alle persönlichen
Angelegenheiten des Herrschers in den Hintergrund gedrängt wur-
den. Größere Befürchtungen aber erweckte in Wien der Umstand,
daß sich Fürst Räköczi seit 21. Feber 1711 in Polen aufhielt, und
zwar „nicht allein unter Protection der Moscoviter, sondern jeder-
zeit mit genugsamber Escorte von ihnen versehen“). Das hatte
auf alle Falle so viel zu bedeuten, daß Rákóczi vom Caren derzeit
nicht fallen gelassen wurde, obgleich die Macht des Fürsten in Un-
garn während der Wintermonate bereits auf einige Komitate zu-
sammengeschrumpft war. Möglicherweise war dem Fürsten Rákóczi
und dem nach Polen gedrängten Ungartum vom Caren noch eine
Rolle bei der Durchführung seiner vorläufig verborgen gehaltenen
politischen Plane zugedacht; ebenso möglich aber ist auch die An-
nahme, daß er Räköczi und die ungarische Emigration einfach bloß
als Rückhalt betrachtete und ihre Inanspruchnahme von den Ge-
12) Originalbericht des Grafen Wilczek v. 1. Dezember 1710. Ebenda.
18) Originalbericht des Grafen Wilczek v. 11. Dezember 1710. Ebenda.
14) Concept. Ebenda.
18) Originalbericht des Grafen Joh. Ernest Herberstein v. 18. März 1711.
Ebenda. Polonica.
872
staltungen der Zukunft abhängig machen wollte. Indes, mag der
Standpunkt des Caren betreffs der ungarischen Frage im End-
ergebnis welcher Arf immer gewesen sein, die Haltung Moskaus
gegenüber dem Wiener Hof erfuhr keine Anderung. Car Peter
konnte der kaiserlichen Regierung ihre in der Auffassung gezeigte
Schroffheit nicht vergessen, und als er nun die Mitteilung erhielt, daß
Josef I. am 17. April 1711 unerwartet gestorben war, da interessierte
ihn zunachst weniger die von dem Thronwechsel etwa zu gewar-
tigende Anderung des politischen Kurses, als vielmehr die Frage,
was wohl der Standpunkt des neuen Regimes in der Titelangelegen-
heit sein werde. Darüber nun sollte der Car nicht lange im unklaren
bleiben.
Die amiliche Note uber das Ableben Josefs I. wurde ihm erst
in der Audienz vom 22. Mai 1711 durch den Grafen Wilczek über-
reicht, wobei dieser des allerhochsten Beileids versichert und ihm
gleichzeitig auch die Hoffnung und Überzeugung ausgedrückt wurde,
daß der Car in dem neuen Herrscher, König Karl Ill. von Spanien,
einen verständigen Freund finden werde**). Das alles war freilich nur
leere Formsache, hinter der sich wenig Aufrichtigkeit barg. Worauf
es dem Caren ankam, war die Art, wie ihm Josefs Ableben mitgeteilt
wurde; mit anderen Worten: zunächst und eigentlich interessierte er
sich dafür, ob der Wiener Hof auch bei der Mitteilung des Trauer-
falles an dem früheren Standpunkt hinsichtlich der Titelfrage fest-
halten oder angesichts der geänderten Lage seinem Wunsche ent-
gegenkommen werde. Der Wiener Hof aber blieb — zumindest in
dieser Frage — konsequent. Die Note führte nämlich folgende An-
schrift: Serenissimo et potentissimo Domino Tzaro et magno duci
Petro Alexievicio“ :) etc.
Der Car zeigte sich über den Starrsinn des Wiener Hofes un-
gemein entriiste?. Er nahm denn auch keinen Anstand zu erklären,
es sei noch verständlich, daß sich der Kaiser geweigert habe, ihn
„Majestät“ zu betiteln, unbegreiflich aber müsse es erscheinen, daß
ihm dieser Titel auch zu einer Zeit vorenthalten werde, da es gar
keinen Kaiser gebe und „nur eine Regentin“ die Herrschergeschafie
leite; hätte er gewußt, was die Note enthalie, so wäre nicht einmal
der Gesandte empfangen, geschweige denn das Schriftstück selbst
entgegengenommen worden. Infolgedessen finde er sich veranlaßt,
entweder jede Berührung mit dem Wiener Hof abzubrechen, oder
aber werde auch er in seinen amtlichen Schriftstücken nur die An-
sprache „Serenitas“ gebrauchen’®).
Der Car entschied sich vorläufig für die letztere Art von Re-
torsion. In seinem amtlichen Antwortschreiben vom 23. Mai, das
außer den üblichen Beileidskundgebungen keine meritorischen Er-
klärungen enthält und von ähnlichen Schrifistiicken nur insofern ab-
16) Originalbericht des Grafen Wilczek v. 22. Mai 1711. Ebenda. Polonica.
17) Original im Wiener Staatsarchiv. Russica. 1711—12.
18) Originalbericht des Grafen Wilczek v. 12. Juni 1711. Ebenda. Polonica.
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weicht, als er darin auch der unfreundlichen Haltung der Wiener
Minister gedachte, wurde die Königinregentin Eleonore tatsächlich
„Serenissima“ tituliert*®).
Das Antwortschreiben wurde durch den russischen Gesandien
Baron Urbich im Sinne seiner am 30. Mai ausgestellten Instruktion“
beim Wiener Hof überreicht, wo die ungewohnte Anschrift der Note
selbsiverstandlich starken Anstoß erregte. „Die Kaiserin erscheint
darin vom Zaren anstatt Maiestas nur als Serenitas tituliert, die am
Schlusse des Briefes stehenden Worte „Serenitatis Vestrae’ aber
seien nicht vom Zaren selbst, sondern vom Kanzler oder gar bloß
von einem Konzipisten geschrieben, keines von beiden aber könne
geduldet werden“, lesen wir in dem Ministerialkonferenzprotokoll.
Die Minister erachteien die Lage als dermaßen schwierig, daß sie
sich am 29. Juni im Palast des Fürsten Trautsohn zu einer Beratung
versammelten, an der Graf Starhemberg, Graf Windisch-Grack,
Baron Seilern, Graf Wratislaw, Graf Herberstein und der Geheim-
schreiber Buol teilnahmen. In der Konferenz gab Starhemberg zu,
daß sich die Minister in einer überaus heiklen Lage befänden, denn,
würden sie das Schreiben dem Caren zurückstellen, so könne er sich
dadurch dermaßen verletzt fühlen, daß mit der Gefahr eines Krieges
zu rechnen wäre; werde aber das Schreiben behalten, so bedeute
dies eine Verunglimpfung der Kaiserin, der der Titel Maiestas recht-
mäßig gebühre. Darüber sei er im klaren, daß die erfolgte Be-
leidigung nicht geduldet werden könne, vorläufig aber wisse er nicht,
ob das Schreiben zurückgeschickt werden solle. Graf Windisch-
Graetz trat für die Retournierung ein, doch sei Urbich über deren
Gründe aufzuklären. Baron Seilern erachtiete die Rückstellung des
Schreibens gleichfalls als wohlbegründet; wenn der Car in seiner
jetzigen prekären Lage, vor Ausbruch des türkischen Krieges, so zu
handeln sich erkühne, was sei von ihm erst dann zu gewartigen,
falls sich seine Sache später zum Bessern wende? Eben darum
wäre die Zuschrift unverzüglich zurückzustellen, was aber mit einer
kurzen Motivierung geschehen solle. In ähnlichem Sinne äußerte
sich auch Graf Wratislaw. Er hielt es für zweifellos, daß diesen
Vorgang alle Welt guiheißen, eine solch einmütige öffentliche Meinung
aber den Caren vom Kriegführen abschrecken werde. Auf alle Fälle
sollte übrigens der Hof des Caren aufgeklärt werden, daß der
Kaiserin der Titel Maiestas rechtmäßig gebiihre**).
Im Sinne der Ministerkonferenz erhielt der Gesandte des Caren,
Baron Urbich, am 7. Juli tatsächlich eine Einladung zum Grafen Wra-
tislaw, bei dem damals bloß Baron Seilern und der Geheimschreiber
Buol zugegen waren. Seilern erklärte vor allem, daß die Note
des Caren für die Kaiserin, der der Majestätstitel nicht abgestritien
werden könne, unbedingt verletzend sei. Die Kaiserin sei überzeugt,
19) Abschrift im Wiener Staatsarchiv. Russica. 1711—12. Gedruckt bei
St. Katona: Hist. crit. regni Hungariae. XXXVII. p. 686—87.
se) Abschrift im Wiener Staatsarchiv. Russica. 1711—12.
s1) Minist.-Konferenzprotokoll. Wiener Staatsarchiv. 1711.
574
© A eR ARS a
daß die beleidigende Anschrift und Betifelung nicht auf Anordnung
des Caren erfolgt, sondern einer Versäumnis der dortigen Hofkanzlei
zuzuschreiben sei. Eben deshalb habe sie sich entschlossen, die
Zuschrift dem Oberkanzler des Caren zurückzustellen, der gewiß
dafür sorgen werde, daß die Ausstellung der Note in entsprechender
Form erfolge. Nach dieser Erklärung überreichte Seilern die Note
dem russischen Gesandten, der sie jedoch nicht übernahm, und zwar
mit der Begründung, die beanstandete Anschrift der Note sei auf
ausdrücklichen Wunsch des Caren als Erwiderung auf jene Zuschrift
der Kaiserin erfolgt, worin sie den Caren nur „Serenitas“ und nicht
„Maiestas“ betitelte, troßdem ihm der letztere Titel rechtmäßig ge-
bühre. Vergebens sekte Seilern dem Gesandten auseinander, daß
der Wiener Hof den moskowitischen Caren bisher noch niemals den
Majestätstitel gegeben habe, obwohl zeitweilig ein solches Verlangen
von mehreren Caren tatsächlich gestellt worden sei. Demgegenüber
sei nicht abzuleugnen, daß der fragliche Titel der Kaiserin recht-
mäßig gebühre, was bisher auch niemals irgend jemand in Zweifel
gezogen habe. Urbich nahm die ihm wiederholt überreichte Note
nicht entgegen. Graf Wratislaw schickte sie infolgedessen tags dar-
auf in die Wohnung des russischen Gesandien. Dieser jedoch war
zur Übernahme auch jekt nicht geneigt, weshalb der mit der Uber-
gabe betraute Beamte die Note auf den Tisch des Gesandten legte
und sich dann entfernte”).
Die kaiserlichen Minister waren sich wohl bewußt, daß diese der
Eitelkeit des Caren zugefügte neuerliche Verletzung gegebenenfalls
ernste Folgen haben könne, hatte ja selbst Baron Urbich die Drohung
fallen lassen, der Car werde sich schon mit dem Säbel Genugtuung
verschaffen®). Offenbar aber hielt man es in Wien trok alledem für
unwahrscheinlich, daß er gerade bei Ausbruch des Türkenkrieges
die diplomatischen Beziehungen mit der kaiserlichen Regierung ab-
brechen werde. Und so wagte das Ministerium die Folgen der
Zurückweisung auf sich zu nehmen.
Wie die späteren Geschehnisse zeigten, war die Annahme des
kaiserlichen Ministeriums nicht grundlos. Des Caren Aufmerksamkeit
zeigte sich im Sommer durch den türkischen Feldzug, über dessen
Einzelheiten man in Wien hinlänglich unterrichtet war’), dermaßen
in Anspruch genommen, daß dabei seine persönliche Empfindlichkeit
völlig in den Hintergrund gedrängt erschien. Nach dem Friedens-
schluß mit der Pforte hinwieder galt ihm die Karlsbader Badekur,
deren Notwendigkeit er längst empfunden, offenbar für wichtiger
und dringender, als eine damals aussichfslose Fortsetzung des um
den Majestätstitel geführten diplomatischen Kampfes. Aber gerade
sein vom 22. September bis 17. Oktober währender Aufenthalt in
ss) Ebenda und Originalbericht des Grafen Wratislaw v. 11. juli 1711.
Familienkorrespondenz A. 16.
ss) Fürst Trautsohn zum Sinzendorf v. 11. Juli 1711. Wien. Staatsarchiv.
Corresp. Fürst Trautsohn 1709—13.
se) Wienerisches Diarium, 1711. Nr. 839, 840, 841, 846.
875
Karlsbad’) bot ihm neuerlichen Anlaß zum Aufwerfen der Titelfrage.
Die böhmische Statihalterei wandte nämlich, offenbar auf höhere
Weisung, im schriftlichen Verkehr mit dem Caren anstati des Ma-
jestatstitels die Bezeichnung Serenitas an, was dann wieder die
Repressalie zur Folge hatte, daß der Car seine Leibgarde nicht nur
bei sich behielt, sondern sie durch Werbung sogar noch verstärkte.
Zur Vermeidung weiterer Unannehmlichkeiten sah sich die Statt-
halterei hierauf zur Nachgiebigkeit gezwungen und gab dem Caren
„die Maiestät-Benennung“. Nun war, wie es im Theatrum Europaeum
heißt, „Alles besser, seine Garde von ihm nach Sachsen geschickt
und an deren Stelle die nötige Mannschaft gebrauchet worden*).“
Damit verschwand die Titelfrage auf lange Zeit von der Tages-
ordnang. Erst zehn Jahre später fand sie endlich ihre Lösung, und
zwar, wie schon früher erwähnt, auch dann nicht durch ein Über-
einkommen mit dem Wiener Kaiserhaus, sondern durch einen Will-
kürakt des Caren.
ss) Wienerisches Diarium, 1711. Nr. 860.
ss) Bd. XIX, p. 556.
576
MISCELLEN
ZEHN JAHRE AUSSENPOLITIK DER SOVETS
Von
Leopold Silberstein.
M. Tanin: 10 let vnešnej politiki SSSR (1917—1927). — Gosudar-
stvennoe izdatel’stvo Moskva-Leningrad 1927. Vill, 260 S.,
1 Karte. — Desjat’ let sovetskoj diplomatü (akty i dokumenty). —
Izdanie Litizdata Narkomindela, Moskva 1927. 124 S.
Tanin hat sein Buch Anfang Oktober 1927, kurz vor dem Staatsjubilaum,
abgeschlossen. Die Zeit war damals für die Sovetunion außenpolitisch
sehr düster. England hatte im Sommer den diplomatischen Bruch voll-
zogen, Frankreich zeigte durch unnachgiebiges Auftreten in der Rakovskij-
Affäre betont seine Mißachtung, die Beziehungen zu Deutschland halten den
1926 mit dem Berliner Vertrag erreichten Höhepunkt schon wieder über-
schritten, die Ermordung Vojkovs gefährdete die Beziehungen zu Polen,
der innere Kampf mit der Linksopposition begann auch die gefühls- oder
interessenmäßigen Freunde der Union im Auslande zu kritischer Besinnung
zu veranlassen. Ein Rück- upd Überblick mußte demgemäß von ernsten
Untertonen durchklungen sein, andererseits durfte in einem Jubiläumswerk
auch die Fanfare des Glaubens an den Endsieg nicht fehlen. Dieser sehr
heiklen Aufgabe hat sich Tanin im ganzen mit Geschick entledigt. Nur
selten tritt ein handgreiflicher Widerspruch zutage: etwa wenn er eine
„isklju&itel'naja polititeskaja otstalost’ amerikanskogo rabodego klassa“
feststellt (S. 222) und einen wirtschaftlichen Aufschwung Amerikas noch
auf 10—20 Jahre voraussagt (S. 225), gleich darauf aber pflichtschuldigst die
Hoffnung ausdrückt, daß eine Gegnerschaft Amerikas gegen die Union
schließlich doch dank wirtschaftlichen Krisen und Gegensäben Amerikas
und dank dem dort aufgehauften „sozialen Zündstoff“ zusammenbrechen
werde (S. 225).
Echt sovetistisch laßt Tanin in seiner Darstellung die führenden Per-
sonlichkeiten hinter den unpersonlichen Ereignissen, Situationen und Ten-
denzen stark zurücktreten. Für uns, die wir uns politische Persönlichkeit
und Milieu nur in unirennbarer Wechselwirkung denken können, wird das
Bild dadurch unvollständig und schief. In merkwürdiger Undankbarkeit
werden gerade diejenigen Männer totgeschwiegen oder unzureichend be-
handelt, denen die Union nicht zulebt ihre erstarkte außenpolitische Po-
sition verdankt: die Deutschen Rathenau, Malkan und Brockdorff sowie die
Chinesen Sun-Yat-Sen und Feng-Yu-Hsiang. Tanin erwähnt weder Malbans
langwierige Vorbereitung der Ostorientierung noch Rathenaus verantwor-
tungsbewußte Gewissenskampfe in den Genueser Tagen, noch Brockdorfis
unermüdliche Arbeit, ohne welche die Linie von Rapallo vermutlich schon
längst infolge irgendeines Zwischenfalles oder infolge anderweitiger Bin-
dungen Deutschlands verlassen worden wäre. Aber für Tanin scheint es
schon fast das größte Lob zu sein, wenn er über einen nicht-bolschewi-
877
stischen politischen Partner schweigend -hinweggeht, ohne ihn zu tadeln.
Ein Mac Donald z. B. wird so ungefähr wie ein hilfloser Schwachling hin-
gestellt, der in der Affäre des sog. Zinov’jev-Briefes das ohnmächlige
Werkzeug Gregorys Bye sei (vgl. hierzu die ganz andere Auffassung
Miljukovs, „Rußlands Zusammenbruch“, Bd. I, S. 238). Etwas mehr Respekt
hat Tanin schon vor Lloyd George und Wilson, aber auch ihnen bleiben
hämische Bemerkungen nicht erspart. Wagt es ein Linkspolitiker, scharf
antibolschewistisch zu sein, wie Masaryk oder Tschiang-Kai-Schek, so wird
er geradezu beschimpft. Leidlich kommen von den gemäßigten Politikern
noch Stresemann und Kemal-Pascha weg. Am besten aber schneiden die
ausgesprochenen Rechten ab, namentlich die englischen Konservativen, vor
denen als den energischsten und gefährlichsten Gegnern der Union Tanin
allen Respekt hat.
‚Die Darstellung der Ereignisse ist — abgesehen von einigen diplo-
matischen Zwischenfällen, die verschwiegen, und Kulissenvorgängen, die
zweckdienlich vereinfacht werden — als recht vollständig zu bezeichnen.
Mit den Proportionen kann man sich allerdings nicht einverstanden er-
klären. Gewiß ist es richtig, daß Tanin auch räumlich das Hauptgewicht
auf den englischen Gegenspieler legt. Warum aber die Episode des Cur-
zon-Ultimatums schärfer herausgearbeitet wird als die weitaus insiruktivere
Vor- und Nachgeschichte des anglo-russischen Vertrages vom 8. August
1924, vermag ich nicht einzuschen. Ebenso wird die militärische, maritime
und geopolitische Bedeutung der Konferenz von Lausanne unzureichend
gewürdigt. Die chinesische Frage erhält im Verhaltnis zur afghanischen
und persischen zu wenig Raum. Die Vorgänge von Genua und Rapallo
werden wohl nicht nur dem Deutschen als zu kärglich behandelt erscheinen.
Uberbetont ist dagegen die Rolle des Proletariats der fremden Mächte,
und auch die Frage der „Propaganda“ hätte wohl eine knappere Behand-
lung ohne Schaden vertragen.
Es braucht nicht erst erwähnt zu werden, daz Tanins Werturteile außer-
halb der Union vielfach auf Widerspruch stoßen müssen. Man nimmt sie
jedenfalls mit Interesse zur Kenntnis. Die Sovetdiplomatie sei aus dem
Konflikt mit Curzon lin welchem sie bekanntlich in allen Punkten nachgab)
mit Ehren hervorgegangen, da Curzon einen Bruch und eine neue Inter-
vention habe provozieren wollen, dies ihm aber infolge des russischen
Nachgebens nicht gelungen sei (S. 125). Der Locarno-Pakt sei nichts an-
deres als eine Verschwörung gegen die Union, eine „veličajšaja po svoemu
utoncennomu licemeriju i chanzestvu — — — komedija“ (S. 153). Schon mehr
Hand und Fuß hat Tanins Aufdeckung egoistischer Motive und teilweiser
Sabotage bei der Hilfsaktion für die Hungergebiete (S. 100 ff. .
Von großem Interesse sind die Perspektiven, die Tanin Ende 1927 für
die Zukunft geben zu müssen glaubte, obgleich die seitherige Geschichte
einstweilen vielfach andere Wege gegangen ist. Tanin glaubte 1927 nicht
an eine lange Lebensdauer einer evil. künftigen englischen Arbeiterregie-
rung; diese werde vielmehr von der Bourgeoisie abermals über das rus-
sische Problem hinweg zu Fall gebracht werden. Demgegenüber sei Hoff-
nung nur auf das englische Proletariat zu seben, das — anders als 1914 —
den Ausbruch eines Krieges, der sich diesmal gegen Rußland richten würde,
vereiteln werde (S. 179 f.. Deutschland sieht er in schneller Erstarkung
begriffen (S. 183). Seine Außenpolitik werde höchstwahrscheinlich zwischen
London und Moskau hin- und herschaukeln (S. 184), ohne — trok seiner
Mitgliedschaft beim Völkerbunde — mit Rußland zu brechen, da es konkrete
Verpflichtungen gegen die Union vermutlich nicht eingegangen sei (S. 186).
Allerdings — diese Ansicht Tanins ist besonders aktuell — werde eine
Revision des Dawesplans Deutschlands politische Linie stärker derjenigen
der Westmächte annähern (S. 187). Die französische Gefahr sieht Tanin
durch den franko- englischen Gegensab paralysiert; ihre Aktualität fürchtet
er nur für den Fall polnisch-russischer Verwicklungen (S. 189f.). Diesen
Fall halt er allerdings fast für sicher, da die Person Pilsudskis, der die
„fixe Idee“ der Grenzen von 1772 habe, den Krieg bedeute (S. 1% f.). Auch
die Opposition der Nationaldemokraten werde Pitsudski von diesem
578
Kriegswillen nicht abbringen. Doppelt fällt eine so kategorische und bisher
zum Gluck trügerische Prognose neben der Zurückhaltung auf, mit der von
den übrigen Randsiaaten gesprochen wird. Auch beirefis Chinas will
Tanin nicht mehr prophezeien, als daß die dortige Entscheidung die Ent-
wicklung der Welt auf Jahrzehnte bestimmen werde (S. 213). Seine wider-
spruchsvolle amerikanische Prognose haben wir schon erwähnt. Er ist sich
nicht so recht klar darüber, ob er Amerika als Freund oder als Feind der
Sovetunion anzusehen habe (in Wirklichkeit hat Amerika der Sovetunion
gegenüber nie eine Politik pro oder contra, sondern eine rein amerika-
nische, sich mit den Interessen und Prinzipien seiner eigenen Nation
deckende Politik getrieben). Für die Zukunft glaubt Tanin infolge der eng-
lisch-amerikanischen Annäherung an Amerikas ausgesprochene Feindselig-
keit (S. 220), zumal Amerika mittels der „Dawesisierung“ Europas die Welt-
herrschaft anstrebe und die Sovetunion als das ernsihafteste Hindernis auf
diesem Wege vorfinde (S. 221).
Das in jedem Falle reichhaltige, dem kritischen Leser zur In-
formation sehr zu empfehlende, sich von einer früheren Arbeit Tanins stili-
stisch vorteilhaft unterscheidende Werk endet mit einer im wesentlichen
vollständigen und korrekten Zeittafel.
Die gleichzeitige Jubilaumspublikation des Narkomindel „Desjaf let
sovetskoj diplomatii“ ist von viel geringerem Umfange und muß sich außer-
dem noch weitgehenderer Kürze befleißigen, weil ein wesentlicher Teil des
Raumes von Originaldokumenten oder Auszügen aus solchen in Anspruch
genommen wird. Der Titel ist irreführend: von der cigentlichen Diplomatie,
d. h. den auswärtigen Bevollmächtigten und ihrer Arbeit mit den fremden
Regierungen, bekommt man sehr wenig zu sehen; der richtige Titel müßte
dem Taninschen gleichlautend sein. Der einzige Fall, wo man statt poli-
tischer Fakta einen Einblick in das Wesen politischer Arbeit bekommt, ist
das einleitende Kapitel „Desjat’ let žizni NKID“. Dieser Einblick ist freilich
recht kärglich. Vieles, so die Schilderung der Umwandlung des NKID
RSFSR in den NKID SSSR, hat rein formale Bedeutung und kann eigentlich
niemanden interessieren. Wertvoller ist die Schilderung der Gefahren und
Schwierigkeiten, unter welchen die erste außenpolitische Arbeit geleistet
werden mußle. Lehrreich sind auch die wiederholt notwendig gewordenen
Umorganisationen und Etatredukfionen, endlich die sichtbare Sorge um den
apa — die erst gegen Ende des ersten Dezenniums nachzulassen
ginnt.
Die historische Darstellung ist nicht rein chronologisch, sondern sachlich
gegliedert in die Abteilungen „Der Kampf um den Frieden“, „Die Entwick-
lung der internationalen Beziehungen“ und „Die U.d.S.S.R. und der Völker-
bund“. Diese Einteilung zwingt frotz des knappen Raumes zu Wieder-
holungen; so wird vom Abrüstungsproblem zweimal ausführlich gesprochen.
Im Jahre der Genfer Wirtschaftskonferenz unterstreicht die Publikation ganz
besonders den auch seitens der russischen Delegierten in Genf vertretenen
Standpunkt, daß nur die materielle Abristung den Frieden garantieren
könne, in der sog. moralischen Abrüstung durch Nicht-Angrifis- und
Schiedsverträge, die z. B. auf der Moskauer Konferenz von 1922 seitens
der Randstaaten in den Vordergrund gestellt wurde, sieht das Buch nur
einen Versuch der Ablenkung vom Wesentlichen (S. Bf., 116 f.). Die Frage,
wer am Scheitern der Moskauer Konferenz die Schuld trägt, ist damit frei-
lich nicht gelöst.
Bei allem Verständnis für die notwendige Kürze muß doch die Dar-
stellung der kriegerischen und politischen Vorgänge des Jahres 1920 als
ganz lückenhaft bezeichnet werden. Dies gilt namentlich auch von der
Dokumentensammlung, welche die nur zum Fenster hinausgesprochenen
Friedensvorschläge an Polen enthält, von den entscheidenden diploma-
tischen Vorgängen aber, die namentlich mit der Tätigkeit Kamenevs zu-
sammenhängen, ebensowenig einen Begriff gibt wie die fortlaufende Dar-
stellung. Von der langsamen Arbeit und Evolution, die zum Rapallo-Ver-
trag führte, ist im Buche nichis zu merken, die politischen Wendungen
platzen herein wie ein deus ex machina: man lese nur die Seiten 60, 64 und
579
66 nach. („Odnako prebyvanie sovetskoj delegacii v Genue ne okazalos’
besplodnym: ona zavjazala peregovory s delegacijami drugich stran, v per-
vuju ocered’ s germanskoj, —“ S. 66.) In ebenso primitiver Weise platzen
S. 68 die englischen Vorgan sige des Jahres 1924 zusammenhanglos aufein-
ander, wobei wohl absichilich verschwiegen wird, daß auch Mac Donald
eine Einmischung der Sovets in Englands innere Verhältnisse zu dulden
nicht gewillt war. Eine ähnliche Kunst des Verschweigens finden wir auf
> 71, wo vom Dementi der Beschuldigung, daß die russische Regierung den
nglischen Bergarbeiterstreik unterstützt habe, gesprochen wird, ohne die
Haltung des russischen Zentral-Gewerkschaftsverbandes zu erwähnen.
Auffällig ist eine Abweichung von Tanin auf S. 72: während Tanin die
Lösung des Voikov-Konfliktes pessimistisch beurteilte, meint der Nar-
komindel, es sei gelungen, ihn glücklich zu liquidieren. Reichhaltiger als
Tanin ist — trob der Kürze — das Buch im Kapitel „Die U.dS.S.R. und der
Völkerbund“. Die Sovetunion verirete die ursprüngliche Wilsonsche Völker-
bundsidee (Selbstbestimmungsrecht der Volker, demokratischer Frieden,
Abrüstung usw.); der Volkerbund in seiner jebigen Gestalt sei aber ein
„Bund der Kapitalisten gegen die Völker“, eine „diplomatische Börse, aut
der die starken Mächte — hinter dem Rücken und auf Kosten der kleinen
und schwachen Völker ihre Rechnungen begleichen” (S. 115). Deswegen
habe es die Union — trob einladender Stimmen wie der Mottas und Mac
Donalds — bisher immer abgelehnt, „nach Canossa zu gehen“ und dem
Bunde freiwillig beizutreten (S. 114). Besonders empört ist die Publikation
über die hervorragende Rolle, welche Finnland im Völkerbunde zugewiesen
wird (S. 119 u. ö.). Die Aufzählung der einzelnen Fälle, in denen mannig-
fache praktische Notwendigkeiten trozdem eine engere oder losere Be-
rührung zwischen Union und Völkerbund erzwungen haben, ist recht voll-
ständig und instruktiv.
Ein einigermaßen richtiges Bild der russischen Außenpolitik der Jahre
seit 1917 dürfte sich erst beim Vergleich der besprochenen beiden Werke
mit Miljukovs Buch „Rußlands Zusammenbruch“ ergeben.
BEITRÄGE ZU PREUSSENS STELLUNG GEGENÜBER
DEM WARSCHAUER NOVEMBERAUFSTAND V. J. 1830")
Von
Manfred Laubert.
Preußens Stellung gegenüber den polnischen Aufstanden von 1850 wie
1865 war durchaus gegeben: es mußte die seinen eigenen Bestand be-
drohenden Bewegungen an Rußlands Seite möglichst schnell zu ersticken
bemüht sein. Diese Untersfützung wurde russischerseits von dem Verbün-
deten auch ohne ned erwartet, wie eine Note des Berliner Ge-
sandten Grafen Alopeus v. 19. Dez. 1830 an den Minister
desAuswartigen, GrafenBernstorff, klar zum Ausdruck bringt:
„Les Gouvernements de Prusse & d'Autriche auront sans doute, dès
les premières nouvclles des événements qui ont eu lieu à Varsovie
pris les mesures nécessaires à l'effet d'assurer la tranquillité de oun
propres Etats et d'empêcher surtout que le feu de la révolte ne se
page dans les provinces ci-devant polonais de ces deux Monar ies.
Dans ce but et pour neutraliser en même temps les efforts du parti
révolutionnaire en Pologne, il serait de la plus haute importance d’inter-
dire autant que possible toute espèce de contact entre le Royaume et
le reste de l'Europe et surtout d’intercepter toute communication que
les rebelles polonais pourraient avoir avec les agitateurs francais, soit
par correspondance, soit par l'intermédiaire de voyageurs.
C'est done dans l'intérêt de la Prusse & de l'Autriche elles-mêmes,
comme dans celui de l'ordre ef du repos en général: que S. M. l'Em-
pereur a pris la résolution de réclamer de Ses augustes amis et alliés
prompte adoption des mesures les plus énergiques à l'effet d'isoler
autant que possible le Royaume de Pologne des autres Etats Euro-
péens. Ces mesures, si elles étaient sans la moindre délai concertées
entre les deux Gouvernements et soutenues avec une égale vigeur,
semblent ne pas devoir manquer leur but. En présentant au Ministre
du Roi et cette proposition de l'Empereur et l'exposé des réflexions
qui Pont motivée, le soussigné... se félicite de pouvoir être convaincu
d'avance de Faccueil favorable qu'elles trouveront après de S. M
Prussien dont la sollicitude éclairée a déjà reconnu le danger du voi-
sinage d'une rébellion et préparé les mesures de précaution que ce
danger a rendues nécessaires. Il ne lui reste d'autre tâche à remplir
que de solliciter du Gouvernement du Roi le développement prompt
et entier de ces sages mesures, en Le priant de vouloir bien mettre le
soussigné & même d'informer le Cabinet de l'Empereur des résolutions
que celui du Roi pourrait adopter par suite de la présente communi-
cation.“
Der Minister des Inneren und der Polizei, Frh. v. Brenn, erklärte
sich mit der Auffassung von Alopeus einverstanden und verwies darauf,
daß bereits in der Richtung seiner Wünsche verfahren war. Auch bestand
1) Nach Rep. 77. 509. 9. Bd. I u. 10. Bd. I/II und A. A. Rep. IV Polizei-
sachen 157. Bd. II im Geh. Staatsarchiv zu Berlin und Öberpräsidialakten
IX. B. a. 8 u. 13a im Staatsarchiv zu Posen.
25 NF 5 381
in Berlin das Bestreben, die zu erlassenden Verfügungen möglichst dem in
Wien befolgten Verfahren anzugleichen (an Bernstorff, 22. Dez). Die
Reisenden wurden hinlänglich beaufsichtigt, jede Reise nach Polen ohne
Paßvisitation durch die russische Gesandischaft in Berlin oder Wien unter-
sagt. Bei Einzelfällen, wie Graf Plater und Prof. Szyrma, wurden besondere
Anfragen gestellt. Durch Immediatbericht v. 8. Dez. hatte der Minister
die Besorgnis ausgedrückt, daß Einwohner der Provinz Posen, vornehmlich
aus der Kategorie der jüngeren exaltierten Köpfe, sich den Empörern
anschließen würden. Darum erschien es ihm rätlich, in den Regierungs-
amisblattern vor jedem derartigen Schritt unter Androhung der geseblichen
Strafen zu warnen und zugleich die preußischen Untertanen, die sich in
Polen befanden, mit derselben Verwarnung zu ungesaumter Rückkehr auf-
zufordern. Weiter riet er zu einem Verbot der Ausfuhr von Waffen, Pferden,
Pulver, Blei und anderen Kriegsbedürfnissen aller Art bei Strafe der Kon-
fiskation. Der König stimmte un Kabinettsorder v. 10. Dez. den Vor-
schlagen bei und genehmigte, daß Brenn sich wegen der Durchführung mit
den Ministern der Finanzen und des Krieges ins Einvernehmen setzie.
Finanzminister Maassen erließ am 23. Dez. an die Provinzialsteuerdirek-
tionen der Grenzprovinzen den Befehl, sofort die Zollamter über das Export-
verbot zu instruieren, während der Generalposimeister seine Behörden in
gleicher Art zum Beistand aufrufen wollte. Bereitwillig leistete endlich der
Kriegsminister v. Hake die erbetene Unterstützung und forderte die drei be-
teiligten Generalkommandos auf, den Grenzbeamten Beistand zu leisten
Syn gegen selbständig entdeckte Kontraventionen einzuschreiten (Verf.
. jan. 1 š
Um aber die wirtschaftlichen Beziehungen nicht zum Schaden der
Posener Einsassen völlig zu unterbinden, hatte der dortige Oberpräsident
Flottwell verfügt, daß im gewerblichen Grenzverkehr die Gespanne von ge-
hörig legitimierten Reisenden gegen Kaution und Paßvermerk über die Zahl
der Pferde die Grenze überschreiten dürften, was die Minister guthieken
(Verf. 30. Jan. auf Ber. 16. Jan.). Ferner war er durch die täglich mehrmals
gemachte Wahrnehmung von einem versuchten Schmu uggel mit Waffen,
Pferden und Munition veranlaßt worden, von sich aus im Einverständnis mit
dem kommandierenden General v. Roeder auf zweckdienliche Weise, wenn
auch ohne öffentliches Verbot, diesen Unfug abzustellen (an d. Staatsmini-
sterium 2.Jan.). Zu diesem Behuf war allen Kaufleuten innerhalb einer 2—3
Meilen breiten Grenzzone ihr gesamter Vorrat an solchen Waren, auch an
Sensen, gegen Empfangsbescheinigung abgenommen und ihnen bei Strafe
der Beschlagnahme eine Wiederergänzung ihrer Bestände untersagt worden
Der Oberpräsident bat deshalb, es bei dieser Anordnung zu belassen
für seinen Bezirk die in Anlehnung an die Kabinetisorder v. 10. Dez. durch
Maassen und Brenn am 23. an die Regierungen der Grenzprovinzen er-
gangene, sich auf das Zollgeseh v. 26. Mai 1818 berufende Bekanntmachung
aufzuheben. Die Entscheidung wurde schließlich dem Monarchen anheim-
gestellt, der sie im Sinne Flottwells fällte. Um späteren zu hohen Entscha-
digungsansprüchen vorzubeugen, wurde hierbei der Ankauf der Sachen
durch den Staat empfohlen ( rder v.3. April an den Minister für Gewerbe-
r v. Schuckmann, Maassen und Brenn auf Immedber.
. Mär
Es war natürlich, daß Preußen durch die ergriffenen Maßregeln eine
Fülle von Ärger und Anfeindung seitens der Westmachte erwuchs, obwohl
sein Verfahren keineswegs rigoros war. Beispielsweise wurde einem
Grafen Łubieński nach langen Verhandlungen die Ausfuhr von Tuchen nach
Russisch-Polen freigegeben. Aber dicke Aktenbande hauften sich an mit
Korrespondenzen über die versuchte Einschwärzung von Gewehren aus
Birmingham, über die Zufuhr von Pulver über Hamburg-Stettin oder auf
anderen Wegen unter der Bezeichnung Pottasche oder Reis und dergi. mehr.
Andererseits beklagte sich ungeachtet aller F Vorsicht die
russische Regierung. Ihr Geschäftsträger v. Maltiz beschwerte sich über
die Ausfuhr von Weißblech, obwohl solches in Preußen zur Kriegskonter-
582
bande gehörte, und über die anderer Waren nach Österreich und von dort
nach Polen. Alopeus nahm Anstoß an der Durchlassung angeblicher Arzte,
wenngleich französische Mediziner zurückgewiesen wurden. In seiner am
1. April wegen der Überläufer überreichten Note heißt es: „Je viens d'être
chargé par mon Empereur d'appeler l'attention du Ministère de Sa Mai. le
Roi sur l'urgence des mesures que Sa Maj. Impériale désirait voir prendre
à son Auguste Allié à l'égard des rebelles polonais qui viendraient se réfu-
gier en Prusse, mesures qui seraient non seulement dans l'intérêt de la
Russie, mais dans celui de tous les Gouvernements légitimes de l'Europe.“
Als besonders notwendig wurde es hingestellt, sich der Radelsfuhrer zu
bemächtigen, die nach Preußen entweichen wollten. Wenn die Regierung
energische Maßnahmen traf, um diese Individuen im Augenblick der Grenz-
überschreitung bis zur Entscheidung des Caren unter strenge Aufsicht zu
bringen, so leistete sie damit der kaiserlichen Sache einen werivollen Dienst.
Nikolaus erwartete vertrauensvoll diesbezügliche Anordnungen seines
Schwiegervaters, und die russische Regierung erklärte sich bereit, alle ent-
stehenden Kosten zu übernehmen.
Später forderte Alopeus, daß auch die im Gouvernement Wilna am Auf-
stand beteiligten Flüchtlinge nicht nach Rußland zurückgelassen, sondern
gleich ihren polnischen Leidensgefährten mit öffentlichen Arbeiten beschäf-
tigt werden sollten. Brenn versicherte sofort, daß schon ein analoges Ver-
fahren hinsichtlich der Litauer angeordnet sei. Trojdem überschritten in
zwei Fällen russische Soldaten auf der Verfolgung polnischer Gegner die
preußische Grenze, ungeachtet man hier ohnehin streng darauf sah, daß
die ommlinge keine 12 Stunden in den Grenzkreisen geduldet wurden
(Ber. d. Oberstleutnants und Fliigeladjutanten v. Lindheim an d. Ministerium
d. Auswartigen, 7. Mai).
Als unangenehm wurde es höheren Orts empfunden, daß die er gangenen
Verfügungen trob aller Vorsicht doch häufig sehr bald in den Warschauer
Zeitungen erschienen. Flottwell erwiderte jedoch lakonisch, daß in solchen
Fallen auf Wahrung des Amtsgeheimnisses nicht zu rechnen ware und Nach-
forschungen nach dem Angeber aussichtslos seien. Er brauchte nicht bei
den Landratsamtern gesucht zu werden, denn auch in den Bureaus und
Kanzleien der Regierungskollegien befänden sich unzuverlässige Elemente
(Ber. 8. April), eine natürliche Folge der allgemein üblichen Verwendung
von Polen.
Erst am 12. Oktober erbaten die drei Minister die durch Kabinettsorder
v. 24. erfolgende Wiederaufhebung des Ausfuhrverbots für Waffen usw.
aber noch durch Note v. 13. April 1832 erbat die russische Regierung dessen
Wiedereinführung, ein Verlangen, dem nun Schuckmann in seinem
Votum v. 4. Juni kräftig entgegentrat. Er führte darin aus: „Zur Zeit der
Revolution war das in unserem Handelsinteresse nicht begründete und nur
durch die Politik gerechtfertigte Verbot ein Freundschaftsdienst. jetzt hand-
habt Rußland seine Zollgesetze wie früher; es handhabt sie zum Nachteile
unseres 5 nicht bloß in früherer Art, sondern es läßt täglich
neue hinzutreten, und überdies fordert es von uns, daß wir in Dingen seines
Interesses durch Ausfuhrverbote die Kontrolle seiner Einfuhrverbote über-
nehmen und seine Mitwächter werden sollen. Ich habe diese Bemerkungen
nicht unterdrücken können, weil die öffentliche Meinung sich ohnfehlbar dar-
über aussprechen wird, und weil die Noten immer nur Anträge enthalten,
sich gegen Rußland gefällig zu erweisen, ohne daß ich darin eine Spur von
Gegengefälligkeit entdecken kann, ja sogar das Nationalgefühl verlehende
Ungerechtigkeiten, wie z. B. die des Monopols für seine Dampfschiffahrts-
gesellschaft mit stiller Duldung und Ergebung hingenommen werden sollen,
damit wir nur ja die Großen in Rußland als Mitaktionairs nicht auf Preußen
zürnen. Unter den nun einmal obwaltenden Umständen erkenne ich zwar
an, daß der Antrag Rußlands, der selbst in der Fassung der Note des
russischen Geschaftstragers v. 12. April d. J. nicht frei von Anmagung ist,
nicht ganz wird von der Hand gewiesen werden können. Ich bin daher
bereit, an einem Bericht an des Königs Majestät Teil zu nehmen, muß aber
585
bitten, dasjenige, was ich hier geäußert habe, in den Bericht aufzunehmen,
damit S. M. endlich erfahre, daß Preußens Aufopferungen nur mit neuen
Beeinträchtigungen von seiten Rußlands erwidert werden.”
Erntete somit Preußen von seiten Rußlands nicht den ger . Dank,
so ist es noch weit natürlicher, daß ihm seine Willfährigkeit schwere Ver-
dachtigungen der Polen und Polenfreunde eintrug, denen eine gewisse Be-
rechtigung nicht abgesprochen werden kann, wenn man den ideologischen
Standpunkt vollkommener Neutralität als den gebotenen anerkennen will.
Vor allem war die Förderung der militärischen Operationen bedenklich, die
bei Paskiewitsch’ Weichselübergang wohl am deutlichsten zutage traf.
Hierüber reichte das polnische Ministerium des Auswärtigen in Warschau
eine 17 Seiten füllende Klageschrift ein, deren wichtigste Punkte folgende
Angelegenheiten betrafen: 1. Beschränkung der individuellen Freiheit bei
dem Grenzverkehr von Anfang Dezember 1830 ab. „Les communications des
habitants du Royaume de Pologne avec les sujets Prussiens furent entra-
vées de mille façons à la frontière, de la part des autorités prussiennes.”
Besonders wurden aus der Fremde zurückkehrende Polen widerrechtlich
festgehalten wie der maitre de requêtes Grzymała und die Gräfin Szembek.
5. Erla von 2 Ordonnanzen, in denen den polnischen Einwohnern Schub
zugesichert wurde, die mit ihrer Habe ihre Heimat verlassen und sich in
Preußen ansiedeln wollien, und durch die die Einfuhr von Waren nach
Preußen erlaubt wurde, deren Ausfuhr durch polnische Geseke verboten
war, besonders Schlachtvich, selbst auf Richtwegen (chemins de traverse).
10. Versorgung der russischen Armee schon im April 1831 durch die preu-
Bischen Behörden mit Lebensmitteln und anderer Provision, Anlage von
Magazinen und Ankäufe für russische Rechnung, was eine Verletzung der
Neutralität bedeutet. 12. Entsendung von Spionen durch Preußen zur Be-
obachtung der polnischen Bewegungen und Benubung der Cholera als Vor-
wand zu der die Polen schädigenden Maßnahme der Orenzschließung.
13. Sperrung der Grenze seit Errichtung des Sanitätskordons sogar für Ein-
wohner, deren Güter vom Grenzzug durchschnitten werden, was eine Ver-
letzung der Wiener Verträge bekundet. Auch diese Chikane wurde durch
Spezialfälle belegt, mit dem bitteren Zusah, daß die preußischen Behörden
ungeachtet des Sanitätskordons fur die Russen weiterhin tätig waren.
Man nahm solche Anschuldigungen in Berlin keineswegs ganz leicht.
Deshalb richtete am 20. Sept. Geheimrat Eichhorn im Ministerium des
Auswärtigen an Flottwell das Verlangen, ihm bei einer Rechtfertigung be-
hilflich zu sein. Er schrieb dazu: Von wie vielen Seiten unsere Regierung
sich während der Dauer des polnischen Aufstandes wegen der den In-
surgenten entgegengesebien Widerstandsmitte] und der hingegen der rus-
zischen Armee angeblich gewährten direkten und indirekten Untersützung
oder Erleichterung den heftigsten und leidenschaftlichsten Angriffen aus-
gesebt gesehen hat, ist gewiß Ihrer Aufmerksamkeit nicht entgangen. Be-
sonders haben die englischen und französischen Blätter sich gleichsam zu
überbieten gesucht, was, z. T. wenigstens, wohl seinen Grund in dem
Treiben und Wirken der in Paris und London anwesenden Abgeordneten der
aufständischen „Machthaber“ ) in Warschau gehabt haben mag. Unsere
Regierung konnte im Bewußtsein ihrer lediglich aus einer treuen Aufrecht-
haltung der von ihr abgeschlossenen Staats- und völkerrechtlichen Verträge
als notwendige Folgen sich ergebenden Motive, womit alle ihre Anordnungen
und Zulassungen übereinstimmen, es um so mehr verschmähen, sich auf eine
ausführliche Bekämpfung jener Ausfälle einzulassen, als diese aus der
leidenschaftlichsten Befangenheit über die Weliverhältnisse ihren Ursprung
nahmen und fortdauernd dadurch genährt wurden. Wenn sie gleichwohl
einmal auf Veranlassung einer in den polnischen Zeitungen enthaltenen Be-
schwerde und ein anderes Mal infolge eines in dem französischen journal
„Le Messager des Chambres” befindlichen Aufsatzes sich zu berichtigenden
2) Dieser Ausdruck ist zur typischen Bezeichnung des amtlichen Stils
geworden.
584
Artikeln vermittelst der Staatszeitung verstanden hat, so geschah solches
nur ganz allgemein und lediglich zu dem Zweck, um durch Schweigen bei
Oelegenheit der Verbreitung ganz falscher Tatsachen in viel gelesenen
öffentlichen Blättern dem Olauben an deren Richtigkeit nicht auch bei Un-
befangenen Vorschub zu leisten. Hierbei würde es an und für sich nun
allerdings sein Bewenden haben können, wenn es nicht vor einiger Zeit
noch den inzwischen von der Bühne abgetretenen polnischen Machthabern
gelungen wäre, einen sehr ausführlichen, in ebenso anmaßendem wie leiden-
schaftlichem Ton abgefaßten Aufsatz in die Hände des Ministeriums des
Auswärtigen gelangen zu lassen, worin jene früheren Beschwerden erneut
und durch mehrere faktische Momente zu begründen versucht wird. Aller
Wahrscheinlichkeit nach haben jene Machthaber ihrer Zeit auch Gelegenheit
gefunden, diesen Aufsatz durch ihre Organe zur Kenntnis der Ministerien
einiger anderer europäischer Mächte zu bringen und es kann sich daher
früher oder später wohl fügen, daß im Lauf weiterer diplomatischer Ver-
handlungen oder auch bei anderer Veranlassung von der einen oder an-
deren Seite auf diesen Aufsatz Bezug genommen wird. Tritt ein solcher
Fall wirklich ein, so ist es für das Ministerium von besonderer Wichtigkeit,
sich in bezug auf jedes einzelne polnischerseits zur Sprache gebrachte
Moment im Besitz ebenso gründlicher und vollständiger als zuverlässiger
Materialien über den wahren Zusammenhang der diesfälligen Tatsachen zu
wissen, um danach seine Erklärung zur N hl solcher falschen An-
schuldigungen und zur Verwischung nachteiliger Eindrücke abzufassen. Da
Flotiwell von seinem amtlichen Standpunkt aus unfehlbar die umfassendsten
Mittel zu einer solchen genauen Feststellung der Tatbestände besaß, wurde
ihm wie den Oberpräsidenten von Preußen und Schlesien ein Auszug des
Aufsages zugestellt, um baldigst das Ergebnis seiner diesfälligen Recherchen
einzusenden.
Nach eigenhändigem Konzept genügte er dem Auftrag am 3. Okt. Er
zweifelte nicht, daß es seinen Amisgenossen ebenso leicht werden würde,
die leidenschaftlichen Beschwerden zu widerlegen. Er erbot sich, auf Ver-
langen des Ministeriums noch spezielle Beweise für seine Darlegungen zu
erbringen, die ihm zu dem angeführten Zweck indessen nicht erforderlich
ienen. Zunächst prazisierte er den Standpunkt, von dem allein die
vorgebrachten Klagen richtig gewürdigt werden konnten: Das Königreich
Polen war durch seinen Aufstand und so lange es sich in den Händen der
insurrektionellen Machthaber befand, keineswegs in die Reihe der euro-
päischen Mächte getreten, die enseitigkeit anerkennen und durch Ge-
sebe des Völkerrechts und Staalsverträge miteinander verbunden sind.
Durch die Revolution hatte Polen seine Pflichten zu seinem rechtmäßigen
Herrn sowie die Orundverfassung tief verletzt, die die anderen europäischen
Staaten garantiert hatten. Der Ausbruch der Revolution geschah auf eine
Weise und wurde durch Handiungen bezeichnet, die notwendig eine große
Aufmerksamkeit Preußens auf seine ehemals polnischen Landesteile in An-
spruch nehmen mußten. Schon nadr Ausbruch der französischen Revolution
kamen in der hiesigen Provinz namentlich unter dem Adel viele unverkenn-
bare Anzeichen einer feindseligen Aufregung und Stimmung gegen die
Regierung vor. Die Trennung der Polen von den Deutschen in allen Be-
ziehungen wurde bemerkbar. Vornehme Polen hielten sich längere Zeit
an fremden Orten auf, ohne sich über einen unverdächtigen Zweck dieses
Aufenthalts ausweisen zu können. Andere reisten nach Paris, ganz un-
bezweifelt wegen der politischen Verhältnisse ihres Vaterlandes. Geheime
nächtliche Zusammenkünfte fanden statt. An den Stragenecken fand man
lage, die an Polens Wiederherstellung mahnten. Durch die War-
schauer Ereignisse wurde die Ruhe und Ordnung der hiesigen Provinz in
höherem Maße bedroht. Diesseitige Untertanen wurden ganz un-
umwunden zur Teilnahme an den Unruhen im Königreich hinübergerufen
und selbst die Bewohner Schlesiens wurden teilweise zu einer solchen Be-
feiligung aufgefordert. Werber für die Sache Polens, die sich keineswegs
auf die jebigen Grenzen des Königreichs beschränken sollte, zeigten sich
585
hier in allen Ständen unter allerlei Gestalten. Teilnahme an der Sache
Polens und am Umsturz der bestehenden Regierungen wurde, soweit es
irgend möglich war, ohne dem Richter zu verfallen, von Kanzeln und Lehr-
stühlen gelehrt. An die besser gesinnten Einwohner ergingen fortwährend
die dringendsten, unstatthaftesten Zumutungen, sich der polnischen Sache
anzuschließen und sie auf alle Weise zu unterstüken. Vornehme Polinnen
stifteten Vereine für ihr Vaterland, zogen durch das Land, um Geldbeiträge
zu sammeln. Sehr bedeutende Geldsummen, Vorräte an Waffen, Munition,
Tuch, eine große Zahl von Pferden wurden aus der Provinz nach Polen
geführt. Gutsbesiber mit ihrem vollständig ausgerüsteten Gesinde, Hand-
werker mit ihren Gesellen und Lehrlingen, Lehrer mit ihren Schülern, die
vom Staat mit Wohltaten uberhauft waren, Geistliche und Beamte zogen
nach Polen. Kinder wurden wider Willen und Wissen ihrer Eltern, die da-
durch dem tiefsten Gram verfielen, fortgeführt. Mehrere Pläne, um einen
offenen Aufstand im Posenschen hervorzurufen, wurden ausgesponnen und
würden unfehlbar zur Reife gedichen sein, wäre nicht die Siimme ge-
mäßigter Polen, die an der Spitze der Warschauer Regierung standen, über-
wiegend gewesen und hatte man es ferner nicht bedenklich gefunden, bei
den vorhandenen Mitteln damals schon den offenen Kampf gegen Preußen
und Rußland gleichzeitig aufzunehmen, wäre die preußische Regierung
minder weise und vorsichtig verfahren und hätten die Gutsbesiber an den
unterdrückten Bauern, denen der Staat das Eigentum verlieh, einen besseren
und sicheren Freund gefunden.
Unzweideutige Beweise liegen in hinreichender Menge vor. Im allge-
meinen kann die Antwort auf die Frage, was Preußen bei einer derartigen
Sachlage zu tun hatte, nicht schwierig sein. Es kam zunächst auf die Siche-
rung des eigenen Landes gegen die von allen Seiten heimlich und öffentlich
versuchten Angriffe auf die gesebliche Ordnung und Ruhe darin an. Die
Grundsätze, die Preußen in dieser Beziehung annahm und verfolgte, konnte
es durch die Sophismen der Nichteinmischung in die Angelegenheiten eines
anderen Staates nicht bestimmen lassen und der treuen Aufrechterhaltung
der mit Rußland bestehenden Verträge nichts vergeben. Über diese sowie
über die Rücksichten hinaus, die zur Erhaltung der Landeshoheits- und Re-
gierungsrechte im eigenen Land notwendig waren, ist Preußen nie gegangen,
hat sich nie unmittelbar in die Angelegenheiten Polens zu Rußland gemischt,
hat jedes feindselige Bezeigen nach außen und jede aufreizende Maßregel
im Inneren soweit wie tunlich vermieden, hat sich immer bestrebt, den
erlaubten Verkehr mit dem Nachbarland, soweit irgend die Verhalinisse
es gestalteten, aufrecht und ungestört zu erhalten.
Zu den Einzelpunkten führte Flottwell aus:
ad 1: Es ist wahr, aber durch die Verhältnisse des eigenen Landes und
Rußland gegenüber sehr gerechtfertigt, daß die diesseitigen Behörden mit
dem Ausbruch der Revolution in Warschau zur genausten Aufmerksamkeit
auf die paßpolizeilichen Vorschriften und auf alle Reisenden aus und nach
Polen und im Inneren des Landes aufgefordert wurden. Den vielen Polen,
die aus Frankreich, Italien, der Schweiz und den Niederlanden, ausgebildet
in den dortigen Schulen der Revolution, heimwärts eilten, um hier die mit-
gebrachten Grundsätze in das Leben zu überführen, wurde der Durchgang
durch Preußen nur nach sorgfältiger Prüfung ihrer Unverdächtigkeit und mit
dem Visum des russischen Gesandten, nach dem 3. Dez. 1830 ausgestellt,
gestattet. Reisenden aus dem Königreich wurde der Eintritt nur erlaubt,
wenn sie in ihr Vaterland oder an ihren vorigen Aufenthalt zurückkehren
oder gewerbliche Zwecke verfolgen wollten. Bei der Unzuverlassigkeit
vieler Grenzbehörden wurde es nötig, derartige Reisende hierher oder nach
Breslau zu dirigieren, um ihre Verhältnisse näher zu ergründen. Personen
höherer Stände, die angeblich aus Polen flohen, um den Unbilden der Re-
volution zu entgehen, wurde zur Vermeidung von Unruhen nicht erlaubt, in
einer Grenzprovinz ihren Aufenthalt zu nehmen. Es war nicht abzuleugnen,
daß durch diese von der aufgeregten Zeit gebotenen Maßregeln manchen
Reisenden Weiterungen erwachsen sind und sich die Erreichung des Reise-
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ziels verzögert hat. Alle Polen, die gekommen waren, um ein Asyl zu
suchen, um gewerbliche Zwecke oder Familienangelegenheiten zu besorgen,
konnten aber das Zeugnis nicht versagen, das ihnen bei Beglaubigung ihrer
Unverdachtigkeit mit Milde und Schonung begegnet und keine ferneren
Hindernisse in den Weg gelegt worden sind. Statt vieler brauchie nur er-
innert zu werden an Graf Ossoliński, Major Machnicki, Gutsbesiker v. Dunin,
die Damen Poniatowska und Brzostowska. Die Gräfin Szembek hatte ohne
Schwierigkeit die Aufenthaltserlaubnis bei ihrem Schwiegervater im Schild-
berger Kreis erlangt. Bei Graf Albert Grzymała, bei Handlungskommis,
Bankageniten, Richtern und anderen konnte nicht geleugnet werden, daß sie
von der revolutionären Regierung entsendet wurden, um die Ziele des Auf-
standes zu fördern oder um Effekten der polnischen Bank, die als ein unter
dem Schub und der Bürgschaft der kaiserlich russischen Regierung stehendes
Eigentum zu betrachten waren, zu versilbern oder um Verbindungen im Aus-
land zugunsten der Revolution anzuknüpfen. Grzymala wurde die Anwesen-
heit in Berlin, wohin er mit Graf Mostowski reiste, gestattet. Er ist von da
nach München und Paris gefahren.
ad 5: Es wird durchaus in Abrede gestellt, daß seitens der preußischen
Regierung Bekanntmachungen ergangen sind, wonach polnischen Untertanen,
die mit ihrer Habe auf diesseitiges Gebiet kommen wollten, Schuß und Auf-
nahme zugesichert worden ist, oder zur Einfuhr von Waren ermuntert
wurde, deren Export die polnischen Gesebe und Verordnungen untersagien.
Dagegen ist denjenigen polnischen Einsassen, die die Sicherheit ihrer Person
gefährdet sahen, die wider Willen zum Waffendienst gegen ihren rechi-
mäßigen Herrn gezwungen werden sollten und preußischen Schutz nach-
suchten, lediglich aus Rücksicht der Menschlichkeit dieser gewährt worden.
Derartige Flüchtlinge gemeinen Standes sind mit den notwendigen Geld-
mitteln zu ihrer Subsistenz versehen worden, bis ihnen beim Festungs- und
Chausseebau Gelegenheit gegeben werden konnte, ihren Unterhalt selbst
zu verdienen. Der bei weitem größte Teil ist jetzt bereits in seine Heimat
zurückgekehrt.
ad 10: Im April sind im Großherzogtum keine Magazine zur Verpflegung
der russischen Armee angelegt worden. Was in dieser Beziehung von der
preußischen Regierung getan und zugelassen ist, scheint durchaus im Ein-
klang mit den Verhältnissen zu siehen, worin Preußen zu Rußland und einem
im Aufstand begriffenen Teil der Untertanen desselben sich befindet»).
ad 12: Es ist wahr, daß unsere Regierung bei der großen Unsicherheit
der in Polen öffentlich bekannt gemachten Nachrichten über die politisch-
militärische Lage sich sicherer Leute bedient hat, um die notwendigen zu-
verlässigen Nachrichten zu erlangen. Wird irgendeine Regierung in ähn-
licher Lage dies nicht tun? Hat etwa Polen sich in letzter Zeit dieses Mittels
in bezug auf Rußland und Preußen nicht bedient? Es ist gar nicht schwierig,
nachzuweisen, wie viele Briefe und Nachrichten durch besondere Boten über
die kleinste Bewegung unserer Truppen, über das unbedeutendste Ereignis
nach Polen gegangen sind. Daß der im April-Mai bei dem Ausbruch der
Cholera gezogene Grenzkordon den erlaubten und unerlaubien Verkehr
noch mehr hemmte und Polen sehr unbequem war, ist cinleuchiend, aber
nach staats- und völkerrechtlichen Grundsätzen nicht abzuleiten, daß des-
halb von der Ergreifung dieser Maßregel abgestanden werden sollte, wenn
die Möglichkeit vorhanden war, dadurch die verderbliche Seuche von der
Grenze fernzuhalten, um so weniger als trob allem, was darüber gesprochen
wurde, polnischerseits gar nichts geschah, um die Epidemie zu bannen
und ihre Verbreitung zu verhindern, sondern alles dagegen. Die Unter-
stellung, Preußen habe in der Überzeugung, die Cholera lasse sich nicht
abwehren, lediglich aus politischen Gründen den Grenzkordon gezogen, ist
so entblößt von jedem nur scheinbaren Grunde, daß man sie als ganz absurd
durchaus von der Hand weisen muß
3) Dieser nur durch die Staatsraison gerechifertigte Punkt wird offen-
bar als etwas bedenklich empfunden und auffallend kurz abgetan.
887
ad 13: Ehe der Grenzkordon zur Ausführung kam, wurden den Orenz-
bewohnern dessen Anordnungen und Bestimmungen bekannt gemacht und
ihnen 48 Stunden Frist gewährt, um ihre dies- und jenseitigen Geschäfte zu
regulieren. Ungeachtet aller n wurde von jenseitigen Einsassen
die Grenzsperre nicht gehalten, worüber vielfache Beweise vorliegen. Es
wurde unumgänglich nötig, durch ein Strafgesetꝭ dieserhalb etwas Näheres
zu bestimmen, was am 15. Juni erfolgte. Dieses Gesetz wurde durch das
preußische Konsulat in Polen zur öffentlichen Kenntnis gebracht. Die Grenz-
truppen wurden mit genauer Anweisung versehen, wann und wie sie von
ihrer Waffe bei unbefugter Grenzüberschreitung Gebrauch machen sollten.
Nach den Akten liegen keine Beweise vor, daß ein unrechtmäßiger Waffen-
gebrauch eingetreten ist und dadurch jenseitige Untertanen verletzt sind,
wenngleich dies behauptet wird. Den Einzelfällen, wo dies geschehen sein
soll, nachzuspüren, dürfte jest erfolglos sein. Es leuchtet wohl ein, daß die
von den polnischen Behörden deshalb aufgenommenen procés verbaux nicht
als gültige Beweise angesehen werden können. Dagegen zählen unsere
Akten mehrere Vorkommnisse auf, wo polnische Einsassen Opfer einer
Nichtbeachtung der ihnen bekannten gesetzlichen Bestimmungen wurden, so
im Kreis Adelnau und Schildberg, wo Schreckschüsse nicht gefruchtet hatten.
Aus derartigen Einzelfällen feindliches Betragen und Nationalhaß sowie Ver-
letzung des Wiener Traktats herleiten zu wollen, ist bei unbefangener Be-
trachtung nicht wohl möglich. Bei der ungünstigen Beschaffenheit der Landes-
grenze gegen Polen war es unausbleiblich, daß dies- und jenseitige Unter-
tanen durch den Militärkordon in ihrer Eigentumsbenubung gestört wurden.
Ausnahmen von dem durchgreifenden System der Grenzsperre konnten in-
dessen nicht zugelassen werden, und die Rücksicht auf einzelne mußte not-
wendig der auf das Ganze weichen. Nie ist den jenseifigen Einwohnern
verboten worden, sich der Grenze auf 100 Schritt zu nähern, wohl aber die
Einrichtung getroffen, wo es die Ortlichkeit irgend gestattete, den polnischen
Besitzern die Benutzung ihrer diesseits gelegenen Wiesen und Hutungen zu
ermöglichen. Namentlich ist den Bewohnern von Bolestawice auf diese
Weise geholfen worden. Allen übrigen Bewohnern wurde die Ausnußung
ihrer Besibungen unter Quarantaincerleichterung frei gestellt.
Daß gleich nach Revolutionsausbruch auf preußisches Gebiet ge-
flüchtete russische Truppen wie die einer befreundeten Macht behandelt
worden sind, ist in dem Verhältnis Preußens zu Rußland sehr wohi be-
gründet. Quarantaine haben sie wie andere über die Grenze kommende
Personen jeder Zeit durchgemacht. Die sonst hinsichtlich dieser russischen
Truppen in der Beschwerde aufgeführten Tatsachen sind jedenfalls nicht in
der Provinz Posen vorgekommen. Dasselbe gilt von der Anlegung rus-
sischer Militärmagazine auf preußischem Boden und den nach Thorn ge-
brachten preußischen Soldaten, die in der Schlacht bei Ostrolenka mit-
gefochten haben sollen. Unter den zum angeblichen Studium der Cholera
nach Warschau reisenden französischen Ärzten befanden sich nachgewie-
senermaßen mehrere französische Offiziere, die am Aufstand teilnchmen
wollten, so daß eine Prüfung ihrer persönlichen Verhältnisse vollauf gerecht-
fertigt war. Wahr war es endlich, daß während der Revolution das Brief-
geheimnis nicht geachtet wurde, aber die für Ruhe und Ordnung des Landes
verantwortlichen Behörden wurden durch die herrschenden Zustände ge-
zwungen, vom Briefwechsel verdachtiger Personen Kenntnis zu nehmen.
Indessen darf versichert werden, daß dabei mit aller Schonung und Vor-
sicht verfahren worden ist. Die polnischen Behörden konnten bei einiger
Gewissenhaftigkeit die Behauptung nicht wagen, daß sie ein anderes Ver-
fahren beobachtet hatten. Sonst konnten ihnen bei Vernehmung der damals
in Warschau tätigen Postbeamten unfehlbar Beweise des Gegenteils vor-
gelegt werden.
Alles in allem ist aus den geschilderten Vorgängen deutlich zu er-
kennen, daß Preußen aus staatlicher Notwendigkeit zwar weit mehr als das
anfangs in seiner Haltung sehr reservierte Osterreich der Revolution gegen-
über eine unbedingt ablehnende Stellung einnahm, andererseits aber die
588
Gebote der Humanität nie außer acht ta a und daß die von seiten des
Polentums auch bei dieser Gelegenheit betriebene, in weiten Kreisen des
deutschen Volkes begeistert aufgenommene Greuelpropaganda gegen den
vermeintlichen Henker Rußlands®) jeder Orundla e entbehrt. Der Staat hat
vielmehr das Licht der geschichtlichen Kritik a in der Frage seiner Stel-
lung zur Warschauer Novemberrevolution in keiner Weise zu scheuen.
Auffallend ist aber weiter der Unterschied zur Haltung Bismarcks i. J.
1863, der damals unbekümmert um den Widerspruch des von Polenbegeiste-
rung sprühenden deutsthen Liberalismus und des Landtags seine Politik
folgerichtig und mit offenen Karten durchführte, und vermöge der Alvens-
lebenschen Konvention nicht bloß die Westmächte ausschaliete, sondern die
polnische Frage als außenpolitisches Instrument zur Bindung Rußlands an
der Seite Preußens auszunutzen verstand. Hiergegen sticht die ängstliche
und auf Halbheiten gegründete Taktik a Staatsmänner Friedrich Wil-
helms Ill. allerdings wenig vorteilhaft
«) Am bekanntesten ist unter n literarischen Ergüssen vielleicht
Platens: „Diesen Kuß den Moskowitern ..
589
DER FUNDAMENTALE ANTEIL DES UKRAINISCHEN
AN DER SLAVISTIK
Von
Stefan Smal Stockyi.
(Vortrag, gehalten am 24. Mai an der Berliner Universität auf Einladung
des Ukrainischen Wissenschaftlichen Instituts.)
Die Slavistik wurde bekanntlich mit dem Studium des Kirchenslavischen
begründet. Das Kirchenslavische wird noch immer, und mit vollem Recht,
als Ausgangs- und Brennpunkt der slavischen Philologie angesehen, ob-
wohl sich in der neueren Zeit ihr Interesse immer mehr ihrer eigentlichen
Aufgabe, der vergleichenden Forschung der slavischen Sprachen und der
Erforschung des Urslavischen, zuwendet. Jedenfalls bildet das Kirchen-
slavische auch für diesen Zweck einen sehr festen Stüßpunki. Und so ist
es begreiflich, daß der erste Kongreß slavischer Philologen, der für den
Herbst d.]. nach Prag einberufen wurde, dem Andenken Dobrovskys ge-
weiht ist, der mit seinen „institutiones linguae slavicae dialecti veteris“
1822, also vor hundert Jahren, den Grund für die moderne slavische Philo-
logie gelegt hat. . ; .
Die in ganz ausgezeichneter Weise vom Prof. Weingart durchgeführte
Analyse dieses Werkes ergibt aber die Tatsache, daß die Slavistik vollauf
Grund hätte, zugleich des dreihundertjährigen Jubiläums des Erscheinens
der ersten vollständigen Grammatik der kirchenslavischen Sprache von
Meletij Smotryckyj i. J. 1618 wenigstens pietatvoll zu erwähnen, da
es feststeht, daß Dobrovsky nicht allein an diese Grammatik anknüpft, son-
dern auch das von Smotryckyj geschaffene System vielfach befolgt und
überhaupt Smotryckyj als seinen Lehrer im Kirchenslavischen ansieht, dessen
Grammatik so recht eigentlich den Grund zu seinen institutiones gelegt
hatte. Wir wollen dadurch keineswegs den sonstigen großen Unterschied
beider Grammatiken verkennen, nur betonen möchten wir im vorhinein, daß
die Grammatik Smotryckyjs, die der von Dobrovsky um zwei Jahrhunderte
vorangegangen war, in der damaligen Zeit ganz gewiß eine große Leistung,
eine epochale Erscheinung gewesen ist. Es ist daher Pflicht der Slavishk,
zumindest Pflicht der ukrainischen Slavistik, des Mannes, seines Werkes
und jener Zeit zu gedenken, in der die Ukrainer und ihr Geist schöpferisch,
vorbildlich und für mindestens zwei Jahrhunderte führend aufleuchtete und
befruchtend wirkte, bis dann zu Beginn des 19. Jahrh. die Führung an die
großen Geister der Cechen überging.
Die große geistige Bewegung im Westen Europas hatte nämlich im
16. Jahrh. das Erwachen der ukrainischen Nation zu neuem geistigen Leben
zur Folge, das sich in der Ubersebungstatigkeit der Bibel, in reger Orga-
nisation des Schulwesens, in literarischer und wissenschaftlicher Tätigkeit
manifestierte. Im Banne des westeuropaischen geistigen Lebens stehend,
weist diese Tätigkeit dennoch große Selbständigkeit auf. Sie ist keines-
wegs einfache Nachahmung und Übertragung fremder Muster auf eigenen
Boden. Es galt vielmehr die Errungenschaften des Westens der eigenen
nationalen Kultur, eigenen geistigen Bedürfnissen entsprechend, anzupassen
und dies alles harmonisch auszubauen. In dieser eigenartigen Anpassung
590
und Harmonisierung äußert sich die Oröße des Geistes der ukrainischen
ation.
So war die jesuitische Schule das naheliegendste Muster für die Ein-
richtung der ukrainischen Schulen. Es wurde aber von Ukrainern nur der
äußere Rahmen dieser Schule übernommen und mit eigenartigem Inhalt
ausgefüllt. Gegenüber dem vollständigen Übergewicht der lateinischen
Sprache in der Jesuitenschule wurde in der ukrainischen auf die Pflege der
griechischen Sprache und canz besonders des Kirchenslavischen das Haupt-
gewicht gelegt. Demgemäß mute man für die entsprechenden Lehrbücher
Vorsorge trefien. So entstand die erste griechische Grammatik in einer
slavischen (ukrainischen) Sprache, nämlich Adelphotes im Jahre 1591 in Lem-
berg, so zunächst die kleine kirchenslavische Grammatik von Lavrentius
Zizanij 1596 und dann 1618 die große Grammatik des Kirchenslavischen von
Meletij Smotryckyj, so die große vollständige kirchenslavische Bibel von
Ostroh 1580/81, so zunächst das kleine kirchenslavisch-ukrainische Worter-
buch von bereits genanntem Zizanij, dem dann 1627 das größere Wörter-
buch von Pamva Berynda folgte, so schließlich in Kiev, gewissermaßen als
Krönung der damaligen kulturellen Bestrebungen der Ukrainer, zwar in An-
lehnung an westeuropäische Hochschulen, aber nichtsdestoweniger eine
eigenartige erste slavische, speziell ukrainische Hochschule, die
vom Metropoliten Peter Mohyla 1632 gegründete Akademie, eine Lehr-
anstalt, die fast zweihundert Jahre die einzige Lichtspenderin für alle Slaven
orientalischen Glaubens war, von ihnen fleißig aufgesucht wurde und ins-
besondere nach Moskau die höhere Bildung vermittelt hatte.
Indem wir aber von der großen Bedeutung und zivilisatorischen Wirk-
samkeit der Kiever Akademie jetzt absehen, wollen wir unsere Aufmerk-
samkeit der Grammatik des Kirchenslavischen von Smotryckyj zuwenden.
Ihre Bedeutung ist zunächst daraus ersichtlich, daß sie viele Auflagen er-
lebte, so gleich, wie dies Weingart mit großer Oründlichkeit auseinander-
sekt, im nächsten Jahre (1619) in Jevie bei Wilna, ferner im Auszug 1621 in
Wilna, eine neue Auflage 1638 in Kremeneb, 1648 in Moskau, in welcher
Auflage ihre Sprache bereits russifiziert erscheint; noch mehr wurde sie
russifiziert in der Ausgabe von Polikarpov, Moskau 1721; desgleichen ist
die von Theodor Maximov bearbeitete, in Petersburg 1725 erschienene Aus-
gabe stark russifiziert. Noch im Jahre 1794 erschien sie in Kiev in Bearbei-
tung Apollos’. Aus Smotryckvi schöpfte Lomonosov, der Verfasser der
ersten russischen Grammatik (Petersburg 1755), der Smotryckyj dort „das
Tor der Gelehrsamkeit“ (vrata učenosti) nennt, dann noch die Petersburger
Akademie der Wissenschaften 1802, ja sogar noch Rozanov (Moskau 1810),
Vinogradov (Petersburg 1813) und Peninskij (Petersburg 1825).
Die Grammatik Smotryckyis hatte aber auch großen Einfluß bei den
Südslaven. Denn abgesehen davon, daß viele Serben in der Kiever Aka-
demie studierten, wurde sie nachweislich in vielen Exemplaren nach Serbien
gebracht und danach 1755 in Rimnik abgedruckt. Sie liegt auch der 1794
und 1811 erschienenen Grammatik von Abraham Mrazovié zugrunde. Sie
drang auch zu den Dalmatiner Kroaten durch Vermittlung des ukrainischen
Bischofs Terleckyj aus Cholm durch, wo Levakovié und Karaman bei der
Ausgabe von glagolitischen Kirchenbüchern (1648, 1741) nach ihr die kirchen-
slavischen Texte ausbesserten und Sovič sie gar ins Lateinische ubersebte,
welche Übersetzung im Manuskript beim Unterricht des Kirchenslavischen in
den geistlichen Seminaren dort verwendet wurde.
Ja sogar in nichtslavischen Ländern übte diese Grammatik ihren Einfluß
aus. So findet sich in der Bibliothek von Upsala ein Exemplar dieser Gram-
matik mit lateinischer Marginalübersetzung von Sparvenfeld, dem bekannten
schwedischen Polyglotten (1655—1727) und Verfasser des großen kirchen-
slavisch-lateinischen Wörterbuchs (Moskau 1686). — In Oxford erschien 1696
Grammatica russica von Henr. Wilh. Ludolf, die nur die Formenlehre, und
zwar nach Smotryckyj, enthält. Auch die 1706 erschienene Grammatik von
Kopievié (einem Freund Peters des Großen) enthielt eigentlich nichts an-
deres, als die Formenichre der Grammatik Smotryckyjs.
591
überdies gibt es auch noch handschriftliche kirchenslavische Gramma-
tiken, wie z. B. die von Arsenij Kocak aus der 2. Hälfte des 18. Jahrh,
die unverwüstliche Spuren der Smotryckyjschen Grammatik aufweisen,
worüber Pankevyé in wissenschaftlichen Mitteilungen des Vereins Prosvita,
Užhorod, 1927, berichtet.
_ So war diese Grammatik volle zwei Jahrhunderte bis Dobrovsky die
einzige Quelle der Kenntnisse des Kirchenslavischen, ohne daß sie durch
eine 5 ersetzt werden konnte. Dem Unterrichte des Kirchenslavischen,
den ich als Zögling des Stauropigianischen Institutes in Lemberg anfangs
der 70er Jahre vorigen Jahrhunderts genoß, lag auch noch die Grammatik
von Mrazovié, also eigentlich Smotryckvi. zugrunde.
Es ist klar, daß das Kirchenslavisch, das Smotryckyj lehrte, das ihm
geläufige Kirchenslavisch war, wie es in den in der Ukraine verwendeten
Kirchenbüchern, sonstiger kirchlichen Literatur und insbesondere in der
Ostroger Bibel vorlag. Es geht ferner aus der Grammatik auch vollkommen
klar hervor, daß die in der Ukraine übliche Aussprache des Kirchenslavischen
in ihr ihren Ausdruck fand, was auch anders nicht denkbar ist. Wer aber
mit Rücksicht darauf, daß im 19. jahrh. in den Kirchen der Ukraine die
russische Aussprache des Kirchenslavischen galt, noch Beweise hierfür ver-
angi e, dem werden diese Tatsache die aus damaliger Zeit erhaltenen latei-
en Transkriptionen des Kirchenslavischen bezeugen. Die russische
Aussprache wurde in der Ukraine erst mit dem Ukas des Caren Peter d. Gr.
v. J. 1721 verordnet, wurde aber nicht überall und nicht gleich befo olgt. Die
ukrainische Aussprache des Ksl. betrifft nicht nur die rag pats der Zeichen
für Nasalvokale als ja, ju, nicht allein den Lautwert der Zeichen für Halb-
vokale, sondern insbesondere den Lautwert von e, i, v. &, desgleichen von
g als h. Dazu kommen noch die dem Ukrainischen eigentümlichen verschie-
denen Erweichungen der Konsonanten, seine Assimilations- und Auslaut-
gese u. dergi. Leider ist diese Tatsache bei den Slavisten bis in unsere
age unbeachtet geblieben. Dobrovský, verleitet durch die in seinen Hän-
den befindliche Moskauer Ausgabe der Smotryckyjschen Grammatik v. J.
1648 und durch die Art, wie er auf seiner russischen Reisc gewiß das
Kirchenslavische im Munde der Russen gehört hatte, leistete dem Vorschub,
daß man auch jet noch das Ksil, auch das Altkirchenslavische, öfters in
russischer Art liest und von einer einheitlichen russischen Redaktion des
Ksl. spricht. Es ist höchste Zeit, daß dieser Irrtum entsprechend unseren
besseren Kenntnissen des Aksi, endlich ausgemerzt werde und daß die
Slavisten sich dessen bewußt werden, daß mit Rücksicht auf die Aus-
sprache, aber auch sonst, uns in der sogenannten russischen Redaktion des
Ksi. mindestens drei oder gar vier Redaktionen vorliegen: die ukrainische
(Kiever), die russische (Moskauer), die Pskover und wohl auch die weiß-
russische Redaktion. In der Zeit, wo wir in der Slavistik endlich von Buch-
staben, mit denen lange genug Wissenschaft getrieben wurde, zu Lauten
vorgedrungen sind, ware es überhaupt angezeigt, auch noch manche andere
damit zusammenhängende Ansichten in der Slavistik einer Überprüfung und
Korrektur zu unterziehen.
Hat die Slavistik bis jezt das Kirchenslavische als eine tote Sprache
behandelt und auf Grund alter handschriftlicher Denkmäler studiert, so wird
ihr durch die bei Smotryckyj festgestellte Forderung, daß es „in gewöhn-
lichen Schulgesprächen von Schülern (also mündlich) angewendet werde“,
und durch die Tatsache der Russifizierung seiner Grammatik in Moskau der
Weg gewiesen, auch noch nach dieser Richtung hin die Studien zu ergänzen.
Es dürfte gewiß nicht allein sehr interessant, sondern auch von großem
Nuben für die Wissenschaft sein, das Kirchenslavische, wie es jetzt noch im
Munde der Geistlichkeit, der Kirchensänger und des Volkes wirklich lebt,
auf dem ganzen großen Gebiete eingehend zu studieren. Eine richtige
phonetische Darstellung des noch „lebenden“ Kirchenslavisch aus verschie-
denen, weit entlegenen Gegenden, wo es in Verwendung steht, würde uns
nicht allein für die großen lautlichen, morphologischen und sonstigen Ver-
schiedenheiten Augen und Ohren besser öffnen, nicht allein der Phonetik
892
einzelner slavischen Sprachen von Nugen sein, indem sie an der Aussprache
des Ksi. gewissermaßen kontrolliert werden könnte, sondern auch in an-
derer Richtung neue Horizonte eröffnen. Ich verspreche mir davon eine
neue, auf Tatsachen aufgebaute Erkenntnis, die in jeder Richtung und Be-
ziehung Licht verbreiten würde über das wirkliche Leben einer im Grunde
einheitlichen und doch stark differenzierten Sprache. Auf Grund dieser
Erkenntnisse könnten wir uns auch die Verhältnisse in der urslavischen Zeit
besser und klarer vorstellen. Die Durchführung der Anregung, die, wie
erwähnt, aus der in unzweifelhafter Weise festgestellten Tatsache fließt,
daß der Grammatik des Kirchenslavischen von Smotryckyj die ukrainische
Aussprache desselben zugrunde liegt, einer Arbeit, die freilich wohl orga-
nisiert werden müßte, da sie von einem einzelnen nicht geleistet werden
kann, wäre — abgesehen vom großen wissenschaftlichen Wert — zugleich
auch eine Ehrung des Andenkens Smotryckyjs als des ersten wirk-
lichen Slavisten, der uns auch jet noch für unsere Forschung neue
Wege weist.
Als wirklicher Slavist erscheint er uns auch dadurch, dak er als erster
das Kirchenslavische öfters mit dem Ukrainischen vergleicht, ihre
Unterschiede aufdeckt. Hiermit kann er uns auch als erster Grammatiker -
des Ukrainischen gelten, ohne eine eigene Grammatik des Ukrainischen ver-
faßt zu haben. Das Ukrainische galt ihm nämlich als die bei den Ukrainern
allgemein bekannte, gebräuchliche Sprache, die keiner besonderen gram-
matikalischen Behandlung bedarf. Das Ksi. dagegen, die Sprache der
ukrainischen Kirche, war bereits den Ukrainern weniger verständlich. Daher
war es notwendig, zum genauen Verständnis dieser Sprache eine Gram-
matik zu verfassen, wie sie für Latein und Griechisch vorhanden waren.
Wir sehen darin eine neuerliche Bestätigung der erfahrungsgemäßen Tat-
sache, daß normalerweise die Grammatik einer Sprache entsteht, wenn das
richtige Verständnis derselben Schwierigkeiten bietet. Aus dem Bestreben,
zum vollen Verständnis der alten Phasen einer Sprache vorzudringen, ent-
wickelte sich ja überhaupt die Wissenschaft, die wir Grammatik nennen,
zunächst bei den Indern, um die altehrwürdige Sanskritsprache zu begreifen,
ebenso auch bei den Griechen usw. Erst in der neuesten Zeit wurde der
Begriff der Grammatik verallgemeinert und auf die Erforschung aller Phasen
jeder einzelnen Sprache, sowie der Sprache überhaupt erweitert. So ent-
stand die neue Sprachwissenschaft, eine Wissenschaft, die aber mit ihren
Wurzeln weit zurück bis um die Mitte des ersten vorchristlichen Jahrhunderts
reicht. So entstand speziell die Slavistik, die mit ihren Wurzeln denn doch
auf Smotryckyj zurückgeht und erst nach zwei Jahrhunderten, von Dobrovský
angefangen, weiteren namhaften Fortschritt macht, so daß sie nunmehr als
ein eigener bedeutender Zweig der Indogermanistik und der allgemeinen
Sprachwissenschaft gilt.
Es erübrigt noch eine Bemerkung über den Namen der Sprache, des
Volkes und des Landes zu machen, die wir hier stets, um jedem Mißver-
ständnis vorzubeugen, als ukrainisch, Ukrainer, Ukraine bezeichnen. Wir
müssen es um so mehr tun, da Smotryckyj diese Sprache ruskij jazyk, also,
so meint man, „russische“ Sprache nennt. Aber nichts ware falscher, als
sein „russisch“ mit russisch zu übersehen. Es muß „ukrainisch“ heißen.
Mit dem Namen ukrainisch belegen wir gegenwärtig die Sprache des
Volkes, das in geschlossener Masse den großen Raum von den Karpathen
bis zum Don und Kaukasus ausfüllt und überdies bald in größeren, bald in
kleineren Kolonien in Sibirien, Jugoslavien, Kanada, Vereinigten Staaten
von Amerika, in Brasilien, Argentinien usw. lebt. Das geschlossene ukrai-
nische ethnographische Gebiet gez mit einem solchen ethnographischen
Gebiet der Slovaken, Polen, igrussen, Russen, tatarischen und kau-
kasischen Völkerschaften, Rumänen und Magyaren. Das ukrainische eihno-
Fare Gebiet nennen wir Ukraine, obwohl seine einzelnen Teile zur
echoslovakei (Karpathorußland), zu Polen (Galizien, ein Teil von Wol-
hynien und Polesien), zu Rußland (insbesondere Kubanland) und zu Ru-
mänien (ein Teil von Bukowina und Beßarabien) gehören. Den Kern des
895
Territoriums bildet die Ukraine, die als eine eigene Republik dem Verband
der Sovetrepubliken angehört. Das Volk, das dieses ganze Gebiet be-
wohnt, nennen wir Ukrainer.
Ich leugne nicht, daß diese einheitliche Nomenklatur selbst bei den
Ukrainern erst neueren Datums ist. Doch ist sie, ganz besonders für die
Wissenschaft, unumgänglich notwendig, um, wie gesagt, allen Mißverständ-
nissen zu begegnen.
Früher, ja sogar noch jetzt, wenn auch nur in den entlegensten Rand-
winkeln, nannten sich die Ukrainer Russyny, Russnaky, also etwa Ruthenen.
und ihre Sprache ruskyj, d.h. ruthenisch, ihr Land Ruś (Ruthenien). Es
wurde ja das Wort Rutheni damals in lateinischen Urkunden u. dgl. zur
Bezeichnung dieses Volkes verwendet. Eine Zeitlang benannte man sie
mit einem Kunsinamen ukrainsko-ruskyj, sagen wir vergleichsweise ukrai-
nisch-ruthenisch. Bei Sevcenko findet sich für die Ukraine der poetische
Ausdruck kozackyj kraj, d.h. Kosackenland, und Ukrainer heißt dort einfach
Kosack. Andere nannten die Ukrainer Kleinrussen, Ruthenen, Petite Russe,
Ruthene, entsprechend dem russ. Malorossy, čech. Malorusové, poln. Rusini,
und ihre Sprache kleinrussisch, südrussisch, ruthenisch, petite russe, ruthene,
russ. malorusskij, juZnorusskij, Cech. malorusky, poln. ruski... Es muß aber
festgestellt werden, daß jetzt in allen Sprachen die den Ausdrücken Ukraine,
ukrainisch entsprechende Nomenklatur immer mehr Verbreitung findet.
Der Name Kleinrußland (Malaja Ruś) ist bei den Ukrainern bis zu einem
gewissen Grade historisch, aber von Anbeginn war er nur ein Kunstprod
nie volkstümlich gewesen, Das ukrainische Volk hatte sich nie Kleinrussen
genannt, noch hieß bei ihm seine Sprache kleinrussisch.
Die Gelehrsamkeit Kiever Gelehrter zeigt sich in dem von ihnen er-
fundenen, dem Griechischen nachgebildeten Namen Rossia, rossijskij, einem
Namen, der später mit der ukrainischen Gelehrsamkeit nach Moskau ging
und dort mit der Zeit zur Bezeichnung Rußlands ward. Dieser gräzisierte
Ausdruck hätte den alten Namen Rus im hochtrabenden Stil vertreten
98 Dune aber dann, wie erwähnt, zum alleinigen Namen für den Staat
an
Je mehr man in ältere Zeiten vordringt, desto allgemeiner waren aul
dem ukrainischen Gebiet die Namen Ruś, Russyn, Russyé, ruskyj in
Ten Andere Namen für Staat, Volk und Sprache kamen überhaupt
nicht vor.
So gelangen wir in Verfolg historischer Zeugnisse bis zum 10. und 9.
Jahrhundert, in welcher Zeit zum ersten Male der Name Ruś als Name des
um Kiev herum von einem skandinavischen (schwedischen) Volke, das sich
eben Russen nannte, organisierten neuen Staatsgebildes auftaucht, — und
das Eigenschaftswort ruskyj zur Bezeichnung der Zugehörigkeit zu
diesem Staate diente. Wir gelangen also schließlich bis zum Zeit-
punkt, da das Wort Ruś (ein Kollektivum) einen skandinavischen (schwe-
dischen) Volksstamm bezeichnete und das hierzu gehörige Eigenschaftswort
eine ethnologische Bedeutung hatte, d.h. die Sprache, die Sitten u. dgl.
dieses Volksstammes als die ihm eigenen charakterisierte (so beim Con-
stantinus Porphyrogenetos).
Uber diese Periode hinaus kennt die sog. Nestorschronik nur noch sla-
vische Stämme, die auf diesem Gebiet lebten und mit der Gründung des
Kiever Staates Ruś in diesem Staate aufgegangen sind. Es waren dies
zunächst Polanen, ferner Derevianen, Wolhynier (Duliben), Severjanen,
Uhligen, Tiverzen. Sie bildeten vor allem den Staat Ruś, der infolge des
Ubergewichtes des slavischen Elements und demgemäß auch der Slavi-
sierung der skandinavischen Begründer dieses Staates, wenn nicht schon
früher, so doch gewiß schon im 11. Jahrhundert ganz slavisch, und zwar mit
Rücksicht auf die Eigentiimlichkeifen der Sprache der in ihm aufgegangenen
slavischen Stämme — ukrainisch wurde. Mit der weiteren Verbreitung der
staatlichen Macht dieses Kiever Staates auch auf die slavischen Stämme
der Drehovicer, Krivi€er, Radimicer und Vjatiter, d.h. auf weiß- und groß-
russische sowie auch auf die finnischen Stämme ging auch der Staatsname
594
Ruś und das Eigenschaftswort ruskyj zur Bezeichnung ihrer Staatsangehörig-
keit auf sie über. Es ist sehr charakteristisch, daß bei den Russen auch
jet noch das ursprünglich zur Bezeichnung der Staatszugehorigkeit die-
nende Eigenschaftswort ruskyj als Hauptwort in der Bedeutung „russischer
Staatsbürger“ und zugleich auch in der Bedeutung „Russe“ verwendet
wird. Das Fehlen des entsprechenden Hauptworts deutet darauf hin, daß
sie sich ehemals wohl nur als staatszugehörig, keineswegs aber als „Russen“
fühlten, was nur den ukrainischen, um den eigentlichen Kiever Staat ver-
einigten Stämmen zukam. Darüber Näheres bei Hruševskyj.
Auch die kirchliche Organisation nach der Christianisierung dieses
Staates mit dem Metropoliten in Kiev an der Spitze stützte diese staatliche
Nomenklatur insbesondere in der Zeit, als der ursprüngliche einheitliche
Staat in Teilfürstentümer zerfiel, die nur die Oberhoheit des OGroßfürsten
von Kiev anerkannten.
So vergingen Jahrhunderte, Zeit genug, dab diese Ausdrücke sich
überall im ganzen ehemaligen Reich einbürgerten. Da ist aber Mitte des
13. Jahrh. der Kiever Staat Ru$ infolge des Ansturmes der Tataren zer-
fallen. Die bereits ziemlich lockeren Bande zwischen den einzelnen Teil-
fürstentümern haben sich ganz gelöst. Selbst die einheitliche kirchliche
Organisation wurde bald nachher zerrissen. Man war sich zwar dessen
bewußt, daß alle Teile orthodoxen Glaubens waren, aber darüber hinaus
nichts mehr. Die weiteren Schicksale der einzelnen Teile gestalteten sich
so, daß das russische (d.h. großrussische) Gebiet lange Zeit in tatarischer
1 verblieb, inzwischen aber sich um Moskau Konsolidierte, das
weißrussische und ukrainische Gebiet aber anfangs des 14. Jahrh. an
Litauen a um dann mit Litauen eine Union mit Polen einzugehen. Um
diese Zeit kam auch der Rest des ukrainischen Gebietes (Galizien) an Polen.
Der Name Ruś, ruskyj blieb aber weiter bestehen. Es versteht sich von
selbst, daß unter geänderten Verhältnissen sich seine Bedeutung ändern
mußte. Vom staatlich-politischen Begriff wurde er zum ethnologischen oder
gar kirchlich-religiösen Begriff. Man nannie überall seine Sprache, seine
Sitte, seine Kirche, seinen Glauben „russisch“, wo doch evident ist, daß
dieses „russisch“ hier soviel wie ukrainisch, dort soviel wie weißrussisch
und überdies auch noch anderswo soviel wie tatsächlich russisch, nämlich
großrussisch bedeutete. Dieser Zustand dauerte, solange das geistige und
kulturelle Leben einzelner Teile in der Kirche aufging und solange das
Kirchenslavische, das jeder in seiner Art aussprach, zugleich auch als
Schrifisprache galt. Es änderte sich nichts daran auch dann, als die Er-
fordernisse der neuen Verhältnisse, des neuen staatlichen Lebens es mit
sich brachten, daß die Kirchensprache als Schriftsprache, neuen Bedürf-
nissen entsprechend, immer mehr volkstümliche Sprachelemente in sich auf-
nahm, um schließlich, wie im ukrainischen Teil, ganz der volkstümlichen
5 Sprache Platz zu machen. Der alle Name blieb noch immer
estehen
Erst als nach dem großen Aufstand des ukrainischen Volkes gegen
Polen unter Bohdan Chmelnyckyj sich ein bedeutender Teil des ukrainischen
Gebietes von Polen freimachte und eine Personalunion mit dem mosko-
witischen Caren 1654 einging, ergab sich als Ausfluß näherer Beziehungen
desselben zu Moskau die Notwendigkeit, zur Bezeichnung des ganzen
Landes. und Volkes den scit jeher bei der Bevölkerung wohl bekannten,
aber nur zur Bezeichnung der Grenzgebiete dienenden Namen Ukraine und
seine Ableitungen zu verwenden, weil die frühere einheitliche Nomenklatur
Ruś, ruskyj wegen der Verschiedenheit der ihr bei den Ukrainern und
Russen innewohnenden Bedeutung und des tatsächlich bewußten ethnischen
Unterschiedes zwischen Ukrainern und Russen bei den Ukrainern nicht mehr
erhalten werden konnte. Es stieß hier nämlich der verschiedene Be-
deutungsinhalt derselben Wörter bei beiden Nationen scharf aneinander,
und so gaben die Ukrainer, ihrer ethnischen Verschiedenheit von den Russen
voll bewußt, den alten, ursprünglich ihnen zukommenden Namen um so
leichter auf, als ihnen bereits ein neuer zur Verfügung stand.
895
Als nachher bei den weiteren Teilungen Polens auch noch der Rest des
ukrainischen Gebietes an nunmehr Rossija (Rußland) heißendes Moskovien
fiel, da bürgerte sich der Name Ukraine mit seinen Ableitungen auch in
diesem Teil an Stelle des allen Ruś, ruskyj, Russyn ein.
Nur in Galizien, das bei der Teilung Polens an Österreich fiel, und bei
den damals in Ungarn wohnenden Volksgenossen erhielt er sich bis in die
neuere Zeit, wo er schließlich infolge des wachsenden Stammes- und Ein-
heitsbewuftseins mit den Ukrainern ebenfalls aufgegeben wurde.
So heißt also ruskyj nunmehr nur soviel wie Russe, russisch, und die
anderen Sprachen, die ursprünglich ebenso hießen, heißen nun ukrainisch
und weißrussisch. Seitdem aber der Name Russe, russisch nur bei den
Großrussen als ihnen allein zukommend verblieb, gab es nicht allein in der
Politik, sondern selbst in der Wissenschaft Tendenzen, das Weißrussische
und das „Kleinrussische”, an welcher Benennung des Ukrainischen in russi-
schen Kreisen krampfhaft festgehalten wurde, als Dialekte eben dieses
Russischen zu erklären. Der ausgezeichnete Sprachforscher Baudouin de
Courtenay macht sich über solche Tendenzen (z. B. beim Budilovic) in
seinem am 20. Mai 1922 an der Prager Cechischen Universität gehaltenen
Vortrag sehr lustig. Es ist aber schr traurig und für die Wissenschaft ver-
hängnisvoll, wenn die Politik in die Wissenschaft hineinpfuscht. Um so mehr
verfochten die Ukrainer ihr Recht auf eigene Namengebung und ihren An-
spruch, von allen mit ihrem eigenen Namen benannt zu werden.
Ich erachtete es für meine Pflicht, die Entwicklung der nationalen Be-
nennung der Ukrainer eingehender zu beleuchten, weil gerade anläßlich der
vom Prof. Weingart vorgenommenen Analyse der Grammatik Smotryckyis
die durch Benennung seiner Sprache als „russisch“ veranlaßte Konfusion
erst recht ans Tageslicht gekommen ist. Ist diese Entwicklung an und für
sich sehr kompliziert und selbst für die Ukrainer nicht leicht zu verfolgen,
so trifft dies für alle, die weniger in die Sache eingeweiht oder gar von
vorgefaßten Doktrinen von der Einheit und Einheitlichkeit alles dessen, was
„russisch“ hieß, beeinflußt sind, in noch höherem Grade zu. „Kleinrussisch“
ist ja doch russisch, dachte und sagte man. Und dies war auch mit der
Grund, daß das Ukrainische in das lebte Jahrhundert, in die Periode des
eigentlichen Aufschwungs der Slavistik als eine unbekannte, als nicht
existierende slavische Sprache eintrat. Dobrovský, der in seiner Einteilung
der slavischen Sprachen das Kroatische vom Serbischen, das Slovakische
vom Cechischen (bohemica) scheidet und zwei sorbische (wendische) Spra-
chen unterscheidet, kennt nur eine russische (russica) Sprache, und dies
hat für die weitere Forschung der Slavistik den Ausschlag poo Welch
tragisches Schicksal. Die Sprache, in der die erste slavistische Arbeit bereits
vor dreihundert Jahren erschienen ist, die damals als cigene Sprache
existierte, existiert nun für die Slavistik nicht mehr. Trob Kopitar, Safaftk
und hauptsächlich Miklosich, der in seiner monumentalen Vergleichenden
Grammatik der slavischen Sprachen das Ukrainische ausdrücklich als eine
eigene slavische Sprache von der russischen abgesondert behandelt, huldigt
man sonst bis in die neueste Zeit in der Slavistik der Ansicht, daß es ein
Dialekt des Russischen ist. Man will wohl darunter das Urrussische, das
Gemeinrussische verstehen, das aus dem Urslavischen wie sonst jede
andere slavische Sprache sich differenziert hatte und dann hauptsächlich
in drei aace Großrussisch, Kleinrussisch und Weißrussisch sich spallete.
Aber nicht immer nimmt man es so genau. Dann erscheint das Ukrainische
ganz einfach als Dialekt des Russischen, d. h. als Dialekt der Sprache, die
eben ganz allgemein in der ganzen Welt jetzt als russisch gilt. Unter solchen
Umständen ist es nicht verwunderlich, daß man insbesondere in Rußland
es Miklosich geradezu als ein Verbrechen angerechnet hat, das einheitliche
Russentum gespalten zu haben, was auch hier und da in der Presse sogar
als österreichische Intrigue ausgegeben wurde. Wie weit das gehen kann,
beweist ein Beispiel aus der allerletzten Zeit. In der Ukraine hat man jebt
Puškin ins Ukrainische übersetzt. Darüber berichtet nun das bedeutendste
€echische Tagblatt Národní Listy in Prag vom 25. April 1929, Nr. 114, mit der
896
höhnischen Bemerkung, daß es „endlich ... der größte und echieste russische
Dichter so weit gebracht hat, daß — um von den Ukrainern gelesen werden
zu können, er erst ins „Ukrainische“ übersebt werden mußte, in jene
künstliche, auf kaltem Wege mit Hilfe der Berliner
Gelehrten (und auch mit Berliner Subventionen) her-
gestellte Sprache, die der biedere kleinrussische Bauer nicht im
geringsten versteht (aber gewiß ausgezeichnet Puškin verstehen wird, frei-
ich, wenn er gebildet ist)*!
Die Slavistik war also nicht imstande, solche Irrtümer und plumpe
Tendenzschrullen selbst bei den Slaven auszumerzen. War sie ja doch
selbst in ihren größten Vertretern nicht recht im klaren, was sie mii der
ukrainischen cag die stets immer mehr an ihre Tore anklopfte, an-
fangen soll. Denn tr a ae Leugnung und: direkter staatlicher Verbote in
Rußland war sie da. Eine Zeitlang schwankte man. Miklosichs Autorität
war doch nicht leicht wegzudisputieren. Andererseits stellte Schleicher
seine Stammbaumtheorie auf, die bei den Anhängern der von Miklosich
verworfenen Gruppentheorie großen Gefallen fand. Immerhin behandelten
Maxymovyé, Sreznevskij, Potebnia, Ogonovskyj und Zyteckyj das Ukra-
inische als Sprache. Aber schlie ich erscheint bei Sobolevskij (1888) die
Einheitlichkeit der „russischen“ (groß-, klein- und weifrussischen)
Nation und Sprache als ein anthropologisch und linguistisch fest-
stehendes Axiom. Später (1907) wagt er zwar nicht mehr, die Anthro-
pologie fur seine These anzurufen, aber an der sprachlichen Einheit halt
er fest. faci ließ das Ukrainische nur in Österreich, wo es öffentliche
Rechte hatte, als Sprache gelten, in Rußland dagegen war dieselbe Sprache
ihm trob der namhaften Literatur nur ein Dialekt, weil es eben dort keine
öffentlichen Rechte hatte, vielmehr — selbst die schöne Literatur — direkt
verboten wurde. Übrigens auch Jagić behauptete (1898) folgendes: „Daß
alle russischen Dialekte gegenüber den übrigen slavischen Dialekien...., ein
Ganzes bilden... das bildet unter Sprachforschern keine Streitfrage” —
dies in einer Arbeit, die „Einige Streitfragen“ betitelt ist. Kulbakin (1913)
laßt selbst Kaschubisch und Slovakisch eigenen urslavischen Mundarten
entsprießen; das Ukrainische kennt er aber nur als eine der drei Haupt-
mundarten des „Russischen“. Dasselbe selbstverständlich auch Vondräk.
Ein solches Axiom hat sich also die Slavistik zu eigen gemacht. Dem-
gemäß wurde das Ukrainische in der Slavistik nur noch als Dialekt berück-
sichtigt und abgetan. Und da ich in meiner Grammatik der ukrainischen
Sprache (1913) dagegen anzukämpfen wagte und forderte, daß die Gruppen-
theorie überprüft und die Ansichten über die Stellung des Ukrainischen
innerhalb der slavischen Sprachen korrigiert werden mögen, wurde ich zum
Keber gestempelt. Das Dogma wurde für unfehlbar erklärt. Es wurden
mir sogar von Sachmatov, der, offenbar durch meine Grammatik veranlaßt,
nunmehr als der größte Streiter für die russische Einheit erschien (1914,
1915, 1916), in feiner Weise unlautere Motive zugemutet. Nun ist aber seit-
her diese Einheit, nämlich die politische, um die es sich — sagen wir es
aufrichtig — offenbar handelte, tatsächlich in Brüche gegangen, die ukra-
inische Sprache ist Staatssprache geworden, es erstand die Ukrainische
Akademie der Wissenschaften. Da dürfte es wohl für die Slavistik viel
leichter sein, auch die Frage der genetischen verwandtschaftlichen Be-
ziehungen des Ukrainischen zu allen slavischen Sprachen, speziell zum
Russischen, einer Überprüfung zu unterziehen und die irrtümlichen Ansichten
zu korrigieren, um so mehr, als ich seither noch einige Beiträge zur Klärung
dieser Frage beigesteuert habe. Ich freue mich auch feststellen zu können,
daß in slavistischen Arbeiten der lebten Zeit eine gewisse Ernüchterung
merklich ist. Wichtig ist aber der Umstand, daß die slavistischen Arbeiter
in der Ukraine, die zumeist als mittelbare und unmittelbare Schüler Sach-
matovs im Banne seiner Lehre standen, nunmehr sich kritisch ihr gegen-
überstellen und sich bereits von vielen Irrtiimern lossagten. Wir wollen
hoffen, daß durch intensivere Arbeit der Ukrainer selbst die Frage der
Stellung des Ukrainischen innerhalb der slavischen Sprachen bald zur
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vollen Klarheit gebracht werden wird. Wir wollen hoffen, daß die schöpfe-
rische Kraft der ukrainischen Nation, zu neuem Leben geweckt, den ukra-
inischen Geist, wie im 16. und 17. Jahrhundert, in seiner eigentlichsten
Wesenstiefe wieder einmal enihüllen wird. Es wird dies um so leichter
geschehen, da gewisse, früher bestandenen Hemmungen für alle entfallen
sind. Es wird dies auch für die Slavistik von ganz besonderem Nuben sem
Denn die ukrainische Sprache ist doch die Sprache des zweilgrö
slavischen Volkes, die von rund vierzig Millionen, und zwar in der
des slavischen Spra 1 pai ty und in der mutmaßlichen Urheimat der
Slaven gesprochen wird. Sie ist deshalb für die geschichtliche und ver-
gleichende Erforschung der slavischen Sprachen ganz besonders wichtig.
Sie blickt auf jahrhundertelange, ganz eigenartige Entwicklung als Schrift-
sprache zurück. Ihr gründliches Studium wird für die Slavistik gewiß
segenbringend sein. :
Nach dem Gesagten brauche ich kaum zu betonen, daß es sich bei
meinem Kampf um die Anerkennung des Ukrainischen als selbständige
slavische Sprache keineswegs um eine gewöhnliche BIS ier rik Nigga
noch etwa um die Rangerhebung eines Dialekts zur Sprache hand
Sache geht viel tiefer. Es handelt sich um die richtige oder vielmehr rich-
tigere theoretische Erkenntnis der Sprachentwicklung, der Sprachgeschichte,
des eigentlichen Wesens der Sprache überhaupt, um die Sprachphilosophie.
Es handelt sich darum, daß die Slavistik sich die neuesten Erkenntnisse und
Errungenschaften der 5 zunutze macht und sie bei sich
zur Geltung bringt. Es handelt sich hier speziell um die richtigere Vor-
stellung vom Leben des Urslavischen und dessen Entwicklung in einzelne
slavische Sprachen. Hierin liegt also — abgesehen von der ersten slavisti-
schen Arbeit Smotryckyjs — die fundamentale Bedeutung des Ukrainischen
für die Slavistik, weil der theoretische Streit sich eben um das Ukrainische
dreht, und weil er geeignet ist, sie auf neue Bahnen zu leiten.
Mit dieser geläuterten Erkenninis möge die Slavistik nun, unter besse-
ren Auspizien für ihre Forschung ins zweite Jahrhundert ihrer Entwicklung
tretend, die schönsten Erfolge erzielen.
Il
LITERATUR BERICHTE
NEUERE UKRAINISCHE WISSENSCHAFTLICHE
LITERATUR ZUM DEKABRISTENAUFSTANDE
Von
Dr. J. Lo ss k y (Berlin).
Das hundertjährige Jubiläum des sog. Dekabristenaufstandes
hat, wie bekannt, eine reiche Literatur auf dem ganzen Gebiet der
Sovjetunion hervorgerufen, die mit jedem Jahre umfangreicher wird.
Wir möchten hier eine kurze Übersicht der wichtigsten Literatur, die
anläßlich des Dezemberaufstandes in der ukräinischen Sprache er-
schienen ist, geben. Obwohl quantitativ die Ukraine hier mit der
R. S. F. R. nicht wetteifern kann, ihrer wissenschaftlichen Bedeutung
nach räumen dieser Literatur sogar die strengen russischen Kritiker
einen ehrenvollen Platz ein. (Vgl. z. B. den Aufsatz v. M. V. N&éékina
„Die ukrainische Jubilaumsliteratur über die Dekabristen“, in „Istorik-
Marxist“ 1927, 1.)
Wir kommen in erster Linie auf die drei größeren Sammelschrif-
ten zu sprechen, die von der A. d. W. in Kiev, vom Ukrainischen
Zentralarchiv in Charkov und von dem Lehrstuhl zur Erforschung der
ukrainischen Geschichte daselbst herausgegeben worden sind.
Die erste von ihnen (Die Dekabristen in der Ukraine, hrsg. v. der
Ukr. A. d. W., Red. v. S. Efremov und V. Mijakov$’kyj. Kiev 1926.
206 S.) beginnt mit dem Aufsag des bekannten Literaturhistorikers
S. Efremov — „Von der Legende zur historischen Wahrheit“. Verf. hebt
hier die bedeutende Rolle, die in der gesamten revolutionären Be-
wegung in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrh. dem Süden, d. h. der
Ukraine zufällt, hervor. Die öffentliche Meinung interessierte sich bis
jetzt mehr für die effektvolle Szene, die am 14. Dezember 1825 auf dem
Senafsplat in Petersburg sich abspielte, und vergaß dabei den
zweiten Akt der Revolution — den Aufstand des Cernihover in Va-
silkov im Kiever Gouvernement stationierten Regimentes (Ende De-
zember 1825), unter Führung eines der hervorragendsten Dekabristen-
Führers S. Murav’ev-Apostol. In der Ukraine hatten ihren Sif zwei
geheime Gesellschaften — die „Südliche“, an deren Spitze der Verfasser
599
der „Russischen Pravda“ Pestel stand, und die „der vereinigten Slaven“,
welcher meistenteils die nicht titulierten, aus ärmeren, ja sogar aus
bürgerlichen Kreisen stammenden Offiziere angehörten. Dieser Um-
stand bedingte den demokratischen und radikalen Charakter der
„Slaven“ im Gegensab zu den aristokratischen Nördlichen und Süd-
lichen Gesellschaften. Nach Meinung des V’s. entstanden diese ge-
heimen Gesellschaften aus den früheren Freimaurerlogen, von denen
die bedeutendste in der Ukraine die „der vereinigten Slaven“ war,
zu deren Mitgliedern die zukünftigen Führer der Dekabristen, wie
die Fürsten Volkonskij und Trubeckoj, der Pole Graf Olizar und die
ukrainischen Autonomisten wie V. LukaSevyé zählten. Der letztere,
als ukrainischer Patriot bekannt, sollte der Verfasser des „Ukraini-
schen Katechismus“ sein, er war auch der Führer der sogenannten
„Kleinrussischen Gesellschaft‘, die die Emanzipation der Ukraine an-
strebie. Verf. findet einen gewissen, wenn auch nur ideologischen
Zusammenhang der Loge „der vereinigten Slaven“ mit der gleich-
namigen geheimen Gesellschaft, deren Mitgliedern, wie gesagt, eine
bedeutende Rolle in dem Dezemberaufstand in der Ukraine zufiel.
Das Programm dieser Gesellschaft soll, wie eines ihrer Mitglieder,
Gorbalevskij, in seinen Memoiren angibt, einen panslavistischen
Charakter gehabt haben. Die Zukunft der slavischen Völker dachten
sich die Mitglieder der Gesellschaft als eine Föderation slavischer
Republiken. Die weitere Entwicklung dieser Ideen finden wir 20 Jahre
später bei der Cyrillo-Methodischen Gesellschaft, die einen aus-
gesprochen national-ukrainischen Charakter hatte und der die her-
vorragendsten ukrainischen Schriftsteller — Sevéenko, Kuli3 und
Kostomarov — angehorten. Alles das berechtigt uns dazu, die ukrai-
nischen Dekabristen als Vertreter der ukrainischen nationalen Be-
wegung zu betrachten.
In derselben Sammlung finden wir die ukrainische Übersetzung
einer, für die Geschichte des Aufstandes des Cernihover Regimentes
sehr wertvollen Quelle, und zwar die Übersekung des Tagebuches
eines Augenzeugen — des Öutsbesikers I. Rulikowski. Im Zusam-
menhang damit steht eine biographische Skizze über Rulikowski v. L.
Dobrovol'Skvi.
Es wäre noch der Aufsa v. Olga Bahalij über die Rolle, die in
dem Dezemberaufstand in der Ukraine der Soldatenmasse zufiel, zu
erwähnen. In erster Linie kommt sie auf die revolutionäre Pro-
paganda, die unter den Soldaten von den aufständischen Offizieren,
hauptsächlich den Mitgliedern der Gesellschaft der vereinigten Slaven,
betrieben wurde, zu sprechen. Weiter behandelt sie die Stimmun-
gen, den Widerhall, den der Aufstand später unter den Soldaten
gefunden hat.
Den weiteren Inhalt des Bandes bilden kleinere Aufsätze: von
Basylevyé über den Schaden, welchen der Aufstand der Bevölkerung
brachte, v. L. Dobrovol’Skyj über die Deportation der Soldaten, die
am Aufstande teilgenommen haben, nach dem Kaukasus, eine ver-
400
gleichende literarische Studie v. Fylypovyé; „Ryleev und Derzavin“,
und noch einige kleinere Artikel.
Es wären noch zu erwähnen aus demselben Bande Publikationen
von Dokumenten: so 3 Briefe an den Obersten L. O. Dubelt von der
Schwesier seiner Frau, publiziert von V. Gancova-Bernikova, Briefe
der Generale Sterbatov und Tal über den Aufstand des Cernihover
Regiments; von gewissem Interesse sind die Aussagen zweier Sol-
daten, die während des Aufstandes des Cernihover Regiments von
Murav&v-Apostol mit dem Fähnrich Mozalevskij nach Kiev gesandt
waren, um dort den von Muravév verfaßten Katechismus zu ver-
breiten; Aussagen eines Unferofſiziers des aufständischen Regi-
mentes, schließlich ein bis jetzt nicht veröffentlichter Brief des Mit-
gliedes der Gesellschaft der Vereinigten Slaven, |. I. Suchinov an den
Caren und ebenso zum ersten Male erscheinende Aussagen des
Obersten V. Tiezenhausen über seinen Eintritt in die geheime Ge-
sellschaft.
Die zweite der genannten Sammelschriften, die vom Lehrstuhl
zur Erforschung der Geschichte der ukrainischen Kultur in Charkov
unter dem Titel „Aufstand der Dekabristen in der Ukraine“ heraus-
gegeben wurde, beginnt mit einem Aufsak von M. Javorskyj — „Die
Grundlagen des Dekabrismus in der Ukraine“. Als Marxist versucht
Verf. den Dezemberaufstand auf Grund der Klassen- und Wirt-
schaftsverhalinisse zu erklären; auf diese Weise ukrainisiert er,
wenn man sich so ausdrücken darf, das Schema, das bereits von
M. Pokrovskij in der „offiziellen“ russischen Geschichtsschreibung
eingeführt ist. Dabei gerät er in die üblichen Widersprüche, die
jedem begegnen, der einen komplizierten historischen Vorgang in
den orthodox-marxistischen Rahmen hineinzuzwängen bestrebt ist.
Den wertvollsten Teil dieser Veröffentlichung bildet der von
L. Dobrovol’Skyj verfaßte Aufsatz — „Der Aufstand des Cernihover
Regiments“. Hier ist zum ersten Male eine ausführliche, zum größten
Teile auf neues Material gestützte Geschichte der kühnen Tat des
S. Murav&v-Apostol und seiner nächsten Freunde dargestellt. Eine
wertvolle Ergänzung zu dem Aufsatz v. Dobrovol’skyj bietet der
dritte und leķte Aufsatz dieser Sammelschrift von O. Bahalij-Tatari-
nova unter dem Titel „Die Teilnehmer des Aufstandes des Cernihover
Regiments vor dem Militärgericht in Mohilev“, in dem das weitere
Schicksal eines Teiles der Offiziere und Soldaten, die an dem Auf-
stande teilnahmen, geschildert wird.
Die dritte der von uns erwähnten Sammelschriften ist vom
Ukrainischen Zentralarchiv in Charkov herausgegeben worden. Die
Redaktion und Einleitung gehört dem Akademiker Bahalij. Den
zweiten, größeren Teil dieser Sammlung bilden die von V. Mijakov-
Skyj, V. Basylevyé und L. Dobrovol’Skyj publizierten Dokumente aus
dem Kiever Zentralarchiv über den Aufstand des Cernihover Regi-
ments, mit einer Einleitung von V. MijakovSkyj. Der erste Teil des
Buches beginnt, wie gesagt, mit einem Einleitungsartikel vom Aka-
demiker Bahalij: „Uber die Genese der Dekabristenbewegung“. Verf.
401
gibt darin eine Analyse der damaligen sozialen und wirtschaftlichen
Verhältnisse, die seiner Meinung nach den Grund für die allgemeine
Unzufriedenheit mit dem herrschenden Regime bildeten und schließ-
lich mit einem Versuch, dieses Regime zu stürzen, endeten. Dabei
sieht Verf. in den ukrainischen nationalen Bestrebungen einen der
Gründe, die den Aufstand verursachten, obwohl er den letzteren
keine so wichtige Rolle zumutet, wie es der Akademiker S. Efremov
in dem von uns zuerst besprochenen Artikel getan hat. Ebenso wie
andere Forscher, hebt auch Verf. die Gesellschaft der „Vereinigten
Slaven“ hervor, in der er einen wirklichen Demokratismus und Revo-
lutionismus, im Gegensab zu anderen geheimen Gesellschaften, sieht.
Aus der Sammelschrift des Zentralarchivs wären weiter folgende
Artikel zu erwähnen: Die Studie v. Rjabinin Skijarevskyj über die
geheimen Gesellschaften im Süden der Ukraine in der Zeit des De-
zemberaufstandes. Es liegen hier die Materialien des historischen
Archivs in Odessa zugrunde. Odessa mit seinem regen Verkehrs-
leben war damals ein geeigneter Boden für verschiedene geheime Ge-
sellschaften, in welchen alle mit dem damaligen russischen „status
quo“ unzufriedenen Elemente ihre Zuflucht fanden. Verf. schildert
hier die Freimaurer, die Angehörigen der griechischen Hetärie, die
sog. Filareten (Mitglieder der polnischen Gesellschaft der Filareten,
von denen ein Teil nach der Auflösung der Gesellschaft durch die
russische Regierung nach Odessa verbannt war, und die „Frei-
denker“). Besonders was das südliche Freimaurertum anbelangt,
steht hier viel Wertvolles und Neues; ebenso werden hier manche
interessante Tatsachen über die Filareten, denen ja auch Mickie-
wicz angehörte, erwähnt. Demselben Verf. gehört hier ein Aufsaß
über den Aufstand des Cernihover Regiments und die Publikation
eines Gedichtes vom Dekabristen Bobritev-Pu3kin, das von ihm
1827 in Sibirien geschrieben wurde.
E. Trefiljev und V. Straten geben einen Auszug aus dem Ma-
terial über den Dekabristenaufstand aus dem Archivfonds des Ge-
neralgouverneurs von Novorossijsk; aber unter diesem Material ist,
wie es der Redakteur der Sammlung in seiner Einleitung selbst zu-
gibt, wenig von Bedeutung. Unter den kleineren Aufsätzen der
Sammlung des Zentralarchivs finden wir einen Aufsak von V. Basy-
levyé, in welchem Verf. Einzelheiten aus dem Leben einiger De-
kabristen nach ihrer Amnestierung unter dem Caren Alexander Il.
behandelt; weiter ein Aufsatz von Bahalij über den Widerhall, den
der Dezemberaufstand in Charkov fand. Wir finden schließlich in
dieser Sammlung zwei Briefe des Fürsten Volkonskij und seiner Frau
an die Mutter Volkonskijs, publiziert von A. Kozaéenko, und einen
Brief des Kurators des Charkover Schulkreises an den Caren.
In einer Reihe mit den genannten Sammelbänden muß man auch
das 5. Heft der Zeitschrift „Ukraina“ v. ). 1925 erwähnen, welches
fast ausschließlich dem Dezemberaufstand gewidmet ist. In seiner
kurzen Einleitung zu diesem Hefte hebt der Redakteur der Zeitschrift,
Akademiker M. HruSevSkyj, die wichtigste Aufgabe hervor, die, seiner
402
Meinung nach, vor der weiteren Erforschung der Quellen: des ukrai-
nischen Dekabrismus steht. Diese Aufgabe soll darin bestehen, die
richtige Lösung für die Frage zu finden, inwiefern der Dezember-
aufstand mit der nationalen ukrainischen Bewegung im Zusammen-
hange steht. „Ukrainische Dekabristen — oder bloß Dekabristen in
der Ukraine“ — so wird diese Frage von HruSevSkyj formuliert. In
dem gleich auf die Einleitung folgenden Aufsab von I. Rybakov „Das
Jahr 1825 in der Ukraine“ wird diese Frage negativ gelöst, indem
Verf. dem nationalen Moment, obwohl das national-politische Selbst-
bewuBtsein bei dem ukrainischen Adel stark entwickelt war, eine
etwaige Rolle in den Dezembervorgängen abspricht. „Die Führer
der Dekabristen in der Ukraine blieben immer Vertreter der all-
russischen revolutionären Jugend der Zeit.“ Rybakov leitet weiter
die Genesis des Dezemberaufstandes von dem Standpunkte des
historischen Materialismus ab, indem er zu beweisen versucht, daß
die wichtigste Ursache des Aufstandes der wirtschaftliche Antagonis-
mus zwischen dem Landadel und dem staatlichen bürokratischen
System, das auf das wirtschaftliche Gedeihen des ersten hemmend
wirkte, war.
In weiterem Aufsake von O. Hermajze „Die Dekabrisien-
bewegung und das Ukrainertum“ befaßt sich Verf. mit dem von
HruSevSkyj gestellten Problem über das Verhältnis zwischen dem
Aufstande und der nationalen Bewegung. Dabei hebt er, wie auch
viele andere, besonders die schon erwähnte „Gesellschaft der ver-
einigten Slaven“, in deren Mitgliedern er die Vertreter der ukrai-
nischen revolutionären Intelligenz sieht, hervor.
Dem Aufsatze v. Hermajze folgen einige Dokumente anläßlich der
Verhaftung Alekseev’s, des Adelsmarschalls von Katerynoslav, dem
die Mitgliedschaft in der bereits erwähnten „Kleinrussischen Gesell-
schaft“ vorgeworfen wurde, veröffentlicht von T. Slabèenko. V. Mija-
kovSkyj gehören drei kleinere Aufsätze: über Fournier und die Fa-
milie RaevSkyjs, über den Widerhall, den die Hinrichtung Ryleevs in
der Offentlichkeit in Charkov und Kiev gefunden hat, und schließlich
ein vom Verf. gefundenes Verzeichnis der Personen, die im Zusam-
menhange mit dem Dezemberaufstand im Kiever Gouvernement ver-
haftet wurden — größtenteils Angehörige der polnischen geheimen
Gesellschaft. Daselbst finden wir eine Skizze von L. Dobrovol’Skyj
über das Echo, das der Dezemberaufstand in den ukrainischen Volks-
liedern fand, und schließlich Eindrücke über Tuléyn, das ehemalige
Stabsquartier der Südlichen Gesellschaft, von A. Popov.
Mit den erwähnten drei Sammelschriften und der Sondernummer
der „Ukraina“ wäre das Wichtigste, was in ukrainischer Sprache über
den Dezemberaufstand erschienen ist, erschöpft. Wir erwähnen hier
noch die Broschüre von Basylevyé „Die Dekabristen im Kiever Gou-
vernement“ (Kiev 1926). Anläßlich des Jubiläums des Dekabristen-
aufstandes erschienen in den Zeitschriften viele Aufsätze, die aber
meistenteils populären Charakters sind. Einige kürzere, dem De-
kabrismus gewidmete Artikel finden wir in der Sammelschrift zu
405
Ehren Bahalijs, darunter eine bibliographische Notiz von Dobrovol’-
$kyj uber die neuere Literatur über den Dekabrismus im Süden. Wir
schließen unsere Übersicht mit der Erwähnung einer wertvollen
literarischen Skizze von Fylypovyé „Ševčenko und Dekabristen“, Kiev
1926, über die Nachklänge des Dezemberaufstands in den Werken
des Dichters.
DIE LITERATURGESCHICHTE IN DER UKRAINE
Von
Dr. M. Hnaty3ak (Berlin).
Als charakteristisches Merkmal der ukrainischen Literatur-
geschichte ist das große Übergewicht der die älteren Perioden der
Literatur behandelnden Arbeiten hervorzuheben. Das Schrifttum des
10.—17. Jahrh. wurde ausführlicher wissenschaftlicher Bearbeitung
unterworfen. Die grundlegenden Studien hervorragender ukraini-
scher:), russischer?) und anderer Gelehrten’) trugen viel zur ziemlich
genauen Kenntnis und zeitgemäßen wissenschaftlichen Beherrschung
der älteren ukrainischen Literatur bei. Es entstand dabei, besonders
in den Arbeiten gewisser russischer Forscher, manche tendenziöse
Entstellung, manches hartnäckige Vorurteil — aber im ganzen kann
die ukrainische wissenschaftliche Literatur auf diesem Gebiete viel
Beachtenswertes und Gutes verzeichnen.
Im Gegensatz zum älteren Schrifttum war die neuere ukrainische
Literatur des 18. und besonders des 19.—20. Jahrh. in wissenschaft-
lichen Kreisen stiefmütterlich behandelt. Die wenigen Arbeiten, welche
dieses Thema synthetisch zu erfassen versuchen, sind meistenteils
recht fehlerhaft und unzureichend. Abgesehen von den ersten,
sporadischen Versuchen, die Übersicht der neueren ukrainischen Li-
teratur in einzelnen Zeitschriftenartikeln zu geben, ist als erstes
wissenschaftliches Werk auf diesem Gebiete die Arbeit N.Petrovs |
„Abriß der Geschichte der ukrainischen Literatur des 19. Jahrh.“ ] zu
betrachten. Die solide, das ziemlich vollständige Material der ukrai-
nischen schönen Literatur vom Ende des 18. Jahrh. bis zu den 80er
Jahren beherrschende Arbeit litt aber unter der unrichtigen Ein-
stellung des Verfassers gegenüber den Tatsachen. Petrov wollte die
sämtliche neue ukrainische Literatur in ein der Entwicklung der neuen
russischen Dichtung analoges Schema hineinzwängen und machte
durch solches Anpassen der Tatsachen an seine aprioristischen An-
1) z. B. M. Kostomarov, I. SreznevSkyj, O. OhonovSkyj, M. Drahomanov,
M. Sumcov, M. Hruševśkyj, O. Kolessa, V. Pere, I. Franko, B. Lepkyj u. v. a.
3) z. B. E. Aničkov, Th. Buslajev, A. Galachov, E. Golubinskij, V. Ikonni-
kov, N. Keltujala, A. Pypin, A. Sobolevskij, A. Sachmatov, N. Tichonravov
u. v. a.
3) z.B. A. Brückner, V. Jagić u. v. a. Die ausführliche Literatur im
A eens a M. Vozňak: Istorija ukrajinskoji literatury. Lemberg 1920.
4) N. Petrov: Očerki istoriji ukrajinskoj litératury 19. słol. Kiev 1884.
405
sichten seine Arbeit wissenschaftlich unzulänglih. Diesen Fehler
Petrovs berichtigte durch Hinweise auf andere, nichtrussische Fak-
toren, welche den Entwicklungsgang der ukrainischen Literatur be-
einflußt haben, N. DaSkevyé in seiner Rezension über das Werk
Petrovs, die sich zu einer selbständigen, die Arbeit Petrovs in jeder
Hinsicht übertreffenden Studie über die neue ukrainische Literatur
ausgestaltetes). Eine umfangreiche Zusammenstellung des Materials
gab daraufhin O. OhonovSkyj in seiner „Geschichte der ruthe-
nischen Literatur‘). Dieser großen und bibliographisch sehr wert-
vollen Arbeit fehlt aber die historische Einstellung, sie kann als
Literaturgeschichte nicht in Anspruch genommen werden. Sie
bleibt vielmehr, allen Bemühungen des Verfassers zum Troß, nur ein
fast unerschöpflicher Behälter der in unrichtiger Perspektive ge-
zeigten literarischen Tatsachen.
Mit diesen drei großen Arbeiten ist das Wertvollste, was in
ukrainischer Wissenschaft des 19. Jahrh. an zusammenfassenden Dar-
stellungen der neueren ukrainischen Literatur geleistet wurde, er-
schöpft. Alle übrigen, verhältnismäßig zahlreichen Übersichten und
Darstellungen”) können in dieser kurzen Übersicht nicht berücksichtigt
werden.
Im 20. Jahrh. gaben die erwähnenswertesten Arbeiten l. Franko
und S. Jefremov. Der erstere veröffentlichte im Jahre 1910 in Lemberg
seinen „Abriß der Geschichte der ukrainisch-ruthenischen Literatur
bis zum Jahre 1890), welcher eine gute, aber nicht immer von allzu
subjektiven und kategorischen Werturteilen des Verfassers und von
polemischem Geiste freie Übersicht bietet. Die populärste ukrainische
Literaturgeschichte ist das Werk von S. Jefremov „Geschichte der
ukrainischen Literatur‘), welches aber mittels einseitiger, soziolo-
gisch-publizistischer Methode bearbeitet ist und deshalb die Ent-
wicklung der rein literarischen Eigenschaften, die schließlich bei der
Behandlung der schönen Literatur doch das Wichtigste sein sollien,
außer acht läßt. In den letzten Jahren erschien endlich auch eine
beträchtliche Anzahl guter Übersichten zum Volks- und Schulgebrauch,
geschickt zusammengestellter Chrestomatien und kurzer Konspekte
8) N. DaSkevyé: Otzyv o sodinéniji g. Petrova: Oterki istoriji ukr. hi.
x = A m »Otéet o 29. prisužděniji nagrad gr. Uvarova“, Petersburg 1888.
x 1 RA Ohonovśkyj: Istorija literatury ruśkoji. 6 Bande, Lemberg 1887
is .
7) wie z. B. in Pypin-Spasoviés „Istorija slavjanskich litératur™, 2. Aufl,
Petersburg 1879, I. Band, S. 357—447; in „Istorija vs&mirnoj litératury”, 1881,
III. Band; in Herbels „Poezija slavjan“, 1871, S. 157—186, und viele andere
Arbeiten, besonders aus den 90er Jahren.
8) |. Franko: Narys istoriji ukrajinsko-ruskoji literatury do 1890 roku.
Lemberg 1910.
e S. Jefremov: istorija ukrajinskoho pySmenstva, 3. Aufl. Kiev 1917,
4. Aufl. in 2 Banden Leipzig 1924.
406
m 1 A
— = —
= Se a EEE . cr Ww
— —
der Literaturgeschichte**), die selbstverständlich nur wenig zur Be-
reicherung der wissenschaftlichen Forschung auf diesem Gebiete bei-
getragen haben. Wenn wir also die rein wissenschaftliche Seite der
bisherigen zusammenfassenden Darstellungen der neueren ukraini-
nischen Literatur betrachten, müssen wir ihre Unzulänglichkeit kon-
statieren. Im Vergleich mit der älteren Literatur ist die neue Periode
viel zu wenig wissenschaftlich bearbeitet.
Diese anomalen und von der heutigen Einstellung des mensch-
lichen Geistes auf alles Aktuelle, Moderne so grell abstechenden
Zustände werden, leider, auch von der augenblicklichen Lage auf
diesem Gebiete bestätigt. Die zwei besten neuen Werke aus dem
Bereiche der Geschichte der ukrainischen Literatur behandeln wieder
nur den Zeitabschnitt vom 10. bis zum 17. Jahrh. — und es gibt, leider,
wenig Aussichten auf die Fortsetzung dieser groß angelegten Arbeiten
bis ins 19. und 20. Jahrh. Der obengenannte Mangel im Stofflichen
wird hier aber wenigstens durch die modernen Methoden der For-
schung und Darstellung wetigemacht — so daß diese Werke durchaus
interessant und aktuell sind. Ich spreche von den Arbeiten von
M. Vozitak und M. Hru3evskyj.
Die bis jetzt dreibandige „Geschichte der ukrainischen Literatur“
von M. Voz aku) gibt eine sehr instruktive, vollständige und
in den ersten zwei Bänden auch übersichtliche Darstellung der
älteren ukrainischen Literatur. Den äußerst praktischen, kurzgefaßten
Vorbemerkungen über die Ukraine, ihr Volk, dessen Geschichte und
Sprache folgt im l. Bande die ausführliche Übersicht des Schrifttums
bis zum Ende des 15. Jahrh.; das ungeheuere Material ist in folgende,
sich organisch aus den Tatsachen ergebende Gruppen eingeteilt:
1. Die Grundlagen der alten Periode der ukrainischen Literatur
(hauptsächlich das Christentum, die alibulgarische Literatur usw.].
2. Die Ubersegungsliteratur. 3. Die originelle religiöse Literatur.
4. Die geschichtlichen Chroniken (welche auch als eine Sammlung
des sehr wertvollen alten poetischen und belletristischen Materials
in Betracht kommen). 5. Die Poesie (hauptsächlich die Analyse des
Heldenliedes über den Feldzug Ihors). Der 6. Abschnitt schildert den
Verfall des literarischen Lebens in der Ukraine im 14.— 15. Jahrh.
Der Il. Band behandelt in einer, in zusammenfassender Arbeit
seltenen Ausführlichkeit die literarische Wiedergeburt der Ukraine
im 16. Jahrh. Die großen Abschnitte sind der nationalen Wieder-
belebung in der unter Polenherrschaft verbleibenden Ukraine und in
ihren kulturellen Zentren (Ostroh, Lemberg, Kiev), dem Eindringen
der neuen westeuropaischen geistigen Strömungen in die Literatur,
der literarischen Polemik zwischen den orthodoxen Ukrainern und
19) z. B. neue Auflagen der sehr populären Literaturgeschichte und
Chrestomatie von Barvinskyi, weiter Arbeiten von DoroSkevyé, eine eigen-
artige Chrestomatie mit Angabe der wissenschaftlichen Literatur über jeden
Autor von Plevako, Konspekte von Radzykevyé, Sulyma usw.
11) M. Vozitak: Istorija ukrajinskoji literatury. 3 Bände, Lemberg 1920,
1921, 1924.
407
den Anhängern der Union mit dem Katholizismus, und der Kiever
Scholastik gewidmet.
Im umfangreichsten Ill. Bande endlich finden wir cine vollstän-
dige, aber ziemlich chaotische und durch ihre Ignorierung der chrono-
logischen Reihenfolge verwirrende Darstellung des Schrifttums
des 17. und 18. Jahrh. Das Material wird hier nicht dem historischen
Entwicklungsprinzip gemäß, sondern nach den literarischen Arten
behandelt. Diese manchmal sehr empfehlenswerte, aber gerade im
vorliegenden Falle, angesichts der Buntheit und Ungleichmäßigkeit
des in Frage kommenden literarischen Materials dieser zweier jahr-
hunderte, unpraktische Art der Darstellung führt zum Verlust des
Bewußtseins der historischen Zusammenhänge, so daß dieser Band
in wissenschaftlichem Sinne der schwächste ist. Die einzelnen Ab-
schnitte behandeln: das ukrainische Material und die ukrainischen
Schriftsteller im Dienste der Literaturen der Nachbarvölker, weiter
die Belletristik (hauptsächlich die Ritterromane), das Schuldrama, die
Anfänge der Komödie, die humoristische, parodistische, satirische
und realistische Dichtung (die Weihnachts- und Ostergedichte, Ne-
kraSevyé, Lobysevyé usw.], die religiöse und weltliche Lyrik, das
nationale historische Schrifttum und endlich das historische Volks-
lied und die Kosakendumen. Die Fülle des gesammelten und aus-
führlich behandelten Materials trägt dazu bei, daß auch dieser Band
der Arbeit Vozňaks, troķ der methodischen Unzulänglichkeit, eine
wesentliche Bereicherung der diesbezüglichen wissenschaftlichen
Literatur bedeutet.
Jedem Bande sind praktische synchronistische Tabellen, schr
ausführliche Verzeichnisse der Literatur des Gegenstandes und gute
Namen- und Sachregister beigefügt. Das ganze Werk verrät pein-
liche, philologische Genauigkeit und das Streben zur Vollständigkeit,
so daß diese sonst lobenswerten Eigenschaften manchmal sogar die
übersichtlichkeit der Darstellung beeinträchtigen und das große Ma-
terial in etwas schiefen Perspektiven darlegen.
Obzwar das Werk Vozňaks mit Hilfe der neuen wissenschaft-
lichen Methoden bearbeitet wird, liegt ihm doch das traditionelle alte
Schema der Literatur, ihrer Einteilung in bestimmte Perioden und
ihrer Bearbeitung zugrunde. Einen Umsturz auch in diesen Be-
ziehungen bedeutet aber die bis jetzt fünfbändige „Geschichte der
ukrainischen Literatur“ von M. HruSevSkyj#). Der Verfasser,
welcher zugleich der bedeutendste ukrainische Historiker der Gegen-
wart ist, legt alle fertigen Schemen ab und versucht, auf Grund der
neuesten westeuropäischen theoretischen Errungenschaften auf dem
Gebiete der Literaturwissenschaft, das Material in gänzlich neuer
Weise einzuordnen und zu beleuchten. Das entscheidende Novum,
welches Hru3evskyj nicht nur für die ukrainische Wissenschaft,
sondern einigermaßen auch für die Literaturforschung überhaupt
13) M. HruSevSkyj: Istorija ukrajinskoji Sat Bände I—IIl, Lemberg
1923; Bande IV, V/1 und V/2, Kiev 1925, 1926
408
bringt, ist die parallele Bearbeitung des folkloristischen und
literarischen Materials, welches der Verfasser als ein organisches
Ganzes auffaßt und in seinen Wechselwirkungen einheitlich behandelt.
So geschieht es, daß diese ,,Literatur“-Geschichte (eigentlich Dich-
tungsgeschichte) mit bedeutend früheren Zeiten als die bisherigen
Geschichten des Schrifttums anfängt.
Im l. Bande gibt der Autor, unterstiigt von den neuesten theo-
retischen Resultaten der Anthropologie, der Eihnographie und der
Philologie, das Bild der primitiven Anfänge der Kunst und der all-
mählichen Absonderung der Dichikunst von dieser synkretischen
Urkunst. Weiter finden wir in diesem Bande eine sehr feinsinnige
und sireng wissenschaftliche, mittels der Analyse des vorhandenen
folkloristischen Materials erreichte Rekonstruktion der ältesten
Schichten der ukrainischen Volkspoesie. Diese zerfällt bei ihm in
die älteste Poesie der gemeinsam-slavischen Epoche und der ersten
Zeiten nach der Abtrennung vom slavischen Stamme — und in die
schon viel differenziertere und lebendigere Poesie der Epoche der
Steppenkultur und der Anfänge der Kiever Staatlichkeit. Die größten
Überreste dieser beiden ersten Perioden der ukrainischen Dichtung
erhielten sich hauptsächlich in den alten Gebeten, magischen Formeln,
Trauerliedern und in der sehr verbreiteten und beachtenswerten
rituellen Poesie. Der wissenschaftlichen Darstellung dieser dichte-
rischen Formen und Inhalte ist der größte Teil dieses ersten Bandes
gewidmet. Ein besonderer Abschnitt behandelt die ältesten Schichten
in der Prosadichtung.
Erst im Il. und Ill. Bande finden wir das, was wir bis jetzt für die
Anfänge der ukrainischen Literatur zu halten gewohnt waren, und
zwar die Geschichte des Schrifttums der Kiever und der Galizisch-
Wolhynischen Fürstenepoche (10.— 14. Jahrh.). Aber auch hier weicht
die Darstellungsweise sehr stark von der bis jet üblichen Art ab.
Nach der griindlichen Behandlung der Rolle des Christentums im
Entstehungs- und Entwicklungsprozesse des ukrainischen Schrifttums
berührt der Verfasser flüchtig die kirchliche Übersekungsliteratur und
geht zur gründlichen Wurdigung des originellen Schrifttums des
11. und 12. Jahrh. über. Manche veraltete Ansicht wird korrigiert,
manche literarische Erscheinung in neuem Lichte gezeigt. Weiter
sehen wir, als Ubergang zur Darstellung der Literatur des 12. bis
13. Jahrh., die gründliche Würdigung des berühmten Heldenliedes
über den Feldzug Ihors. Die Hauptmasse des dichterischen Materials
dieser Zeit sieht der Verfasser in den altukrainischen Chroniken, in
welchen sehr viele Überreste des Heldenepos, der Heldensagen und
Ritterromane zerstreut sind. Hier finden wir die erste diesbezüg-
liche genaue Analyse aller wichtigeren altukrainischen Chroniken.
Es folgt der Überblick des ganzen übrigen, schon von früher wohl-
bekannten literarischen Materials des 12., 13. und 14. Jahrh.
Der umfangreichste IV. Band ist der Helden- und Volksdichtung
der Fürstenepoche und der weiteren Ubergangsperiode bis zum
17. Jahrh. gewidmet. Der Verfasser sondert hier aus der Volks-
409
dichtung die heroischen Elemente der Fürstenepoche und die christ-
lichen Schichten der religiösen Sage ab. So finden wir hier die
ebenfalls erste vom ukrainischen literarischen Standpunkte vor-
genommene wissenschaftliche Analyse des in Rußland erhaltenen
altukrainischen Heldenepos (byliny). Besonders lehrreich ist auch
die Absonderung der christlichen dichterischen Elemente in der
ukrainischen Volkspoesie.
Im V. Bande endlich sehen wir die Übersicht des Schrifttums
vom Ende des 14. Jahrh. bis zum Jahre 1610. Die neue, lebendige
Auffassung der ukrainischen Literatur wirkt sich hier in der Negie-
rung der bis jetzt üblichen Ansicht, daß die Epoche vom 14. bis zum
16. Jahrh. für die ukrainische Literatur die Zeit des unbedingten Ver-
falls bedeutete, aus. Der Autor liefert schlagende Beweise und
überzeugendes literarisches Material dafür, daß auch in dieser Zeit
die ukrainische Literatur existierte und sich entwickelte, die ideolo-
gischen Vorbedingungen zur ersten ukrainischen literarischen Wieder-
geburt in der 2. Hälfte des 16. Jahrh. in sich aufnehmend. Dieser
„ersten Wiedergeburt“, d. h. vornehmlich der ungemein interessanten
ukrainischen polemischen Literatur des 16.— 17. Jahrh., ist der zweite
Teil des V. Bandes gewidmet.
HruSevSkyj trachtet das Material immer sub specie seiner aus-
gesprochen literarischen, dichterischen Eigenart zu beurteilen. Doch
nimmt oft die starke soziologisch-historische Einstellung des Autors
überhand, und er läßt sich zu den bei der literarhistorischen Betrach-
tung überflüssigen, viel zu genauen historischen Exkursen und Aus-
fuhrungen verleiten (so immer bei der Schilderung des Milieus, weiter
bei der Analyse der Chroniken usw.). Trotzdem bleibt dieses Werk
ein sehr bedeutender Versuch streng wissenschaftlicher Behandlung
der ukrainischen Dichtung unter Berücksichtigung der neuesten Er-
gebnisse der modernen Literaturwissenschaft und sämtlicher Hilfs-
disziplinen. Die Hauptverdienste des Autors sind: daß er als Erster
die Dichtung als ein großes Ganzes, ungeachtet der äußerlichen, for-
malen Merkmale der schriftlichen bzw. mündlichen Tradition, betrach-
tet — und daß er die erste genauere Darstellung der ukrainischen
Volkspoesie in historischer Perspektive lieferte. Diese zwei
Eigenschaften seiner Arbeit werden sicher der jungen Generation der
Literaturforscher viele neue Anregungen geben — und somit wird
dieses Werk einen großen Schritt auf dem Wege zur Freimachung
der literargeschichtlichen Studien aus den Fesseln des als Selbst-
zweck betriebenen, öden, pedantischen Philologisierens bedeuten.
Schon deswegen verdient die Arbeit HruSevSkyjs die Beachtung auch
seitens der nichtukrainischen Wissenschaft. Obzwar der alten Lite-
ratur gewidmet, ist das Buch, methodologisch und auch stofflich, viel
aktueller und moderner als die vorhandenen Übersichten der
neueren ukrainischen Literatur. Hoffen wir also, daß der Verfasser
sein vorireffliches Werk zu Ende führen und somit auch das Gebiet
der neueren und neuesten Dichtung beleben wird.
410
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BOCHERBESPRECHUNGEN
Franz Grivec, Die heiligen Slavenapostel Cyrillus und Methodius.
Olmütz 1928. In Kommission bei dem Matthias Grünewald-Verlag,
Mainz. 173 S.
Die Literatur über die Slavenapostel, die bis zum Jahre 1903 etwa 1580
Nummern aufwies, enthielt bisher keine den wissenschaftlihen Anfor-
derungen entsprechende Heiligenbiographie. Gr., der durch verschiedene
Abhandlungen über die Theologie der Slavenapostel bekannt ist, hat die in
slovenischer Sprache verfaßte Biographie nunmehr auch den deutschen
Lesern zugänglich gemacht. Dem Buche, dem ein Quellen- und Literatur-
verzeichnis sowie 40 Bilder Saflichem sind, ist die weiteste Verbreitung
zu wünschen. Von wissenschaitlichem Geiste getragen, erfüllt es seine
Aufgabe, ein Volksbuch zu sein, im besten Sinne des Wortes. Daß auch
hier viele Probleme ungelöst bleiben, liegt an dem Quellenmaterial, das
bekanntlich nur zu einem kleinen Teil glaubwürdig ist. Auch G. ist deshalb
gezwungen, die Legenden heranzuziehen. Den größten historischen Wert
schreibt er den altslavischen Legenden zu. Der italienischen Legende
steht er, wie Zu Brückner und Naegle, skeptisch gegenüber. Polemik
a 1 vermieden, die feindliche Haltung der deutschen Bischöfe
en Aposteln wird objektiv geschildert. Einige Fragen würde man gern
ausführli er behandelt wünschen, z. B. das Motiv der Reise des Method
nach Konstantinopel. Gr. kann allerdings hierzu sagen, daß wir etwas
Zuverlässiges hierüber nicht wissen, daß man über Motive nur Vermutungen
aussprechen kann. Für ein Volksbuch mußte natürlich die Behandlung rein
wissenschaftlicher Streitfragen ausscheiden. Aber ich bemerke ausdrücklich,
daß das Buch auch für den Wissenschaftler von Interesse ist.
Breslau. F. Haase.
Georg Jacob: Arabische Berichte von Gesandien an germanische
Fürstenhöfe aus dem 9. u. 10. Jahrhundert. — Walter de Gruyter
u. Co., Berlin und Leipzig, 1927.
Als erstes Heft ge von V. v. Gera mb und L. Mackensen heraus-
gegebenen „Quellen zur deutschen Volkskunde“ liegen die
ins Deutsche übertragenen und mit vortrefflichen Fußnoten versehenen
gen Berichte” vor. Eine „Einleitung“ (S. 1—7) beleuchtet die Uber-
ieferung der Quellen mit Angabe ihrer bisherigen Bearbeitungen. Die
Würdigung, 4 die hier angeführten Reiseberichte finden, eröffnen,
naturgemäß, dem Nicht-Arabisten vielfach ganz neue Gesichtspunkte. Wenn
das Heft auch der deutschen Volkskunde dienen will, so wird es aber
ge dem Historiker Osteuropas sicherlich wertvollste Dienste leisten:
;hmen, Polen, Bulgaren, Russen, Chazaren u. a. m. sind doch diesen Rei-
senden des 9. u. 10. Jahrh. bekannt geworden. Was z. B. ein Ibn Jagüb uns
bedeutet, hat ja die von Holzmann im 25. Bd. der „Zeitschrift des Vereins
f. Gesch. Schlesiens“ wieder eröffnete Untersuchung der poln. u. bohm. Ge-
schichte im 10. Jahrh. allenthalben von neuem gezeigt. Es ist äußerst dan-
411
kenswert, daß J. uns in so lege: Weise diese wissenswerten Be-
richte im vorliegenden Heft so leicht zugänglich gemacht hat.
Breslau. Erdmann Hanisch.
Dr. Stepan v. Smal-Stoékyj: „Rozvylok pohljadiv pro semja
slovjanskych mov i jich vzajimne sporidnennja“. (Die Entwick-
lung der Ansichten über die Verwandischaftsverhalinisse in der
slavischen Sprachenfamilie.) — Prag 1927.
Das vorliegende Buch ist eine umgearbeitete Ausgabe der gleich-
namigen Arbeit, die schon im J. 1925 in den Mitteilungen der Ukrainischen
Wissenschaftlichen Sevéenko-Gesellschaft in Lemberg (Bd. 141—143, Album
Societatis Scientiarum Sevéenkianae Ucrainensium Leopoliensis ad solem-
nis sua decennalia quinta 1873—1923) erschienen ist. Der Verfasser, welcher
schon im J. 1913 eine vortreffliche wissenschaftliche Grammatik der ukraini-
schen Sprache deutsch erscheinen ließ, behandelt hier eine viel umstrittene
Frage über die Verwandtschaftsverhaltnisse zwischen den einzelnen slavi-
schen Sprachen und gibt eine klare kritische übersicht der Entwicklung dies-
bezüglicher Ansichten der bedeutendsten Slavisten seit Dobrovsky bis auf
den heutigen Tag.
Es gibt in der Slavistik noch sehr viele Streitfragen, deren Lösung
durch verschiedene mehr oder weniger phantastische Theorien sehr er-
schwert wird. Bei der Klassifikation der slavischen Sprachen spielt. noch
heute die sogenannte Stammbaumtheorie eine wichtige Rolle. Sehr lange
hat in der Wissenschaft die Ansicht geherrscht, daß zwischen dem heutigen
Zustand und der Periode der urslavischen Einheit noch eine Mittelstufe an-
zunehmen ist, wo die ganze slavische Sprachfamilie nur teilweise differen-
ziert erschien und nur drei einheitliche Ursprachen, d. i. eine west-, süd-
und ostslavische oder „russische“ Ursprache, umfaßte. i ,
Von einer westslavischen und südslavischen Ursprache spricht man in
der heutigen Wissenschaft nicht mehr. Heute herrschen schon andere An-
sichten über die Verwandtschaftsverhalinisse zwischen den einzelnen Spra-
chen, was vor allem dem guten Einflusse der J. Schmidischen Wellentheorie
zu verdanken ist. Nur noch die früher vorausgesetzte Existenz der sog. „ur-
russischen Sprache”, aus der sich später die drei heutigen ostslavischen
Sprachen (russische, weißruihenische und ukrainische) entwickelt haben
sollen, wird sehr hartnäckig verteidigt, vor allem von den Slavisten, die der
russischen Schule angehören. Die meisten Forscher unterliegen außerdem
der Suggestion der Terminologie (Ruś, russisch), deren wahre Bedeutung
nur von wenigen gut verstanden wird.
Die vorliegende Arbeit samt der obenerwähnten Grammatik bedeutet
für die Slavistik einen großen Schritt nach vorwärts und wird auch ihre
aufmerksamen Leser finden.
Dem Buche ist eine kurze Bemerkung über Weingarts falsche, d. i. der
wirklichen damaligen ukrainischen Aussprache nicht entsprechende Tran-
skription der kirchenslavischen Texte der ukrainischen Redaktion und eine
andere über die Arbeit van Wijks: „Remarques sur le groupement
langues slaves“ beigefügt.
Berlin. K. Cechovyé.
Giovanni Maver: Leopardi presso i croati e i serbi. — Roma,
Istituto per l’Europa Orientale, 1929, 69S., 8°. (Piccola biblioteca
slava. 4.)
Maver hat seine Untersuchungen über die Übersekungen Leopardischer
Werke ins Kroatische und Serbische zu einer interessanten Studie er-
weitert über grundsäßliche Fragen nach der kulturellen und sprachgeschicht-
lichen Bedeutung, die Übersekungen aus einer alten und reifen Literatur
in eine jüngere und noch weniger ausdrucksfähige Sprache haben können.
Er stellt fest, daß von allen slavischen Literaturen die serbisch-kroatische
412
am reichsten ist an Übersekungen aus dem Italienischen, was bei dem
starken kulturellen Einfluß, den Italien auf das benachbarte Küstenland aus-
geübt, auch nicht wundernehmen kann. Es kommt aber noch dazu, daß es
gerade Überseber als eine lohnende Aufgabe reizen kann, sich an Uber-
setzungen zu wagen, für die der eigene Sprachschatz noch nicht reich genug
ist, wo es ihnen also überlassen ist, sich wortbildnerisch zu betätigen. M.
führt hier einen typischen Fall an. Trotzdem also die Bedingungen für
Ubersebungen aus dem Italienischen ins Kroatische günstig waren, ist es
doch nur in den seltensten Fällen dazu gekommen, daß ganze Bände eines
italienischen Dichters übersetzt worden sind, vielmehr treten Übersetzungen
italienischer Dichtungen meistens sporadisch auf als Beiträge in Zeitschriften
usw. Diese Art der Aufnahme hat neben manchem Nachteiligen auch wieder
ihre Vorzüge. Ist erst einmal ein fremder Dichter in einer gesamten Aus-
gabe in eine andere Sprache übersetzt worden, dann wird sich nur in den
seltensten Fällen ein anderer Überseber für ihn finden, und die einmal ein-
gebiirgerte Übersekung mit ihren eventuellen Mängeln behält dann ge-
wissermaßen das Monopol. M. erwähnt hier einen typischen Fall in einer
anderen slavischen Literatur, nämlich die Übersetzung Leopardis durch
Vehlicky. Die Cechen besitzen durch ihn eine vollkommene, aber .teils an-
fechibare, teils veraltete UÜbersekung, während im Serbo-Kroatischen
manche Dichtungen Leopardis unübersebt geblieben sind, einige von ihnen
aber dafür in Übersekungen vorhanden sind, die dem neueren Sprach-
zustand besser entsprechen.
M. verfolgt das Auftreten von Übersebungen nach Leopardi in chrono-
logischer Reihenfolge, die erste fällt in das stürmische Jahr 1849 und
stammie von Orsat Police, später genannt Medo Pucié. Er hafte in der
„Danica Ilirska“ die Ubersekung von „Amore e Morte“ veröffentlicht und
damit zum erstenmal das sonst für Übersekungen aus dem Italienischen
ins Kroatische beliebte Gebiet arkadisch-anakreontischer Poesie verlassen,
und vermutlich wird der schwierige Gedankengang der Leopardischen Dich-
tung den Kroaten Dalmatiens und Kroatiens sehr verwunderlich erschienen
sein. Pudcié war ausgezeichneter Kenner des Italienischen. M. unterzieht
die einzelnen später folgenden Ubersebungen von Pučić eingehender Kritik
und kommt zu dem Schluß, daß er im großen und ganzen den Originalen
gerecht geworden ist und Leopardi nicht ın veränderter Gestalt wieder-
gegeben hat. Im Verlauf der weiteren Untersuchungen kann M. feststellen,
daß nicht jeder Überseber die nötige Kenninis des Italienischen besessen
hat, um diesem so ungewöhnlich schwer verständlichen Dichter gerecht zu
werden, ja, es kommen grobe sprachliche Schnitzer vor, und der Charakter
des großen Atheisten und Pessimisten wird durch manche Übersekung
grundsätzlich verkehrt wiedergegeben, so bei Buzolié, der als Geistlicher
Leopardi gewissermaßen „für die Jugend“ bearbeitet hat. Interessante
Schlaglichter fallen auch auf die dialektischen Neigungen mancher Uber-
seber, die es fertig brachten, den nichts weniger als volkstümlichen, eher
antidemokratischen Dichter im Geschmack des Folklore ihren Landsleuten
mundgerechter zu machen. Auch an Versuchen, seine tiefgründige Dichtung
ins Kanzonettenhafte umzukneten, hat es nicht gefehli. Im allgemeinen
verdienen die dalmatinischen Überseber das meiste Lob, die ihrer ganzen
kulturellen Einstellung nach auch am ehesten imstande waren, eine so
schwierige Aufgabe zu leisten. Eine Ausnahmestellung nehmen die Über-
sekungen von Tresié-Pavicié ein, er ist unter allen bisherigen kroatischen
und serbischen Übersebern Leopardis derjenige, der ihm kongenial genannt
werden kann. Er hat sich auch vom einheimischen Zehnsilber frei gemacht
und es versucht, den Metren der Originale zu folgen. Auch der Dalmatiner
Sibe Miličić hat Ausgezeichnetes geleistet, der 1914 „La sera del di di
festa“ meisterhaft übersetzte. M. sieht in dieser Leistung nicht nur das
Verdienst des Ubersefers, sondern rechnet es auch dem allgemeinen
sprachlichen Fortschritt an, der durch Generationen von Ubersebern erreicht
worden ist. Ein Besserwerden ist fortab durchschnittlich zu verzeichnen.
Gerade in dieser entwicklungsgeschichilichen Betrachtung liegt ein großes
27 NF 5 413
Verdienst Mavers, er versteht es, durch diese Untersuchungen über einen
einzelnen italienischen Dichter und seine Aufnahme in der Literatur eines
anderen Volkstums interessante Schlaglichter auf die gesamte geistige Ein-
stellung von Generationen zu werfen.
_ Es sei nur beiläufig erwähnt, daß ein Irrtum im Text unberichtigt ge-
blieben ist. Die auf S. 16 zitierte Stelle „Troppo mite decreto quel che
sentenzia ogni animale a morte..." ist nicht, wie angegeben, aus „Amore
e morte“, sondern aus „Il tramonto della luna“.
Breslau. Emmy Haertel.
Hans Koch: Die russische Orthodoxie im Peftrinischen Zeitalter.
(Osteuropa-Institut in Breslau. Quellen und Studien. Abteilung:
Religionswissenschaft. Neue Folge: Erster Band). — Priebatsch’
Buchhandlung Breslau und Oppeln 1929, 191 S.
Peter d. Gr. hätte sein Reformwerk wohl nicht so rasch durchführen
können, wenn nicht führende Geister in Rußland den abendländischen Kul-
tureinflüssen Tür und Tor geöffnet hätten. Selbst die russische Theologie,
die bis dahin ganz abhängig von der griechischen Mutterkirche gewesen
war, geht jezt in die abendlandische Schule. Mit Recht kann deshalb Koch
seine Untersuchung einen Beitrag zur Geschichte westlicher Einflüsse auf
das osfslavische Denken nennen.
Er gibt zunächst einen geschichtlichen Überblick über die Stellung der
russischen Orihodoxie zum westlichen Christentum; der Katholizismus
wurde grundsäßlich abgelehnt, der Protestantismus bedingt bekämpft. In
der Mariologie und der Abendmahlslehre rage sih aber, besonders bei
den Kiever Theologen, frühzeitig katholischer Einfluß. In den großen Zeit-
genossen und Mitarbeitern Peters an seiner Kirchenreform wird die rus-
sische Theologie entscheidend in abendländische Systeme gefaßt. Stephan
Javorskij ist der Vertreter der katholischen, Theophan Prokopovič der Ver-
treter der protestantisierenden Richtung. Koch zeigt dies an der Stellung-
nahme der beiden Theologen zum Schrift- und Traditionsprinzip, ın der
Lehre des Kirchenbegriffes, der Erlösung und Rechtfertigung. Literarisch
sind dabei beide Theologen mehr oder minder stark von ihren abend-
ländischen Vorlagen abhängig. Das reiche Quellen- und Literaturverzeich-
nis zeigt die außerordentliche Belesenheit und Kenntnis des Verfassers.
Die nachstehenden Ausführungen sollen einige Ergänzungen zu den
interessanten Problemen, die Koch behandelt hat, geben. In der Ein-
leitung gibt Koch eine Charakteristik Javorskijs und des Prokopovič.
Für das Verständnis dieser Männer und ihrer Theologie ist es durchaus
notwendig, ihren Erziehungs- und Bildungsgang zukennen, da den deutschen
Lesern diese beiden Theologen wohl ziemlich unbekannt sein werden. Bei
der Schilderung der Stellung Rußlands zur kath. Kirche wäre die rein
chronologische Anordnung der systematischen unbedingt vorzuziehen. Denn
die Stellung war tatsächlich im Laufe der Geschichte verschieden. Auch
kommt bei Koch nicht zum Ausdruck, daß Nordrußland zum Katholizismus
eine andere Stellung eingenommen hat als Südrußland oder Weißrußland.
Viel wichtiger als die äußerliche Stellungnahme Rußlands zu den westlichen
Kirchen wäre ein Überblick über die Entwicklung der russischen Theologie
gewesen. Die Bedeutung eines Maxim Grek für die russische Dogmatik
muß für das Verständnis der russischen Theologie hervorgehoben werden.
Koch behandelt eigentlich nur drei Probleme der damaligen russischen
Theologie: Schrift und Tradition, Kirchenbegriff, Erlösung und Rechtferti-
gung. Die S. 50—73 behandelte Mariologie und Abendmahlslehre ist nur
unter dem Gesichtspunkt des Kryptokatholizismus betrachtet. Diese streng
systematische Anordnung halte ich nicht für richtig. Denn es ist doch klar,
daß der katholisierende Javorskij ganz andere Stoffe behandelt als der
protestantisierende Prokopovié. Bei der Darstellungsweise Kochs erhalten
wir deshalb keinen vollständigen Überblick über die gesamte Theologie
dieser Männer, sondern nur über einen Ausschnitt. Es sieht so aus, als
414
wenn die vom protestantischen Gesichtspunkte aus angeordnete Systema-
tisierung auch bei Javorskij die leitende Idee wäre. Der Leser, der einen
Gesamtüberblick über die russische Orthodoxie im Petrinischen Zeitalter
sucht, wird auch die Frage stellen: Hat die damalige Theologie sich nicht
mit den alten Streitfragen des filioque, des päpstlichen Primates befaßt?
Wenn der Verfasser so ausführlich die Lehre von der Epiklese in der grie-
chischen Kirche und bei den Ostslaven behandelt, so kann man die weitere
Frage stellen: Weshalb sind nicht auch die zu fast dogmatischer Bedeutung
erhobenen Lehrmeinungen über die Verwendung des Ungesäuerten bei den
hl. Gaben, das Fastengebot behandelt? Koch hat sich ferner damit be-
gnügt, die obenerwähnten Hauptpunkte aus den Werken des Javorskij und
Prokopovič darzulegen. Aber bilden diese beiden Gelehrten die russische
Orthodoxie jener Zeit? Die gesamte theologische Literatur der Petrinischen
Zeit hätte untersucht werden müssen, um ein vollständiges Bild der rus-
sischen Orthodoxie zu geben. Überhaupt bin ich der Meinung, daß die
dogmengeschichtliche Behandlung und Bearbeitung der dogmatisch-systema-
tischen vorzuziehen wäre. Allerdings wäre dann die Arbeit bedeutend
umfangreicher geworden. Denn Koch hatte dann noch die gesamie neuere
russische Theologie untersuchen und feststellen müssen, ob und inwieweit
ein Einfluß der Theologie des Petrinischen Zeitalters sich nachweisen läßt.
Auch bezüglich der Vorlagen, welche Javorskij und Prokopovič be-
nutzten, finden wir bei Koch keine abschließenden Untersuchungen. Die von
ihm selbst angeführte Tatsache (S. 175, Anmerkung 1), daß die literarischen
Vorlagen Javorskijs genauer behandelt sind als die von Prokopovič, hatte
ihn veranlassen sollen, sein Urteil vorsichtiger zu fassen. Nur eine ein-
gehende Quellenuntersuchung kann den Nachweis liefern, ob und inwieweit
wir es mit Plagiaten zu tun haben.
Ich möchte noch ausdrücklich betonen, daß Koch durchaus objektiv
urteilt, wenn er auch aus seiner Sympathie für Prokopovič kein Hehl macht.
Diese besondere Hervorhebung der Objektivität halte ich für nötig, weil
einige Stellen leicht gegen diese ausgewertet werden können. So schreibt
er S. 157: „Es ist für den protestantischen Historiker erhebend und er-
schütternd zugleich, wie das Theophansche System — und seine Schule —
die Säulen des amtlichen Verdienstbegriffes in der Orthodoxie der eigenen
Kirche ablehnt und stürzt.“ Von orthodoxer Seite wird dagegen einge-
wendet werden, daß schon die russischen zeitgenössischen Theologen den
Prokopovič als Häretiker abgelehnt haben. Ob und inwieweit durch Pro-
kopovié tatsächlich „ein Sieg des protestantischen Glaubens in der sla-
vishen Welt“ (S. 186) zu verzeichnen ist, könnte nur die oben gewünschte
dogmengeschichiliche Bearbeitung zeigen.
. Breslau. F. Haase.
Denkmäler altrussischer Malerei. Russische Ikonen vom 12.— 18.
Jahrhundert. Ausstellung des Volksbildungskommissariats der
RSFSR und der deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas
in Berlin, Köln, Hamburg, Frankfurt a. M., München. — 3. Auflage
1929 Osteuropa-Verlag, Berlin und Königsberg. 38 S.
_ „Die Heiligenbilder standen jahrhundertelang im Mittelpunkt der rus-
sischen Frömmigkeit. Gerade in Westeuropa ist aber das Vorurteil herr-
schend, daß in der russischen Ikonenmalerei die byzantinische Versteine-
rung und Einförmigkeit so weit gegangen sei, daß die Kunst darunter ge-
liten hatte. Es ist deshalb sehr zu begrüßen, daß die in den obengenannten
Städten veranstaltete Ausstellung weiten Kreisen Gelegenheit gegeben hat,
die Schönheiten der russischen Ikonen kennen zu lernen. Der bedeutendste
Forscher auf dem Gebiete der russischen Ikonenmalerei, Igor Grabar, weist
in der Einleitung darauf hin, daß die zerstörende Macht der Zeit und die
Menschen selbst die ursprünglichen Denkmäler oft bis zur völligen Un-
erkennbarkeit entstelt haben. Mit größter Sorgfalt hat Grabar einen
415
großen Teil der Ikonen in derjenigen Gestalt, die ihnen ihre Schöpfer ge-
geben haben, wiederhergestellt. Das Verzeichnis der ausgestellten Ikonen
und eine Auswahl von 16 Bildern werden auch denjenigen, welche die
stellung nicht besichtigen konnten, sehr erwünscht sein.
Breslau. F. Haase.
Karl Nötzel, Wladimir Solowjow: Von der Verwirk-
lichung des Evangeliums. Eine Botschaft aus seinem Gesami-
werk ausgewählt, übersetzt und erläutert. — Hans Harder-Ver-
lag, Wernigerode am Harz. 125 S.
F. Goetz: Der Philosoph W. Solowioff und das Judenium. — Riga
1927. 87 S.
Nößel ist bekannt durch seinen Eifer, das geistige und religiöse Rub-
land dem Abendlande verständlich zu machen. Ich halte es für besonders
verdienstlich, daß er weiteren Kreisen die russischen Quellen durch Uber-
sebungen zuganglich macht. Denn nur diese können einen unmittelbaren
Einblick in die schwer verständliche Geistesrichtung der russischen Religions-
philosophie geben. In der vorliegenden Auswahl hat er eine Reihe von
Texten zusammengestellt, welche die Bedeutung Solov’evs für die modernen
Kulturprobleme zeigen. Ich nenne nur: Die Bedeutung des Rechtes, der
Sinn der Strafe, die Heilung des Verbrechers, die Todesstrafe, die soziale
Frage, Nationalismus und Christentum, Vaterland und Universalismus,
Judentum und Christentum. S. zeigt hier, daß er, wie sein großer Lands-
mann und Zeitgenosse Tolstoj, über nationale und religiöse Vorurteile
erhaben ist und daß er vor einem halben Jahrhundert Probleme behandelt
hat, die haute im felpunkte stehen.
Eine dieser Sonderfragen hat Goeb näher dargesiclit. Es ist aber
nicht richtig, daß S. als Apologet des Judentums in Deutschland völlig
unbekannt sei. Bereits i. J. 1911 hat Ernst Keuchel die Schrift Solov’evs
„Judentum und Christentum” übersetzt. Goeb, ein langjähriger Freund
Solov’evs, hat im Jahre 1901 in den „Fragen der Psychologie und Philo-
sophie”, einer von Fürst S. Trubebkoi herausgegebenen Zeitschrift, einen
Artikel über die Beziehungen Solov’evs zur jüdischen Frage veröffentlicht,
der mit einigen wesentlichen Ergänzungen nunmehr den deutschen Lesern
zugänglich gemacht wird. S. hielt die Verteidigung des Judentums gegen
unwahre Angriffe für eine religiöse und patriotische Pflicht, er widerlegt
die nationalen, ökonomischen und politischen Beschuldigungen und behandelt
das Verhältnis des Judentums zum Christentum, die Beziehungen der
Evangelien zum Talmud. Wenn auch in erster Linie die Lage des Juden-
tums in Rußland in den achtziger und neunziger Jahren des vorigen jahr-
hunderts den Anlaß zu dem Artikel Goebens gegeben hat, so verdient er
doch auch heute noch wegen der grundsätzlichen Stellungnahme Solov’evs
zum Judentum Beachtung.
Breslau. F. Haase.
Nicolas von Arseniew, Die russische Literatur der Neuzeit
und Gegenwart in ihren geistigen Zusammenhängen. — Dios-
kuren-Verlag, Mainz 1929. 410 S.
Das Buch des Königsberger Privatdozenten und früheren Professors
an der Universität Saratov ist in der von Otto Forst-Battaglia heraus-
gegebenen Buchreihe „Die Literaturen der Gegenwart” erschienen. Diese
Buchreihe tragt den Obertitel „Well und Geist“. Damit ist die Tendenz
klar herausgestellt; die Literatur soll nicht nach ihrem formalen Charakter
geschildert werden, sondern der weltanschauliche Gehalt bildet Ziel und
Inhalt. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, hat Arseniew seine Auf-
gabe vorzüglich gelöst. Es ist selbstverstandlich, daß bei einer solchen
416
Darstellung die subjektive orure ung Starr hervortritt. Für den Anfänger
empfiehli es sich daher, vorher die Geschichte der russischen Literatur von
A. Luther zu lesen, die auch A. als ganz unentbehrliches „Standardwerk“
bezeichnet. Die Eigenart der Literaturgeschichten von Luther und Arseniew
kann man am besten durch zwei Vorgänger klarmachen: Die Geschichte
der russischen Literatur von A. von Reinholdi, Leipzig 1886, und von
Brückner. R. legt ebenso wie Luther den Hauptwert auf möglichst voll-
ständige Darstellung der Gesamtepochen, der Schilderung des Lebens
und der Werke der Schriftsteller und Dichter, Brückner und Arseniew
suchen den geistigen Gehalt klarer herauszustellen. Arseniew hat hierbei
den Vorzug, daß er als griechisch-orthodoxer Christ die religiose Grund-
tendenz viel tiefer und besser versteht. Die Vorliebe des Verfassers für
die religiöse Einstellung führt ihn allerdings dazu, daß er ausführlich Gegen-
stände behandelt, die mehr theologischen als literarischen Charakter
tragen. (Chomjakovs Lehre von der Kirche.) In dem Abschnitt über
Dostoevskij zeigt es sich aber am klarsien, daß dieser tiefrcligiose Dichter
nur durch religiöse Einfühlung richtig verstanden werden kann. Nicht ganz
zufreffend ist dagegen die Beurteilung D.s in seiner Stellung zu den west-
europäischen Völkern. Seine eigenartige Auffassung des Wahrheitsbegriffes
zeigt ja am besten, daß er mit dem westeuropäischen Geist keine Gemein-
schaft haben will, seine haßerfüllten Ausfälle gegen Deutschland und das
deutsche Volk können schwerlich mit brüderlichem Verständigungswillen
in Einklang gebracht werden.
Es kann hier nicht auf die einzelnen Kapitel eingegangen werden.
Ich möchte nur noch bemerken, daß gerade für die religiöse Welt-
anschauung Dichter wie Maikov und Nadson von größerer Bedeutung sind,
als es A. annimmt. Bei der Behandlung der bol3evistischen Literatur muß
hervorgehoben werden, daß A. trob seiner entschiedenen Ablehnung des
BolSevismus eine V der Schriftsteller gibt. Die Dar-
stellung der neuesten russischen Literatur und die weltanschauliche Be-
urteilung ist zu begrüßen. , f
Im Anhang gibt A. eine Auswahl der in Betracht kommenden Literatur.
Auch hier will der Verfasser in erster Linie diejenige Literatur geben, die
für das weltanschauliche Verständnis beachtenswert ist. Dies muß hervor-
gehoben werden, weil Literarhistoriker die Angabe von nicht streng wissen-
schaftlichen Aufsätzen beanstanden könnten.
Ich freue mich, daß die weltanschauliche Charakteristik der russischen
Schriftsteller und Dichter, die ich in meinem Buche „Die religiöse Psyche
des russischen Volkes“ nur kurz schildern konnte (S. 226—238), von A
eingehend behandelt worden ist. Für das Verständnis des russischen
Volkes ist deshalb sein Buch gerade in der jebigen Zeit sehr willkommen.
Breslau. F. Haase.
Maxim Gorki: Gesammelte Werke in Einzelausgaben, deutsch. —
Malik-Verlag, Berlin, o. J.
Seiner Tolstoj-Ausgabe hat der Berliner Malik-Verlag nun auch die
Werke Gorki’s zu annehmbaren Bandpreisen folgen lassen. Die Ubersetzer
sind als solche wohlbekannt: Fred M. Balte, Erich Boehme,
Klara Brauner, Adolf Heß, August Scholz, Siegfried
von Vegesack. Auch neueste Schriften Gorkij’s finden wir in dieser
Ausgabe, die in gleich guter Ausstattung wie die Tolstoj-Ausgabe heraus-
gebracht wurde. Uber den literarischen Wert Gorkij’schen Schaffens kann
man ja verschiedener Au u sein. Immerhin wird auch für den, der,
wie der Schreiber dieser Zeilen, Gorkij eine nur relative literarische Geltung
zuerkennen kann, seine unzweifelhaft, schon durch den schwierigen Lebens-
gang, interessante und bedeutsame Persönlichkeit größter Beachtung sicher
sein. So wird die Beschreibung seines Werdeganges, welche Ilja Grus-
dew in dem beigegebenen Bande „Das Leben Maxim Gorkis“ ent-
417
wirft, allgemeinem Interesse begegnen, wie gleicherweise der Band
„Maxim Gorki: Erinnerungen an Zeitgenossen”.
Breslau. Erdmann Hanisch.
Ilja Ehrenburg: Die Verschwörung der Gleichen. Das Leben
des Gracchus Babeuf. — Berlin, Malik-Verlag 1929, 8°. 290
Seiten. Aus dem Russischen von Hans Ruoff.
Nun dringt die „Vie romancée“, dieses charakteristische Produkt der
bürgerlichen Weltordnung, bis in die Bezirke der proletarischen Dichtung.
Dort, wo nur die Masse Mensch gefeiert, besungen, verherrlicht wird, hat
einer das Leben eines anderen zum Roman gestaltet, der so weit Ge-
schichte bleibt, daß die beigegebenen Faksimilia, die Anmerkungen und
Kommentare gar nicht störend wirken. Dieser eine heißt freilich Ilja Eren-
burg (oder wenn man will Ehrenburg), abkommandiert nach Paris, Mont-
marire, in die feindliche kapitalistische Feste, als Pacemaker des literari-
schen Bolschewismus; der andere Babeuf (Francois), später genannt Grac-
chus, der Tribun. Ahnherr aller künftigen Sozialisten und Sozialismen.
Über das Buch, welches so entstand, haben wir mancherlei zu sagen.
Erstens, um mit dem Angenehmen zu beginnen: es ist hinreißend ge-
schrieben (im Original). Zweitens, es ist unzulänglich übersebt. Drittens,
die Aufmachung scheint es aus der Literatur ausscheiden und zum Agi-
tationsmittel stempeln zu wollen. Viertens: das Zweitens und Drittens
müssen wir aufrichtig beklagen, denn selbst dann noch verdiente Erenburgs
„Zagovor rovnych“ auch von der reaktionaren Masse gelesen und nach Ge-
buhr bewundert zu werden.
Nicht als ob wir einem ewig-gültigen Meisterwerk ‚gegenüberstünden.
Da ist nichts von der überlegenen Ruhe und der souveränen Durchdringung
des Stoffes, wie in Anatole Frances unsterblichem „Les Dieux ont soif".
Doch beschwingter Rhythmus, leidenschaftlicher Haß, beißende Ironie, ge-
schickte Zeichnung und ein Hauch der historischen Größe, der jedem kon-
genialen Werk über die Zeit der Französischen Revolution anhaftet. Vor-
trefflich, ob auch überspibt, die Kontrastwirkung zwischen dem grandiosen
Beginnen und dem klä apie Ausgang einer Volkserhebung, von der wir
heute, nach Taine, und zumal nach Cochin, Gaxotte, genau wissen, wie
wenig erhebend, wie wenig Volkeswerk ihre Urspriinge gewesen sind.
Vortrefflich die Gegeniiberstellung von Narren und Schwarmern wie Babeuf
und satten Schuften wie die Directeurs.
Die Figuren der Tragikomödie Babeuf — Erenburg behält ständig den
geziemenden halbironischen Ton bei, erst die Bearbeitung will Pathos in
die Sache hineinbringen — sind im allgemeinen richtig portratiert. Babeuf
zuförderst, der blutarme, erst delirierende, dann rasende Prophet, ein
Pariser Knipperdolling und Arnold von Brescia, Savonarola (er hat eine
stattliche Ahnenreihel. Babeuf, fanatisch, monoman, mit den Zügen von
Anatole Frances Evariste Gamelin, und mild, zartlich, wie Camille Des-
moulins. Dann Fouché, Barras, Kanaillen, wenn es je ‘Kanaillen gab. Ein
wenig ungerecht kam die lebenslustige Madame Tallien davon, die besser
war als ihr Ruf. Energischer Protest muß gegen die Karikatur Carnots
erhoben werden, dessen edle Gestalt der parteimäßigen Besudelung ent-
rückt sein sollte.
Die Technik der Erzählung ist virtuos. Ein mächtiger Auftakt: nach dem
Ende der Terreur. Hernach Rückblick auf Babeufs klägliches Dasein. Im
ununterbrochenen Fluß hierauf die Verschwörung des Volkstribunen mit
Buonarroti, Darthé. Der Verrat Grisels. Die Gefangennahme, der Prozeß
und das Ende auf dem Schafott. (1797.)
Ein Wort dem Register, das „der deutschen Ausgabe vom Verlag bei-
gegeben wurde“ und die gleichmütige Skepsis Erenburgs mit einem Anhang
bolschewistischer Pathetik versieht. Es verherrlicht den verleumdeten (7
Carriére. Er hat ja nur Gegenrevolutionäre ins Wasser werfen oder sonst
für das Verbrechen ihrer zu hohen Geburt bestrafen lassen! Marie Char-
418
lotte Corday: „ermordete Marat und wurde guillotiniert“. Das feige Scheu-
sall Während hingegen Marat „einer der glühendsten und konsequentesten
revolutionären Politiker... sich mit unbarmherziger Schärfe gegen die
Halbheiten und Kompromisse der führenden Revolutionsmänner wandte“.
Necker: „deckte... die zügellose Verschwendung des Hofes... rück-
sichislos auf“ (und hätte eigentlich eine gute Zensur zu erwarten), jedoch
„er... versuchte die Monarchie zu retten, und er mußte, allgemein ver-
achiet, seinen Abschied nehmen“. Ich habe von der Ehrlichkeit und An-
ständigkeit der Leitung des Malik-Verlags eine hohe Meinung. Trob der
mich von ihm frennenden Verschiedenheit der Gesinnung, weiß ich seine
bedeutenden Verdienste um die Literatur zu schätzen, deren russischen
Meisterwerken er in Kreisen Eingang verschafft, welche sonst der Kol-
portage gehören. Es ist auch nichts einzuwenden, wenn kommunistische
Geschichtspropaganda betrieben wird. (Während bürgerliche Geschichts-
propaganda allerdings im bolschewistischen Rußland todeswürdig erscheint).
Nur sei alsdann, um reinlihe Scheidung durchzuführen, das betreffende
Buch mit dem Vermerk gestempelt: Werbeschrift der K.P.D. oder irgend-
wie in den Anmerkungen den zahlreichen Lesern, die den Zusammenhängen
fremd und preisgegeben sind, mitgeteilt: dies ist unsere, der bewußten
Kommunisten, subjektive Ansicht. Die Ubersetzung Könnte freilich auch
dann noch, bei aller Abneigung gegen die Mittelklasse, wenigstens Mittel-
klasse sein.
Womit, ich wiederhole es, nichts wider das Werk Erenburgs gesagt sei,
das ich — mein größtes Kompliment für Autor und Verlag — sogar in
diesem Deutsch und mit diesem Kommentar auch außerhalb der Partei-
kreise für lesenswert und wertvoll erkläre.
Wien. Otto Forst-Battaglia.
Dr. Hans Koch: Die Ukraine. — „Zeitwende“, München 1929.
Heft 1 u. 2.
. Daß die Ukraine so lange aus der Karte Europas verschwunden war,
ist nicht ganz Schuld des ukrainischen Volkes. „Russischer und polnischer
Staatsidee entsprach es, eine „ukrainische“ Frage verschwinden zu lassen;
daher wußte bald auch die der Politik gefügige Wissenschaft durch Jahr-
hunderte hindurch nur von „Kleinrussen“ oder „Ruthenen“, gelegentlich
auch von „Kleinpolen“ zu berichten.“
_ Schon diese Worte verraten im Verf. einen guten Kenner der Verhält-
nisse im Osten Europas, die durch die tendenziose Beleuchtung und irre-
führende Terminologie auch für die Gebildeten schwer verständlich
bleiben mußten. Diese Arbeit will über das ukrainische Land und Volk in
kurzen Worten ganz objektiv informieren. Neben den statistischen Daten
über die Größe der ukrainischen Nation und ihres Siedlungsgebietes finden
wir hier eine klare Übersicht der Schicksale dieses zweitgrößten slavischen
Volkes und seiner Bestrebungen um einen eigenen Staat, die auch manch-
mal zur wirklichen Souveränität geführt haben. In der Schilderung der
einzelnen Staatsversuche der Ukrainer hat es der Verfasser verstanden,
in aller Kürze das Wichtigste und für die deutschen Leser Interessanteste
zu geben.
Berlin. K. Cechovyé.
Ivan Ohijenko: Ukrajinska kultura, korotka istorjia kulturnoho
Tytija ukrajinskoho naroda. (Ukrainische Kultur. Geschichflicher
Überblick über das kulturelle Leben des ukrainischen Volkes.) —
Katerynoslav-Leipzig 1923.
Verf. bemüht sich, in diesem Buche eine ziemlich schwere Aufgabe zu
lösen, und zwar das Problem der ukrainischen Kultur in seiner ganzen Tiefe
und Breite in Form populärer Vorträge, welche seinerzeit an der ukraini-
419
schen Volksuniversität in Kiev abgehalten wurden, einem Durchschnittieser
vor Augen zu führen. Die Motive, welche den Verfasser zu diesem Schritt
veranlaßt haben, lagen in seinem Wunsche, dem Bewußtsein weiterer Kreise
des ukrainischen Volkes im Momente der Wiederaufrichtung des ukrainischen
Staates den Wert und die Originalität seiner kulturellen Leistungen einzu-
prägen. „Welche Seite des Lebens wir auch untersuchen, überall sehen wir,
wie originell und eigenartig das ukrainische Volk sich seine Kulturwelt schuf.
Auf allen Gebieten seiner geistigen Produktion kommt die Originalität
seiner reichen Kultur und seine hervorragende intellektuelle Begabung klar
zum Ausdruck.“ ;
Das ganze Material zerfällt bei Ohijenko in vier große Gruppen, jede
derselben wieder in eine stattliche Anzahl von selbstandigen Kapiteln. Die
erste Gruppe umfaßt, abgesehen von kurzen Bemerkungen allgemeinen
Charakters, alle Erscheinungen der ukrainischen Kultur bis zum Ende des
XVII. Jahrh. In der zweiten Gruppe hat der Verfasser den Einfluß der
ukrainischen Kultur auf die moskovitische“ in einer im Verhältnis zum Um-
fang des ganzen Buches sehr erschöpfenden Weise untersucht. Dieses
Thema, welches bereits im Zeichen der neuen Zeit behandelt wird, weist
eigentlich keine große Literatur auf, nachdem es früher, also im XIX. Jahrh.
schwer möglich war, die Grundlagen der überaus mächtigen russischen
Literatur auf ukrainische Quellen zurückzuführen. Die dritte Gruppe bildet
die ukrainische Kultur des XIX. Jahrh., also die Epoche ihres Tiefstandes
sowie die Zeit der langsam einsetzenden schwachen Wiedergeburt. Der
lebte Teil endlich, „der Leidensweg des ukrainischen Volkes“, führt jene
folgenschweren Schläge auf, welche dem ukrainischen Volke im Laufe der
Geschichte seitens Moskaus nicht nur in politischer Hinsicht, sondern auch
auf kulturellem Gebiete versetzt wurden, und welche in dem bekannten Ukas
des Caren Alexander Il. vom Jahre 1876 endeten, auf Grund dessen die
ukrainische Sprache in Wort und Schrift im ganzen russischen Imperium
verboten wurde. Es wurde strengstens untersagt, ukrainische Bücher aus
dem Auslande nach Rußland einzuführen, originale Werke oder Uber-
setzungen in ukrainischer Sprache zu drucken, Theateraufführungen zu ver-
anstalten, musikalische Werke mit ukrainischem Texte zu singen. Es ist
nun ganz begreiflich, daß der Verfasser unter dem unmittelbaren Einfluß
der unserem Bewußtsein bereits langsam entrückenden Ereignisse dem
il. und IV. Abschnitt des Buches besondere Aufmerksamkeit widmete, so
daß diese Teile auch rein räumlich die Hauptrolle in der ganzen Darstellung
spielen. Als Materialiensammlung verdient das Buch unbedingt Beach
um so mehr, als es außerdem auch eine große Anzahl guter und inter-
essanter Illustrationen aufzuweisen hat.
Berlin. J. Mirtschuk.
M. Hru3evskyj: Kulturno-nacionalnyj ruch na Ukrajini v XVI i
XVII stol. (Kulturell-nationale Bewegung in der Ukraine im XVI.
und XVII. Jahrh.) — 2. Aufl., Wien 1919.
Verf., der bekännteste zeitgenössische Geschichtsschreiber der Ukraine,
gibt in diesem Buche einen zusammenfassenden Uberblick über alle wich-
tigsten Erscheinungen in dem geistigen und kulturell-nationalen Leben dieses
Landes aus der Zeitperiode um die Wende des XVI. Jahrh. Dieses Buch,
in Wirklichkeit nur ein Auszug in ziemlich populärer Form aus dem grund-
legenden, dokumentalen Werke, der achtbandigen Geschichte der Ukraine
desselben Autors, sowie aus seinen früheren Spezialarbeiten, wurde schon
zum großen Teile im Jahre 1909 in dem Journal „Literaturno — naukovyi —
Vistnyk“ veröffentlicht; nur die lezten vier Kapitel kamen erst später hinzu.
Die hier behandelte Epoche, und zwar das Ende des XVI. und der An-
fang des XVII. Jahrh., bilden einen ungemein interessanten Abschnitt in der
geistigen Geschichte der Ukraine, denn gerade in diese Zeit fallen die Be-
strebungen der ukrainischen Gesellschaft, angesichts der Expansionspolitik
der katholisch-polnischen Hierarchie, den Verfall der eigenen orthodoxen
420
Kirche aufzuhalten, im Zeichen der Konkurrenz mit den Jesuitenschulen, das
bis nun vernachlässigte nationale Schulwesen nach neuen Mustern zu reor-
ganisieren, das durch die Flucht der Magnaten ins polnische Lager ge-
schwächte eigene Volkstum zu stärken, mit einem Worte, eine Wiedergeburt
auf allen Gebieten des ukrainischen öffentlichen Lebens herbeizuführen.
Nachdem das ukrainische Territorium damals beinahe in Gänze dem polni-
schen Staate angehörte und infolgedessen selbstverständlich den dort herr-
schenden Einflüssen ausgesetzt war, wird das vorliegende Buch in erster
Linie die Reaktionserscheinungen der ukrainischen Gesellschaft auf die Ein-
wirkungen der staatlichen katholischen Kirche und der westlichen, lateinisch-
deutsch-polnischen Kultur behandeln. Die durch außenpolitische Motive her-
vorgerufene Differenzierung der ukrainischen Intelligenz in konservative,
der Orthodoxie, als dem „Glauben der Väter“, treu ergebenen Elemente,
und in fortschrittliche Kreise, welche durch die Aneignung der wesi-
europäischen Kultur und des neuzeitlichen Schul- und Bildungswesens
der Not der Zeit entgegenarbeiten wollten, — die Ideen der natio-
nalen Bildung, die Gründung und die Tätigkeit der Akademie in Ostroh,
die Bemühungen der Brüderschaften auf dem Gebiete der nationalen
und kulturellen Wiedergeburt, der Streit um die Kalenderreform, die Ur-
sachen und Folgen der unionistischen Bestrebungen, das Kosakentum als
ein neuer Faktor im politischen und religiös-nationalen Kampfe, die Ver-
legung des kulturellen Schwerpunktes aus Lemberg nach Kiev, die Organi-
sierung der Kiever Akademie durch Peiro Mohyla, das sind die Haupt-
themen, deren Bearbeitung die einzelnen Kapitel des Buches gewidmet sind.
Daß der Verfasser dieser Bearbeitung HruSevSkyj ist und daß hier an die
Behandlung dieser Themen mit dem ganzen Apparat der wissenschaftlichen
Analyse geschichtlicher Tatsachen herangetreten wurde, verleiht dieser
Arbeit nur noch einen besonderen Wert, welcher durch zahlreiches Illustra-
tionsmaterial zur Er. wicklung der Buchdrucker- und Graveurkunst dieser
Zeit unter Verknüpfung alter byzantinisch-ukrainischer Traditionen mit
neueren deutschen und italienischen Einflüssen erhöht wird. Geradeso wie
im Texte liegt auch der Schwerpunkt der künstlerischen Produktion in den
lebten Dezennien des XVI. und ersten Jahrzehnten des XVII. Jahrh., also in
den Kupferstichen aus den Lemberger, Halycer und Ostroher Publikationen,
welche durch einige Muster der Kiever Graveurkunst aus dem XVII. und
XVIII. jahrh. ergänzt werden. Wenn wir außerdem die dort befindlichen
Reproduktionen der alten Malerei und Architektur erwahnen, bekommen
wir ein vollständiges Bild der Mannigfaltigkeit und des Reichtums der
materiellen Kultur, was in Verbindung mit dem oben besprochenen Texte
dieses Buch einem jeden Historiker und Erforscher des slavischen Ostens
wertvoll erscheinen lassen muß.
Berlin. J. Mirtschuk.
Prof. D. Doroschenko: Schewischenko, der große ukrainische
Nationaldichter. — Verlag E. Wyrowyi, Berlin SW 47. (1929.
S. 48. kl. 8°.
Diese kleine, geschmackvoll ausgestattete Neuerscheinung auf dem Oe-
biete der deutschen Ucrainica, ursprünglich ein Vortrag am Ukrainischen
Wissenschaftlichen Institute in Berlin, ist der Persönlichkeit und dem dich-
terischen Schaffen des unbestritten bedeutendsten ukrainischen Dichters des
19. Jahrhunderts gewidmet. Der Verfasser schildert recht plastisch das be-
wegte Leben Sev&enkos und gibt eine gute, aber mehr die historischen Zu-
sammenhänge, als die rein literarische Beschaffenheit der Werke beachtende
Übersicht seiner Dichtung. Im Büchlein finden wir, an entsprechenden
Stellen, auch kurze, aber sehr instruktive Schilderungen der literarischen
und der historischen Entwicklung der Ukraine, so daß es zu den erst-
klassigsten und inhaltsreichsten Erscheinungen auf dem Gebiete der auf
streng wissenschaftlicher Basis beruhenden, das kulturelle Leben der
Ukraine betreffenden Schriften informativen Charakters gezählt werden
421
kann. Den Abschluß des Büchleins bildet eine Würdigung der ungeheueren
kulturellen und nationalen Bedeutung des Dichters, und die Probe einer
selbständigen, von den üblichen, populären Ansichten abweichenden Cha-
rakierisierung der sozialen, moralischen und religiösen Seite der Welt-
anschauung Sevéenkos.
Berlin. M. Hnaty3ak.
Prof. Dr. O. Eichelmann: Reforma miscevoho samourjado-
vannja, na pidsiavi dem.-respubl. derZavnosty (Die Selbsiver-
waltungsreform im Lichte des demokratisch-republikanischen
Staatsgedankens.) — Dnistrianskyj-Jubiläumsalmanach, S. 159 —
237, Prag 1923.
_ In der gegenwärtigen Epoche der Krise des Parlamentarismus ist nun
die Abhandlung des namhaften Spezialisten, der sich mit den einschlägigen
Fragen mehr als 50 Jahre lang sowohl theoretisch als auch in seiner Amts-
praxis befaßte und dieselben auf weiten Studienreisen gesammelt hat, be-
sonders bemerkenswert und enthält wertvolle und kühne Anregungen, die
nicht bloß für Selbstverwaltungen, sondern auch für die Volksvertretungen
allgemein verwendet werden könnten. ;
Was nun die autonomen Verwaltungsorgane anbelangt, so bekennt sich
der Verfasser zu der sogenannten Gesellschafistheorie, die im Gegensabe
zu der staatlichen die Selbstverwaltung der Staatsgesebgebung nicht unter-
ordnet, sondern sie nebeneinanderreiht. Dieses Prinzip entwickelt er jedoch
konsequent viel weiter im Sinne einer wirklichen Demokratisierung. Die
Ortsbevolkerung soll nämlich schon in der Wahl des Selbstverwaltungs-
sysiemes quasi souverän sein, weiter soll das Referendum nicht nur in allen
wichtigeren Angelegenheiten angerufen werden, sondern auch selbst ein-
zugreifen berechtigt sein. Über dem geschäftsführenden Gemeinderate soll
es noch einen weiteren geben, der die wichtigen Entscheidungen zu treffen
hätte und aus welchem der geschäftsführende periodisch zweckmäßig er-
neuert werden soll.
Von noch weiterem Interesse sind aber die Ansichten des Verfassers
über die Wahimethoden überhaupt, die er in einer kritischen Untersuchung
der geltenden Anschauungen zum Schlusse seiner Darlegungen bringt. Einem
allgemeinen Wahlrechte widersebt er sich grundsäßlich nicht, verweist aber
auf die festgestellte Tatsache, daß sich durch die Frauenstimmen die
früheren Wahlresultate bloß verdoppelt haben, empfiehlt weiter einen
reiferen Alterszensus, etwa von 25 Jahren, und spricht sich gegen den Wahl-
zwang aus. In den indirekten, auch mehrstufigen Wahlen sieht er keine
Gefährdung der Reinheit von Ergebnissen und hält die heutige Öffentlichkeit
für reif genug, auch das System von Pluralstimmen (je nach Alter, Familien-
stand, Bildungsgrad und sonstigen Rücksichten) ernst in Erwägung zu ziehen.
Das proportionale Wahlsystem bedürfe auch einiger Reformen. Vor allem
soll der Wahlkoeffizient in bezug auf alle berechtigten Stimmen berechnet
und bereits vor den Wahlen öffentlich bekannt gegeben werden. Weiter
sollen zur möglichen Vermeidung von Restzahlen die heutigen Wahlbezirke
ganz aufgehoben, also die Resultate von allen Wahlstätten zusammen-
gezählt werden. Wenn durch etwaige Wahlabsentierungen die vorgesehenen
Mandate auch nicht voll, jedenfalls aber mindestens zur Mehrzahl besebt
wären, so sollen doch nur diejenigen Kandidaten als gewählt angesehen
werden, die mindestens eine dem Koeffizienten gleiche Stimmenanzahl auf
sich vereinigt haben, und eventuell nur die Kadenz entsprechend verkürzt
werden. Zur Wiederherstellung des persönlichen Verhältnisses von Wah-
lern und Gewählten sollen die gebundenen Listen ganz aufgelassen werden,
und diejenigen Abgeordneten, welche den Koeffizienten mehrfach erreicht
haben, dementsprechend auch mehrere Stimmen zuerkannt bekommen, da
ja ohnehin nur solche wirkliche Vertrauensmänner in den Parlamenten den
Ton angeben, während ihre Kollegen, die ihre Wahl bloß der Aufnahme in
422
4
eren un
dieselbe Liste verdanken, sich von den Beratungen meistenteils absentieren.
Für den Fall der Verhinderung von Abgeordneten sollen gleichzeitig deren
Vertreter gewählt werden, ihre Wahlresultate jedoch und ihre Stimmenzahl
in den Vertretungskorpern ganz unabhängig von den ersteren berechnet
werden. Der mögliche Einwand einer Kompliziertheit der vorgeschlagenen
Reformen bildet kein Argument gegen deren Durchführung, ebenso wie auch
die weiteste Autonomie der Selbstverwaltung nur deren Belebung und
sichere Prosperität, keinesfalls aber eine Anarchie im Staate bedeutet.
Berlin. A. Hladij.
S Cakacichin: Narysy z gistoryi belaruskaga mastaziva (Studien
aus der Geschichte der weißruthenischen Kunst.) Bd. 1. — Minsk.
Verlag: Inst. Belarus. Kul’tury. 1928. 280 S.
Das vorliegende Werk bildet den ersten Band einer groß angelegten
Geschichte der weißrussischen Kunst, die voraussichtlich fünf Bände um-
fassen wird.
Der 1. Band dieser Publikation umfaßt die Altertiimlichkeiten der Grab-
hügel Weißrußlands, die kirchliche Baukunst des 11.—12. Jahrhunderts, die
militärische Baukunst Westweifruglands im 13.—16. Jahrh. sowie die weiß-
russische Gotik im 15.—16. Jahrh.
Die vorliegende Arbeit ist aus den Universitatsvorlesungen des Verf.
entstanden und bildet den ersten Versuch der systematischen Darstellung
der Geschichte der weißrussischen Kunst, daher macht Verf. selbst keinerlei
Anspruch auf Vollständigkeit und Abgeschlossenheit der Darstellung, da es
noch an mancherlei Vorarbeiten fehlt.
Wesentlich sind an der Arbeit zweifellos die neuen Gesichtspunkte,
unter denen das bisher von russischen und polnischen Forschern, die das
Land als russisches resp. als polnisches Gebiet betrachteten, gesammelte
Maicrial gesichtet wird.
Niemand hat es bisher versucht, das typisch Weißrussische in der
Kunst des Landes herauszuschälen. Die russischen Forscher versuchten,
ihre Analyse der älteren Kulturformen Weißrußlands zum Beweis der
apriorischen These von der Einheit dieser Kultur mit der älteren Kultur des
Kiever und Moskauer Rußlands zu verwenden, indem sie den Einfluß der
byzantinischen Kunst überschätzten. Verf. ist der Ansicht, daß die byzanti-
nischen Einflüsse nicht einmal in der Kirchenkunst Weißrußlands vorherr-
schend waren. Andererseits ließen die russischen Forscher die Einflüsse
der westeuropäischen Kunstformen in der Kunst Weißrußlands unbeachtet.
Indessen spielten diese Einflüsse eine bedeutende Rolle. Es ist bemerkens-
wert, daß selbst das kapitale Werk des berühmten russischen Kunsthisto-
rikers Grabar’ „Die Geschichte der russischen Kunst", das selbst die
jüdische Holzbaukunst in Rußland mit behandelt, von Weißrußland über-
haupt keine Notiz nimmtl Anscheinend fand Grabar’ in Wei rußland nichts
für die Geschichte der Kunst in Rußland Beachtenswertes!
Die polnischen Kunsthistoriker widmeten der Kunst Weißrußlands mehr
Beachtung, behandelten aber Weißrußland als Teil Polens und hoben daher
die Unterschiede zwischen der Kunst des eigentlichen Polens und der Kunst
des Großfürstentums Litauen nicht klar genug hervor. Die ersten Entdecker
der weißrussischen Kunst waren deutsche Gelehrte während des Welt-
krieges, als Westweißrußland von deutschen Truppen besetzt war: der
Jenaer Professor Paul Weber und der Berliner Studienrat Dr. Albert Ippel
waren die Kolumbusse der weißrussischen Kunst. Sie wurden bei diesen
Entdeckungen allerdings von ortsansässigen Forschern (Brüder Lutkevi&,
Lastovski u. a. m.) sekundiert. Prof. Weber veröffentlichte 1917 eine Mono-
graphie „Wilna, eine vergessene Kunststätte“, Dr. Albert Ippel organisierte
in Wilna und Minsk Ausstellungen und veröffentlichte in dem 1919 er-
schienenen Sammelwerk „Weißruthenien“ einen beachtenswerten Beitrag
„Zur weißrussischen Kunst“.
425
So wurde das Problem der weißrussischen Kunst von deutschen Ge-
lehrten aufgerollt. Dr. Ippel fand Schemas des griechischen Theaters und
Tempels in gewissen Wirtschaftsgebauden Weißrußlands, verwics auf das
Schema der hellinistisch-römischen Villa in den Bauernhöfen des Gouver-
nements Mohilev (bei Rogacev) u. a. m.
Verf. knüpft an diese Vorarbeiten deutscher Forscher an und zeigt an
Hand von Abbildungen die Evolution der Kirchenbaukunst in Weißrußland.
Mit der Bildung des Großfürstentums Litauen verblassen allmählich die ur-
sprünglichen byzantinischen Einflüsse, es entstehen neue politische und
kulturelle Zentren. .
Der militärische Kampf gegen die 8 Kreuzritter wirkt sich in
der Baukunst des Landes aus. Der Burgbau der Ordensritter wird zur
Grundlage der späteren stilistischen Entwicklung der Baukunst in Weißruß-
land, und zwar nicht nur lediglich der militärischen, sondern auch der
zivilen und sogar kirchlichen Baukunst. Verf. weist nach, daß trob Uber-
nahme dieses Stils die 5 Baukunst doch eine große Eigenart
offenbarte, und zwar in Gestalt der eigentiimlichen „weißrussischen Gotik“.
Hervorragende Muster dieser militärischen Burgbaukunst sind die
Burgen in Nowogrudek (13. Jahrh.), Lida, Kreve, Troki (14. Jahrh.), Grodno
(15. Jahrh.), Wilna (15.—16. Jahrh.) und als vollkommenster Abschluß die
Burg in Mir.
Der Anfang des 16. Jahrh. bringt den Übergang von der Burg zum
offenen Edelsig des Adels, von der Gotik zur romanischen Renaissance.
Dieser Übergang erfolgt jedoch ohne Uberbruch, er entwickelt sich
organisch aus der weißrussischen Gotik. Die zweite Hälfte des 16. rh.
steht im Zeichen der ruhigen und erhabenen Schloßkbaukunst, der weiß-
russischen Renaissance strengen und ruhigen Stils, die den Abschluß der
staatlichen Baukunst Weißrußlands bedeutet, auf dem Höhepunkt der Feier-
lichkeit und der Pracht — kurz vor dem folgenden Niedergang nach dem
Verlust der staatlichen Unabhängigkeit.
Verf. untersucht die Altertümlichkeiten der Grabhügel Weißrußlands
und kommt zu dem Ergebnis, daß viel stärker als die Einflüsse Skan-
dinaviens und von Byzanz auf die alte Kultur Weißrußlands die Kultur-
einflüsse des syrisch-persischen Orients gewirkt haben, mit dem das Land
bereits seit dem 6. Jahrh. durch Vermittlung der Chasaren und Bulgaren in
regen Handelsbeziehungen stand. Aus dem Orient kam nach Weißrußland
der mächtige Strom der dekorativen Formen mit der Vorherrschaft arabisch-
syrischer Typen, deren Reichtum in den Ausgrabungen in Weißrußland so
überraschend wirkt. Aus dem Westen drangen auf zwei Wegen (uber das
Baltikum und über Ungarn) römische Kultureinflüsse ins Land. Der Mangel
an chronologischen Daten macht die genaue Geschichte der Form der Grab-
hügel unmöglich, daher beschränkt sich Verf. auf die Systematisierung des
vorhandenen Materials. Die meisten Funde führt Verf. auf orientalische
Kultureinflüsse zurück. Sie wurden aber fast alle im Lande umgearbeitet
und ergaben selbständige Typen. Verf. weist Zusammenhänge zwischen
der Ornamentik der Ausgrabungen und der modernen völkischen Or-
namentik Weißrußlands nach, was für die traditionelle Beständigkeit der
vom Volk übernommenen Motive der Ornamentik spricht.
Die byzantinischen Einflüsse machen sich im verstärkten Maße erst im
16. Jahrh. geltend. Verf. weist darauf hin, daß bei der Übernahme der
byzantinischen Formen der Kirchenbaukunst Smolensk, Polock und Vitebsk
eine große Rolle bei der Übermittlung dieser Formen an den Norden ge-
spielt haben.
Während die Baukunst von Novgorod im 10.— 13. Jahrh. die übernom-
menen byzantinisch-kiever Formen unverändert beibehält, hat die Baukunst
von Smolensk, Polock und Vitebsk die erst im 12. Jahrh. übernommenen
byzantinisch-kiever Formen selbständig weiterentwickelt, indem sie für die
Motive der Ornamentik und Elemente der Konstruktion das reiche Kapital
an östlichen und westlichen Kultureinflüssen und örtlichen Traditionen ver-
wertete, das in Weißrußland bereits vorhanden war. Hier, in den weiß-
424
russischen Kulfurzentren, wurden bereits im 13. Jahrh. jene bewunderns-
werten Vereinfachungen der byzantinischen Kompliziertheit vorgenommen,
die als charakteristisch für die Baukunst von Novgorod angesehen werden,
in Wirklichkeit aber von Novgorod aus Weißrußland übernommen wurden,
das die kulturelle Metropole Novgorods und Pskovs gewesen ist. Dies
verleiht der weißrussischen Baukunst außerordentliche Bedeutung für die
Gesamigeschichte der osteuropäischen slavischen Kunst. l
Wenn bis zum 16. Jahrh. man von weißrussischer Gotik nur im terri-
torialen Sinne reden konnte, so erhält dieser Ausdruck, wie Verf. nach-
weist, im 16. Jahrh. bereits eine formal-stilistische Bedeutung.
Nicht das Schema des deutsch-gotischen Tempels, sondern das von
der weißrussischen Gotik gewandelte Schema der preußisch-gotischen
Ritterburg lag dieser Baukunst zugrunde.
Diese Verbindung von Burg und Tempel ist auch in anderen Ländern
bekannt, aber nur in Weißrußland entwickelte sich diese Verbindung in
eine ständige stilistische architektonische Aquivalenz der ständigen Re-
ligionskriege im Lande... =
Verf. gibt eine vorzügliche Analyse der bemerkenswerten Original-
schöpfungen der weißrussischen Gotik im Lande (Bernardinerkirche in
Wilna, die Kirchen in Sinkovici, Malo-Mozéikovo und Suprasl’), sowie eine
Gesamicharakteristik der architektonischen Eigenart der weißrussischen
Gotik. Die vorzügliche Arbeit verrät umfassendes Wissen und Liebe zu
dem Gegenstand der Betrachtung. Selbst die kühnsten Hypothesen des
Verf. wirken überzeugend durch die immanente Logik der Entwicklung der
architektonischen Formen.
Wilna. Vladimir Samojlo.
L S’ven’cicki: Rozkwit kulturna-nazionalnago iittia schidnü
Belorusi. — Lemberg 1929. .
S’ven’cicki interessiert sich bereits seit längerer Zeit fiir das Leben
und Schaffen des weißrussischen Volkes. Bereits 1908 erschien sein erstes
Werk über die Weißrussen. Im vorliegenden Werk stellt Verf. sich die Auf-
gabe, eine Übersicht dessen zu geben, was auf literarischem Gebiet Weib-
rußland in den letzten 20 Jahren geleistet hat. Besonders beschäftigt sich
Verf. mit dem literarischen Schaffen der lebten 10 Jahre in der so
Sovetrepublik. Verf. ist der Ansicht, daß die lebten 10 Jahre „die Periode
des Aufblühens des sozialen und nationalen Selbsibewußiseins bei allen
unterjochten Völkern” gewesen sind. Verf. ist cin glühender Verehrer des
Leninismus, insbesondere in bezug auf dessen Nationalitätenpolitik. In dem
Vorwort sucht er den Nachweis zu führen, daß nur die 3. Internationale das
Selbstbestimmungsrecht der Völker gewährleistet. Nach diesem Vorwort,
das sich von den üblichen Leitartikeln kommunistischer Blätter wenig unter-
ane gelangt er zu einer Erörterung der neuesten weigrussischen
eratur.
Die neue Ara habe die alte Sklavenpsychologie aus der Welt geschafft.
So beschäftigt sich denn die neue weißrussische Literatur mit den Außen-
seitern, die in den neuen sozialen Bedingungen keinen geeigneten Plab
finden konnten. Diese Außenseiter werden von dem Leben als unnölige,
z. T. schädliche Elemente beiseite geschoben, vernichtet. Verf. gibt cine
Reihe positiver Gestalten aus der neuesten weißrussischen Literatur, die
die ideale Synthese der Persönlichkeit und des Kollektivs im neuen Weiß-
rußland darstellen sollen. Verf. gibt eine Charakteristik der weißrussischen
Dichter der Gegenwart und glaubt versichern zu können, daß es in der
Seele des weißrussischen Dichters, des Schilderers des Lebens im neuen
Weißrußland, keinen so abgrundtiefen nal zu den „polnischen Herren“ gibt,
wie in der Seele dieser Herren gegen die weißrussischen Bauern, die es
wagten, sich Land und Freiheit zu nehmen. Selbst in der Schilderung der
dramatischen Höhepunkte des sozialen Befreiungskampfes der weiß-
russischen Bauern erstickt der Triumph über den Sieg seines Volkes in der
425
Seele des weißrussischen Dichters nicht das Gefühl der Humanität gegen-
über den Besiegten. ae .
Verf. charakterisiert wie folgt die künstlerischen Methoden und den
Stil weißrussischer Dichter der Gegenwart: „Die Weißrussen gehen mit den
Worten sparsam um, sie lieben die Schablonen nicht, sie verabscheuen den
Phrasenschwall, markischreierische Unterstreichungen der Wichtigkeit des
Dargestellten sind ihnen verhaßt, langatmige Schilderungen der Schönheit
der Natur liegen ihnen nicht. Der weißrussische Dichter begnügt sich mil
einer knappen Darstellung der Tatsache. In einigen Strichen offenbart sich
das Ereignis von selbst ... In dieser Art der künstlerischen Einfachheit
und Knappheit der Darstellung folgen die weißrussischen Dichter dem Bei-
spiel der besten Meister der Weltliteratur.“ Verf. verzeichnet mit Genug-
tuung, daß es bei den weißrussischen Dichtern keinerlei byzantinische Be-
geisterung für die Sovetordnung gibt. Nicht einmal bei den „getreuen
Dichtern“ der literarischen Gruppe „Molodnjak“ sei Speichelleckerei und
Unterwürfigkeit zu finden.
Die weißrussischen Dichter der Gegenwart haben die große revolutio-
näre Umgestaltung des Lebens in Sovetweißrußland geschildert, die Um-
gestaltung, die den Weißrussen Schule, Wissenschaft, Politik und Staats-
verwaltung in ihrer Muttersprache brachte. Die einfache Bauernsprache
wurde zur Staatssprache erhoben — dies ist die größte und tiefste Revo-
lution in der Geschichte Weißrußlands. Fraglos sei, daß das weißrussische
Volk aus diesem Erlebnis hinaus wic ein Mann die Eroberungen der Revo-
lution verteidigen würde. Verf. glaubt dies auch für die anderen nationalen
Sovetrepubliken behaupten zu können. Das Buch ist auf Grund persön-
licher Eindrücke in der u ee Sovetrepublik geschrieben worden.
Man kann das nationalbolschewistische Credo des Verf. ablehnen, fraglos
hingegen ist die Liebe des Verf. zum weißrussischen Volk, seinem Schaffen
und seiner Seele. Diese Liebe geht einen anderen Erkenntnisweg als der
diskontierende Verstand des Wissenschaftlers. Immerhin bietet dies Buch
wertvolles Material für das Verständnis Weißrußlands, auch dem, der sich
dem nationalbolschewistischen Olaubensbekenntnis des Verf. nicht anzu-
schließen vermag. 1
Wilna. Vladimir Samojlo.
Die polnische Literatur der Gegenwart: Ferdinand Goetel:
Menschheit. Zwei Erzählungen. — 185 Seiten. Julius Kaden-
Bandrowski: Novellen. — 209 Seiten. Beide Bände im
Horen-Verlag. Berlin-Grunewald 1928.
Daß es ein glücklicher Gedanken war, die in Deutschland so gut wie
unbekannte polnische Schöne Literatur der Gegenwart durch gute Uber-
sebungen zu verbreiten, bedarf keines langen Beweises. Ich habe in zahl-
losen Artikeln dafür mich eingesetzt und bin stolz darauf, daß der hoffentlich
auch vom Erfolg begleitete Versuch des Horen-Verlags auf meine Initiative
zurückgeht. Die Auswahl der Autoren ist in Polen sehr leicht. Es mußte
mit kleineren Erzählungen begonnen werden, und da wäre, neben Kaden-
Bandrowski und Goetel eigentlich nur noch an die Frauen Rygier-Nalkowska
und Kossak-Szczucka zu denken. Doch in der Literatur gilt die Galanterie
für nichts, und so sei den beiden ausgezeichneten polnischen Novellisten
der Vortritt eingeräumt. Goetels Erzählungen schöpfen ihren Stoff aus
dem Kriegserlebnis, genauer, aus der Erinnerung an die vom Autor ım
russischen Zentralasien verbrachte Gefangenschaft. In ihrer Mischung
von unterdriickter Emotion und zur Schau getragener Brutalität der Hand-
lung, der Sprache, geben sie ein getreues Bild der schriftstellerischen Per-
sönlichkeit Goetels, eines Realisten, in dem zu tiefst die Sehnsucht nach
dem Außerordentlichen, also nach dem alten romantischen Land schiummert.
Die Auswahl aus den Erzählungen, die Kaden-Bandrowski im Zyklus
der „Stadt meiner Mutter“ vereint hatte, scheint mir nicht so glücklich. Ich
426
vermisse den herrlichen Kuckuck“, meiner Ansicht nach die schönste No-
velle, die Kaden-Bandrowski je geschrieben hat, und die entzückende
„Schule“. Dafür hätte ich „Götter“ nicht ungerne vermißt. Sonst erscheint
auch in diesem Band das Gebotene zu rühmen. Die beiden Erzählungen
„Politik“ und „Der letzte Namenstag“ werden dem großen polnischen
Schriftsteller sicher die Bewunderung der künstlerisch Reizsamen und die
herzliche Liebe der großen Masse gewinnen, die ich ihm als Lesergemeinde
wünsche und vorhersage. Die Übertragung der beiden Bücher durch
Alexander von Guttry ist nach jeder Hinsicht vortrefflich.
Wien. Otto Porst-Battaglia.
GiovanniMaver: Alle fonti del romanticismo polacco. — Roma,
Istituto per l'Europa Orientale, 1929. 21 S., 8°. (Piccola biblio-
teca slava. 5.)
_Es ist eine wenig beachtete Episode aus der polnischen Literatur, die
M. in dieser Broschüre behandelt, um — im Gegensatz zu polnischen Ur-
teilen — nachzuweisen, daß in ihr einer der wichtigsten Ausgangspunkte
der polnischen Romantik zu suchen ist, nämlich die Gesänge der Kon-
föderierten von Bar. In diesen patriotischen Gedichten findet sich neben
Minderwertigem vieles künstlerisch Wertvolle, Gedichte, die nach Mickiewicz’
Urteil Ivrischen Eingebungen gleichkommen. M. findet, daß die von der
»Dibljoteka Narodowa“ herausgegebene „Poezja Barska“, in der Kazimierz
Kolbuzewski reiches bisher unveröffentlichtes Material veröffentlicht hat,
allerhand enthält, was den bereits bekannt gewordenen Dichtungen an Wert
bedeutend nachsteht. Es ist zu bedauern, daß M. seinen Untersuchungen
nicht eine bibliographische Übersicht über die einschlägige Literatur bei-
gegeben hat. Sehr interessant sind seine Bemerkungen über die übliche
Methode, große geistige Bewegungen im Gebiet der Literatur, die auf
viele Nationen übergegriffen haben, nur durch Bestatigungen des ihnen
Gemeinsamen zu erforschen, er findet, dab es dabei nur auf die
Beobachtung der Nachahmungen und Entlehnungen herauskommt, während
gerade das nicht Gleichartige innerhalb solcher Literaturstromungen
dazu führt, das jeder Nation Charakteristische zu erfassen. So handelt
es sich auch hier für ihn zumeist darum, das der polnischen Romantık
Ureigene zu erfassen. Er kommt zu der Überzeugung, daß das der
patriotische Gehalt in höchster Potenz ist, er hat in der Blüte der
Romantik bei den Polen den Höhepunkt erreicht. Von diesem Gesichts-
punkt aus betrachtet, gewinnen die Gesänge von Bar eine ganz hervor-
ragende Bedeutung als erste Stimmen, die von einem solchen glühenden
Patriotismus getragen waren. M. prägt das Wort „ethische Romantik“, sie
ist aufs engste mit den Schicksalen Polens verknüpft. Die Konföderation
von Bar wurde vier Jahre vor der ersten Teilung Polens geschlossen.
M. verfolgt die Jahrzehnte umfassende Zeitspanne bis zum Auftauchen der
polnischen Legionen, innerhalb deren die polnische Literatur, trob der
schweren Schicksalsschläge die das Land betroffen, keine patriotischen
Dichtungen aufzuweisen hat; auch die Legionen selbst, deren abenteuer-
liches Leben so viel Romantik in sich trug, haben nichts Nennenswertes an
dieser Art Dichtung hinterlassen. In der Zwischenzeit nährte sich Polen
von europäischen Litcratureinfliissen. Und doch hat, nach der Meinung
Mavers, Mickiewicz recht gehabt, als er behauptete, die Poesie von Bar
habe unsichtbar über der Epoche des Stanislaw August geschwebt und sei
dann in die Scharen der Legionen übergegangen. Einen direkten Beweis
freilich kann M. dafür nicht erbringen, und so wird es dem Skeptiker un-
benommen sein zu behaupten, daß hier nicht ein Übergang von einer Epoche
zur anderen vorliegt und daß die Gesänge von Bar zeitlich zu weit von
der polnischen Romantik abliegen, um als ihre Quelle gelten zu können.
Breslau. Emmy Haertel.
427
Adam Galiński: Młoda Polska. Poezja i Dramat, Antologja i
Literatura. — LödZ 1928, Ksieg. Karola Neumillera.
Das Buch will, nach dem Vorwort, als Handbuch für Mittelschulen und
fur Interessierte zu eigener Information betrachtet werden. Die kurze Vor-
rede äußert sich weiterhin über das gesteckte Ziel: das Buch soll dem
weck dienen, als Anthologie ein Bild der poln. Literatur nach 1890 zu
geben. wobei, um den Einfluß des Westens anschaulich zu machen, auch
dieser mit wichtigen Proben (in poln. Übersekufg) aus Verlaine, Rimbaud,
Mallarmé, Morceaux, Rodenbach, Verhaeren, Maeterlinck vertreten ist. Dann
aber will das Werk auch als literarisches Handbuch für die „Mioda Polska“
dienen und gibt die dementsprechende literarische Zusammenfassung, unter
Betonung der wichtigen Merkmale und Eigenarten dieser Stromung und
ihrer Entwicklung, sowie die Beziehungen und das Verhältnis zu anderen
Richtungen. So ist im 6. Abschnitt „Młoda Polska i Romantyzm“, im 7. dann
speziell „Młoda Polska i Słowacki“ usw. behandelt. Wichtigste Literatur-
angaben und ein guter Index fehlen nicht.
Wenn der Verf. auch nicht unmittelbar wissenschaftlihen Zwecken
dienen will und mehr das pädagogische Interesse verfolgt, so wird doch
seine geschickte und alles Wissenswerte instruktiv zusammenstellende Ar-
beit als eine willkommene Zusammenfassung begrüßt werden, besonders
außerhalb Polens, wo doch die vorhandene Literatur nicht ohne weiteres
so leicht zur Hand ist.
Breslau. Erdmann Hanisch.
Janina Koztowska-Studnicka: Katalog rękopisów pol-
skich (poezyj), wywiezionych niegdy$ do Cesarskiej Bibljoteki
Publicznej w Petersburgu, znajdujących sie obecnie w Biljotece
Uniwersyteckiej w Warszawie. [Katalog der polnischen Hand-
schriften (Dichtung), die einst in die Kaiserliche Offentliche Bi-
bliothek nach Petersburg ausgeführt wurden und jekt sich in der
Universitäts-Bibliothek in Warschau befindenl. — Kraków, Polska
Akademja Umiejętności, S. IV + 132.
Frau Dr. Kozłowska hat ihren Katalog noch vor dem Wellkriege be-
arbeitet und den Druck begonnen, aber durch die Kriegsereignisse ist die
Handschrift verloren gegangen. jetzt hat die Krakauer Akademie der
Wissenschaften die Vollendung des Katalogs durchgeführt, da er an Ak-
tualität für die polnische Literaturwissenschaft gewonnen hatte, als die
Handschriften selbst auf Grund des Rigaischen Friedensvertrages nach War-
schau zurückgegeben wurden.
Die Verfasserin hat nur die Abteilung „Polonica XIV. Poesie“ bearbeitet,
welche aus 194 Handschriften besteht. Diese Abteilung umfaßt jedoch nicht
das ganze Material der Sammlung; man kann noch viel Stoff in anderen
Teilen finden, vor allem in der Abteilung „Diversae linguae“. Die im Ka-
talog beschriebenen Manuskripte stammen aus allen Sammlungen, die von
Warschau und anderswo nach Rußland konfisziert wurden. Chronologisch
gehören die meisten dem XVII. und XVIII. Jahrhundert an, unter ihnen hat
Professor Brückner seine besten Funde auf dem Gebiete der altpolnischen
Literatur gemacht. (Potocki, Twardowski u. a.) Viel Material wird sich auch
für den politischen Historiker in verschiedenen Dithyramben, Oelegenheits-
dichtungen, Satiren usw. finden. Die pseudoklassische Literatur ist gut ver-
treten durch den Kreis der Warschauer Gelehrten Gesellschaft (Towarzystwo
Przyjaciół Nauk). Obzwar keine Revelationen hier zu erwarten sind, be-
ommen wir doch viele neue Quellen zur polnischen Literaturgeschichte in
der Periode des Verbluhens, des Unterganges und der Regeneration im
XVIII. Jhdt., die noch sehr wenig beleuchtet und bearbeitet sind.
Lemberg. K. Tyszkowski.
428
Jakob Jatzwank: Wendische (Sorbische) Bibliographie (= Ver-
öffentlichungen des Slavischen Instituts an der Friedrich-Wilhelms-
Universität Berlin, herausgeg. v. Max Vasmer, Nr. 2). — 1929,
in Kommission bei Markert u. Petters, Leipzig.
Max Vasmer hat dem ersten Heft seiner „Veröffentlichungen”, wel-
ches die, wohl allenthalben (trob Brückners Einwendungen in Slavia
Occidentalis VII 73) als bedeutsam mit bestem Recht anerkannte Arbeit
Pircheggers über die slav. Ortsnamen im Mürzgebiet 1927 brachte,
im vorliegenden zweiten Heft von Jakob Jatzwank, der nach seiner
Stellung als Landesbibliothekar in Dresden wie durch die liebevolle Hin-
gabe an die literarische Produktion seines Volkes am berufensten für eine
solche mühevolle Aufgabe war, eine wendische (sorbische) Bibliographie
folgen lassen.
Eine eingehende Gliederung des Stoffes in clf Teile und die beige-
gebenen 4 Register ermöglichen eine gute Übersicht und rasche Orien-
tierung. Das Schicksal aller solcher Bibliographien ist ja immer eine nur
relative Vollständigkeit: Verf. hebt selbst in den einleitenden Worten die
diesbezüglichen Mängel seines Werkes hervor. Da ihm bibliographische
Studien im Auslande beruflich nicht möglich waren, war es seiner Arbeit
sicherlich sehr förderlich, der Unterstützung eines Fachkundigen, wie es
Päta ist, sich erfreuen zu können. Vielleicht hatte J. seine grundsätzliche
Ablehnung, ein Verzeichnis der wendischen Handschriften zu geben, in dem
besonderen Falle des Wendischen revidieren können. Vielleicht wäre ihm
dann, bei einer solchen Zusammenstellung, auch das Mißgeschick nicht
uniergclaufen, daß die Trautmannsche Ausgabe des Wolfenbuttler Psalters
v.).1928 bei ihm nicht verzeichnet ist: weder unter dem Stichwort „Psalmen“
noch im Autorenregister habe ich wenigstens diese Ausgabe finden können.
Allerdings ist die Ausgabe des Warichius auch nicht unter dem Namen des
Herausgebers K. H. Meyer, sondern nur unter „Varichius“ im Verfasser-
register zu suchen.
Breslau. Erdmann Hanisch.
28 NF 5 429
ZEITSCHRIFTENSCHAU
BULGARIEN
A. B. Michajlov: K voprosu o vremeni proischoZdenija Uüitel’nogo
Evangelija Konstantina Bolgarskogo. — Slavia 7, 2 (1928). S. 284
— 297.
Verf. prüft an der Hand eingehender chronologischer Untersuchungen
und unter Anführung einer die Jahre 880-907 umfassenden Tabelle, welche
die zeitlichen Abstände des Datums der Sonntage zwischen Ostern und dem
Fest der Kreuzeserhöhung usw. aufweist, und bei deren Zusammenstellung
thm der Mathematiker Bju3gens behilflich gewesen ist, nach, daß die bis-
herigen Annahmen über die Datierung des Evangeliums als nicht zutreffend
anzusehen sein dürften, nachdem eine bestimmte Datierung der Schrift
selbst bei allen in Betracht kommenden Deutungsmöglichkeiten sich als un-
möglich herausstellt. Außerdem hält er dafür, daß die drei Abschriften des
Ucitel’skoe Evangelie von einem Original herrühren, welches entweder im
J. 946 oder i. J. 1136 erschienen war, nicht früher und nicht später.
Emmy Haertel.
Renato Poggioli: I poeta bulgaro Péo K. javorov. — Rivista
di letterature slave. 3, 4—6 (1928), S. 317—337.
_ Javorov ist einer der Ersten gewesen, welcher den französischen Sym-
bolismus und somit den Geist der jüngsten Dichtergeneration des Westens
aufnahm und ihn in die noch junge bulgarische Literatur einführte. Seine
Größe besteht darin, daß er sich von bloßer Nachahmung fecrnhielt und die
empfangenen Eindrücke in seiner eigenen tiefempfundenen Dichtung zu
Fleisch und Blut werden ließ. Diese Einfühlung in die Moderne stellt den
Gipfel seines Schaffens dar, seine frühesten Dichtungen, die „Stichot-
vorenije“ v. J. 1901, welche in der Gesamtausgabe seiner Werke unter dem
Titel „Antologija“ stehen, sind ungleich an Wert und in sich selbst mit-
unter unausgeglichen. Neben mittelmäßigen Dichtungen sozialpolitischen
Inhalts stehen temperamentvolle patriotische Lieder, von echter Lyrik durch-
drungene Naturstimmungen — die Esenni motivi — und äußerst originelle,
dem bulgarischen Folklore verwandte Schöpfungen, die bereits den künf-
tigen Meister ahnen lassen. Gerade eine Dichtung der letzigenannten Kate-
gorie „Kaliopa“, womit Javorov sich zum ersten Male vor die Öffentlichkeit
wagte (veröffentl. in „Misül“, 10., 1900), erregte Pento Slavejkovs Aufmerk-
samkeit. Javorov hat trob dieses Erfolges späterhin diese Dichtungsart
aufgegeben und sich Stoffen zugewandt, die in ihrer Verarbeitung erkennen
lassen, wie der Dichter bereits auf dem Wege zu seiner eigensien Welt
war. Hier ist die Dichtung „Armenci“ besonders charakteristisch. Die von
ihm besungenen und beklagten Armenier sind nicht nur Flüchtlinge, für die
sein patriotisches Herz Mitleid hat, sondern sie repräsentieren für ihn die
aus dem Eden verjagte Menschheit. Diese Idee, das Gefühl des Verbannt-
450
seins aus anderen Wellen, wird später typisch für Javorovs Lyrik, und
ebenso die Vorstellung, daß die menschliche Seele ein Echo, eine Art Zuruf
augerwelilicher Seelen sei. In einer seiner frühesten Dichtungen erbittet
er für sich von Gott einen Stern und cine Stimme, und sei es auch die
eines Nachtvogels. Auch das wird spaterhin typisch für seine Lyrik: für
ihn wird die Well, in räumlicher Ausdehnung vorgestellt, zum bestirnten
Himmel, zeitlich gefaßt, zur Nachtstunde.
Im zweiten Bande seiner Dichfungen, in den „Bezsünici“ und „Podir
sénkité na oblacité“, zeigt Javorov bereits den reifen Künstler und Men-
schen, aus ihnen spricht ein Oeist, welcher das Alltagsleben und die All-
lagsmenschen nicht begreifen kann, dem aber in den Träumen eines Halb-
schlafes, mit fast mediumaler Deutlichkeit, ätherische Welten vor die Seele
treten, in denen er cinmal glaubt gelebt zu haben und nach denen seine
Seele sich sehnt. P. vergleicht die Psyche Javorovs mit einem zu Fleisch
und Blut et Engel, der dazu verurteilt ist, das menschliche Leben,
als gleichfalls sündiger Mensch, zu durchleben, in dem aber die Erinnerung
an seine überirdische Heimat fortlebi, und es wird für ihn zur Qual, daß
er sich ihrer nicht mehr klar erinnern kann. Aus dieser ewigen Ungewiß-
heit entsteht ihm zugleich ein Todessehnen und Todesfürchten. Immer aber
fühlt sich der Dichter gleich einer Stimme „clamans in deserto“.
In dieser Verlassenheit trostet ihn nur die Erinnerung an die Mutter-
liebe. Aber auch hier versagt der Trost, denn aus diesem Liebessehnen
erwacht die geschlechtliche Liebe, die ihn enttäuscht. P. glaubt dieses
Schwanken zwischen Wunsch und Enttäuschung, welches in dem Dichter
schließlich das Bewußtsein des Altwerdens erweckte, autobiographisch
wiedergegeben in der Dichtung „Toma“, er mißt deshalb diesem Werk
eine ganz besondere Bedeutung bei. In dieser Episode aus dem Leben
des altgewordenen Apostels Thomas findet P. fast die gesamte Summe
dessen wieder, was Javorov in seinem bisherigen Schaffen zum Ausdruck
gebracht: das nächtliche Dunkel, in das diese Szene getaucht ist, der Zuruf
der Apostel aus diesem Dunkel heraus, die Thomas an den Sternen ent-
zündete Fackeln bringen wollen, dessen Klage, daß das Alter ihn blind
gemacht habe, dann das Verlöschen der Fackeln usw. Das Motiv der
Blindheit, das hier zum ersten Male anklingt, kehrt dann häufig wieder in
Javorovs Dichtungen, in dieser Vorstellung wird die Qual der Vereinsamung
noch bilterer. Aus der Verzweiflung, die nur noch nach einem Nirvana zu
streben scheint, bildet sich jedoch die Vorstellung einer Flamme, die als
Symbol des Lebens und als das Streben nach einem Opfertode zu deuten
ist. In „Dvě duši“ kommt die Identität von Leben und Feuer am deutlichsten
zum Ausdruck. Die Flammen ihrerseits identifizieren sich für Javorov
weiterhin mit dem Begriff der Hölle, des Dämonischen. Dem Leben selbst
aber bleibt Javorov fremd. In einer seiner schönsten Dichtungen „Maska“
bringt er das zum Ausdruck, in „Smürt’ta“, das nicht zu seinen schönsten
Dichtungen zu zählen ist, aber zu denen, die für seine Gedankengänge
besonders typisch sind, ersteht dann die Vorstellung des allbeherrschenden
und allvernichtenden Todes, der „Allmuffer“, wie javorov sagt. Ihm, dem
jeder sonstige Glauben fehlt, wird der Tod schließlich zu Olauben und
Hoffnung, aber wieder schleicht sich der Zweifel ein, und der Dichter kehrt
zur sichtbaren Natur zurück und klammert sich liebend an ihre bescheiden-
sten Schöpfungen, die Veilchen „Temenugi“. Javorov endete durch Selbst-
mord, nachdem ein mißlungener Selbstmordversuch zur Erblindung geführt.
P. widmet noch der formalen Schönheit der Dichtungen einige Worte.
Die Sprache folgt den wechselnden Seelenzuständen mit wunderbarer
Feinheit. Züge, die an Maeterlynck erinnern: Ritornelle und Wieder-
holungen, scheinen der adäquate Ausdruck für diesen „Dichter des Viel-
leicht und des Wer weiß?“ zu sein. Es liegt in seiner Sprache eine äthe-
rische Leichtigkeit, sie schafft visionäre Vorstellungen, wie sie der Opium-
raucher haben mag. Diese Dichtung ist aber prophetisch zugleich. P. denkt
hierbei an die zwei Leitmotive der Javorovschen Dichtung: Blindheit
und Tod. Emmy Haertel.
451
RUSSLAND
N. K. Piksanov: Griboedov als Meister. — Novyj Mir, Marz 1929,
S. 141—156.
Dieser Artikel („Griboedov-Master“) entstand anläßlich des 100. Todes-
tages des Autors von „Verstand schafft Leiden“. Piksanov, Verfasser einer
Spezialarbeit „Die Schaffensgeschichte von Verstand schafft Leiden“ (Tvor-
ceskaja istorija Gorja of uma“, M. 1929), untersucht hier auf Grund unver-
öffentlichter Manuskripte die imene Entstehungsgeschichte der Griboedov-
schen Komödie. Er weist nach, cn dieser damals so ungewöhnlichen
Natürlichkeit und Leichtigkeit der dichterischen Sprache, die Zeitgenossen
wie Puškin, A. BestuZev, N. Greé u.a. entzückte, eine langwierige und harte
Arbeit des Dichters zugrunde lag. Die berühmten Verse, die heute noch als
Sprichworte gebraucht werden, kosteten dem Verfasser Anstrengung und
Mühe. Die ersten lyrischen und dramatischen Werke Griboedovs sind un-
beholfen und sprachlich klanglos und künstlich. Bereits die erste Redaktion
der Komödie sticht von ihnen vorteilhaft ab. Die zahlreichen Varianten der
einzelnen Verse zeugen von einer bewußten Arbeit, die der Einfachheit,
Volkstümlichkeit und rhythmischem Klang der Sprache galt. Auch ganze
Szenen wurden einer vollkommenen Umarbeitung unterworfen, die jedoch
an der Gesamtheit des dichterischen Planes, der von vornherein feststand,
nichts änderte. Die Komödie zeigt Griboedov als einen reifen Meister, den
geborenen Dramaturgen, der alle künstlerischen Mittel beherrschte und sich
über die Wichtigkeit der dramatischen Elemente — Knappheit und Lebendig-
keit der bildvollen Sprache, schneller Entwicklung der Handlung — voll-
kommen im Klaren war. Eugenie Salkind.
IL. Trockij: Der erste professionelle Verräter (Pervyj provokator-
professional). — „Novyj Mir“, Februar 1929, S. 182— 192.
Mit dem Namen von Ivan Servud (John Sherwood), des Verraters
der Dekabristen, beginnt die lange Liste der politischen Verräter in Ruß-
land. — Im Ausgange des 18. Jahrh. und im Anfang des 19. wird in Rugland
der Mangel an ausgebildeten technischen Kräften besonders spürbar. Unter
den zahlreichen Ausländern, die der Einladung Pauls I. Folge leistefen, be-
fand sich auch der Vater Servuds, ein Mechaniker aus Kent. Die Jugend-
jahre Servuds sind noch immer in ein tiefes Dunkel gehüllt, das auch seine
stark aufgebauschte Autobiographie nicht zu lüften vermag. Man begegnet
dem 22jährigen Servud zunächst in den Militärkolonien im Süden Rußlands,
wo er bereits als geheimer Polizeiagent zu wirken scheint. Hier gelingt es
ihm auch, der Südlichen Gesellschaft der Dekabristen auf die Spur zu
kommen und das Vertrauen eines Mitglieds (Vadkovskij) zu gewinnen.
Danach kommt die Glanzepisode seiner Karriere: der persönliche Bericht
en I.: dieser Verrat hat ihm später Adel, Geld und Stellung ein-
gebra
Nach der Unterdrückung des Dekabristenaufstandes wurde die berüch-
tigte Ill. Abteilung ins Leben gerufen. Dabei wurde in erster Linie an
Servud gedacht, der bereits eine Probe seiner Begabung und Initiative ge-
liefert hat. Anfang 1827 wird Servud, mit geheimen Instruktionen ausge-
rüstet, nach dem Süden Rußlands als Revisor geschickt. Hier spielt er
einen Revisor vom Chlestakov’schen Schlage. ü eibt seine Vollmacht
und wird schließlich abberufen. Jedoch im Jahre 1828 erscheint er wieder in
Kiev, gründet hier auf eigene Gefahr eine selbständige Polizeiorganisation
und bereitet eine neue Provokation vor: cr versucht aus den Resten der
Freimaurerkreise eine neue geheime Gesellschaft zu bilden. Der Plan wird
rechtzeitig entdeckt; der Gendarmenchef Graf Benkendorff vermerkie un-
gg auf dem ihm zugesandfen Bericht: „Eine reine Pest ist dieser
ervudi“ Er muß nun seinen Dienst quittieren, und es ge allmählich bergab
mit ihm: nach vielen zweifelhaften Spekulationen, Betrugsversuchen und
452
neuen Provokaltionen landet er in der Schlüsselburger Festung, nachdem er
eine verleumderische Anklage der Ill. Abteilung an seinen alten Gönner, den
Großfürsten Michail Pavlovic gerichtet hat. Im Jahre 1851 verließ S. die
Festung und starb 1867 als gebrochener hilfloser Mann; er erhielt jedoch
bis an sein Lebensende eine Unterstützung vom Hofe. — Diese Abenteurer-
karriere trägt die typischen Züge der Epoche: das Rußland Nikolaus’ I. war
ein Land der unbegrenzien Möglichkeiten für einen Mann, der gleich Servud
die Tradition des westlichen Abenteurertums in Rußland fortsebte und keine
Mittel scheute, um seine dunklen Zicle zu erreichen. Eugenie Salkind.
G. Steklov: N. O. CernySevskij. — Krasnaja Nov’. August 1928.
S. 154— 170.
Der bekannte bolSevistische Forscher der russ. revolutionären Be-
wegung widmet hier einen. Artikel über C. zum Andenken an seinen 100-
jährigen Geburtstag (12./24. Juli 1828). C. wurde durch den Einfluß der revo-
lutionaren Stimmung im Europa von 1848, durch die Lektüre der französi-
schen Utopisten und deutscher materialistischer Philosophie zum Revo-
lutionar geformt. — Seine Bedeutung für das revolutionäre Rußland war
enorm. war hier der erste Prediger der materialistischen Philosophie
Feuerbachs und Bekämpfer der idealistischen Doktrin. Unabhängig von
Marx, den er vor seiner Verhaftung nie gelesen hatte, kam C. zum histo-
rischen Materialismus. Auch er sieht nur ökonomische Ursachen im histo-
rischen Prozeß und im Klassenkampf das Grundprinzip der Geschichte.
Als Nationalökonom treibt er ähnlich wie Marx scharfe Kritik der
bürgerlichen Wissenschaft. Obwohl der Autor Č. zu den Utopisten zählt,
da er in seinen nationalökonomischen Anschauungen die russische Ge-
meinde als zukünftiges revolutionäres Grundprinzip sieht, so nennt er ihn
doch den ersten revolutionären Kommunisten. C. hoffte, daß Rußland durch
die Gemeinde eine verkürzte kapitalistische Periode durchzumachen hatte,
daß die zukünftige Revolution eine Bauernrevolution sein werde, die durch
die Revolution des westlichen Proletariats unterstützt werden würde.
Seit 1858 stand C. an der Spitze der russ. radikalen Intelligenz und
führte auf den Seiten des Sovremenniks Kampf für eine radikale Durch-
führung der Bauernreform und gegen den gemäßigten Liberalismus. Nach
der Auffassung C.’s glaubt Verf. behaupten zu können, daß nach dem Um-
schwunge in Rußland eine radikale revolutionäre Partei die Macht ergreifen
würde und mit energischen Maßnahmen, rotem Terror, politischer Entrech-
tung der besitzenden Klassen, Enteignung von Land und Kapitalien die
Prinzipien der Revolution ins Leben einführen müßte. Andererseits muß
der Autor zugeben, daß C. für den Moment sich mit einer demokratischen
Konstitution zufrieden gegeben hätte.
Die Gruppe um C. gab Proklamationen heraus, von denen einige von
C. selbst verfaßt wurden. Nun aber wurde C. auf Orund einer anonymen
Denunziation und des Verrats eines gewissen Kostomarov verraten; ohne
jegliche Beweise für eine Schuld verurteilt, kam er in die Verbannung.
Aus Sibirien kehrte er als müder und erschöpfter Oreis zurück, aber seine
revolutionäre Gesinnung war nicht zermürbt, und sein wissenschaftliches
Interesse war lebendig.
Nach seinem Tode waren in ganz Rußland e für
sein Andenken. Sein Name wurde zum Symbol für alle Kämpfer für ein
neues Rußland Nadežda Jaffe.
Autobiographische Bekundungen M. F. Gratevskij’s. — Krasnyj Archiv
Bd. 18, S. 149— 162.
Zur Biographie Gracevskij’s und zur Geschichte sai revolutionären
Bewegung der siebziger jahre bringt S. Valk die „Avtobiogra-
ficeskie pokazanija M. F. Oralevskogo". Es sind das Auf-
455
zeichnungen, die Gracevskij (geb. 1849, gest. 1887) 1882 auf Verlangen der
Gendarmerie niederschreiben mußte und die zu seinen a gingen.
Schreiben A. P. Stapov’s an Alexander IL im Jahre 1861. — Krasnyj
Archiv Bd. 19, S. 150—156.
Aus Anlaß der Bauernbefreiung kam es im Jahre 1861 zu Unruhen m
Dorfe Bezdna, Gouvernement Kazań, die zu Erschießungen von Bauern
dieses Dorfes führten. An der Bahre dieser Opfer wurde eine demon-
strative Totenmesse abgehalten, über die der Krasnyj Archiv Bd. 17,
S. 181—185, einen Beitrag brachte. Beteiligt hatte sich an der Totenmesse
auch der junge Geschichtsprofessor an der Kazaner Universität Afanasg
Séapov und wurde hierfür seines Amts entsetzt und nach Petersburg ver-
bannt. Hier in Petersburg ist von ihm das ,PiSmo A. P. S€apova
Aleksandru Il v 1861 godu“ geschrieben worden, das A. Si-
doro nach dem Original im Moskauer Archiv Revoljucii 1 Vnešnej Poli-
tiki mit kurzem Begleitwort hier publiziert. ae
Stapov, der nach friedlicher Evolution sucht und dem die politischen
Zustände Englands lockend vorschweben, entwirft dem Caren einen Plan,
wie von der Hebung des Bildungswesens und seiner Befreiung von allen
Fesseln ständischer Ungleichheit der Weg zur Selbstverwaliung der Pro-
vinzen und von da zum zentralen Selbstverwaltungsorgan des Reichs, eben-
falls unter Aufhebung ständischer Ungleichheit, führen soll. Für die Frei-
heit des Worts und der Presse, die selbstverständlich kommen muß, sicht
er ebenfalls eine allmähliche Entwicklung vor. Eine besondere Note b
seine Vorschläge zur wirtschaftlichen Verselbständigung der einzelnen Ge-
biete Rußlands, er verweist dabei als abschreckend auf die Zentralisierung
des Bankwesens in Frankreich.
Diese Vorschläge schließt Scapov mit der Bitte um Wiederzulassung
zu stiller Gelehrtenarbeit, die ihm bekanntlich nicht mehr zuteil wurde.
Harald Cosack.
Seton-Watson: „Pobedonoscev and Alexander III.“ — Slavonic
Review. Juni 1928.
Verf. behandelt hier die Beziehungen Pobedonoscev’s zu Alexander Ill.
in dessen Kronprinzenzeit. f
Als Hauptquelle dienen die Briefe P.’s an die beiden Schwestern
Tjutéev, Töchter des berühmten Dichters. Mit der jüngeren, Anna, hatte P.
in den 60er Jahren bei Hofe Bekanntschaft geschlossen, wo sie Erzieherin
einer der Prinzessinnen war. P. war damals Erzieher des früh verstorbe-
nen Kronprinzen Nikolai Aleksandrovič. Als Anna 1865 den berü
Slavophilen Ivan Aksakov heiratete, den oft Meinungsverschiedenheiten von
P. trennten, trat die jüngere Schwester, Katharina, als P. s Vertraute an
ihre Stelle; von den 550 jebt veröffentlichten Briefen sind 40 an Anna, die
anderen an Katharina gerichtet. Katharina fand mit P. ein gemeinsames
Terrain in slavophilen und religiösen Anschauungen.
P. war, wie man es aus den Briefen an die Schwestern Thutéev ersieht,
zuerst dem Oroßfürsten Nikolai Aleksandrovič freu ergeben und übersah
den jüngeren Bruder vollkommen. Auch nach dem am 12. April 1865 er-
folgten Tode Nikolai Aleksandrovic's blieb der durch das Unglück gebeugte
P. dem Andenken seines früheren Lieblingsschülers treu, und erst 1867
näherte er sich dem neuen Kronprinzen. Er entdeckt in ihm ein russisches
Herz und ist von dem idealen Familienleben im kronprinzlichen Hause be-
geistert. Er berät und leitet das etwas unbeholfene Kronprinzenpaar,
und seine Stellung ist die eines erwachsenen Freundes halbwüchsigen
Kindern gegenüber. Der Kronprinz unternimmt nichts, ohne seinen Lehrer
um Rat zu fragen.
454
Was war es, was den Kronprinzen zu P. zog? Erstens scine kirchliche
Gesinnung. Alexander hatte starke religiöse Interessen von seiner hessi-
schen Mutter geerbt, deren Haus sich scheinbar damit auszeichnete. Die
Briefe des Kronprinzen an P. enthalten oft Danksagungen für geschenkte
Ikonen. Zweitens waren slavophile Sympathien dem Kronprinzen und P.
pemanan, oft nicht im Einklang mit der herrschenden Politik. Der
uthene ee wurde im e 1875 durch P. s Vermittlung am Kron-
prinzenhofe emp fangen, obwohl die herrschenden Kreise gegen einc anti-
Österreichische Politik waren. Der bekannte Slavenforscher Lamanskij hielt
vor dem Turkenkriege, dem Kronprinzenpaare von P. empfohlen, bei ihnen
Vorträge über die s avide Frage. Drittens war es das innere Zerwürfnis
zwischen Vater und Sohn, das P. auszunutzen verstand. Der Kronprinz
hatte sich dem Vater durch das Verhältnis des Caren zur Fürstin Dolgorukij,
die nach dem Tode der Carin morganatische Gemahlin Al. Il. wurde, be-
sonders entfremdet. P. ist aber immer ein Feind Al. Il. gewesen, ein Feind
seiner losen Sitten, seiner unentschlossenen Politik, sogar seiner Reformen,
wie er es selbst in einem Briefe vom Jahre 1864 an Anna Tjutéev zugibt.
Auch während des Türkenkrieges hat P. nur Worte der Verachtung für die
zaghafte Politik des Kaisers. Dieses gemeinsame Frondieren der Regie-
rungspolitik ist es, was den Kronprinzen und P. mit unsehbaren Fäden ver-
knüpft. Beide sind sie, wie man aus der Korrespondenz ersieht, durch die
Entlassung extremer Nationalisten aus dem Wilnaer Distrikt empört, beide
sind sie mit der russischen Politik im Türkenkriege unzufrieden.
Und wir sehen, wie allmählich P. gegen den schwachen Monarchen im
Kronprinzen eine starke Säule der Reaktion erzieht, und wir wundern uns
nicht, daß während der Regierung seines politischen Schülers die Gestalt
P.s als die des größten Machthabers auftaucht. Nadežda Jaffe.
Zur Geschichte der „Zemlja i Volja“ der 70er jahre. (Das Pro-
gramm der Niederlassung der Zemlevol’cen im Gouv. Tambov).
— Krasnyj Archiv Bd. 19, S. 166—177.
In diesem Aufsatz unter dem russischen Titel „K istorii Zemli i
Voli 70-ch godov (Programma tambovskogo poselenija
zemlevol’cev)" behandelt B. P. Koźmin den Übergang der sozial-
revolutionären Intelligenz vom ,,choZdenie v narod“ des jahres 1874 und
der „fliegenden“ Propaganda zur dauernden Niederlassung innerhalb der
Bauern und zur politischen, auf lange Sicht abgestellten Erziehung der
eieren und bringt im Anhang das Programm der Zelle, die sich für diesen
Zweck Anfang 1878 im Gouv. Tambov bildete. Koźmin stellt fest, daz der
Sozialismus und die soziale Revolution wohl das endliche Ziel blieben, von
aber dieses ganz weil in den Hintergrund gerückt wurde und die Tatigkei
im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten an die Stelle trat. Wie Krav-
Einskij das in Nr. 1 der „Zemlja i Volja“ formulierte, sollte „sich der So-
zialismus des deutschen Gewandes entledigen und den Bauernkittel an-
legen“. Koźmin verweist auf die Gegensäßlichkeit zwischen der revolu-
tionären Intelligenz jener Zeit in Stadt und Land, auf die Gegensäßlichkeit
zwischen den hier behandelten Bestrebungen und dem Terror, der alsbald
in Blüte kam, und konstatiert, daß die „Dereven3£iki” (die im Dorf Wir-
kenden) die in den 80er jahren einsezende Form der langsamen politi-
schen Aufklärung antizipierten. An sich war den „Derevenščiki“ kein Er-
folg beschieden, weil die Verfolgung durch die Regierung zu wirksam war;
so wurde die Tambover Niederlassung bereits 1879 vernichtet.
Harald Cosack.
A. Bem: Gogoľ i Puškin v tvortestve Dosioevskago. — Slavia 7, 1
(1928). S. 63—86.
1. Gogols „Nos“ und Dostoevskijs „Dvojnik“. — Die vorliegende Arbeit
soll die Studien über Dostoevskijs Beeinflussung durch Gogol an dem Punkt
455
weiterführen, wo die Vorgänger Bemi aufgehört hatten. Die Ahnlichkeit
zwischen beiden Werken hat schon beim Erscheinen des „Dvojnik“ Ver-
wunderung erregt, eine Kritik v. J. 1847 spricht von Nachahmung, wobei
Gogols Originalität Dostoevskij gegenüber besonders hervorgehoben wird.
„Wir verstehen einfach nicht, wie diese Erzählung erscheinen konnte,” sagt
der Kritiker. B. teilt diese Anschauung, die ja in der kritischen Literatur
mehrfach geäußert worden ist, und ergänzt in einer Reihe von Textgegen-
überstellungen aus beiden Erzählungen „Poemen“, wie sie auch überein-
stimmend heißen (?), das früher gesammelte Material. Aus diesen Bei-
spielen geht deutlich hervor, dab der junge Dostoevskij sich nicht im minde-
sten geschcut hat, dem Leser die Ahnlichkeit mit Gogols „Nos“ klarwerden
zu lassen. Sollte der junge Schriftsteller aus bloßer Unbeholfenheit das
geian haben? B. meint, daß „Dvojnik“ im gesamten Schaffen Dostoevskijs
ein wichtiges gedankliches Bindeglied darstellt. _Dostoevskij selbst hat im
„Dnevnik pisatelja" gesagt, die Erzählung sei zwar mißlungen, aber die thr
zugrunde liegende Idee sei klar ausgedrückt, ja er sagt, daß er eine ernstere
Idee kaum je behandelt habe. Tatsächlich findet B., daß in den späteren
Werken Dostoevskijs immer wieder der gedankliche Wert dieser frühen
Arbeit zu erkennen ist. So erinnert man sich ihrer z. B. in der bekannten
Szene von dem Älpdruck Ivan Karamozovs. Die Ähnlichkeit der Ideen ist
auch von anderer Seite erkannt worden. Es bleibt nur die Frage: warum hat
Dostoevskij den Ideengehalt seiner Erzählung gerade mit Gogols „Nos“ zu-
sammengebracht und dazu in so herausfordernder Weise? Und auf diese
Frage soll die vorliegende Studie Antwort geben. B. weist darauf hin, daß
von den beiden Teilen, in die Gogols Erzählung zerfällt, nämlich die Szene
beim Friseur und Kovalevs Erwachen ohne Nase usw., Dostoevskij nur der
lebtere interessiert zu haben scheint, er fängt seine Erzählung mit dem
Erwachen des Helden an, beide, Kovalev und Goljadkin blicken zuerst in
den Spiegel. Es folgt dann eine Zusammenstellung bei B. all der zahl-
reichen Redewendungen im „Dvojnik“, die das Wort „Nase“ metaphorisch
angewandt zeigen, was im allgemeinen russischen Sprachgebrauch nicht
üblich ist. Mag also die Nasengeschichte an sich für Dostoevskij viel Ver-
lockendes gehabt haben, so hat er doch die Unmöglichkeit gefühlt, seine
eigene Erzählung ım Geiste Gogols durchzuführen, bei ihm wurde das phan-
tastische Verschwinden der Nase zur Tragödie seines Helden. Wenn er
aber auch davon absah, sein Sujet so zu behandeln wie Gogol das seine,
so hat er doch dem Gegenstand nach eine Menge Gogols alu ähnlicher
Momente beibehalten. So z. B. die Figur des Arztes, die bei Gogol eine
rein komische Episode bildet, bei Dostoevskij aber zum tragischen Moment
wird. Auch die Figuren der Diener, die in „Nos“ und „Dvojnik“ vorkommen,
zeigen den grundsätzlichen Unterschied zwischen komischer und tragischer
Bestimmung. B. führt noch andere ähnliche und doch grundverschiedene
Szenen beider Werke an.
Grundverschieden in beiden ist der Begriff der Schuld gefaßt, bei Gol-
jadkin handelt es sich um eine Tragödie des Gewissens, eine Tragödie des
unklaren Schuldbewuftseins eines kleinen, aber in seinem Schicksal tra-
gischen Menschen, während bei Gogol in „Nos“ der Begriff der Schuld nicht
verinnerlicht ist. Doch stimmen hier beide Erzählungen wieder in einer
Außerlichkeit überein. In der einen wie in der anderen führt die Frage
der Schuld zu einem Briefwechsel, also wieder ein und derselbe Kunst-
kniff bei verschiedener innerlicher Bedeutung. Wollte sich Dostoevskij von
der Nasengeschichte frei machen, die nicht in sein Konzept paßte, so fand
er bei Gogol den Weg dazu angedeutet: Kovalev sagt in der Szene im
Redaktionsbüro, er wolle seiner Nase wegen inserieren, d. h. gewisser-
maßen um seiner selbst willen. Hier zeigt sich also bereits de: Grund-
gedanke des Doppelgangertums! Bem behandelt nun eingehend den schon
bei Gogol zu ver folgenden Prozeß des „samozvanstva”, welcher bei Dostoev-
skij bis zu den äußersten Grenzen weitergebildet ist. In der ersten Fassung
des „Dvojnik“ war dieser Begriff sogar noch schärfer ausgeprägt, wie aus
dem Brief an Bachrameev zu sehen ist, der später fallen gelassen wurde.
Dostoevskij ist später in den „Besy“ und den „Bratja Karamazovy” noch
456
einmal zu diesem Thema zurückgekehrt. Bedeutungsvoll in psychol
Hinsicht wird bei Dostoevskij auch der bei Gogol nur flüchtig angede Kern
Gedanke des Sich-über-seinen-Stand-erheben-Wollens, der in „Prestu lenie
i nakazanie“ zum Grundmotiv werden sollte. Auch hierüber enthielt der
Brief an Bachrameev aufschlußreiche Stellen. Wo aber dieses Feuer der
Unzufriedenheit im Innersten brennt, ohne sich nach außen zu dokumentieren,
da drängt es zu einer innerlichen Usurpation, zum Traumen davon, und hier
liegen wieder die Keime zum Leben im ,,podpol’e“, dessen Held sich schließ-
lich als Zentrum des Weltgeschehens fühlt. Nach der Ansicht Bems hat
Dostoevskij bei der Übernahme einer solchen Menge von Einzelmomenten
aus „Nos“, die er seinem innersten Wesen nahestehend empfand, dann aber
in einer ihm nicht eigenen stilistischen Form gestaltete, den Wunsch gehabt,
Gogols „Nos“ seinen „Dvojnik“ gegeniiberzustellen. Das Vorhandensein
der Beeinflussung ist nicht anzuzweifeln, aber es war ein Einfluß nicht an-
ziehender, sondern abstoßender Art, und so ist man berechtigt, den „Dvoinik“
als eine originelle Beantwortung von Gogols „Nos“ zu betrachten.
Emmy Haertel.
Vjačeslav Polonskij: „Tolstoj i marksistskaja kritika.“ —
Pečať i Revoljucja, 1928, Sentjabr (S. 7—49).
Verf. bringt in seinem Artikel eine Kritik des marxistischen Kritikers
Olminskij, der die Werke Tolstoj’s als reaktionär und daher schädlich und
gefährlich charakterisiert hat. — P. sicht den Fehler Olminskij's darin, dab
er Tolstoj den Denker von Tolstoj dem Dichter nicht differenziert. Ganz
anders Lenin, der viele Artikel vor der Revolution Tolstoj widmete.
Für ihn war Tolstoj der Ideologe des Bauerntums, der die Ideen dieser
Gesellschafisschicht in vollkommener Weise ausdriickte. Lenin schabt die
glänzende Kritik, mit der Tolstoj gegen die bürgerliche Gesellschaft hervor-
tritt, sehr hoch ein, beschuldigt ihn aber eines vollkommenen Unverständ-
nisses für die inneren Ursachen dieser Mißstände, die für einen Bauern
natürlich wären, für einen europäisch gebildeten Schriftsteller aber un-
begreiflich seien. Er halt den künstlerischen Protest T.s, seine geniale
Kritik für den Proletarier für sehr wertvoll. Seine Predigt aber — des
Nichtwiderstehens dem Übel — ist ein Gift, ähnlich wie die Religion. Für
Lenin ist Tolstoj ein Mann der Zeitperiode 1864—1904, als alles Alte zer-
trümmert wurde, die neuen Ideale aber noch sehr dunkel und unvollkommen
waren. Auch Plechanov befaßte sich mit T. Ein glühender Verehrer des
künstlerischen Genies IT. s, hält P. ihn für einen sehr schwachen philosophi-
schen Denker, für einen vollkommenen Metaphysiker. Das, was für den
Proletarier bei T. wertvoll ist, ist sein Haß gegen die Unterdrücker, seine
Verachtung der bürgerlichen Gesellschaft. Seine Philosophie aber, als eine
religiöse, ist für das Proletariat unannehmbar. Aber auch in I. s philo-
sophischen Werken schätzt Plechanov den hohen künstlerischen Wert seiner
zerschmetternden Kritik.
Ein anderer marxistischer Kritiker, L. Axclrod, sicht in Tolstojs Seele
die faustische Tragödie: „Zwei Seelen wohnen — ach — in meiner Brust.“
Die cine Seele war heidnisch und liebte das Leben, die andere war christ-
lich und rief zum Asketentum. Je mehr der Christ in T.s Seele Sieger
wurde, desto schwächer wurde sein künstlerisches Genie. Und zulebt
brachte ihn das Christentum zu der alten religiösen Rechtfertigung der
sozialen Ungleichheit.
Polonskij bedauert, daß nur das philosophische Denken T.s durch die
marxistische Kritik berührt wurde, daß sein gewaltiges künstlerisches Werk von
der marxistischen Methode noch nicht untersucht wurde. Nadežda Jaffe.
M. Aldanov: „über Tolstoj.“ — Sovremennyja Zapiski, Okt. 1928,
S. 264—273.
Verf. hebt die sehr glückliche literarische Laufbahn Tolstoj’s hervor. Mit
einem Meisterwerk fing er an — mit einem Meisterwerk endete er.
457
Vielleicht nicht so seine Romane, wie seine eigentiimliche phische
Lehre brachten ihm europäische Berühmtheit. Aber doch ging de Mensch-
heit an seiner Moralphilosophie vollkommen gleichgültig vorüber. Als Ant-
wort auf seine Lehre kamen der blutige Krieg, die Revolution, die Ceka:
„Die Männer der Tat“ haften immer nur 3 für seine Gedanken.
Clemenceau hätt ihn für einen ei ee Witte nennt seine Gedanken
„Kindereien”. Die größte Verachtung er Lenin ein, der von seiner
Lehre schreibt: „Es ist die Predigt einer der verruchtesten Sachen, die es
in der Welt gibt, nämlich der Religion; ein Versuch, die jebigen Pfaffen
mit Moralpredi gem zu erseben, d. h. ein utopistisches und darum besonders
ekelhaftes Pfaffentum in die Welt zu seben.“ Tolstoj war der Dichter einer
bestimmten Klasse. Er kannte und liebte nur die Aristokratie und das
Bauerntum. Er haßte die Bourgeoisie und die Intellektuellen. Daher ist er
vielleicht so besonders groß im historischen Roman, da er hier nur mit den
Kreisen in Berührung kommen muß, die er kennt und liebt. In den lebten
Tagen vor seinem Tode schrieb Tolstoj in seinem Tagebuch: „Es fällt mir
schwer, in diesem Irrenhause zu leben.“ Er dachte wohl an die aja
Poljana, vielleicht auch allgemeiner. Nadežda Jaffe.
V. Friče: Lenin über das Klassengesicht Tolsioj’s. — Proletarskaja
Revoljucja, N. 4. April 1928. S. 3— 12.
Fr. nennt T. den Mann des alten Rußland — Lenin des neuen. —
Lenin hatte das größte Interesse für das Genie T.s. Er sah in ihm die
Kraft und die Schwäche des russischen Bauerntums: — einerseits den
scharfen Protest, andererseits die volle Hoffnungslosigkeit. L. sieht etwas
östliches, indisches in der Kampfunlust T.s, in seinem „Nichtwiderstehen
dem Übel“. — Aber nach 1905 erwachten revolutionäre Stimmungen auch
in der Bauernschaft, und T. hatte recht weon er zu Goldenveiser sagte:
Die werden jebt alles zertrümmern, au
ie war Lenins Stellung zu Tolstoj nach der Oktober-Revolution, als
die russische Revolution tatsächlich alles zertrümmert hatte? or über-
raschte einst Lenin, als er gerade „Krieg und Fricden“ las. L. sagłe zu
Gorkij: „Was ist das für ein Kiinstler! Wer in Europa kann mit ihm ver-
gaien werden? Keiner.“ — Für den Denker Tolstoj, der gegen die Grün-
ung der Roten Armee, gegen den Kampf mit der Bourgeoisie protestiert
hätte, hatte aber Lenin auch damals wahrscheinlich kein Verständnis.
Nadežda Jaffe.
Frankreich und Tolstoj. — Novyj Mir, Januar 1929, S. 248—255.
Boris Pesis behandelt in seinem Artikel „Francija i Tolstoj“ das Ver-
haltnis Frankreichs zu dem Künstler und Moralisten Tolstoj. Der Name des
russischen Dichters begann in den achtziger Jahren des vorigen Jahrh. in
Frankreich bekannt zu werden. Bereits 1875 erschien seine Erzählung „Zwei
Husaren“ in französischer Übersekung; vier Jahre darauf folgte „Krieg und
Frieden“ und erregte fast unmittelbar nach seinem Erscheinen Aufsehen in
den literarischen Kreisen. Turgenev übernahm die Sorge für die Ver-
breitung des Werkes, das er ausnehmend hoch schäbte: er schickte Re-
zensionsexemplare an die prominentesten Kritiker und Schriftsteller, u. a.
auch an Flaubert. — Das große Publikum zeigte zunächst wenig Verständnis
für Tolstojs Werk. Erst 1888, als „Krieg und Frieden“ in einer neuen Aus-
gabe, gleichzeitig mit einer umfassenden u des Kritikers M. de
Vogué erschien, wurde das Interesse des Publikums plötzlich wach. Der
Erfolg war überraschend, Uberseber und Verleger rissen sich um die
Manuskripte Tolstojs; in diesen Jahren erschienen „Krieg und Frieden”,
„Anna Karenina“, „Die Kindheit“, „Polikuska“, „Der Tod des Ivan IPic™
u. a. m. — Dieser beispiellose und auf den ersten Blick unbegründete Er-
458
he rone einen Teil der Kritik zum Widerspruch: man beschuldigte das
likum des an zum Exotischen, ja man warf ihm sogar Mangel an
Patriotismus vor. e 1 fanden jedoch die Ursache der Be-
geis erung für T. in de eaktion, die nach der Herrschaft des Naturalismus
eintreten mußte. Der Kritiker André le Breton verglich Tolstoj mit Hugo
und fand bei den beiden Dichtern, trob des Unterschiedes der Schule und
Epoche, die gleiche Tendenz der „sozialen Barmherzigkeit“. Was die for-
melle Bewertung von neg, und Frieden“ anbetraf, so waren sich alle
Kritiker darüber einig, daß die klassische A eschlossenheit und Klarheit,
die die französische Dichtung auszeichnen, Tolstoj vollkommen fehlten. In
„Anna Karenina” dagegen begrüßte man den „fast westeuropäischen
Roman“. Der Moralphilosoph und Soziologe Tolstoj fand eine begeisterte
Aufnahme in den intellektuellen Kreisen der jungen Generation. Man ver-
glih die Wirkung seiner Schriften mit dem Eindruck, den seinerzeit
»Contrat social“ auf das vorrevolutionare Frankreich machte. — Der
heutigen französischen Jugend ist Tolstoj und seine Ideale fremd: das
moderne Epikuräertum hat nichts in der Predigt der Askese zu suchen. Die
. brachte vornehmlich Erinnerungen der älteren Tolstoj-
erehrer, wie Rolland und Jean-Richard Bloch. Die beste Charakteristik
Tolstojs gehört Anatole France („Hommage à Tolstoj“, 1910): „T. ist die
Seele und Stimme des großen Volkes, eine Quelle, aus der jahrhundertelang
Menschenkinder und Hirten der Menschheit schöpfen werden.“
Eugenie Salkind.
Die marxistische Presse 1896-1906. — Krasnyj Archiv Bd. 9,
S. 226—268, Bd. 18, S. 163— 194.
Unter dem Titel VN periodileskaja pečať
1896-1906 g. g.“ bringt V Poljanskij die Geschichte, der Zeit-
schriften „Samarskij Vestnik“, „Novoe Slovo“, „Načalo“, » »Naučnoe
Obozrenie“, „Mir Bozij* und der „Pravda“ in Moskau. Der Schwerpunkt
der Übersichi ruht in den Personalien der Redakteure und Mitarbeiter und
im fast für alle Zeitschriften aussichtslosen Kampf mit den Organen der
staatlichen Zensur. Das Jahr 1906 ist als Grenze gesetzt. weil sich mit
diesem Jahr die Zensurverhältnisse änderten. Harald Cosack.
Popov, A.: Die englische Politik in Indien und die russisch-indi-
schen Beziehungen 1897 1905. — Krasnyj Archiv Bd. 19, S. 53— 63.
In der Hauptsache an der Hand von Berichten der Londoner Botschaft
und des Generalkonsulats in Bombay gibt A. Popov in „Anglijskaja
politika v Ind ii i russko-indijskie otno3enija v 1897
do 1905 gg.“ ein Apercu der Gegensablichkeiten zwischen Rußland und
England, wie sie bekannt sind. Zu bemerken ist, wie hellhörig die russi-
schen Vertreter im Auslande in bezug auf jede antienglische Regung
in Indien und wie empfänglich die russische Regierung und der Car für
die Berichterstattung dieser Vertreter waren. Hervorzuheben ist auch, daß
Popov die Versuche der Russen, auf dem indischen Markt Fuß zu fassen,
berücksichtigt. Naphtha ist das Hauptmitte! dazu, wird aber durch die
Standard Oil Company verdrängt; Zucker und Textilien werden von den
Engländern erfolgreich abgewehrt, kaum daß sie sich auf den indischen
Markt vorwagen. Harald Cosack.
Die carische Diplomatie über die Aufgaben Rußlands im Orient im
Jahre 1900. — Krasnyj Archiv Bd. 18, S. 3—29.
Mit einem Vorwort M. Pokrovskij’s gibt A. Popov aus der Ab-
teilung „Sekreinyj archiv ministra“ im Archiv der Revolution und auswär-
tiger Politik folgende Aktenstücke heraus, die in der hier eingehaltenen
dnung in einer Mappe mit der Aufschrift „1900 Personnel et trés secret,
459
Nr. 29° liegen: 1. Die Kopie des Berichts des Außenministers Murav'ev an
den Caren, der alle Aufgaben russischer Politik von Ceuta und dem Bos-
porus über Persien und Afghanistan bis Korea behandelt, vor jeder gewali-
samen Handlung warnt und am 25. Januar 1900 das Plazet des Caren er-
halt. (S.4—18); 2., 3. und 4. die Stellungnahme des Verwesers des Marine-
ministeriums P. Tyrtov (S.18—21), des Kriegsministers Kuropatkin (S. 21 — 22)
und des Finanzministers Witte (S. 22—25) in der Form von Schreiben aa
den Außenminister; 5. der Bericht des letzteren an den Caren mit dem
Resümee der Stellungnähme der obengenannten Minister. Den Ausschlag
für Rußlands Passivität während des Burenkrieges dürfte Witte gegeben
haben, der die Anspannung der Finanzen des Reichs ablehnt. Einig sind
sich alle drei ministeriellen Gutachten darin, daß die Festsetzung am Bos-
porus wichtig sei. Während Witte die Realisierung dieses Zieles nur durch
einen europäischen Krieg für möglich hält, sieht Kuropatkin den Weg in der
Erneuerung alter Abmachungen mit Deutschland. Im Interesse der zentral-
asiatischen Probleme plädiert Kuropatkin für ein Abkommen mit England
on. Tyrtov wünschte primo loco die Besibergreifung eines Hafens in
üdkorea.
Pokrovskij wendet sich gegen die übliche Auffassung, als hätten die
Probleme der Politik Rußlands im Nahen und Fernen Osten unvermitich
nebeneinander bestanden, und verweist auf die hier publizierten Dekumente
als Beweis des Gegenteils. Harald Cosack.
Briefe Wittes an Sipjagin aus den Jahren 1900 und 1901. — Krasnyj
Archiv Bd. 18, S. 30—48.
Aus den Archivalien des ehemaligen Innenministers Sipjagin entnimmt
B. Romanov die von ihm hier publizierten 15 „Piś ma S. Ju. Vitte k
D. S. Sipjaginu“, deren Datierung er bis auf den Brief Nr. 1 feststellt.
Als Witte seine Memoiren schrieb, hat er diese Briefe von der Witwe Sip-
jagins erbeten und erhalten, was nicht ohne Interesse ist, da ihre Benutzung
sich an Wittes Memoiren nicht nachweisen läßt. B. Romanov folgert aus
dem Zurückgreifen Wittes auf diese Briefe, dab Witte sie wohl schon im
Hinblick auf ihren Wert als zukünftige Quelle geschrieben hat.
Der erste Brief enthält eine Auseinandersekung über die Stellung des
Caren, die Briefe Nr. 2—13 von Anfang Juli—Ende Oktober 1900 drehen
sich in der Hauptsache um den Boxeraufstand und den Gegensab zwischen
Witte und Kuropatkin in Sachen der russischen Politik im Fernen Osten.
Brief Nr. 14 v. 7. Juli 1901 behandelt allerlei, die finnlandische Frage und
die Mißernte und die Wühlarbeit Bezobrazovs. Brief Nr. 15 v. 12. Juli 1901
zeigt die Intrigen Bezobrazovs und Genossen schon in voller Blüte und den
Caren in torichtster Empfänglichkeit für sie. Schon in früheren Briefen läßt
Witte die Unsicherheit seiner Position durchblicken, im lebten ist er am
deutlichsten. Harald Cosack.
Die Korrespondenz zwischen Witte und Kuropatkin 1904—1905. —
Krasnyj Archiv Bd. 19, S. 64—82.
Im Archiv der Oktoberrevolution, Abt. Sturz des alten Regimes, befinden
sich sowohl das Archiv Wiftes als das Kuropatkins. Die hier u. d. T.
„Perepiska S.Ju.Vitte i A. N. Kuropatkina v 1904-1905 gg.“
veröffentlichten und von G. Stopalov mit einem Begleittext versehenen
Briefe Wittes sind im Original, die Kuropatkins in Kopie erhalten. Sie
beginnen mit dem 28. März/10. April 1904 und laufen bis zum Ende Juni/An-
fang Juli 1905. Wittes Datierungen sind von außerordentlicher Nachlässig-
keit und Unvollständigkeit, die Kuropatkin sorglich emendiert. _ ;
Witte, Lamdsdorff, Kuropatkin waren alle drei gegen den japanischen
Krieg gewesen, daher eine gewisse Solidaritat zwischen Witte und Kuro-
patkin, die sich in den Briefen kundgibt. Beide stehen auf dem Stand-
punkt, daß die Westgrenze und die innere Ordnung die Hauptaufgaben
440
seien. Beide glauben zu Anfang des Krieges an Rußlands Sieg, sind sich
aber über die Kriegsziele nicht einig und gehen seit Januar 1905 in ihren
Ansichten über Krieg und Frieden auseinander, weshalb Kuropatkin die
Korrespondenz von Januar bis Anfang Juni 1905 n. St. unterbricht und in
dieser Zeit nur eine abweisende kurze Nachricht vom 27. März/9. April Witte
zukommen läßt. Auch nach Zusima ist Kuropatkin für die Fortführung des
Krieges (Brief Nr. 10), auf den Witte sofort mit einem umfangreichen Brief,
der die Vorgänge seit Kurino’s Vorschlägen von Ende Juli 1905 rekapituliert,
die Lage innen- und außenpolitisch schildert und für den sofortigen
Frieden und einen 20—25jshrigen nachfolgenden Friedenszustand ein-
trit. Bereits um die Wende vom Mai zum juni 1904 faßt Witte die
Situation so zusammen: „Überall ist das Umgekehrte von dem geschehen,
was man wollte. Sie wollten nicht angreifen und sogar zurückgehen,
um später vorzugehen, was nach meiner ausgesprochenen Ansicht viel
besser gewesen ware, als was geschehen, und es ereignete sich das
Gegenteil — Sie begannen anzugreifen. Herr Plehwe dagegen war
überall bereit, alles niederzuschlagen und alles anzugreifen, und zieht sich
jezt auf der ganzen Linie feige zurück.“ Ausgerechnet Plehwe, meldet
‚hierbei Witte, hat sich für die Erweiterung der Rechte der Juden ein-
gesebt. Bereits nach Plehwes Ermordung ist Witte „für eine radikale
Anderung des Regimes“. Als das Manifest vom 12.25. Dezember 1904
zustande kommt, gratuliert Kuropatkin Witte aufs wärmste, der aber bei
Beantwortung dieses Schreibens mit der wohltuenden Wirkun ngar dieses von
Nikolaus Il. persönlich verstümmelten Manifests nicht mehr re
Diese Skizze erschöpft keineswegs den Inhalt der Briefe. Das Miß-
trauen Wittes gegen Deutschland findet seinen Ausdruck; ebenso die Tat-
sache, daß er erst nach Plehwes Tod von den engen Beziehungen zwischen
Plehwe und den Bezobrazov, Abaza und den übrigen Kriegstreibern
authentische Beweise erhält, und was dergl. mehr ist. Harald Cosack.
Aus den Bekundungen N. J. Rysakov’s. — Krasnyj Archiv Bd. 19,
S. 178—194.
S. Valk fügt zu den in „Byloe“, 1918 Nr. 10/11, bekanntgewordenen
ease Rysakov’s, des Narovol’cen, der um des vergeblichen Ver-
suches willen, sein Leben zu reiten, alles preisgab, was er wußte, bisher
unbekannte Bekundungen hierzu, die sich nicht mehr auf die Tat selbst,
sondern auf die Organisation und Tätigkeit der „Narodnaja Volja“ im all-
gemeinen bezogen. Uber diese Aussagen vom 18., 19., 20. Marz 1880, hier
zusammengefaßt unter dem russischen Titel „iz pokazanij N. J. Ry-
sakova“, ist nur cin Hinweis auf die Bekundung vom 19. d. M. im Bericht
Plehwes vom gleichen Datum bekannt geworden, der die Tätigkeit unter
dem Militär hervorhebt (Byloe ibidem S. 41). Die Mitangeklagten haben
seinerzeit nur ganz beschränkt von der Preisgabe ihrer und ganzundgar-
nicht von der Preisgabe der Partei Kenntnis gehabt, doch das genügte,
wie Vera Figner in ihren Erinnerungen erzählt, daß sich Sofja Perovskaja,
als sie auf dem Schafott ihre Genossen umarmte, von Rysakov abkehrte.
S. Valk betont die Wichtigkeit der von ihm veroffentlichten Bekundungen
fur die Geschichte der „Narodnaja Volja“. Harald Cosack.
Das Tagebuch G. O. Rauchs. — Krasnyj Archiv Bd. 19, S. 83— 109.
_ Georg Ottonovié Rauch, seit dem 27. Oktober 1905 Generalquartier-
meister und seit dem 22. Dezember d. J. Chef des Stabes der Garde und
der 8 des Petersburger Militärbezirks, 1908—1912 Kommandeur der
10. Kavalleriedivision, während des Weltkrieges Chef des 3. Gardekorps
und nach dem Kriege in Kiev bei Skoropadskij als Anhänger der deutschen
Orientierung, hat ein Tagebuch geführt und Erinnerungen .geschrieben.
Das Tagebuch reicht vom 28. Nov./15. Dez. 1905 bis zum 24. Jan./6. Febr.
1906, während die Erinnerungen, die Sommer 1908 verfaßt wurden, in der
441
Hauptsache der Zeit vom 9./22. Jan. bis 26. Okt./8. Nov. 1905 gelten. Beide
Aufzeichnungen befinden sich im Leningrader Historischen Zentralarchiv.
B. Krugljakov gibt hier den „Dnevnik O. O. Raucha“ vollständig
heraus, während A. A. Silov die Anmerkungen dazu schreibt, in denen
Auszüge aus den ,Vospominanija Raucha“ inseriert sind.
Das Tagebuch und die Erinnerungen sind voll der interessantesten
Nachrichten über Personen und Vorgänge auf der Seite der Regierung
in der Revolution von 1905. Einiges sei herausgegriffen. Witte ist der
gehaßteste Mann, von der Carin über Rauch bis zu dem Schwarzen Hun-
dert, dessen Führer Dubrovin nicht müde wurde, Witte als Freimaurer und
Spielball des Judentums zu denunzieren. Auch Aehrenthal beteiligt sich
an der Herabsetzung Wittes. Mit Befriedigung stellt Rauch fest, daß Witte
tatsächlich nach dem 17. Oktober, wie Dedjulin und Trepov auch, zeit-
weilig den Kopf verloren hat. Trepov erscheint als schwankende Person-
lichkeit mit liberalen Anwandlungen, Durnovo als der festeste Mann, der
Retter der Situation. Den Nikolaj Nikolaevié nennt Rauch „nicht klug”
und ist daher manchmal von seinen „nüchternen und richtigen Ansichten“
überrascht, so z.B. im Falle Wittes, den er erst die Duma zustande bring
lassen will, um ihn dann zu stürzen, weil Witte als Opposition zu gefährlich
ware. Nicht uninteressant ist das Urteil über Birilev, den kontrasignieren-
den Minister beim Björkoe-Vertrag, Rauch nennt ihn eine Null (nictozestvo),
Schwaber und Lügner, der die Carin für sich gewonnen, weil er mit den
Carenkindern spielt und unter Tisch und Stühlen herumkriecht. Leise an-
gedeutet ist die Agitation, Michail Aleksandrovič an Stelle des Caren auf
den Thron zu setzen. Von der eigenhändigen Übergabe von 100000 Rbi.
durch den Caren an Nikolaj Nikolaevié zur Finanzierung der Zeitungen
„Golos Pravdy“ des Musselius und „Zofka“ des Jarmonkin hören wir
Authentisches. Desgleichen uber die Erledigung des Kutler’schen Projekts
der Landabgabe an die Bauern durch Nikolaj Nikolaevic. Einen breiten
Raum nimmt die Bekampfung des Aufstandes in den baltischen Provinzen
ein. Als kulturhistorisches Detail möchte ich noch erwähnen, daß Rauch
bei seiner Ernennung zur Suite des Caren diesem die paar Mal
arald Cosack.
Die Aufzeichnungen F. A. Golovin’s. — Krasnyj Archiv Bd. 19,
S. 110— 149.
Im jahre 1912 hat Golovin, Zemstvovertreter, Kadett und Präsident
der 2. Duma, die hier von M. Pokrovskij nach dem Original im Mos-
kauer Archiv der Oktoberrevolution veröffentlichten ,Zapiski F. A.
Golovina“ niedergeschrieben. Diese Aufzeichnungen gehen auf Notizen
zurück, die der Verfasser sich unter dem frischen Eindruck der von ihm
behandelten Vorgänge gemacht hat. Der eine Teil der nungen
hat Golovins Begegnungen mit dem letzten Caren, der andere die Er-
fahrungen mit Stolypin während der zweiten Duma zum Gegenstande.
Den Caren stellt er als einen nicht begabten, aber eigenwilligen und hinter-
hältigen Menschen dar, den man von der Verantwortung für die Gescheh-
nisse unter seiner Regierung zu Unrecht freisprechen will. Stolypin beur-
teilt er als einen Mann, der mehr Gouverneur einer russischen Provinz
als Staatsmann ist, und vindiziert die Initiative am Agrargeseb nicht
Stolypin, sondern Krivošein. Pokrovskij macht hierbei aufmerksam, daß
Golovins Urteil über Stolypin in seinen Aussagen vor der Außerordent-
lichen Untersuchungskommission von 1917 im 5. Bande des „Padenie car-
skogo režima“ viel günstiger lautet als 1912. Aus beiden Teilen erfahren
wir Neues über den Fall des Armeniers Zurabov, eines ehem. Offiziers
und Mitglieds der Sozialdemokratischen Partei und der 2. Duma, der eine
Rede zum Heeresetat 14 Tage etwa vor dem Staatsstreich des Caren und
Stolypins vom 3./16. Juni 1907 hielt, die die Regierung im ganzen zum Aus-
gangspunkt für die sofortige Auflösung der Duma machen wollte, nicht
aber Stolypin. Bis hierher hat nach Golovin Stolypin aus Selbsterhaltungs-
trieb auch die Duma erhalten wollen. Harald Cosack.
442
Die chinesische Revolution von 1911. — Krasnyj Archiv Bd. 18,
S. 49—104.
Nach einem Aperçu über die Aufstandsbewegungen in der Geschichte
Chinas und einer Besprechung des Inhalts der unter dem Sammeltitel
„Kitajskaja revoljucije 1911 goda“ zum Abdruck gelangenden
Akten durch A. Ivin folgen 43 Dokumente aus der Zeit vom 16./29. Sept.
1911 bis zum 28. April/11. Mai 1912, die aus dem Moskauer Archiv der Re-
volution und der auswärtigen Politik stammen und von A. Popov für den
Druck vorbereitet sind. Die Akten verraten eine relativ oberflächliche
Kenntnis der Vorgänge in China, wie lvin hervorhebt, jedoch illustrieren sie
gut die Absichten der russischen Regierung, sich aus Anlaß der Wirren an
Chinas Nordgebieten zu bereichern. Zu diesem Zwecke ist die carische
Diplomatie bereit, mit dem revolutionären Süden in freundschaftliche Be-
ziehungen zu treten (Nr. 23) und dort, wo sie zögert, wie in der Frage der
Annexion des Uriyanghai-Gebiets, ist es der Car persönlich, der das Vor-
dringen wünscht (Nr. 37). Frankreich unterstübt alle Aspirationen Rußlands,
nicht nur in der Mandschurei und Mongolei, sondern auch in Chinesisch-
Turkestan (Nr. 29), während Sazonov alles vermeiden will, was Rußlands
Kräfte im Fernen Osten binden könnte (Nr. 40). Harald Cosack.
Produgol’. Zur Frage des Finanzkapitals in Rußland. — Krasnyj
Archiv Bd. 18, S. 119—148.
_ Im Vorwort zu seinem Beitrag ,Produgol. K voprosu o
finansovom kapitale v Rossii“ stellt A. J. Gajster fest, 389
die Meinungen über die Zusammensetzung des Finanzkapitals in Rußlan
weit auseinandergehen. Als die beiden Pole im Streit der Meinungen
zitiert er Kricmans Vorwort zu Ronin, Inostrannyj kapital v Rossii, 1926,
und Finn-Enotaevskij, Finansovyj i proizvoditel'nyj kapital. Kricman an-
erkennt „kein System des russischen Finanzkapitals“ und sieht nur „eine
Erweiterung des Exploitationsbereichs des ausländischen Kapitals“, während
Finn-Enotaevskij gegen die Auffassung polemisiert, dab „am Vorabend
des Weltkrieges das französisch-englische und z. T. auch das deutsche
Finanzkapital die russische Industrie beherrscht und dadurch denationali-
siert hat“. Zur Klärung dieser Frage bringt Gajster Aktenmaterial aus
dem Prozeß des größten Steinkohlensyndikats Rußlands „Produgol“, der
Gesellschaft zum Vertrieb des mineralischen Heizmaterials des Donez-
bassins, gegen zwei ausgeschiedene Mitglieder, das JuZno-Russkoe Dne-
provskoe Metallurgiceskoe ObScestvo und das ObS¢estvo Gosudarevo-
Bajrakskich kopej. Aus dem Material geht die monopolistische Stellung
dieses Syndikats und die Ausnubung dieser Monopolstellung ebenso klar,
wie seine Abhängigkeit vom französischen Kapital hervor. Nicht weniger
als zwanzig Franzosen, alle in Frankreich, unter ihnen Doumer, sollten in
den Prozeß hineingezogen werden, doch wurde dieser Riesenskandal ver-
hindert. Verhindert durch die Einmischung des französischen Botschafters
Paléologuc und des russischen Auswärtigen Amis. Abgespielt hat sich
diese Aktion Paléologues zu Kriegsbeginn, definitiv niedergeschlagen
„mangels von Beweisen“ wurde die Angelegenheit Marz 1915.
Harald Cosack.
Zur Geschichte der Konferenz von Jassy. — Krasnyj Archiv Bd. 18,
S. 105—118.
Im Anschluß an eine längere Darlegung des Verlaufs der Konferenz
von Jassy, die im November 1918 von den Vertretern der Allierten in Ru-
mänien und allen antibolschewistischen Parteien Rußlands veranstaltet
wurde und ihre Fortsetzung in Odessa fand, veröffentlicht Al. Gukovskij
unter dem Titel „K istorii Jasskogo soveSéanija“ das Protokoll Nr. 21 der
russischen Delegation, datiert Odessa 17./30. Nov. und 18. Nov./i. Dez. 1918
und unterzeichnet von Meller-Zakomel’skij und Gri3in-Almazov.
445
Das Protokoll enthält den Bericht des Generals GriSin-Almazov über
die Lage im Osten des Europäischen Rußlands und in Sibirien, wo die ver-
schiedenen Regierungen einander befehdeten und die Cecho-Slowaken
agierten. Der kritische Apparat am Schluß stellt eine Reihe von Fehlern
Gri$in-Almazovs zurecht.
An Literatur zieht Gukovskij heran Margulies, God intervencii, Bd. 1
Berlin 1923, dessen einschlägiges Material über Jassy erstmalig in der
„Letopi$ Russkoj Revoljucii, ersch. bei GrZebin, veröffentlicht wurde; Gurko,
Iz Petrograda čerez Moskvu, Pariž i London v Odessu 1917—1918 gg. in
Archiv Russkoj Revoljucii Bd. 15, Berlin eg Astrov, Jasskoe soveSéanie in
Golos Minuv3ago na čužoj storoné, Nr. 4, Paris 1926; und von sovetrus-
sischer Seite den Aufsatz von Rjabinin „Jassy i sojuznaja okkupacija na
Ukraine“ im Sammelwerk „Cernaja kniga“, Sbornik state} i materialov
intervencii Antanty na Ukraine v 1918—1919 gg. pod red. A. G. Slichtera,
Gos. Izd. Ukrainy 1925, S. 31—50. Harald Cosack.
Zur Geschichte der französischen Intervention im Süden Rußlands
vom Dez. 1918 bis zum April 1919. — Krasnyj Archiv Bd. 19,
S. 3—38.
D. Kin veröffentlicht hier „K istorii francuzskoj inter-
vencii nach juge Rossii Dekabr’ 1918—aprel’ 1919 g.“
Mitteilungen an Admiral Koléak, die ihm in der Zeit vom 10./13. Februar bis
zum 10./23. März 1919 aus der Freiwilligen Armee zugingen. Sie stellen
nur einen Auszug aus dem im Archiv der Oktoberrevolution ruhenden
Material dar. Der Berichterstatter stand dem 5 Nationalen
Zentrum (JuZno-Russkij Nacional’nyj Centr), V. Sul’gin und Grišin— Al-
mazov nahe und ist absolut Feind dem Rat der 5 Einigung (Sovet
Gosudarstvennogo Ob-edinenija). Wie gut unterrichtet er war, bezeugt,
worauf Kin hinweist, ein Vergleich mit dem Buch des Ob-edinevie-Mannes
M. S. Margulies, God intervencii, Berlin, Moskau, Orzebin, 1925. Den Angel-
punkt der Berichte bildet die Fra e des Verhaltens der Franzosen zur
Denikin’schen Freiwilligenarmee und zum Direktorium Petijuras. Mit dem
Erscheinen Franchet-d’Esperey’s in Odessa am 20. März triumphiert die
antidenikinsche Linie des französischen Obersten Freydenberg, die Fran-
zosen übernehmen, voller Verachtung für die Russen, die gesamte
in Odessa, doch geschieht das in einem Moment, wo die Franzosen ihr
Militär nicht mehr in der Hand haben und selbst machtlos sind. Die rus-
sische Hilflosigkeit tritt in den vielen Details der Berichte deutlich zutage.
Der Schlüssel für das Verhalten der Franzosen fehlt. Harald Cosack.
Die Engländer im Norden 1918—1919. — Krasnyj Archiv Bd. 19,
S. 39—52.
Aus 2 Stücken, die sich im Archiv der Oktoberrevolution, und
13 Stücken, die sich im Archangelsker Gouvernementsarchiv befinden, be-
steht der Beitrag „Angli kane na severe (1918-1919 gg.“ von
I. Minc. Im kurzen Vorwort macht der Herausgeber darauf aufmerksam,
daß nirgends die Intervention so international aufgezogen war, wie in
Archangelsk. Engländer, Franzosen, USA-Truppen, Italiener, Serben, Kana-
dier, Australier und sogar die „neutralen“ Dönen waren dabei. Am
1. August 1918 kamen sie, Herbst 1919 verschwanden sie, während die
konterrevolutionäre Regierung, die ihr Dasein der Intervention verdankte,
diese nur deshalb bis Februar 1920 überlebte, weil die Rote Armee im
Süden Rußlands eingesetzt wurde. Die Abhängigkeit der Archangelsker
Regierungen von der Entente wird durch die Akten nachdrücklich illustriert,
wirksam unterstützt durch die Voranstellung der phrasenhaften „Proklama-
tion an das russische Volk“ bei Ankunft der Interventionstruppen. Die
444
Ausschau nach wirtschaftlicher Exploitation des befreiten Ruglands wird
beleuchtet, u. a. das Konzessionsbegehren des Polarforschers Shackleton
behandelt. Harald Cosack.
Aus dem Merkbuch des Archivars. — Krasnyj Archiv, Bd. 18, S. 195
bis 227; Bd. 19, S. 195— 221.
Der erste der Beiträge „iz zapisnoj kniZki archivis fe“ be-
handelt „A. J. 2 eljabov in Aleksandrovsk“ und stammt von
S. Valk. Zeljabov gen 1851, hingerichtet 3. April 1881), das aktivste
Mitglied des Exekutivkomitees der „Narodnaja Volja“, ist Organisator
dreier Attentate auf Alexander ll. gewer des nicht zur Ausführung
gelangten Attentats auf den Eisenbahnzug des Caren vom 18. November
1879 in Aleksandrovsk, der Explosion im Winterpalais vom 5. Februar 1880
und der Ermordung des Caren am 1. März 1881. Hier werden, worauf der
Titel hinweist, einige Daten zum ersten Attentat beigesteuert (S. 195197).
N. Sergievskii gi bt in „Die 55 Sendung von Schrif-
ten seitens ruppe ,Osvoboidenie Truda (Be-
freiung der 4 beit" aus dem Auslande Materialien zum miß-
lungenen Versuch von 1884, an dem der preußische Staatsangehörige Otto
Stolz beteiligt war (S. 197—201).
E. Tarle bringt aus der „Korrespondenz V.K.Plehwe's mit
A. A. Kireev“, einem slavophilen General, die in Bruchteilen im Archiv
Plehwe’s sich erhalten hat, einen Brief vom 31. August/13. September 1903,
etwa 14 Tage, nachdem es Bezobrazov und Plehwe gelungen war, Witte
aus seiner beherrschenden Stellung zu verdrängen. Der Brief enthält
nichts Uberraschendes. Plehwe weiß, daß die Forderung einer konstitutio-
nellen Verfassung besteht, weil „die schnell eingefretene Evolution der
sozialen Verhältnisse die Arbeit des Staates im Ordnen der neuen Ver-
hältnisse überflügelt hat“, doch glaubt er, daß der „historische Carismus“,
und nur dieser, der Nation Wege weisen kann, die die Konstitution über-
flüssig machen, und daß hierfür eine straffe Staatsautoritat nötig ist.
Das Interessanteste ist, was der Brief verschweigt. Tarle macht darauf
aufmerksam, daß Plehwe sein Mittel zur Stärkung der Staatsautoritat,
den 1 Krieg mit Japan, nicht nennt. (S. 201 — 208.)
Ja. Zdravomyslov veröffentlicht „Aus Konzepten K. P.
Bebedonc scevs“ drei Stücke, die unter losen Papieren der Kanzlei
des Oberprokureurs des Synods gefunden worden sind. Das erste Stück
ist ein erster Entwurf jener Rede, die der lebte Car 1895 beim Empfang
der Vertreter des Adels, der Zemstvoverwaltungen, der Städte und der
Kosakenheere aus Anlaß des Thronwechsels gehalten und in der er alle
Wünsche nach einer Verfassung schroff abgewiesen hat. Der wesentlichste
Unterschied zwischen diesem Entwurf, der nur mit Repräsentanten des
Adels rechnete, und der tatsächlich gehaltenen Rede liegt im Fehlen jener
übelberüchtigten Worte von „den sinnlosen Träumereien“, von denen einige
behaupten, sie seien nie gesprochen worden; statt ihrer hätte Nikolaus Il.
von „nicht zu verwirklichenden Träumereien“ geredet. Der offizielle Text
befindet. sich, nebenbei bemerkt, im Pravitel’stvennyj Vesinik Nr. 14 vom
ine Januar 1895, eine gute Beschreibung des Vorgangs in den Erinne-
en des Zemstvovertreters A. A. Savel’ev unter dem Titel „Zwei Thron-
steigungen russischer Caren“ in „Golos MinuvSago" 1917, Nr. 4, S. 91
55 104. Die beiden anderen Stücke haben Bezug auf die im Verden
begriffenen Manifeste vom 18. Februar/3. Marz und 17./30. April 1905,
Pravitel’stvennyj Vestnik Nr. 39 und Nr. 86 vom ]. 1895, von denen das
erste alle treuen Russen zum Schutze des Thrones aufrief und den Vor-
laufer des Reskripts über die Einsekung der Bulyginschen Spezial-
kommission zur Ausarbeitung eines Dumagesebes bildete, während das
zweite die Rechte der nichtorihodoxen Bekenntnisse erweiterte. Dem
29 NF 5 445
ersten Manifest spendet Pobedonoscev mit geringen Ausstellungen Lob
und trostet den Caren mit dem kirchenfrommen russischen Vo beim
zweiten bekämpft er, um das Wesentlichste herauszugreifen, die Gleich-
stellung aller Bekenntnisse und erficht hier seinen letzten großen Sieg.
Die Frage der Stellung der russischen Kirche wird auf Befehl des Caren
bereits am 13./26. März 1905 dem Ministerkomitee entzogen und dem S
überwiesen. (S. 203—207.) , i :
in Memorandum, das der Aufmerksamkeit wurdig
ist“, betitelt M. Paozerskij seinen Beitrag, der sich auf die brennendste
Frage von Ende 1916/Anfang 1917 bezieht, auf die Aufnahme des Kampfes
gegen den Progressiven Block in Duma und Staatsrat und die hinter ihnen
stehenden großen Organisationen in Stadt und Land durch die Auflösung
der Duma. Da die Duma durch die Alliierten gestützt wurde, so sollte aus
der Duma resp. der Wählerschaft die Forderung der Auflösung kommen,
um eine Zwangslage der Regierung zu konstruieren. Eine solche Rolle
war dem Memorandum der „orihodox-russischen Einwohner Kievs“ zu-
gedacht, das Steglovitov, der Vorsizende des Staatsrats, dem Caren zu-
leitete, das der Car mit der Resolution, die den Titel dieses Beitrages
bildet, versah und der lebte Vormende des Ministerkomitees Golicyn seinen
Maßnahmen zugrunde legte, die dann von der bürgerlichen Februarrevo-
lution überholt wurden. Von der Existenz dieses Memorandums hatte man
seit Anfang Januar 1917 gewußt, kannte aber weder den Inhalt, noch den
Autor, noch seine Folgen. Das wird jetzt durch die hier veröffentlichten
Dokumente bekannt, die neben dem Memorandum aus einem Schrei
Séeglovitovs an den Caren und aus einem Bruchstück des Golicyn’schen
Berichts an den Caren vom 20. Januar 1917 bestehen. (S. 207—214.)
In die Zeit Ende juni / Anfang juli 1917, als an und hinter der Front die
Reaktion anwuchs, führt V. Meller unter dem Titel „Das Allrus-
sische Zentralexekutivkomitee (VCIK) im Juli 1917°. Er
publiziert die wenigen im Archiv der Oktoberrevolution erhaltenen Befehle
des aus Menschevisten und Sozialrevolutionären bestehenden VCIK über
55 von Truppen nach Petersburg zur Unterdrückung der Bol3eviki
214—2
Fünf Dokumente aus dem Polizeidepartement, ones as den Aaa
„Über die Gewerkschaften“, die übrigen vier aus den Akten „Uber die
Vorbereitung von Maßnahmen zur Verhinderung der Wiederholung der
revolutionären Bewegung von 1905“, gibt M. Korbut als Zusammen-
fassung der Erfahrungen von 1905 durch das Polizei-
departement” heraus, um die Arbeit der Polizei im Jahre 1913 zu
illustrieren, soweit das) Proletariat in Frage kommt. Im zweiten Dokument
vermerkt die Polizei, daß in Parallele mit der steigenden Unzufriedenhed
der Massen auch die liberalen bürgerlichen Kreise größere Aktivität an den
Tag legen, so auf dem Stadtetag in Kiev von 1913. Korbut macht hierzu
im Begleittext die Bemerkung, daß die bürgerliche Aktivität nach anderen
Dokumenten des Polizeidepartements gleichfalls Gegenstand größter Auf-
merksamkeit war, so z. B. die geheime Konferenz der Kadetten in Moskau
vom 5.—6. Oktober 1913. (S. 219—227.)
Die Miszellen „iz zapisnoj knizki archivista“ im
19. Bande eröffnet E. Korol' & uk mit drei Briefen „Aus der Korre-
spondenz S. M. Kravéinskij-Stepnjak’s” aus dem ]. 1878,
von denen zwei kurz vor, einer kurz nach dem Attentat auf den Chef der
3. Abteilung N. Mezencov vom 4. Aug. geschrieben sind. Die Adressaten
sind der Reihe noch Vera Zasuli¢, A. Ep3tein, die Gattin von D. Klemenc,
der zu den Cajkovskij-Leuten gehörte und sich später einen Namen als
Eihnograph gemacht hat, und Vera Zasuli¢ und das Ehepaar Klemenc ge-
meinsam. Diese Briefe sind bereits im Aufsak von V. Ja. Boguéarsky
„V 1878 godu (Im Jahre 1878)“, Golos Minuv3ego 1917, Nr. 9—10, S. 119—120,
behandelt worden, doch waren sie bisher im Wortlaut nicht gedruckt. Die
446
Herausgeberin hat die Briefe mit biographischen Noten der in ihnen ge-
nannten Personen versehen (S. 195—202).
Den nie zur Verbreitung gelangten „Bericht über die Aus-
hebung der Druckerei in der Sappeur-Oasse“ in Peters-
burg, Januar 1880, bringt N. Sergievskij. Die vier Insassen der
Druckerei ließen es bei der Aushebung auf ein heftiges Feuergefecht mit
Polizei und Militär ankommen, um soviel als möglich Aufsehen zu machen,
damit die anderen geheimen Druckereien gewarnt würden. Der Bericht
über den Hergang, gedruckt in der Petersburger Druckerei des Cernyj
Peredel kam nicht zur Versendung, weil auch diese Druckerei ausgehoben
und hierbei der Bericht konfisziert wurde. Dieser ist jebt in den Akten
des Justizministeriums entdeckt worden (S.202—203). |
. Valk veröffentlicht zwei „Erste-Mai-Reden in Odessa
im Jahre 1895“ aus dem Archiv der Polizeidepartements. Das Haupt-
interesse an ihnen besteht nicht darin, daß solche Reden bislang nur wenig
bekannt sind, auch nicht darin, daß diese Reden noch nicht den realpoli-
tischen Ton des nördlichen Rußlands finden, sondern in der Tatsache, daß
sie Spuren der Verbindung zwischen der sozialdemokratischen Arbeiter-
bewegung und der revolutionären Propaganda der 70er Jahre unter den
Arbeitern erkennen lassen (S.205—207).
Gezeichnet M. B-v., folgt „Die Antwort der (Kiever) Ra-
bocaja Gazeta’ 1898) an G. V. Plechanov“. Es handelt sich
um den Vorwurf Plechanov’s, die Genossen vergäßen häufig den Gedanken
Marx’s, daß jeder Klassenkampf ein politischer Kampf sei. Weil die Zeitung
diese Ansicht Plechanov’s und im Hintergrunde Axelrod’s für ungerecht-
fertigt hält, lehnt sie den Abdruck der diesbezüglichen Zuschrift Plecha-
nov’s ab. Das ablehnende Schreiben wurde von der Polizei beschlagnahmt
und wird hier nach einer Kopie aus dem „Istoriko-Revoljucionnyj Archiv“ in
Kiev reproduziert. (S.207—209).
Anonym werden ,Zwei Dokumente zur Geschichte der
Zubatoviade” herausgegeben. Das erste handelt von Marja Vil’-
buSevié und von Zubatov’s Plänen in bezug auf die Arbeiter; das zweite
ist eine Beurteilung des Buchs von S. N. Prokopovič, Rabocee dvizenie na
zapade (Die Arbeiterbewegung im Westen) durch Zubatov, der dieses
Werk für seine Zwecke brauchbar findet. (S.210—211).
„Vor 20 Jahren“, anonym wie das voraufgegangene Stück, behan-
dell in zwei Dokumenten den Fluchtversuch der politischen Gefangenen
aus dem Gefangnis in Irkutsk im Oktober 1906 und seine grausame Nieder-
schlagung. Das erste Dokument ist der offizielle Bericht des Chefs der
Irkutsker Gendarmerie, das zweite eine Beschreibung aus der Zeitung
„Saratovskij Dnevnik“. (S.212—215.)
Den Schluß_bildet der Beitrag P. Sadikovs über „P. A. Stoly-
pin unddie Todesstrafeim Jahre 1908.“ General Hasenkampff
hatte von Nikolaj Nikolaevi© den Befehl, alle Todesurteile der Militär-
gerichte zu überprüfen, und folgte, wie er selbst feststellt, dem Prinzip,
erbarmungslos Todesurteile bei politischen und gewöhnlichen Mordtaten zu
bestätigen, sonst aber die Strafen zu mildern. Das erschien Stolypin
falsch, und er klagt gegen Hasenkampff’s Nachsicht beim Großfürsten
Nikolaj Nikolaevié im Schreiben vom 27. Januar/9. Februar 1908. Dieses
Schreiben, Hasenkampfis Replik vom 4/17. Februar und ein zweites
Schreiben Stolypins vom 10./23. Februar, das auf Hasenkampffs Replik
Bezug nimmt und mit Marginalien Hasenkampfis versehen ist, werden hier
veröffentlicht (S. 216—221). Harald Cosack.
A. Sestakov: An der historischen Front. — Novyj Mir, Februar
1929, S. 236—242.
In diesem Artikel (Na istoričeskom fronte) wird über die erste All-
unionistische Konferenz der Historiker-Marxisten berichtet, die im Dezember
1928 in Moskau stattfand. In seiner Eröffnungsrede betonte der Vorsitzende,
447
Professor M. N. Pokrovskij, die prinzipiellen Unterschiede zwischen der
marxistischen und der „bourgeoisen“ historischen Schule; letztere aa
gerade während des lebten Kongresses in Oslo ihre nati
2. I. chauvinistischen Tendenzen zur Schau getragen. Auch die morxistische
Historikerschule steht mit der Politik des Tages im engsten Zusammenhang;
Be gaben decken sich aber mit den politischen Aufgaben des Pro-
ariats.
Die Arbeit der Konferenz stand im Zeichen des Moltos: „poli
Kampf an der historischen Front“. In diesem Sinne lautete auch das Mani-
fest der Konferenz: „die marxistische Geschichtswissenschaft nimmt einen
wichtigen Platz im Kampf des Proletariats für den Sozialismus ein“. Man
dürfe bereits von einer Soveischule der marxistischen Historiker sprechen,
die auch andere Wissenschaftszweige (Philologie, Archäologie) zu beein-
flussen versteht. Diese Schule hat nicht nur lokal-russische Bedeutung; sie
stellt gleichsam die erste „Zelle“ der revolutionären Geschichiswissenschaft
dar, der sich auch ausländische Historiker-Marxisten anschließen werden.
Deshalb wurde auch der Beschluß gefaßt, in 2—3 Jahren einen inter-
nationa Kongreß der marxistischen Historiker zusammenzuberufen.
r die praktische Bedeutung der Konferenz läßt sich nach ihrer „Re-
solution" ein Urteil bilden. Die Gesellschaft der marxistischen_ Historiker
wird danach zu einer allunionistischen Organisation mit einer Zentralver-
waltung umgebildet. Es wurde ferner beschlossen, lokale Sektionen der
Gesellschaft zu gründen, eine populäre historische Zeitschrift herauszu-
‘geben, die Arbeit der verschiedenen wissenschaftlichen Institute zu koordi-
nieren usw.
Die wissenschaftliche Arbeit der Konferenz fand ihren Ausdruck in den
zahlreichen Vorträgen, die dort abgehalten wurden. Den „cliou“ des Pro-
gramms bildete der Vortrag von Prof. Pokrovskii — „Der Leninismus und
die russische Geschichte“ — eine Analyse der Leninschen Auffassung der
Geschichtsmethodologie. Zu erwähnen sind auch die Arbeiten von A. Pan-
kratova „Die Grundprobleme der Erforschung der Geschichte des Proletariats
in UdSSR“, N. Vanaga — „Über den Charakter des Finanzkapitalismus in
2 nd“, Janéevskij — ,Die SE Kad die im 5 in Beziehung zur
onisationsgeschichte“ u. a. m. — ortrage, die die Geschichie
N behandelten, trugen einen . politischen“ Cha-
rakter, was auch mit dem Prinzip der Bevorzugung der aktuellen Tages-
fragen bei der Wahl historischer Themen im Einklang steht. Zum Vortrag
von N. M. Lukin „Probleme der Erforschung der imperialistischen Epoche”,
machte Professor Pokrovskij einige interessante Bemerkungen: . . im
Westen wollte man die Kriegsschuld auf Deutschland abwälzen; wir stehen
auf einem entgegengesekten Standpunkt, nicht um Deutschlands Interessen
zu wahren, sondern, um den Imperialismus zu entlarven. Der englische Im-
perialismus ist gegenwärtig der gefährlichste; wir wollen ihn entlarven und
hoffen es durch unsere letzte Veröffentlichung der Kriegsdokumente zu er-
reichen.“ — In den zahlreichen Plenar- und Sektionssisungen fanden nach
den Vorträgen lebhafte Diskussionen statt. Mit grober Leidenschaft wurden
auch die Probleme der idealistischen Geschichtsauffassung umstritten, die
verdächtigen opportunistischen Tendenzen verfolgt und gebrandmarkt. „Wir
sind kampfende Marxisten,“ lauten die Schlugworte der Resolution, „unsere
erste Pflicht ist der Kampf mit den Ideologien, die dem Marxismus fremd,
den Klasseninteressen des Proletariats feindlich sind. Dieser Kampf ge-
pinn besonders heute an Bedeutung, im Augenblick, wo die Vertreter dieser
deologie ihre Köpfe erheben und zum Angriff rüsten!“
Eugenie Salkind.
L1l’inskij: Bemerkungen über die Hochschule (Zametki o wysšej
škole). — Novyj Mir Nr. J, S. 225—232.
Früher staunte man darüber, daß die Jugend über Politik ihr Studium
vergaß. Heute politisiert die Hochschuljugend nicht, sie studiert — weil
448
Politik und Wissenschaft Hand in Hand gehen. Doch ist es um die
Jugend nicht gut bestellt; Gesellschaft und Presse bekümmern sich wenig
darum; nur sensationelle Gerichtsfalle rufen von Zeit zu Zeit ihr Interesse
dafür hervor. i ,
Die große Masse der Studierenden setzt sich heute aus der Arbeiter-
jugend zusammen; darunter sind mindestens 60% Parteimitglieder und Kom-
somolen. Ihre Klassenabstammung läßt sich an vielen wichtigen und neben-
sächlichen Merkmalen erkennen: so z. B. an dem allgemeinen „Du“ und an
der „schicken“ Manier, die brennende Zigarette an der schwieligen Hand-
fläche zu löschen. Diese Jugend kommt in die Hochschulen mit dem
ernsten Wunsch, sich für den zukünftigen Beruf vorzubereiten. Daß ihr das
Studium sehr schwer fallt, liegt z. T. an der ungenügenden Vorbildung: eine
ganze Welt von Bildern und Vorstellungen, mit welchen die früheren Stu-
denten vertraut waren, bleibt ihnen verschlossen. Dasselbe gilt auch von
historischen Kenntnissen: für die russische Jugend von heute beginnt die
Weltgeschichte mit der Oktoberrevolution. So bildet es keine Ausnahme,
wenn eine Siudentin auf die Frage, wann und wo Plato gelebt hätte, die
prompte Antwort gor in Frankreich, im 18. Jahrh. — Auch die Hochschule
gibt keine Möglichkeit, diese Lücken der Bildung auszufüllen: der Student
ist mit der Arbeit ungeheuer iiberlastet; abgeschen von Vorlesungen und
Seminaren, hat er noch 3—4 Stunden täglich der sozialen Arbeit, Sitzungen
usw. zu widmen. Es nimmt daher nicht wunder (wenn man diese Uber-
ansirengung und die drückende materielle Not in Betracht zieht), daß die
lebenslustigen, gesunden Provinzjungen nach einigen Semestern in Moskau
zu anamischen Neurasthenikern werden und zu der ihnen bevorstehenden
Berufsarbeit oft von vornherein untauglich sind.
Auch die Professoren befinden sich in kaum besserer Lage: die Pflicht
der sozialen Arbeit lastet auch auf ihnen; außerdem sind sie gezwungen
(dies gilt hauptsächlich für die technischen und naturwissenschaftlichen Be-
rufe), an zahlreichen Sitzungen wirtschaftlichen Charakters teilzunehmen;
aus materiellen und sozialen Gründen dürfen sie auf diese Mitarbeit nicht
verzichten; durch diesen Zeitmangel wird natürlich ihre wissenschaftliche
Arbeit gefährdet, da ihnen ja kaum Zeit bleibt, um sich zu den Vorlesungen
vorzubereiten. — Eine besondere Stellung nimmt im akademischen Leben
die „rote Professur” ein. Ihre Vertreter sind in ihrer Mehrzahl noch junge
Leute, und die Eroberung des wissenschaftlichen Namens fällt ihnen nicht
leicht. Vom Marxisten-Akademiker wird wissenschaftliche Arbeit verlangt,
Entdeckungen auf den Gebieten, die von der marxistischen Wissenschaft
noch nicht berührt wurden. Hier kann noch vieles geleistet werden, und
wenn die Arbeit langsam vor sich geht, so ist die Ursache in den schon
erwähnten Gründen zu suchen: Armut, die den Gelehrten zwingt, populäre
Broschüren zu schreiben, Mangel an Büchern und Verlegern, endlich auch
überlastung durch administrative und konsultative Arbeit hemmen die Ent-
wicklung der marxistischen Wissenschaft. | Eugenie Salkind.
CECHOSLOVAKEI
A. Petrov: M. Bel. Jak jej ocenuji soucasnici a polomsivo. —
Slavia 7, 1 (1928). S. 120—127.
Der Slovake Matej Bél, geb. 1684, war evangelischer Pfarrer und später
Gymnasialdirektor in Bratislava. Sein Hauptwerk sind die ,,Notitiae Hunga-
riae novae historico-geographicae“. Er wurde im 18. Jh. „magnum decus
Hungariae“ genannt, und im 19. Jh. hat M. J. Hurban seinem großen Wissen
und seinem klassischen Stil Bewunderung gezollt. Bél hat 1722 gemeinsam
D. Krman eine slovakische Bibel in Halle herausgegeben und ein Vor-
wort dazu geschrieben. Vitek in „Dejiny literatury slovenskej“ hat seine
Vielseitigkeit anerkannt. Aber sowohl Hurban wie Vitek verurteilen Bels
diplomatisch-schlaue schmeichlerische Wesensart. Sein Zeitgenosse Pater
449
Horanyi dagegen lobt ihn als Menschen von klarem Sinn und verfeinerten
Sitten, der aber beständig in seiner Meinung war (staly vo svojom). Woher
wollen Hurban und Vlöek Kunde haben von den dunklen Seiten in Bélis
Charakter? P. untersucht die Wechselfälle im Leben Béls daraufhin, wo
der Erfolg seiner diplomatischen Weliklugheit zu schen wäre. Er hat sein
Leben lang Unannehmlichkeiten gehabt und ist nie Bischof oder Senior ge-
worden, sondern als einfacher Pfarrer gestorben. Es scheint so, als hätten
diese beiden Kritiker Bél etwas als Charakterfehler angerechnet, was nur
Zeitmode war, nämlich Mäzene mit Lob zu überschüften. Hurban wirft Bél
auch Kosmopolitismus vor, was unverträglich ist mit seinem eigenen Urteil,
daß Bél nämlich der Gesinnung nach slovakisch gewesen sei. Als Beweis
für seinen Kosmopolitismus wird auch angeführt, daß Bél nach Belieben
bald lateinisch, bald altvaterisch deutsch oder magyarisch geschrieben habe.
Er wirft ihm also die Vielsprachigkeit des Ungarn vor. Nach Petrovs Meı-
nung war Bél eingefleischter Patriot, und zwar nicht Magyare, sondern Ungar,
er ließ unter sein Bildnis die Worte schreiben „o cara patria, quae me
genuisti, dulcis Pannonia“. Bel hat diejenigen getadelt, welche von den
Sitten der Vater ließen. Während des 18. und 19. Jhs. hat man Bél als Ge-
lehrten den gebührenden Zoll entrichtet, ohne an seiner slovakischen Ge-
sinnung zu zweifeln, erst das 20. Ih. hat sich ihm gegenüber anders ein-
gestellt. Skulfety wirft Bél vor, er sei magyarisiert gewesen und habc der
slovakischen Sache sehr geschadet. Dabei ist der Begriff der Magyarisie-
rung ja erst ein Produkt der neuesten Zeit! Nach der Meinung Skultetys
soll Bel schuld haben, daß sich die Meinung verbreiten konnte, die ältesten
Einwohner Ungarns seien Magyaren gewesen, und die Slovaken seien mit
anderen Slaven aus dem oberen Ungarn übergesiedell. P. führt nun zum
Beweise des Gegenteils Stellen aus den geographischen Schriften Béls an,
so über die Komitate Bratislava, Neutra, Trenčin usw., die keineswegs ma-
gyarisierende Tendenzen zeigen. Außerdem hat sich Bel über gewisse
Schwächen der Magyaren, ihre körperliche Untüchtigkeit und Trägheit mehr-
fach ausgesprochen und sagt, daß sich bei magyarisierten Slovaken noch
die sympathischen Züge erhalten: Friedfertigkeit, Freundlichkeit und Froh-
lichkeit. P. hofft aus dem Gesagten genügend Beweise dafür erbracht zu
haben, daß Bel die Sympathien des Slovakentums vollauf verdiene, dessen
Geschichte er geschrieben. Emmy Haertel.
Wolfango Giusti: L’opera di Giorgio Wolker e gli elemenh
della sua personalità. — Rivista di letterature slave. 3, 4—6
(1928), S. 360—377.
Die Dichtung Wolkers ist auf das engste mit den Traditionen der
&echischen Dichtung verbunden und doch zugleich von einer über die
«echischen Grenzen hinausgehenden Weltweite; will man sie analysieren,
so muß man die gesamte Cechische Dichtung von Erben und Celachovsky
an bis in die Zeit nach dem Weltkriege durchmustern. Es wäre aber ein
großer Irrtum, etwa in Celachovsky einen „Vorläufer“ Wolkers schen zu
wollen, es gehört jeder von beiden in seine eigene Zeitepoche. Wolker, als
moderner Mensch, wird von sozialen Problemen gequält, die Celachovsky
nie gekannt, troßdem klingt bei beiden in den dem Folklore nahestehenden
Dichtungen Verwandtes an. Bei beiden läßt sich hie und da russischer Ein-
fluß erkennen, während aber bei Celachovsky das traditionelle Rußland mit
seinen melancholischen Liedern und der alten Sagenwelt auflebt, steht
Wolker unter dem Einfluß des neuen revolutionären Rußland. Zwischen
den Volksliedern Erbens und Wolkers besteht unleugbar ein gemeinschaft-
licher Zug, Erben stand Wolker entschieden näher als die moderne west-
europäische Dichtung. Interessant sind Vergleiche zwischen Volksdichtungen
beider über verwandte Themen, so zieht hier Giusti Erbens „Dcefina kletba“
heran und stellt ihr Wolkers „Balada o nenarozeném dítěti“ gegenüber.
Wolker hat bei der Kürze seiner Lebenszeit den vollen Abschluß seiner
Entwicklung nicht erreichen können, er hat aber, was ihm an Zeit fehlte, an
450
Intensität und Tiefe der aufgenommenen Eindrücke ersetzt. Die erlittenen
Leiden — Wolker starb als Vierundzwanzigjähriger an Lungenschwindsucht —
werden zu einem integrierenden Bestandteil seiner Dichtung. Wolker ist
vielleicht der am meisten Leopardi ähnliche unter den Cechischen Dichtern.
Das Leitmotiv seiner Dichtung besteht in der Klage um die Ungleichheit des
Willens zu weitem Fluge und der körperlichen Schwäche, die ihn hindert;
am deutlichsten spricht sich dieser Gedanke aus in dem Gedicht „Večer“.
Wolker wird als derjenige angesehen, welcher die &echische soziale Lyrik
zur höchsten Vollendung gebracht hat. Um den Charakter dieser Art Lyrik
zu verdeutlichen, gibt G. einen Rückblick auf die sozialen Verhältnisse Böh-
mens unter der habsburgischen Herrschaft, welche selbst in den schwär-
zesten Zeiten des Metternichschen Absolutismus nie zu Zuständen geführt
hat, wie sie z. B. im caristischen Rußland für die Polen oder andere Minder-
heiten bestanden. Während für Bezruč die soziale Dichtung zugleich einen
ausgesprochen nationalistischen Charakter annehmen mußte, veranlaßt durch
die Vormachtstellung der reichen deutschen Intellektuellen gegenüber der
armen Cechischen Bevölkerung, trägt bei Wolker die soziale Dichtung aus-
schließlich den Charakter des Klassenkampfes; die nationale Frage bedarf
keiner Förderung mehr. Wolker trägt diese soziale Dichtung hinein in das
Getriebe der Großstadt und ihrer Industrie, kleidet sie aber, dem modernen
Milieu zum Troß, in die Form der Ballade, wie z. B. in „U Rontgenu”.
Wolker hat in seinem zeitlich so beschränkten Lebenswerk eine Syn-
these der čechischen Dichtung erreicht; ein Bewunderer der slavischen
Volksdichtung, hat er es verstanden, mit Hilfe ihres alten Materials Keime
einer modernen Dichtung zu schaffen. Man braucht nicht zu bedauern, daß
die Cechische Dichtung bald nach dem Tode Wolkers im „Poetismus“ ganz
andere Wege ging wie er; sie folgte dabei nur zeitgemäßen Instinkten, und
man wird annehmen können, daß späterhin aus der von Wolker hinter-
lassenen Saat neue Keime aufsprießen werden. Emmy Haertel.
Otto F. Babler: Jakub Demi (zum fünfzigsten Geburtstag). —
Rivista di letterature slave. 3, 4—6 (1928), S. 351—359.
Das hier gebotene Lebensbild zeigt, welche Kämpfe Demi innerhalb
der katholischen Welt der Cechoslovakei, zu deren Hauptvertretern er ge-
hört, zu bestehen hatte: zuerst Kämpfe an der Seite Josef Florians gegen
die Lauheit des katholischen Modernismus, dann die Anfeindungen der
Hierarchie und schließlich die Meinungsverschiedenheiten gegenüber Florian
selbst, der ein Widersacher jeder individuellen poetischen Leistung war,
den einzigen Zweck der Literatur in ihrer religiösen Mission sah und sogar
von Ubersebungstatigkeit nichts wissen wollte. Demi ging infolge all
dessen seinen cigenen Weg weiter. Das Vortrefflichste, was unter seinen
bisherigen Werken zu nennen ist, sind die in dem Bändchen „Mojí pfatele“
enthaltenen Gespräche mit den Blumen, für die Demi mit einer seraphischen
Liebe erfüllt ist. Paul Eisner, der Ubetsetzer und Entdecker dieses Flori-
legium, schrieb darüber am 2. März 1928 in der Prager Presse: „Ist das
Buch schon in allen Cechischen Schulen obligatorisch? Es verdiente in
allen europäischen Schulen eingeführt zu werden.“ Diesem Buch waren
zwei Gedichtssammlungen und Prosastücke voraufgegangen: „Notantur
lumina“ und „Hrad smerti“ (1907 und 1912). Später folgte „Danec smerti“.
Hier verarbeitet der Dichter die Eindrücke, die der Tod von Mutter und
Schwester in ihm hervorgebracht. Demi hat in dieser Welt sich nicht nur
nach dieser einen Schwester gesehnt oder nach einem Bruder, sein Sehnen
ließ ihn nach einem Geschwisterkreis im weitesten Sinne suchen, nach einer
magischen Kette der Vereinigung. Er glaubte eine solche in den &echischen
Sokolverbanden zu finden, wurde aber bitter enttäuscht, als er in ihnen
einen antiklerikalen Geist vertreten fand.
Im J. 1924 erschien von ihm ein neues Meisterwerk „Cesno“ (teslo —
Flugloch der Bienen), auf dessen Titelblatt František Bílek die Worte
schrieb: „Seelisch das erleben, was die Bienen körperlich erleben, heißt die
451
Erde zum Himmel machen.“ Jaroslav Durych schrieb aus Anlaß dieses
Buches: „Man hört selten unsere Sprache unter den Cechischen Dichtern von
einer solchen originellen Frische... Hier erinnert in der Tat nichts an eine
fremde Sprache“, (gemeint ist die deutsch- & echische Abstammung und
Zweisprachigkeit Demis). B. schließt mit der Bemerkung, Deml könnte die
Cechische Sprache nicht so meisterlich beherrschen, wenn er sie nicht liebte.
Die vielen Leiden seines Lebens haben seine Fähigkeit zur Liebe genahrt.
Emmy Haertel.
POLEN
Matuszyfiski Marian: Próba analizy bitwy pod Plowcami
(Versuch einer Analyse der Schlacht bei Plowce). — Przeglad
historyczno-wojskowy. Heft I. 61—84. — Warschau 1929.
Auf Grund der Quellen und mit Berücksichtigung der Grundsäabe der
mittelalterlichen Taktik rekonstruiert Verf. den Verlauf der Schlacht, welche
der polnische König Ladislaus Lokietek den Truppen des Deutschen Ordens
am 27. September 1331 bei dem Dorfe Plowce geliefert hat. Die bisherige
wissenschaftliche Literatur, sowohl die deutsche wie auch die polnische,
unterschied in dem Verlaufe dieser Schlacht zwei voneinander getrennte
Phasen. Zuerst fand das Gefecht zwischen den Polen und der Abteilung
des Ordensmarschalls Dietrich von Altenburg, welcher dabei eine völlige
Niederlage erlitten hatte, statt. Kurz darauf kehrte der Hauptteil der
Ordenstruppen, welche in der Richtung von Brześć vorgerückt waren, auf
das Schlachtfeld zurück, und es entbrannte aufs neue ein Kampf, dessen
Ausgang, infolge der einander widersprechenden Quellenzeugnisse, in
Literatur verschieden aufgefaßt wird. Verf. nimmt noch eine dritte Phase
der Schlacht an: er läßt nämlich die von Brześć zurückkommenden Truppen
zuerst den in den polnischen Händen sich befindenden deutschen Wagen-
park wiedererobern und erst später den Kampf mit der königlichen Armee
aufnehmen. Diese Annahme scheint jedoch willkürlich zu sein, da sie von
keiner der vorhandenen Quellen beglaubigt wird. Im Gegensatz zu der
deutschen wissenschaftlichen Literatur und auch zum polnischen Forscher
Kaniowski, welcher sich zuletzt eingehend mit dieser Frage beschäftigt hal,
behauptet Verf., der Ausgang des lebten Treffens sei taktisch unentschieden
gewesen, bedeute aber in strategischer Hinsicht einen Erfolg der pol-
nischen Truppen; die Ordensritter seien nämlich gezwungen worden, so
schnell als möglich den Rückzug nach Thorn anzutreten.
S. Zajączkowski.
Kazimierz Tyszkowski: Kopitar a Ossolineum. Z powodu
100-letniego jubileuszu otwarcia zakładu (1827—1927). — Slavia
7, 1 (1928). S. 128—139.
Innerhalb der slavistischen Studienwelt in Wien um die Wende des
18. Jhs. hat Kopitar durch seine Beweglichkeit und Vielseitigkeit als ein
Bindeglied gedient. Hier näherte er sich dem polnischen Mäzen, dessen
bevorzugter Stellung in der Gesellschaft, Liebhaberei als Sammler, beträcht-
lichem Vermögen es zu danken war, daß er eine führende Rolle spielte.
Im J. 1810 erhielt Kopitar durch die Vermittlung des Grafen Ossoliński die
Sekretärstellung in der Hofbibliothek, in der er 34 Jahre hindurch verblieb,
von denen er 16 unter der Führung Ossolitiskis verbringen konnte, was ihm
ermöglichte, seine bibliothekdrischen Fähigkeiten auf eine allen Zeitgenossen
imponierende Höhe zu bringen. Ossolinski seinerseits erhielt durch die Ver-
mittlung Kopitars den Kontakt mit der slavistischen Gelehrtenwelt aufrecht.
Kopitar hat auch viel zur Bereicherung der Bibliothek Ossolifiskis bei-
getragen. Er besaß auch für dessen wissenschaftliche Beschäftigungen viel
Interesse, warf ihm aber Mangel an philologischer Kritik und geringe Kennt-
452
nis auf sprachwissenschaftlichem Gebiet vor, in diesem Sinne hat er sich
brieflich gegen Dobrovský geäußert. Die Freundschaft zu Ossoliński über-
trug Kopitar auch auf dessen gro e Büchersammlung, die er genau
kannte. Er wurde deshalb na em Tode Ossolifiskis von dem neuen
Präfekien der Kaiserl. Bibliothek, Dietrichstein, aufgefordert, an der Kom-
mission teilzunehmen, welche das Testament Ossolifiskis erfüllen sollte, und
wo es darauf ankam, diejeni ‚gen Bücher zurückzuerlangen, die sich Osso-
linski auf Lebenszeit aus der Kaiserl. Bibliothek entliehen hatte. Die Arbeiten
an der Inventarisierung der Bibliothek, die nach Lemberg übergeführt werden
sollte, zogen sich über ein Jahr hin. Kopitar wurde späterhin von dem
Leiter der Ossolineumbibliothek, Slotwitski, häufig in Fällen irgendwelcher
Komplikationen mit Behörden und Zensur ins Vertrauen gezogen. Slotwitski
hätte es gern gesehen, wenn Kopitar der Zensor der Veröffentlichungen des
Ossolineums 5 wäre, diesen Plan lehnte dieser aber bei seiner
großen Vorsicht entschieden ab. Ohne diese Vorsicht wäre es ihm sicher
nicht möglich gewesen, sich so lange auf seinem leicht gefährdeten Posten
zu halten. Im übrigen hat Kopitar guten Rat und Mitteilungen in reichem
Mage an Slotwinski gelangen lassen. Kopitar hatte gern den Florianer
Psalter im Ossolineum herausgegeben, doch wurde ihm dieser Plan durch
Borkowski vereitell. Diese ganze Angelegenheit wird aus dem im Anhang
enthaltenen Brief Kopitars an Siotwiński klar. Nach der Verhaftung Siot-
winskis i. J. 1854 hörten die lebhaften Beziehungen zu der Stiftung Osso-
linskis von seiten Kopitars auf, hochstwahrscheinlich hat der Prozeß Slot-
wifiskis wegen Staatsverbrechen den eifrigen Sohn Österreichs abgeschreckt.
Diesem kurzen Überblick uber die Beziehungen Kopitars zum Ossolineum
sind sechs Briefe, welche zwischen Kopitar und dem Grafen Lubomirski
über die Ernennung Slofwinskis und diejenigen, welche zwischen diesem
letzteren und Kopitar gewechselt worden sind, beigegeben.
Emmy Haertel.
Das Ende der Studentenverbindung „Polonia“ in Breslau. — Schle-
sische Geschichtsblätter, Jahrgang 1929, Nr. 2, S. 30—37.
Manfred Laubert schildert aus der Zeit der Verfolgung und
Unterdrückung der akademischen Freiheit hier eine Episode aus der Ge-
schichte der Universität Breslau. Der Universitatsrichter Neumann war im
Sommer 1830 der Fortdauer der ehemaligen Verbindungen Arminia, Bo-
russia, Silesia und Polonia und der Feier des herkömmlichen Zobten-
kommerses auf die Spur gekommen. Er wendete sich sogleich zur weiteren
Veranlassung an den Rektor Steffens und den Universitätsrichter Behrends.
Die angestellte Untersuchung verlief aber im Sande. Der Ausbruch des
Warschauer Aufstandes brachte dann im November eine scharfe Kontrolle
der aus Posen stammenden Studenten, bei denen insbesondere festgestellt
werden sollte, ob sie zu den polnischen Insurgenten ubergetreten wären.
Am 14. Mai war bei dem Minister Alfenstein eine offensichtlich gut infor-
mierte Denunziation des Breslauer student. Verbindungswesens eingelaufen,
und auch gerade über die „Polonia“, welche nicht nur polnische, sondern
auch aan. Mitglieder der Provinz Posen zu ihren Mitgliedern
zählte. Die von der Universitätsbehörde daraufhin eingeleitete Untersuchung
ergab kein belasiendes Material gegen die „Polonia“. Ein mit den polni-
schen Verschwörern in guter Beziehung stehender älterer polnischer Stu-
dent, Adam Kasimir v. Koczkowski, der bald wegen schwerer strafrecht-
licher Delikte ins Zuchthaus kam, von dort jedoch entwich, hatte am
17. Januar 1830 die „Polonia“ gegründet, ohne aber deren Mitglieder der
poln. Propaganda zuführen zu können, vielmehr hielten die Polonen alles
Politische geflissentlich fern. Das ist eben erklärlich, da ja auch Deutsche
aus der Provinz Posen der „Polonia“ angehörten. So verlor Koczkowski
das Interesse an der „Polonia“. Seine Aussagen bei seiner Inhaftierung
belasteten das Breslauer Verbindungsleben stark. Und wenn auch die an-
gestellte Untersuchung die Mitglieder der „Polonia“ so entlastete, daß die
455
Angelegenheit mit ihrem Freispruch endete, so veranlaßte Altenstein doch,
daß den freigesprochenen Studenten die Unfähigkeit zur Bekleidung öffent-
licher Ämter wegen Verstoßes gegen den Bundesbeschluß v. 18. t. 1819
vermerkt wurde. — Lauberts Studie ist eine Ergänzung zu seinen und
A. Kerns Ausführungen in der „Zeitschr. d. Ver. f. Gesch. Schlesiens“,
Bd. 45, S. 139 ff. und 71 ff. E. Hanisch.
Piłsudski Joseph: Zarys historji militarnej powstania siycz-
niowego (Kurzgefaßte Militärgeschichte des Janner-Aufstandes).
— Przegląd historyczno-wojskowy. Heft I. 1—60. — Warschau
1929.
Die vorliegende Arbeit enthält eine genaue Analyse der Umstande,
unter welchen der Aufstand in Kongre§-Polen gegen die russische Regie-
rung im Jänner 1863 ausgebrochen ist, und der Ursachen, infolge deren sein
Verlauf von Anfang an für die Polen ungünstig gewesen ist. Der Aufstand
wurde nämlich in militärischer Hinsicht ungenügend vorbereitet, die Frage
des Oberkommandos wurde sogar im vorhinein nicht geregelt, im Momente
des Ausbruches, den die russische Regierung provoziert hatte, herrschte
unter den Aufständischen eine völlige Verwirrung usw. Infolgedessen miß-
langen meistenteils die ersten Angriffe der Aufständischen gegen die rus-
sischen Truppen, später führte jede Abteilung der Aufständischen den Kampf
ganz selbständig, was den Polen unmöglich machte, eine revolutionäre
Armee unter einheitlichem Oberbefehl zu schaffen und die Initiative in den
Kriegsoperationen zu ergreifen. Der Aufstand nahm also den Charakter
eines hoffnungslosen Kampfes an, dessen Zweck war, nicht den Sieg über
den Feind zu erfechten, sondern solange als möglich auszuharren. Endlich
ernannte im Herbst 1863 die revolutionäre Regierung Romuald Traugutt,
einen gewesenen Stabsoffizier der russischen Armee, zum Diktator. Der-
selbe, in Warschau, also im Mittelpunkte des Kriegsgebietes verweilend,
bemühte sich, die einzelnen Abteilungen der Aufständischen in militärischer
Hinsicht zu reorganisieren und seiner einheitlichen Leitung zu unterwerfen.
Alle diese Maßnahmen wurden aber zu spat vorgenommen und der Auf-
stand erlag, nach der Dauer von über einem Jahr, der russischen Ubermacht.
S. Zajaczkowski.
Wolfango Giusti: Le leitere dalla prigione di Rafael Kra-
jewski. — L’Europa Orientale. 8, 9—10 (1928), S. 307—312.
Krajewski war einer der Haupträdelsführer im polnischen Aufstand
v. J. 1863, die Briefe, die er an die Seinigen aus dem Gefängnis geschrie-
ben, sind, chronologisch geordnet, in dem von Agaton Giller 1875 heraus-
gegebenen Werk „Polska w walce“ abgedruckt. G. gibt Auszüge aus
diesen Briefen und leitet sie durch eine biographische Skizze Krajewskis
ein. Er charakterisiert die Stellung Krajewskis innerhalb der übrigen An-
hänger der Insurrektion und schließt mit der Schilderung seiner Hinrichtung.
Emmy Haertel.
Enrico Damiani: l narratori della Polonia d’oggi. — Rivista di
letterature slave. 3, 4—6 (1928), S. 403—437.
Damiani gibt in Übersekung Proben aus den Werken der hauptsach-
lichsten Vertreter der polnischen Prosa der Gegenwart und läßt diesen eine
kurze Charakteristik des betreffenden Schriftstellers voraufgehen. Er ver-
sucht es, auf diese Weise dem italienischen Leser Berent, Orkan, Kaden-
Bandrowski, Makuszynski, Goetel, Kossowski, Wiktor und Grabinski nahe
zu bringen. Als Vertreter der älteren Generation unter den noch lebenden
Schriftstellern bespricht er noch kurz Sieroszewski, Weißenhof, Pzrerwa-
Tetmajer und Strug. Zum Schluß sucht er die Tendenzen dieser modernen
454
AFG
ag &
1 . H ST
polnischen Prosa kurz zu charakterisieren. Sie weist Talente auf, aber
keine Genies. Als ein neuer Zug tritt in ihr das humoristische Element her-
vor, wie z. B. bei Makuszyfiski. Die früheren Generationen haben während
der Zeit der politischen Knechtschaft Vz ects ihren Schöpfungen die
Intonation des Schmerzes gegeben. Eine Literaturgattung, welche in der
älteren polnischen Literatur zu höchster Blüte gelangt war, fehlt: der
historische Roman. Auch das ist erklärlich. Während früher im polnischen
historischen Roman das patriotische Feuer wachgehalten werden sollte, fällt
dieses Motiv jekt fort, auch mögen die großen Ereignisse der letzten Zeit
die Erinnerung an die alte etwas haben zurücktreten lassen. Geblieben ist
auch in dieser neuen polnischen Literatur ihre Tendenz zum Guten und
Schönen, zu Vaterlandsliebe, Familiensinn usw. Romane, denen — aus-
gesprochen oder unausgesprochen — ein moralischer Inhalt dieser Art fehli,
sind in der polnischen Literatur unbekannt. Und darin besteht, nach der
Meinung Damianis, eine der stärksten Kräfte dieser Literatur, ohne Rück-
sicht auf den künstlerischen Wert der einzelnen Schöpfungen.
Emmy Haertel.
Wolfango Giusti: Relazioni tra la poesia popolare polacca
e quella Cecoslvacca. — Rivista di letterature slave. 3, 4—6
(1928), S. 378—385.
Die Vergleiche, die G. zwischen der polnischeu und čechoslovakiscthen
Volksdichtung anstellt, gründen sich auf Untersuchungen an Liedern aus der
Rogerschen Sammlung „Pieśni ludu polskiego w Górnym Śląsku“ und aus
Erbens ,,Prostonérodni české písně a řikadla“. Es sind meistens Liebes-
lieder der bekannten bilderreichen Gestalt von G. zitiert worden, zwischen
denen bei Polen und Cechen eine auffallende Ahnlichkeit der Texte fest-
zustellen ist. Häufig bringt die čechische Version nur eine Anderung durch
die Beziehung auf eine bestimmte Persönlichkeit, einen in den Text ge-
stellten Eigennamen, der in dem entsprechenden polnischen Text fehlt. » Es
kommt auch vor, daß zwei getrennte Cechische Texte im Polnischen zu
einem einzigen Lied verschmolzen sind. Dann wieder zeigt ein Lied in
beiden Sprachen unverändert denselben Inhalt. G. schließt mit der Be-
merkung, cab, wenn man in der Kunstliteratur der Slaven nicht von einer
„slavischen“ Literatur sprechen darf, ebensowenig wie von einer slavischen
Philosophie oder Kunst, trosdem aber zugegeben werden muß, daß die
Ahnlichkeit des slavischen Folklore größer ist als in den übrigen Zweigen
der indoeuropäischen Volker. Emmy Haertel.
Waclaw Lednicki: „Poland and the Slavophile Idea“. — Sila-
vonic Review. Juni 1928. S. 128— 140.
Der bekannte poln. Slavist, früher Prof. d. slav. Lit. in Brüssel, jebt
Prof. d. russ. Lif. in Krakau, befaßt sich hier mit der wenig erorterten Frage
des poln. Slavophilentums. Auf einem der lebten panslavistischen Kongresse
der Vorkriegszeit sprach der Pole Stasiak den Gedanken aus, die panslav.
Idee sei schon im 11. Jahrh. vom polnischen König Boleslaw Chrobry ver-
wirklicht worden, der unter seinem Zepter Polen, Russen und Cechen ver-
einte und sie, wie es auch fremde Quellen zugeben, zu ihrer Zufriedenheit
regierte. Die Rede rief, besonders von russischer Seite, Empörung hervor.
L. will die Geburt des polnischen Slavophilentums erst im 19. Jahrh. sehen,
obwohl schon das 18. Jahrh. ein solches Zeugnis bringt, wie das Manifest
der Sandomirer Konföderation von 1733. Hier schlägt Polen den Russen
als Stammbrüdern Freundschaft und Bündnis vor.
Im 19. Jahrh. wurde das Slavophilentum in Polen von den deutschen
Denkern der Romantik beeinflußt. Staszic schrieb 1815 ein Werk, in dem
er die Erlösung des Menschentums durch die Slaven erhoffte. Den Vorrang
vor allen slav. Nationen gab er aber dem mächtigen Rußland. Der Krieg
455
v. 1812 sei ein slav. Krieg gewesen. Hier hätten die Slaven Europa gezeigt,
was sie vermochten. Die feindlichen Beziehungen Rußlands zu Polen wären
nur Folgen der deutschen Hetze. Diese Ideen wurden von Staszic vor
Aksakov, Chomjakov und Samarin gepredigt, was die völlige Selbständig-
keit des poln. Slavophilentums bezeugt.
Ein anderer Autor, Jaroszevicz, behandelte in einem 1826 erschienenen
Werke besonders die kirchliche Frage. Er war an Verehrer der griechisch-
kath. Religion, die eine weitere Entwicklung der Oesetzgebung und der
Historiographie in der Volkssprache ermöglichte. Polen ist daher durch
den romisch-kath. Glauben zur untreuen Tochter des Sy eg orden.
Eine echte slav. Nation sind für J. nur die Russen. — Spätere Slavophilen
erscheinen in den 40er Jahren. gewisser Grabowski, Verräter an der
polnischen Sache, der von den Russen Gelder bezog, offenbarte sich in
zwei 1841 und 1846 erschienenen Werken als großer eutschenhasser. der
in Rußland den einzigen Erlöser von den Teutonen sehen wollte. Auch
er war Apologet des mens CH kal, Glaubens, zu dem er später tibertrat.
Der Fürst Sviatopolk irskij, der 1843 zur 1 Kir che
ubertrat, nanni¢ sie „die einzige natürliche Religion aller Slaven”. — Waclaw
Jablonowski ging von einem efwas anderen Gedankengang aus. Er halt
die Slaven für ein mehr asiatisches als europäisches Volk und hält daher
einen Anschluß an Rußland für die Westslaven erforderlich. Seine Ge-
num den Ideen der jetzt so modernen Eurasierbewegung sehr
verwandt.
Der bedeutendste unter den poln. Slavophilen ist zweifellos der Philo-
soph Hoene-Wronski. Seine Ideen sind folgende: Frankreichs Rolle in der
Geschichte ist das Vervollkommnen des Staates, Deutschlands — der Kirche,
Rußlands aber in der Erfüllung der Union von Kirche und Staat. So ist
er ein Vorgänger Vladimir Solovjev's in der Idee des Cäsaropapismus.
will im poln. Slavophilentum ediere Seiten erblicken als im russischen.
Die Russen wollten die Herrscher in der zukünftigen slavischen Union sein,
die Polen aber wollien sogar ihre eigene politische Unabhängigkeit opfern.
Aber der gesunde Instinkt des polnischen Volkes, das im Kampf für diese
Unabhängigkeit sein kostbarstes Gut sah, lehnte die Gedanken der Slavo-
philen ab, und sie hatten keinen Erfolg in der polnischen Gesellschaft.
Nadežda Jaffe.
OSTEUROPA-INSTITUT IN BRESLAU
JAHRBÜCHER
FÜR
KULTUR UND GESCHICHTE
DER SLAVEN
IM AUFTRAGE DES OSTEUROPA- INSTITUTS
HERAUSGEGEBEN VON
PAUL DIELS-BRESLAU, FELIX HAASE-BRESLAU,
ERDMANN HANISCH-BRESLAU, ROBERT HOLTZ-
MANN-HALLE, JOSEF MATL-GRAZ, HEINRICH
FELIX SCHMID-GRAZ, KARL STÄHLIN-BERLIN,
KARL VÖLKER-WIEN, WILHELM WOSTRY-PRAG
SCHRIFTLEITUNG:
ERDMANN HANISCH
*
N. F. BAND v. HEFT IV
1929
CTA ⁊·˙- T a a a
PRIEBATSCH’® BUCHHANDLUNG
BRESLAU, RING 58, UND OPPELN
Beiträge und Mitteilungen sind zu richten entweder an das
Osteuropa-Institut in Breslau oder an die Anschrift
des Schriftleiters: Prof. Dr. Erdmann Hanisch,
Breslau 15, Körnerstraße 5/7.
|
ABHANDLUNGEN
DIE AGRARVERHALTNISSE IN WEISSRUSSLAND
VOR DER UMWALZUNG IM JAHRE 1917
Von
Dr. S. Kaleko.
Vorwort.
Das in der vorliegenden Arbeit untersuchte Gebiet ist eines der
Gebiete Rußlands, das von der Wissenschaft und Literatur am wenig-
sten behandelt worden ist. Weißrußland konnte, infolge seiner Armut
und Rückständigkeit, niemals einen wichtigen Faktor im Leben Ruß-
lands darstellen. Weder auf landwirtschaftlichem oder industriellem
Gebiete, noch politisch oder kulturell zeichnete sich das dürftige
Weißrußland aus und bot somit keinen besonderen Reiz zur Erfor-
schung. Die Erforschung dieses Gebietes wurde auch dadurch er-
schwert, daß das Carenregime jegliche Forschungsarbeit privater Art,
die irgendeinen Zusammenhang mit der weißrussischen Nationalitäten-
frage haben könnte, untersagt hatte.
Das einschlägige Material, auch die amtliche Statistik sind un-
zureichend, da sie von verwaliungspolitischen Momenten beeinflußt
und nicht frei von Tendenzfärbung sind. Nur hie und da sind knappe
Darstellungen für einzelne Gouvernements und für verschiedene Er-
scheinungen im wirtschaftlichen Leben Weißrußlands zu finden. Eine
umfassende Behandlung dieses Gebietes, seiner Verhältnisse usw. ist
weder in der russischen noch in einer anderen Sprache vorhanden.
Erst in den Nachrevolutionsjahren hat eine intensive Forschungsarbeit
über Weißrußland eingesetzt. Die Erfolge dieser Arbeit machen sich
jetzt schon allmählich bemerkbar, jedoch ist diese noch lange nicht
abgeschlossen. Und gerade Weißrußland erweist sich als ein be-
sonders interessantes Forschungsgebiet, da es in vieler Hinsicht eine
Ausnahmestellung innerhalb des Russischen Reiches einnimmt und
infolgedessen eine besondere Beachtung seiner Verhältnisse ver-
dient. Diese Ausnahmestellung Weißrußlands gegenüber dem ge-
samten Rußland wird wohl aus nachstehender Abhandlung ersichtlich
werden.
457
Infolge der genannten Ursachen war es recht schwierig, aus den
verschiedensten zerstreuten Quellen das geeignete notwendige Ma-
terial aufzutreiben und zu sichten.
Und nun einige Bemerkungen über die Einteilung der vor-
liegenden Arbeit:
Die Arbeit umfaßt die Behandlung der Agrarverhältnisse in
Weißrußland im Zeitabschnitt von der Aufhebung der Leibeigenschaft
bis zur Oktober-Revolution (1861—1917), wobei zwei in diese Zeit-
spanne fallende Wirtschaftsperioden einzeln behandelt werden. Die
erste Periode (1861— 1905) umfaßt den Zeitraum der vorherrschenden
Naturalwirtschaft, einen Zeitabschnitt, in welchem die Beziehungen
der Agrarproduktion zum Markt sehr locker waren, und die Betriebs-
formen der Landwirtschaft auf allerprimitivster Stufe standen.
Mit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts bricht die alte Wirt-
schaftsform in Weißrußland zusammen, der sich ausbreitende rus-
sische Kapitalismus dringt in zunehmendem Maße auch in das weiß-
russische Dorf ein. Das Dorf proletarisiert sich, es tritt das Wande-
rungsproblem in aller Schärfe zutage, es beginnt die zweite Periode
in a weißrussischen Landwirtschaft, die bis zur Revolution von 1917
anhält.
Kapitel 1.
Das Gebiet Weißrußland.
Kurze ethnogr.-demographische Ubersicht.
A. Territorium.
Vor dem Weltkriege pflegte man dasjenige Gebiet Ruglands als
„Weißrußland“ zu bezeichnen, das im Nordwesten des Riesenreiches
gelegen ist: nämlich das Gebiet zwischen dem Njemen und der west-
lichen Dwina und zwischen Dnjepr, Pripet und Beresina. Es gab
jedoch keine absolut festen Grenzen, da Weißrußland schon seit
langer Zeit kein selbständiges Staatswesen darstellte, sondern an-
deren Staatskorpern angegliedert war: erst dem Großfürstentum
Litauen:), später dem Königreich Polen?) und zulegt der russischen
Monarchie“).
Der häufige Wechsel der Staatsgewalt in Weißrußland und seine
Zersplitterung durch die gleichzeitige Abhängigkeit von verschiede-
nen Staatssouveränen sowie auch die Bestrebungen der jeweiligen
Regierungen, die Bevölkerung Weißrußlands mit dem staatlichen
1) Durch den GOroßfürsten Gedimin (1315—1340) und seine Nachfolger
Olgad. und, Witold, die ganz Weißrußland dem Oroßfürstentum Litauen ein-
verlei en.
2) Durch die Lubliner Union zwischen dem Oroßfürstentum Litauen und
dem Königreich Polen im Jahre 156.
s) Durch die Aufteilung Polens (1772—96).
458
Mehrheitsvolke zu vermischen, hatten zur Folge, daß sich die Grenzen
Weißrußlands nach und nach völlig verwischten.
Man pflegte diejenigen Gouvernements als Weißrußland zu be-
zeichnen, in denen die Mehrheit der Bevölkerung weißrussisch sprach.
Diese Annahme stand jedoch mit der der administrativen Einteilung
nicht im Einklang. Nach den Ergebnissen der Volkszählung in Ruß-
land von 1897 sind als Bezirke mit vorherrschender weißrussischer
Sprache festgestellt worden: sieben Kreise des Gouvernements Wi-
tebsk (80% weißrussisch Sprechende), sämtliche Kreise der Gouver-
nements Minsk (76,4%), Mohilew (82,6%), Wilna (56%) und Grodno
(66,7%), ferner ein Kreis des Gouv. Smolensk (Krasnin, 90%).
Die obengenannten Gebietsteile umfaßten insgesamt eine Fläche
von 203 734 Quadrat-Werst (231 850 qkm) und eine Bevölkerung von
7080041 Seelen, wovon 5310461 (75%) weißrussisch sprachen’).
Nichtsdestoweniger wurden nur die vier Gouvernements Minsk, Wi-
tebsk, Mohilew und Smolensk in den offiziellen Angaben als weiß-
russisches Gebiet bezeichnet’). Die benachbarten Sprachgebiete
sind die der Polen im Westen, der Litauer im Nordwesten, der Letten
im Norden, der Großrussen im Osten und der Ukrainer im Süden.
In der vorliegenden Arbeit sollen im Einklang mit der offiziellen
Statistik nur die vier Gouvernements Minsk, Witebsk, Mohilew und
Smolensk als Weißrußland behandelt werden.
Das weißrussische Gebiet bildet eine Ebene, die etwa 150—200 m
über dem Meeresspiegel liegt. Der höchste Punkt befindet sich nord-
lich von Minsk — die sogenannte „Lyssa-Gora“ —, sie erreicht eine
Höhe von 343 m über dem Meeresspiegel.
Das Klima in diesem Gebiet ist feucht und ungesund, insbeson-
dere in den Gouvernements Minsk und Witebsk, wo sich weite Sumpf-
flächen erstrecken. Die Niederschlagsmenge beträgt etwa 500 bis
600 mm. Das „Polesje“ (Kreis Pinsk und Mozyr im Gouv. Minsk)
sowie der nördliche Teil des Gouvernements Witebsk, der sich in der
Nahe der Ostsee befindet, zeichnen sich durch besondere Feuchtig-
keit aus (in den Sommermonaten etwa 200-300 mm, in den Winter-
monaten etwa 75—100 mm). Die Zahl der Regen- und Schneetage
beläuft sich auf etwa 150—160 (Schneetage 110—120) jährlich. Die
Eisdecke hält etwa 120—130 Tage an.
Weißrußland zeichnet sich durch einen Reichtum an Flüssen
aus. Der Dnjepr mit all seinen Nebenflüssen, wie Pripet, Beresina,
Dejsna u. a. m., der Njemen, die westliche Dwina sind die Haupfflüsse,
) Weißrussisch Sprechende befanden sich auch im Gouv. Pskow und
Tschernigow.
8) Die übrigen Gouvernements waren als litauische anerkannt. Später
wurde das Gouv. Smolensk in, das zentrale Industriegebiet einbezogen. In
der heutigen Sowjetunion bilden sechs Kreise des ehemaligen Gouv. Minsk,
fünf Kreise des Gouv. Witebsk, das ganze Gouv. Mohilew (z. Zt. Gomel) und
ein Kreis des Gouv. Smolensk die weißrussische sozialistische Sowjet-
Republik. Dieses Gebiet umfaßt eine Fläche von 125,7 Tausend gkm mit
einer Bevölkerung von 4979,7 Tausend Köpfen (laut der Volkszählung von
1926) und ist in 12 Bezirke und 118 Rayons eingeteilt.
30 NF 5 459
die das Land bewässern. Außerdem gibt es hier noch eine Anzahl
von anderen kleinen Flüssen und Seen (allein im Gouv. Witebsk mehr
als 20 solcher Wassersiraßen).
Die meisten Flüsse sind schiffbar und für den Wasserverkehr
gut geeignet.
Was die Bodenarten anbetrifft, so waren im Jahre 1877: Acker-
land 278%, Wiesen- und Weideland 14,4%, Wald 37,6%, Brach-
land 16,9% der gesamten Bodenfläche. Der Prozentsak des Acker-
landes war hier also viel geringer als der im gesamten europäischen
Rußland (das Nordgebiet nicht mitgerechnet). Auffallend ist hier
auch der hohe Prozentsatz des anbauunfähigen Bodens. Das Ver-
hältnis hat sich jedoch in den letzten Jahren geändert, erstens durch
die Trockenlegung der Sümpfe (Expedition Zelinsky), die ungefähr
2000000 Quadrai-Deßjatinen Sumpfflache in Trockenland ver-
wandelt hat, sowie dadurch, daß große Waldsirecken ausgerodet
und anbaufähiger Boden gewonnen wurde (z. Z. bestehen etwa 25%
Waldland).
Das Ackerland besteht zum größten Teil aus Sandboden, die
anderen Bestandteile sind lehmiger Sandboden und Lehmboden. Im
großen ganzen ist der Boden von niedriger Qualität, so daß nur be-
stimmte Arten von Pflanzenkulturen durchgeführt werden können. Die
meist verbreiteten Kulturen sind: Roggen, Gerste, Hafer, Erbsen,
Flachs und dergl. mehr, in manchen Gebieten wird auch Tabak an-
gebaut. Das Pripet-Polesje-Gebiet weist einen größeren Reichtum
an Kulturpflanzen auf; wir finden hier 25 verschiedene Pflanzenarten.
Der Wälderreichtum des weißrussischen Gebietes besteht zum
größten Teil aus Nadelwald (Kiefern, Fichten, Tannen), jedoch findet
man auch weite Strecken von herrlichen Laubwäldern (Eichen, Birken,
Espen u. a. m.). Im allgemeinen trägt die Flora Weißrußlands alle
Züge eines Übergangstyps, und zwar gleicht sie im westlichen Ge-
bietsteile der des Baltikums, im Osten erinnert sie an die Flora der
Moskauer Zone.
B. Die Bevölkerung.
Die Bevölkerung Weißrußlands ist seit der Aufhebung der Leib-
eigenschaft bis zum Ausbruch des Weltkrieges fast auf das Dreifache
gewachsen. Im Jahre 1861 betrug die Bevolkerungsziffer 3 839 000
Köpfe, 1897 bereits 5 367 000 und 1914 9618000. Dieser hohe Zu-
wachs ist nur auf die natürliche Zunahme, die hier 1,82% ausmachte,
zurückzuführen. Von einer Einwanderung nach Weißrußland kann
kaum die Rede sein; im Gegenteil, wir stellen sogar eine starke Ab-
wanderung, sowohl nach den südrussischen und sibirischen Gouver-
nements als auch nach dem Westen und nach den überseeischen
Ländern fest.
Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung lebte auf dem
Lande. Von den 5 367 000 Seelen im Jahre 1897 waren nur 595 120
— d. s. 11,1% — in den Städten ansässig. Zwar stieg kurz vor Aus-
460
—
bruch des Krieges die absolute Zahl der Stadtbevolkerung auf
1,1 Million Köpfe, jedoch bildet sie relativ auch zu dieser Zeit nur
11,4% der Gesamibevölkerung Weißrußlands. Die Städte vergrößer-
ten sich hier hauptsächlich infolge des natürlichen Zuwachses, eine
Zuwanderung vom Dorfproletariat, wie es in Westeuropa der Fall
war, konnte in Weißrußland kaum stattfinden, da Industrie und Handel
in den Städten schwach entwickelt waren. Die Wanderung vom
Dorfe in die Stadt ging hauptsächlich während der Wintermonate
vor sich, zu welcher Zeit die Bauern in der Stadt verschiedene Aus-
hilfsarbeiten übernahmen, sich dort jedoch nicht fest niederließen,
sondern zum Frühjahr in ihre Dörfer zurückkehrten. Diese Tatsache
ist aus den Ziffern der Geschlechterverteilung in Stadt und Dorf nach
der im Winter 1897 durchgeführten Zählung klar ersichtlich. Während
im Dorfe auf je 100 Männer 103,4 Frauen kamen, waren es m der
Stadt 94,2 Frauen, d. h. in der Stadt war die Zahl der Männer eine
größere als die der Frauen, und im Dorfe war das Verhältnis
umgekehrt.
Es muß jedoch gesagt werden, daß der Überschuß der Frauen im
weißrussischen Dorfe nicht bei allen bäuerlichen Schichten vorkam.
Meist herrschte er in den landarmen oder landlosen Wirtschaften,
hingegen überstieg die Zahl der Männer in den großbäuerlichen Wirt-
schaften erheblich die der Frauen. So z. B. kamen hier in den Wirt-
schaften bis zu 2 Deßjatinen Saatflache auf je 100 Männer etwa 102
Frauen; dagegen in den Wirtschaften mit 20—30 Deßjatinen Saat-
flache nur 88 Frauen.
Die überwiegende Mehrheit der Dorfbevölkerung waren Weiß-
russen. Jedoch ist es schwer, die genaue Zahl und den Prozentsatz
des weißrussischen Elements, insbesondere in den Städten, fesizu-
stellen. Bekanntlich strebte die caristische Verwaltung danach, das
weißrussische und ukrainische Element mit dem großrussischen zu
verschmelzen, um das Bestehen verschiedener Nationalitäten inner-
halb des russischen Volkes zu vertuschen. Aus diesem Grunde
wurden auch bei den Volkszählungen viele Weißrussen als „Russen“
eingetragen.
Laut den Angaben vom Jahre 1897 war die Verteilung der Be-
völkerung nach Nationalitäten in Weißrußland wie folgt: Etwa
65% der Gesamibevölkerung bildeten Weißrussen, 18% Großrussen
(besonders im Gouv. Smolensk), etwa 10% Juden, 4,5% Letten und
etwa 2% Polen. In den Städten stellten die Juden den größten
Prozentsat der Bevölkerung dar. In den westlichen Kreisen Weiß-
rußlands finden wir unter der Dorfbevölkerung auch einen bedeuten-
den Prozentsatz von Polen.
Was die berufliche Verteilung der Bevölkerung Weißrußlands
angeht, so waren etwa 80% der Bevölkerung in der Landwirtschaft
tätig (davon Weißrussen 90,8%), 8,5% waren in der Industrie beschäf-
tigt (Hausindustrie und Handwerker), etwa 2% im Handel, 1,5% in
freien Berufen usw.
461
Und nun einige Worte über das weißrussische Volk). Die Weiß-
russen bilden einen der drei wichtigsten Stämme, aus denen sich das
russische Volk zusammenseft. Bis heute werden sie von der Wissen-
schaft als der am ursprünglichsten erhaltene Stamm der östlichen
Slaven angesehen. Tatsächlich haben sich bei den Weißrussen uralie
Sitten und Gebräuche bis auf den heutigen Tag erhalten, viel mehr
als bei den anderen slavischen Stämmen. Dagegen fehlte den Weiß-
russen die kolonisatorische Fähigkeit der Großrussen, sowie der
Freiheitsgeist der Kleinrussen, der sich bei diesen infolge der fort-
währenden Kämpfe mit Wanderstammen (Polovcy) herausgebildet
hat. Der weißrussische Bauer war und blieb konservativ, unemp-
fänglich und etwas apathisch.
Die Begründung hierfür ist wohl in folgenden Tatsachen zu
suchen. Erstens in der natürlichen Beschaffenheit des weißrussischen
Bodens. Weißrußland ist, wie gesagt, arm an Naturschönheiten, die
die Bevölkerung innerlich hätten anregen können. Wegen der großen
Sümpfe und Walder lagen die Dörfer verstreut und waren verhali-
nismäßig dünn besiedelt. Da keine Verkehrsmittel vorhanden waren,
war ein Dorf vom anderen fast abgeschnitten, es konnte sich daher
kein reges Gemeinschaftsieben entwickeln. Zweitens spielte die
politische Abhängigkeit Weißrußlands von anderen Staaten eine be-
deutende Rolle. Weißrußland hat nur während ganz kurzer Zeit-
räume ein selbständiges politisches Leben geführt, es konnte daher
bei den Weißrussen von einem patriotischen Gefühl und von poli-
tischer Aktivität kaum die Rede sein. Das Gefühl für Freiheit und
nationale Selbständigkeit wurde bei ihnen schon im ersten Keim
von den Völkern, die sie beherrschten, erstickt. Besonders stark
bemühte sich die polnische Regierung, dieses Gebiet zu annektieren.
Durch eine schlaue Politik gelang es den Polen, den weißrussischen
Adel, dessen persönlicher Eitelkeit die Würde eines polnischen Pan
schmeichelte, auf die Seite der polnischen Regierung zu ziehen. Da-
durch hat der polnische Einfluß im Lande immer mehr zugenommen.
Die polnischen Sitten und Gebräuche fanden in den Kreisen des
weißrussischen Adels große Verbreitung. Dies hatte zur Folge,
daß erstens der weißrussische Adel sich immer mehr vom Volke
trennte, und daß zweitens jede Weiterentwicklung der weißrus-
sischen Kultur und Sprache erschwert wurde’). Auch die groß-
russische Herrschaft hat die politische Freiheit der Weißrussen völlig
unterdrückt. Sie trieb eine Politik, die zu einer raschen Russi-
fizierung der Bevölkerung führen mußie. 1804 wurde das „Litauische
Statut“, das jahrhundertelang als glänzendes Zeugnis weißrussischer
Staatskunst das Gerichtswesen und die Verwaltung im Lande ge-
©) Nach Dovnar-Zapolski rührt die Bezeichnung „Weißrussen” daher,
daß die Weißrussen zur Zeit der Tatarenherrschaft im 13. Jahrhundert nicht
tributpflichtig — also „weiß“ waren.
7) Laut Gesetz von 1697 wurde die weißrussische Sprache als Amts-
sprache durch die polnische ersetzt. (Dovnar-Zapolski „Die Grundlagen des
Staatswesens in Weißrußland“. Grodno 1919.)
462
regelt hatte, aufgehoben. 1839 wurde der Gebrauch der weißrussi-
schen Sprache in Schule und Kirche verboten. 1865 erfolgte das
Verbot jeglichen Druckes und der Verbreitung von weifrussischen
Schriften. Kurz, die russische Regierung verfolgte den Grundsak,
jeden Funken eigenvölkischen Lebens zu löschen. Drittens war die
fruhe Einführung der Leibeigenschaft in Weißrußland von großer
Bedeutung. Der weißrussische Bauer ist viel früher als seine Brü-
derstämme der Leibeigenschaft verfallen, und zwar finden wir diese
hier in ihren ersten Anfängen bereits unter Kasimir im 15. Jahr-
hundert®). Kasimir veröffentlichte ein „Privilej“, wonach den Bauern
der freie Übergang von den herrschaftlichen Besitztümern zur Selbst-
ansiedlung und umgekehrt verboten wurde, er unterwarf auch die
Bauern der Jurisdiktion des Gutsherrn. Das Joch, das sein „Dan“
ihm auferlegte, drückte den Bauern derart, daß er zwangsläufig in
den engen Grenzen seines primitiven Wirtschaftslebens einge-
schlossen blieb, was nicht ohne Wirkung auf seine geistige Eigen-
art bleiben konnte.
Kapitel 2.
Verteilung des Bodenbesiges in Weißrußland.
Allgemeine Übersicht.
Bevor auf die Frage der Verteilung des Bodenbesigfes in Weiß-
rußland, wie auch auf das Problem des während der von uns behan-
delten Periode vor sich gegangenen Bodenbesikwechsels, näher ein-
gegangen wird, soll zunächst einmal die Landwirtschaft in Weiß-
rußland, ihr Stand unmittelbar nach der Aufhebung der Leibeigen-
schaft und ihre weitere Entwicklung sowohl in agrartechnischer als
auch in sozialwirtschaftlicher Beziehung untersucht werden.
Die Aufhebung der Leibeigenschaft im Jahre 1861 hatte für die
weißrussische, insbesondere aber für die bäuerliche Landwirtschaft,
durchaus negative Folgen. Den Bauern wurden große Bodenfeile,
die ihnen früher gehörten, besonders Wiesenland, das sie für thre
ärmliche Viehhaltung unbedingt brauchten, entzogen. Außerdem
wurde ihnen, wie aus den Berichten der Lokalkomitees ersichtlich,
Boden von ganz schlechter Qualität zugeteilt. Es wurde eine Schicht
von „Beitelländlern“ geschaffen, eine Klasse von fast landlosen
Bauern hergestellt). Die Zahl dieser „Bettelländler‘“ betrug etwa
7% aller Leibeigenen. Gänzlich ohne Landanteil blieben auch die
_ 8) Endgültig eingeführt wurde die Leibeigenschaft in Weißrußland durch
die Lubliner Union (1569).
1) Das konnte geschehen auf Grund des 8 123 des Manifestes vom
19. 2. 1861, wonach dem Gutsbesiber das Recht zustand, nach „freiwilliger
Übereinkunft“ (die jedoch meist aufgezwungen wurde) mit dem Bauern,
diesem % des Maximalanteils unentgeltlich zu überlassen, dafür aber den
verbliebenen Rest des Anteillandes für sich zu behalten. Der Minimal- oder
Beitelanteil machte oft nicht mehr als eine Deßj. aus.
465
sogenannten ,,Dworowyje“ (Hofdienerschaft), deren man in Weiß-
rußland etwa 100 000 zählie.
Auf diese Weise hat sich die Klasse der Gutsbesitzer bei der Ab-
schaffung der Leibeigenschaft zum großen Teil auf Kosten der Bauern
bereichert. Hinzu kommt die große Summe „Lösegeld“, womit die
Bauern ihre „Freiheit“ erkaufen mußten (die Auslösungssumme in
Weißrußland war etwa um 40% höher als der Gesamtwert des An-
teillandes) und dies bei Verhältnissen, wo die 3—4 Deßj. pro Re-
visionsseele nicht einmal ausreichten, um den Bauern den kärg-
lichsten Lebensunterhalt zu ermöglichen.
Sehr richtig kennzeichnet W. Simkhowitsch die Auslösungs-
zahlungen in seinem Werke „Die Feldgemeinschaft in Rußland“
(Jena 1898) wie folgt: „Diese Zahlungen enthielten nicht nur eine Ent-
schädigung für den gutsherrlichen Boden, sondern auch eine Ent-
schädigung für die Befreiung der Person der Bauern.“
Die Bauernschaft litt auch unter einem großen Mangel an hn-
ventar und Arbeitsvieh, das ihnen entweder überhaupt nicht oder im
besten Falle in sehr geringem Maße zugeteilt worden war. Durch
die hohen Steuerlasten wurde ihnen jede Möglichkeit zur Neu-
anschaffung von Inventar und Arbeitsvieh entzogen, vielmehr ver-
ringerte sich der Inventarbestand des Dorfes alljährlich, wie wır
später sehen werden. Der Bauer war mit allen Kräften bemüht, seinen
gesamten Landanteil zu bebauen, es fehlten ihm jedoch die elemen-
tarsten Produktions- und Düngemittel, was zu einer extensiven Be-
wirtschaftung des Bodens führte und die Ertragsfahigkeit der bauer-
lichen Landwirtschaft stark beeinträchtigte.
Nach den Berechnungen von Prof. S. N. Marres (, Getreide-
produktion und Konsumtion in den Bauernwirtschaften“, Petersburg
1897) hatten mehr als 90% der bäuerlichen Bevölkerung Weißrußlands
jährlich von ihrem Anteillande unter 19 Pud Getreide pro Kopf
(„Esser“), was damals als Minimum angesehen wurde, d. h. daß mehr
als 90% der Bauernschaft von dem Ertrag ihres Bodenanteils nicht ihr
eigenes Existenzminimum beziehen, geschweige denn noch Viehfuiter
aufbringen konnten. (Für das europäische Rußland machte der
Prozentsab dieser Wirtschaften nur 70,7% aus.)
Die Aufhebung der Leibeigenschaft wirkte jedoch in der ersten
Zeit nicht nur auf die Entwicklung der bäuerlichen, sondern auch auf
die der gutsherrlichen Wirtschaften hemmend ein. Zunächst war die
Verringerung der billigen Arbeitskräfte daran schuld. Andererseits
war die gutsherrliche Wirtschaft durchaus noch nicht für eine kapi-
talistische Betriebsform vorbereitet. Es fehlten ihr noch alle Voraus-
setzungen dafür — in erster Reihe: der Markt und die entwickelte
Geldwirtschaft. Zwar fand ein Verkauf von Wald, Vieh, manchmal
auch von Getreide statt, dies geschah jedoch nach wie vor selten und
in ganz unerheblichen Mengen. Die Kauftätigkeit des Adels be-
schränkte sich auf wenige Schmuck- und Luxusgegenstände oder
Metallwaren, die in der eigenen Wirtschaft nicht hergestellt werden
464
konnten. Es blieb wie zuvor das System der Arbeitspacht als einzige
Betriebsform auf den gutsherrlichen Wirtschaften bestehen. Dieses
Wirischaftssystem wirkte sehr hemmend auf die Einführung von
Neuerungen und Verbesserungen in der Wirtschaft. Außerdem be-
stand ein Mangel an geschulten landwirtschaftlichen Hilfskräften, wie
Agronomen, Technikern und dergl. Selbst in den Fällen, in denen
die Gutshöfe mit gemieteten Arbeitskräften bewirtschaftet wurden,
war die Naturalwirtschaft vorherrschend. Geld wurde nur für Steuer-
zahlungen gebraucht, der Arbeitslohn wurde in Naturalien beglichen,
wobei die Markipreise außer acht gelassen wurden. Der Gutshof
war von unnötigem Personal überfüllt?).
Die Folge dieser Zustände war, daß große Mengen von Acker-
land entweder überhaupt nicht bestellt oder bestenfalls noch in
Waldland verwandelt wurden. Und tatsächlich ist hier alljährlich eine
Verringerung der Ackerbaufläche von den sechziger bis zu den neun-
ziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zu konstatieren. So z. B. be-
trug die Anbaufläche in Weißrußland im Jahre 1860 etwa 7 839 000
Deßj. (35,8% der Gesamtfläche), während sie im Jahre 1888 nicht mehr
als 5328000 Deßjatinen (26,8% der Gesamtfläche), also 62% der
Flache von 1860 ausmachte. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts
seht eine Steigerung der Anbaufläche ein.
Diese Verringerung der Anbauflache fällt hauptsächlich auf das
guisherrliche Land. Sehr bezeichnend für die Größe der Anbauflache
in den verschiedenen Wirtschaften in den achtziger Jahren ist nach-
stehende Tabelle:
Der Prozentsatz der Anbaufläche vom gesamten Landbesitz bildete
in den Wirtschaften bis zu:
Gouvernement
Minsk 145
Witebsk . 12,8
Mohilew . 12,8
ensk 85
Es gab auch keinen Saatplan und keine systematische Verteilung
des Wiesenlandes usw. Auf dem bäuerlichen Anteillande war das
Verhältnis bedeutend besser. Hier bildete die Saatflache im Gouv.
Minsk 62,9%, Witebsk 61,9%, Mohilew 65,53%, Smolensk 61,1% der
Gesamtfläche.
Der Boden wurde entweder gar nicht, oder nur in ganz geringem
Maße verbessert. Nach den Angaben von Rajewsky wurde das Land
nur einmal im Verlauf von 9—12 Jahren gedüngt (100—150 kleine
) Charakteristisch für die Lage der guisherrlichen Wirtschaft zur da-
maligen Zeit ist der Bericht von Sulgin („Das alte und neue Rußland“,
staraja inovaja Roccija, N. 6. 1869), aus dem zu ersehen ist, dab der weiß-
russische Adel etwa 34 Millionen Rubel dem Staat an Steuern schuidete
(„Nedoimki”), woraus man auf den Stand der gutsherrlichen Landwirtschaft
schließen kann.
465
weißrussische Wagen Stallmist auf je 1 Deßjatine). Der Bodenertrag
pro Deßjat. war sehr gering. Auf dem Boden der Adligen war er etwa
um das 6—7fache geringer als in den westeuropäischen Ländern und
auf dem bäuerlichen Anteillande noch um 20% geringer als auf dem
gutsherrlichen. (So z. B. machte in Weißrußland der Bodenertrag
pro Deßjat. auf dem bäuerlichen Lande etwa 30 Pud’), auf dem guts-
herrlichen Boden etwa 35—40 Pud aus, während er in derselben Zeit
in Dänemark etwa 200 Pud beitrug.)
Diese Tatsachen mußten auch auf die Auswahl der Saatkulturen
einen Einfluß ausüben. Es wurden hauptsächlich nur diejenigen Kul-
turen angebaut, die für die Bedarfdeckung der Wirtschaft notwendig
waren, nämlich Brotgetreide, besonders Roggen. Von den Sommer-
kulturen wurden am meisten Kartoffeln angebaut, welche der Bevol-
kerung als Brotersaß dienten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts
gestaltete sich die Lage günstiger. Es fand eine Ausdehnung der
Saatflache statt (von 1887—1905 stieg die Saatflache um etwa 24%),
hier und da trat eine Verbesserung der landwirtschaftlichen Technik
ein, der Bodenertrag stieg um etwa 15—20%, gleichzeitig ist auch eine
Anpassung der Wirtschaft an den Markt zu konstatieren. Besonders
kam dies durch den verstärkten Anbau von technischen Kulturen zum
Ausdruck.
Im großen und ganzen jedoch sette der Aufschwung der weiß-
russischen Landwirtschaft erst nach der Stolypinschen Agrarreform
(1906) ein; aber darüber wird noch zu sprechen sein.
A. Die Bodenverteilung in Weißrußland nach den
Hauptgruppen.
(Privater Bodenbesik.)
Wenn wir den Bodenbesis Weißrußlands gemäß den drei in Ruß-
land üblich gewesenen Hauptgruppen behandeln, nämlich: I. Gruppe:
privater Bodenbesik, Il. Gruppe: bäuerliches Anteilland, und IIL.
Gruppe: Staats- und Apanagenboden, so bemerken wir hier eine
starke Abweichung der Zahlenverhältnisse von denen im euro-
päischen Rußland. Nach der offiziellen amtlichen Statistik für das
Jahr 1877 war der Bodenbesi5 folgendermaßen verteilt:
Gruppe! Gruppe II Gruppe lll
Weißrußland. . 56,9% 36,1% 70%
europ. Rußland . 24,9% 31,0% 44,1%
Wir sehen also, daß, während im europäischen Rußland der
größte Prozentsatz des Bodenbesikes auf Gruppe Ill (Staats- und
Apanagenland) kam, er hier auf Gruppe I (privater Bodenbesitz) ent-
3) Der Ernteertrag pro Deßjat. auf dem bäuerlichen Anteillande machte
1889 in Minsk 29,9 Pud, Witebsk 28,2 Pud, Mohilew 26,7 Pud und in Smolensk
32,0 Pud aus. (Materialien zur Erforschung der Notlage der Landwirtschaft,
Petersburg 1889.)
466
fiel. Dagegen ist hier der Prozenfsat der Gruppe Ill ganz unbe-
deutend; nur der Besi5anteil der Gruppe Il (bäuerliches Anteilland)
entspricht hier ungefähr den Verhältnissen des übrigen Rußlands“).
Die Ursachen hierfür waren erstens historisch-politischer und zwei-
tens agrogeologisch-wirtschaftlicher Art. Die Polen, die dieses Ge-
biet im Laufe der Jahrhunderte beherrscht hatten, wandten alle Mittel
an, um es zu polonisieren. Außer den bereits obenerwähnfen rein
administrativen Maßnahmen wurde von ihnen auch eine wirksame
Bodeneroberungspolitik betrieben. Große Landflachen, die früher
den weißrussischen Fürstenhäusern gehört hatten, wurden dem pol-
nischen Adel zuerteilt, so daß im Laufe der Zeit sich eine derartige
Lage ergab, daß die Polen, die höchstens 2% der Bevölkerung
ausmachten, den größten Prozentsa& des Bodens in Händen hatten.
So z. B. machte im Gouv. Minsk laut den Berichten der „Kommission
zur Hebung der Landwirtschaft‘ die Zahl der polnischen Güter noch
im Jahre 1903 50% aller Besitzungen (8689 insgesamt, davon polnische
4551) und die Zahl der Güter mit mehr als 1000 DeBjatinen sogar mehr
als 60% (640 insgesamt, davon polnische 384) aus. Außerdem ver-
teilte die polnische Regierung an den weißrussischen Adel große
Staatsgiiter als Belohnung fur den Übertritt zur Staatskirche®).
Außer diesen wichtigen historischen Ursachen spielte auch die
Tatsache eine bedeutende Rolle, daß das weißrussische Gebiet etwa
60% Wald-, Wiesen- und Weideland enthält, das zur Zeit der Auf-
hebung der Leibeigenschaft nur in ganz unbedeutendem Maße in die
Hände der Bauern gelangte, jedoch im großen ganzen bei seinem
früheren Besiker — dem Adel — verblieb.
Dies hatte zur Folge, daß in Weißrußland der private Bodenbesiß
einen so hohen Prozentsa& der gesamten Bodenfläche bilden mußte.
Dieses Verhältnis blieb auch im Jahre 1905 relativ fast unverändert.
Nach den amtlichen Zahlen für dieses Jahr verteilte sich der Boden-
besitz wie folgt:
Privatboden- Staats- und
Apanagenländereien
Bäuerliches
Gouvernement Anteilland
Mink 24.3%
Witebsk. sk 59,5% 8.1%
Mohilew . . . . . 59.5% 4.4%
Smolensk.. . . 40,7% 4,0%
4) Es ist jedoch hierbei zu bemerken, daß der Prozenfsab der Gruppe
Ill fur das europ. Rußland deswegen so hoch ist, weil darin auch das Nord-
gebiet, das bekanntlich fast ausschließlich (91 6%) aus Staatsboden besteht,
mit inbegriffen ist. Ziehen wir das Nordgebiet ab, erhalten wir folgende
Verteilung des Landbesitzes für das europ. Rußland: Gruppe I: etwa 35%,
Gruppe Il: etwa 45% und für Gruppe Ill: nur 20%. Aber selbst bei diesen
Zahlen waren die Verhältnisse in Weißrußland anders.
) Auf die Besibergreifung des Bodens seitens des polnischen Adels
in den neu eroberten Gebieten weist auch M. Sering in bezug auf die
Verhältnisse in Litauen hin („Bericht über die eroberten Gebiete des Nord-
westens“ auf Grund seiner zweimonatigen Reise, Berlin 1916). i
467
Wie verteilte sich nun der private Bodenbesif auf die einzelnen
Schichten der Bevölkerung? Aus den vorher angeführten Tatsachen
ist nicht schwer zu erraten, daß der überwiegende Prozentsab des
privaten Bodenbesiges sich in den Händen des Adels konzentriert
hatte. Im Jahre 1877 befanden sich in seinem Besitze 818% des ge-
samten privaten Bodenbesitzes. Auf die anderen Schichten entfiel
ein ganz geringer Prozentsatz, nämlich: Kaufleute 7,1%, Bauern 6,6%
und auf die städtischen Einwohner (,,mjeSéanje") 3,7%. im Vergleich
zu den Verhältnissen im europäischen Rußland können wir hier eine
Abweichung der Zahlenverhältnisse feststellen. Dort kamen auf den
Adel nur 68,5%, auf die Bauernschaft 13,1% und auf die übrigen
Schichten der Bevölkerung 18,6%, d. h. daß der Anteil der anderen
Schichten im europäischen Rußland fast um 50% höher war als in
Weißrußland. Der geringe Anteil der Bauernschaft an privatem
Bodenbesi in Weißrußland ist nur durch die geringe Zahl der „freien
Bauernhöfe“ zu erklären (im Jahre 1877 waren es nur 14586), während
die überwiegende Mehrheit der Bauernschaft in Weißrußland leib-
eigen war und Anteilland erhielt.
Der geringe Anteil der Kaufleute am privaten Bodenbesif ist durch
die zur damaligen Zeit noch schwach entwickelte weißrussische Indu-
strie zu erklären. Dagegen befanden sich im Besitze der städtischen
Einwohner größere Bodenflächen, die zu Garten- und Gemüsebau
benuft wurden. Im Laufe der Zeit jedoch fand infolge verschiedener
Ursachen (wie wir später noch sehen werden) eine starke Boden-
mobilisation statt. Im Jahre 1905 verteilte sich der private Boden-
besitz unter den verschiedenen Schichten wie folgt:
Wir stellen also einen starken Rückgang des adligen Boden-
besitzes (von 81,8% i. J. 1877 auf durchschnittlich etwa 68% i. J. 1905)
und ein Anwachsen des Bodenbesigfes der anderen Bevölkerungs-
schichten fest. Auch die durchschnittliche Größe des adligen Besifes
hat sich im Laufe der Zeit verringert, so z. B. schrumpfte diese im
Gouv. Minsk von 1003 De). i. J. 1877 auf 580 De§j. i. J. 1905, im Gouv.
Witebsk von 703 Deßj. auf 409 Deßj., im Gouv. Mohilew auf 419 Dei.
usw. zusammen. Dagegen ist die durchschnittliche Größe der Bauern-
wirtschaften von etwa 25 Defj. i. J. 1877 auf 36 DeBj. i. J. 1905 ge-
stiegen. Im allgemeinen war die Verteilung der Wirtschaften i. J. 1905
nach der Größe folgendermaßen: Wirtschaften mit einer Fläche bis
zu 100 Deßj. machten 83,1% aller Wirtschaften aus (hiervon waren
94,2% Bauernwirtschaften), Wirtschaften mit einer Fläche von 100 bis
468
EN ee — — »àr᷑— r
1000 DeBj. bildeten 13,8% (davon Bauernwirtschaften 6,5%), und Wirt-
schaften mit einer Fläche von mehr als 1000 Deßj. waren 3,1% aller
Wirtschaften. Nach ihrem Bodenanteil dagegen gehörten den Wirt-
schaften bis zu 100 Deßj. nur etwa 10% des gesamten privaten Boden-
besifes, den Wirtschaften von 100-1000 Deßj. gehörten etwa 30%
und den Wirtschaften mit über 1000 Deßj. etwa 60%, d. h. also, daß
3,1% der Großwirtschaften etwa 60% des gesamten Privatboden-
besigfes innehatten, und 83,1% der Kleinwirtschaften nur 10% des
Privatbodenbesitzes besaßen. Ferner verteilten sich die Wirtschaften
bis zu 100 Deßj. pro Wirtschaft (insgesamt rund 58000) mit einer
Gesamifläche von 1388 Tausend Deßjatinen nach der Größe wie folgt:
Die Wirtschaften bis zu 10 Dekj. waren 38% und machten 9%
ý „ von 10, „ 20 „ „ 22% „ „ 13%
LL pe LL 20 LL vp 30 „ » 12 % LL » 13 %
99 LL vp 30 LL 29 40 vp LL 8 % LL LL 12 %
DP 7 LL 40 LL oD 50 LL » 5 % 92 uP 1 1 %
L oD ap » „ 100 » 99 14 % ve » 41 %
des gesamten Privatbodenbesikes der 1. Kategorie aus.
Dies ist in allgemeinen Zügen die Verteilung des Bodens der
Gruppe I in Weißrußland bis zum Jahre 1905. Die etwaigen Ande-
rungen, die durch die Stolypinsche Agrarreform eingetreten sind,
werden wir weiter unten behandeln.
B. Das bäuerliche Anteilland in Weißrußland.
Unter den Begriff „Bäuerliches Anteilland“ fällt bekanntlich der
gesamte Boden, den die Bauern sämtlicher Kategorien (Gutsbauern,
Staatsbauern, Kronsbauern-Apanagen und dergl. mehr) nach der
Aufhebung der Leibeigenschaft bekommen hatten. Das bäuerliche
Anteilland bildete in Weißrußland mit Ausnahme des Gouv. Minsk
einen höheren Prozentsatz der gesamten Bodenfläche, als es im
europäischen Rußland der Fall war (36,1% in Weißrußland, und 31,0%
durchschnittlich im europäischen Rußland). Hingegen war hier der
Prozentsa& des bäuerlichen Anteillandes im Vergleich mit einzelnen
Gebieten bedeutend niedriger, so z. B. bildete er im Zentral-Acker-
bau-Gebict 48,5%, im Dongebiet 57,5% usw.
Wie verteilte sich nun das Anteilland unter den verschiedenen
Kategorien der Bauernschaft?
Gemäß ihrer Zahl hatten die Gutsbauern den größten Prozentsatz
des Anteillandes inne (von der Gesamtsumme des Anteillandes
— 6516881 DeBj. i. J. 1877 — waren 4900 354 Deßj. im Besitze der
Gutsbauern, also eiwa 75%, dagegen war der Bodenanteil pro
Wirtschaft oder pro Kopf („Esser“) bei den Staatsbauern größer als
bei den Gutsbauern. So war die Verteilung des Anteillandes nach
Größe lin Deßj.) im Jahre 1877 wie folgt:
469
Gouvernement
Weißrußland
Dieser Tatbestand hat sich auch in späteren Jahren kaum ge-
ändert. Zwar hat sich der Bodenbesiß der Gutsbauern von 1877 bis
1905 um 0,5 Mill. Deßj. vergrößert (bei den Staatsbauern nur um etwa
100 Tausend Deßj.), die Größe des Anteillandes pro Wirtschaft ist
jedoch nicht gewachsen, da die Zahl der Wirtschaften bei den guts-
herrlichen Bauern in viel höherem Maße gestiegen ist als bei den
Staatsbauern. So wuchs die Zahl der guisherrlichen Bauernhöfe von
380,9 Tausend im Jahre 1877 auf 624,2 Tausend im Jahre 1905, also
um 63,8%, während die der Staatsbauern sich nur von 95,4 Tausend
im Jahre 1877 auf 142,5 Tausend im Jahre 1905, also um 49,3% ver-
größert hat.
Die Bodenverhältnisse im Jahre 1905 waren wie folgt:
Staatsbauern
Durchschn.
Gutsbauern
Gouv. en Deßj. pro
er irts
Wirtschaften PA
Minsk...
Witebsk . .
Mohilew . . 16,1 10,5
Smolensk . 28,0 11,5
Weißrußland | 774 | 88 18,6 22,6 11,2
Also 18,6% der Höfe der Staatsbauern umfaßten 22,6% des An-
teillandes und 81,4% der Hofe der Gutsbauern nur 77,4% des Anteil-
landes. Pro Bauernhof kamen bei den Gutsbauern nur 8,8 De j., bei
den Staatsbauern 11,2 Deg).
Im allgemeinen sah die Verteilung der Bauernhöfe in Weißruß-
land nach dem Besitze an Anteilland folgendermaßen aus: Es bildeten
die Bauernhöfe bis zu 5 Deßj. 7,9% (Gouv. Minsk 12,3%) der Gesamt-
zahl der Bauernhöfe, von 5—10 Deßj. 63,8% (Gouv. Witebsk 47,5%)
und mehr als 10 Deßj. 28,3% (Gouv. Witebsk 50%). Für das euro-
päische Rußland bekommen wir für die Bauernhöfe mit einer Boden-
fläche bis zu 5 Deßj. 23,8%, von 5—10 Deßj. 42,3% und mehr als
10 Deßj. 33,9%. Innerhalb der Gruppe bis zu 5 Deßj. machten die
Bauernhöfe mit einer Bodenfläche von 2—3 Deßj. den größten Pro-
zentsak aus. Es fehlte noch etwa über ½ der vorhandenen Boden-
flache, damit auf jeden Hof 5 De§j. fallen.
470
C. Staats-, Kirchen- und Kronsbodenbesis,.
Wie bereits erwähnt, war der Anteil der Gruppe Ill am gesamten
Bodenbesis in Weißrußland sehr gering.
Im Jahre 1877 betrug der Prozenfsat der Gruppe Ill etwa 7%
(genau: Minsk 13,4%, Witebsk 7,9%, Mohilew 4,0%, Smolensk 2,9%).
Im Laufe der Zeit ist der Prozentsak relativ gesunken, absolut da-
gegen ist er etwa um 2000 Dekj. gestiegen.
Wie gesagt, umfaßte diese Gruppe den Bodenbesif des Staates,
der Krone, der Kirchen wie auch den Boden der öffentlichen In-
stitutionen (Staatsverwaltung und dergl.). Der überwiegende Anteil
fiel auf den Staatsboden.
Es verteilte sich der Boden der Gruppe Ill folgendermaßen
un % %):
o Boden
Gouv Staats- Kirchen- Kloster- 9 der
boden boden boden Städte öffentlichen
Institutionen
Minsk. . . 91,6 4,0 0,2 4,0 —
Witebs . . 82,8 7,0 0,9 9,1 0,2
Mohilew . . 68,0 17,0 2,4 12,0 —
Smolensk . 55,5 26,1 1,2 17,5 —
Weißrußland| 84.4 79 | o6 | 70 | —
Wir sehen also, daß in allen Gouvernements Weißrußlands der
Staatsboden den größten Prozentsak bildet. Eine Abweichung ist
im Gouv. Smolensk zu konstatieren, wo der Prozentsatz des Kirchen-
besikes verhältnismäßig hoch ist. Dies ist auf folgendes zurück-
zuführen: Die Kirchen hatten ursprünglich die Funktion von Dar-
lehenskassen erfülle). Die in Not geratene Bauernschaft mußte sich,
um ihre Wirtschaft erhalten zu können, an die Kirche wenden, um
das notwendige Geld durch Verpfändung ihres Bodens als Darlehen
zu erhalten. Da aber die meisten Bauern infolge der hohen Zinsen
nicht imstande waren, den verpfändeten Boden auszulösen, so verfiel
er der Kirche. Auf diese Weise haben sich im Laufe der Jahrhun-
derte große Bodenflächen im Besitze der Kirche konzentriert, so daß
die Moskauer Regierung unter Iwan dem Schrecklichen, wie auch
unter Peter dem Großen spezielle Ukasy zur Einschränkung des
Kirchenbodenbesiges erließ. Diese Erscheinung finden wir meist bei
der griechisch-orthodoxen Kirche, die im Gouv. Smolensk und Mohi-
lew vorherrschend war.
Der Bodenbesiß der Staatsverwaltungen war im Gouv. Smolensk
und Mohilew ziemlich ausgedehnt. Das hatte seinen Hauptgrund
wohl darin, daß Smolensk und Mohilew von den litauischen Groß-
fürsten „das Magdeburgische Recht“ empfangen hatten, welches
ihnen die Möglichkeit gab, durch die damit verbundene Selbstver-
©) P. Archangelski „Geschichte der Bodenverfassung Rußlands“,
Kazan 1920.
471
waltung größere Bodenflächen zu gesellschaftlichen und Wohlfahrts-
zwecken zu erwerben (dem Gouv. Witebsk stand dieses Recht eben-
falls zu, es war ihm jedoch durch Sigismund August Mitte des 17.
Jahrhunderts entzogen worden).
Diese Sachlage hat sich bis zum Jahre 1905 nur wenig geändert,
und zwar finden wir, daß der Staatsbodenbesifg auf 79% (statt 84,4%
im jahre 1877) gesunken ist. Dagegen ist der Bodenbesik der
Kirchen- und Stadtverwaltungen gestiegen (Kirchenbesif auf 9,4%
und Stadtverwaltungsbesib auf 7,2%), auch der Besitz der öffentlichen
Anstalten ist auf 1,1% gestiegen.
Der staatliche Bodenbesif in Weißrußland bestand hauptsächlich
aus Waldflachen, so wies z. B. das sehr waldreiche Gouv. Minsk
mehr als 721 Tausend Deßj. an staatlichem Waldbesif auf. Län-
dereien der Udjely-Apanagen gab es früher in Weißrußland nicht.
Erst später hat sich die Krone im Gouv. Witebsk etwa 28 Tausend
Deßj. Boden angeeignet. Meist waren es konfiszierte Güter des pol-
nischen Adels, der an den Aufstanden von 1830/31 und 1863/64 teil-
genommen hatte. Die konfiszierten Güter waren entweder an den
Staat oder an russische Majorate verfallen. Der Besitz der öffent-
lichen Institutionen und Anstalten ist auf 12 Tausend Deßj. gestiegen.
Kapitel 3.
Die Formen der Bodennutzung in Weißrußland.
Weißrußland wies zwei Hauptarten der Bodennukung auf: die
kollektive und die individuelle Bodennutzung. Zur ersten Art gehörte
die feldgemeinschaftliche Bodennukung des Anteillandes in den
Kreisen Weißrußlands, in denen eine periodische allgemeine Um-
teilung des Landes stattgefunden hatte*), ferner bäuerliche und nicht-
bauerliche Genossenschaften und Gesellschaften und die bäuerlichen
Servitutenrechte. Zur zweiten Art gehörte die Bodennutzung des
Großgrundbesikes, die bäuerlichen Einzelwirtschaften (Chutor, Otrub
und sonstiger bauerlicher Privatbodenbesib) wie auch das Pachtland.
Diese beiden Arten der Bodennukung waren sowohl bei den
privaten Grundbesikern aller Stände als auch bei den Anteilland-
besikern zu verzeichnen. So z. B. konnte man häufig finden, daß
private Grundstücke von Bauern, Kaufleuten und Bürgern gemein-
schaftlich in Form von Gesellschaften und Genossenschaften benubi
wurden, es kam auch vor, daß das Anteilland privatwirtschaftlich in
Form von Pachtwirtschaft und anderem benutzt wurde.
Betrachten wir nun die verschiedenen Formen der Bodennubkung
in Weißrußland.
1) Ich möchte dabei betonen, daß bei der Feldgemeinschaft selbst
dort, wo eine Umfeilung stattfand, eher von einem „gemeinschaft-
lichen Bodenbesi§“ als von einer „gemeinschaftlichen Bodennukung“ die
Rede sein kann, da die zuerteilten Bodenstücke ganz individuell genubt
wurden. Der Ausdruck „Bodennutzung“ trifft also hier nicht ganz zu, ich
gebrauche ihn jedoch, weil er in der russ.-wissenschaftlichen Literatur von
jeher eingebürgert ist.
412
A. Die Formen der kollektiven Bodennukung
in Weißrußland.
Wie bereits erwähnt, ist unter kollektiver Bodennutzung jeglicher
Bodenbesitz, sowohl bäuerlicher als auch nichtbauerlicher, solcher
physischer oder juristischer Personen, der gemeinschaftlich resp. ge-
sellschaftlich benutzt wurde, zu versfehen.
1. Die bauerliche Feldgemeinschaft
in Weißrußland.
Es liegt völlig fern, im Rahmen dieser Arbeit eine grund-
legende Betrachtung über Wesen, Form, historische Entstehung und
Auswirkung der Feldgemeinschaft auf das russische Bauerntum zu
geben. Wir wollen uns nur auf die tatsächlichen Verhältnisse sowie
auf ihre Entstehung und historische Entwicklung in dem hier behan-
delten Gebiet beschränken.
Bei der Betrachtung der statistischen Zahlen von 1905 über die
Dimensionen der bäuerlichen Feldgemeinschaft in Weißrußland fallt
besonders der große Unterschied zwischen dem östlichen und west-
lichen Teile Weißrußlands auf. Während in dem östlichen Teile (Gouv.
Smolensk, östliche Kreise des Gouv. Mohilew und Witebsk) die Feld-
gemeinschaft stark verbreitet war, wird sie seltener, je mehr wir uns
den westlichen Teilen nähern (Gouv. Minsk und die westlichen Teile
des Gouv. Witebsk).
Die Feldgemeinschaft im Jahre 1905 umfaßte:
*/o der Gesamtzahl | / der Gesamtzahl 9 des
Gouvernement der Gemeinden der Bauernhöfe Anteillandes
Diese Erscheinung ist keineswegs ein Zufall, sondern wurzelt
in der historischen, politischen und ökonomischen Entwicklung der
einzelnen Gouvernements resp. der einzelnen Kreise Weißrußlands.
Ich möchte mich daher bei der Behandlung der Entwicklung der ein-
zeinen Gouvernements etwas länger aufhalten.
Wie bereits erwähnt, ist das Gouv. Minsk erst am Ende des
18. Jahrhunderts zu Moskau übergegangen. Im Laufe der Jahrhun-
derte befand sich dieses Gebiet unter der Herrschaft Polens, wo die
Formen der Leibeigenschaft von denen in Großrußland sehr ab-
wichen. Die Bauern waren hier nicht nur Leibeigene, sondern
wurden als Knechte (,, Chlopie“] des Gutsherrn behandelt. Sie hatten
überhaupt keinen Besitz; sie arbeiteten auf dem qgutsherrlichen
Hofe und erhielten hierfür ihren kärglichen Lebensunterhalt, selbst
die armseligen Wohnhütten gehörten den Gutsherren. Sie hatten
also gar kein Eigentum (mit Ausnahme von vielleicht einer Kuh oder
475
einem anderen Haustier), und es fehlte ihnen daher völlig sowohl
die psychologische als auch die wirtschaftliche Grundlage fur eınc
Entstehung der Feldgemeinschaft. Andererseits finden wir, daß
die Bauernbefreiung in diesem Gebiet anders vor sich ging als m
den großrussischen Gouvernements. Schon bei der Gründung des
Herzogtums Warschau durch Napoleon I., als die Aufhebung der
Leibeigenschaft verkündet wurde, galt dies, zwar nicht offiziell, auch
für das Gouv. Minsk. Napoleons Absicht war bekanntlich, sich
durch die Verkündung der Freiheit eine ihm freundlich gesinnte Be-
völkerung zu sichern, damit ihm dieselbe im Falle eines Krieges mit
Rußland keine Hindernisse in den Weg stellte. Der polnische Adel,
der in diesem Gebiete die Mehrheit der Gutsbesiser ausmachte, mußte
nolens volens seine Bauern befreien und sie noch dazu mit Boden
versehen, um sie dadurch für die Sache Polens zu gewinnen. Das
„Sichbeliebtmachen“ der Gutsbesitzer bei den Bauern nahm noch
prägnantere Formen während der polnischen Aufstände in den Jahren
1830/31 und 1863/64 an. Diese — ich möchte sagen — „Versöhnungs-
politik“ war besonders in den litauischen und weißrussischen Gou-
vernements verbreitet, wo die Bauernbevolkerung keine rein pol-
nische war und die Gutsbesiker auf eine Gegnerschaft rechnen
konnten, was sich auch zum Teil wirklich bestätigt hat. Die Feld-
gemeinschaft im Gouv. Minsk konnte auch nicht zu der Zeit ent-
stehen, als die Leibeigenschaft in Rußland aufgehoben und die Feld-
gemeinschaft zwangsweise eingeführt wurde, wie es in den Gouv.
Witebsk und Mohilew der Fall war (was wir weiterhin sehen werden),
da den Gutsbesißkern in diesen Gouvernements der Gedanke einer
Feldgemeinschaft fernlag und sie dieselbe nicht anstrebten. Außer-
dem bestand auch seitens der Bauernschaft nicht der Wunsch, die
Feldgemeinschaft einzuführen, da sie sich schon in Sonderbesikungen
angesiedelt hatten und von jeher der westeuropaischen Agrarverfas-
sung näher standen als der großrussischen. Sehr treffend charak-
terisiert den Zustand in den litauisch-polnischen Gouvernements, der
auch für Weißrußland zutrifft, M. Sering lin seiner Einleitung zum
Werke „Westrußland in seiner Bedeutung fur die Entwicklung Mittel-
europas“, Leipzig 1917) wie folgt:
„Von der Ostsee bis zu den Karpathen bildet schon vom Mittel-
alter her das Privateigentum an Ackerland die Grundlage der gesell-
schaftlichen Verfassung und gab ihr den individualistischen Zug, der
Westeuropa von Großrußland scheidet... Im ganzen Gebiet ist die
russische Herrschaft nicht älter als 100—140 Jahre. Sie hat trok aller
Verfolgungen und Unterdrückungen das Westeuropäische nicht aus-
zulöschen vermocht. Der Wegfall würde keine zivilisatorische Lücke
hinterlassen und nur von wenigen bedauert werden.“
Alle gemachten Versuche, sowohl durch Zwang als auch frei-
willig die Feldgemeinschaft einzuführen, mußten ohne Erfolg bleiben.
So z. B. sehen wir, daß, während im Jahre 1877 noch 3,6% des Anteil-
landes der Feldgemeinschaft angehörten, selbst diese geringe Zahl
im Jahre 1905 auch schon ganz verschwunden ist. Die Dinge lagen
474
in diesem Gouvernement genau so wie in den übrigen Gouvernements
des ehemaligen Litauen (Wilna, Grodno, Kowno). Etwas anders ver-
lief die Entwicklung der Feldgemeinschaft im Gouv. Witebsk.
Hier bestand ein großer Unterschied zwischen den östlichen und
westlichen Kreisen. In einer amtlichen Forschungsarbeit vom Jahre
1907 wurden folgende Unterschiede bezüglich der Verbreitung der
Feldgemeinschaft festgestellt: in den östlichen Kreisen war der
Prozentsatz der Feldgemeinschaft etwa 90%, dagegen in den west-
lichen Kreisen kaum 10% des gesamten Anteillandes (Kreis Weliž
99,5%, Witebsk 87,6%, Drissa 6,3% und Luzin 4,7%). Die Verschieden-
heit der Formen der bäuerlichen Bodennukung in diesen Gouverne-
ments ist ebenfalls aus historischen Ursachen zu erklären. Das
Gouv. Witebsk besteht aus zwei vom ethnographischen und geschicht-
lichen Standpunkte aus scharf abgegrenzten Teilen. Während die
vier Ostkreise ursprünglich rein russisch waren (die Stadt Witebsk
wurde im 10. Jahrhundert von der russischen Groffirstin Olga er-
baut) und eine Zeitlang dem Smolensker Fürstentum angehörten, ge-
hörten die vier Westkreise (bekannt unter dem Namen Infland) dem
deutschen livonischen Orden). Einen großen Prozentsatz der Bevöl-
kerung bildeten hier die Deutschen und die Letten. Der östliche Teil
des Gouvernements ging an Litauen über zu Beginn des 14. Jahr-
hunderts (1320) durch die Heirat des litauischen Großfürsten Ol gerd:
mit der Tochter von Jaroslav Wassiljewitsch. Die Kultur und Sprache
der Weißrussen blieb troß der vielen Jahrhunderte litauischer und
polnischer Herrschaft vorherrschend. Der westliche Teil des Gouv.
Witebsk aber blieb bis zur zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts unter
der Herrschaft des deutschen Ordens. Erst infolge des Olivaer
Friedensvertrages von 1660 fiel dieses Gebiet Polen zu. Die deutsche
Kultur und Wesensart, die sich im Laufe der Jahrhunderte fest ein-
gewurzelt hatte, blieb auch unter polnischer und später russischer
Herrschaft bestehen, so daß hier von einer Feldgemeinschaft gar
keine Rede sein konnte. Der vorhandene geringe Prozentsatz der
Feldgemeinschaften ist in einem viel späteren Zeitabschnitt ent-
standen, und zwar nach Aufhebung der Leibeigenschaft (1861). Die
russischen Gutsbesiker in diesem Gebiete haben die Feldgemein-
schaft nach russischem Muster durch Zwang eingeführt, um eine
Sicherheit dafür zu haben, daß die Bauern ihre Leistungen ihnen
gegenüber pünktlich erfüllen werden. Ein Beweis hierfür ist die Tat-
sache, daß die Feldgemeinschaft in diesem Gebiete fast nur aus
Gutsbauern bestand; eine Erscheinung, welche in Großrußland gerade
umgekehrt war. Das zeigt, daß der Gedanke einer Feldgemeinschaft
den Bauern selbst fernlag, daß sie sich nur den Gutsherren, die die
Feldgemeinschaft zwangsweise einführten, fügen mußten. Eine
zwangsweise Einführung der Feldgemeinschaft finden wir auch im
Gouv. Mohilew. Hiervon zeugt ein Bericht des Statistischen Amtes
im Gouv. Mohilew vom Jahre 1884, der lautet:
„Die Guisbesig§er sahen in der Feldgemeinschaft eine zwar nicht
SINFS 475
genügende, aber einzig mögliche Garantie für die pünktliche Er-
füllung der Verpflichtungen seitens der Bauern.“
Also, die Feldgemeinschaft ist nach Aufhebung der Leibeigen-
schaft unter dem Drucke der Gutsbesitzer entstanden.
Aus dem Bericht ist auch ersichtlich, daß die aus Zwang ent-
standene Feldgemeinschaft im Gouv. Mohilew und Witebsk eigentlich
nur auf dem Papiere stand, in Wirklichkeit jedoch betrachteten die
Bauern das Anteilland als ihren Besitz und bewirtschafteten es nach
ihrem persönlichen Gutdünken, verpachteten, verkauften und ver-
a es ohne die Zustimmung des „Mir“. Im erwähnten Bericht
eißt es:
„In der gesamten Bodenordnung und Verfassung (hier) sind
keinesfalls die Zeichen einer gemeinschaftlichen Bodennukung und
die Obrigkeit des Mir zu merken, obwohl juristisch das Recht über
das Anteilland nur der Gemeinde zusteht.“
Allgemeine Umteilungen fanden in diesen Gouvernements ent-
weder überhaupt nicht oder in sehr langen Zeiträumen statt (von 18
bis 20 Jahren), woraus man auch auf eine sehr schwache Autorität
der Feldgemeinschaft schließen kann. Die laue Beziehung der Bauern
zur Feldgemeinschaft hatte auch zur Folge, daß von dem im Jahre
1906 proklamierten Recht des freien Austrittes aus der Gemeinde
großer Gebrauch gemacht wurde, was wir noch sehen werden.
Ganz anders waren die Verhältnisse im Gouv. Smolensk. Wie
wir aus obenstehender Tabelle ersehen, war hier die Bodennukung
der Bauern fast nur feldgemeinschaftlich. Die Feldgemeinschaft
zeichnete sich in diesem Gouvernement durch besondere Festigkeit
und Dauerhaftigkeit aus. Hier lebten die großrussischen Traditionen
noch in einstiger Frische. Schon die Tatsache, daß hier die Groß-
russen einen bedeutenden Prozentsatz der Dorfbevölkerung bildeten,
bedingte eine starke Verbreitung der Feldgemeinschaft. Hier ging
die Entwicklung der Bodenverfassung eine entgegengesefie Rich-
tung als in West-Weißrußland. Während sie sich dort der Boden-
verfassung des Westens näherte, paßte sie sich hier der der Groß-
russen an. Äber selbst bei den Großrussen hat die Feldgemeinschaft
nur aus historischen Gründen so umfangreiche Dimensionen an-
genommen. Laut den allerletzten Forschungsergebnissen bestand die
Bauernbevölkerung im Gouv. Smolensk aus den Erben der ehe-
maligen „Viertelrechtsbesißer‘‘ (Cetwertnyje). Diese Kategorie der
Bauernschaft war adligen Ursprungs. Ihre Ahnen waren Dienstadlige
am Moskauer Zarenhofe gewesen. Ihnen wurden Ländereien an
den meistbedrohten Grenzgebieten des Moskauer Staates als
„Dienstgüter“ verliehen, und ihre Pflicht war es, die Ankunft feind-
licher Truppen zu erkunden und das Land nach Möglichkeit vor deren
Eindringen zu beschüßen. Das Gouv. Smolensk befand sich gerade
an der Grenze des ihm feindlich gesinnten Landes, nämlich Litauens,
das sich in einem fortwährenden Kampfe mit Moskau befand. Auf
diese Weise entstand in Smolensk die große Zahl dieser „Dienst-
güter“. Durch die Ausdehnung der Grenzen des Moskauer Staates
476
verloren die „Viertelrechtsbesiser“ ihre Bedeutung, was auch zur
Anderung ihrer sozialen Stellung führen mußte. Bei der Registrierung
des russischen Adels (1719) wurde ein Teil der besser situierten
Viertelrechtsbesiger in den Adelsstand erhoben; die übrigen nannte
man von dieser Zeit ab „Odnodworcy“, d. i. „Einhöfer“. Zehn Jahre
später wurden sie zu einfachen Staatsbauern degradiert. Katharina Il.
trachtete danach, ihnen, gleich allen anderen Staatsbauern, die Feld-
gemeinschaft aufzuzwingen, um dadurch die Sicherheit zu gewinnen,
daß sie ihre Pflicht dem Staate gegenüber erfüllen werden. Auf der
Seite der Regierung stand auch das Dorfproletariat®), das durch die
Verwandlung der Viertelrechtsbesiger in Staatsbauern für sich inso-
fern einen Vorteil erhoffte, als es glaubte, daß ihm dadurch Land
zufallen würde. Auf diese Weise gelang es der Regierung, einer
großen Anzahl von Einhöfern die Feldgemeinschaft aufzuzwingen.
Zählen wir noch die Staats- und Gutsbauern hinzu, denen es mit der
Einführung der Feldgemeinschaft ebenso ging, dann verstehen wir,
woher es kommt, daß die Feldgemeinschaft in diesem Gouvernement
so starke Dimensionen annahm.
Wie wir aus dem bisher Gesagten ersehen, hatte jedes der vier
weißrussischen Gouvernements eine andere historische Entwicklung
durchgemacht, woraus sich die Verschiedenheit der in ihnen herr-
schenden Verhältnisse erklärt.
Gemeinsam aber war ihnen allen die gemeinschaftliche Benutzung
der Wälder, Weiden und in manchen Fällen auch der Wiesen, was
selbst für das Gouv. Minsk zutrifft. Diese Tatsache erklärt sich
daraus, daß für die Viehzucht eine Verteilung des Weidelandes in
kleinere Bodenmengen ungünstig ist. Überdies hielten es die Bauern,
die das Weideland häufig vom Gutsherrn gepachtet hatten, für viel
lohnender, gemeinschaftlich eine größere Weidefläche zu pachten und
zu benufen. Das brachte ihnen um so mehr ein, als sie, außer dem
viel geringeren Pachtzins, auch noch den Vorteil hatten, daß nur ein
Hirt für die gesamte Herde genügte.
2. Landwirtschaftliche Genossenschaften
und Gesellschaften.
Zur zweiten Form der kollektiven Bodennukung in Weißrußland
gehört die der landwirtschaftlichen Genossenschaften und Gesell-
schaften. In Wirklichkeit gab es derlei landwirtschaftliche Genossen-
schaften und Gesellschaften nicht nur bei den Bauern, sondern auch
bei anderen Schichten, besonders unter den Kaufleuten. Ich werde
mich jedoch nur mit den bäuerlichen Genossenschaften und Gesell-
schaften beschäftigen, da diese den überwiegenden Prozentsab
(93,5%) ausmachten.
2) Die Bezeichnung „Stadt- oder Dorfproletariat“ bekam in Rußland
ihre richtige Bedeutung (im westeuropäischen Sinne) erst nach der Auf-
hebung des „Familienbesißes“ durch das Gesek der dritten Duma (Siehe:
Hoebsch „Die innere Entwicklung Rußlands seit 1905“ im Sammelwerk „Ruß-
lands Kultur und Volkswirtschaft” von M. Sering, Berlin 1913).
477
Der Uinterschied zwischen der bäuerlichen Feldgemeinschaft und
den bäuerlichen Genossenschaften und Gesellschaften besteht erstens
darin, daß letztere im Gegensak zur Feldgemeinschaft, die gewisser-
maßen eine aufgezwungene Einrichtung war, ein freiwilliger Zusam-
menschluß der Bauern zur gemeinschafilichen Nutzung ihres privaten
Bodens war. Ferner basierte der Bodenbesib des einzelnen Bauern
in den freien ländlichen Genossenschaften und Gesellschaften auf
privatrechilicher Grundlage, d. h. jedes Mitglied der Genossen-
schaften und Gesellschaften konnte zu jeder Zeit (oder nach ver-
einbarter Frist) aus der Gesellschaft freiwillig ausscheiden und seinen
Bodenanteil zuerteilt erhalten, was bei der Feldgemeinschaft nicht
der Fall war. Der Boden gehörte, bekanntlich, nicht den einzelnen
Mitgliedern, sondern dem „Mir“, der Gemeinde. Das einzelne Mit-
glied hatte nur das Recht auf einen Anteil, solange es innerhalb der
Gemeinde blieb; beim freiwilligen Austritt hatte es keinerlei Anspruch
auf. seinen Anteil oder auf irgendeine Entschädigung. Ein großer
Unterschied zwischen bäuerlicher Feldgemeinschaft und bäuerlicher
Genossenschaft und Gesellschaft bestand auch darin, daß, während
bei ersterer der Bauer den Ertrag des ihm zugewiesenen Boden-
anteils durch persönliche Arbeit als persönlichen Besik hatte, bei der
Genossenschaft und Gesellschaft der Boden gemeinschaftlich bestellt
und der Ertrag gleichmäßig oder proportionell verteilt wurde).
Ich habe in einem andern Zusammenhang bereits darauf hin-
gewiesen, daß der private kollektive Bodenbesi5 in Weißrußland im
Jahre 1905 13,6% des gesamten privaten Bodenbesifes ausmachte.
In den einzelnen Gouvernements war der Prozentsatz verschieden.
Den höchsten Prozentsatz hatte das Gouv. Smolensk mit 23,7%, dar-
auf folgt Mohilew mit 193%, Witebsk mit 9,0% und an letzter Stelle
Minsk mit 8,0%. In Deßj. gerechnet machte der kollektive Boden-
besitz eine Fläche von 1680,2 Tausend Deßj. (rund) aus. Von dieser
Flache gehörten den Bauern 1572,1 Tausend Deßj. (rund) oder 93,5%,
der Rest war in den Händen der Kaufleute, die den Boden für in-
dustrielle Zwecke benuzten. Dieser bäuerliche kollektive Privat-
bodenbesitz bildete etwa ?/, des gesamten bäuerlichen Privatboden-
besifes in Weißrußland.
Dies erklärt sich aus der Tatsache, daß die bäuerlichen Privat-
besiker, wie schon erwähnt, meist besser situiert waren als die An-
teillandbesiger und in ihrem Besitze meist eine Fläche bis zu 30 Deßi.
pro Hof war, und sie es für rentabler hielten, ihre Besitztümer zu-
sammenzuschließen und sie in Form einer Genossenschaft oder Ge-
sellschaft zu bewirtschaften. Und in der Tat handelte es sich in den
‚meisten Fällen um gemeinsame Wiesen und Weiden, wie auch Mol-
kereien, Flachs- und Hanfverarbeitungsgenossenschaften und dergl.
mehr, während es nur wenige Ackerbaugenossenschaften im eigent-
s) Eine gemeinschaftliche Teilung des Bodenertrages fand auch manch-
mal in der Feldgemeinschaft statt, nämlich bei dem nicht teilbaren Wiesen-
en das gemeinschaftlich bearbeitet und dessen Ertrag ebenfalls geteilt
wurde.
478
lichen Sinne des Wortes gab. Daraus erklärt sich auch die stärkere
Verbreitung des Genossenschafts- und Gesellschaftswesens in den
östlichen Teilen Weißrußlands als in den westlichen. Im Gouv. Mohi-
lew war der Flachs- und Hanfanbau sehr stark verbreitet (Gouv.
Mohilew nimmt hierin den ersten Plak im gesamten europäischen
Rußland ein), im Gouv. Smolensk waren Weide- und Waldgenossen-
schaften vorherrschend. In den Gouv. Minsk und Witebsk hingegen
konnte sich das Genossenschaftswesen nur sehr schwach entwickeln,
da die Verschiedenheit der Bodenqualitäten sowohl des Ackerlandes
als auch der Wiesen für die Entstehung von Genossenschaften ein
nicht zu uniterschäßendes Hindernis darstellte. Als ein wichtiger
Faktor ist — last not least — noch zu erwähnen die niedrige Kultur-
stufe des Bauern in den beiden obengenannten Gouvernements und
seine asoziale Veranlagung, entstanden aus seiner jahrhundertealten
Lebensart in seiner einsamen Hütte zwischen weiten Wäldern und
Sümpfen. Die geringe kollektive Bodennutzung in diesen Gouver-
nements erstreckte sich hauptsächlich auf Waldgenossenschaften.
Den größten Prozentsatz der kollektiven Privatbodennukung in
Weißrußland hatten die Genossenschaften aufzuweisen. Von dem
1572,1 Tausend Deßj. umfassenden bäuerlichen kollektiven Privat-
bodenbesi& gehörten nur 462,0 Tausend Deßj. den bäuerlichen Gesell-
schaften an, der Rest verteilte sich auf die Genossenschaften.
Die bäuerliche kollektive Bodennutzung in den einzelnen Gouver-
nements Weißrußlands verteilte sich im Jahre 1905 folgendermaßen:
B&uerliche Gesellschaften Bäuerliche Genossenschaften
Minsk...
Witebsk . .
Mohilew. .
Smolensk .
Weißrußland
Die Größe der Gesellschaften beitrug durchschnittlich über 175
Deßj., während die genossenschaftlichen Betriebe durchschnittlich
120 Deßj. besaßen. Wir haben es hier also mit einem bäuerlichen
Grogbetrieb zu tun. Die Größe der Betriebe war, wie aus der obigen
Tabelle ersichtlich, in den vier Gouvernements verschieden. Am
größten war sie im Gouv. Minsk (Gesellschaften über 1000 DeBj., Ge-
nossenschaften etwa 250 Deßj. durchschnittlich), da wir es hier meist
mit Waldgenossenschaften zu tun haben.
3. Das bäuerliche Servitutenrecht.
Zur dritten Hauptform der bäuerlichen kollektiven Bodennukung
gehört das Servitutenrecht, obgleich dies nicht immer rein kollektive
Formen annahm.
Was verstehen wir unter Servitutenrecht?
479
Streng juristisch betrachtet, versteht man darunter das Recht,
ein fremdes immobiliares Gut bis zu einer bestimmten Grenze fur
persönlichen Bedarf benuken zu dürfen. Im russischen Recht findet
man keine klare und bestimmte Definition dieser Rechtsform. Es
sind von Zeit zu Zeit nur Verordnungen und Ukasy von der russi-
schen Regierung erlassen worden. Während der Leibeigenschafts-
epoche konnte das Servitutenrecht keinesfalls die Bedeutung von
„Nußnießung an fremden Gütern“ haben, da bekanntlich sowohl der
Boden als auch die Bauern selbst Eigentum des Gutsherrn waren,
und dieser das Recht der Nußniezung zu jeder Zeit zurückziehen
konnte. Erstnach Aufhebung der Leibeigenschaft kam das Servituten-
recht zu seiner richtigen Anwendung.
Wie ist nun in Weißrußland das Servitutenrecht entstanden?
In den Gouv. Minsk, Witebsk, Mohilew (teilweise auch Smolensk),
die früher dem Großfürstentum Litauen angeschlossen waren, wurde,
wie erwahnt, die Leibeigenschaft durch die Lubliner Union (1569)
zwangsweise eingefuhrt. Durch diese politische Union trat auch eine
völlige Veränderung in der wirtschaftlichen Lage der verhältnismäßig
freien weißrussischen Bauern ein. Den Bauern wurden nach den
Gesefen des polnischen Staates der Bodenbesik, ihre persönliche
Freiheit und die bis dahin bestehende Gemeindegerichtsbarkeit ge-
nommen. Diese Entrechtung führte zu großen Aufstanden. Die pol-
nische Regierung versuchte, diese Aufstände auf administrativ-poli-
zeilichem Wege zu unterdrücken. Die Maßnahmen der Regierung
hatten eine starke Emigration, die sich nach den benachbarten grob-
russischen Gouvernements richtete, zur Folge. Durch diese Massen-
flucht der Bauern entstand für die Gutsherren die Gefahr, ohne Ar-
beitskräfte zu bleiben. Die Gutsbesiker waren daher gezwungen,
den Bauern gewisse Konzessionen zu machen, und zwar bestanden
diese Konzessionen darin, daß den Bauern das Recht gewährt wurde,
„bis auf weitere Verordnung des Gutsherrn“ ihren Boden frei zu
bewirtschaften. Es wurden ihnen von den Guisherren sogenannte
„inventare“ (Gutscheine) ausgehändigt. In diesen Inventaren wurde
die Größe des Bauernbesiktums und die Höhe der dem Gutsherrn
zu entrichtenden Leistungen festgesetzt. Diese Gutscheine sollten
den Bauern angeblich eine Garantie dafür bieten, daß nach Auszah-
lung der gesamten Summe der Boden völlig in ihren Besitz über-
gehen würde®).
Diese Garantie nahm aber eine andere Wendung mit dem Uber-
gang dieses Gebiets an Moskau. Die Gefahr der Bauernaus-
wanderung wär bereits behoben, nun hatte man die Bauern voll-
kommen in den Händen, und man zwang sie wieder unter das Joch
der Leibeigenschaft — sie wurden enteignet, und ihre Inventare ver-
loren vollkommen ihre Gültigkeit. Man überließ ihnen nur ganz un-
bedeutende Rechte, wie z. B. das Recht, das Vieh auf den guisherr-
lichen Ländereien weiden zu lassen, wie auch das Sammeln von Wald-
fruchten und dergl., was man als Servitutenrechte bezeichnete.
) L. S. Ligékov „Die Servitutenrechte", Petersburg 1900.
480
ee —— —— ——
Im Jahre 1847 veröffentlichte die russische Regierung einen Ukas,
worin den Inventaren ihre Gültigkeit wieder verliehen wurde, was
sich aber wieder nur auf die Servitutenrechte beschränkte. Das
Manifest vom 19. Februar erwähnte das Servitutenrecht mit keinem
Worte. Es entstanden infolgedessen verschiedene Mißverständnisse
und Streitigkeiten zwischen Bauern und Gutsherren, so daß die Re-
gierung gezwungen war, einen Ukas (4. April 1865) zu erlassen, in
dem das Servitutenrecht geregelt wurde. Laut diesem Ukas be-
schrankte sich das Servitutenrecht auf die „Toloka“, d. h. das ge-
meinsame Recht sowohl der Bauern als auch der Gutsherren, die
Herden auf dem Brachland und den abgemähten Feldern weiden zu
lassen. In Wirklichkeit machten nur die Bauern, für die dieses Recht
eine große wirtschaftliche Bedeutung hatte, von ihm Gebrauch.
Im Laufe der Zeit mußte sich das Servitutenrecht immer mehr
einengen. Dies war erstens die Folge des Übergangs von der Drei-
felderwirtschaft zur Fruchtwechselwirtschaft auf den herrschaftlichen
Gütern, wodurch eine Verringerung des Brachlandes erfolgte. Zwei-
tens wurde überhaupt eine intensivere Wirtschaft mit Frühsaat und
Spaternte betrieben, wodurch ebenfalls die Möglichkeit einer Brach-
landnukung begrenzt wurde. Außerdem wurden viele Wälder im
Laufe der Zeit abgeholzt und in Ackerland verwandelt.
In dieser neu entstandenen Situation kam es sehr häufig zu
Streitigkeiten zwischen den Gutsherren und den Bauern, und bei
jeder Gelegenheit wurde deswegen von den Gutsherren allerseits
die Aufhebung des Servitutenrechtes gefordert.
Leider fehlt es an Materialien über die Formen und die zahlen-
mäßige Verbreitung des Servitutenrechts in den weißrussischen Gou-
vernements. Eines aber steht fest, daß es in den Gouv. Minsk,
Witebsk und Mohilew Servitutenrechte gegeben hat, während man
dafür im Gouv. Smolensk keine Beweise finden kann. Aber selbst
für das Gouv. Mohilew sind die betreffenden Materialien nur sehr
mangelhaft. Im Jahre 1889 hat die russische Reichsbank, unter deren
Aufsicht die ,Auslosungsakten“ der Bauern zur Zeit der Auf-
hebung der Leibeigenschaft standen, einen Bericht über das Ser-
vitutenrecht im Gouv. Minsk und in den östlichen Kreisen des Gouv.
Witebsk herausgegeben. Sicherlich haben sich die Ziffern im Laufe
der Jahre geändert. Im großen und ganzen jedoch sind sie noch
maßgebend.
Laut diesem Bericht der Reichsbank waren in den 9 Kreisen des
Gouv. Minsk 3041 Auslösungsakten eingetragen, wovon 2894 im Be-
sige der Reichsbank waren. Diese 2894 Auslösungsakte erstrecken
sich auf 83 168 Bauernhöfe, von denen 49 248 das Servitutenrecht in
Anspruch nahmen. In den vier östlichen Kreisen des Gouv. Witebsk
waren 252 Auslösungsakten vorhanden, wovon 428 im Besitze der
Reichsbank waren, sie repräsentierten 18 211 Bauernhöfe, und 8401
von ihnen hatten Servitutenrechte.
Wie wir sehen, haben fast 50% der Gutsbauern das Servituten-
481
recht in Anspruch genommen. Fast das selbe Verhältnis finden wir
auch im Gouv. Mohilew.
Wie gesagt, äußerte sich das Servitutenrecht in verschiedenen
Formen. Die meistverbreitete Form war das Recht der Bauern, das
Brachland und die abgemahten Felder als Weide zu benutzen, wäh-
rend sich das gleiche Recht bezüglich des Waldbodens nur selten
vorfindet. Eine beträchtliche Zahl der Bauern hatte gleichzeitig
mehrere Servitute. Die Nußnießung erstreckte sich in den meisten
Fällen auf ganze Gemeinden, es waren jedoch auch Dörfer zu finden,
in denen sie einen individuellen Charakter trug; sie wird daher in
die Rubrik der bäuerlichen kollektiven Bodennugung eingereiht.
B. Die Formen der individuellen Bodennufung
in Weißrußland.
Eine Bodennugung auf individueller Grundlage in Weißrußland
kam vor allem auf dem gutsherrlichen Großgrundbesitz, auf dem
bäuerlichen Privatbesitz und auf dem Großgrundbesitz der Industrie
in Anwendung. Ferner wurde auch das bäuerliche Pachiland in den
meisten Fällen individuell bewirtschaftet. Auch auf dem bäuerlichen
Anteillande war die Bodennukung individuell, besonders in den Dorf-
gemeinden, wo keine allgemeine Umteilung des Terrains stattge-
funden hatte. 5
Was nun den Großgrundbesitz anbetrifft, so wurde er entweder
nach den alten überlieferten Prinzipien der Leibeigenschaftsepoche
(Teilpacht oder Arbeitslohn in natura) oder kapitalistisch betrieben
(gemietete Arbeitskräfte, die Produktion war nicht für die Bedarfs-
deckung, sondern für den Markt bestimmt usw.), insbesondere dann,
wenn der Betrieb ‘nicht allein auf Ackerbau eingestellt war. Etwas
alte war die Nubungsart auf dem bäuerlichen privaten Boden-
esik.
Der bäuerliche private Bodenbesi5 (859794 Deßj.) verteilte sich
auf 21485 Bauernwirtschaften, so daß auf jede Wirtschaft durch-
schnittlich 40 Deßj. kamen. Diese Wirtschaften waren entweder in
kleine Gruppen von 10—20 Höfen geteilt oder lagen zerstreut als
Einzelhofe (,,Jednosialiby“). Letztere Form findet man sehr häufig
in den westlichen Kreisen Weißrußlands, in den östlichen Kreisen
dagegen war der bäuerliche persönliche Bodenbesitz oft mit dem
Anteilland vermengt. Aber sowohl bei den Einzelhöfen als auch bei
den Bauern, die in kleinen Hofgruppen lebten, war der Besitz in Ge-
mengelage verstreut. Abgerundete Sonderbesike, wie ihn der
Chutor und Ofrub darstellen, waren nur selten zu finden. Erst zu
Ende des 19. Jahrhunderts wurde hierher aus den benachbarten
litauischen (Gouv. Kowno) und lettischen (westlicher Teil des Gouv.
Witebsk) Kreisen die Bestrebung „auf einen Chutor und Otrub uber-
zugehen“ übertragen (besonders im Gouv. Minsk und Witebsk), jedoch
trug diese Bewegung einen begrenzien Charakter und kann keines-
falls als Massenerscheinung angesehen werden. Aber selbst in den
482
wenigen Fällen, wo eine „Verkoppelung“ der Wirtschaft (wie der
fachtechnische Ausdruck lautet) stattgefunden hatte, beschränkte sie
sich ausschließlich auf das Ackerland, dagegen unterlag das Wiesen-
und Weideland wie zuvor der gemeinschaftlichen Benutzung. überall
war der Streubesitz und Flurzwang vorherrschend, insbesondere in
den Gemeinden, wo der bäuerliche Privatbesitz mit dem Anteillande
vermengt war.
In der Betriebsart der bäuerlichen privaten Wirtschaften handelte
es sich meist um bäuerliche Großbetriebe, die sich immer mehr dem
kapitalistischen Betriebe näherten. Es waren zwar der Besifer wie
auch seine Familienmiiglieder im Betriebe tätig, aber es wurden auch
gemietete Arbeitskräfte beschäftigt.
Außer dem individuellen bäuerlichen Besitzer nutzten auch die
Besitzer des Anteillandes in den Kreisen, wo keine allgemeine Um-
teilung stattfand, z. B. im Gouv. Minsk, in den westlichen Kreisen des
Gouv. Witebsk usw. ihre Bodenfläche auf individueller Grundlage.
Zwar war auch hier eine gemeinschaftliche Benutzung des Wald- und
Wiesenlandes zu konstatieren, die Wirtschaften blieben überall der
Dorfgemeinde angegliedert und waren von ihr gewissermaßen ab-
hängig, das Ackerland wurde jedoch ganz individuell genuft.
Eine besondere Art der individuellen BodennukungbildetediePacht-
wirtschaft, die ich einer besonderen Behandlung unterziehen möchte.
Die Pachtwirtschaft.
In Weißrußland bestanden zweierlei Hauptarten von Pachtwirt-
schaft: Die erste war die großbäuerliche Pacht (die sogenannte
„Unternehmungspacht“), die als ein Mittel zur Geldeinnahme durch
Vergrößerung des Ackerlandes angesehen wurde. Diese Art der
Pacht trug also einen Unternehmungscharakter in mehr oder weniger
kapitalistischem Sinne. Das gepachiete Land wurde in den meisten
Fällen von gemieteten Arbeitskräften bebaut und der Bodenertrag
für den Markt bestimmt. Die zweite Art der Pachtwirtschaft war die
sogenannte „Ernährungspacht“, die von den ärmeren Bauernschichten
als ein Mittel, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, betrachtet wurde.
Meist handelte es sich um ganz kleine Bodenstreifen, die von den
Bauern selbst bestellt wurden, und deren Ertrag für den person-
lichen Bedarf des Bauern bestimmt war. Selbsiverstandlich gab es
unter diesen beiden Hauptarten der Pachtwirtschaft noch verschiedene
Zwischenstufen. Der Unterschied zwischen den beiden angeführten
Pachtarten lag nicht nur in den bereits erwähnten Merkmalen, es
spielte hierbei auch die Höhe des Pachtzinses eine bedeutende Rolle.
Der kapitalistische Pächter, der in der Regel größere Bodenflächen
und auf eine längere Frist pachtete, zahlte einen viel niedrigeren
Pachizins als der arme Pachter, der aus Mangel an Kapital nicht in
der Lage war, größere Bodenflachen zu pachten und langfristige
Pachivertrage abzuschließen. Der Kleinpächter mußte daher seine
Arbeitskraft niedriger einschätzen, um den hohen Pachizins zahlen
zu können, was zur Folge hatte, daß er durch die Pacht sogar seine
485
Familie nicht ernähren konnte und die Ernährungspacht zur sogenann-
ten „Hungerpachf“ herabsank.
Noch ein Unterschied zwischen den beiden Pachtarten liegt darin,
daß, während der Zins bei der kapitalistischen Pacht ein in bar ge-
zahlter Geldzins war, er für die Ernährungspacht in vielen Fallen,
besonders in den Kreisen, wo ein Mangel an landwirtschaftlichen
Arbeitskräften herrschte, durch Arbeitsleistung gezahli wurde. Dieser
»Arbeitspachizins“ war gewöhnlich bedeutend höher als der Geld-
pachizins.
Der Arbeitspachizins wurde den Bauern vom Gutsherrn-Ver-
pächter aufgezwungen, der dadurch eine viel höhere Rente erzielte
als durch Geldzahlung. Im statistischen Jahrbuch von 1899 finden wir
darüber folgenden Saf: „Geldpächter gibt es sehr wenig, nicht nur
deshalb, weil die Bauern kein flüssiges Geld besitzen, sondern auch,
weil die Gutsbesitzer durch die Verpachtung ihres Bodens sich ein
genügendes Kontingent von Arbeitskräften sichern wollen.“
Der Arbeitspachtzins hatte für die Bauern noch einen großen
Nachteil insofern, als sie vom Gutsbesitzer völlig abhängig wurden.
Der Kleinpächter bebaute sein gepachietes Land extensiv, da ihm
ersiens zu einer intensiven Bearbeitung die Mittel fehlten, und zwei-
tens, da die Kurzfristigkeit der Pacht eine wesentliche Rolle spielie.
Der Kleinpächter, der nicht die Sicherheit dafür hatte, später den
durch ihn verbesserten Boden benußen zu können, suchte daher mög-
lichst viel aus dem Pachtland bis zum Fristablauf herauszuschlagen.
Infolgedessen verringerte sich der Bodenertrag, und die wirt-
schaftliche Lage des Kleinpachters verschlimmerte sich. Die kapita-
listische oder die Unternehmungspacht war, wie bereits erwähnt, zum
größten Teil unter den wohlhabenden Bauern und Kaufleuten ver-
breitet. Diese Art der Pacht konnte nur in denjenigen Gebieten
größere Dimensionen annehmen, in denen die Kleinpacht infolge der
besseren Lage der Bauernschaft nur schwach vertreten war.
Verfolgen wir nun die Pachtverhältnisse im einzelnen in Weiß-
rußland.
Zuerst sei vorausgeschickt, daß die bäuerliche Pachtwirtschaft in
Weißrußland erst zu Ende des 19. Jahrh. sich zu entwickeln und all-
mählich größere Dimensionen anzunehmen begann. So berichtet
Prof. Janson, daß zu Anfang der achtziger Jahre im Gouv. Minsk
die bauerliche Pachtwirtschaft eine seltene Erscheinung war. Das
gleiche ist über die Gouvernements Smolensk und Mohilew zu lesen.
Eine bäuerliche Pachthaltung ist erst in den neunziger Jahren des
vorigen Jahrhunderts festzustellen. Prof. Jastremsky gibt uns
für das Gouv. Minsk folgende Ziffern für das Jahr 1894 an: Insgesamt
wurden gepachtet etwa 274 000 Deßj., davon 108000 Dekj. durch
Bauern.
Die durchschnittliche Größe einer Pachtwirtschaft war 15,8 Deß;i.
Der Pachtzins machte 2,75 Rubel pro Deßjatine aus. Laut den amt-
lichen Angaben von 1902 wurden im Gouv. Minsk 125000 Deßj. von
den Bauern gepachtet. Der Pachtzins wurde in den meisten Fällen in
484
a
6
Geld beglichen (94%). Dagegen war die Unternehmungspacht im
vorigen Jahrhundert hier sehr stark verbreitet (1887 waren 6243 adlige
Guishofe mit einer Bodenfläche bis 1 Million Deßjatinen verpachtet).
Im 20. Jahrhundert verringerte sich die Unternehmungspachi, was auf
eine gewisse Besserung in der wirtschaftlichen Lage des Adels in
Weißrußland schließen läßt.
Im Jahre 1904 wurden hier 6828 Pachivertrage über eine Boden-
flache von insgesamt 106 247 Dekj. in den ,,Wolosten“ (Bezirksver-
waltungen) abgeschlossen. Es wurden außerdem noch 4363 Pacht-
verträge über eine Bodenfläche von insgesamt 157 826 Deßj. notariell
eingetragen. Wir haben es also mit 11 292 Pachivertragen über cine
Gesamtfläche von 264 072 Dei. zu tun, die 13,6% des gesamten Anteil-
landes beträgt (laut den Ergebnissen der Zählung vom Jahre 1905).
Die Pächter gehörten fast ausschließlich dem Bauernstand an. 68,6%
der Pächter pachteten das Land vom Adel, 16,1% von den Stadiver-
waltungen und 7,6% vom Staate. Der Rest verteilte sich auf sonstige
Verpächter. Der Fläche des gepachieten Bodens nach bildete der
des Adels 92% des gesamten Pachtlandes. Die gepachteten Arealien
betrugen zum größten Teil nicht mehr als 10 Deßj., stellten also
Ernährungspachten dar. Der Pachtzins war hier bedeutend höher
als in den großrussischen Gouvernements. So z. B. betrug der
Geldpachizins im Gouv. Moskau im Jahre 1900 2,6—3,0 Rubel pro
Deßjatine, im Gouv. Wladimir 2,6—2,7 Rubel pro Deßjatine, während
er hier 3,6—3,9 Rubel pro Deßjatine ausmachte. Am höchsten war
der Pachtzins für Pachtungen bis zu 5 Deßj. Bemerkenswert ist auch
die Erscheinung, daß, obwohl die Gutsbesifer in diesem Gouverne-
ment fast die alleinigen Verpächter waren, der Pachtzins meist in
Geld gezahlt wurde (94%). Der Arbeitspachtzins machte nicht mehr
als 3% und der Teilpachtzins (Anteil an der Ernte) nicht mehr als
28% aus. Das ist, glaube ich, dadurch zu erklären, daß die Guts-
besitzer hier keinen Mangel an Arbeitskräften halten, dagegen
einen großen Mangel an Bargeld. Der verhältnismäßig hohe Pacht-
zins in diesem Gouvernement trok der schlechten Bodenqualitat ist
dadurch zu erklären, daß die Gutsherren als einzelne Verpachter auf-
traten und außerhalb jeder Konkurrenz standen.
Die Pachifrist war abhängig von der Art der Pachtung — die
Unternehmungspacht war eine langfristige bis zu 9 Jahren (etwa 30%).
Die übrigen Verpachtungen waren kurzfristig von 1—3 Jahren, und
von dieser Zahl betrug die einjährige Frist 34%.
Im Gouv. Witebsk wurde im Jahre 1907 von 28 319 Bauern (16,5%
aller Bauernhöfe) eine Gesamtfläche von 150426 DeBj. (12,2% des
Anteillandes) gepachtet. Von dieser Bodenfläche waren 68 642 Def).
(5,5%) Anteilland und 81 784 (6,7%) Privatboden. Die Bauern waren
hier jedoch nicht die alleinigen Pächter. Es wurden auch von anderen
Schichten, besonders vom Bürgerstand, 0,4% des Anteillandes ge-
pachtet. Die Zahl des gesamten Pachtlandes belief sich also auf
12,6% des gesamten Anteillandes. Auch in diesem Gouvernement
haben wir es überwiegend mit Kleinpächtern zu tun. Die durchschnitt-
485
liche Größe eines Pachtareals betrug 3,5 Deßj. Der Pachtzins war
hier noch höher als im Gouv. Minsk, er machte 3,3—4,6 Rubel pro
Defjatine aus. Aus diesem hohen Pachizins ist zu schließen, daß die
Nachfrage nach Pachtland eine sehr starke war.
Noch schlimmer lagen die Verhältnisse im Gouv. Mohilew. Leider
fehlen genaue Angaben über die Zahl und Menge des gepachteten
Landes; aber schon der hohe Pachizins (im Jahre 1900 erreichte er
die Höhe von 9,9 Rubel pro De j.) läßt vermuten, daß auch in diesem
Gouvernement die Nachfrage nach Pachtland außerordentlich stark
gewesen war. Allerdings ist hierbei auch zu berücksichtigen, dag
große Bodenflächen hier nicht nur für den Anbau von Getreide,
sondern auch für den Anbau von Hanf und Flachs, die nicht für den
eigenen Verbrauch, sondern für den Markt bestimmt waren, gepachtet
wurden. Die Bauern bauten diese Kulturen an, obwohl in der Regel
der Reinertrag aus ihnen niedriger war als aus Getreide, weil sie
bestrebt waren, ihre überschüssigen Arbeitskräfte voll auszunutzen.
Bekanntlich erfordern ja diese Kulturen einen viel größeren Aufwand
von Arbeit als Getreide.
Die höchsten Ziffern der Verpachtungen sowohl absolut als auch
relativ hatte das Gouv. Smolensk aufzuweisen. Hier wurde im Jahre
1901 eine Bodenfläche von 530 Tausend Deß;j. (rund) gepachtet, was 28%
des Anteillandes (oder 19% des gesamten anbaufähigen Bodens)
ausmachte. Der höchste Prozentsab der Pachtungen kam auf die
östlichen Kreise. So z. B. wurden im Kreis Wjazma 34%, im Kreis
Syéev 28% des Anteillandes gepachtet, die Pachtungen von
Weideland, die hier 37% des gesamten Pachtlandes bildeten, sind
hierin nicht inbegriffen. Der Pachizins stellte sich hier wie folgt:
51% des gesamten Pachtlandes wurden gegen Geldleistungen ge-
pachtet, gegen Arbeitsleistung 16,6% — gegen Teilpacht 3% , gegen
gemischten Pachtzins 29,4%, wobei der Zins für das von Privat-
besitzern gepachtete Land meist in natura beglichen wurde.
Das Anteilland wurde langfristig gepachtet (etwa zu 75%), bei
Nichtanteilland dagegen war die Pacht ausschließlich kurzfristig und
zu % nur einjährig.
Die Höhe des Pachtzinses pro Deßjatine war hier fast die gleiche
wie in den großrussischen Gouv. Moskau, Kaluga u. a.: von 2,5—2,9
Rubel pro Deßjatine.
Im Vergleich mit den Verhältnissen im europäischen Rußland
muß für Weißrußland (außer Gouv. Smolensk) eine geringe Entwick-
lung der Pachtwirtschaft festgestellt werden (im europäischen Rub-
land bildete das Pachtland etwa 20% des Anteillandes, und 37% der
Bauernwirtschaften waren Pächter).
Kapitel 4.
Die Stolypinsche Agrarreform (1906—11) in Weißrußland.
Bekanntlich gehörte Weißrußland zu denjenigen Gebicten Ruß-
lands, in denen die Reformarbeiten sehr große Dimensionen an-
486
genommen hatten. Bevor wir jedoch auf die einzelnen Maßnahmen
der Reformarbeit und auf ihre Auswirkungen näher eingehen, soll
zunächst nur der Stand der bäuerlichen Landwirtschaft in Weißruß-
land kurz vor der Stolypinschen Agrarreform skizziert werden.
A. Die bäuerliche Landwirtschaft in Weißrußland
vor der Stolypinschen Ägrarreform.
Die weißrussische Bauernschaft hatte, wie erwähnt, unter einem
großen Bodenmangel zu leiden. Bereits zur Zeit der Aufhebung der
Leibeigenschaft bildeten die Wirtschaften, die bis zu 2 Deßj. pro
männliches Familienmitglied Anteilland erhalten hatten (was bei den
damaligen Verhältnissen als äußerst geringer Anteil angesehen
wurde), 8% der Gesamtzahl. Zählen wir noch die Wirtschaften der
„Beffelländler“ hinzu, die, wie erwähnt, völlig landlos aus der Leib-
eigenschaft kamen, so finden wir, daß fast 15—20% der Wirtschaften
bereits damals entweder landlos oder landarm waren. Zu Ausgang
des vorigen Jahrhunderts stieg ihre Zahl infolge der Bevölkerungs-
vermehrung und Zerstückelung der Wirtschaften (die Zahl der Bauern-
wirtschaften in Weißrußland hat sich von 1877—1905 fast um 60%
vergrößert) auf das Funffache und in manchen Kreisen sogar höher.
So z. D. berechnete für Weißrußland Prof. Marres die Verteilung des
bäuerlichen Bodenbesibes im Jahre 1896 pro Revisionsseele wie folgt:
bis zu 1 Deßj. pro Revisionsseele hatten 14,5%, von 1—1,5 DeBj.
56,2%, von 1,5—2 DeBj. 19,1% und mehr als 2 Deßj. pro Revisions-
seele 10,2% der Gesamtzahl der Bevölkerung, d. h. daß etwa 90%
der Bauernschaft in Weißrußland weniger als 2 Deßj. pro Revisions-
seele besaßen, welcher Besik, wie gesagt, unter den damaligen Ver-
hältnissen als gering angesehen wurde. Laut der Zählung von 1905
war die Zahl der landarmen Wirtschaften noch höher gestiegen.
Die Wirtschaften mit einem Bodenbesif bis zu 5 Deßj. umfaßten etwa
eine halbe Million Köpfe. Außerdem waren etwa 250 000 Dorffamilien
(oder 1,3 Millionen Seelen) überhaupt landlos, d. h. daß etwa % der
Dorfbevölkerung in Weißrußland entweder überhaupt landlos oder
im besten Falle landarm war. Und dies, nachdem die Bauernschaft
Weißrußlands mehr als 2,6 Millionen Deßjatinen Boden im Laufe der
Zeit erworben hatte’). Die Bereicherung an Bodenbesitz konnte also
bei der Bauernschaft mit dem enormen Bevölkerungszuwachs keines-
falls Schritt halten.
Diese Schar der landiosen und landarmen Bauern in Weißrußland
bildete einen ungeheuren Überschuß an Arbeitskräften im Dorfe.
Nach den Berechnungen von S. A. Korolenko lim Auftrage des da-
1) Im Jahre 1877 waren im Besitze der Bauern aller Kategorien (Besitzer
von privatem Boden und von Anteilland) 6851 Taus. Debi., während sie 1905
9526 Taus. Deßj. besaßen. Es ergibt sich somit ein Zuwachs von 2675 Taus. Dei.
oder 9%. Aber trob dieses großen Zuwachses war im Besibe der Bauern-
schaft i. J. 1905 nicht einmal die Hälfte der gesamten Bodenfläche, wie es
in anderen Gouvernements der Fall war.
487
maligen Ministers für Landwirtschaft) betrug dieser in den achtziger
Jahren des vorigen Jahrhunderts in: Minsk = 33,9%, Witebsk = 46,1%,
Mohilew = 41,5%, Smolensk = 38,9% der gesamten Dorfbevölkerung.
Sehr charakteristisch für den Zustand im weißrussischen Dorfe
zu Beginn dieses Jahrhunderts sind die Angaben des Gesefprojektes
der Regierungsbevollmächtigten vom 21. Dezember 1905?). Die Zahl
der landarmen Bauern („Seelen“) in den vier weißrussischen Gouver-
nements wird dort mit 2967 Tausend angegeben. Diesen Bauern
fehlten 7940 Tausend Deßj. Boden zur Größe einer normalen bäuer-
lichen Wirtschaft vom Jahre 1861.
Der überschüssige Landfonds bei der Bauernbank bestand hier
aus 3377 Tausend Deßj. anbaufähigen Bodens (davon gehörten dem
Staate nur 27 Tausend Deßj.). Außerdem war noch ein Waldboden-
fonds von 6639 Tausend Deßj. vorhanden, also, selbst wenn man den
Staatsboden und 25% des Waldbodenfonds urbar gemacht und den
Bauern übergeben hätte (wodurch man eine Bodenfläche von 1687
Tausend Deßj. hätte gewinnen können), so hätte dies noch lange nicht
ausgereicht, um den Bodenmangel der Bauernschaft zu befriedigen.
Es wurde daher die logische Konsequenz gezogen, daß außer dem
gesamten Staatsboden noch ein Teil des privaten Ackerlandes (50%)
enteignet werden müsse, um ihn unter den Bauern zu verteilen. Aber
selbst dann, wenn die Bauernschaft nur 4111 Tausend Deßj. Boden
bekäme, würde sie dennoch die Norm vom Jahre 1861 nicht erreichen.
Laut den dort angeführten Zahlen kamen pro männliches
Familienmitglied (Boden in Deßjatinen):
Urbarmachung
Alte des] von 2. des
Waldbodens
Minsk
Witebsk . . 9
Mohllew . . 28
Smolensk . 55
Diese Zahlen sind zwar nicht kritiklos hinzunehmen, da sie nicht
ohne Tendenz zusammengestellt sind, aber immerhin werfen sie ein
Licht auf die damalige Lage im weißrussischen Dorfe.
Ziehen wir noch in Betracht, daß in Weißrußland der Prozentsatz
des anbaufähigen Bodens geringer als in dem übrigen europäischen
Rußland war, und berücksichtigen wir die Tatsache, daß der Boden
in Weißrußland für den Anbau von stoffreichen Kulturen nicht be-
sonders geeignet war, so ist es verständlich, daß die Lage der Mehr-
zahl der Bauernschaft eine schlechte sein mußte. Noch ein wichtiges
Moment zur Verschlechterung der Lage der Bauernschaft war auch
die fortwährende Verminderung des Arbeitsviehes. So z. B. bildeten
die pferdelosen Wirtschaften folgende Prozentsätze der Gesamtzahl
der Wirtschaften:
2) „Die Agrarreform im Ministerrat” (Geheimakten), Moskau 1924.
488
Also, außer im Gouv. Minsk ist mit jedem Jahre ein Steigen
der Zahl der pferdelosen Wirtschaften zu konstatieren. Die größte
Gruppe (fast bis 50%) bildeten die Wirtschaften mit einem Pferd,
und nur einen geringen Prozentsatz der Wirtschaften bildete die
Gruppe mit mehr als vier Pferden lim Jahre 1900 = 6,7%, 1893 — 8%).
Im Vergleich zum europäischen Rußland fiel der Prozeß der Ver-
armung des Dorfes an Arbeiisvieh (Pferde) in Weißrußland ganz
anders aus. So z. B. bildeten die pferdelosen Wirtschaften im euro-
päischen Rußland im Jahre 1900 = 24,7%, während sie in Weißruß-
land etwa 16% ausmachten, dagegen ist in Weißrußland der Prozent-
sak der Wirtschaften mit 2—3 Pferden bedeutend niedriger als im
europäischen Rußland, was auf cine größere Zahl der wohlhabenden
bäuerlichen Wirtschaften in Rußland schließen lagt’).
Die Mehrzahl der Bauern mußte auf ihrem Boden Broigetreide,
besonders Roggen anbauen, und es fehlte ihr die Möglichkeit,
Viehfutter anbauen zu können, was andererseits zur Folge hatte, daß
die Produktivität der Landwirtschaft durch den Mangel an Arbeits-
vieh und Diingemitteln zurückging?®).
Als Illustration der Lage des weißrussischen Dorfes möchte ich
noch zwei offizielle Dokumente hier zitieren. Von großem Interesse
ist vor allem der Bericht über die westlichen Kreise des Gouv. Smo-
lensk, der in den siebziger Jahren durch die „Kommission zur Er-
forschung der Landwirtschaft“ herausgegeben wurde. Dort heißt es
u. a., daß fast überall das Anteilland nicht genügend Mittel für die
Erhaltung der Bauernwirtschaften gebe. Die Lage der Bauernschaft
sei bei weitem nicht gut, die Bodenerträge seien schlecht, und die
Bauern müßten bereits im Januar Brot kaufen. Diejenigen Bauern-
wirtschaften, die ihr eigenes Brot für das ganze Jahr haben, bildeten
hier eine Seltenheit und seien in der ganzen Gegend bekannt. Sehr
ergreifend ist eine Petition der Bauernschaft des Gouv. Witebsk
an die Regierung vom Jahre 1904/05, in der es heißt:
...„Wenn unser Leben unter den jetzigen Bedingungen fort-
dauern soll, so sind wir innerhalb von 15—20 Jahren sämtlich
Hungers gestorben. Womit wir uns ernähren? — das weiß nur
. ) Auf die Viehzucht im allgemeinen komme ich noch später ausführ-
licher zu sprechen.
„ J Prof. P. Wichlajev sagte darüber folgendes: „Alle Bauerngruppen
näherten sich der Gruppe der pferdelosen Wirtschaften, da die Vichhaltung
nur unter der Reduzierung der menschlichen Bedürfnisse vor sich gehen
kann.“ („Verteilung der landwirtschaftlichen Betriebe nach dem Arbeits-
vieh“, Petersburg 1900.)
489
Gott! Besonders in der Fastenzeit. Um gar nicht erst von den
Reicheren zu sprechen, eines mittleren Stadibürgers Hund sogar
würde das verschmähen, womit wir uns erhalten müssen. Im
Frühjahr wird ein Stück harten schwarzen Brotes unter die
Kinder als Leckerbissen verteilt...“
Fast dieselbe Lage war auch in den anderen Gouvernements Weiß-
rußlands zu verzeichnen. Im Gouv. Mohilew z. B. betrugen die Ein-
nahmen eines Bauern fast nur die Hälfte der Summe, die er als
Steuern zu zahlen hatte.
So war die Lage der weißrussischen Landwirtschaft zu Beginn
des Jahrhunderts kurz vor der Agrarreform.
Und nun zu den Ergebnissen der Reformarbeif in Weißrußland.
B. Die Reformarbeiten in Weißrußland.
Wie gesagt, gehörte Weißrußland zu den Gebieten Rußlands, in
denen die Agrarreformarbeiten große Dimensionen angenommen
hatten. Die Reformarbeiten erstreckten sich hier auf folgende drei
Hauptgebiete: Erstens auf die Landeinrichtungsarbeiten (Auflösung
der Feldgemeinschaft und Verkoppelung der Grundstücke in Sonder-
besitzel, zweitens auf den Erwerb von Bodenflächen seitens der
Bauern und drittens auf die Ubersiedlung nach Sibirien. Ich möchte
auf diese Maßnahmen einzeln eingehen.
1. Die Landeinrichtungsarbeiten.
In Weißrußland herrschte in den Reihen der Bauernschaft noch
vor der Entstehung des Gesetzes von 1906 eine Bewegung für die
freiwillige Auflösung des Gemeindebesigfes und für die Verkoppelung
der Sonderbesike. Schon im Jahre 1877 war in den nordwestlichen
Gouvernements (darunter auch Weißrußland) eine Auflösung des
Gemeindebesiges, der eine Gesamtfläche von 200 Tausend Deßj. aus-
machte, vor sich gegangen. Der Durchführung der Landeinrichtungs-
arbeiten stellten sich in Weißrußland verhältnismäßig weniger Hinder-
nisse enigegen als in anderen Gebieten, und dies aus folgenden
Gründen:
In Weißrußland war der Gemeindebesib, wie wir bisher gesehen
haben, bedeutend schwächer vertreten als in Großrußland. Wir haben
auch feststellen können, dak sogar der bestehende Gemeindebesib
seinen Ursprung nicht in der Psyche und Tradition der weißrussischen
Bauernschaft hatte, sondern eine Erscheinung der lezten Zeit ge-
wesen ist; wir haben auch gesehen, daß in den Gemeinden entweder
gar keine oder eine Umteilung in sehr weiten Zeitspannen statt-
gefunden hatte, so daß die Gemeinde hier nur eine „pro forma An-
gelegenheit“ war, und nur für die Behörden galt, z. B. bei Steuer-
entrichtungen und dergl.
Das Gesek von 1906 bedeutete also für die Bauern Weißrußlands
lediglich eine Legalisierung der bislang bestehenden Nukungsform
des Anteillandes. Es ist deshalb sehr verständlich, daß die Austritie
490
aus der Gemeinde einen starken Umfang annahmen. Sehr charak-
teristisch für die Verhältnisse in Weißrußland ist die Aussage des
Generalrevisors der Agrarorganisation, A. Koefoed. Er schreibt:
„Schon zur Zeit der Einsetzung der Landeinrichtungskommissionen
hatte es sich gezeigt, daß die radikale Auseinandersekung mit voll-
ständiger Absonderung vom Gemeindebesik und dem Aufbau der
individuellen Gehofte dem Geiste des westrussischen Bauern voll-
kommen entspricht.“ („Die russische Agrargesekgebung und ihre
Durchführung in der Praxis“ im Sammelwerk „Rußlands Kultur und
Volkswirtschaft“, Leipzig 1913.)
Laut den Angaben von Prof. P. N. Per3in (in seinem Werke
„Die einzelwirtschaftliche Bodennutzung in Rußland und die Entwick-
lung der Chutora und Otruba im Laufe des Jahrzehntes 1907 — 1916“,
Moskau 1922) sind in den weißrussischen Gouvernements im Laufe
dieser Jahre folgende Bodenmengen verkoppelt worden: Insgesamt
wurden 1520,9 Tausend Deßj. in Form von „Chutora“ und ,,Otruba“
verkoppelt. Davon entfielen auf das Anteilland 1302,5 Tausend De j.
(oder 18,53% des Gesamtanteillandes im Jahre 1905), 216,0 Tausend
Deßjatinen auf den bei der Bauernbank neu erworbenen Boden und
3000 Deßj. auf den Staatsboden.
Die Zahl der verkoppelten neuen Wirtschaften ist nur bei den
auf dem Anteillande entstandenen angegeben, und zwar machten
sie aus:
Prozentsatz Durchschn
Absolute
der verkopp. Größe
Gouv Zahl der einer
verkopp.
Smolensk .
Weißrußland | 1017897
Den ersten Plak, sowohl relativ als auch absolut, nahm also das
Gouv. Witebsk ein, wo die lettischen und die deutschen Wirtschafts-
formen der benachbarten Gebiete als Vorbild dienten. Außerdem
war im Gouv. Witebsk ein größerer Prozentsak besser situierter
Bauern vorhanden (im Jahre 1905 kamen auf über 50% der Bauern-
wirtschaften mehr als je 10 Deßj. Boden auf eine Wirtschaft), für
die es leichter war, eine Chutorwirtschaft zu gründen als für die
landarmen Bauern. An zweiter Stelle steht das Gouv. Smolensk und
zuletzt das Gouv. Mohilew. Der geringe Prozentsaf der Landeinrich-
tungsarbeiten für das Gouv. Minsk erklärt sich aus den ungünstigen
agrogeologischen Bedingungen: der Sitreubesik war im Gebiete der
großen Sümpfe und weiten Wälder unvermeidlich.
Nach Durchführung der Reform war der frühere Streubesib all-
mahlich beseitigt, und fast überall, wo es nur irgendwie möglich war,
32 NF 5 491
wurden Sonderbesitze in Form von Chutors und Otrubs gegründet.
Das ganze Gelände änderte seine Physiognomie. Anstelle der
früheren Dörfer begegnen wir nach der Agrarreform überall ver-
streuten Einzelhöfen oder kleinen Gruppen von Gehöften, die gleich-
mäßig über die Felder verteilt sind.
Auch der Prozeß der Auslösung des Anteillandes seitens der
Bauern war hier verhältnismäßig intensiv. Laut den Angaben von
N. Karpow („Die Agrarpolitik Stolypins“, Moskau 1925) hatten in
Weißrußland seit dem 9. November 1906 bis zum 1. Januar 1917 etwa
169,7 Tausend Wirtschaften die Auslösung des Anteillandes gefordert
(Gouv. Minsk nicht miteingerechnet). Davon haben bis 1917 145,9 Tau-
send Wirtschaften eine Bodenfläche von 1149,3 Tausend De§j. aus-
gelöst. Interessant dabei ist, daz von diesen Wirtschaften 122,3 Tau-
send die Auslösung des Anteillandes freiwillig durch die Dorf-
gemeinde vollzogen haben. Das beweist, daß die Agrarreform in
den breiten Schichten der weißrussischen Dorfbevölkerung Sympathie
gefunden hatte. Der Prozentsatz der ausgelösten Wirtschaften er-
reichte damals etwa 18—20% der Gesamtzahl der bäuerlichen Wirt-
schaften (Witebsk 33,8%, Smolensk 19,0% , Mohilew 14,6%, Minsk 8,4%).
Die Durchführung der Landeinrichtungsarbeiten in Weißrußland
stieß jedoch auf große Schwierigkeiten. In erster Reihe standen ihr
die Servitutenrechte im Wege. Durch die Aussonderung einer Wirt-
schaft aus der Gemengelage wurden oft die Ländereien getroffen,
die bis dahin dem ganzen Dorfe als Servitut dienten. Die Entschädi-
gung der servitutenberechtigten Dorfgemeinde oder Einzelpersonen
konnte daher bei der Abschaffung der Servituten durch die Land-
einrichtungsarbeit nur auf dem Schäbungswege vor sich gehen, meist
durch Tausch von Ländereien untereinander. Dies wurde aber in
Weißrußland besonders durch die Tatsache erschwert, daß hier die
Bodengualitaten in verschiedenen Orten große Unterschiede auf-
wiesen, und man mußte daher fast ausnahmslos Kompensationen und
Vergütungen verschiedenster Art vornehmen, um die Streitigkeiten
aus der Welt zu schaffen. Später hatte man bei den Ausgleichungen
den Weg der Verauktionierung eingeschlagen, d. h. die Bauern, die
eine bessere Bodenqualität erwerben wollten, mußten im Wege der
Auktion eine größere Menge von ihrem qualitativ schlechteren Boden
dafür hergeben oder statt dessen Barleistungen bieten. Diese
Methode der Ausgleichung führte jedoch in vielen Fallen zu sehr
unwirtschaftlichen Tauschgeschaften, welche die Bauern schwer
schädigten. Eine weitere große Schwierigkeit für die Durchführung
der Reform in Weißrußland erwuchs daraus, daß hier ein bedeutender
Prozentsatz der Bauern ihren Privatbesitz im Gemenge mit dem Anteil-
land hatten und bekanntlich der Privatbesitz erst nach dem Gesek
vom 29. Mai 1911 in die Auseinandersekungsarbeiten mit hinein-
gezogen werden durfte. Es ergaben sich natürlich Reibungen
zwischen den Privatbesikern und Gemeinden, wodurch die Reform-
arbeit sehr erschwert wurde.
Diese Schwierigkeiten, die in der praktischen Arbeit entstanden
492
und vom Gesek nicht vorausgesehen werden konnten, waren voll-
kommen von der Arbeitsfahigkeit der Lokalkommissionen abhängig.
Durch eine gewisse Vorsicht und Geschicklichkeit konnten alle diese
Streitigkeiten auf friedlichem Wege erledigt werden.
2. Der bauerliche Bodenerwerb.
In einem der vorhergehenden Abschnitte ist bereits auf die Mo-
bilisation des Bodenbesitzes in Weißrußland bis zum Jahre 1905 hin-
gewiesen worden. Die Mobilisation ging aber viel stärker in den
Jahren nach der Agrarreform vor sich, da sie durch die Tätigkeit der
Bauernbank begünstigt wurde.
Die im Jahre 1883 gegründete Bauernbank hatte zwar bereits
zur Zeit ihrer Entstehung offiziell die Aufgabe zugewiesen erhalten,
den Bauern die Möglichkeit zum Bodenankauf zu geben. In der
Praxis jedoch verfolgte sie Ziele nach einer ganz anderen Richtung
hin. In dem Sammelbericht der Bauernbank über ihre Tätigkeit in
den Jahren 1883— 1904 finden wir unter anderem auch die folgende
Motivierung ihrer Gründung: erstens, daß diese Maßnahme dazu
geeignet sei, den „phantastischen Traumereien“ von einer zweiten,
ergänzenden Landaufteilung, die bis heute in den Köpfen der Bauern
spukt, ein Ende zu bereiten, und zweitens, um den Mittel- und Groß-
grundbesitzern zu einer „vorteilhaften Liquidation ihres Besitzes zu
verhelfen“. Außerdem ersirebte die Regierung mit Hilfe der Bank,
große Güter des polnischen Adels in den Westgebieten anzukaufen,
um dieselben später unter die örtlichen russischen Regierungs-
beamten zu verteilen und auf diese Weise einen rein russischen
Großgrundbesitz in den polnischen Gouvernements zu schaffen und
damit „die Ordnung im Lande zu sichern‘“®).
Dies also waren die Tendenzen der Tätigkeit der Bauernbank,
und in diesem Geiste, im Interesse des Adels und somit bisweilen im
Gegensatz zu den Bedürfnissen der Bauernschaft wurde sie bis zum
Jahre 1905 geleitet. Bis dahin hatte nur eine beschränkte Anzahl
von wohlhabenden Bauern die Möglichkeit, den Kredit der Bauern-
bank in Anspruch zu nehmen. Im Laufe von 22 Jahren (1883 — 1904)
wurden von den weißrussischen Bauern mit Hilfe der Bauernbank
folgende Käufe getätigt: 1427,9 Tausend Deßj. insgesamt, davon:
Minsk 44,3 DeBj., Witebsk 144,2 Deßj., Mohilew 418,2 Deßj., Smolensk
420,2 Deßj.), von denen nur 20% auf die ärmere Schicht der Bauern-
schaft fielen.
Im November 1905, als die Befugnisse der Bauernbank er-
weitert wurden, begann sie tatsächlich eine lebhafte Tätigkeit. Sie
kaufte große Bodenmengen bei den verarmten Gutsbesifern an,
um sie später an die Bauern zu verkaufen. Zwar erwuchs durch
diese großen Bodenankaufe der Bauernbank den Gutsbesifern
wiederum ein Vorteil, insofern, als die Bodenpreise dadurch eine Er-
5) Diese Bestrebung der Regierung ist in der Tat in den polnischen
Gouvernements zum Teil erreicht worden.
495
höhung erfuhren, was wir später noch sehen werden; aber nichts-
destoweniger hat sich die Bauernbank der Bauernschaft gegenüber
große Verdienste erworben. Dank der Erleichterung der Kredit-
gewährung und infolge ähnlicher Maßnahmen zugunsten der Bauern-
schaft, gelang es den Bauern, größere Bodenflächen zu erwerben.
Im Vergleich mit anderen Gouvernements war die Tätigkeit der
Bauernbank in Weißrußland nicht besonders rege. Dies kann man
folgendermaßen erklären: Erstens war hier der Prozentsatz des zum
Verkauf stehenden Bodens aus den in einem vorherigen Kapitel er-
wähnten Ursachen bedeutend niedriger als in den übrigen Gouver-
nements, und zweitens zogen es hier die polnischen Gutsbesiber-
Bodenverkäufer vor, ihren Boden direkt an die Bauern oder
Bodenspekulanten ohne Vermittlung der Bauernbank zu verkaufen.
Der Verkauf an die Bauernbank war für sie (abgesehen von dem
nationalen sowie wirtschaftlichen Standpunkt) nicht lohnend genug.
Zunächst, weil durch die damit verbundenen Formalitäten der Ge-
schäftsabschluß sich lange verzögerte, und ferner, da sie bei pri-
vatem Verkauf an Spekulanten höhere Preise und Barzahlung er-
zielen konnten. Sehr charakteristisch für die Einstellung der Boden-
verkäufer ist folgende Stelle aus dem Vortrag des Vorsitzenden des
„Gouvernement-Komitees für Landwirtschaft“ in Mohilew, N. A.
Latz:
„Die Mehrzahl der Gutsbesitzer vermeidet es, ihre Güter un-
mittelbar an die Bauern oder selbst durch die Vermittlung der
Bauernbank zu verkaufen. Sie bevorzugt vielmehr den Verkauf
durch Bodenspekulanten und Bodenhändler, die sozusagen den
„ganzen Saft aus dem Boden aussaugen“, bis endlich der Boden an
die Bauern selbst gelangt... Die Bauernbank ist eine Regierungs-
institution und — vielleicht — allzu stark Regierungsinstitution.”
(Materialien der „Ortskomitees für Landwirtschaft“, Petersburg 1903,
Band 22.)
Auf diese Weise konnte die Bauernbank kaum 50% der durch die
Bauern gemachten Bodeneinkäufe vermitteln. Insgesamt wurden in
den Jahren 1906—1915 durch die Bauernbank in Weıßrußland fol-
gende Bodenflächen an die Bauern verkauft: Minsk 261,5 Tausend
Deßj., Witebsk 124,4 Tausend Deßj., Mohilew 321,2 Tausend Deßi.,
Smolensk 408,9 Tausend Deßj. = 1116,9 Tausend Deßj. Es sind also
während des Jahrzehnts 1906—1915 ganze ?/; derjenigen Bodenfläche,
die in den vorhergehenden 22 Jahren (1883 — 1904) durch die Bauern-
bank gegangen ist, durch sie vermittelt worden, was auf die wach-
sende Aktivität der Bauernbank schließen laßt.
Wie verteilten sich nun diese Bodenankäufe in Weißrußland
unter den verschiedenen Schichten der Bauernbevolkerung ?
Nach den Berichten der Bauernbank beteiligten sich auch jetzt in
der Regel die besser situierten Schichten des weißrussischen Dorfes
am Bodenkauf. Dies können wir erstens an Hand der Angaben über
die Größe der gekauften Grundstücke ersehen. Ankäufe von Grund-
494
stücken bis zu 10 De§j. bildeten nur 23%, während solche von 10—40
Deßj. etwa 40% der Gesamtzahl der Kaufoperationen ausmachien.
Ferner waren die Käufer durchweg mit Arbeitsvieh und eigenen Ar-
beitskraften verhältnismäßig gui versorgt. So z. B. hatten 29,3% der
Käufer 1 Arbeitstier, 38,3% 2 Arbeitstiere und 26,5% sogar mehr
als 2 Pferde. Der Prozentsak der pferdelosen Bodenkäufer bildete
nur 5,9% der Gesamtzahl der Käufer. Dasselbe Verhältnis stellen
wir auch bezüglich der Zahl der eigenen Arbeitskräfte fest. Durch-
schnittlich kamen auf je eine Wirtschaft des Käufers 3,4 eigene
menschliche Arbeitskräfte, d. h. daß sich hauptsächlich diejenigen
Wirtschaften am Ankauf beteiligten, die sowohl mit menschlichen als
auch mit tierischen Arbeitskräften reichlich versehen waren. Der
landarme oder landlose Bauer hatte nach wie vor nicht stets die
Möglichkeit, Boden zu kaufen. Nur in den ersten Jahren nach der
Agrarreform (1906—07) ist eine Beteiligung auch seitens der armen
Schichten des Dorfes zu bemerken, später jedoch verringert sich
diese Beteiligung von Jahr zu Jahr. So sehen wir z. B., dag, wäh-
rend in den Jahren 1905—07 die landlosen und die landarmen Wirt-
schaften (bis zu 3 Deßj. pro Wirtschaft) 62,5%, die mittleren Wirt-
schaften (bis zu 9 Deßj. pro Wirtschaft) 29,3% und die reichen Wirt-
schaften (mehr als 9 Deßj. pro Wirtschaft) 82% der Gesamtzahl der
Käufer bildeten, im Jahre 1909 die landlosen und landarmen Wirt-
schaften nur noch 20,9% ausmachten, dagegen stieg der Prozentsab
der mittleren Wirtschaften auf 52,7% und der der reichen Wirt-
schaften auf 26,4% (die durchschnittliche Größe des Bodenbesifes
aller Käufer betrug in diesem Jahre 8,3 Deßj. pro Wirtschaft). Im
Jahre 1913 stieg der Prozenisatꝭ der bodenreichen Wirtschaften noch
höher, nämlich auf etwa 37% der Gesamtzahl der Käufer.
Was nun die Bodenpreise anbetrifft, so waren diese in Weib-
rußland erheblich höher als im übrigen Rußland. Besonders schnell-
fen sie nach der Agrarreform in die Höhe, nachdem die Bauernbank
intensiv zum Bodenankauf geschritten war. Zur Hlustration seien fol-
gende Zahlen angeführt:
Wenn wir den Bodenpreis pro Deßj. in den Jahren 1854— 1858
als 100 annehmen, dann ergibt sich folgende Steigerung®):
Mohilew Smolensk
Also, während zu Beginn der Banktätigkeit (1883) die Boden-
preise seit der Aufhebung der Leibeigenschaft nicht einmal um das
Doppelte gestiegen waren, haben sie 1909 fast das Siebenfache er-
„ In absoluten Zahlen ausgedrückt, war der Bodenpreis pro Debi. in
Weißrußland zu Beginn der achtziger Jahre: Minsk 38 Rub., Mohilew 28 Rub,
Smolensk 39 Rub. usw.
496
reicht (durchschnittlich für Weißrußland). Besonders stark gestiegen
sind die Preise bei Ankäufen bis zu 10 Defj. (die Ankäufe seitens
der armen Schichten des Dorfes). Sicherlich spielten bei der Stei-
gerung der Bodenpreise noch andere Momente mit wie die allge-
meine Preissteigerung, jedoch ist diese Erscheinung hauptsächlich
auf die starke Kauftatigkeit der Bauernbank zurückzuführen.
Es wurde bereits betont, daß die Bodenverkäufer meist den
Reihen der Gutsbesigker entstammten. Es traten jedoch auch die
Bauern als Verkäufer auf den Markt und besonders diejenigen
Bauern, die zwar einer Dorfgemeinde angehörten, aber in der Tat
nicht mehr im Dorfe lebten. Durch die Stolypinsche Agrarreform
war ihnen die Möglichkeit gegeben, aus der Dorfgemeinde auszu-
scheiden und dennoch ihren Bodenanteil zugeteilt zu bekommen. Sie
verkauften nun diesen Boden. Dasselbe war auch bei den auswan-
dernden Bauern der Fall. Es haben in den Jahren 1907—1917 uber
eine Million Bauern eine Bodenfläche von 3% Millionen Deßj. ver-
kauft, wobei auf jeden Verkauf durchschnittlich 3% Deßj. kamen.
Mit anderen Worten: Es verkauften ihren Boden nur die ganz armen
Schichten der Bauernschaft, die ihn infolge der obenerwähnten Ur-
sachen nicht bestellen konnten oder wollten.
3. Die Ubersiedlung nach Sibirien.
Die Ubersiedlung aus den weißrussischen Gouvernements nach
Sibirien setzte bereits in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhun-
derts ein. Im Jahre 1897 wanderten aus den weißrussischen Gouver-
nements 9750 Personen (beiderlei Geschlechts) (Minsk 916, Witebsk
3490, Mohilew 3602, Smolensk 1742) nach Sibirien aus. Die Aus-
wanderungsbewegung stieg in den folgenden Jahren in stärkerem
Maße. Leider gibt es außer den Unterlagen über Reisepässe der
Auswanderer keine anderen ziffernmäßigen Angaben, die uns Auf-
schluß über den Umfang der Auswanderung geben könnten. Jeden-
falls steht fest, daß die Zahl der nach Sibirien ausgewanderten weiß-
russischen Bauern nach der Stolypinschen Agrarreform erheblich ge-
stiegen ist. So z. B. betrug die Zahl der Ubersiedler aus dem Gouv.
Mohilew im Jahre 1908 7,6% aller Ubersiedler nach Sibirien. Ins-
gesamt wanderten aus Weißrußland im erwähnten Jahre 105,6 Tausend
Seelen (etwa ½ der Gesamtzahl) nach Sibirien aus. Laut amtlichen
Angaben wanderten aus den vier weißrussischen Gouvernements von
1896— 1915 nach Sibirien 642 Tausend Seelen aus, oder 13,9% der
Gesamtzahl der Ubersiedler (4650 Tausend).
Vergleichen wir nun die Ergebnisse der Auswanderung aus
Weißrußland mit denen anderer Gebiete Rußlands, so stellen wir eine
stärkere Emigration aus Weißrußland fest. So zählen wir im zentral-
russischen Industriegebiet (6 Gouvernements) nur 66 Tausend, im
Schwarzerdgebiet (ebenfalls 6 Gouvernemenis) 266 Tausend Emi-
granten. Nur die Ukraine übertraf die weißrussische Auswanderung
nach Sibirien um 200 Tausend Kopfe.
496
C. Das weißrussische Dorf nach der Agrarreform.
Wenn man das gesamte Ergebnis der Agrarreform in Weißruß-
land zusammenfaßt, so muß man einsehen, daß diese Reform eine
sehr große Bedeutung für die Entwicklung der weißrussischen Land-
wirtschaft im allgemeinen und der der bäuerlichen im besonderen ge-
habt hat. Diese Bedeutung war jedoch mehr prinzipieller als okono-
mischer Art. Die Agrarreform schlug sozusagen die Brücke zu einer
neuen Basis für die gesamte Volkswirtschaft in Weißrußland, die
Bauernfrage im großen und ganzen zu lösen jedoch vermochie sie
nicht.
Die ärmere Schicht der Bauernschaft hat durch die Agrarreform
kaum eine Besserung ihrer Verhältnisse erfahren”), wenn wir die
Verkoppelung der Streubesike in Chutor und Ofrub nicht berück-
sichtigen. Das Recht zur Ausscheidung aus der Dorfgemeinde wurde
fast nur von demjenigen Teil der Bauernschaft ausgeübt, der scinen
Besitz im Dorfe hatte, aber selbst dort nicht mehr wohnte, oder
auch von denjenigen Dorfbewohnern, die im Begriff waren, auszu-
wandern. Diese Schichten der Bauernschaft schieden aus der Dorf-
gemeinde aus, nicht um die Möglichkeit zur intensiven Bewirtschaf-
tung ihres Bodens zu erlangen, sondern um ihre ihnen zugeteilten
Anteile zu verkaufen. Diese Erscheinung tritt klar bei der Feststel-
lung zutage, daß in der Gesamtzahl der am Bodenverkauf beteiligten
Bauern 53% derjenigen enthalien sind, die aus der Dorfgemeinde
ausgetreten waren. Das selbe finden wir auch bei den ausgewan-
derten Bauern. Fast 58% von diesen bildeten die aus der Dorf-
gemeinde Ausgeschiedenen, d. h. also, daß ihr Austritt aus der Ge-
meinde nur zum Zwecke des Verkaufs des ihnen zugeteilten Bodens
geschah. Zieht man außerdem in Betracht, daß die Feldgemeinschaft
in Weißrußland (außer Gouv. Smolensk) schon seit jeher nur eine
offizielle, aber keinesfalls praktische Bedeutung gehabt hatie, so
muß man einsehen, daß die Zerstörung der Dorfgemeinde für die
weißrussischen Bauern keine wesentlichen Erfolge haben konnte, und
für diejenigen Bauern, die noch auf ihrer Scholle blieben, schon ganz
und gar nicht. Dabei ist noch zu bemerken, daß die Zahl der Bauern,
die den Austritt aus der Dorfgemeinde beantragt hatten, im fort-
währenden Sinken begriffen war. So haben z. B. ın den Jahren 1911
bis 1915 die Bauern viel weniger Anträge zum Austritt aus der Ge-
meinde gestellt als in dem einen Jahre 1908.
Betrachten wir die Wirkung der Agrarreform auf das Gedeihen
der bäuerlichen Wirtschaften und den damit verbundenen Wohlstand
des Dorfes. Im allgemeinen ist ein gewisser Aufschwung in der
weißrussischen Landwirtschaft nach der Agrarreform festzustellen.
Das Wirtschaftssystem der bäuerlichen Landwirtschaft änderte sich
und erfuhr eine wesentliche Verbesserung. Die bäuerliche Wirtschaft
1) Prof. Auhagen charakterisiert dies durch den unter den russischen
Bauern sehr verbreiteten Volksausspruch: „Die Reform ist gut für die
Oroßen, — aber schlimm für uns, die wir nur einige Deßjatinen besiben.“
(„Rußlands Kultur und Volkswirtschaft”, Berlin 1919.)
497
hörte auf, reine Bedarfsdeckungswirtschaft zu sein und begann all-
mählich, sich den Marktverhältnissen anzupassen. Eine steigende
Intensivierung der Landwirtschaft ist selbst in den ärmsten Wirt-
schaften festzustellen, eine Intensivierung, die besonders in besserer
und planmäßigerer Viehhaltung, wie wir noch später sehen werden,
zum Ausdruck kam. Aber auch in der reinen Landwirtschaft hat sich
die Intensivierung bemerkbar gemacht. Es stieg die Größe der Saat-
fläche von 1899—1913 um 4%, von 1913—1916 um weitere 12%.
Zwar nahm auch nach der Agrarreform der Roggenanbau, der
für den eigenen Konsum bestimmt war, fast die Hälfte der Saatfläche
(von 46—49,3%) ein, jedoch machte sich auch ein wachsender Anbau
von Handelskulturen (Flachs u. a. m.) bemerkbar.
Der Kartoffelanbau wurde eifrig betrieben, nicht nur des Brot-
ersakes wegen, wie es früher der Fall gewesen war, sondern auch
zwecks Verkaufs auf dem Markt, wobei man die überflüssigen Ar-
beitskräfte zu beschäftigen suchte®). Es stieg die Höhe des Ernte-
erirages. So z. B. bekommen wir, wenn wir die Bodenerträge pro
Deßi. in den Jahren 1883—1900 als 100 annehmen, für die Jahre 1911
bis 1915 folgende Zahlen:
Es stieg auch die Heuernte im Jahre 1913 im Vergleich zu 1901
bis 1905 (Minsk um 0,1%, Mohilew 1,1%, Smolensk 3%), obwohl die
Wiesenfläche sich verkleinert hatte. Witebsk bildete eine Aus-
nahme, da dort das Wiesenland im Jahre 1913 um 5,5% verkleinert
wurde, und deswegen ist die Heuernte (allerdings nur um 2,6%) ge-
sunken. Vergleichen wir jedoch den Zuwachs der Bevölkerung mit
dem Wachsen der bäuerlichen Wirtschaft, so sehen wir überall, daß
die Bevölkerung viel rascher wuchs, als es der Fortschritt der Wirt-
schaft erlaubte. Mit jedem Jahre wuchs die Zahl der Wirtschaften,
es vergrößerte sich auch die Zahl der Arbeitskräfte, es stieg der
Grad der Bedürfnisse des Dorfes usw. Laut den Angaben vom Jahre
1916 bestanden in Weißrußland 1017,9 Tausend bauerliche Wirtschaften
mit einer Saatflache von 3972,2 Tausend Deßj. (90,8% der gesamten
Saaftflache), d. h. also, daß mehr als 90% des anbaufähigen Bodens
durch die Bauernschaft bestellt wurde (das bäuerliche Pachtland in-
s) Laut einer späteren Untersuchung von F. Dzerzinski stieg der Kar-
toffelanbau in Weißrußland in den Jahren 1906-1910 gegen den der an:
1893—1905 um 32,7%. („Aus der Volkswirtschaft der Union der S.S.S.R.”
Berlin 1924). Der Kartoffelüberschuß ging hauptsächlich in die Spiritus-
produktion, etwa 21 Millionen Pud (oder 14%) im Jahre 1909/1910.
498
begriffen). Pro bäuerliche Wirtschaft jedoch kamen nicht mehr als
3—4 Deß&j. (Minsk 3,5, Witebsk 4,8, Mohilew 3,8, Smolensk 3,8 De§j.
pro bäuerliche Wirtschaft durchschnittlich) Ackerland und etwa 1,5
Deßj. Wiesen- und Weideland, was bei 5—6 Essern pro Wirt-
schaft als sehr kleiner Anteil angesehen werden muß. Ziehen wir
noch in Betracht, daß etwa 18% der bäuerlichen Wirtschaften pferde-
los waren und pro Wirtschaft nur 1,28 Stück Arbeitsvieh kam (nach
der Zählung von 1916 waren in Weißrußland 1308,7 Tausend Arbeits-
pferde und -ochsen), so sehen wir, daß die Lage des Dorfes durch-
schnittlich keinesfalls besser wurde, sondern sich sogar verschlim-
merte (1880 kamen etwa 2,1 Pferde pro Wirtschaft).
Troßdem der Haushalt des Bauern dürftig war, seine Haupt-
nahrung sich auf Schwarzbrot, Kartoffeln und Gemüse beschränkte,
seine Kleidung einfach und billig war, fiel es ihm sehr schwer, sich
die Mittel selbst zu einer so bescheidenen Existenz zu beschaffen.
Es nimmt daher auch nicht wunder, wenn man sowohl vor als auch
nach der Agrarreform in der weißrussischen Bauernschaft die Be-
strebung findet, neue Erwerbszweige zu suchen, um ihre Existenz zu
verbessern.
Kapitel 5.
Bäuerliche Nebenerwerbszweige in Weißrußland.
Das Bild vom Leben und Wirken der weißrussischen Bauern wäre
unvollständig, wenn man die Nebenerwerbszweige, die eine un-
geheuer große Rolle in ihrem Leben spielten, unberücksichtigt lassen
würde.
Die Nebenerwerbszweige der Bauern lagen auf dem Gebiete der
häuslichen oder Gelegenheits-Arbeiten, die außerhalb des Dorfes
verrichtet wurden. Zu den häuslichen Nebenerwerbsarten gehörte
die Tier-, Vieh- und Gefliigelzucht*), die Hausindustrie und dergl. mehı.
Unter Gelegenheitsarbeiten sind zu verstehen: Landwirtschaftliche
Tagelöhnerarbeit und Wandergelegenheitsarbeiten.
1. Tier-, Vieh- und Geflügelzucht.
Weißrußland gehörte zu den vieharmen Gebieten Rußlands. In-
folge des geringen Prozentsagfes Ackerland war der weißrussische
Bauer gezwungen, sein ganzes Ackerland mit Brotgetreide zu
bestellen. Viehfutter wurde daher wenig angebaut. Der weiß-
1) Ich sebe die Viehzucht unter die Rubrik „Nebenerwerbszweige“, da
dieser landwirtschaftliche Erwerbszweig in Weißrußland fast bis in die leb-
ten Vorkriegsjahre als Haupterwerbszweig kaum angeschen werden kann.
Die bäuerliche Viehhaltung war hier überwiegend eine Arbeitsvichhaltung,
oder diente der Deckung des Bedarfs an Milch und Fleish. Auf dem
Markte wurde nur eine ganz geringe Menge abgesebt.
499
russische Bauer siand, wie erwähnt, außerdem auf einer sehr niedri-
gen kulturellen Entwicklungsstufe, und es fehlte ihm die Bildung
und Erfahrung des westeuropäischen Bauern, um die Viehzucht
rentabler zu gestalten. Das Haupifutter bestand aus dem als schlecht
bekannten Gras des weißrussischen Landes. In den Sommermonaten
weidete das Vieh auf den. sumpfigen Weideflächen oder in den
Wäldern, im Winter wurde es mit trockenem Stroh und Heu gefüttert.
Infolge der schlechten Qualität des Futters gedieh das Vieh,
insbesondere die Kühe, die hier „Goremycka“ = Armselige genannt
wurden, sehr schlecht. Nur auf den Gutshöfen konnte man bessere,
ausländische Vieharten antreffen.
Betrachten wir nun die Entwicklung der weißrussischen Viehzucht
in Zahlen. Die Zahl des Hornviches ist bei der Dorfbevölkerung vom
Jahre 1883—1913 absolut um etwa 80% gestiegen (Minsk 115,1%,
Witebsk 45,9%, Mohilew 78,2%, Smolensk 84,3%). Dieselbe Erschei-
nung sehen wir auch bei der Pferdehaltung. Wir finden einen Pferde-
zuwachs in den bäuerlichen Wirtschaften zur selben Zeit um etwa
30% (Minsk 55,6%, Witebsk 20,7%, Mohilew 21,9%, Smolensk 26,1%).
Auch in der Schweinezucht können wir einen Zuwachs von etwa 30%
durchschnittlich konstatieren (besonders stark war der Zuwachs im
Gouv. Smolensk). Etwas anders ist es mit der Schafzuchi?). Hier
können wir sogar eine absolute Verminderung feststellen. So z. B.
zählte man im Gouv. Minsk im Jahre 1900 785 Tausend Stück, wäh-
rend im Jahre 1913 nur noch 634 Tausend Stück gezählt wurden. Im
Gouv. Witebsk verringerte sich die Zahl der Schafe vom Jahre 1900
bis 1913 von 618 Tausend auf 476 Tausend, Smolensk von 8% Tausend
auf 629 Tausend Stück usw.
Diese Verminderung ist vielleicht auf die Einführung von inten-
siven Wirtschaftsformen im Ackerbau zurückzuführen, die für die
Schafhaltung ungünstig sind.
Dieses Steigen der Viehhaltung in Weißrußland war nur absolut,
relativ jedoch (d. h. zum Bevölkerungszuwachs) sehen wir ein fort-
währendes Sinken des Viehbestandes im Dorfe. Zur Illustration seı
die nachstehende Tabelle angeführt.
Wir sehen also daraus, daß mit jedem Jahre der Viehbestand
pro Kopf der Dorfbevölkerung geringer wurde.
Im Vergleich mit den Verhältnissen im gesamten europäischen
Rußland konstatieren wir, daß dieses Gebiet sehr arm an Vieh war.
Nur die Schweinezucht war mehr verbreitet als in Gesamtrußland. So
z. B. kamen im europäischen Rußland 1915 auf je 100 Köpfe der Dorf-
bevölkerung 22 Pferde, 34 Stück Hornvich, 53 Schafe und 10 Schweine.
Außer der Viehzucht wurde in Weißrußland auch Gefliigel- und
Bienenzucht getrieben. Auch der Fischfang bildete eine Einnahme-
quelle, besonders in den wasserreichen Gegenden.
2) In der Zahl der Schafe sind auch Ziegen inbegriffen, die in Weiß-
rußland eine ganz erhebliche Zahl ausmachten. Der Ziegenmilch wegen war
diese „Kuh des armen Mannes“ in Weißrußland sehr verbreitet.
500
—
ee — — — —
Es kamen auf je 100 Köpfe der Dorfbevölkerung:
P
Minsk 15
87
40
Witebsk 15
35
44
Mohilew 20 20
50 29
58 65
Smolensk | Pferde........... o7 26 24 | o4 | 21
Hornvieh.... ..... 46 40 55 35 29
Schafe und Schweine .. 85 61 45 49 45
2. Die Hausindustrie.
Der zweite häusliche Nebenerwerbszweig ersireckte sich auf die
Hausindustrie oder die sogenannten „Kusfargewerbe“. Die Haus-
industrie ermöglichte den Bauern die Ausnugung der für die Land-
wirtschaft ungeeigneten Wintermonate. Gerade in Weißrußland, wo
die Industrie sehr schwach entwickelt war, konnten die Hausindustrie-
fabrikate guten Absaf finden.
Der Hauptzweig der Hausindustrie in Weißrußland war die Holz-
verarbeitungsindustrie. Der weißrussische Bauer schnifte aus Holz
verschiedene haus- und landwirischaftliche Geräte, wie auch Spiel-
zeug und dergl. Aus der Baumrinde verfertigte er Schachteln, Büch-
sen und dergl. Dinge mehr, aus den Weidenruten flocht er Korbe,
Stühle usw. Auch die Frauen beteiligten sich sehr eifrig an dieser
Arbeit. Sie beschäftigten sich hauptsächlich mit Spinnen, Weben und
Stricken aus Flachs und Wolle. Sehr verbreitet war auch die Lehm-
und Erdindustrie, z. B. Ziegeleien und Töpfereien.
Die im Hause verfertigten Gegenstände brachte der Bauer auf
den Markt der benachbarten Städte, der allwöchentlich an einem be-
stimmten Tage stattfand. Außer dem Wochenmarkt (Kermasch =
„Kirmes“] fanden in den größeren Städten auch Jahrmarkte (,,Jar-
mark“) statt, die ihre speziellen Bezeichnungen nach den Warenarten
führten, z. B. Holzmarkt, Topf- und Ziegelmarkt u. a. m.
Die Zahl der damals in der Hausindustrie beschäftigten Personen
ist leider sehr schwer festzustellen. Alle diesbezüglichen Zahlen in
der russischen Statistik sind nur schätzungsweise angeführt.
In Weißrußland ist die Lage noch weniger erforscht worden als
in anderen Gebieten. Aus den wenigen Materialien, die uns zur Ver-
fügung stehen, ist zu ersehen, daß im Gouv. Minsk im Jahre 1890
etwa 20000 Kustare fast nur männlichen Geschlechts registriert
501
>
worden sind. Diese sind in 25 Arbeitsgruppen verteilt, was auf eine
schwache Gliederung der Arbeitsgruppen und auf einen primitiven
Stand der Arbeitsteilung in der weißrussischen Hausindustrie hin-
weist. Derselbe Kustar, der die Feige herstellt, verfertigt auch die
Speichen, wie auch das Rad und zuletzt den ganzen Wagen. Aus
den obenerwähnten Materialien ist zu ersehen, daß, je kleiner das
bäuerliche Anteilland in einem Kreise, desto größer der Prozentsatz
der in der Hausindustrie Beschäftigten war.
Der Verdienst einer Person in der Hausindustrie war sehr gering
In manchen Fällen betrug er nicht mehr als 15—20 Rubel jährlich. So
z. B. bekam der Bauer für einen Holzlöffel nicht mehr als 2 Kopeken
(etwa 5 Pfennige), während die Arbeit dafür mindestens eine Stunde
in Anspruch nahm. Höher war der Arbeitslohn der Möbeltischler und
Stellmacher, deren Verdienst oft bis zu 20 Rubel monatlich betrug.
Im Gouv. Witebsk waren zur selben Zeit 2232 bäuerliche Wirt-
schaften in der Hausindustrie beschäftigt. Hier waren dieselben
Zweige wie im Gouv. Minsk verbreitet (68% entfielen auf die holz-
verarbeitende Hausindustrie und 20% auf Topfereien). Außerdem
war hier auch die Herstellung von Kähnen verbreitet. Hier ist auch
eine große Zahl von „hauslosen“ Kustaren festzustellen, d. 3. solche
Heimarbeiter, die durch die Dörfer wanderten und ihren Beruf unter-
wegs ausübten (hauptsächlich Schneiderarbeiten). Der Verdienst eines
Kustaren machte hier etwas mehr als im Gouv. Minsk aus, nämlich
durchschnittlich 28 Rubel jährlich.
Dieselben Ergebnisse‘ gelten auch für die Gouv. Mohilew und
Smolensk, wo jedoch die absolute Zahl der Kustaren bedeutend
höher war.
In den letzten Jahren ist eine gründliche Erforschung der Haus-
industrie durch Prof. Rybnikow erfolgt („Die Hausindustrie Ruß-
lands“, Moskau 1924), dessen Angaben das Gouv. Minsk im Jahre
1900 und die übrigen Gouvernements im Jahre 1910—1912 betreffen.
Es waren nach Rybnikow in der Hausindustrie beschäftigt:
Art der
Industrie Minsk Witebek Mohilew | Smolensk | Zusammen
Holz-
verarbeitung 2117 9655 24862
Textil-
verarbeitung 562 1285 5596
Fell- u. Haut-
verarbeitung 145 655 4168
Mineral-
verarbeitung 916 1192 5565
Metall-
verarbeitung — 655 2855
Sonstige
Zweige — 6 118
Insgesamt . 3758 15872 45156
502
Diese Angaben sind zwar nicht ausreichend, so z. B. fehlen hier
solche Zweige wie die Herstellung von Acker- und Pfluggeraten
oder Fischneken, die bekanntlich in den weißrussischen Gouverne-
ments sehr stark verbreitet war (die Herstellung von Acker- und
Pfluggeräten war besonders stark in den Gouv. Minsk und Mohilew
verbreitet, Fischneke stellte man im Gouv. Witebsk her), jedoch kann
man sich eine mehr oder weniger klare Vorstellung über den Bestand
und die Entwicklung der weißrussischen Hausindustrie machen.
Die Regierung kümmerte sich lange Zeit überhaupt nicht um die
Hausindustrie. Erst nach der Agrarreform von 1906 trat auch hierin
eine Änderung ein. Die Regierung gewährte den in der Hausindustrie
Beschäftigten eine Unterstükung von 1% Millionen Rubel, auf fünf
Jahre (1909—1913) verteilt. Es wurden Lehrwerkstatten eröffnet,
außerdem wurden von der Regierung verschiedene Handbücher und
Musteralben zur Verbesserung der Arbeitsgerate der Heimarbeiter
herausgegeben. Im Jahre 1913 wurde mit Hilfe der Regierung eine
Heimarbeitsausstellung veranstaltet. Die Hilfe der Regierung jedoch
war im Verhältnis zu der notwendigen Unterstükung sehr gering,
was sie selbst zugab. So z.B. lesen wir in der offiziellen Denk-
schrift der Regierung von 1914:
„Die Ausgaben für die amtliche Unierstüßkung der Heimarbeiter,
damit sie ihren Platz im Wirtschaftsleben des Landes neben der
Fabrik behaupten können, sind groß und erst kaum berührt.“
In erster Reihe benötigte die Hausindustrie Kredite, die ihr die
Regierung nicht gewährt hatte, zweitens war die Aufgabe der Re-
gierung, den Absat der Erzeugnisse zu organisieren, was auch nicht
getan wurde. In den letzten Vorkriegsjahren kam die Hausindustrie
in immer stärkeren Verfall, in der Hauptsache durch die stark an-
wachsende Industrie Rußlands, wie auch durch die Entwicklung des
Handels mit dem Auslande, wodurch viel billigere Waren besserer
Qualität die Fabrikate der Hausindustrie verdrängten, so daß viele
der „Kustari“ gezwungen waren, ein neues Gebiet für die Ver-
wendung ihrer Arbeitskraft zu suchen.
3. Landwirtschaftliche Tagelöhner.
Wie wir in einem der vorhergehenden Abschnitte gesehen haben,
war der Grogfgrundbesif in Weißrußland sehr stark verbreitet. Diese
Großbetriebe, die genötigt waren, Arbeitskräfte zu beschäftigen,
fanden im weißrussischen Dorfe ein großes Reservoir von solchen.
In erster Reihe kamen die landlosen und landarmen Bauern dafür in
Frage, die entweder nur mit ihrer eigenen Arbeitskraft oder, was
auch vorkam, mit „Pferd und Wagen“ gemietet wurden. Die Ein-
stellung dieser Arbeitskräfte trug einen Saisoncharakter und be-
schränkte sich zumeist auf eine jährliche, monatliche, wöchentliche
und sogar tägliche Frist. In jährliche Dienste gingen die vollkommen
landlosen Bauern oder die jungen Knechte und Mägde, die außer
Entgelt Freikost und Wohnungen erhielten. Die landarmen Bauern,
505
die eine eigene kleine Wirtschaft hatten, konnten nur wöchentlich, im
besten Falle monatlich, ihre Arbeitskraft vermieten. Diese bekamen
ihren Lohn bar ausgezahlt und blieben nur tagsüber in der Arbeits-
stelle.
Die landwirtschaftlichen Tagelöhnerarbeiten waren für die
Bauern schon deswegen bequem, weil sie in der Nähe ihrer Heimat-
dörfer arbeiten und jederzeit nach Hause zurückkehren konnten.
Mit dem Bevolkerungszuwachs stieg auch die Zahl der Tagelöhner
und das Angebot der Arbeitskräfte.
Infolge des großen Angebots von landwirtschafilichen Arbeits-
kräften ist der Arbeitslohn außerordentlich gesunken. Aus den An-
gaben, die wir in den „Materialien der Kommission zur Erforschung
der Notlage der Landwirtschaft“ vom Jahre 1889 finden, ist zu ersehen,
daß in Weißrußland in diesem Jahre der Arbeitslohn eines Land-
arbeiters etwa 47 Rubel jährlich betrug (Minsk 45 Rubel, Witebsk 50
Rubel, Mohilew 47 Rubel, Smolensk 46 Rubel). Im Jahre 1903 stand
der jährliche Arbeitslohn eines Landarbeiters noch niedriger (viel-
leicht infolge der Mißernte dieses Jahres), erst in den lebten Vor-
kriegsjahren ist eine Steigerung des Arbeitslohnes festzustellen („Der
Finanzbote“, Nr. 23, 1903).
Dabei ist zu bemerken, daß die oben gebrachien Zahlen für den
Durchschnitt des jährlichen Arbeitslohnes hauptsächlich aus den An-
gaben der Gutsherren selbst stammen, in Wirklichkeit jedoch stand
der Arbeitslohn noch niedriger. Diese Annahme bestätigt auch
P. Maslow („Die Agrarfrage in Rußland“), der die Angaben der
Bauern nennt, wonach der jährliche Arbeitslohn um 5—6 Rubel
niedriger war als nach Angaben der Gutsherren. Aber nehmen wir
an, diese Zahlen seien richtig, so reichte diese Summe dennoch
keinesfalls als Existenzminimum einer Person in der damaligen Zeit.
Als notwendige Summe zur Erhaltung der physischen Existenz einer
Person und Aufrechterhaltung der kleinsten Wirtschaft wurden von
F. Schtscherbina („Die Bauernbudgets‘) 53,79 Rubel jährlich
für einen landlosen Bauern genannt, wovon 33,78 Rubel zur Deckung
seiner persönlichen und 20,01 Rubel für die Bedürfnisse der Wirt-
schaft gerechnet wurden.
Ziehen wir noch in Beiracht, daß die Lebenshaltung in Weißruß-
land etwas teurer war als im übrigen europäischen Rußland infolge
der Abhängigkeit Weißrußlands vom Brotimport*), so werden wir
verstehen können, wie weit die Entlohnung der weißrussischen Land-
fagelohner vom realen „standard of life“ abwich.
4. Wandergelegenheitsarbeiten.
Der Überschuß an Arbeitskräften zwang die Bauernschaft, aus
ihren Heimatdörfern auszuwandern und sich nach den entlegenen
s) Die Brotpreise stiegen in Weißrußland von 0,53 Rubel pro Pud im
Jahre 1895 auf 1,30 Rubel im Jahre 1907 und 1,27 Rubel im Jahre 1908. In
den letzten Vorkriegsjahren ist der Brotpreis wieder um etwa 20% zurück-
gegangen.
504
Ländern und Gouvernements auf die Arbeitssuche zu begeben. Diese
Art der Arbeitssuche in der Fremde, die in Rußland unter dem Namen
„Otchozyje promysly“ Id. h. auswärtige Arbeiten) bekanni war, um-
faßte Tausende und Abertausende von weißrussischen Bauern. Sie
verließen ihre Heimatdörfer und begaben sich scharenweise in weit
entfernte Gouvernements, zogen manchmal auch über die Grenze
nach fremden Ländern hin, um ihr tägliches Brot zu verdienen. Die
wandernden Arbeiter schlossen sich oft in „Artels‘‘ zusammen und
führten jede Arbeit, die sie unterwegs bekamen, aus, sowohl land-
wirtschaftliche, als auch Bau- und Erdarbeiten. Wenigen von ihnen
gelang es auch, ständige Arbeit zu finden (die sogenannten „Batraki“),
die Mehrzahl jedoch war auf Gelegenheitsarbeiten angewiesen.
Die Auswanderung aus den weißrussischen Gouvernements rich-
tete sich entweder nach dem Osten, in das Schwarzerdgebiet, oder
nach dem Westen auf die polnischen Gouvernements. Die Zahl der
aus den weißrussischen Gouvernements auswandernden Arbeiter
nahm große Dimensionen an. Schon in den achtziger Jahren des
vorigen Jahrhunderts belief sich ihre Zahl in manchen Gouvernements
auf etwa 40% der männlichen Dorfbevölkerung, und in den lebten
Vorkriegsjahren hat sie sich nicht verringert). Die Zahl der Aus-
wanderer vergrößerte sich später dadurch, daß fruher nur Männer
auf Wanderarbeit gegangen waren und nunmehr auch Frauen sich
daran beteiligten. Ebenso begannen auch die Jugendlichen diesen
Weg der Arbeitssuche zu gehen. Diese neu hinzugekommene Wander-
arbeiterschaft fand in den lebten Vorkriegsjahren eine bedeutend
bessere Verwendung ihrer Arbeitskraft als die erwachsenen Männer,
da im Laufe der Zeit sowohl die landwirtschaftlichen als auch die
industriellen Betriebe in größerem Maße Maschinen benutzten und
man sich daher mit der billigeren Arbeitskraft der Frauen und der
Jugendlichen begnügen konnte.
Ihren weiten Weg legten die Wanderarbeiter meist zu Fuß
zurück. Im Laufe von Monaten durchschritten sie Hunderte und
manchmal auch Tausende von Wersten. Obgleich sie jede dar-
gebotene Arbeit ausführten, um nicht zu verhungern, lebten sie unter
den miserabelsten Bedingungen, immer unterwegs, sich mit der not-
dürftigsten Nahrung begnügend. Bei der ungeheuer großen Kon-
kurrenz ist es selbstverständlich, daß der Arbeitslohn ein nur sehr
geringer war. Manchmal überstieg er nicht 15—20 Kopeken pro Tag.
Ziehen wir noch die durch die Wanderung verlorengegangenen Ar-
beitstage in Betracht, so sinkt der Lohn auf ein lächerliches Minimum
herab. Eine Übersicht über die Menge der verlorenen Arbeitstage
4) Laut L. Kirilow („Wanderarbeiten“, Petersburg 1899) nahm Weißruß-
land betreffs der Zahl jährlich auswandernder Arbeiter die dritte Stelle im
gesamten europäischen Rußland ein. Nach seinen Angaben sollten die weib-
russischen Wanderarbeiter überwiegend nicht direkt in der Landwirtschaft
beschäftigt sein. Ferner bezeichnete Kirilow diese Wanderung als „innere
Ar Migration“, welche Bezeichnung meiner Meinung nach nicht mehr
zutrifft.
506
gibt uns eine Untersudiung aus dem Jahre 1895, die im Gouv. Cher-
son gemacht wurde. Es wird darin festgestellt, daß von 56 500 ein-
gewanderten Arbeitern etwa 83,6% den Weg von ihren Heimats-
dörfern hierher zu Fuß zurückgelegt hatten, 13,2% teilweise zu Fuß
und bei 3,2% war er unbekannt. Durch den weiten Weg hatten diese
Auswanderer insgesamt eine Zahl von 12% Millionen Arbeitstagen
verloren, die mindesiens eine Summe von 4 Millionen Rubel Arbeits-
lohn ausmachien.
Unterwegs erkrankten viele von ihnen, so daß sich die von der
Einwanderung betroffenen Gouvernements gezwungen sahen, Ba-
racken und Küchen zu errichten, wobei ihnen die Regierung nur sehr
geringe Hilfe leistete.
Ich führe zur Illustration einige Ziffern an: Im Jahre 1898 wan-
derten aus dem Gouv. Smolensk 104 724 Bauern aus, wnvon 77 265
Männer und 26 459 Frauen waren, im Jahre 1899 wanderten abermals
117000 Bauern aus. Aus dem Gouv. Witebsk gingen im Jahre 1898
19000 Männer und 17000 Frauen auf Wanderarbeit. Aus dem
Gouv. Minsk gingen im selben Jahre 6000 Männer auf die Wan-
derung aus. Besonders für das Gouv. Mohilew sind genaue Zahlen
für die Wanderarbeit vorhanden. Dort führten die Gouverneure eine
genaue Statistik auf Grund der ausgegebenen Pässe. So sehen wir,
daß im Jahre 1897 im Gouv. Mohilew 25,5 Tausend Bauern als Flößer
beschäftigt waren und 15,5 Tausend auf Wanderarbeit in andere
Gouvernements gingen. Im Jahre 1899 stieg hier die Zahl der Flößer
auf 40 Tausend und die der Wanderarbeiter auf 23 Tausend. Laut
den Angaben für das Jahr 1910 ist hier die Zahl der Wanderarbeiter
ungeheuer gestiegen. In diesem Jahre waren etwa 145 Tausend
Bauern in nichtlandwirtschaftlichen Berufen tätig. Außerdem gingen
auf Wanderarbeiten 46 086 Bauern. Auch im Gouv. Witebsk ver-
ließen im selben Jahre 42 882 Bauern ihre Heimatsdorfer.
Sehr charakteristisch für die Verhältnisse im Gouv. Witebsk ist
auch die Untersuchung aus dem Jahre 1907, bei der fesigestellt wurde,
daß von den 170 Tausend Bauernwirischafien etwa 70 Tausend Wirt-
schaften oder 115 Tausend Personen in nicht bäuerlichen Berufen
tätig waren. Von diesen 115 Tausend Personen waren 41 Tausend
Männer und 18 Tausend Frauen „Schwarzarbeiter“ außerhalb des
Dorfes, 10 Tausend Floßarbeiter und dergl.
Zwar sind die vorhandenen Materialien nicht systematisch geord-
net, jedoch ist aus ihnen zu ersehen, daß die Auswanderung aus dem
weißrussischen Dorfe eine gewaltige war. Mit jedem Jahr wurden
die Arbeitsmoglichkeiten in Weißrußland geringer im Verhältnis zum
Zuwachs der neuen menschlichen Arbeitskräfte, und der weiß-
russische Bauer mußte das Dorf verlassen.
Die Auswanderung war oft mit dem Ruin der gesamten Wirt-
schaft verbunden. Viele Bauern verkauften ihr Hausvieh, um da-
durch die Reisespesen decken zu können. Der Verdienst durch
Wanderarbeit reichte nicht einmal dazu aus, die eigenen Lebens-
unterhaliskosien notdürftig zu decken, geschweige denn so viel zu
506
erübrigen, um die im Dorfe zurückgebliebene Familie mit versorgen
zu können. Das Resultat war, daß jedes einzelne Mitglied einer
solchen Familie gezwungen war, selbst auf die Arbeitssuche zu
gehen, so daß Unmengen von Familien dadurch zerrissen wurden.
Zusammenfassung.
Aus dem bisher Gesagien ist folgendes zu entnehmen:
Infolge einer Reihe von Ursachen historischer, agrogeologischer
und ökonomischer Natur hat sich die wirtschaftliche Lage der weiß-
russischen Bauernschafti in der Vorrevolutionszeit anders gestaltet
als in den übrigen Gebieten Rußlands. Alle Epochen in der Entwick-
lung der russischen Agrarverfassung haben hier infolgedessen einen
anderen Verlauf genommen und ganz andere Resultate gezeitigt.
Wir haben gesehen, daß eine große Masse der weißrussischen
Bauernschaft unter den polnischen adligen Gutsbesigern lebte und
arbeitete. Zur Zeit der Aufhebung der Leibeigenschaft wurde den
Bauern wenig Boden zugeteilt, und selbst dieser war nur sehr
schlechier Qualität. Der überwiegende Prozentsatz des Bodens be-
fand sich in den Händen des Adels; Staais- und Kronsboden gab es
in Weißrußland sehr wenig. Die bodenarmen Bauern führten meist
Sonderwirtschaften und hatten nur Wiesen und Weiden, in manchen
Fällen auch Wälder gemeinsam. Die ihrem Wesen fremde und nur
von oben aufgezwungene Feldgemeinschaft konnte hier nicht Wurzel
fassen; sie existierte nur auf dem Papier. Nur im Gouv. Smolensk
hat sich die Feldgemeinschaft infolge historischer Ursachen ent-
wickeln und erhalten können. Im Gouv. Mohilew, wo wir es mit
einer großen Zahl von Großbauern zu tun haben, entwickelte sich die
Bauerngenossenschaft.
Die überwiegende Mehrheit der Dorfbevölkerung bildeten die
landarmen und landlosen Bauern, die bei der schlechten Boden-
qualität und bei den geringen Ernten das Existenzminimum nicht er-
langen konnten. Sie suchten Boden von den Gutsherren zu pachien,
wofür sie einen sehr hohen Pachizins zahlen mußten, so daß die
Ernährungspacht zur Hungerpacht degradiert wurde.
Der Bevölkerungszuwachs ging mit raschen Schritten vor sich,
und dadurch entstand ein ungeheurer Überschuß an Arbeitskräften.
Das Dorf war nicht mehr in der Lage, seine Bewohner zu ernähren.
Die Industrie in den Städten war sehr schwach entwickelt, und der
Bauer konnte hier auch keine Unterkunft finden. Andererseits ver-
laßt der weißrussische Bauer, der an seiner Scholle mit Liebe hängt,
sein Dorf sehr ungern und sucht jeden irgendwie möglichen Neben-
erwerb, um in seinem Heimatdorfe oder in dessen Nähe bleiben zu
können. Er beschäftigte sich daher in der primitiven Hausindustrie,
er schnigte Geräte und Geschirr aus Holz, er flocht, wob und spann.
Er ging in die benachbarten Adelsgüter, um seine Arbeitskraft für
einen lächerlich geringen Lohn zu vermieten. Seine Not wuchs von
Tag zu Tag. Die Maßnahmen der Regierung konnten auch nicht
mehr viel helfen.
SINF 8 507
Erst mit Beginn des 20. Jahrhunderts und mit der Stolypinschen
Agrarreform sekt eine Besserung der Lage im weißrussischen Dorfe
ein. Durch die umfangreichen, segensreichen Landeinrichtungs-
arbeiten, durch die Errichtung von neuen Einzelwirtschafien in der
Form von Chutors und Otrubs, wie auch durch die Beseitigung
der Gemengelage konnte eine Intensivierung der bäuerlichen Be-
triebe eintreten, was die Erhöhung des landwirtschafilichen Ertrags
und eo ipso die bessere Gestaltung des bäuerlichen „standard of
life“ zur Folge hatte. Von entscheidender Bedeutung war auch die
erweiterte Tätigkeit der Bauernbank, mit deren Hilfe sämtliche
Schichten des weißrussischen Dorfes (wenn auch in verschiedenem
Umfange) Boden erwarben.
Die Wirkung der Stolypinschen Agrarreform hatte aber auch
ihre Schatienseite: sie verstärkte die schon von früher bestehende
Kluft zwischen den verschiedenen Schichten des Dorfes. Während
die besser situierten Wirtschaften in dieser Periode einen Auf-
schwung erfuhren, blieben die armen bäuerlichen Wirtschaften, die
im weißrussischen Dorfe die überwiegende Mehrzahl bildeten, nach
wie vor in sehr gedrückter Lage.
Durch den starken Bevölkerungszuwachs im weißrussischen
Dorfe und durch die rasche Parzellierung der bäuerlichen Wirt-
schaften infolge der Vererbung und der Einheiraten nahm die Über-
bevölkerung im weißrussischen Dorfe ungeheure Dimensionen an —
das Dorf konnte seine Bewohner nicht ernähren, und die Bauern
verließen massenweise ihre Dörfer, zogen in die Stadt, wohin sie
die durch das ferne Pfeifen einer Fabrik hie und da entstandene
schwache Hoffnung auf eine Arbeitsmöglichkeit zog; sie wanderten
auch nach dem Osten in das Schwarzerdgebiet, nach dem fernen
Sibirien, wie auch zum Westen hin, in das Weichselgebiet, nach Polen
und Preußen und teilweise auch in die Neue Welt jenseits des Atlan-
tischen Ozeans.
So lagen die Verhältnisse bis zum Ausbruch des Weltkrieges
und der Revolution von 1917, als Weißrußland zusammen mit dem
gesamten Rußland in eine neue politische und ökonomische Ara
eintraf.
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510
BOLESLAW PRUS
Von
O. Forst-Battaglia.
Während die großen Namen der russischen Literatur dem deut-
schen Leser längst vertraut sind und die wesentlichen Werke der
erzählenden Prosa eines Gogol, Turgenev, Dostoevskij, Tolstoj,
Čechov und Gorkij zum geistigen Besitztum der Welt gehören, hat
von den polnischen Dichtern des letzten Jahrhunderts einzig Sienkie-
wicz Verbreitung hinaus über den engsten Kreis berufsmäßiger
Kritiker und literarischer Feinschmecker gefunden. Die Romane der
Orzeszkowa, Kraszewskis, einst viel gelesen, sind vergessen; die
Erzählungen der Zapolska und Weyssenhoffs haben kaum durch ein
paar Jahre das deutsche Publikum beschäftigt. Selbst Reymonts
Meisterwerk, die „Bauern“, zeugt in den Ziffern seiner Auflagehohe
keineswegs für einen Erfolg bei der Masse. Zeromski aber und
Berent sind in so übler Form vorgestellt worden, daß man es weder
beklagen noch sich darüber wundern kann, wenn ihre ins Deutsche
übertragenen Bücher keine größere Beachtung genossen. Es sind
nun freilich nicht bloß äußere Umstände, die der polnischen Literatur
den Weg nach Deutschland versperrten. Hinter der Unzulänglichkeit
des Dolmetschers erblicken wir zwei Tatsachen, die entscheidend
waren: den politischen Gegensab zwischen Deutschen und Polen (der
auch noch nicht den Ausschlag gab) und als Letztes, daß die polnische
Literatur einen streng nationalen Inhalt hat, der, im Gegensatz zum
universellen des russischen Schrifttums, auch dem an sich ewig-
gültigen Kunstwerk die Reichweite mindert. Wer vermöchte ohne
UnterlaB von den polnischen Leiden und Freuden zu lesen, wenn er
nicht ... selbst Pole war. Das polnische Milieu war zu wenig
exotisch, um durch seine Fremdartigkeit Anteilnahme zu wecken; zu
sehr vom deutschen, westeuropäischen verschieden, um als Spiegel-
bild der vertrauten Wirklichkeit hingenommen zu werden. So emp-
fanden denn beide Schichien der Kritiker und Leser, die nach einem
literarischen „Pays de cocagne“ verlangenden Romantiker und die
unerbittlichen Realisten, wenig Neigung, zu erfahren, wie sich pol-
nische Dichter die polnische Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
vorsiellien, deuteten und schilderten.
Daß nun ein ganzes Volk den Blick wie hypnotisiert auf sich
selbst gerichiet hatte, während andere glücklichere Nationen ihre
511
Augen frei über die Erde schweifen ließen, dafür bietet die Ge-
schichte rasch Erklärung. Durch das Diktat der rohen Gewalt seiner
politischen Existenz beraubt, unfähig, seine schöpferische Energie im
eigenen Staat zu betätigen, kehrte sich der Pole jenem Reich zu,
uber dem keine Knute wütete; in dem er schalten und gestalten
konnte: dem Lande der Phantasie. Die sich enge im vom Unter-
drücker beherrschten Raum stoßenden Gedanken wirkten frei: dort,
wo die Sonne des Geistes nie unterging. Das nationale Leben wählte
sich, in den bösesten Jahren der Knechtschaft, die Literatur zum
Schauplatz: und es regierte über sie als ein eifersüchtiger Gott, der
kaum einen Nebenbuhler neben sich duldete.
Trotzdem vermochte sich diese so leidenschaftlich ihrem Volkstum
verhaftete Kunst nicht völlig dem Einfluß der Zeit zu entziehen.
Neben dem Genius loci haben auch in Polen die allgemein europai-
schen Strömungen ihren Einfluß geübt, so daß die nationale Dominante
von den wechselnden Motiven des Zeitgeschmacks begleitet wurde.
Der Romantik danken die Polen die herrliche Blüte ihrer Lyrik
(Mickiewicz, Słowacki, Krasiński, Norwid), ihres Epos (Mickiewicz,
Malczewski) und das einzige Drama ihrer Literatur, das fur Europa
von Geltung ist, Krasinskis ,Ungottliche Komödie“. Der Realismus,
jene Form der siegreichen Bürgerlichkeit, die das siegreiche Bürger-
tum seit der Jahrhundertmitte der Kunst aufzwang; der Realismus,
welcher in Frankreich die unsterblichen Romane von Stendhal, Balzac,
Flaubert, in Deutschland die Gustav Freytags, Storms, Fontanes und
Gottfried Kellers, in Rußland seine vollkommensten Schopfungen her-
vorgebracht hatte, zeitigte auch in Polen repräsentative Werke der
erzahlenden Prosa. Die Ungunst der damals herrschenden Verhalt-
nisse hat diese Bücher auf ihre Heimat beschränkt. Indes, da ıhnen
die universelle Gültigkeit innewohnt, der sonst die polnischen Dich-
tungen entbehren, da ihre Form des Inhalts würdig und dieser Inhalt
lebendig und lebensvoll ist wie am ersten Tag, der in Polen noch die
Nacht der Unfreiheit bedeutet hatte, ziemt es, daß verspätet, doch
nicht zu spät, die Leistungen des polnischen Realismus der Welt ver-
kundet werden. Müssen, können und werden sich die Romane, in
denen diese Leistungen gipfeln, ein Publikum erobern, dem damit
das lebte noch ungekannte Gebiet erschlossen wird, an dem die
Sucher nach verborgenen Schätzen bisher vorubereilten.
Eine Gestalt, ein Name, in dem sich der heimliche Glanz, der
nun erstrahlen soll, verkörpert: Bolestaw Prus. Er hieß, als er
am 20. August 1847 das Licht einer sehr verfinsterten Welt erblickte,
Alexander Głowacki und entstammte einer ehrenhaften
Familie des Kleinadels, in der die Gaben des Herzens reicher vor-
handen waren als die goldeswerten Schätze. Des Knaben Jugend
war von Sorgen umdüstert. Nur mit Mühe fand er den Weg durch
die Mittelschule zu Lublin. Er kämpfte mit der Not, mit dem Wissens-
512
kram, der sich auf sein Hirn legte. Und schon mit dem Feind, der
überall im Lande gegenwärtig drohte: wider den russischen Zwing-
herrn. Die Jahre der Pubertät verrannen unter dem lähmenden Ein-
druck des hoffnungslosen Ringens einer enirechteten und unbot-
mäßigen Nation mit ihrem mächtigen Peiniger. Männer und Frauen
trugen Trauer als Kleid des jammervollen Alltags und um die Opfer,
die endios und scheinbar zwecklos für die nationale Sache fielen.
Sechzehn Jahre zählte Glowacki, als die Verzweiflung zu den unzu-
langlichen Waffen griff. Am polnischen Aufstand von 1863 hat er,
der Schulbank eniflohen, aktiv teilgenommen. Ein älterer, geliebter
Bruder verlor über das Unglück der Insurrektion das einzige, was
er besaß, den Verstand. Alexander Glowacki zog aus dem tragischen
Abenteuer die Lehre, seinen Verstand zu hegen und zu pflegen,
damit nicht wieder, in ihm und in seiner Nation, das Herz lenke und
das Herz in schmerzlichem Beben erzitiern müsse.
Der Insurgent schleppt sich zurück in die bürgerliche Fron, be-
quemt sich noch einmal zur Schule. Siedelt, nachdem er das Gym-
nasium beendet hat, in die Kapitale uber. An der „Szkoła główna“,
wie man die Warschauer Universität etwas despektierlich von Amis
wegen nannie, an der „Hauptschule“, hörte er die Vorlesungen be-
rühmter Professoren, die zugleich ausgezeichnete Gelehrte und
warmfühlende Patrioten waren, freute er sich des Umgangs mit
gleichgestimmten Kameraden, die alle danach sirebten, auf und aus
den Trümmern der im Aufstand niedergeiretenen Romantik ein Neues
zu erbauen. An jener Hochschule bildeten sich Männer wie Sien-
kiewicz und Świętochowski. Głowacki sollte mit diesen beiden der
geistige Fuhrer der Generation werden, die ihr traumerisches, emp-
findsames Polenium in sich erstickie, ersticken wollte, um erst eine
gesunde, wirtschaftlich gekräftigte Gesellschaft und dann damit die
Grundlage des von keiner Brutalität” der Bajonette gefährdeten
nationalen Seins zu schaffen. Vom Westen her kam das Evangelium
nach Comte, Buckle, Taine: der Positivismus. Mit Feuereifer, mit
dem Ubereifer der Proseliten verkiindeten die polnischen Apostel
der neuen, und nur im romantisch-urkatholischen Polen unerhorten,
ungehörfen Lehre, daß die Ara des flatternden Helmbusches dahin sei;
daß man die Schwärmerei des Herzens der Erkenntnis des Ver-
standes unterordnen und vor allem eines müsse: arbeiten, arbeiten
und nicht verzweifeln. Ein Volk von märchenhaft reichen und ent-
nationalisierfen Magnaten, bettelarmen und überstolzen Adeligen, die
in Schönheit zu sterben, doch nicht in Häßlichkeit pflichtergeben zu
leben verstehen, von dumpfen, tragen Kleinbürgern und gequalten
Bauern-Tieren soll sich, die wertvollen andersnationalen Elemente,
Deutsche und Juden, amalgamierend, in eine moderne Gemeinschaft
Gleichberechieier, gleich Fühlender verwandeln, unter denen nur das
Talent und die Leistung Unterschiede begründen. Wo gewaltige
Flächen nuglos brachliegen oder dem schalsten Vergnügen mit ihren
spärlich geernteten Früchten dienen, wo die harte Fron dem emsigen
515
Landmann kaum das animalische Dahinbrüten sichert, sollen sich
Fabriken erheben, die neue Bedürfnisse schaffen, befriedigen; die
Wohlstand wecken und nahren.
Das klang sehr westlich, utilitaristisch, revolutionär. War gewiß
sehr westlich, utilitaristisch, revolutionär gemeint. Eine Reihe von
Zeitschriften predigie eindringlich die Trägheit des Herzens und die
Regsamkeit der Vernunfi. Głowacki, alsbald zum Schriftsteller
Bolesław Prus geworden, betrat 1871 die literarische Arena. Er hatte
die Hochschule nicht vollkommen beendet. Sein Los war dem so
vieler armer intellektueller ähnlich, die sich vor der offiziellen Kro-
nung durch das Diplom nach Broterwerb umsehen mußten. Głowacki
verdiente sich das Notwendige als Beamier und einen mageren Zu-
schuß durch Artikel, die auf dem Markt der Warschauer literarischen
Eitelkeiten bald sehr begehrt waren. Swietochowski weilte in den
höheren Regionen der allzu reinen Vernunft, Sienkiewiczs Genie
hatte sich noch nicht entfaltet; vor einer Legion anderer längst ver-
schollener Publizisten hatte Prus den liebenswürdigen Humor voraus
und die Leichtigkeit, mit der er die schwersten Probleme vor einem
Publikum erörterie, dem die feine geistige Kost um so trefflicher
mundete, je weniger es sie gewohnt und je verdaulicher sie war.
Fur die positivistischen Ideale — nur keine Enirüstung über diese
sehr richtige contradictio in adjecto — siritt Prus je nach den Um-
ständen und den Umstehenden, mit gesiräubter, mit verbindlich und
sanft aufdrückender, mit selisam karikierender Feder.
Seit 1874 in der größten Warschauer Zeitung, dem „Kurjer War-
szawski“, dem er, mit kurzen Unterbrechungen bis ins Alter freu blieb,
ob ihn auch das behutsame Blatt gelegentlich und ungelegentlich
verleugnete, wo sich nur ein Anlaß bot. In den Prus’schen Feuilletons
las der Bürger „de omnibus rebus ef quibusdam aliis“, doch stets
vom Fortschritt und seiner Heilsamkeit, stets Dinge, die der gesunde
Hausverstand begreifen konnte oder zu begreifen glaubte. Und
wenn der rasflose Sitienrichtier, den der „Kurjerek“ so wacker
brauchte und mißbrauchte, die Zugeknopfien zur Unterhaltspflicht
aufforderte, da vergaß er nie seine Pflicht zu unterhalten, um da-
durch zu nützen. Als Chronist des Warschauer Lebens sammelte Prus
einen Schatz von Erfahrung, den er schließlich nicht mehr an den ver-
gänglichen Zeitungsartikel verschwenden mochte. Während seiner
Journalistentätigkeit hatte er nie aufgehört aus den Spalten unter
dem Strich zu verdammen, was ihm an der Welfordnung gegen den
Strich ging. Nun predigte er durch Novellen, Geschichten, die von
irgendwelchen „faits divers“ den Anlaß nahmen, im Schema den
französischen Naturalisten nacheiferten, dabei der polnischen
Schranken bewußt waren und im Grunde mit ihrer herzlichen Naivität
eher an die Madame de Segur als an Zola oder Goncourt erinnerten.
Auch Erzählungen aus der Kinderwelt schrieb Prus gerne, der selbst
ein großes, gütiges Kind blieb, das mit dem heiligen Feuer spielte.
Die traurigen Schicksale der kleinen Anielka, die zwischen einem
614
leichtsinnigen Vater und einer lebensuntüchtigen Mutter dahinwelkt,
des Proletariers Lachowicz Aufstieg zum Künstlerruhm und Reichtum
(,,Anielka“ 1880 und „Dusze w niewoli“, „Seelen in der Gefangen-
schaft“ 1877) seien als die am besten gelungenen Versuche des Er-
zählers erwähnt, der lange sich mühte, ehe er die angeborenen
Gaben recht zu verwenden lernte.
Prus zählte bereits 38 Jahre, und er war, nach einem gescheiterten
Extempore als Zeitungsherausgeber, wieder zum „Kurjer Warszawski“
zurückgekehrt, als er den ersten seiner großen Romane veröffent-
lichte, die „Placówka“ (Schildwache). Der Erfolg stellte sich sofort
ein, und er ist dem Buche bis heute beschieden. Nicht nur um der
beträchtlichen künstlerischen Vorzüge willen, die hier eine unver-
hehlte nationalpädagogische Tendenz adeln, sondern auch gerade
wegen der politischen Färbung des Stoffes.
Indes erst das nächste Werk des nun völlig gereiften Autors
sprengt den polnischen Rahmen. In zwei umfangreichen Erzäh-
lungen, der „Lalka“ (Die Puppe, 18%) und ,,Emancypantki“ (Die
Emanzipierten, 1894) setzt sich Prus mit sozialen Zeitproblemen aus-
einander, die, mochten sie auch durch ihre fein beobachtete Szenerie
an Warschau geknüpft sein, darum nicht minder universell waren:
mit der Verkommerzialisierung der untergehenden agrarisch-adeligen
Gesellschaft und mii der Frauenfrage, die sich gebieterisch der neuen
Generation aufdrangi. Wohl hatte der Dichter schon in seinen
Feuilletonen und Novellen der Umschichtung, die sich vor seinen
Augen vollzog und nach seinem Wunsch auch vollziehen sollte, seine
Aufmerksamkeit gewidmet, auch in einem Roman, der wie eine Vor-
studie zu den späteren, bedeutenderen Büchern anmutet, in der
„Powracajaca Fala“ (Die zurückkehrende Welle) die Rolle des in-
dustriellen Kapitals im veränderten Polen erörtert. Doch in den Er-
zählungen aus den fruchtbaren Neunzigerjahren sprach er. sein de-
finitives Urteil über die Vielfalt des Geschehens umher, fand er die
endgültige Form für seine unvergänglichen Zeitgemälde. Er über-
traf sie und schuf sich die Bürgschaft noch höheren Ruhmes durch
den Roman aus dem alten Ägypten „Faraon“ (Pharao, 1897), welcher
ganz unerwartet den glänzenden Publizisten, der ganz dem Augen-
blick zu gehören schien, als einfühlsamen Deuter einer verklungenen
Epoche, als hinreißenden Schilderer von durch Ort und Zeit ent-
fernten Menschen zeigte. Die literarische Stellung des allverehrten
Mannes war damit in Polen jedem Zweifel entrückt. Man betrachtete
ihn als ebenbürtigen Genossen des weit mehr populären Sienkiewicz
Auch die inzwischen heranwachsenden Nachfolger der seit den Sieb-
zigerjahren herrschenden Positivisten, ein Zeromski und Reymont,
schabien in Prus den Künstler und den Menschen, empfingen von ihm
wichtige und dankbar anerkannte Anregungen.
Prus schrieb weiter seine Artikel, er freute sich über die leisen
Anzeichen der Besserung im Politischen und des starken Fortschritts
in der sozialen Entwicklung. Stets respektvoll vernommen, ertönte
515
seine Stimme, um zu warnen und um zu mahnen, wenn er Gefahren
seinem geliebien Volke nahen sah. Was er aus seiner Jugend als
positive und negative Erfahrung mitgebracht hatte, ist ihm unanfast-
bare Wahrheit: nur ernste, organisierte, friedliche Arbeit tut not.
Vor allem aber, seid einig, einig, einig. Das Jahr 1905, die furchi-
bare Katastrophe, von der das russische Reich erschüttert ward, ent-
fesselt in Kongreßpolen einen förmlichen Guerillakrieg von Banden,
die sämtlich nationalen oder klassenpolitischen Schlagworten ge-
horchen, indes nicht immer von den vorgegebenen Motiven geleitet
sind. Prus, der sich entsefensvoll der Insurrektion von 1863 und
ihres Zusammenbruchs erinnert, mißbilligt den regellosen oder ıhm
regellos scheinenden Aufruhr, der mühsam erzielte Werte zerstört;
er brandmarkt die moralische Verwilderung, die sich unter dem Deck-
mantel des Patriotismus oft bemerkbar macht; empfindet wohl dazu
die instinktmäßige Abneigung des Szlachcicen, des, sei es auch ver-
birgerlichten und demokratisierten Adeligen, gegen die Proles. Daß
der Moment gekommen war, wo die Waffen sprechen durfien und
mußten, hat er nicht erkannt, und eine Kluft dehnte sich, zum ersten-
mal, zwischen ihm und der Jugend. Sein Roman „Dzieci“ (Die
Kinder), den er 1910, nach dreizehn Jahren des Schweigens, veröffent-
lichte, bot dafür den schmerzlichsten Beweis. Indes selbst das teil-
weise künstlerische Mißlingen dieses Versuches einer dichterischen
Abrechnung mit der revolutionären Bewegung tat den Gefühlen keinen
Abbruch, mit denen die gesamte Nation an ihrem gütigen, besorgten
Lehrer hing. Als Bolestaw Prus, zwei Jahre später, am 19. Mai 1912
starb, zu Warschau, in den Sielen, wenige Tage, nachdem er seinen
lebten Artikel für die Wochenschrift „Tygodnik Ilustrowany“ verfaßt
hatte, die sich mit dem „Kurjer Warszawski“ im Ertrag seiner publi-
zistischen Tätigkeit teilte; als das müde Herz stillstand, das nur für
hohe und edle Ziele geschlagen hatte, da trauerte ganz Polen um
den Dahingeschiedenen.
Die schönsten menschlichen waren mit den Eigenschaften eines
ausgezeichneten Schriftstellers in ihm vereint: Güte, Klugheit, Heiter-
keit spiegelten sich im literarischen Werk als wahre Humanität der
Gesinnung, als scharfe Beobachtung und Logik, als bezwingender
Humor wider. Die scheue Zurückhaltung, das keusche Empfinden
des Mannes wachten über die Grenzen, die vom Autor nie über-
schritten wurden, so sehr auch bei manchen heiklen Stoffen und an-
gesichts der realistischen Tendenzen die Versuchung dazu lockte.
über diese Grundtatsachen hinaus ist Prus eine Mengnis der wider-
sprechendsten Zuge gewesen, ja es scheint, daß selbst die eben ge-
schilderten Umrisse seines Antliges zum Teil nur Maske gewesen
sind. Wenigstens sehen wir, nach den posihumen Aufzeichnungen
des Dichters, seine Bescheidenheit in neuem Licht, als Folge eines
ungern, doch würdig eriragenen Zwanges. „Es zieht mich zu hohen
Stellungen, ja sogar zum Glanz. Das ward aus meiner ununter-
616
brochenen Träumerei“. Dem armen Literaten, dem Angehörigen
einer tyrannisch regierten, unterdrückten Nation wäre wirkliche
Macht, wäre jeglicher Glanz nur um den Preis des Verrats an seinem
Volke beschieden gewesen. Und diesen Preis zu zahlen, hat Prus
abgelehnt. So blieb ihm nur: Prophetentum, Diktatur, staats-
männisches Walten auf dem geduldigen Papier. Der zum Vollbringen
befähigte Tatenmensch wandelte sich zum Prediger, zum Dichter,
zum Publizisten: zum Meister der Feder und des Wortes, da er nicht
der des Weltgeschehens werden konnte.
An diesen Kontrasti von hohem Wollen und begrenztem Können
reihen sich weitere Gegensätze. Wie in Prus’ Helden Wokulski (aus
der „Puppe“) verschmolzen in ihm zwei Menschen, der Romantiker
von vor 1860 und der Positivist der Siebzigerjahre. Der eine horchte
sorgfältig auf seine, auf die allgemeine Vernunft, der andere lauschie
ängstlich seinen Träumen.
Es ist bei Prus das Kindliche dem Kindischen nahe, vom Er-
habenen zum Belachbaren (ich will nicht sagen zum Lächerlichen) nur
ein Schritt; wirkt die Gelehrsamkeit oft als papierener Kram, die
Originalität als Schrulle, die Bedachtsamkeit als Pedanterie. Und
unvermittelt sind Bücher, Ideen da nebeneinander, die der Weihe-
stunde gereiften, inspirierten Schaffens den Ursprung danken, bei
anderen die in ihrer naiven Unbeholfenheit den Spott des gesunden
Hausverstandes entfesseln. Wir werden das noch genauer bestätigt
finden, wenn wir uns in die Weltanschauung, in die Probleme des
Dichters versenken. Doch bereits im Technischen enthüllt sich uns
das Ungleichmäßige der Leistung. Sie war am vollkommensten, wo
der Reporter und wo der Lyriker zu Wort gelangten. Der Staats-
mann hatte sich auf den Posten eines Journalisten zurückziehen
müssen und aus seinem aufgezwungenen Beruf die Vertrautheit mit
tausend „fait divers“ gewonnen. Der Poet verstummte nie, auch
dann nicht, wo die nüchternsten Dinge vorgetragen wurden. Drama-
tische Kraft und die Geschicklichkeit des Erzählers hat Prus sich erst
mühsam erworben. In seinen vor dem „Pharao“ erschienenen Wer-
ken ist die Komposition stets anfechibar, wenn auch der Fortschritt
in den neunziger Jahren offenbar wurde. Tagebücher, kapitelweise
Einschübe überflüssiger Episoden, belehrende Gespräche unter-
brechen die Handlung. Die Langwierigkeit der Fabel stört, ermiidet,
und es ist iroßdem zumeist die Geschichte auch mit dem Schluß noch
nicht zu Ende. Nach der letzten Seite der „Puppe“ und der „Eman-
zipierten“ haben wir das Gefühl, die eigentliche Erzählung, der inter-
essantere Teil des Romans, müsse nun erst beginnen.
Die Ursache dafür ist nicht weit zu suchen. Sie lag in der Ar-
beitsweise des Autors, der unter äußerem Muß für Zeitungen in
Fortsetzungen schrieb, lange zur feilenden Sorgfalt keine Frist hatte.
Wir erblicken die engste Verwandischaft zum französischen Roman-
Feuilleton, die sich noch vielfach, z. B. in der geschraubten Aus-
drucksweise der „feinen“ Leute, in dem Auftreten von gelegen
herabschwebenden dii ex machina äußert. Dann in den Beschreibun-
617
gen, die mit den primitivsten Mitteln arbeiten, und obendrein den
Stempel des Unerlebten eingeprägt haben. Als Landschaftsschilderer
ist Prus ganz unzulänglich, banal, konventionell. Nur scheinbar
malerisch, offenbar unplastisch und stets papieren. Besser steht es
mit der Charakteristik der Personen, am besten um die Wiedergabe
von bewegten Szenen. Da kommt der Reporter zum siegreichen
Durchbruch, und es ergibt sich ein an den Film anklingendes lücken-
loses, rasches Nacheinander von Momentaufnahmen, die den Ein-
druck des wirklichen Lebens erzeugen. Szenen wie die Versteige-
rung, der Auszug der Studenten, der Prozeß um die Puppe in der
„Puppe“, der Tod Frau Latters, das Konzert in den „Emanzipierten“,
die Erschießung des jungen Terroristen in den „Kindern“ prägen sich
unauslöschlich dem Gedächtnis ein.
Die hier geruhmien Beispiele stammen aus den großen Romanen
von Prus, in denen entschieden die Vorzüge weitaus die Schatten-
seiten überwiegen. In diesen späteren Werken ist ferner die
Komposition besser geraten. Zwar bleiben noch die Tagebücher
Rzeckis, die philosophischen Diskurse Professor Debickis als schwer
abzuwälzende Sieine des Anstoßes in der „Puppe“ und in den
„Emanzipierten“, indes dafür bereiten uns die glanzvolle Exposition,
die nie erlahmende Spannung ein fasi physisches Wohlbehagen oder
das Lusigefiihl, das eine gut aufgehende Gleichung bei mathematisch
Empfindsamen auslöst. Mit kräftigen Strichen wird die Situation
eingangs skizziert (der Anfang der „Emanzipierten‘ erinnert in seiner
prachtvollen Sachlichkeit an den berühmten Beginn der „Anna Ka-
renina“). Es folgt das Bild des Helden, meist inmitten seiner, ihn
uns erklärenden Umgebung, hernach, ebenso gezeichnet, das des
Gegenspielers. Und nun setzt die Aktion ein, der nur die beklagens-
werten Einschübe Hindernisse bereiten und die gespreizten Dialoge
gelegentlich das Interesse mindern. Den „Faraon“ habe ich bei
dieser Kritik geflissentlich außer Betracht gelassen, denn er überragt
die anderen Bücher von Prus so hoch wie das Genie das Talent, wie
die Erfüllung die Verheißung.
Auch was ich jekt über die Charaktere bei Prus sagen will, gilt,
ob auch Paradigmen aus dem „Faraon“ herangezogen werden, im
allgemeinen nur für diesem vorangehende Werke. Die Gestalten der
„Puppe“ und der ,,Emanzipierten“,in noch höherem Grade die der frühe-
ren Erzählungen, sind von einer Unkompliziertheit, die ihresgleichen
sucht und die man im Roman-Feuilleton wiederfindet. Schon zur
Schilderung des Außeren verwendet der Autor die einfachsten Mittel:
summarische Angabe der Korperdimensionen, Beschreibung der (in
ehrbarer Gesellschaft aufzählbaren) Körperteile, besondere Kenn-
zeichen, zu denen, um mehr als die im Paß enthaltene polizeiliche
Akribie zu erzielen, der Hinweis auf die Ticks der verschiedenen
Helden tritt. Der beklagt das arme Vaterland, das ihm bei Tag’
und Nacht viel Müh’ und Plag’ macht, weshalb er zu den Maximi der
Nation geht (mit denen er sehr intim ist), um bei ihnen Trost zu
suchen. Jener klappert mit den Fingern auf seinem Rock. Ein hauch-
518
zartes Mädchen flüstert in regelmäßigen Abständen und bei regel-
mäßig wiederkehrenden Enttäuschungen. daß sie sterben wolle und
so dumm sei.
Figuren spazieren mit sogenannten redenden Namen als Aus-
hängeschilder herum. Ein Raufbold heißt Herr von Säbeln (Palasz-
kiewicz), eine Emanzipierte Pantoflewicz, ein Bierbrauer Korkowicz
(übersekung ist bei diesen beiden kaum nötig). Die Personen sind
eben zumeist Schauspieler aus der Commedia dell’ arte, und nicht
aus einer Balzacschen Comédie humaine; allein es sind vollendete
Kreationen aus dieser etwas konventionellen Welt, in der eine jede
Gestalt ihre Etikette hat. So wie die schöne Izabela ın der „Puppe“
für ihre Bekannten stets die Inschrift fertig hatte, der sich dann das
Urteil anpaßte, so geht es ihrem Schöpfer. Wir können etwa drei
Dutzend Charaktere unterscheiden, die in den Erzählungen wieder-
kehren, Manner und Frauen, Kinder und...Tiere. Da ist der Idealist,
der im Kampfe für den Fortschritt und die Idee gegen die Reaktion
und die Materie untergeht, halb Volksfeind, halb Josef ll., also des
Volkes Freund und einer, der seine Pflicht als Mensch und Monarch,
beziehungsweise Großindustrieller, Großkaufmann getan zu haben
glaubt, wenn er, da er die Gerechtigkeit geliebt und das Unrecht
gehat hat, in der Verbannung aus dem Reiche der individuellen
Glückseligkeit stirbt: Wokulski, später Ramses XIII. im „Faraon“.
Eine zweite Spielart des Reformators, die gesündere Nerven hat und
der Regel nach hohe Geburt mit ebensolcher Intelligenz und daher
ditto Einnahmen vereinigt: Solski in den „Emanzipierten“, Ochocki in
der „Puppe“, schon früher Grodzki im „Verfluchten Glück“ und
Sielski in den „Seelen in der Gefangenschaft“. Ein dritter Typus,
mehr Theorie, professoral, Erfinder, Genie, bedürfnislos, Vorläufer,
dem zu Lebzeiten niemand und hernach alle nachlaufen, so etwa
Gregor Mendel und Schneider von Ulm, Diogenes und Professor
Mirakel: der Geist, der stets bejaht — und seinen Namen mit sehr
primitiver Symbolik spazieren führt — in der „Puppe“, der greise
Menes im „Faraon“ und auch Professor Debicki in den „Emanzipier-
ten“. Der steht freilich mit einem Fuß bei den Raisonneuren, die in
jedem der repräsentativen Romane von Bolestaw Prus die Handlung
mit ihren Kommentaren zu einem sehr bürgerlichen Gesetzbuch des
Weltgeschehens begleiten, sich von den geistigen Genies durch geist-
reichen Zynismus unterscheiden, doch im übrigen ganz wackere Zeit-
genossen sind: Dr. Szuman in der „Puppe“, Zdzistaw Brzeski in den
„Emanzipierten“, Dr. Debowski in den „Kindern“, ein wenig auch der
weise Herhor im „Faraon“.
Es gibt ferner: tüchtige Söhne des Volkes, die sich aus der Nacht
zum wärmenden Licht emporarbeiten: Lachowicz, der Maler in den
„Seelen in der Gefangenschaft“, Kotowski in den „Emanzipierten“,
Wiadek Linowski in den „Kindern“, sicherlich die Studenten aus der
„Puppe“ und als sublimierte Form dieses Typus der Priester Pentuer;
Emporkömmlinge zweiter, moralisch minderer Kategorie: die Fabri-
kanten Adler (Die zurückkehrende Flut), Korkowicz (Die Emanzipier-
519
ten), Suzin (Die Puppe), und zuriickiransportiert ins Altertum der
Phonizier Dagon, von dem wieder der Weg zu den köstlichen juden-
typen der beiden Szlangbaum (in der „Puppe“), zum Pfeferman in
den „Kindern“ führt. Von da aber weiter zu den Originalen: den
Betriigern und irrenden Industrierittern, den Jumart und Maruszewicz
in der „Puppe“, den bösen Wirten, Advokaten und Kaufleuten, den
alien, erbärmlichen, erbarmungswürdigen Trunkenbolden der „Seelen
in der Gefangenschaft“ und der „Sünden der Kindheit“.
Eine Galerie von leichisinnigen Liebhabern und falschen Helden-
tenoren folgt: verführerische Jugend noch unbefangen genießend, wie
die Starski (Die Puppe) und Morski (Die Emanzipierten) zusami dem
antiken Incroyable Tutmosis; nach durchstürmiem Frühling im noch
immer recht windigen Sommer ihres schrankenlosen Vergnügens (Jan
in „Anielka“) oder im Winter ihres Mißvergnügens (Lecki in der
»Puppe"). Diese Portraits werden zum Portraii-charge: des alten
Steigers (Krukowski, Dalski in den ,,Emanzipierten“ bzw. in der
»Puppe“) und jenes Ober-Steigers Krzeszowski (Die Puppe); der den
Mädchenherzen gefährlichen Bohémiens Rossi (Die Puppe), Sataniello
(Die Emanzipierten) und Lykon (Faraon). Mit besonderer Liebe ver-
weilt dagegen Prus bei den tugendhaften Gegenstücken dieser
schwarzen Schafe und Hammel: den braven Männern aus dem Volk
(der Bauer Karbowy in „Anielka“, die Wysocki in der „Puppe“, Slimak
in der „Schildwache“, der unglückliche Horige im „Faraon“], bei der
kernigen alten Szlachta: Rzecki, Wokulski père in der „Puppe“, der
Major Mielnicki in den „Emanzipierten“, der Förster Linowski in den
„Kindern“, dieser aller Widerspiel in Agypten, Nitager.
Hier ist der Autor mit seinem ganzen Herzen und mit seinem
ganzen künstlerischen Vermögen. Und noch bei den zarten Mädchen-
gestalten, Kindern, die — kein Engel ist so rein — deiner Huld,
o Leser, nachdrücklich empfohlen sind. Eine liebliche, liebenswürdige
Galerie von Seraphim und Cherubim, bedeutet, physisch so appetit-
lich, wie den Mephistopheles die himmlischen Heerscharen, in den
Erzählungen von Prus die auf ihrem Gewissen als sanftem Ruhe-
kissen ruhenden Polinnen in der Erscheinungen Flucht. Anielka, mit
den sprechenden Kinderaugen und dem sprechenden Namen, Helena
Wilska im „Verfluchten Glück“, Frau Stawska in der „Puppe“, Madzia
in den „Emanzipierten", Sara im „Faraon“, Jadwiga in den „Kindern“
sind, wie Nestroys Judith, Töchter (oder Frauen) aus einem sehr guten
polnischen (oder israelitischen) Haus und kennen sich vor Unschuld
gar nicht mehr aus. Die unnaturliche und übernatürliche Güte dieser
unwahrscheinlich holdseligen Gestalten wird uns indes von Prus so
glaubhaft gemacht, es umgibt sie so viel zarte Poesie, daß, was
sonst als künstlerisches Manko in einem programmäßig realistischen
Werk zu rügen wäre, hier zum Ruhmestitel wird. Zauberhaft durch-
schweben die anmutigen Wesen eine düstere, graue seelische Land-
schaft, da sie doch in einen lachenden Hain Botticellis oder der
britischen Präraffaeliten gehörten. Auf sie konzentriert sich unsere
Sympathie, und wir haben nichts mehr fur die Koketten übrig, denen
520
sonst, im Buch und in der Wirklichkeit, der Erfolg vor den zuchfigen
Jungfrauen in den gut verwerteten Schoß fällt. Die Isabella Lecka,
heiter-traurige Titelfigur der „Puppe“, die Helena Norska aus den
„Emanzipierten“, nebst ihren blasseren Repliken, Eveline und
Eufemja, zusamt ihren antiken Gegenstücken, Kama und Hebron,
könnten uns, würde nur ihre Tragik erfaßt und teilnehmend geschil-
dert, auch menschlich nahekommen. Boleslaw Prus, der Muster-
schüler und Musterlehrer, steht diesen welischulordnungwidrigen Zog-
lingen einer literarischen Besserungsanstalt mit verständnisloser Ab-
neigung gegenüber. Wir werden gleich sehen, warum. Höchstens
wenn eine die Kokette mimt, aber eigentlich gar nicht so ist, wird ihr
Absolution erteilt und vom Leser erwirkt, wie für Frau Wasowska
aus der „Puppe“, die in „Anielka“ jüdin ist und Weiß genannt wird,
schon vordem in den „Seelen in Gefangenschaft“ als Leontine ums
Morgenrot aus schweren wollüsfigen Träumen fuhr. Oder dann, wenn
die böse Lust durch ein klägliches Ende gebüßt ward, wie bei Frau
Mincel, requiescat in pace. Endlich, Konzession an die Zeit, der
Dirne, Komodiantin, Idiotin (in der „Puppe“, den ,,Emanzipierten“, der
„Schildwache“], die Opfer sozialer Ungerechtigkeit sind. Auf der
schwarzen Liste stehen weiter die heimlich mannstollen Emanzipier-
ten, wie die Howard, die Walentyna, die Meliton, drei photographisch
getreue Bildnisse des einen Typus der Gouvernante à la recherche
du spasme perdu; die böse Sieben — Herod-baba heißt man der-
gleichen süße Weiblichkeit in Polen — unübertrefflich verkörpert in
den beiden Damen Krukowska (Die Emanzipierten) und Krzeszowska
(Die Puppe). Dafür als Ideale, nach den schon gepriesenen Engels-
mädchen: die „Mafka- Polka“, eine sarmatische Abart von sparta-
nischer Mutier und mére de famille, tadelfrei als Frau Linowska in
den „Kindern“, etwas verblendet als die Mutter der Stawska in der
„Puppe“, maniakisch mütterlich und sonst beinahe von moral insanity
behaftet, Frau Latter in den „Emanzipierten“, in agyptischer Verklei-
dung die Konigin Nikotris. Dann begegnen uns, wiederum Kabinett-
stücke feiner Portratkunst, die prächtigen alten Damen, die Frau
Prasidentin Zastawska, die Tante der Solski und die Großmutier
Mincel (Die Puppe). Schließlich die Bäuerinnen, zäh, einfaltig,
wacker, in ihrer Beschränktheit wenigstens des Hauses Meister und
zu Hausmeisterinnen in den Chäteaux d’Espagne bestimmt, die Prus
in der polnischen Zukunft erbauen möchte: die Slimak als Grund-
typus, die Karbowa (Anielka) als Variation.
Reizend, aus innigster Seelenverwandtschaft heraus begriffen,
die Kinder. Derbe Bauernburschen, wie die Sohne der Slimak, ver-
zogene Herrchen, die einmal zu Norskis und Starskis werden, die
Jözio (Anielka), Stiefkinder des Schicksals, wie Jasia (Waisenlos) und
der wunderholde Naturknabe Psujak im Faraon. Am Ende der Skala
aber, die vom geistesmächtigen Entdecker zum primitiven Instinkt-
wesen hinabgleitet, unter den Kindern und Bauern, die Tiere, der
Menschen geringere, gequaltere Brüder und Opfer, Karusek und
Cäsar, die unter einem üblen Stern geborenen Hunde.
521
Wenn wir die vortreffliche Leistung des Porträtisten bestaunen,
der so viel von einander verschiedene Typen, zwar nicht geschaffen,
doch scharf gezeichnet hat, so müssen wir am Schluß die Einschrän-
kung wiederholen, die stets von konventionellen, stilisierten Figuren
gilt: es bleibt beim äußerlichen Umriß, beim — naturgetreuen —
Kolorit, beim Versuch, innerseelisches Geschehen durch geschilderte
Gebärden, Äußerungen, allenfalls noch auf dem undankbaren Weg
des Tagebuches und des Selbsigesprächs zu erfassen. „Eher ver-
mag der Mensch zu erblicken, was sich in einem Felsen birgt, als
daß er fremde Herzen erforschte“, heißt es im „Faraon“, und Bolestaw
Prus hat aus diesem resignierten „Ignorabimus“ die Folgerungen
gezogen. Was sich tief auf dem Grund des Halbbewußten, Unter-
bewuBten, Unbewußten birgt, blieb ihm völlig verschleiert. Sein
kindliches, ahnungsloses Gemüt sah nicht in diese Abgründe. Und
jest kommt das Geniale dieser geraden, bescheidenen Künstlernatur.
Bei näherer Betrachtung entdecken wir in des Dichters Werken dort,
wo er gar nicht meinte, diese scheinbar unergründlichen Geheimnisse
der Psyche zu entratseln, daß sein Unterbewußtsein um das alles
wußte. Da öffnet sich unter der schüßenden Hülle der Kon-
vention, die er freiwillig nie verletzte, ein Pandamonium von Leiden-
schaften, Trieben, Tücken, vor denen er zurückgeschaudert hatte;
treten hinter der bürgerlichen und romantischen Tragik seiner er-
guickend anstandigen Biicher Probleme hervor, von denen man nicht
spricht, zu seiner Zeit nicht sprechen durfte.
Prus hat den Hauch des Eros kaum verspürt. Seine Liebes-
episoden — ich denke nur an die, welche sich in den Werken finden —
haben entweder etwas von der wohlerzogenen Unsinnlichkeit der
Marlitt, der englischen Gesellschaftsromane und, wo es lustig zu-
ging, der „Fliegenden Blätter“ an sich, oder es geht um zurück-
haltend gestreifte, grob-physische und sehr normgemäße Bedurf-
nisse. Wo sich ein wenig perverse Parfüme in den Lavendel- oder
Stallduft mengen, merkt man sofort, daß ihr Geruch und Gebrauch
dem Autor ungewohnt ist und nur der Mode zu Gefallen geschah.
Diese anerotische und regelgemäße Veranlagung ist die Ursache,
daß Prus so wenig Mitgefühl mit seinen „bösen“ Gestalten hatte und
so wenig in die Urgründe hineinleuchtete, warum denn eine Isabella
Lecka guisituierte Großkaufleute auf dem Wege zur zweiten Million
straucheln ließ; warum ein Starski sich mit der häßlichen reichen
Erbin und nicht mit dem finanziell minderwertigen Engel verehelichte.
So müssen wir denn selbst erst konstatieren, daß in den „Eman-
zipierten“ die Hollenqualen des unbefriedigten Weibes das Haupt-
motiv bilden. Daß die „Puppe“ nicht etwa oder bloß den Konflikt der
gutsherrlichen und kaufherrlichen Sphären, die üblen Folgen einer
leeren Salonerziehung oder was sonst für eine moralische Lektion
darstellt, sondern mit erschütternder Tragik, die wie stets das
sexuelle Trauerspiel die Grotesk-Komödie streift, das Ringen eines
alternden Mannes, der seine Geschlechtskräfte vergeudet oder unter-
jocht hatte, um den seligen Rausch, die Torschlußpanik eines, der am
522
Gastmahl des Lebens nicht die rechten Speisen genießen durfte und
nun fürchtet, von dannen zu müssen, ehe er sich ergößen durfte.
Des Pharaonen Ramses Gluck und Ende dagegen, diese Erzählung
ist ihrem Problem nach, iroßk enigegengesesten Anscheines ganz
unsexuell, zeigt uns unter dem Deckmantel der vom Autor beabsich-
tigten Historie vom Widerstreit des geistlichen und des weltlichen
Schwertes, mit kaum faßbarer furchtbarer Lebenswahrheit ein wirk-
liches Kapitel aus der Weltgeschichte in ganz anderen Zeiten und
Breiten.
Diese verdeckten, unbewußten Molive machen in weit höherem
Grad den Wert seiner Leistung aus als die ins Auge springenden
didaktischen. Bolestaw Prus war kaum dessen gewahr, was er an
künstlerischer Größe in sich trug. Er wollte nur der Denker und
Lehrer sein. Die beabsichtigten Motive seiner Erzählung
streben ausnahmslos danach ridendo dicere verum, lächelnd heilsame
Wahrheit zu predigen und verderbliche Lüge zu züchtigen; der Ge-
rechtigkeit und Gute die Bahn zu ebnen, der rohen Gewalt und der
Arglist ein abschreckendes Spiegelbild vorzuhalten. Prus hat sich
ein philosophisches System zurechigelegt, und er schrieb zu diesem
Evangelium exemplifizierende Bucher der Chronik. Da kämpfen Un-
glaube und Skepsis, Eigensucht und Gemeinempfinden, Geld und
Liebe, Kapital und Arbeit, Urteil und Vorurteil, Herz und Hirn mit-
einander. Dem unverbesserlichen Optimisten und Romantiker Glo-
wacki haben wir den stets errungenen Sieg zuzuschreiben, den die
geistigen Kräfte sub specie aeternitatis erringen; der nüchterne
Realist und Beobachter Prus laßt dafür hienieden das lebenstüch-
tigere Bose, die Materie triumphieren, so daß man unter diesem Ge-
sichtspunkt unseren Autor einen Pessimisien schelten konnte. Kon-
sequenzen dieser Zweiheit: daß die Echtheit, die objektive Wahrheit
des Berichteten von keiner falschen Illusion zerstört, daß anderseits
dem idealen Glauben sein Recht gewahrt ist. Denn es tragen die
erliegenden Streiter für das Gute, Große, Zukünftige das Bewußt-
sein hinüber: Non omnis moriar: es kann die Spur von meinen Erden-
tagen nicht völlig untergehen.
Wie der Künstler, so strebte auch der Denker Prus nach har-
monischer Vereinigung von unerbittlicher Tatsache und befreiender
Dichtung, von Geist und Materie, sittlicher Forderung und praktischer
Möglichkeit. Er strebt, damit zu tiefst als Optimist erwiesen, nach
dem Kompromiß zwischen den in uns, um uns einander widerstreben-
den Urkräften. Ein wenig, wie es im polnischen Sprichwort heißt,
so, daß der Wolf satt und die Ziege unversehrt sein möge. Das
Grundproblem unseres Seins: der Logik, Ethik, Psychologie und
Metaphysik, reduziert sich darauf, dem Willen, dem Gefuhl und der
Vernunft ihre Befriedigung zu schaffen, die im Erreichen der Voll-
kommenheit, des Glücks, des Nußens besteht. Einen, den besten er-
reichbaren Grad von Vollkommenheit, Gluck, Nußlichkeit zu erringen,
obliegt jeder, ersirebt jede Kreatur; soll die Gemeinschaft ihren Mit-
gliedern, müssen die Mitglieder ihre Gemeinschaft sichern. Das Leben
34 NF 5 525
wird, für den frommen Mathematiker Prus, zu einer Gleichung mit
drei Unbekannten, wo für x, y und z jeder beliebige positive Wert
eingesetzt werden kann. Spinnen wir den mathematischen Vergleich
fort: x, der Willen, y, das Gefühl, z, die Vernunft, sind Produkte aus
O und œ, aus dem nichtigen irdischen und aus dem unendlichen
ewigen Faktor. Und man erinnert sich, daß bei diesem Produkt das
Resultat völlig unbestimmt ist.
Prus zieht also noch eine weitere Größe in den Bereich seines
Problems: die positive Religion, beileibe nicht die Religion des Po-
sitivismus. Sie offenbart uns, welche der zahllosen Lösungen die
einzige für uns anwendbare ist, wobei der tolerante Rechenmeister
noch immer insgesamt die verschiedensten Möglichkeiten zuläßt; im
Hause unseres Vaters sind viele Wohnungen. Sehe jeder, wohin es
ihn treibe, wenn es nur in eine Zelle des Göttlichen Weligebaudes
hintreibt. „Die Religion ist eine große und wohlfäfige Macht. Sie
zeigt den Menschen überirdische Richtungen, die verfolgend, man
dennoch irdisches Glück und den Frieden finden kann.“ Nur so er-
tragt man den Schauder, der uns sonst vor dem Nichts ergreifen
würde, das, bei gröblichstem Materialismus, überall hinter dem ver-
gänglichen Augenblick uns entgegendroht. „Wo ist die Seele?“ laßt
Prus einen Vertreter des philosophischen Nihilismus im deutlichen
Anklang an einen Ausspruch Virchows fragen. „Die Gelehrten ent-
deckten im Hirn nur Fett, Blut, Phosphor, Millionen Zellen, Faserchen,
aber keine Seele.“ Und die Antwort des Autors an seine Kreatur:
„Welch ein ungeheuerlicher Gedanke, eine Weile zu existieren, um
hernach ein Nichts zu werden!“ „Alles ist eitel und Staub, ärger
noch, Täuschung... Eines nur ist groß und wahr, der Tod“, heißt es
im „Faraon“, und die zweite Entgegnung lautet: „Sehet, wie klaglich
sind der Menschen Hoffnungen vor der Weltordnung, vor den Urteils-
sprüchen, die mit Flammenschrift der Ewige aufgezeichnet hat.“
Die Überwindung eines törichten, schädlichen, primitiven Ma-
terialismus durch die Gewißheit einer höheren Sende ist die Vor-
aussetzung dafür, daß die sonst unentwirrbaren Konflikte der inter-
essen geschlichtet werden, ohne daß einer Partei eine Unbill wider-
führe. Der Sozialismus von Bolestaw Prus, sein warmes Fühlen mit
den Enterbten, wurzelt nicht etwa in der marxistischen, positivistischen
Theorie des Klassenkampfes, sondern in Überzeugungen, die an
Albert de Mun, Péguy, Marc Sangnier in Frankreich, an Vogelsang,
Ketteler in Deutschland gemahnen. Nach den Grundsätzen eines
christlichen Solidarismus will er das Zusammenwirken der Bevol-
kerungsschichten und der einzelnen, nach denen der christlichen
Moral das Tun und Handeln geregelt wissen.
Manche stark betonte Außerlichkeiten täuschen indes uber die
seiner Epoche so fremden Hauptideen des polnischen Positivisten
hinweg. Prus nahm von den damals im Westen herrschenden Lehr-
meistern die Argumente für eine revolutionäre Umwälzung in der
Organisation der ihn umgebenden Gesellschaft. Daß er die in ihrer
sozialen Entwicklung schier beim Mittelalter stehengebliebene pol-
524
nische Nation anders, wirtschaftlich differenzierter, und den Methoden
des modernen Lebens gewachsen machen wollie, nahm man als an
sich revolutionäres Bestreben; die Betonung der Rolle des mobilen
und industriellen Kapitals für eine Bejahung des Materialismus, den
Protest gegen die Auswüchse des kapitalistischen Systems für ein
Bekenntnis zum orthodoxen Sozialismus, die Anleihen bei Comte,
Buckle, Spencer, Taine für Vasallenschaft gegenüber der positi-
vistischen Antikirche und vollends manche Außerungen wider die
Geistlichkeit für eine Absage an den Katholizismus.
In Wirklichkeit wiederholt Bolestaw Prus im 19. Jahrhundert nur,
was sich im 18. schon einmal vollzogen hatte, die Polonisierung einer
gänzlich anders gearteten, anderen Vorbedingungen entstromenden
Weltansicht. Sowie die Krasicki und Naruszewicz unter Stanisław
August Poniatowski scheinbar die Lehren von Voltaire und Rousseau
verkündet hatten und trojdem den jahrtausendalten Zusammenhang
der Begriffe Polentum und Katholizismus nicht zerrissen, so gab Prus
dem Positivismus der Atheisten, Skeptiker und Kirchenfeinde des
19. Jahrhunderts eine polnische, katholische Form.
Das sagt schon, wie wir über die Bedeutung des Denkers ur-
teilen. Der Autor des „Faraon“ gehört nicht in die erste Reihe der
selbständigen Schöpfer und Bahnbrecher. Doch gleich hernach, bei
den hervorragenden Gestaltern, die aus schon vorhandenem Material
ein Neues und Betrachtliches formten, müssen wir ihm den Plak ein-
räumen. Wenn wir jebt einige der Quellen aufsuchen, die seine
Ideen befruchtet, gespeist haben, so heißt das nicht, als wollten wir
mit der Originalität auch den Wert der Prus’schen Leistung leugnen.
Unser Dichter hat zeit seines bienenfleißigen Lebens rastlos an seiner
Kenntnis und Erkenntnis gearbeitet. Seine literarische Kultur war
ungewöhnlich groß und vielseitig. Kaum einer der genialen Weg-
weiser oder der dominierenden Zeitgenossen, dem er nicht irgendwie
verpflichtet ware. Cervantes und Moliére, Voltaire und Rousseau,
Victor Hugo, Balzac und Flaubert, Zola und Alphonse Daudet, Sue
und Olmet, Comte und Taine; Zschokke, Gustav Freytag, Spielhagen
und Ebers; Spencer und Buckle, Thackeray und Dickens, Bulwer und
Edgar Poe; Gogol, Dostoevskij und Tolstoj konnen wir als Vorbilder,
Anreger bald hier, bald dort feststellen.
Der grundsätzliche Optimismus, der Glauben an die Güte im
Menschen rührt von Rousseau her, gelegentliche Ausfälle gegen den
Priestertrug hat Voltaire auf dem Kerbholz. Taine lieferte die Milieu-
theorie, einen der Grundpfeiler von Prus’ Weltanschauung (,,Starski,
Isabella, Eveline sind nicht vom Mond gefallen, sondern in einer
bestimmten Sphäre, Epoche, unter bestimmten Ansichten erzogen
worden“). Der Kult des Nüßlichen als Triebfeder unseres Verstandes
stammt von Buckle, Spencer und älteren englischen Ufilitarisfen.
(Zu den Angelsachsen, mit ihrer diesseitsbewußten Religiösität zieht
es Bolestaw Prus immer wieder; nicht infolge einer gar nicht vor-
handenen Seelenverwandischaft, sondern à rebours seiner Wesen-
heit, weil er gerne so sein möchte wie jene). Die übrigen von mir
525
erwähnten Schriftsteller, Große, minder Große und ganz Kleine,
haben Szenerien, Szenen, Charaktere, technisches Rüstzeug bei-
gesteuert. Man kommt bei Prus haufig zu unerwarteten Ergebnissen.
Wer würde z. B. im Ehepaar Korkowicz in den „Emanzipierten‘ eine
Umkehrung des Bourgeois gentilhomme und seiner handfest-klugen
Gattin vermuten? Und doch ist der Zusammenhang so gewiß wie
der zwischen Wokulski in der „Puppe“ und George Dandin. Die
„Misérables“ Victor Hugos erscheinen auf Schritt und Tritt, auf die
Anklänge an „Notre Dame“ wird noch später, beim „Faraon“ hin-
zudeuten sein. Dort begegnen wir auch den Reminiszenzen an Bul-
wers „Letzte Tage von Pompei“, an Flauberts „Salammbö“, während
diese vier, Balzac, Zola, Dickens und... Sue im gesamten Werk des
polnischen Dichters gegenwärtig sind. Von Balzac die dämonische
Rolle des Geldes, an dem alles hängt, von dem alles abhängt. Von
Balzac die ins Weibliche und Polnische transponierte „Mama Goriot‘“,
Frau Latter in den „Emanzipierten“, die Reihe der polnischen Ra-
stignac und auch M. Arnold, ein Warschauer Colonel Chaberl, von
Balzac der Professor Geist, auch ein „Rechercheur de l'Absolu“. Von
ihm und von... Ohne der arme, reiche Wokulski, der so gerne eine
Hütte besigen möchte, um sein spätes bürgerliches Gluck mit der
begehrten arıstokratischen Puppe zu genießen. Dickens: die gut-
mütige Realistik der Prus’schen Zeitromane, die Wunderlichkeiten
braver Fossilien, die in schlechte neue aus der guien alten Zeit
hineinragen. Zola: die naturalia, wo sie turpia sind.
Die „Schildwache“ hat mit der „Terre“, „Seelen in Gefangen-
schaft“ haben mit „L’CEuvre“ das Thema und mehr als das gemein-
sam. In der „Puppe“ und in den „Emanzipierten“ vernehmen wir
das Echo von einem Dukend Zolascher Romane, so hauptsächlich von
„Une Page d’Amour“, „Au Bonheur des Dames“. Alphonse Daudets
„Jack“ ist noch in der polnischen Verkleidung als Vorbild der erbar-
menswerten kleinen Kreaturen erkennbar, durch deren Schicksal uns
Prus so oft rührt. Die philosophischen Dialoge in den „Emanzipier-
ten“ verleugnen nicht, daß ihnen die des Pfarrers Bournisien und des
Apothekers Homais in „Madame Bovary“ vorangegangen waren.
Eugene Sue aber war das verkörperte Roman-Feuilleton und darum
überall Helfer in der Not, wo Prus einmal die eigene und die fremde
Erfindung ausging. (Es im einzelnen und dubendfach nachzuweisen,
sollte Aufgabe einer gelehrten und kann nicht die unserer flüchtigen
Untersuchung sein.)
Von den Deutschen Gustav Freytag und Spielhagen entichnte
der Pole zweifelsohne den Rahmen zu seiner Kaufmannserzählung
„Die Puppe“. Das Personal im Warenhaus Wokulskis ist eine Kopie
nach einem Original, das „Soll und Haben“ heißt. Und dazu stehen
die meisten Figuren „In Reih’ und Glied“. Georg Ebers war, neben
Flaubert und Bulwer, der Anlaß, freilich nicht das Vorbild, für den
„Faraon“. Den guten alten Zschokke habe ich nur hergesetzt, um an
einem sonst nicht beachteten Exempel zu zeigen, wie weite Umschau
Prus bei seiner Stoffwahl hielt. In der Erzählung „Seelen in Ge-
526
fangenschaft“ spielt die schelmische Leontine auf einem Ballfest die
Rolle, welche beim „Abenteuer einer Neujahrsnacht“ dem geist-
reichen, spöttischen Prinzen zukam.
Der russische Einfluß war stark. Merkwürdigerweise nicht so
sehr in der Ideenwelt als auf die Motive und auf die Komposition.
Wir haben schon erwähnt, wie z. B. der Anfang der „Emanzipierfen“
an „Anna Karenina“ erinnert. Deren Spuren verrät in der „Puppe“
die Szene, in der Wokulski den Tod auf den Schienen sucht, während
wiederum die Gestali des ihm Lebensmut predigenden Weichen-
stellers die eines richtigen „Bo2ij Celovék“ Dostoevskijs und Tolstojs
ist. (Der Lakai im „Tod des Ivan ll'i&“ !) Rzeckis Tagebuch mutet
fast wie eine Fortsetzung des von Gogol verfaßten, jenes merkwürdi-
gen Titularrates an, der sich so lange mit der hohen Politik beschäf-
tigt, bis er von einer Deputation der spanischen Granden ins Irren-
haus gebeten wird. Die „Briider Karamazov“ haben die ersten Seiten
von „Sünden der Kindheit“ angeregt.
Die Analogien ließen sich verhundertfachen. Freilich gebietet
dem leidenschaftlichen Einfluß-Forscher der Umstand Vorsicht, daß
manchmal der Zufall seltsames Spiel treibt und Gemeinsamkeiten
hervorruft, die durch keinerlei Abhängigkeit zu erklären sind. Ver-
gleicht man so die Worte, mit denen Prus den Tod Rzeckis berichtet,
mit der wundervollen Erzählung vom Tod Bergottes bei Marcel Proust,
so staunt man über das Spiel des Zufalls, der obendrein noch die
Namen des Polen und des Franzosen einander zum Verwechseln
ähneln ließ.
Auf festem Boden stehen wir dagegen, wo wir Prus in seiner
Abhängigkeit von älteren polnischen Autoren untersuchen. Dreien
ist er zunachst verpflichtet: Ignacy Krasicki, dem polnischen Voltaire,
Józef Korzeniowski und J. I. Kraszewski, die vor den Positivisten die
besten polnischen Erzahler waren. Krasicki, der Fiirstbischof von
Ermland und Günstling Friedrichs des Großen, der Zögling der fran-
zosischen Enzyklopadie und polnische Patriot, hat den Typus des
Romans in staatsbürgerlicher Absicht für seine Heimat geschaffen.
Der „Herr Untertruchse§“ und „Herr Doświadczyński“ waren zugleich
vorzügliche Sittengemälde und politische Predigt mit stark national-
okonomischem Einschlag. Von Krasicki geht eine gerade Linie zur
„Puppe“ und zu den „Emanzipierten“. Die Übereinstimmung kommt
bei einzelnen Szenen besonders zum Bewußtsein, so, wenn der Gast
auf dem Gut der Präsidentin Zaslawska die Spuren der sorgsamen
Wirtschaft bewundert. Korzeniowski hat im „Spekulant“ und in
anderen Romanen ebenfalls Prus’sche Themen und Situationen vor-
weggenommen. Am augenfalligsten erscheint uns hingegen die
Identität der Stoffe, wenn wir Kraszewskis „Zwei Welten“ und „Mori-
turi“ der „Puppe“ gegeniberstellen. Zu den Sternen zweiter Größe
am polnischen Literaturhimmel bei Prus Analogien herauszubekom-
men, ist nicht schwer, doch hier kaum geboten. Wenn wir noch auf
die ideologische Abhängigkeit von Mickiewicz hinweisen (z. B. von
dessen herrlicher „Ode an die Jugend“ und ihren Preis des Gemein-
527
schaftssinnes, ihre Verdammung der Ichsucht), haben wir über Prus
Beziehungen zu seinen Vorfahren genug gemeldet. Es erübrigt uns
nur, zu berichten, wie nachhaltig sein Einfluß auf die Späteren war.
Sienkiewicz — dem der Zeitgenosse oft zu billiger Parallele gegen-
übergestellt wurde und von dem er wohl den Anstoß zur „Schild-
wache“ in der Novelle „Bartel, der Sieger“ empfing — hatte die
„Familie Polaniecki“ kaum geschrieben, ohne daß ihr die „Puppe“
vorhergegangen war. Reymont nahm zu seinen „Bauern“ von der
„Schildwache“ den Ausgang. Zeromskis gesamtes Schaffen ist wie
eine Fortsetzung des Werks von Bolesław Prus. Aus Madzia (zu der
Zeromskis erste Gattin Modell gestanden hatte) wird die Joasia der
„Heimatlosen Menschen“, Wokulski lebt in einem halben Dubend
Zeromskischer Gestalten. Den „Kindern“ reiht sich der „Kampf mit
dem Satan“ des jüngeren Dichters an. Der „Faraon“ schuf die Tra-
dition des polnischen, die heimatlichen Grenzen überschreitenden
Romans, den heute Berent glanzvoll repräsentiert.
An den Früchten kann man erkennen, daß die Saat von Bolesiaw
Prus eine gute und heilsame war. An der Lebendigkeit seines Werkes,
das, trob veränderter äußerer Verhältnisse, nichts von der ursprüng-
lichen Frische eingebüßt hat, dessen inneren Wert. Es gewährte ihm
Achtung und Liebe einiger kommender Generationen, wäre nicht ein
Buch, das ihm Unsterblichkeit verbürgt. Von dem, vom „Faraon“,
sei nunmehr einiges gesagt.
Der Dichter hat sich zu seiner Aufgabe durch gründliche Studien
vorbereitet. Um den Plan einer ägyptischen Erzählung zu verwirk-
lichen, irat Prus, trok seiner fast krankhaften Abneigung gegen Orts-
veränderung, eine lange währende Reise nach Mittel- und West-
europa an, wo er die Museen von Berlin, Dresden und Paris besuchte.
Zu Ende 1895 war er mit den Vorbereitungen fertig. Das Buch ist
im folgenden Jahre niedergeschrieben und alsbald veröffentlicht
worden.
Prus verfolgte die doppelte Absicht, ein historisches Fresken-
gemalde zu zeichnen, eine dahingeschwundene Kultur vor unseren
Augen wieder erstehen zu lassen und durch das den Leidenschaften
entrückte, zeitlich wie örtlich ferne Beispiel wie stets für seine Ideen
zu werben. Er wählte den Pharao Ramses Xill. zum Helden, der nur
wenige Monate regiert hatte, in der Weltgeschichte kaum eine Spur
hinterließ und nur durch die Kunst des Dichters zur großen Gestalt
erhoben wurde. Mit diesem Herrscher verknüpfte Prus eine Episode
ewiger Kämpfe: der zwischen Sacerdotium und Imperium, der zwischen
den Klassen, der des einzelnen gegen die Gesellschaft. Wir sollen
beides, uns an der Erzählung ergößen und aus ihr den auch unserer
Epoche unverlierbaren Nuken ziehen. Unter diesem doppelten Ge-
sichtspunkt wollen wir an die Lektüre des Buches herantreten. Die
Handlung ist folgende: Im 33. Jahre der Regierung seines schwachen,
kranken Vaters Ramses XII. soll der junge, feurige Thronerbe der
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Pharaonen seine Eignung zur Befehlsgewalt erproben. Herhor, der
Hohepriester und Kriegsminister, ein altägyptischer Richelieu, herrscht
unumschränkt über den Pharao und damit über das Land. Zwischen
dem Günstling und dem künftigen Regenten besteht offene Feind-
schaft. Herhor ist die inkarnierte Staatsraison, ein leidenschaftsloser
Hüter der Interessen des Reichs. Der Prinz gehorcht den Launen
seines übersprudelnden Temperaments, den Regungen seines warmen
Herzens. Er möchte das Los der gedrückten Bauern bessern, ohne
viel zu fragen, wie das Land den Umsturz vertriige. Er lechzt ander-
seits nach Kriegsruhm, ohne sich Rechenschaft abzulegen, mit wieviel
Elend und mit welcher Katastrophe sein Triumph erkauft werden
müßte. Höher als das Staatsinteresse ist ihm das der Menschen,
höher als das der Untertanen seine augenblickliche Lust. So ver-
nachlässigt er die militärischen Pflichten, um eine Liebesidylle mit der
schönen jüdin Sara zu genießen, der er während des Manövers be-
gegnet ist. Darob Entrüstung des priesterlichen Ministers, des Pha-
raos und Entiäuschung der Wünsche des Thronfolgers, der sich
wieder um seine Träume von der Macht betrogen sieht. Herhor ver-
sucht indessen, dem dereinstigen Herrscher Gelegenheit zu anderen
Lorbeeren zu verschaffen. Der Prinz wird nach Oberägypten zur
Inspektion der dortigen Provinzialverwaltung entsandt. Diese Reise
soll den verschiedensten Zwecken dienen: erproben, ob sich nicht
doch der künftige Pharao, wie sein Vater, der von Herhor geführten
Geistlichkeit unterordnen möchte; das Terrain für eine Haupt- und
Staatsaktion frei machen, die den etwaigen kriegerischen Absichten
der aufgehenden Sonne einen Riegel vorschöben; endlich die Liebes-
bande des ägyptischen Fürsten mit der Volksfremden zerreißen.
Die Absicht glückte beinahe, hätten nicht die Phönizier, in deren
Händen der ägyptische Handel lag und denen vor nichts so sehr
graute als vor der von den Priestern betriebenen friedlichen Ver-
standigung mit dem mächtigen Nachbarreich Assyrien (dessen Opfer
alsdann die phönizischen Städte würden); hätten nicht Dagon, der
Hofbankier, und Hiram, das Oberhaupt der fremden Kaufleute, durch
den Verrat eines ehrsüchtigen Priesters von den Verhandlungen mit
Assyrien Nachricht erhalten. Sie stachelten nun den Thronfolger, der
nahe daran war, sich der Geistlichkeit zu ergeben, zum Widerstand
gegen die seine Glorie gefährdenden Projekte. Indem sie an alle
Triebe des Königssohnes appellieren. An seine Ruhmbegierde, die
vom lahmenden, entehrenden Frieden gehemmt würde; an seine Liebe
zu Ägypten und zum Volk, denen die geplante Anlegung eines Kanals
zwischen Mittellandischem und Rotem Meere den Weg nach Indien
und damit unendlichen Reiditum bringen sollte; an seine ungezügelte
Sinnlichkeit, der in der Hierodulen Kama ein verlockendes Objekt
dargeboten wurde, das mit seinem perversen Reiz schnell die ein-
faltige Sara ausstach.
Herhor findet seine Hoffnung vereitelt und weiß den in die
Hauptstadt heimgekehrten Prinzen, um die Verträge mit dem assy-
rischen Gesandten Sargon unter Dach und Fach zu bringen, nochmals
529
zu entfernen. Diesmal an die Westgrenze, wo die aus Sparsamkeits-
rucksichten verabschiedeten lybischen Söldner plündern und sengen.
Der Thronfolger erficht einen glänzenden Sieg. Doch er bezahlt ihn
teuer: mit dem Tod seines von Sara geborenen Knäbleins, das Kama
aus Eifersucht und als unbewußtes Werkzeug der Priester, ermorden
ließ. Und ihm bleibt zum Schmerz keine Zeit. Den Sieger über die
gedemutigten Lybier ruft die Kunde vom nahen Tode seines Vaters
zurück. Als Pharao betritt er Memphis.
Es beginnt der kurze entscheidende Kampf um die wahre Mach!
zwischen Ramses XIII. und der um Herhor gescharten Priesterschafl.
Alle Schäße sind in deren Besi, doch die Staatskassen leer: ein
erstes und ernstes Hindernis gegen alle weitreichenden Pläne des
Pharao. Zum Kriegführen gehört Geld und ein starkes Heer. Die
bisherigen Inhaber der tatsächlichen Gewalt weigern sich, dem Herr-
scher diese Instrumente des gebietenden Waltens in die Hand zu
geben. Ramses unternimmt auf den Rat des Phöniziers Hiram einen
Handstreich wider das Zentrum der priesterlichen Macht, das Laby-
rinth. Dort liegen, seit vielen Jahrhunderten angesammelt, die un-
ermeßbaren Reichtumer der Geistlichkeit. Derselbe Verräter, dessen
Mitteilung den Vertrag mit Assyrien enthüllt hatte, bietet sich an,
den Weg zu den verborgenen Schätzen zu finden und zu zeigen. Es
gelingt ihm, einzudringen. Doch von den wachsamen Hiitern des
Labyrinths überrascht, entzieht er sich durch freiwilligen Tod der
grausamen Strafe. Nun will Ramses offenen Krieg gegen seine
Widersacher. Er haßt sie als die Mörder seines Kindes, seines
Ruhmes, seiner Macht und seiner Illusionen. Mit den treuen Truppen
gebietet er seinem Günstling Tutmosis das Heiligtum anzugreifen,
in dem Herhor seinen Sitz aufgeschlagen hat. Die Umsicht und die
höhere Einsicht der Erfahrenen siegen. Menes, ein greiser Denker,
hat in einer entlegenen Klause das Herannahen einer Sonnenfinster-
nis berechnet. Dem Pharao bot er Belehrung. Der schiebt den un-
nützen gelehrten Kram mit einer verächtlichen Handbewegung bei-
seite. Nicht also Herhor. Mit kluger List hetzte er die dem Mon-
archen ergebenen, für die Obhut über ihr Elend dankbaren Massen
gerade zum rechten Augenblick gegen den Tempel. Schon sind die
Sturmenden nahe. Da friff der erwartete Moment ein. Die Sonne,
vom Hohenpriester laut zum Schutz wider die Ruchlosen angerufen,
die Sonne, Agyptens Gottheit, verfinstert sich. Entsetzen lähmt die
Frevler. Doch der Mittler zwischen dem Volk und dem Gotte übt
Erbarmen, erbittet von der Sonne, daß sie wieder scheine! Ramses
hat seinen Rückhalt bei der Menge verloren. Die Krone, ja das
Leben sollen dem Feind der Priester nicht lange verbleiben. Ein
griechischer Sänger, den Kama, die Phönizierin, dem Pharao vor-
gezogen hatte, aus Eifersucht und in der Hypnose Herhors williges,
blindes Werkzeug, lauert Ramses auf und tötet ihn durch den Stoß
eines vergifteten Dolches, als der Monarch sich aus den Armen einer
neuen Geliebten nach Memphis an die Spitze der Armee begeben
550
will, um selbst den Troß der Geistlichkeit zu brechen. Herhor be-
steigt danach den ägyptischen Thron.
Wird die Fabel des „Faraon“ nüchtern erzählt, so könnte man
meinen, einem der zahlreichen antiquarischen Romane begegnet
zu sein, wie sie die Achtziger und Neunzigerjahre des verflossenen
Sakulums in peinlicher Fülle hervorbrachten. Eine polnische ,,Agyp-
tische Konigstochter“ verlohnte nicht die Mühe verspateter Bekannt-
schaft. Bolestaw Prus’ Werk ist jedoch weit mehr als eine ägyptisch
kostümierte Liebesintrige oder ein in die Erzählform gebrachtes
Handbuch der Agyptologie. Wir lesen die ewig gültige Geschichte
des tragischen Reformators auf dem Thron, des Revolutionärs
malgré lui, den fieberhafte Unstetigkeit und glühende Sinne gleich
Dämonen zum frühen Ende, zum Verderben treiben. Dieses Sich-
Einfühlen und Sich-Einsfiihlen mit dem seine Bahn durchrasenden
fürstlichen Umstiirzler, der wie ein Komet aufgeht, von den einen
als Licht begrüßt, von den anderen als drohendes Verhängnis ge-
fürchtet, und wieder in der Nacht versinkt, als sei nichts geschehen,
während die alte Ordnung unerschuttert fortdauert: dieses Ver-
schmelzen von zwei Persönlichkeiten, der imaginationsgesättigten
des Dichters und der imaginären des Helden, in eine ist unheimlich,
großartig, ein sichtbares Zeichen der künstlerischen Gnade.
Die Fülle dieser Gnaden aber erhebt den „Faraon“ zum die
Zeiten überhöhenden Denkmal. Nicht, daß Prus die historischen
Quellen sehr gewissenhaft studiert und ein farbiges Bild des Pha-
raonenreiches uns geschenkt hat, in dem der Fachmann diesen oder
jenen Zug verwerfen mag, nicht die nunmehr vollkommen beherrschte
Technik der meisterlich komponierten Erzählung stempeln dieses
Buch zum dauernden Kunstwerk. Geschichtliche Treue ist eher ein
Vorzug des Gelehrten, geschickte Technik ruhmen wir am ange-
nehmen Talent. Eine Lebensdeutung wie diese konnte nur ein
genialer Dichter geben (der auch das Zeug zum großen Historiker
besessen hatte). In der „Verlorenen Handschrift“ schildert Gustav
Freytag, wie es den Fürsten mit kaltem Graus anpackt, als ihm der
Professor die Taciteische Charakteristik der Cäsaren vorträgt und
der deutsche Duodeztyrann im römischen Kaiser seinen Spiegel-
menschen und den Gefangenen des Wahnsinns erkennt. Im Prus-
schen „Faraon‘ würde mancher moderne Herrscher und Diktator sein
Bildnis finden, und es ist besonders eine Analogie, die sich uns auf-
drängt, die mit Josef II. Ich habe die Geschichte des „Schäßers der
Menschen“ aus den Quellen studieren können, Tausende gedruckte
und ungedruckte Dokumente von, über, gegen, für den Sohn Maria
Theresens durch meine Hände gehen lassen. Prus wußte von ihm
kaum mehr, als was ein gebildeter Pole aus dem ehemals russischen
Anteil zu wissen pflegte: soviel wie nichts. Und dennoch erschaudere
ich, wie im „Faraon“ die geheimsten Seelenregungen des Romisch-
Deutschen Kaisers aufgedeckt und die wesentlichen Phasen seines
hoffnungslosen Kampfes geschildert sind. Das gehört in jenes Ka-
pitel vom Unbewußien, von der zwischen den Zeilen zu suchenden
551
Bedeutsamkeit des Mannes, der nur Prediger, Publizist sein wollte,
als tüuchtiger Erzähler galt, zumeist auch nur beides war, einmal aber
seine Löwenklauen zeigte. Die Tragödie Ramses XIII. ist ja auch die
des heimlichen Führers Bolesiaw Prus, seines geträumten Ringens
gegen die Tradition, der er doch wieder verhaftet ist.
überhaupt sollen wir nie das Doppelte Antlitz der ägyptischen
Erzählung für ein einfaches (oder gar einfalliges) nehmen. Vie in
Sienkiewiczs „Quo vadis“ hinter den Römern, Lygiern, Christen und
Heiden das polnische Volk und seine Peiniger sich bergen, so ist,
ohne daß dadurch die Harmonie des Buches gestört würde — einen
historischen Roman dürfen wir nicht mit Historie schlechtweg ver-
wechseln —, die Anspielung auf dem Dichter zeitgenössische polnische
Dinge sehr häufig. Bei manchen Personen gilt, was eine Figur aus
den „Seelen in Gefangenschaft‘ einmal von sich sagt: „den Instinkten
nach bin ich eher eine moderne Amerikanerin als eine alte Ägyp-
terin“. Noch häufiger trifft man bewußte und liebenswürdige
Anachronismen in den humoristischen Szenen. Wenn Ramses als
Thronfolger mit Dagon, dem Phönizier, um ein Darlehen verhandelt,
so glauben wir einem großangelegten Pumpversuch irgendeines ver-
schwenderischen polnischen Magnaten bei seinem Hausjuden bei-
zuwohnen. Dagon und Hiram mengen in ihr Gespräch jüdische Anek-
doten, die uralt und ewig neu sind. Asarbadon, der Gastwirt und
der Zehntmann einer ägyptischen „Ochrona“ (oder Defensywa) sind,
der phönizisdi-ägyptischen Kostüme entledigt, bekannte Warschauer
Typen. Wenn von den Beziehungen Agyptens zu Assyrien die Rede
geht, so haben wir uns die zwischen Polen und Deutschen vor-
zustellen.
Strittig bleibt, ob wir den Konflikt von geistlicher und weltlicher
Gewalt, wie es der polnische Kritiker Graf Tarnowski will, auf Polen
unmittelbar übertragen sollen. Für Polen, für alle Epochen und
Nationen aktuell ist das Grundproblem des ,,Faraon“, das ich in dem
durchs biographische Beispiel erhärteten Saß erblike: Nur wer
frei von persönlichen Rücksichten, Leidenschaf-
ten der Allgemeinheit dient, ist zu deren Führer
berufen. An der Vermengung seiner eigensten Begierden mit
den großen, überindividuellen Zielen, die er sich steckte, geht Ramses
zugrunde. Herhor, die Verkörperung der unpersönlichen Staats-
raison, triumphiert. Wir können noch ein weiteres herauslesen: die
Warnung vor der überhasteten Umwälzung, der unorganischen Re-
form, dem torichten Bruch mit ehrwurdigen Traditionen. Wieder er-
scheint Josefs Il, Schatten vor unserem geistigen Auge Und er
weicht nicht von uns, wenn wir das Charakterbild des unseligen
Agypterfursten betrachten.
Ramses XIII. leidet unter dem Mißverhältnis zwischen hoher Ge-
burt und geringer Macht. Sein Vater, gütig, verehrt, weil er dem
Herkommen und dessen Hütern im geistlichen Kleid sich fügt, wehrt
ihm den wirklichen Einfluß auf die Staatsgeschafte. Die angesam-
melte Energie des jungen Prinzen, der sich wie ein edler Renner
552
wider die aufgezwungene Rast baumt, entlädt sich in sexuellen Ex-
zessen, über deren wahren Beweggrund — physische und verdrängte
geistige Kräfte — dem Thronfolger kein klares Bewußtsein wird: er
glaubt zu lieben, der Liebe zu bedürfen oder sich seiner befriedigten
Triebe zu freuen. Zug um Zug, die Geschichte des von Maria
Theresia gehemmten Josef. Brennender Ehrgeiz, genährt von den
Erzählungen der nach ihrem künftigen eigenen Glanz lüsternen Höf-
linge, sucht sein Betatigungsfeld in Krieg, Landerwerb und eine
Stiige in den unteren Schichten, die im Grunde verachtet, durch Für-
sorge fürs materielle Wohl geködert werden, beim Militär, das der
friedlichen Ara grollt; brennender Ehrgeiz haßt die einzige Klasse,
die in einer absoluten Monarchie den Willen des Regenten hemmen
und mit ihrem Besitz den Neid des in seinen Mitteln beschränkten
Monarchen herausfordern kann: Josef ll., der Schirmherr des Land-
manns und dessen Zuchtrute, sobald der Untertanenverstand sich zur
Kritik erdreistet oder Gut und Blut schont; der Freund Lacys und
Widersacher des friedliebenden Kaunik. Ramses duldet keine Wider-
rede: „Mein Zorn ist wie ein des Wassers übervoller Krug... Wehe
dem, über den er sich ergießt.“ Doch er selbst hat wenig Rückgrat
gegenüber den eigenen Hemmungen, wechselt rasch und sprunghaft
die Entschliisse. „Von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag stieg
empor und sank seine Seele wie die Nilwasser im Verlauf eines
Jahres.“ In den Worten seines priesterlichen Feindes: „Ein Feuer-
kopf, Schürzenjäger, Abenteurer, doch ein starker Charakter“ liegt
nur scheinbar ein Gegensab zu der Wandelbarkeit, die aus jedem von
Ramses-Josefs Schritten hervorleuchtet. Die Charakterstärke war
ihnen nicht wesenhaft, sittliches Muß, sondern nur Eigensinn, Eigen-
wille, Eigennuz. Ramses weiß alles, und er weiß es dazu besser.
Er nippt von jeder Kenntnis und hat zu keinem gründlichen Studium
Ausdauer. Zuletzt überwirft er sich mit allen — die paar Favoriten
und Favoritinnen abgerechnet —; auch das gehätschelte und in seinen
Traditionen, in seinem Glauben und Aberglauben beleidigte Volk
verläßt den Monarchen. Krank und gehetzt, darob nicht weniger
gewiß, das Gute gewolli und gewirkt zu haben, stirbt Ramses. Ein
kluger, herzenskalter Nachfolger sondert die Spreu vom Weizen.
Das Unfruchtbare verdorrt, und die Blüte verheißende Saat wird von
einem anderen gehegt, entfaltet, geerntet.
Herhor kann man ganz gut mit Leopold Il. zusammenstellen. Das
Priestertum ist für diesen ägyptischen Staatsmann nur die zeitübliche
Verbeugung vor dem Herkommen, das die berufsmäßige Leitung der
hohen Politik dem geistlichen Stande vorbehielt. List, Selbstzucht,
Überlegung kennzeichnen den Gegenspieler Ramses XIII. und vor
allem, was dem Beherrscher ziemt, die Beherrschung. Denn es ware
falsch, in diesem Gefäß der kritischen Umsicht eine seelenlose
Regiermaschine zu wähnen, etwa einen anderen Franz Josef oder
Franz Il. Ein Vulkan ist Herhor, unter dessen Lavaschicht die ver-
heerendste Glut nistet; einer von den großen Ehrgeizigen, die zum
555
Unterschied von ihren kleineren Genossen sich Zaume anlegen, um
andere um so fester die Zügel spüren zu lassen.
Die übrigen Gestalten des „Faraon“ treten hinter den zwei Pro-
tagonisten zurück. Nicht, daß sie an sich unbedeutend wären. Sie
nähern sich nur den uns bekannten Bildnissen der Prus’schen Galerie.
So prächtig ihre Farben sind, es mangelt ihnen der Zauber des Ein-
maligen, und es sind Porträts, nicht grandiose geschichtliche, zeitlose
Wirklichkeit. Ramses XII.: ein Ludwig XIII. neben Herhor, seinem
Richelieu; ein Wilhelm I. neben Bismarck. Die Priester: Menes,
ägyptische inkarnation des Prus’schen Forscher-Propheten. Mefres,
ein guimütig-beschränkter Fanatiker. Pentuer, der durch Fleiß, Ver-
stand und Ansiändigkeit arrivierte Proletariersohn. Samentu, ein
machigieriger Verräter. Nach polnisch-jüdischen Vorbildern glan-
zend gezeichnet die Phönizier: Hiram, jeder Zoll ein politisierender
Bankprasident. Dagon, einige Stufen fiefer, ein glücklicher In-
flationsgewinner, der bereits in mehreren Verwaltungsräten sibi.
Konventionell und blaß die Feldherren Nitager, Patrokles, der
Günstling Tutmosis. Gute Chargen der assyrische Gesandte Sargon,
der Lybierhauptling Musawara. Völlig blutlos hingegen: der Som-
nambule Lykon, ein Überbleibsel aus dem Roman-Feuilleton und
der Hintertreppenromantik; Beroes, der Chaldäer, halb agyptisches
Traumbüchel, halb Deserteur aus Bulwers „Letzten Tagen von Pom-
pei“. Lieblich, anmutig und echter Prus das Knablein Psujak. Von
den Frauengestalten ist nicht viel zu melden. Sara, die opferwillige,
selbstlose Geliebte, Kama und Hebron, die ägyptischen Pupperin,
und die Königin Mutter Nikotris sind nicht besser und nicht schlechter
als Hunderte ihrer literarischen Vorgängerinnen.
In einem Buch, das über dem prinzipiell erotischen Roman turm-
hoch steht, weil es zugleich wirkliches Leben und dessen ewige
Stilisierung, Typisierung bedeutet, hat die Liebesintrige — die ganz
sekundären, amurösen Zwischenfälle im „Faraon“ sind nur fluchtige
Episoden; wie in der Wirklichkeit, die von den Romanciers und
Romantikern immerdar gefälscht wird — kaum Plak. Deshalb ver-
dämmern die weiblichen Figuren in einem wenig belichteten Halb-
dunkel; nur der Mann, die Mannestat, der homo politicus sirahlen in
völliger Helle.
Im Grunde stehen alle außer Ramses XIII. und Herhor im Schatten
dieser beiden. Dafür herrscht zwischen den einzelnen Seiten des
Buchs mehr demokratische Gleichheit. Es gibt im „Faraon“ keine
Längen und keine toten Punkte. Vom prächtigen Auftakt bis zum
gewaltigen Finale. Überall Spannung, Fluß, Bewegung. Nie erlahmt
unsere Teilnahme. Mit logischer Notwendigkeit entquillt ein Ereignis
dem anderen. Zuruckschauend auf die lokalen und historischen Vor-
aussekungen, auf Menschen und Zustände, begreifen wir, daß es
nicht nur so kommen konnte, sondern auch so kommen mußte. Welche
Szene sollen wir vor den anderen preisen? Der bedrängte Bauer
vor Herhor und hernach im Angesicht des Höchsten Rıchters; der
Thronfolger und die Schergen des Bankiers Dagon; die Schlacht
554
gegen die Lybier; Ramses XII. Tod und Begräbnis; Samentu im
Labyrinth, und doch der alles überragende Gipfel, der Sturm gegen
das Heiligtum.
Unsere Bewunderung gebührt noch vielem, ja beinahe jeder
Einzelheit. Die Beschreibungen der Landschaften haben nichts von
der Herkömmlichkeit, die ihnen in den älteren Werken des Dichters
anhaftet. Der gesamte Aufbau ist von der Schönheit eines elegant
bewiesenen mathematischen Theorems, einer zweckstrebig kon-
struierten Fabrik. Eine raffinierte Exposition halt unsere Erregung
bis zuleķt wach. Wie spät wird Samentu als der Motor enthüllt,
durch den die Aktion ins Rollen kommt. Erst wenn am Schlusse
Herhor den Thron besteigt, ahnen wir, daß die Königin Nikotris mit
ihm eine etwas verzerrte Hamlet-Tragödie inszeniert hat, deren
Opfer Ramses XIII. und, wer weiß, Ramses XII. wurden. Die Pathetik
der schicksalswendenden Geschehnisse greift uns ans Herz, und wo
sich, zwischen die Akte der Tragödie, ein lustiges Intermezzo ein-
schiebt, lachen wir vergnügt, wie nur je, wenn Prus seinem ernst-
- haften Humor die Zügel schießen laßt. Suchen wir nach irgendeinem
Einwand, so fände ich nur den — mit einiger Mühe zu widerlegen-
den —, daß die Ökonomie des Buches nicht dem Titel entspricht:
Ramses erscheint durch zwei Bände als Thronerbe, und seine Erleb-
nisse als Pharao bilden bloß den kleineren Teil der Erzählung.
Der Rest ist Weisheit, Schönheit, Maß, bewährt an einem der
seltenen Werke des Romans, das sich den unvergänglichen Lei-
stungen anderer Genres ebenbürtig heißen darf. Nicht die, wie stets
bei Prus, in beliebiger Zahl nachzuweisenden Vorbilder — auf die
Bulwer, Ebers braucht man nur hinzublicken, um den Abgrund zu
ermessen, der sie von dem Polen trennt; der Vergleich mit ,,Sa-
lammbö“ fallt nicht unbedingt zum Nachteil des „Faraon“ aus — nicht
die Verstöße gegen die Authentizität, die anzukreiden ich Agyp-
tologen überlasse, vermögen irgendwie den menschlichen, künst-
lerischen Wert einer Leistung zu vermindern, die uns beglückt, er-
hebt, bereichert; die einem grandiosen Stoff die adäquate Gestal-
tung lieh; die, den engen Rahmen des Polnischen, Allzupolnischen
sprengend, universell und dennoch in der besten Überlieferung der
Heimat wurzelnd, mit gebieterischer Hoheit Aufnahme ins Pantheon
der Weltliteratur verlangt.
BÜCHERBESPRECHUNGEN
Fr. Bulié, Li. Karaman: Der Palast Kaiser Diokletians in Split.
(Palača Cara Dioklecijana u Splitu.) MCMXXVII, Zagreb, Malica
Hrvatska.
Mit drei Gruppen von Sehenswürdigkeiten ist der Name des großen
kroatischen Archäologen Don Frane Bulić unlösbar verbunden: mit
dem kolossalen Gemäuer- und Gebäudekomplex, der die Altstadt Spa-
lato (Split) in sich faßt und durchsetzt; — mit den weiten, von freigelegten
Denkmalern antiken und frühchristlichen Lebens und Sterbens übersäten
Ruinenfeldern Salonas (Solin) und einer erheblichen Zahl anderer Aus-
grabungsstätten, die — über das dalmatinische Küstenland und die dazu-
gehörigen Inseln verstreut — außer ähnlichen Funden auch prähistorische
Reste und kostbare Zeugnisse zur Geschichte der altkroatischen Fürsten
und Könige geliefert haben; — mit dem arhäologischen Museum
in Split, das seine Schätze aus Stein und Metall nun in würdiger Weise
umschließt, hutet und offenbart, und zu alledem mit der Zeitschrift: Bulletino
di archeologia e storia dalmata, 1878—1920 (seither Vjesnik za arheologiju
i historiju dalmatinsku), worin ihr Herausgeber Monsignore Bulić die meisten
sciner Forschungsberichte und Resultate niedergelegt hat. So ungeheuer
diese Arbeitsleistung des lebensvollen, geistsprühenden Gelehrten, der
heute sein 82. Jahr überschritten hat, sein mag, so läßt sie sich doch fest-
stellen und überblicken. Unzahlbar aber, unmeßbar und unabschabbar
sind die Wirkungen, die von Don Franes knaben- und volkserzieherischer
Wirksamkeit — er war lange Jahre Professor und Gymnasialdirektor — und
von den Unterweisungen ausgingen und ausgehen, die Tag um Tag, jahr-
aus jahrein auch jeder fremde Besucher der Sehenswürdigkeiten Splits
und Solins von ihm empfing und empfängt. Die prachtvolle Rechtlichkeit
dieses Mannes, sein helläugiger Enthusiasmus, sein urgesunder Humor, sein
unermudliches, mit einer köstlichen Dosis gewollt durchsichtiger Schlauheit
gewürztes Kämpfertum, die Herrscherbegabung dieses „christlichen
Freundes“ des Christenverfolgers Diokletian, die Frische und Beweglichkeit
seines Denkens ... jeder fluchtige Gast fühlt sich dadurch berührt, Jünger
und Schuler bleiben davon durchdrungen. Fast kein Ort in Dalmatien, wo
nicht ein Priester, ein Richter, ein Arzt, ein Künstler, ein Lehrer . , dessen
Wissen, Kulturtätigkeit und Interessenkreis uns in Erstaunen setzt, dankbar
der Förderungen gedenken würde, die er aus Don Franes Persönlichkeit,
Unterricht, Gesinnung und Forschungsweise erhielt.
Eine Synthese seiner Arbeitsergebnisse an der ersten der eingangs
genannten Denkmalergruppen hat Monsignore Buli& im Verein mit seinem
jungen Kollegen, dem Kunsthistoriker und Konservator Dr. Lj. Karaman 1927
unter dem Titel: Palača Cara Dioklecijana u Splitu in den Ausgaben der
Matica Hrvatska veröffentlicht. Das relativ umfangreiche (284 S.) mit hundert
und einem Vollbilde geschmückte Werk legt in seiner Widmung der
556
Stadt, die in und um Diokletians Palast entstanden ist, den Schub ihrer
Bau-, Skulptur- und Ruinenschätze ans Herz. Auf die stimmungsvolle Ein-
leitung folgt ein Abschnitt über Lage und Ortsbezeichnung,
Bauzeitund Material des Kaiserpalastes. Der Name Spa-
lato kommt zuerst auf Peutingers Tafel vor, die nach Agrippas choro-
graphischer Karte des Römerreiches (12 v. Chr.) hergestellt wurde. Bei
Schriftstellern des 4. und 5. Jahrhunderts findet sich neben Spalato auch
Aspalatho. Inschriften fehlen. Bulić neigt zur Meinung, die Benennung
Spalato käme von Aspalathos; so nach einem am Balkan häufigen Gesträuch,
werde ursprünglich das Fischerdorf geheißen haben, wo Kaiser Diokletian,
der im Jahre 245 unfern davon, auf dem Hügel Libovac bei Salona, zur Well
gekommen war, die Palastvilla erbaute, in die er sich — nach seiner frei-
willigen Abdankung (1. V. 305) wieder „Diokles“ geworden — ruhebedürftig
zurückzog, und wo er eigenhändig Gemüsekultur betrieb.
Keine Büste, keine Statue hat sich von diesem großen Kaiser erhalien,
nur Münzen zeigen uns sein Profil. Den Bau, den er zu seinem Ruhesibe
bestimmte, dürfte Diokletian erst gegen das Ende seiner langen Regierungs-
zeit ausgeführt haben. Im Palaste selbst wurden wohl viele Steinmebk-
zeichen und griechische Buchstaben entdeckt, auch eines griechischen Ar-
beiters Name (Zotikös) und als Geheimbekenntnis eines andern das christ-
liche Fischsymbol, darunter OA, das der Innenseite eines Mauersteines an-
vertraut war, doch ist man über die Herkunft der Baumeister des Palastes
auf Kombinationen angewiesen. Das Baumaterial kam größtenteils aus den
staatlichen Steinbrüchen der benachbaıten Insel Brač (Brazza, Brattia), wo-
selbst auch die Säulen, die man ägyptischen Bauten entnahm, zugerichtet
wurden. Auch Tuffstein und Ziegel aus der nächsten Umgebung fanden
Verwendung.
Kapitel IM, Diokletians Palast in der Literatur, bringt
auf 20 S. eine chronologisch geordnete Übersicht und kritische Wertung der
diesen Gegenstand betreffenden oder behandelnden Angaben, Schriften und
Werke. Der V. Abschnitt enthält die Beschreibung des Palastes, seiner
Umfassungsmauern, Türme und Tore, der südwärts im Innern gelegenen
Partien und Gebäude (Peristyl, Mausoleum und Palasttempel), der kaiser-
lichen Wohnräume (Vestibul, Tablinum_und Kryptoportikus) und der Dio-
kletianischen Wasserleitung. Manche Zweifel und Streitfragen, zu denen
besonders die sakralen Gebäude, das prächtige Mausoleum (die jetzige
Domkirche) und der Tempel (das Baptisterium Splits) Anlaß gaben, kommen
dabei zur Sprache.
Dr. Li. Karamans Abhandlung: Der Diokletianische Palast in
der Kunstgeschichte (V.Kap.63S.) beantwortet zunächst die Frage:
Was ist — seiner Grundform und seinen Dispositionen nach — Diokletians
Palast eigentlich? Castrum, Villa oder Stadt? dahin, daß er
gleichzeitig all dies sei: Festung durch seine Wehrmauern, Türme und
Tore, Villa in seiner Südfront und Städtchen in der Anordnung seiner
Gassen und Innenbauten. Besonders erörtert werden der Grundplan, das
Wehrsystem, die Straßenhallen, die Südfassade. Die Architektur des
Palastes wird unter dem Gesichtspunkt behandelt, ob in ihr eine Dekadenz
der Kunst in Erscheinung trete. „Neben großer konstruktiver Solidität,
reicher und üppiger Dekoration und einer Archifektonik, die neuen Zielen
zuschreitet, finden wir in ihr auch sichtliche Zeichen eines Niedergangs
handwerklicher Geschicklichkeit“, sagt Karaman und bespricht nach ver-
gleichender Betrachtung und Prüfung der technischen Prozeduren und der
architektonischen Dekoration im allgemeinen und besondern die Be-
deutung des Palastes in der Entwicklung der Kunst. Das wichtige
Stilmotiv des Archikolonnats, der unmittelbar, ohne Zwischenstück, von den
Säulen aufsteigenden Bogenreihe, wird entwicklungsgeschichtlich behandelt,
das Typische wie das Eigenlümliche anderer Dekorations- und Bauformen
des Palastes, stets unter Heranziehung reichen Vergleichsmaterials unter-
sucht und zu den Meinungsverschiedenheiten uber den Plab, den der Palast
zwischen der Bauwelt des Westens und der des Orients einnimmt, schließ-
557
lich Stellung genommen. Stał ihn mit den „Orientalisten“ direkt von
einem Vorbilde (Diokletians Palast in Nikomedia oder jener bei Antiochia)
abzuleiten, hätte man sich, sagt Karaman, für jetzt damit zu begnügen, ein
„typisch antikes Gebäude” in ihm zu sehen, „das zu Beginn der Spätantike
von Meistern aus den hellenistischen Gegenden des Reiches errichtet
worden ist“.
Fr. Bulić entrollt hierauf in Kap. VI, Deokletians Palast im
Wandelder Jahrhunderte, die Schicksalsgeschichte des gewaltigen
Baues, den mehr als anderthalbtausend Jahre nicht zu vernichten ver-
mochten. Nach Diokletians Tode (313) wurde der Palast als Krongut zu
verschiedenen Zwecken verwendet, im Nordtrakt webten Weiber Tuch fur
den Armeebedarf, im 5. Jahrh. diente der südliche Teil einigen verbannten
oder gefliichteten Herrschern als Asyl. Unter der Gotenherrschaft und
selbst in den ihr folgenden Kriegen scheint der Palast nicht besonders
gelitten zu haben, schlimmer muß es ihm jedoch im 7. Jahrh. zur Zeit der
Avarenstürme ergangen sein. Immerhin vermochte der Bau den Nach-
kommen der Salonitaner, Romanen, die um 615, nach der Zerstörung ihrer
Stadt, auf die Nachbarinseln geflüchtet waren, später Wohnstatten und
Schutz vor den Kroaten zu gewähren, die inzwischen Salone (Solin) und die
ganze Umgebung besiedelt hatten. Um die Wende des 8. Jahrhs. verwan-
delte sich der Palast in die Stadt Spalato und wurde so vor völliger Ver-
nichtung bewahrt. Im 9. und 10. Jahrhundert macht sich die Infiltration des
kroatischen Elements in das romanische Spalato schon bemerkbar, ım 12.
ist die Hälfte der Stadtamter von Kroaten beseft, im 13. bilden sie darin
bereits die Mehrheit. Im 12. speed dürfte die Stadt den Perimeter
des Palastes überschritten haben. Wurde auch vieles an ihm durch An-
und Umbauten allmählich verändert oder zerstört, so blieben doch seine
edelsten Teile, die sakralen Gebäude, eben dadurch noch relativ gut er-
halten, daß man sie für christliche Kultzwecke in Anspruch nahm.
Die „Reinigung“ des Mausoleums von Zeugnissen des Heidentums und
seine Verwandlung in eine Domkirche wird dem ersten Erzbischof Spalatos,
Johann von Ravenna, zugeschrieben; damals dürfte auch der Sarkophag
Diokletians entfernt worden sein. Derselbe Erzbischof soll auch die Re-
liguien des hl. Domnius und des hl. Anastasius aus Salona in den neu-
geweihten Dom übertragen haben. Sie werden noch heute daselbst ver-
ehrt, obschon festgestellt wurde, daß es sich hierbei um eine „pia fraus”
handelt. Das historisch bezeugte Heiligenpaar, das unter Diokletian den
Märtyrertod erlitten hatte und in Salona beigesebt war, ruht in einer
Kapelle des Lateran zu Rom, und die Angaben über seine Namensbrüder
im Dome zu Split beruhen auf einer Erfindung des 10. Jahrhunderts.
Das 13. Jahrhundert hat dem Dome drei Denkmäler von bedeutendem
Kunstwert eingefügt: die große, mit Skulpturen des Andria Buvina ge-
schmückten Türen, die Chorstuhle und die prächtige Kanzel, alles Werke
romanischen Stils, die wie das berühmte Portal des Domes zu Trogir
(Trau) von Künstlern der Spalatiner Schule herrühren.
Die späteren baulichen Veränderungen, die das Mausoleum erlitien hat,
müssen wir hier übergehen. Erwähnt sei noch der über dessen Prostase
errichtete fiinfstockige Glockenturm (13.—17. Jahrhundert), der zu Ende des
19. Jahrhunderts erneuert werden mußte.
Der Tempel des Palastes, der als Taufkapelle verwendet wurde, birgt
u a. en merkwurdiges Basrelief, das wahrscheinlich einen kroatischen Konig
arste
Von den Kirchlein, die sich in die Palastmauern cinnisteten, ist das
St. Martin geweihte aus dem 9. Jahrhundert seiner Ornamentik wegen
bemerkenswert.
An die Geschichte der Umfassungsmauern, der sechzehn Wehrturme,
der Tore, der Souterraine, der Südfront und das Problem ihrer Anbauten
letzteres als ein Bericht Karamans) schließt Fr. Bulić noch ein juristisch,
praktisch und charakterologisch interessantes Kapitel über die Frage, wem
das Eigentumsrecht an diesem Palaste zustehe. Die Stellungnahme hiezu
558
hängt natürlich aufs engste mit den Konservierungspflichten des Staates
und der Stadt zusammen. Durch Schub und Erhaltung dieses Denkmals,
sagt Bulić am Schlusse seiner Monographie, die in Bälde auch deutsch
erscheinen soll, wird eine übernationale, allgemeine Kultur- und Kunst-
pflicht erfullt®.
Zagreb. C. Lucerna.
Masarykův Slovník Nauény. Lidová encyklopedie všeobecných
vědomostí. Dil 1—4. — Prag: Československý Kompas 1925 — 1929.
. Die Eechische Wissenschaft besaß schon vor dem Kriege ein vorzüg-
liches Nachschlagewerk im Ottûv Slovník Nauény, der allerdings
in Anbetracht der Ereignisse der letzten Jahre vielfach veraltet ist. Um
diesem Mangel abzuhelfen, entschloß sich der Verlag Otto, drei Ergänzungs-
bände herauszugeben, die auch schon zu erscheinen begonnen haben.
Außerdem aber sollte eine Volksenzyklopädie, ein Handbuch des Wissens
in gedrängter Form und für die breiteren Schichten berechnet, geschaffen
werden: der Masarykův Slovník Nauény, der vom Verlag Československý
Kompas unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter herausgegeben wird und
6 Bände umfassen sollie. Auf diese Weise ist ein sehr brauchbares Werk
zustande gekommen. Die Ausstattung läßt wohl noch manches zu wünschen
übrig; so sind die Reproduktionen und die dem Text beigefügten Tafeln
auch in dem kürzlich erschienenen vierten Band nicht besser geworden.
Der Zweck des Unternehmens machte es erforderlich, von der englisch-
französischen Form der Enzyklopädie abzurücken und sich der deutschen
zu nähern, möglichst viel Schlagworte zu bringen und in wenigen Sätzen
das Wichtigste treffend zu sagen. Von besonderem interesse sind natürlich
die Artikel, die sich mit dem Cechischen Geistes- und Kulturleben selbst
befassen. Gleich im ersten Band findet sich ein großer Aufsak „Cesko-
slovensko“, zu dem man greifen wird, wenn man sich über politische und
wirtschaftliche Fragen der &echoslovakischen Republik unterrichten will.
Manchmal würde man freilich wünschen, die Angaben wären etwas voll-
ständiger. Im Artikel „Bezruč“ wird z. B. mit keiner Silbe erwähnt, daß
die bisher wichtigste Ausgabe der Schlesischen Lieder 1920 erschien und
daß Marfineks Buch über Bezruč schon 1924 eine zweite, bedeutend ver-
mehrte Auflage erlebte, wodurch die erste völlig überflüssig wird. Aus der
Bfezina-Literatur wird gar nichts angeführt, und bei anderen Gechischen
Schriftstellern liegt die Sache ebenso. Das ist um so mehr bedauerlich,
als man gerade in diesen Fällen den Masaryküv Slovnik Nauény zu Rate
ziehen muß, da das &echische Geistesleben nicht nur in den Nachschlage-
werken der großen europäischen Völker, sondern auch in den sonstigen
slavischen Enzyklopädien recht stiefmütterlich behandelt wird. So kennt,
um bei den angeführten Fallen zu bleiben, die südslavische Enzyklopädie
beide Dichter gar nicht, die große russische Sovet-Enzyklopädie nur Bezrué,
über den sie einige vage Bemerkungen bringt, die gar nicht das Richtige
treffen, das polnische Konversationslexikon kennt zwar beide, fertigt sie
aber ganz kurz ab. Anderseits müssen wir aber auch feststellen, daß der
Masarykův Slovník Nauöny über Mickiewicz weit weniger Literatur bringt
als der deutsche Meyer oder Brockhaus, auch Krasifiski würde ein paar
Worte mehr verdienen. Dagegen nimmt wieder das Schlagwort „Machar“
einen unverhältnismäßig großen Raum ein. Die Zahl der Artikel ist, wie
schon hervorgehoben wurde, recht groß, und zweifellos wurde wirklich fast
alles irgendwie Bedeutsame erfaßt. Mitunter stößt man auf eine Lücke.
So finde ich, nebenbei bemerkt, den deutschen Gelehrten Litt nicht, auch
. Die von C. Lucerna besorgte, geschmackvoll und gut ausgestattete,
leider aus Raummangel um einen Teil des wissenschaftlichen Apparates ge-
kürzte deutsche Ausgabe ist vor kurzem erschienen: Bulié-Karaman,
Kaiser Diokletians Palast in Split. Zagreb 1929, 179 S. und 101 Bildbeilagen,
Matica Hrvatska.
35 NF 5 559
der Verlag Gebethner & Wolff hätte erwähnt werden müssen. Ganz nüblich
wäre es auch gewesen, beı russischen Namen die Bezeichnung der Aus-
sprache anzugeben, wie es bei französischen und englischen Wörtern ge-
schehen ist, da jene ja auch für den Cechischen Leser keineswegs selbst-
verständlich ist. Für den Slavisten sind im neu erschienenen vierten Band
hauptsächlich folgende Artikel von Interesse: Kollar, Komenský, Králové-
dvorský rukopis, Krásnohorská, Legie, Lužice, Mahen, Mácha, Machar,
Manes, Masaryk, MrStik u. a.
Leipzig. H. Jilek.
Szweykowski, Zygmunt: „Lalka“ Bolesława Prusa. — War-
szawa: Gebethner i Wolff (1927). 362 S. 8°.
In der nicht gerade sehr umfangreichen Literatur über Boleslaw) Prus
nimmt Szweykowski’s Buch eine besondere Stellung ein. L. WIiodek, selbst
ein Publizist, war in seinem trefflichen Werke!) mehr darauf ausgegangen,
die Bedeutung und die Genese P.—s in seiner reichen publizistischen Tatig-
keit herauszuarbeiten, während er die literarische Beurteilung_der belle-
tristischen Werke den Literarhistorikern überlassen wollte. Eine solche
Würdigung des belletristischen Schaffens P.—s_ hatte K. Wojciechowski in
seiner populären Skizze?) versucht, während F. Araszkiewicz es sich in
seiner flott geschriebenen Studie?) zur Aufgabe machte, die „praktische
Philosophie P.—s und ihre Verbindung mit seinem künstlerischen Schaffen“
darzustellen. — Szweykowski hingegen hat eines der Werke ausgewählt
und in seinen genetischen und psychologischen Zusammenhang gestell, um
in seiner minutiösen Analyse das Schaffen des Schriftstellers überhaupt zu
charakterisieren, — und man muß sagen: seine Wahl war gut. Die Lalka,
die sich ja bemüht, den Entwicklungs- und Umschichtungsproze§ in der
poln. Gesellschaft von den 40er bis in die 80er Jahre des vorigen Jahrh. in
photographischer Treue wiederzugeben, so wie er sich dem Autor bot,
eignet sich, wie auch anderwärts bemerkt worden ist, ganz besonders gut
dazu, P. in seinen Lebensanschauungen zu charakterisieren.
Öhne die sonst üblichen einleitenden Worte einer Vorrede über die
en ung und die Absicht seiner Schrift geht der Verfasser in seinem
Kapitel sogleich auf die Jugend P.—s ein, um damit den Grund fur die
folge de Analyse der Lalka vorzubereiten. Dieses Kapitel strebt dabei
nicht nach einer Darstellung bisher etwa unbekannter biographischer Einzel-
heiten, sondern sucht an Hand der wohlbekannten Daten zu zeigen, in
welchem Verhältnis bei Prus das Gefühlsmäßige zum Verstandesmäßigen
stand, und wie dieses Verhältnis von seinem literarisch publizistischen
Werdegang beeinflußt wurde. Verf. weist dabei auf, wie die wissenschaft-
lichen Ideale in Prus das unbedingte Verlangen wach riefen, eine Wieder-
geburt der rückständigen Gesellschaft Polens auf wissenschaftlicher Grund-
lage in publizistischer Tätigkeit zu schaffen, während er zunächst seiner
künstlerischen Begabung keine Bedeutung beimaß. Dieses Verhältnis zu
seinen eigenen Publikationen spricht sich rein äußerlich schon darin aus,
daß er seine Schriften über die gesellschaftliche Umformung, wie er sie
sich dachte, mit seinem wirklichen Namen Aleksander Glowacki
zeichnete, seine belletristischen Schriften dagegen immer mit dem Pseudonym
Bolesław Prus. Als Głowacki aber scheiterte er, da er für den Dok-
trinarismus keiner Partei etwas übrig hatte, an der Ablehnung, die er von
den verschiedenen Parteien erfuhr, während er in seiner belletristischen
Tätigkeit — als B. Prus — ganz besonders als Humorist große Anerkennung
1) Ludwik Włodek: Bolesław Prus. Zarys spoleczno-literacki. — War-
szawa: Gebethner i Wolff 1918. XVI, 351 S. 8°.
2) Konstanty Wojciechowski: Boleslaw Prus. — Wyd. II. — Lwów: Gubry-
nowicz 1925. 178 S. 8°. [Wyd. I. — 1913.)
s) Feliks Araszkiewicz: Bolestaw Prus i jego idealy Zyciowe. — Lublin:
Głowiński 1925. XVI, 202 S. 8°.
540
fand. Dieser Mißerfolg da im Leben, wo er seine eigentliche Mission ge-
sehen hatte, führte ihn bald zu einer anderen We rtung der Kunst. Er stellt
sie nunmehr neben die Wissenschaft und beginnt sich die Gesetze der
Ästhetik und Poetik durch ausgedehnte wissenschaftliche Studien klar zu
machen. Das Resultat seiner Studien, ein zwischen Idealismus und Natura-
lismus stehender Realismus, wird ihm für sein eigenes Schaffen bewußt zur
Richtschnur. Gleichzeitig aber analysiert er die Gründe seines Mißerfolges,
die er im stumpfsinnigen Konservativismus der Gesellschaft findet. Die
Frage, welche Lebensbedingungen ein hervorragendes Individuum inmitten
dieser Allgemeinheit habe, ob sie leben und Frucht bringen könne, und ob
es überhaupt für sie Wirkungsgebiete im Leben geben könne, wo die Ge-
sellschaft sich mit ihrer Kollektivkraft auf dem falschen Wege befinde, diese
Frage drängt sich ihm nach seinen eigenen Erfahrungen von selbst auf und
wird ihm zum Gegenstand dauernder Betrachtung und in Verbindung mit
der Darstellung eben jener Gesellschaft zum Problem seınes großen
Romans. Alle diese Ausführungen über die Psychik des Schriftstellers stubt
Szweykowski auf dem weitschichtigen Material, das Głowacki in seinen
zahlreichen Artikeln und Chroniken im Kurjer Warszawski, Kurjer
Codzienny, in den Nowiny und anderen Zeitungen und Zeitschriften
hinterlassen hat, und das schon Wiodek ausgenutzt hatte. Das zweite
Kapitel bringt zunächst die Grundlagen Prus’ positivistischer Weltanschauung,
in welcher naturwissenschaftliche Betrachtungsweise den Kampf ums Dasein
und das Verlangen des Einzelnen nach Glück nach dem Vorgang Spencers
zu den treibenden Kräften des Lebens macht. Auf dieser Grundlage wird
weiter die Historiosophie des Schriftstellers hinsichtlich der Stände in Polen
entwickelt, auf die Buckle und Draper von großem Einfluß gewesen sind:
Adel und Magnaten, die einstigen Begründer der Größe Polens, sind mit
ihrem System schuld an seinem Verfall. Sie verstehen es, jeden Fortschritt
der Gesellschaft zu hemmen, um ihre privilegierte Stellung aufrechtzuerhal-
ten, und haben ihre Ansprüche auf Geltung verstanden religiös zu unterbauen.
Die dabei benachteiligten Volksklassen aber tuen nicht nur nichts, um dieses
Hemmnis des Fortschritts zu überwinden, sondern sie suchen größtenteils auf
jede mögliche Weise einzeln in die Kreise des Adels hineinzukommen oder
sie verharren wie die Massen des Landvolkes in Unbewußtheit auf dem
Niveau längst vergangener Jahrhunderte. So steht Polen inmitten der auf-
strebenden neuzeitlichen Kultur Europas auf dem Standpunkt des Mittel-
alters. Auch die Rechisreformen in der 2. Hälfte des 19. Jahrh. haben nur
eine theoretische Anderung der gesellschaftlichen Struktur Polens gebracht;
die Psychik der Allgemeinheit blieb davon unberührt trotz aller Reformations-
versuche. Schuld daran ist in erster Linie der Charakter des polnischen
Volkes. Die Psyche des Polen ist durch und durch „idealistisch“, und da
die Aristokratie angeblich die Sache des Idealismus verficht, treiben die
psychischen Tendenzen unwillkürlich auch den in die Arme des aristokra-
tischen Systems, der an und für sich dieses System bekämpfen möchte.
Fin „idealist“ ist für Pius ein Mensch, der nur in der Welt der Phantasie lebt,
ohne einen Begriff von der Wirklichkeit, ein Träumer mit starkem Drange
nach Größe, mit dem Wahlspruch Mickiewicz’s, die Kräfte nach dem Ziele
zu bemessen und nicht wie nötig, die Ziele nach der Kraft. Diese polnischen
Idealisten und unter ihnen die hervorragende Persönlichkeit inmitten der
dem Verfall zueilenden polnischen Gesellschaft darzustellen, war das Thema,
das Prus sich für die Lalka gesetzt hatte, und zwar nicht nur in einer,
sondern in drei Generationen, angefangen von den Romantikern. Nach
dieser Analyse der Grundlagen und des Themas der „Lalka“ wendet sich
Szweykowski der Betrachtung der einzelnen in der „Lalka“ behandelten
Gesellschaftskreise in ihren einzelnen Vertretern zu.
Zuerst werden da die Vertreter der kosmopolitisch-internationalen
Aristokratie behandelt: Tomasz Lecki, Izabela Lecka, die Gräfin Karolowa,
der Baron Krzeszowski, der Parasit Maruszewicz, der Fürst und Starski.
Es folgt der Kleinadel, und zwar der alte Wokulski, Wirski, die Misiewiczowa.
Die dritte Gruppe, die nicht in ihren einzelnen Vertretern von Szweykowski
541
vorgeführt, sondern als Ganzes betrachtet wird, bildet das Biirgertum, und
als vierte Gruppe folgt das Volk.
Das dritte Kapitel bringt eine Darstellung der Idealisten. Zunächst
wird da die Einstellung des Schriftstellers zum Idealismus analysiert und
aufgewiesen, wie die Krisis im Leben Prus’ und seine Wendung zur Kunst
auch einen Wandel in seiner Stellungnahme zum Idealismus nach sich zog.
Ist ihm ın der früheren Epoche seiner publizistischen Tätigkeit der Aufbau
des Lebens und der Gesellschaft durch beharrliche Verfolgung der kleinen
Ziele alles, die große Idee aber ohne den wohlvorbereiteten Grund im
kleinen nur Pose, so beginnt mit der neuen Epoche in seinem Schaffen auch
der Idealismus mehr und mehr seine Sympathie zu gewinnen. Es wird ihm
klar, daß jeder wirkliche Fortschritt immer noch von den Träumern mit
ihren großen Ideen ausgegangen ist, die gern alles auf eine Karte sebten,
und nicht von den Philistern und Spießern, denen er früher mehr zugetan
war. Und diese Umstellung brachte naturgemäß auch eine andere Ei
schätzung der polnischen Romantik mit sich. Damit aber kam es in Prus
nicht zu einer Ablehnung der positivistischen Aufbauziele, sondern eben zu
jenem Kompromiß beider Anschauungsweisen, dem die „Lalka“ gewidmet
ist: in Zeiten, wo die Allgemeinheit organisatorische Arbeit an ihren Grund-
lagen zu tun hat, um sich den Weg zu großen Entwicklungen frei zu machen,
ist der Idealismus mit großen Ideen und mit seiner Träumerei verfrüht und
somit schädlich; und das traf nach Prus’ Ansicht gerade für seine Zeit zu.
Im weiteren behandelt Szweykowski dann die Vertreter des Idealismus der
Romantiker-Generation Rzecki, die Präsidentin, den Onkel Wokulski’s und
Kab, sodann Wokulski, den Vertreter der romantisch-positivistischen Idea-
listen, und die positivistischen Vertreter des Idealismus: Ochocki, Klein und
die Studenten, sowie schließlich die Juden.
Waren also die vorhergehenden Kapitel der Charakteristik der ein-
zelnen Personen der „Lalka“ gewidmet, so beschäftigt sich das letzte
Kapitel mehr mit dem Ganzen des Romanes. Szweykowski behandelt in
ihm zunächst den Pessimismus des Schriftstellers in der Lalka, der sich
darin ausspricht, daß alle die edlen Gestalten des Romans von dem Schau-
platz in Polen weichen müssen und die Philister, Gauner und Wucherer das
Feld behaupten, wenngleich das Ganze mit einem Fragezeichen schließ#®).
Darauf geht er auf den Humor in unserem Romane ein, der sich nur da
zeigt, wo es Prus nicht so bitterer Ernst ist wie bei Wokulski oder Izabela,
sondern eben bei Personen, zu denen er die für einen echten Humor nofige
Distance hat wie etwa Ochocki oder die Studenten. Weiter wird dann die
Komposition der „Lalka“ einer näheren Betrachtung unterzogen, die ja bei
der Weite des zur Darstellung gelangenden Zeitraumes und der Mannig-
faltigkeit der gesellschaftlichen Faktoren doch recht erhebliche Schwierig-
keiten bot. Dabei wird aufgewiesen, wie wichtig die Rolle der Liebe ist,
die Prus die Vereinigung der heterogenen Gesellschaftskreise in einem
Werk gestattet, wie weiter die Geschichte des Ladens Mince! ausspinnt, um
die Einheit des Romanes zu erhalten, wie die gleichen wissenschaftlichen
Interessen der Einung zweier Idealistentypen, Wokulski's und Ochocki's,
dienen, und wie schließlich die „pamiętniki starego subjekta“ ihm die Mög-
lichkeit geben, auch den Idealisten der Romantik noch in die Handlung ein-
zubeziehen. Einige Seiten sind weiter der Behandlung des photographisch
getreuen Lokalkolorits der Stadt Warschau gewidmet. Darauf geht Szwey-
kowski dazu über, die fremden Einflüsse auf Prus’ Lalka aufzuweisen, wie
Dickens, Spielhagen, Victor Hugo, Cervantes, Jokai, Zola. Es ergibt sich,
*) Hierzu sei bemerkt, dag Szweykowski mit Włodek u. a. nicht auf dem
meist vertretenen Standpunkt stehen, Prus habe seinen Helden durch Selbst-
mord enden lassen (vgl. S. 255 u. 278 ff.). Nach seiner Ansicht, die er auch
mit Aussprüchen des Schriftstellers zu belegen weiß, ist Wokulski nur vom
Schauplaß in Polen verschwunden und für eine große Rolle vorbehalten,
die er in einer Fortsebung der „Lalka“, in der „Sława“, bei Geist in Paris
zu spielen bestimmt ist.
542
-t on — — ie —
„ F ˙ . ..
daß bei allen fremden Einflüssen und frotz aller Vorgänger im polnischen
Roman (Kraszewski, Korzeniowski, Orzeszkowa etc.) doch diese unbewußt
reproduzierende Synthese P.—s als durchaus original zu werten ist. Die
Lalka wird fur eins der wertvollsten Werke der poln. Literatur erklärt, das
vielen Nachfolgern P.— den Weg gebahnt hat, unter ihnen auch keinem
Geringeren als Zeromski.
Wie aus obiger Inhaltsangabe hervorgeht, macht die Analyse dks Ideen-
gehalts der „Lalka“ den größten Teil des Buches aus. Szweykowski führt
sie durch, indem er von den in P.—s publizistischer Entwicklung begründe-
ten Tendenzen ausgeht und gewissermaßen in Längsschnitten durch den
Roman die dargestellten Gesellschaftsschichten mit ihren Ideologien sowie
die nach P.-s Anschauung für den Polen bezeichnende idealistische
Geistesrichtung in ihren einzelnen Vertretern untersucht. Dabei zieht sich
wie ein roter Faden der Leitgedanke durch die Ausführungen: P. erkennt
sich nach dem Scheitern seiner Gesellschaftsreformpläne als Idealisten des
Positivismus und stellt eben hier den poin. Idealismus mit seinem Wollen
und Können und seinem Scheitern an der Gesellschaft in Polen dar. Diese
richtig erkannte Tendenz, die für P. eigentlich eine Fortsebung seiner
Reformpläne mit anderen Mitteln bedeutet, gibt Szweykowski das Recht,
die Analyse der „Lalka“ auf ihren Ideengehalt in der angegebenen Weise
durchzuführen. Die einzelnen Charakteristiken, die oft überflüssig breit
ausgeführt sind, sind ihm dabei meist recht gut gelungen. Sie bilden jedoch
nicht den eigentlichen Schwerpunkt des Werkes. Im Mittelpunkt des Buches
steht vielmehr der Gedanke, die ideellen Tendenzen P.—s herauszuarbeiten,
die Frage: was will P. mit seinen Gestalten sagen? Und wenn der Verf.
dabei die Problemstellung der Lalka so eng mit P.—s innerstem Erleben
beim Scheitern seiner Reformpläne mit der „Nowiny“ verknüpft und gerade
den inneren Umschwung in P. hinsichtlich seiner Stellungnahme zum ldea-
lismus so scharf herausarbeitet, wird man ihm in den wesentlichen Punkten
beistimmen müssen. Es ist dabei methodisch sehr richtig, daß die Auf-
fassungen des Schriftstellers nicht aus der Lalka herausinterpretiert,
sondern zunächst an anderen Äußerungen P.—s nachgewiesen und in seiner
schriftstellerischen Entwicklung psychologisch begründet werden, so daß sie
dann im einzelnen in der Lalka nachgewiesen werden können.
Was jedoch die ästhetische Würdigung des Romans anlangt, hält
Szweykowski doch wohl zu sehr mit seiner Kritik zurück. Gewiß ist heute
eine Kritik an der Lalka nicht mehr in dem mals aktuell wie 1890, als
Chmielowski im „Ateneum“ sich mit ihr auseinandersebte. Trokdem aber
vermißt man eine kritische Einstellung bei Szweykowski, wo er über die
Komposition der Lalka spricht, die doch infolge der „pamiętniki starego
subjekta“ geradezu zu zerfallen droht. Es ware dabei näher darauf ein-
zugehen gewesen, wie weit tatsächlich der Erscheinungsmodus der Lalka
in den Fortsekungen des „Kurier Codzienny“ an solchen Kompositions-
mängeln die Schuld getragen hat. Auch an anderen Schwächen des Romans
geht Szweykowski schweigend vorüber. So manche Situation will der
Leser dem Schriftsteller nicht recht glauben. Die gewagten Kunststückchen,
die die Studenten der Baronin zum Possen bei ihrer Ausweisung ausführen,
gehören doch wohl z. B. hierher. Auch fehlt es weiter den Charakteren
der Lalka nicht an Inkonsequenzen und inneren Unwahrscheinlichkeiten, wie
sie Chmielowski aufgewiesen hatte. Da Szweykowski eine ästhetische
Würdigung der Lalka nicht vermieden hat, wäre es nüblich gewesen, auf
derlei Mängel mit einiger Kritik einzugehen. — Wie weit Prus ferner in der
Verwendung schriftstellerischer Kunstmittel bewußt vorgegangen ist, wird
sich nicht immer mit großer Bestimmtheit sagen lassen, und bei aller An-
erkennung der großen Wichtigkeit, die P.-s theoretische Beschäftigungen
mit Poetik für seine Entwicklung gehabt haben, will es mir doch scheinen,
als entsprange manches mehr dem schriftstellerischen Instinkt P.—s als
theoretischen Erwägungen. Gerade hier einmal tiefer zu analysieren, wie
weit der Verstand und wie weit das Gefühl zu Worte kommt, wäre bei Prus
von großem Interesse, der ja einen so starken Gegensatz beider in sich aus-
zugleichen suchte. Ich habe dabei das Gefühl, als ob solche rein ver-
545
standesmäßig angewandten Mittel, wie diese Aufzeichnungen des braven
Rzecki, mit ihrer ganzen Gewalt samkeit zu den schwächsten Seiten des
Romans gehörten. Andererseits möchte ich nicht gern dort, wo Ver-
knüpfungen so leicht und natürlich sind, wie bei der Zusammenführung
Wokulski’s und Ochocki’s auf dem Boden der allen Positivisten doch so
naheliegenden Wissenschaft, die bewußte Anwendung eines schriftstelle-
rischen Mittels schen. Soweit die sach iche Seite des Buches.
Was das Formelle anlangt, so vermisse ich eine klare Stellungnahme
zur Literatur des Gegenstandes. Diese spricht sich schon im Fehlen einer
Vorrede über Zweck und Ziel des Buches aus. Es ist aber weiterhin im
Verlauf der Darstellung oft nicht hinreichend hervorgehoben, welche Ge-
danken hier erstmalig entwickelt und welche nur wiederholt werden. Daß
z. B. P.-s Enttäuschung mit der Redaktion der „Nowiny“ so wesentlich
für die Problemstellung und Konzeption der Lalka war, ist zwar einleuch-
tend dargestellt, jedoch ohne genügenden Hinweis darauf, wie weit diese
Auffassung neu ist — und da Wiodek die Krisis der „Nowiny“ nicht so
wertet, ware hier wohl eine Atmane eung darüber am Plaķe gewesen.
Wenn also die Schrift auch nicht klar darlegt, wie sie selbst in der Prus-
Literatur eingeordnet zu werden wünscht, so ist doch andererseits die Dar-
stellung klar und flüssig. Gerade die treffliche Analyse des Ideengehalts
der Lalka im Hinblick auf die Psychik und die Lebensauffassung des
Schriftstellers wird ihr neben dem Buche von Wlodek einen ehrenvollen
Platz in der Prus-Literatur sichern.
Breslau. Erwin Koschmieder.
AdamLewak: Katalog rekopiséw Bibljoteki Narodowej. 1. Zbiory
Bibljoteki Rapperswilskiej. T.1(1—1314). — Bibljoteka Jarodowa.
Warszawa 1929. str. XX—507. (Handschriftenkatalog der Rap-
perswilschen Sammlungen in der Nationalbibliothek Warschau.
Erster Teil. Nr. 1—1314. Bearbeitet von Dr. Adam Lewak.)
Während der großen Emigration nach dem Novemberaufstande wurde
zu Rapperswil in der Schweiz ein polnisches Nationalmuseum g
um ein Asyl fur nationale Heiligtümer und Denkmäler zu schaffen. Hier
wurden im Laufe vieler Jahrzehnte Archive verschiedener Persönlichkeiten
und Institutionen der Emigration nach beiden Aufständen, Korrespondenz,
Dokumente ctc. deponiert, und auf diese Weise entstand eine ansehnliche
Sammlung. welche hauptwichtige Quellen für die poln. Geschichte des
19. Jahi h. besaß. Im Jahre 1927 ist die Sammlung nach Warschau übergeführt
und in der Militar-Zentral-Bibliothek deponiert worden. Dann werden die
Bücher und Archivalien der großen National-Bibliothek einverleibt. Der
neu herausgegebene Handschriftenkatalog gibt uns schon jetzt die Möglich-
keit, die reichhaltigen Schäbe der Rapperswiler Kollektion auszunüßen, und
wir hoffen, daß dies als natürliche Folge eine große Belebung der neuesten
Geschichtsforschung nach sich ziehen wird. i
Den Grundstock der Sammlungen bilden die Handschriften, die Kor-
respondenz und allerlei historische Materialien des gelehrten Emigranten
Leonard Chodzko, der eine große Kollektion historischer Dokumente ge-
sammelt hatte. Die Akten beginnen mit dem Jahre 1657 und enden mit dem
Aufstande v. J. 1863. Natürlich ist das 19. Jahrh., d. h. die Zeit der Freiheits-
kampfe und der Emigration, am besten verireten, da Chod2ko an diesen
Ereignissen selbst teilgenommen hat. Die Sammlung des Chodzko und
reben ihr die Korrespondenz und die Papiere von Lelewel, Ostrowski,
Mierostawski, Oksza-Orzechowski und anderer Persönlichkeiten, das Archiv
der polnischen Legation in Paris, verschiedener Komitees in den Jahren
1830 und 1863, der polnischen demokratischen Gesellschaft, verschiedener
Organisationen in Frankreich, England, Belgien und der Schweiz bilden den
bedeutendsten und wichtigsten Teil der Rapperswilschen Handschriften.
Ganze Geschlechter opferten dem Museum bereitwilligst ihre Andenken.
Alles, was in der Heimat vor den Augen der Polizei sich hüten mußte,
544
wurde in Rapperswil abgegeben, um der nationalen Pielät und Wissen-
schaft zu dienen. Deshalb besiben wir hier historische Quellen, die
meistens im Auslande entstanden und deshalb der Zensur der Teilungs-
mächte ausgewichen sind. Die besondere Wichtigkeit des Zeitalters der
Emigration besteht in der großen Umwälzung der politischen und sozialen
Ideen unter dem Einflusse der radikalen Kreise Englands, Deutschlands
und Frankreichs, was dem alten polnischen Wesen neuzeitliche, demokra-
tische Formen verliehen hat. Davon können wir auch die Bedeutung der
Sammlung herleiten. Das ganze Material ist zwar sehr lückenhaft, was von
dem Charakter seiner Provenienz abhängt, da es keine organisierten Archive
waren und die geheimen Gesellschaften ihre Papiere oft vernichten mußten.
Der Verfasser des Kataloges, der seit mehreren Jahren daran gearbeitet
hatte, mußle das Material dem Provenienzprinzip nach neu ordnen und
dann sorgfältig beschreiben. Die Methode, die er dabei benubte, kann
man eine persönliche nennen, es wurde nämlich die Aufsuchung der
Personennamen in den Vordergrund der Beschreibungszwecke gestellt.
Die Vornamen fehlen, da sie überhaupt kaum feststellbar waren. Auch
was die Daten anbelangt, müssen wir größere Vorsicht gebrauchen, weil
nur die Faszikeln datiert sind und die einzelnen Aktenstücke und Briefe
keine Zeitangaben besiken. Manche Handschriften, welche z. B. politische
Angelegenheiten berühren, dürften genauer beschrieben werden. Im all-
gemeinen ist das Material chronologisch geordnet, obzwar es nicht streng
durchgeführt sein konnte, da es mit dem Provenienzprinzip kollidierte. Der
l. Band, den wir jetzt erhalten haben, umfaßt die Zeit bis 1865: es werden
sich dort aber auch spätere Akten finden, die einer größeren Kollektion
angehören, z. B. die Papiere des Mierosławski, welcher während der ganzen
Emigration tätig war und auch zum Diktator des letzten Aufstandes
erwählt wurde.
Wir haben den Katalog ausführlich beschrieben, weil wir den Wert der
Rapperswiler Sammlung hoch zu schätzen wissen, und zwar nicht allein für
die polnische Geschichte, sondern auch für die der anderen slavischen
Völker und auch der westeuropäischen Demokratie, welche in steter Ver-
bindung mit der polnischen Emigration der Jahre 1830—1863 stand und sich
egenseitig beeinflußten. Deshalb ist die genannte Sammlung eine wichtige
uelle fur die Geschichte der revolutionären Bewegung dieser Zeil.
Lemberg. Kazimierz Tyszkowski.
ZEITSCHRIFTENSCHAU
JUGOSLAVIEN
lovanN. Tomić: Kad je i s kojim smerom osnovana slovenska
štamparija Dimitrija Teodosija u Mlecima? — Istorijska istraži-
vanja. — Glas SKA CXXXIII, Beograd 1929, S. 27—73.
Geraume Zeit, bevor die österreichischen Serben von ihrer Regierung
die Bewilligung erwirkten (1769), wurde in Venedig mit Zustimmung der Re-
gierung von dem venet. Staatsbürger griech. Abkunft Demetrio Teodosio
eine slavische („griech.-orthodoxe“) Druckerei gegründet, deren Verleger-
fatigkeit auch für die weltliche Literatur der Serben in der zweiten
des 18. Jahrh. von größerer Bedeutung wurde (vgl. J. Skerlić, Srpska
knjiZevnost u XVIII veku, B. 19232, S. 90/91). Als Gründungsjahr wurde in
den Literaturgeschichten bisher 1758 angeführt). Verf. ist nun aber im Laufe
seiner Nachforschungen im Venet. Archiv nach langem, vergeblichem Suchen
fast zufällig in den Akten der inquisitori di Stato auf zwei Schriftstücke
(Kopien) gestoßen, die die bisherige Datierung hinfällig machen. Aus dem
ersten (Senatsbeschluß v. 5. April 1755) geht hervor, daß Teodosio noch in
der ersten Hälfte d. J. 1755 um die Genehmigung angesucht halte, in Venedig
eine Druckerei zu errichten, in der er für die Bedürfnisse des Volkes m
Bosnien, Serbien, Bulgarien, Ungarn und der Wallachei Bücher mit „illyrı-
schen“ Lettern drucken wollte. In seinem Beschluß erklärt sich der Senat
aus handelspolitischen Rücksichten (Hebung des Buchdruckergewerbes und
Förderung der Bücherausfuhr) grundsätzlich einverstanden. Das zweite
Schriftstück?) enthält die endgültige Entscheidung der Paduanischen Re-
formatoren als der hierfür zuständigen Behörde (1. Okt. 1755), die erst im
Januar 1756 vom Senat bestätigt wurde.
Teodosio’s Unternehmen wurde bisher als ‚einen Privatunternehmen an-
gesehen (Skerlić, a. a. O.). Verf. findet nun, daß die venet. Regierung bei
dieser Gründung besondere staats- und kirchenpolitische Zwecke verfolgte
und daß die starke Hervorhebung des wirtschaftlichen Gesichtspunktes in
dem Beschluß des Senates nur dazu diente, den wahren Sachverhalt und
die eigentlichen politischen Absichten zu verschleiern. Verf. schildert ein-
gehend die Entwicklung der russischen Propaganda im dalmat. Küsten-
gebiet, die von Montenegro aus namentlich mittels russischer kirchlicher
Literatur betrieben wurde. Gerade nach der Rückkehr des montenegr. Me-
1) Diese Jahreszahl verdanken wir P. Solarié (Dominakr..., Venedig
1810). Es liegt aber auch hier eine durch St. Novaković verschuldeie Un-
genauigkeit vor: Solari& sagt nämlich ausdrücklich von Teodosio: „vozna-
meri okolo 1758 goda sam za sebe Peéatnju sooruZiti...“ Novaković
unterdrückte dieses „okolo“, und die dadurch entstandene Ungenauigkeit
ging aus seiner „Gesch. der serb. Lit.“ in die späteren Literaturgeschichten
über.
2) abgedr. S. 35.
2) abgedr. S. 36.
546
tropoliten Vasilije Petrovié aus Rußland (Sept. 1754) machte sich diese
opaganda noch stärker denn vorher bemerkbar. Jahrelang hatten auber-
dem kirchliche Kreise auf die Republik ihren Druck ausgeübt, um sich im
Kampfe gegen die Schismatiker energischere Unterstiijung zu sichern. Am
4. Sept. 1754 hatte Kardinal Valenti dem Gesandten Venedigs ein Schreiben
des Papstes Benedikt XIV. überreicht, worin dieser u. a. die Säuberung der
dalm. Klöster und Kirchen von moskovitischen Büchern verlangt und die
Gründung einer slavischen Druckerei in Padua (unter kirchl. Leitung) anregt.
t sich nun der venet. Regierung Gelegenheit, mit der Gründung von
Teodosio’s Druckerei sowohl den Wünschen des Päpstlichen Stuhles in weit-
gehendem Maße entgegenzukommen und zugleich durch Ausmerzung aller
für die Republik nachteiligen Stellen in den orthodoxen Büchern die eigenen
innerpolitischen Interessen zu wahren und der Rußland-Propaganda Einhalt
zu tun. Der Wirkungskreis des neuen Unternehmens war also an erster
Stelle auf die venet. Provinzen mit orthodoxer Bevölkerung berechnet; daß
dieselben im SenatsbeschluB nicht namentlich angeführt werden, ist
wiederum aus dem Streben der Regierung erklärlich, die wahren politischen
Absichten geheim zu halten.
Das Unternehmen hat zwar die an dasselbe besonders von kirchl. Seite
gestellten Erwartungen nicht erfüllt; aber es hat während der ganzen Zeit
seines Bestehens nach außen hin den Anschein eines rein privaten, aul
kaufmännischer Grundlage errichteten Unternehmens bewahrt.
Belgrad. A. Schmaus.
Pavle Popovié: Milovan Vidaković — Godišnjica Nikole Cupiéa
XXXVII (1928), 327—436; ebdt XXXVIII (1929), 70— 2301).
Der Belgrader Literarhistoriker Pavle Popovié gibt uns hier die erste
ausführliche Monographie über den „Vater des serbischen Romans“. Die
Vorarbeiten waren gering. Für die Biographie V. standen außer der nur
die Kindheitsgeschichte umfassenden Selbstbiographie (Glasnik 1871) — die
übrigens auch als kulturgeschichtliches Dokument Beachtung verdient — die
Aufzeichnungen J. Ignjatović (Djela l, Novi Sad 1874, 270) zur Verfügung.
Von kritischen Würdigungen verdient außer Vuks bekannter Kritik (1817)
noch immer die Charakteristik von J. St. Popović (Južna Péela, knjiž. dod.
1852, 106/7) ob ihrer Objektivität hervorgehoben zu werden?). Wertvoll ist
die Abhandlung J. Scherzers (Nastavni Vjesnik 1902), der im Volksbuch
vom Kaiser Oktavian das Original zu V.“ Roman „Kasija carica“ ausfindig
gemacht hat. Scherzer wies in diesem Zusammenhang auf Beeinflussung
durch die dt. Romantik hin. Von Interesse waren auch seine Feststellungen
über wesentliche Abweichungen in V.’ Bearbeitung: Verlegung der Schluß-
szene nach Montenegro (wie schon früher im „Velimir“ und „Ljubomir‘) und
Hineintragen des starken didaktischen Elements, das dem Volksbuche fremd
ist, aber für V? Werke eines der Hauptkennzeichen bildet. Scherzer befand
sich aber im Irrtum, wenn er meinte, auf dem gleichen Wege auch zu den
Vorbildern der übrigen Romane gelangen zu können. Schon D. Kostié hat
dies (Delo VII (1902), 154/5) fur aussichtslos erklärt, für V. „Ljubomir“ aber
auf Wieland („Agathon“) hingewiesen.
Was es also an Vorarbeiten gab, war völlig ungenügend. Nicht einmal
eine Biographie V. war vorhanden. Das Material dazu mußte erst mühsam
zusammengelesen werden. Verf. ist es jedoch gelungen, uns auf Grund oft
scheinbar nichtssagender Angaben, des spärlichen Archivmaterials, der Vor-
reden zu V. Werken eine ausführliche, wenn auch nicht ganz lückenlose
1) Der bisher erschienene Teil umfaßt Vidaković Leben und Schaffen
bis zum J). 1823. Der dritte Teil erscheint 1930 wiederum in GNC.
2) Von anderen Beiträgen ist der P. Markovié-Adamovs (Srpska Zora
1880) ohne Wert; die Abhandlung von M. Pejinovié (Nada, Sarajevo, 1898)
enthalt zwar viele gute Einzelbeobachtungen, ist aber als Ganzes weder
systematisch noch kritisch genug.
547
— für einzelne Studienjahre fehlt das Material fast gänzlich — —, 30 dock
ungemein reichhaltige Biographie zu schenken, die über V. Lebensschick-
sale, Charakter, Bildungs möglichkeiten und Bildungsgang, persönliche Be-
ziehungen und gesellschaftliche Verhältnisse helles Licht verbreitet.
Noch wichtiger ist die Arbeit des Verf. als erste zusammenhängende
Darstellung von V. literarischem Entwicklungsgang, den Einflüssen und Vor-
bildern, die für sein Schaffen maßgebend werden konnten, dem Gehalt an
persönlichen und Zeitideen und der geschichtlichen Herkunft der lefteren.
War es doch bisher unmöglich, sich ein auch nur annähernd richtiges Urteil
über V. Originalität zu bilden, da die fremden Einflüsse zu wenig unter-
sucht und nicht vom Eigengut geschieden waren.
Was V. zum Schriftstellerberuf drängte, war der Zug der Zeit, dıe noch
ganz von Dositejs Grundtendenz beseelt war, mit allen Mitteln, vor allem
aber mit Hilfe des Buches an der Aufklärung und kulturellen Hebung des
on zu arbeiten. Zeitlebens ist auch V. von der Tendenz, zu lehren und
1 predigen beherrscht. Eine Generation mit dieser erzieherischen Ein-
stel ung zu den gesamten Kulturproblemen hatte vor allem die heran-
wachsende Jugend im Auge. Ihr war auch V. Erstlingswerk, die in Zehn-
silbern abgefaßte „Geschichte vom schönen Joseph“ (1805) zugedacht. Ein
bezeichnender Auftakt sowohl der Wahl des Stoffes als auch der Form nach.
Das gleiche Thema war schon 1804 von V. Rakić bearbeitet worden; in
sorgsamer Analyse stellt jedoch Verf. fest, daß V. im Verhältnis zu Rakić
völlig originell ist. Gewisse Züge seiner literarischen Manier (Vorliebe für
Monolog und Dialog) sind schon hier vorgezeichnet.
Besonders wichtig ist die Feststellung des Verf., daß die beiden ersien
Romane V. (Usamljeni juno3a 1810; Velimir i Bosilika 1811) nicht nur im
Schema des Aufbaus, sondern auch sonst (Schauplab der Handlung, Rolle
der Verkleidungen) ganz nach dem Typus des spätgriech, sog. ,sophish-
schen“ Romans gearbeitet sind. Als unmittelbares Vorbild kommen wohl
irgendwelche Ausläufer des deutschen Rifterromans in Betracht, der vom
Verf. reichlich zu Vergleichszwecken herangezogen wird.
Im Gegensatz dazu steht V’ Hauptwerk, der dreibändige Roman „Lju-
bomir u jelisijumu“ (1814, 1817, 1823). Derselbe deckt sich zwar inhaltlich
auf weite Strecken hin mit dem Abenteuer- und sog. Prüfungsroman und
enthält sogar eine Robinsonade:). Es ist ein biographischer Abenteuer-
roman, der aber im Grunde als Erziehungsroman gedacht ist, in welchem
V. seine Welt- und Gesellschaftsanschauung, vor allem seine pädagogischen
Ansichten darlegt. Verf. betont die weitgehende Ähnlichkeit einzelner Teile
mit Marmontels „Belisaire“. Ein Vergleich mit Wieland und Rousseau führt
zu negativem Ergebnis. Wiederum scheinen die eigentlichen Vorbilder V.
abseits von der breiten Straße der Weltliteratur zu liegen. Anderseits ent-
halt das Hauptwerk V. so viel persönliches und nationalgeschichtliches Ma-
terial, daß dieser Roman origineller zu sein scheint, als man bisher anzu-
nehmen geneigt war.
Alle die genannten Romane sind historische Romane, die in verschie-
denen Epochen des serb. Mittelalters spielen. Das ist das Hauptverdienst
und der originellste Zug seines Schaffens. Dem historischen Element
geht Verf. bis in die kleinsten Einzelheiten nach und kommt überall zu dem
Schlusse, daß an erster Stelle J. Rajić’ Geschichtswerk (1794/5) die Quelle
bildet. Von ıhm übernimmt V. nicht nur das stoffliche Wissen, sondern auch
Gesamturteile über Ereignisse und Personen der nationalen Vergangenheit.
V.“ Helden sehen die geschichtlichen Vorgänge mit Rajit’ Augen, denken
und urteilen darüber wie Rajić selber. Für den geographischen Teil von V.
Romanen kommt vor allem Solarié „Geographie“ (1804) in Betracht. Da-
neben haben aber auch die anderen Vertreter der damaligen serb. Literatur.
vornean natürlich der seine Zeit weit überragende Dositej, ein gut Teil zu
V.“ Wissen und Weltanschauung beigesteuert. Verf. gelangt hier überall zu
1) Vgl. Verf., Vidaković, Schnabel, Schiller (Strani Pregled, Jg. 1, Nr. 2, 144).
548
——— — ——
— — — — — — = 3
neuen, wertvollen Erkenntnissen, die uns zum erstenmal die Entstehung und
Zusammensekung von V? Mosaikwerk verständlich machen.
Mit gleicher Sorgfalt wie das historische wird auch das persönliche
Moment in V’ Romanen herausgelöst. V. hat nämlich sehr viel an Eigen-
erlebnissen als lit. Stoff verwertet. Interessant ist mit dem Verf. zu ver-
folgen, wie sich gerade V? Kindheitserlebnisse mit größter Zähigkeit in
seinem Gedächtnis behaupten und immer wieder ins lit. Schaffen herein-
spielen. Sehr bezeichnend ist es, daß die Landschaften in V? Romanen
durchweg das Gepräge der Sumadija-Landschaft, des Kosmaj, also seiner
engsten Heimat tragen, obwohl sie der Autor nach seinem 8. Lebensjahr
nicht mehr gesehen hat.
Im Stil weist Verf. den Einfluß Dositejs nicht nur in der Wortwahl,
sondern sogar in der Sakmelodie nach.
Was die weltanschauliche Grundlage von V. Werk angeht, überragt V.
seine Zeit nicht. Wie diese ist auch er selber naiv und unkritisch. Obwohl
er spez. den hist. Roman pflegt, mangelt ihm jeder Sinn für historische
Perspektive. Sein Bild des „heroischen“ serb. Mittelalters spiegelt in Wirk-
lichkeit ein unheroisches, platt-burgerliches Gesellschaftsideal wider, welches
das Heroische durch das Abenteuerliche ersetzt. Abenteuerliches und Sen-
timentales, Wirklichkeits- und Lebensferne in Denken und Fühlen, ergänzen
sich gegenseitig. Dem Zuge der Zeit, die sozusagen noch immer im
Schatten von Dositejs großer Gestalt steht, entspricht auch das starke
moralisatorische und pädagogische Moment in V. Werk. Nur wirkt es hier
oft platt, weil V. die großen Fähigkeiten mangeln, durch die es Dositej
gelang, sein Aufklärungsideal zu so allgemein-menschlicher Höhe zu er-
heben. Daß all das Abenteuerliche und Phantastische, das in V. Romanen
wuchert, nicht etwa einem irrationalen Bedürfnis entgegenkommt, sondern
der Unterhaltung dient, wird am besten daraus ersichtlich, daß V. nach-
träglich alle wunderbaren oder gespensterhaften Erscheinungen auf ganz
natürliche Weise erklärt und durch seine Romane sozusagen die Nicht-
existenz des Übernatürlichen zu demonstrieren sucht. Sein unbestreitbares
Verdienst bleibt aber, daß er das Interesse der Zeit auch im Roman auf
die nationale Vergangenheit gelenkt hat.
Belgrad. A. Schmaus.
Dr. Mita Kostić: Dositejev prevod Kiriakodromiona — Prilozi
VIII, 1928, S. 245.
Obwohl niemals jemand das Buch zu Gesicht bekommen hat, galt es
für die meisten Literarhistoriker auf Grund der Angaben Kopitars (Jagić,
Briefwechsel... S. 143; Kl. Schr. 119) als ausgemacht, daß 1796 in Venedig
wirklich Dositejs Übersetzung von des Theotokis »voraxododwo» unter dem
Titel „K. ili tolkovanie voskresnych evangelij“ erschienen ist (vgl. Skerlić,
Srpska knjiž. u XVIII veku, B. 1923, 266). Nur von D. Ruvarac wurde noch
1911 das Bestehen dieser Übersekung in Abrede gestellt.
Verf. hat im Patriarchats-Archiv in Karlovci einen gedruckten Prospekt
gefundent), worin aus Triest unterm 15. Aug. 1802 „der ganzen serb. Nation
zur Kenntnis“ gebracht wird, daß ein dortiger Serbe die nötigen Geldmittel
zur Verfügung gestellt und die Predigten des Theotokis nach der Moskauer
Ausgabe (1796) in den eigenen serb. „Dialekt“ übersetzen ließ; daß man
nunmehr nur noch die Einwilligung des Metropoliten beir. Zulassung des
Buches in den ihm unterstellten Kirchen zu bekommen wünsche. | 8
Die von Stratimirovié oder vom Synod in dieser Angelegenheit gefällte
Entscheidung war leider nicht aufzufinden.
Im Zusammenhang mit Kopitars Angaben folgt aus dem Prospekt:
Dositej hat in Triest, wo er seit Sommer 1802 bis Juni 1806 weilte, auf
Kosten eines dortigen Serben das xvoraxoöpduıor ins Serbische übersebt; er
1) abgedr. S. 246.
549
seiber oder sein Geldgeber hat sich mit einem Gesuch im obigen Sinne an
Stratimirovié gewandt. Von diesem ist die Erlaubnis aber verweigert worden,
und so ist es zur Drucklegung des Werkes überhaupt nicht gekommen.
Belgrad. A. Schmaus.
Umberto Urbani: Ante Tresić-Pavičić. — Rivista di letterature
slave. 3, 4—6 (1928), S. 386—402.
Wenn nicht der Weltkrieg ausgebrochen wäre, würde Tresi¢-Pavicic
wahrscheinlich in Italien der am meisten bekannt gewordene jugoslavische
Dichter geworden sein. Dic vom Verlag Treves am Vorabend des Krieges
als bevorstehend angezeigten Veröffentlichungen der vier Dramen unter
dem Gesamttitel „Finis Reipublicae“ würden die allgemeine Aufmerksam-
keit auf sich gezogen haben, denn gerade das erneute Italien wäre im-
stande, den jugoslavischen Dichter vollauf zu würdigen, welcher mit den
Manen eines Cäsar, Brutus u. a. Zwiesprache gepflogen. Es ist von der
Kritik hervorgehoben worden, daß in dieser Tetralogie nicht nur die mensch-
lichen Leidenschaften der alten Zeiten zu vollster dramatischer Entfaltung
gebracht worden sind, sondern daß auch die soziale und geschichtliche
Entwicklung Altroms in ihnen auflebt. In dem von U. * ebenen Lebens-
bild von Tresié, ebenso wie in der Datierung seiner Werke, stören leider
mehrfach Unstimmigkeiten der Daten. Tresié ist, ungeachtet seiner vielen
Reisen durch die Alte und Neue Welt, nicht zum Kosmopoliten und zum
Nachbeter modernen Geistes geworden. In der Dichtung von den ely-
säischen Feldern spricht Tresi¢é offen seine Gedanken über die Brutalität
der modernen Zeit aus, und in seinen, Katakomben von Paris genannten,
Bildern spricht tiefes Entsetzen über das neue Babel, dessen Schönheiten
nur erkauft sind durch Schweiß und Tränen der Masse. Das sind die stärk-
sten Eindrücke, die Tresié aus Frankreich mit fortgenommen hat.
Ganz anders waren die Eindrücke, die er in einer italienischen Reise
gewonnen. Während die junge Generation der Kroaten und Slovenen sich
in Disputen darüber verliert, ob man sich in der Richtung auf Paris oder
Berlin hin zu entwickeln habe, und während die sozialen Tendenzen viele
auf Moskau und sein Evangelium hinhorchen lassen, spricht gegenwärtig
niemand von der italienischen Kultur, welcher die Muse eines Mazuranid,
Preradovié und anderer so viel zu danken hat. Tresie dagegen hat be-
griffen, daß zwischen slavischer und lateinischer Welt eine volle Harmonie
möglich wäre. Für ihn (und wahrscheinlich auch für Urbani) ist die slavische
Seele schlechthin noch immer bloß als ein Hort des Friedens anzusehen, seinem
Urteil nach hätten die Slaven das ganze germanische Mittelalter entbehren
können, nicht aber die Zivilisation der griechisch-römischen Welt. U. er-
wähnt die Versuche der near Dichter, klassische Metren in
ihre Dichtung einzuführen. Tresić ging uber das früher Versuchte hinaus,
indem er klassische Metren sogar in Strophen mit Endreim einführte und
auf diese Weise eine ausgezeichnete Vereinigung der Vorzüge klassischer
und moderner Dichtung erzielte.
Die gegen Tresié erhobenen Vorwürfe, daß er Carducci imitiert, sind
von Ante Petravié in seinen „Nuovi studi e ritratti“ (1910) zurückgewiesen
worden, er hat vielmehr gewisse Einflüsse von Leopardi und Foscoli da und
dort zu finden geglaubt. Übrigens hat Tresié selbst sich darüber geäußert,
inwieweit er durch Klopstock, Platen, Goethe und Carducci inspiriert
worden ist. Bei der Anwendung antiker Versmaße im Kroatischen hal
Tresié ein besonders feines Gefühl bewiesen. Er hat einige Gesänge aus
der „Divina commedia“ im Elfsilber übersetzt, nicht in dem dafür unge-
eigneten Zehnsilber. Wenn die römischen Dramen des Tresic erst in Italien
bekannt geworden sein werden, dann wird man seine bis ins kleinste gehende
Kenntnis der lateinischen Dichter und des altrömischen Lebens bewundern.
Tresié hat auch begriffen, daß die Republik, welche Porzia reiten wollte,
nicht mehr den Geist der alten römischen Demokratie in sich trug und sich
selbst zum Tode verurteilt hatte. Wenn man bedenkt, daß die römischen
550
6ꝶ3ꝙ5·˙ddññ ë
Dramen des Tresié den Zweck hatten, seine Nation gegen die Habsburgische
Tyrannei aufzustacheln, könnte man meinen, daß er der Führer der kroati-
schen Jugend hatte werden müssen. Tresié war aber nicht zu Kompro-
missen mit den Sezessionisten und Dekadenten bereit, die um des lart
pour Part willen nichts wissen wollten von religiösen und moralischen
Idealen der Kunst, er hat als ein klassisch-moderner Dichter einen erbit-
terten Kampf gegen den Modernismus geführt. Die jugoslavische Lyrik der
Gegenwart huldigt ein wenig dem Expressionismus, ein wenig dem Supra-
realismus und der dynamischen Dichtung des Krleža und seiner Nachahmer.
Daneben sind es die Vertreter des „Barbarengenies“, welche die Freund-
schaft Lunacarskijs genießen, Marinetti verehren, sich aus Belgrad aus-
weisen lassen und verkünden, daß die europäische Zivilisation den Balkan
zugrunde gerichtet habe und daß, um zu einer neuen Zivilisation zu ge-
langen, Europa balkanisiert werden müsse. Die kroatische Lyrik wird trob-
dem wohl zur Lyrik des vereinsamten Tresié-Pavicié, der noch heute an
die Musen glaubt, zurückkehren. Emmy Haertel.
Josef Mati: Br. Vodnik als Literarhistoriker. Ein Beitrag zur
Methodik und Geschichte der neueren südslavischen Literatur-
wissenschaft. — Slavia 7, 1 (1928), S. 87—110 u. 7, 2, S. 321—358.
Vodnik ist nach Inhalt und Umfang seiner wissenschaftlichen Tätigkeit
wesentlich Literarhistoriker. Hier war seine Tätigkeit eine außerordentlich
mannigfaltige: Monographien und Gesamidarstellungen rein wissenschaft-
licher Natur, aber auch ein popularisierendes Wirken, in Form kritischer
Einleitungen zu Meisterwerken der kroatischen Literatur zum Schulgebrauch
usw. Branko Vodnik hat die Sammlung „Odabrana djela“ redigiert und
die „Hrvatska Citanka za više razrede srednih škola“ zusammengestellt.
Im Mittelpunkt seiner Interessen steht die dalmatinisch-ragusäische Literatur
und der Preporod, die kroatische Romantik.
In „Prvi hrvatski pjesnici“, wo vornehmlich die Renaissance-Epoche im
dalmatinischen Geistesicben dargestellt wird, sind es vor allem Marulić und
Lucić, die als hre Hauptreprasentanten dargestellt werden. Unter den
ragusäischen Dichtern war es Vučićević, dem er eine besondere Studie
widmete. Ferner hat Palmotić, als Vertreter des Barocks und der Gegen-
reformation, Vodniks besondere Beachtung gefunden, wobei in der Unter-
suchung, wie weit Gundulić auf Palmoti¢é eingewirkt, auch die Osmanfrage
neu untersucht wird. Vodnik kommt zu dem Schluß, daß Gundulié sein Epos
acht Jahre vor seinem Tode bis zu dem Grade der Vollendung gebracht,
wie es jekt vorliegt, und später nicht mehr daran gearbeitet hat. Warum
das Werk unvollendet geblieben, laßt auch Vodnik unbeantwortet. — Ein-
gehend hat sich Vodnik für die so unvermittelt einsetzende Blüte der slavo-
nischen Literatur interessiert und in „Slavonische Literatur im XVIII. Jahr-
hundert“ als erster die Hauptstromungen dieser Epoche herausgearbeitet.
Er gab ferner aus einer handschriftlichen Sammlung der Agramer Universitäts-
bibliothek die Gedichte der Gräfin Patačić mit kritischen Bemerkungen her-
aus, untersuchte die Zusammenhänge zwischen Brezovacki und Kačić und
brachte aus verschiedenen Archiven das Material zur Biographie des be-
deutendsten kajkavischen Dichters, Brezovacki, zusammen. — Das Haupt-
interesse seiner gesamten Tätigkeit hat Vodnik jedoch dem Illyrismus zu-
gewandi. Er vertrat hier die Anschauung, daß zu ihrem Verständnis
unbedingt die gründliche Untersuchung der voraufgehenden Epoche erforder-
lich ist, die Idee einer einheitlichen serbokroatischen Schriftsprache sei nicht
erst im 19. Jh. vom Himmel gefallen. Innerhalb dieser vorbereitenden Epoche
hat Vodnik Legatié und Starčević die ihnen gebührende Stellung eingeräumt.
Die Studie über Mihanovié ist zu einem Zeitbild erweitert. Eine allscitige
Darstellung des Preporod enthält Vodniks größte Studie „Stanko Vraz“
(Zagreb 1909). Der Illyrismus galt Vodnik als die ethischeste und moralisch
stärkste Idee des gesamten Preporod, daher seine Bevorzugung dieser
Epoche, obgleich sie gerade von anderer Seite schon vielfach untersucht
551
worden war, aber allerdings niemals vorher mit einer derartigen systema-
fisch geistesgeschichtlichen Einstellung wie bei Vodnik. Vraz war nach
Vodniks Meinung der stärkste kroatische Idealist des 19. Jhs. In seinem
Werk über ihn hat Vodnik zahlreiches unveroffentlichtes, handschriftliches
Material herangezogen aus den Bibliotheken von Laibach und Agram und
aus mündlichen Mitteilungen z.B. von Maretić. Innerhalb dieser Vrazstudie
befindet sich eine geradezu monographische Untersuchung der ersten kroa-
fischen Literatur zeitschrift „Kolo“. Die monographische Einleitung zu den
„Runje i Pahuljice“ des Kurelac dient der weiteren Aufhellung einzelner
Strömungen der Epoche. eer
In der Epoche des Absolutismus ist es die Studie über Starcevié, die
wieder auf breitester Basis des Zeitbildes die einzelne Persönlichkeit in
die Literaturgeschichie hineinstellt. Auch hier fast monographische Unter-
suchungen über die Zeitschrift „Zora dalmatinska“. Nächst der Vrazstudie
ist es die Arbeit über Preradović, welche Mati für die beste Leistung
Vodniks halt. Vodnik stellt ihn als den Interpreten der tiefsten Empfin-
dungen des kroatischen und slavischen Seelenlebens dar. Die Monographie
über Palmovié rollt wieder das Zeitbild der siebziger Jahre in seiner Breite
auf, hier werden die Jugendzeitschriften ,,Smitje“ und „Zvijezda“ in ihrer
Bedeutung dargestellt und die Anfänge des kroatischen Realismus unter-
sucht. In der Studie über Marković ist es vornehmlich die Kulturarbeit der
Ara Stroßmayer-Racki, welche in der Zeit des ausgehenden Absolutismus
das Hauptinteresse Vodniks gefunden, daneben sind zusammenfassende
Bemerkungen über die Idylle in der neueren kroatischen Literatur bemer-
kenswert. Leider ist Vodnik, der 1926 unerwartet starb, nicht mehr dazu
gekommen, die systematische Erforschung der achiziger und neunziger
ans der Epoche des kroatischen Realismus, abschließend zu bearbeiten.
nter den Realisten hat Vodnik besonders Kozarac interessiert.
Der serbokroatischen Volksliteratur hat Vodnik zwar keine größere
Studie gewidmet, aber aus seinen Einleitungen zu den „izabrane narodne
pjesme i junačke“ ist zu ersehen, daß er sich auch mit dieser Materie ein-
gehend beschäftigt hat. Besonders haben ihn die Beziehungen zwischen
Volks- und Kunstdichtung interessiert. Auch der geographischen Seite der
kroatischen Literatur, den Zusammenhängen zwischen den verschiedenen
Landesteilen mit kroatischer Bevölkerung hat er Beachtung geschenkt.
Ein besonderer Abschnitt ist den Ansichten Vodniks über die allgemein
herrschenden Methoden literaturwissenschafflicher Forschung gewidmet.
Vodnik, der vor allem den Geist der Epoche durchforscht schen will, hat
die meisten vorhandenen serbokroatischen Literaturgeschichten verworfen,
weil sie die alte philologisch-bibliographische Methode beibehalten haben.
Vodnik vermißt nicht nur die Zeitpsychologie in derartigen Werken, er ver-
langt auch ein kongeniales Erfassen der künstlerischen Elemente seitens
des Forschers und das Vorhandensein von künstlerischen Instinkten in ihm.
Auch die Form der literaturgeschichtlichen Darstellung bemängelt er in der
jugoslavischen Literaturwissenschaft, sie dürfe nicht sklavisch kopieren, was
ın anderen Literaturen üblich sei, sondern individuell eingefühlt sein je nach
der Natur des Volkstums. Er hat hier Murkos Geschichte der älteren süd-
slavischen Literaturen sehr begrüßt, weil sie diese Literaturen als Teil der
europäischen Kulturentwicklung begriffen hat. Matl untersucht darauf Vod-
niks eigene Methoden, zunächst die Art, wie er die literarische Persönlich-
keit herausgearbeitet hat. Er nennt bei Darstellung ganzer literarischer
Epochen nicht der Reihe nach ihre Schriftsteller, sondern hebt einzelne
heraus als Vertreter der Epoche oder einer gewissen Strömung in ihr,
andere läßt er dagegen zurücktreten. Zum Teil decken sich seine Anschau-
ungen mit denen Erich Schmidts, der nur Persönlichkeiten das Recht zu-
erkannte, in der Liferaturgeschichte voranzustehen, Vodnik kommt es vor
allem aber auf die Repräsentation der Zeitströmungen an. Solche Typen
greift er heraus. Er scheidet nicht nur in der moderneren Literatur die
Geister nach diesen Gesichtspunkten, sondern auch die der ragusaischen
Periode. Außerdem sichtet er scharf die wirklich künstlerischen Qualitäten
502
I, — — m | — — 9 — — — — — . .—
der einzelnen Dichter. In der Biographie will er das Unwichtige zurück-
treten sehen gegenüber dem Wesentlichen, nur so kämen die individuellen
Züge heraus. Auch soziale Gebundenheiten, das Haften im Beruf muß
beachtet werden. Der Schwerpunkt für ihn liegt aber in der Einstellung
der Persönlichkeit in die ideologische Entwicklung. So untersucht er bei
Marulić’ Weltanschauung den Konnex mit der mittelalterlich-scholastischen
Philosophie. Auch religiöse Wesensveranlagungen müssen grundsäßlich
herausgearbeitet werden. Vodniks Studie über Preradović halt Mail für
die tiefgehendste Analyse von Weltanschauung und Philosophie unter allen
seinen Lebensbildern der Dichter, weil gerade Preradovié als stärkster
jugoslavischer Ideendichter des 19. Jhs. zumeist nach der ideologischen Seite
hin untersucht werden mußte.
Die Stellung Vodniks dem literarischen Werk gegenüber begründet sich
auf die These Flauberts „L'homme n'est rien, Foeuvre est tout“. Bei ihm
stehen die Forderungen nach nationalem Gehalt und die künstlerische Ge-
staltung im Vordergrund. M. weist diese Tatsache nach an der Hand der
einzelnen von Vodnik verfaßten Dichtermonographien. Vodnik zeigt sich
hier als Anhänger der Masarykrichtung, als Modernist, welcher vor allem die
Widerspiegelung des modern-fortschrittlichen Lebens in dem dichterischen
fordert, aber andererseits soll der Dichter innerlich frei bleiben, und
nur seine eigene Seele solle sein Werk diktieren. Trotzdem gipfelt seine
Forderung doch im Bekenntnis zum literarischen Realismus. Es wird noch
einmal daran erinnert, daß Vodnik als Literarhistoriker nicht Feststellungen
philologischer Natur für das Wichtigste hält, sondern den allgemeinen
geistigen Grundlagen des Werkes zumeist nachspürt. Auch hierfür folgen
wieder Beweise bei Sichtung der einzelnen Studien Vodniks. Die Forderung
nach Erfassung der geistigen Strömungen hält er auch den historischen
Stoffen gegenüber aufrecht, sie werden von ihm auf Grundlage eingehender
geschichtlicher Studien bewertet. Die Übernahme bereits bekannter Stoffe
verwirft er nicht, wesentlich bleibe die dichterische Konzeption und ihre
künstlerische Gestaltung. Trob dieser hohen Bewertung der künstlerischen
Oestalt bleibt sie bei Vodnik doch zurück hinter dem Eindringen in den
Zeitgeist eines jeden Werkes. Das aufschlugreichste Werk in dieser Hin-
sicht scheint Mat! die Preradoviéstudie zu sein.
Dos literarische Milieu ist überall beobachtet bei Vodnik, auch da, wo
seine Arbeiten den Charakter von Monographien über eine einzelne Per-
sönlichkeit tragen; so hat er die Troubadourpoesie ebenso 55
lich durchdrungen wie den Humanismus. Beim Studium der europäischen
Renaissancebewegung merkt man den Einfluß von Taine und Brandes. In
der Vrazstudie findet. die Ideologie Kollärs eingehende Berücksichtigung,
die geistige Sphäre der fünfziger und sechziger Jahre spiegelt sich am deut-
lichsten in den Studien über Preradovié und Palmovié. Im allgemeinen
muß aber bemerkt werden, was auch schon von Murko bemerkt worden ist,
daß Vodnik seiner einseitig germanophoben Einstellung gemäß manche
Periode, z.B. die Aufklärungszeit in der slavonischen Dichtung, lückenhaft
und ungenügend bearbeitet hat, weil er & tout prix das deutsche Element
totschwieg. Als Masarykaner wendet er der allslavischen Idee in der
neueren kroatischen Literatur besonderes Interesse zu, der Wert der ein-
schlägigen Studien wächst dadurch über den Bereich der kroatischen
Literaturgeschichte hinaus. M. bemängelt gelegentlich der Ideen Vodniks
über die Aufgabe des neun welche bei der Preradovidstudie im
Vordergrunde stehen, daß unter den genannten russischen und polnischen
Dichtern nicht Dostoevskijs „Idiot“ usw. und Kireevskij genannt sind. Auf-
fallend ist es, auf welcher breiten Basis Vodnik das Literaturgeschichtliche
einer bestimmten Epoche beobachtet und darstellt. Er zieht hier als Ma-
terial die verschiedensten Literaturzweige mit hinein, wie Grammatiken,
Gebetbicher, Zeitungspolemiken usw.
Vodnik selbst als geistig literarische ‘Persönlichkeit muß als Glied der
kroatischen Generation zwischen 1895 und 1903 angesehen werden. Vom
Standpunkt des Fortschrittlers interessiert ihn das Erstehen des freien
555
Menschen in der Renaissance in hohem Maße, von hieraus betrachtet, bleib
seine Bewertung des dunklen Mittelalters als Ara der finstersten Reaktion
sehr einseitig und geistesgeschichtlich nicht haltbar. Nationalpolitisch steht
Vodnik auf dem Standpunkt der serbokroatischen Volkseinheit und der
jugoslavischen Idee. Er tritt ein für eine enge Verbindung von Wissenschaft
und Leben, seine Studien sind fast durchweg so gehalten, dab sie allen
Kreisen zugänglich sein werden. Aus seiner national-aktıvisti Em-
stellung heraus wird sein Haß gegen alles Österreichische verständlich. Er
hat aber aus diesem Grunde bei Beurteilung des Josefinismus historisch
nicht Einwandfreies geliefert und wird ungerecht.
Vodniks Stellung in der südslavischen Literaturwissenschaft zeichnet M.
auf Grundlage eines Vergleichs mit Marković und Srepel. Sein Hauptwerk
ist die Povijest hrvatske knjiZevnosti, sie ist die beste Darste der
alteren kroatischen Literatur. Vodnik zeigt sich hier in erster Linie Er-
forscher der kroatischen Romantik, der er als Zugehöriger zu einer realı-
stisch-kritischen Epoche mit dem scharfen Blick des Beobachiers gegenüber-
stehen konnte. Dabei wird aber nochmals auf den Mangel gerade dieser
Studie hingewiesen, der ihr anhaftet durch das Ausfallen der er forderlichen
Einbeziehung des deutschen Einflusses! Einseitig erscheint auch die Be-
merkung über den vorwiegenden Einfluß des Byronismus in der Poesie Ler-
montovs und PuSkins auf die game geistige Kultur Ruglands. Auch teilt
M. nicht Vodniks Meinung, daß sich bei den Serben die Romantik besonders
lange frisch erhalten konnte durch das phantastische orientalische Milieu.
Sehr interessant ist es, wie durch Vodnik die Geschichte der serbo-
kroatischen Schriftsprache mit hineinbezogen worden ist in die Literatur-
geschichte. Es ist dagegen zu bedauern, daß er nicht auch der bildenden
Kunst der Einzelepochen Aufmerksamkeit zugewendet hat, im Sinne Walzels.
Er hat sonst große Vielseitigkeit bewiesen, z. B. durch Einbezichu der
Generationentheorie, auch Keime einer ethnisch-genealogischen Ri
finden sich bei ihm und Sinn für Erkenntnis der Stammesindividualitaten.
Schließlich ist auch die wissenschaftliche Soziologie bei Vodnik berück-
sichtigt worden. Im Vergleich zu den übrigen Führern der 5
Literaturgeschichte laßt sich z. B. in bezug auf Murko sagen, daß lebierer
systematischer vorgegangen ist bei Betrachtung allgemein kulturgeschicht-
licher Faktoren, daß bei Vodnik aber die geistes- und ideengeschichi-
liche Seite der Entwicklung schärfer erfaßt ist. Popovié und dessen philo-
logischer Genauigkeit gegenüber muß Vodniks verfeinertes asthetisches
Empfinden hervorgehoben werden. Er hat für die Kroaten etwa dasselbe
getan wie Skerlić für die Serben. Hier verfolgt M. die Parallelen zwischen
der serbischen und kroatischen ron im einzelnen. Im all-
gemeinen muß zugegeben werden, daß in bezug auf die wissenschaftliche
Erforschung der nationalen Literatur Cechen, Polen, Russen und sogar Bul-
garen den Kroaten weit voraus sind. Vodnik hat innerhalb dieses Gebietes
etwa dieselbe Rolle gespielt wie Vilček in der Cechischen und Chmielowski
in der polnischen Literaturwissenschaft. Emmy Haertel.
Primo Fumagalli: La costituzione del Vidov-Dan. — L’Europa
Orientale. 8, 9—10 (1928), S. 283—306.
Fumagalli erinnert an die Entstehungsgeschichte der Vidov-Dan-Verfas-
sung in Jugoslavien und rollt den gesamten Verlauf der um sie geführten
politischen Kämpfe auf. Es handelt sich für ihn darum, dem Problem auf
den Grund zu gehen, welche Bedeutung für den serb.-kroat-sloven. Staat
seine Verfassung hat. Ihr Name allein sollte, nach Pasié, die Bejahung
der neuen Staatsidee sein. Er wollte die Bestätigung der Verfassung zum
Jahrestage der Schlacht am Kosovo pole zum 28. juni (neuen Stils), d.h. am
St. Veitstage, erreichen; der neue Staat sollte das Gegenteil = durch die
Uneinigkeit der slavischen Fürsten vor 500 jahren zugrunde gegangenen
darstellen: die Verbrüderung der Stämme durch das Amoslevische Staats-
ideal. F. stellt die Frage: entsprach die neue Verfassung diesem Ideal, und
554
war sie geeignet die in sie gesetzten Hoffnungen zu erfüllen, konnte sie
Völker, die in einem Augenblick des Enthusiasmus sich vereinigt halten,
dauernd durch juridische Normen zusammenhalten?
Serben, Kroaten und Slovenen hatten bisher niemals eine politische
Einheit dargestellt, auch ihre politischen Ziele waren nicht die gleichen.
Erst im Weltkriege tauchte die Idee eines serbisch-kroatisch-slovenischen
Staates in den führenden Kreisen auf. So entstand das jugoslavische
Komitet in Paris i. J. 1915; 1917 erfolgte die Kundgebung im Wiener Par-
lament und zwei Monate später der Abschluß des Vertrages von Korfu.
Während die dynastische Frage bei dieser Staatenbildung keine beson-
deren Schwierigkeiten bereitet hatte, sind die Fragen des Föderalismus,
Zentralismus und Dezentralismus noch bis in unsere Tage Gegenstand er-
bitterter Kämpfe geblieben. Der Vertrag von Korfu hatte der Autonomie
der Einzelgebiete weiten Spielraum gelassen, was auch in einem Staaten-
gebilde von siebenfacher Jurisdiktion, wie das jugoslavische, unumgänglich
notwendig gewesen ist. Man hätte aber die Frage der Zentralisierung von
der des Panserbismus streng auseinanderhalten müssen, denn dadurch
wären wahrscheinlich peinliche Diskussionen und noch jetzt andauernde Ani-
mositäten vermieden worden.
F. geht auf die Entstehungsgeschichte der polit. Parteien Serbiens vor
dem Weltkrieg zurück und gibi einen Rückblick auf Wechsel und Tätigkeit
der jugoslavischen Kabinette bis zu dem Augenblick, wo nach den Wahlen
vom 28. November 1920, bei denen Kommunisten und Radiépartei einen un-
5 Erfolg davontrugen, die Anhänger der staatlichen Einheit und
r Dynastie sich unter der Agide von Pasié zu einer radikal-demokra-
fischen Allianz zusammenschlossen, die F. eine Einigung sämtlicher ser-
bischen Elemente gegen sämtliche andere Komponenten des serbo-kroat.-
sloven. Staates nennt, und die am Vorabend der Diskussionen über die
Verfassung zu einem Kampf der Rassen und Religionen führte. Um zu
zeigen, daß die Bildung eines Statuts auf grundsätzliche Schwierigkeiten
stoßen müßte, bringt F. die im früheren serbischen Staate gemachten Er-
fahrungen auf diesem Gebiet in Erinnerung. Bald nach der feierlichen Er-
öffnung der konstituierenden Versammlung vom 14. Januar 1021 stießen
denn auch die Meinungen hart aufeinander. F. zählt die von den ver-
schiedenen Parteien überreichten Entwürfe zur Formulierung des Statuts
auf, welche die Verfassungskommission prüfen sollte. Nach seiner Meinung
war die der Kommission gestellte Frist von nur 14 Tagen zur Prüfung der
Entwürfe zu kurz, um die, dem von der Regierung aufgestellten Entwurf
nahestehenden Parteientwürfe, in ein einziges Programm zusammen-
zuschmelzen, welches wahrscheinlich dann die Majorität auf seiner Seite
gehabt haben würde. Bei den später folgenden Beratungen hat die Unnach-
giebigkeit von Pasié in der Frage der Zentralisierung die zwischen Serben
einerseits und Kroaten und Slovenen andererseits bestehende Kluft noch
vertieft. Das endgültige Wahlergebnis, welches 225 Stimmen für Annahme
des Statuts und 35 dagegen aufwies, müsse insoweit richtiggestellt werden,
als zu den 35 Opponierenden eigentlich die 161 Wähler hinzuzurechnen
wären, welche sich der Wahl enthielten, die Opposition würde dann also
auf 1% Stimmen steigen, und somit ist es durchaus begreiflich, daß die
Nachricht von der Billigung des Statuts weder in Agram noch inLaibach mit
Jubel aufgenommen wurde. Die Kroaten sahen durch den neuen Sieg von
Pasié die letzte Spur ihrer alten Unabhängigkeit unterdrückt. In Maze-
donien erfolgte offener Aufstand. Das große Nationalfest auf dem Kosovo
pole mußte unterbleiben. Emmy Haertel.
RUSSLAND
Der Anfang der Regierung Alexanders Ill. ~ Sovremennyja Zapiski,
kn. XXXIII, 1927.
A. Kizevetter bespricht das von dem sovetrussischen Staatsverlag
ve. offentlichte Tagebuch des Reichssekretärs E. A. Perec. P. war Reichs-
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sekretär, d. h. Chef der Kanzlei des Reichsrates in den jahren 1878—1885
und stand dem Vorsitzenden des Reichsrates, dem liberalen Gro§furstea
Konstantin Nikolaevié besonders nahe. So kennt er viele Einzelheiten
jener Jahre. Das Tagebuch beginnt im lebten Halbjahr der Regierung Al. I.
Es ist das der Moment, in dem Loris Melikovs Vorschlag einer „allgemeines
Kommission“, die neben den von der Regierung ernannten Beamten auch
aus Vertretern der Selbstverwaltung bestehen sollte, an die Reihe kam.
Auch der Finanzminister Abaza machte Vorschläge demokratischer Steuer-
reformen im Staatsrat. Loris Melikov, Abaza, der Kriegsminister Miljutin
und der Großfürst Konstantin Nikolaevi© bilden die liberalen Elemente m
er Regierung. nn reaktionäre Partei stützt sich aber auf den Oberproku-
por oe heiligen Synods, Konstantin Petrovié Pobedonoscev. Die Libe-
ralen suchen in der Carenfamilie die Freundschaft der morganatischen Ge-
mahlin Al. II., der Fürstin Jurevskaja. Die Reaktion hat aber einen sicheren
Freund im Thronfolger, dem zukünftigen Al. Ill. In den lebten Monaten der
Regierung Al. Il. gewannen aber die Liberalen die Oberhand. Der Entwurf
Loris Melikovs wurde von einer Kommission gebilligt, deren Vorsitzender
der damalige Vorsitzende des Ministerkomitees Graf Valuev war und unter
deren Mitgliedern sich auch der Thronfolger befand. Darauf wurde der
Entwurf von Al. II. gutgeheigen, der am Morgen des verhängnisvollen
1. März einen Ukas unterschrieb, demzufolge am 4. März in einer Beratung
der Minister dieser Entwurf endgültig angenommen und eine Veröffeni-
lichung an das Land erfolgen sollte über die Einberufung der „Allgemeinen
Kommission“. Nach der Ermordung Al. II. kam aber eine tragische Wen-
dung in der russischen inneren Politik.
Die historische Sitzung vom 8. März ist im Tagebuch von Perec be-
sonders dramatisch geschildert. Auf ee Siķung sollte die Frage ent-
schieden werden, ob der von Al. Il. guigeheißene Entwurf verwirklicht und
damit also der liberalen Opposition ein Zugeständnis gemacht werden, oder
ob man den Weg der Repression beschreiten und alle liberalen Maßnahmen
zurückbremsen sollte, um vor allem die Revolution gewaltsam zu unter-
drücken. Graf Valuev, D. A. Miljutin und der eigentliche Urheber der Re-
form, Loris Melikov, verteidigten das Projekt, aber das Hauptmoment fiel
auf die Rede Pobedonoscevs.
Bleich und erregt warnte Pobedonoscev vor dem Projekt. Man will
Rußland eine Verfassung aufdrängen, wenn nicht auf einmal, so wenigstens
den ersten Schritt zu ihr machen. Rußland ist durch die Autokratie groß
geworden, würde durch eine Verfassung Opfer der Revolution werden und
zugrunde gehen. Al. Ill. sprach sich nicht offen aus, und die Frage blieb
auf dieser Sitzung unentschieden.
Eine kurze Zeit schwankte noch der junge Car, aber sehr bald siegte
der Einfluß von Pobedonoscev. Am 29. April erschien ein von Pobedo-
noscev verfaßtes und vom Caren unterschriebenes Manifest, in welchem
Al. III. seinen Glauben „an die Kraft und die Wahrheit der selbstherrlichea
Gewalt, die Vir zum Wohle des Volkes zu befestigen und beschützen be-
rufen sind“, Ausdruck verleiht. Die liberalen Minister Loris Melikov und
Abaza, die vom Erscheinen des Manifests ganz überrascht wurden, nahmen
sofort darauf ihren Abschied. Kurze Zeit darauf gingen auch andere libe-
rale Regierungsmitglieder, z. B. Kriegsminister Miljutin, später auch Groß-
fürst Konstantin Nikolaevi&.
Der Nachfolger Melikovs, Ignatiev, wollte sich nicht ganz gehorsam im
Fahrwasser Pobedonoscevs halten und mußte in einem Jahre gehen. Dann
wurde der Graf Dimitrij Tolstoj berufen, was einen vollständigen Sieg der
Reaktion bedeuteie.
Auch Perec konnte sich nicht mehr halten. Als bei der Frage einer
Repression gegen die Raskolniki der Groffiirst Michail Nikolaevic, der
damalige Vorsikende des Reichsrates, ein schwächlicher Charakter, erklärte,
der Staatsrat würde entscheiden, wie man es von Allerhöchster Seite be-
fehlen würde, erlaubte sich Perec, den Großfürsten an die Urteilsfreiheit
des Staatsrates zu erinnern. Die Folge dieser Bemerkung war sein Ab-
556
schied. Er war schon lange dem Caren unsympathisch, da er ihn an die
Zeit des völligen Waltens des Geistes seines verhaßten Onkels Konstantin
Nikolaevié im Staatsrate erinnerte.
Rußland blieb von nun an unabwendbar auf dem irrigen und falschen
Wege, der es zur furchibaren Katastrophe von 1918 führte.
Nadežda Jaffe.
Ein Brief Dostoevskijs an Alekseev vom 7. Juni 1876. — Golos Mi-
nuvSago. Nr. 5/XVIII 1927.
Der bisher unbekannte Brief Dostoevskijs ist an Alekseev, cinen Geiger
aus dem Orchester des Marientheaters, gerichtet. Dieser, ein großer Ver-
ehrer des Dichters, war ein aufmerksamer Leser des „Dnevnik Pisatelja”
und hatte dort im Mai 1876 einen Artikel über den Selbstmord eines den
sozialistischen Kreisen nahesfehenden jungen Mädchens — Pisareva — ge-
lesen. Um den Problemen dieses Todes näher zu treten, hatte Alekseev
an D. einen Brief geschrieben und als Antwort diesen Brief vom 7. Juni
1876 erhalten, der höchst wichtig ist für die Genesis der Legende vom Gro§-
inguisitor in den Brüdern Karamasov.
Hier spricht D., 3 Jahre vor dem Erscheinen des beruhm-
tenRomans, fast alle Gedanken der Legende aus. Er sieht in den Ver-
suchen des Teufels in der Wüste aus der Hig. Schrift die Geschichte der
ganzen Menschheit. Die Forderung des Verwandelns der Steine in Brot ist
eine ewige Forderung. Diese Frage will auch jetzt der Sozialismus in dieser
Weise lösen; er glaubt, daß mit der Beseitigung von Hunger und Armut
alle menschlichen Leiden verschwinden würden. Darauf kann aber auch
nur die schöne Antwort Christi gelten: „Nicht das Brot allein sattigt den
Menschen“. Christus wußte, daß der Mensch kein Tier sei und ohne ein
Schönheitsideal nicht leben könne. Denn Er, Der der Menschheit die Schön-
heit brachte, wußte, daß der Mensch ohne Schönheitsideal den Verstand
verlieren, Selbstmord verüben oder sich in heidnische Phantastereien ein-
lassen würde.
Und wenn man dem Menschen beides — Schönheit und Brot — geben
würde? Dann würde man ihm die Persönlichkeit, die Arbeit, die Opfer-
freudigkeit für den Nächsten abnehmen. Daher hielt es Christus für besser,
nur eine Erlösung — die Erlösung des Geistes zu verkünden.
So sieht D. den Grund des Selbstmordes der Pisareva in ihrem An-
schluß an revolutionäre Kreise, die nur für das Brot in der zukünftigen
Weltordnung sorgen und den materiellen Gütern eine unangemessen wich-
tige Rolle beilegen. D. gibt aber selbst zu, daß mit der Ideenwelt des
Teufels es nicht leicht sei fertig zu werden.
In diesem Briefe sind also die Probleme der Legende noch vollstän-
diger behandelt. Es wird als Lösung des Problems die Möglichkeit gestellt:
dem Menschen Brot und Schönheit zu geben... und auch diese Lösung
wird abgelehnt. Dem Brot wird nicht, wie in der Legende — die Freiheit,
sondern die Schönheit entgegengesetzt. die Schönheit, die eine so wichtige
Rolle im „Idioten“ spielt — und Christus wird als Symbol der Schönheit
gepriesen.
Der Brief wird im „Gol. Min.“ von F. Pobedinskij kommentiert.
Nadeida Jaffe.
V. Friè e: Tolstoj i CernySevskij. — Krasnaja Nov’. September 1928.
Fr. versucht die Beziehungen der beiden Manner, deren 100jahrigen
Geburtstag Rußland in diesem Jahre feierte, aufzuklären. Als der erste
Roman Tolstoj’s: „Kindheit und Jugend“ im „Sovremennik“ erschien, schrieb
C. einen Aufsabk, in dem er das Talent T. s rühmte und auf.zwei grund-
legende Eigenschaften von T.’s Begabung aufmerksam machte: auf seine
Kenntnis der Dialektik der Seele und auf sein hohes moralisches Gefühl,
557
zwei Eigenschaften, die auch für den späteren Tolstoj charakteristisch sind.
Aber persönlich waren sich die beiden Manner unsympathisch. Es —
auch nicht anders sein: Einer war Ideologe einer ae Klasse, der
andere einer kommenden. Als T. in den 50er Jahren C. aus Jasnaja Poljana
seine pädagogische Zeitschrift sandte, erregte sie bei diesem nur Mig-
fallen. Und wie konnte C. an einer Zeitschrift Gefallen finden, in der es
stand, die Religion müsse als Grundlage zur Volkserziehung gelien und
Rousseau, Pestalozzi und andere Pädagogen der Neuzeit nur Narren ge-
scholten wurden.
Aber nicht weniger Mißfallen erregte bei Tolstoj der berühmte Roman
C.’s: „Cto dijelat™. schrieb ein Stück gegen die „neuen Menschen”, die
C. verherrlichte, das Stück mißlang künstlerisch und wurde nie veröffentlicht
Interessant ist aber, daß der Roman doch in T.’s Seele Spuren hinterlic&. Im
„Lebenden Leichnam“ fragt die Zigeunerin MaSa den Protasov: „Kennst du
den Roman: ,,Cto djelaf’“? Langweilig ist er, aber etwas ist da sehr, sehr
gut — der Rachmanov, der Selbstmord vorspiegelt.” Alles hatte T. ver-
gessen — den Namen des Helden C.’s — er heißt nich 5 sondern
Rachmetov; nicht er, sondern Lopuchov halte Selbstmord simuliert, um
seine Frau aus den Qualen einer unglücklichen Ehe zu befreien; aber T.
hatte die Lösung, die C. der Freue en Ehe des Romans gab, nicht ver-
gessen, und sie 55 en „Lebenden Leichnam“.
Verf. halt als Denker C. für den Bedeutenderen, als Schriftsteller hat
T. in der Weltliteratur, die C. kaum kennt, die Palme errungen. Aber der
marxistische Forscher will auch eine künstlerische Bedeutung C. zumessen,
da die Ideen seiner Werke eine so hervorragende Anzahl von Jüngern fanden
Nadeida Jaffe.
M.Al’tmann: L.Tolstoj i Gerodot. — Slavia 7, 2 (1928). S.311—320.
A. untersucht, inwieweit die Lektüre Herodots auf Tolstojs Bauern-
erzählungen eingewirkt hat. Er hat cine auffallende Ubercinstimmung
zwischen der Erzählung Tolstojs „Mnogo li &eloveku zemli nužno?“ und der
Erzählung Herodots von der Landschenkung der Skythen an den Bewacher
der vier vom Himmel gefallenen goldenen Gegenstände („istorija“, Kn. 4,
Kap. 7) gefunden. In beiden Erzählungen wird so viel Land demjenigen
versprochen, der dem Tode verfallen ist, wie er in einem Tage umgehen
bzw. umreiten kann. Bei beiden geht der Landumgehung ein Schlaf voraus.
Im übrigen verläuft der Inhalt der Tolstojschen Erzählung so verschieden
von dem Herodotschen Bericht, daß kaum an eine Beeinflussung gedacht
werden könnte, wenn nicht verschiedene Beweise dafür in Tolstojs Brief-
wechsel zu sehen wären. A. zitiert Briefe von Tolstoj selbst, von Turgenev,
von Tolstojs Gattin, in denen von seinen leidenschaftlich betriebenen Studien
der griechischen Sprache und Literatur gesprochen wird. Tolstoj hat diese
Studien, der Gräfin Tolstoj zum Trob, während einer gre) re rein mitten im
Baschkirenlande forigesekt und dabei die Baschkiren den
phases im Skythenlande Herodots verglichen. Zu jener Zeit 5 er den
ntschluß, keine langen Romane, wie „Krieg und Frieden“, mehr zu schreiben.
Die alte Literatur mag ihn dazu angeregt haben. A. weist nach, daß die
Herodotsche Erzählung nicht vereinzelt dasteht, sondern ihre Entsprechung
in der Volksüberlieferung Rußlands hat. So z. B. im Sosnicker Kreise des
Gouvernemeats Cernigov, wo die Volkssage einem Sumpf, auf dem das
Vieh nicht weiden will, andichtet, ‚daß dort das Grab eines beim Land-
umgehen zu Tode Gekommenen sei. Hier finden sich sogar einzelne Züge
der Tolstojschen Erzählung wieder, welche bei Herodot fehlen. Es scheint
sich also um ein uraltes Motiv zu handeln. A. streift noch kurz die rationali-
stische Einstellung zu der Tolstojschen Erzählung bei Knut Hamsun und bei
Cechov in der Erzählung „KryZovnik“, zu welcher Tagebuchnotizen den
direkten Beweis liefern, daß es sich hier um eine bewußte Entgegnung auf
Tolstojs „Märchen“ — ursprünglich hieß diese Erzählung bei Tolstoj „Skazka
o zemle“ — handel. Emmy Haertel.
558
Renato Poggioli: Lare di Costantino Balmont. — Rivista di
letterature slave. 3, 4—6 (1928), S. 476—507.
Ein Überblick über die Verbreitung, welche der französische Sym-
bolismus in Rußland gefunden, leitet die Studie über Balmont ein. P. er-
wähnt hierbei, daß die italienische Literatur, gesättigt durch eine nie er-
loschene klassische Tradition, dem Eindringen dieser französischen Poesie
am meisien Widerstand geleistet hat, während gerade junge und abseits
der klassischen Tradition entwickelte Literaturen wie die slavischen von
thr am leichtesten durchdrungen wurden. Dieses Pfropfreis aus dem
Westen gab aber auf diesem Boden — ähnlich wie das früher auch auf
anderen Kunstgebieien geschehen — unerwartete und originelle Erfolge.
Die Dichtung Aleksandr Bloks fußt auf dieser Transplantation. Balmont
hat, ungeachtet seiner glänzenden Begabungen, den Schritt in diese Poesie
nicht so leicht zurückgelegt; er hat von den Symbolisten und Dekadenten
die Neigung zu einer Musikalität der Sprache um ihrer selbst willen an-
genommen, die oft übertrieben und ohne eigentlichen inneren Grund an-
gewandt ist. Hierin hal er auch viel von den englischen Lyrikern gelernt.
Im übrigen hat er bei der Bildung seines Weltbildes fast von allen
odernen etwas angenommen, von Wilde, Nietzsche, Verhaeren, D’Annunzio
u. a. Das hat aber auch seiner Originalität Abbruch getan und, nach der
Meinung Poggiolis, dazu beigetragen, daß seine Dichtungen nur selten in
das Gebiet großer Kunst zu rechnen sind. Balmont war aber nicht ohne
eine eigene Weltanschauung, seine Anschauungen Welt und Dingen gegen-
über werden von Lo Gatto in seinen „Studi di letterature slave“ (Roma 1925,
Vol. 1, S. 154—157) sehr treffend als „nietzschianesimo lirico“ bezeichnet.
Es steckt in der Tat sehr viel Nietzschescher Geist in ihm, aber vielleicht
erinnert er noch mehr an Vorläufer Nietzsches; P. erwähnt in diesem Zu-
sammenhang den Amerikaner Walt Whitman.
Balmonts Sonnenkult, seine Ekstasen den großen Naturerscheinungen
gegenüber: Wind und Feuer, die er als lebenschaffende Mächte erkennt,
beweisen es, daß er neben den Dekadenten noch andere Lehrmeister ge-
habt, denn derem Sinne hätte es mehr entsprochen, wenn er den Mond
besungen hätte. Dem Dichter, der sich selbst in Sonnenhöhe und -nähe
wähnt, mußte der Gedanke des jenseits-von-Out-und-Böse-Siehen nahe
liegen, er geht aus diesem Gedankenkreis über zum Bewußtsein eines
Thronens über aller Welt: der Dichter ist König. P. geht Balmonts Ge-
dankengängen bis in alle Einzelheiten nach, seinem Schonheitskult, dem
aus der Schönheit des Augenblicks entspringenden Bewußtsein vom Wert
des Augenblicks, von der Relativifat der Begriffe: falsch und wahr usw.
Aus diesen Proben wird ersichtlich, daß Balmonts Ideenwelt keineswegs
originell zu nennen ist. Es ist das aber nur eine Seite seines inneren
Menschen. Die bisherigen Ideengänge mußten notwendig gewisse Grenzen
finden, sie sind außerhalb der Jugendzeit nicht gut vorstellbar. Immer
wieder hat Balmont auch das Lob der Jugend in seine Dichtungen einge-
fochten. P. fragt nun, wie hat er vom Tode gedacht? Hier ist eine der
schönsten Dichtungen Balmonts aufschlußgebend: „Lebed’“. Der elegische
Sterbegesang des Schwans rührt an eine andere Welt als die bisher von
Balmont besungene: ein Insichgehen, Bereuen, Bitten um Vergebung und
schließlih der Gedanke, daß der Tod als Friedenbringer kommen wird.
P. hält den Schluß des Gesanges künstlerisch nicht für sehr wertvoll, aber
für um so aufschlußreicher in bezug auf Balmonts Gedankenreihen, die ins
Metaphysische übergreifen. Den Gipfelpunkt dieser Art Dichtungen glaubt
P. in „Na versiné“ zu sehen. Das Gedicht schließt mit dem Bekenntnis der
tiefsten Resignation.
Balmont, der nach Poggiolis Meinung hinsichtlich seiner Weltanschauung
nun den Höhepunkt erreicht, steigt in späteren Dichtungen wieder herab.
Einen ähnlichen Abstieg, aus Gründen innerer gesebmäßiger Notwendigkeit,
sieht P. auch in D’Annunzio, mit dem er vorher Balmont verschiedentlich
verglichen hat. D’Annunzio hat aber schließlich im Aufgehen in der Natur
559
wieder neuen Aufschwung genommen, während Balmont sich nicht mehr
zu dem früheren Feuer aufschwingen konnte. Die technische Seite eg
Dichtung, der P. eine längere Besprechung widmet, zeigt eine u oe
liche Anzahl in Form und Ton verschiedener Ausdrucksmittel, die aber
größtenteils dem Zweck dienen, eine Musik in Worten zu erreichen. Diesem
Streben nach musikalischer Wirkung zuliebe wendet Balmont vielfach rem
von Cukovskij (gelegentlich einer Besprechung der „Prekrasnaja dama”
Bloks) geprägte Wort ,Balmontovscina“. Schließlich betrachtet P. noch
Balmonts Tatigkeit als Uberscher, die bei seinem ungewöhnlich ausgebrei-
teten Sprachwissen auch eine ungewöhnlich reiche gewesen ist. Er gibt
die Zusammensiellung des englischen Textes von Edgar Poe „The bells“
mit Balmonts Übersekung ins Russische und einer italienischen Ubersebung.
P., der Balmonts größtes Verdienst darin sieht, daß er die jüngere
russische Dichtergeneration aufgeriittelt hat zu einer Abwehr gegen den
allzu praktisch-moralisch-sozial gewesenen Grundzug der russischen Lite-
ratur des 19. Jahrh. und ihr ein Fenster nach dem Westen aufgebrochen,
nimmt gerade dieser ausgesprochen europäisierten Natur Balmonts wegen
noch einmal den Vergleich mit ihm und D’Annunzio auf. Man hat von le$-
terem gesagt, daß er ein kleiner Tyrann der Renaissancezeit sei, der m
der Zeit der Bourgeoisie und der Dampfmaschinen lebt, und Erenburg hat
von Balmont gesagt, er sei ein glänzender Anachronismus. Beides mif
nach Poggiolis Meinung zu, beide Dichter sind sich in ihrem Europaismus
wie in ihrer anachronistischen Art ähnlich, und beiden gemeinsam ist em
ausgesprochen femininer Zug: das allzu bereite Aufnehmen anderer und
stärkerer Ideen. P. fügt hinzu, dieses Urteil dürfte vielleicht manchen
Russen zu hart erscheinen, es entspräche auch mehr romanischer als sla-
vischer Denkungsart. P. schließt sich deshalb dem absprechenden Urteil
Eichenwalds über Balmont an und lehnt das übertrieben enthusiash
Erenburgs über ihn ab. Übrigens hat ja auch Erenburg zugegeben, daf
man Balmont nicht so lieben könne wie Blok. Der Geist der Nachkriegs-
zeit kann Dichter wie Balmont und D’Annunzio nicht mehr als zeitgema
empfinden, für ihn gehören sie beide dem 19. Jahrh. an, was aber
hindern wird, das wirklich Schone bei Balmont weiter zu schaken.
Emmy Haertel.
Umberto Barbaro: Lidia Seifullina. — Rivista di letterature
slave. 3, 4—6 (1928), S. 508—514.
Die russische Kritik über Lidia Seifullina ist des Lobes voll, merk-
würdigerweise aber sehen die einen in ihr die unerbittlichste Anklagerin
der sovetistischen Irrtümer und Grausamkeiten, die anderen dagegen die-
jenige Schriftstellerin, welche den Kommunismus in den höchsten Tönen
feiert. In beiden verschiedenen Lagern wird ihre Kunst als „Realismus”
bezeichnet. Realistische Literatur ist ın Italien nicht beliebt, und “doch haben
die groken Werke der russischen Realisten das italienische Publikum fur
sich erobert. Die Einschäßung der literarischen Kritik will hier nichts sagen,
man muß den Schriftsteller aus seinen Werken und seinem Leben kennen
lernen. Das soll hier auch bei der Bekanntschaft mit der Seifullina ver-
sucht werden. B. gibt in Kürze ein Bild ihres Lebens und Wirkens, er teilt
mit, daß ihre erste literarische Arbeit dadurch zustande kam, daß sie von
einer sibirischen Zeitung aufgefordert worden war, für sie einen Aufsak
zur „Woche des Kindes“ zu schreiben. An Stelle eines Aufsakes schrieb
sie eine Erzählung, durch die sie sofort die Aufmerksamkeit des Publikums
auf sich zog. Ihre Themen und Probleme entnimmt sie dem Gebiet ihrer
eigenen Erfahrung (sie war der Reihe nach Lehrerin, Bibliothekarin, hörte
Vorlesungen über Pädagogik und ist als Sekretärin des sibirischen Staats-
verlags im Kommissariat für öffentliche Bildung tätig). Sie beschreibt das
Leben im russischen Dorf und seinen jähen Wechsel infolge Krieg, Revo-
lution und Bürgerkrieg, über die Lage der Frau und über die Verwahr-
560
|
1
|
losung der Kinderwelt. Es ist_also ein ständigem Wechsel unterworfenes
Milieu, dessen Schilderung z. T. schon wieder überholt ist. Ihren eigenen
Gesichtspunkt aus diesen Schilderungen zu erkennen, ist deshalb kaum
1 I weil sie alles mit scheinbar größter Objektivität schildert. Viel-
leicht hat keiner, weder in Rußland noch außerhalb, die Revolution von
einem gleich hohen Standpunkt aus betrachtet. B. halt diese Kunst nicht
für realistisch, dazu enthält sie zuviel lyrisch-suggestive Elemente, nach
seiner Meinung besitzt sie alle Vorzüge der lezten Moderne ohne deren
Fehler. Er stellt sie in manchem über Zola und Daudet. Dic Seifullina
ze immer ein nachsichtiges Urteil für die von ihr geschaffenen Typen,
auch da, wo man erwarten könnte, daß sie verurteilen muß. Ohne alle
Prüderie schildert sie selbst die heikelsten Dinge, und ebenso liegen ihr
Sentimentalität und Wunderglauben fern. B. meint, sie sei nur mit Verga
zu vergleichen, und zwar auch hinsichtlich eines Vorwurfs, den man ihr in
bezug auf ihren Stil machen kann. Ebenso wie Verga nach dem Auf-
kommen von D’Annunzios Wortschwall trocken und dürftig erschien, so
kann man ähnliches auch von ihr sagen. Sie drängt ihren Geschöpfen nicht
die eigene Sprache auf, sondern lernt von der ihrigen, so einfach und
volkstümlich sie auch sei. Emmy Haertel.
Die jüdische Bevölkerung unter der kommunistischen Regierung. —
Sovremennyja Zapiski. Oktober 1928. S. 509—531.
B. D. Bruzkus, der bekannte russisch-jüdische Journalist, bespricht
die jebige Lage der Juden in Rußland. Die jüdische Frage hatte und hat
im politischen Leben Rußlands eine besondere Bedeutung. Enigegen-
gesetzte politische Parteien schildern aus entgegengescehien Grundsätzen
heraus das Leben der russischen Juden in ganz falschen Farben. Die
jüdische Bevölkerung besteht zum größten Teil aus Kleinhandlern und Hand-
werkern. Diese Bevölkerungsteile wurden von der Regierung besonders
verfolgt. Im russischen Standestaate sind Kaufleute und Handwerker
Bürger zweiter oder dritter Klasse. Sie können ihren Stand nicht ver-
ändern, da ihre bürgerliche Herkunft sie daran hindert. Durch ihren so-
zialen Stand sind aber ?/, aller Juden entrechtet, und so ist die Gleichberech-
tigung nur auf dem Papiere vorhanden. ;
In d. J. 1925—26, z. Z. des Neps, merkt man einen gewissen Aufschwung
der jüdischen Bourgeoisie. Die Juden, die an Arbeit in ungünstigen recht-
lichen Verhältnissen gewöhnt waren, verstanden sich auch jetzt zu behaupten.
Die weißrussischen und ukrainischen Kleinstädte, in denen die Hauptbevol-
kerung der Juden wohnt, belebten sich. Die Steuerlast wurde leichter.
Kleine Markthandler und Handwerker bekamen Wahlrecht. Die Ernie war
gut und die Valuta stabilisiert. So gelang es den Juden Weißrußlands und
en Ukraine, Erfolge auf dem Gebiete des Mehl- und Tabakhandels zu er-
zielen.
_ Aber 1927—28 kamen wieder neue Verfolgungen; feste, von der Re-
erung bestimmte Preise toteten den Handel. Wieder kam politische
nirechtung für die Handwerker und für alle, die jemals in den letzten
5 Jahren Handel getrieben hatten. ; .
Auf die Frage, ob die Juden irgendeinen Gewinn aus der Revolution
ezogen haben, antwortet B. verneinend. Die jungen jüdischen Kommissare
im Anfange der Revolution waren vielleicht die einzigen. letzt sind Sovet-
beamte meist ehemalige jüdische Kaufleute und Intellektuelle aus den
höheren Schichten der jüdischen Gesellschaft. Für diese bedeutet ihre
Lage als Sovetbeamte einen sozialen Niedergang. en
Der Kolonisationspolitik der Soveiregierung steht B. pessimistisch
gegenüber. Das ganze Projekt der Kolonisation der Juden ist nur ein
Versuch, die Sympathie der jüdischen Bourgeoisie in Amerika und West-
europa und daher Kredite zu gewinnen. Die systematische Kolonisation
nach der Krim ging mit Hilfe des Joint Distribution Commitee vor sich. Das
Leben der Kolonisten ist sehr schwierig und das ganze Projekt kostspielig
561
und kompliziert. letzt ist ein Plan vorhanden, die Amur- Gegend, die B. fur
sehr ungünstig hält, mit Juden zu kolonisieren. Die Lage der Juden in
Sovetrugland ist so verzweifelt, daß sie auch darauf eingehen. i ,
Und irobdem versuchen reaktionäre Journalisten, wie Sulgin einerseits
und radikale jüdische Gruppen andererseits, die Lage der Juden in R
in günstigstem Lichte darzustellen. B. glaubt aber, in dem von ihm ge-
sammelten Tatsachenmaterial einen entgegengesetzten Beweis zu
Nadežda Jaffe.
Evgenij Aniékov: N. P. Kondakov (1844—1925). — Slavia 7, 1
(1928). S. 44—62.
1. Verf. will das Eindringen in Kondakovs Lebenswerk erleichtern, in-
dem die seine einzelnen Untersuchungen miteinander verbindende Ge-
dankenkette gezeigt werden soll. Kondakov, Schüler Buslaevs, hat seine
Studien zur Zeit romantischer Anschauungen begonnen, welche Buslaev bei
Betrachtung der altrussischen Kunst, Volkskunst und Literatur zur Geltung
bringen wollte. Auch damals aber kannte man schon die Abhängigkeit der
altrussischen Zivilisation von Byzanz, es war nur begreiflich, daß sich das
Interesse der Forscher nach dieser Richtung hin zu betätigen anfing, z.B.
V.G. Vasil’evskij, dessen Werke jetzt von der Akad. Nauk herausgegeben
werden. Die romantische Schule, mit ihrer auf nationalem Selbsigefühl auf-
gebauten „vergleichenden“ Methode, suchte die Originalität und Selbstandig-
keit der Denkmäler aus dem „grauen Altertum” nachzuweisen. K’s. Haupt-
werk „Russkie klady“ (1896) wandte sich gegen diese Auffassung und gegen
diesen beschränkten Patriotismus. K. und seine Gesinnungsgenossen ver-
traten das Prinzip der Entlehnung von Volk zu Volk. In den „Russkie
klady“ legt Kondakov eingehend den Gang, den Entlehnungen grundsatzlich
nehmen müssen, und wie sie ihn in Altrußland genommen haben, dar, d. h.
ihren Ausgang von Byzanz vermittelst der engen Berührungen im Chersones
und der Ausstrahlungen über Georgien, die Donauufer usw. Während
Veselovskij schon in den siebziger Jahren sein Augenmerk auf den infolge
dieser Kulturvermittlung anzunehmenden Komplex der „griechisch-slavischen
Welt“ richtete, beharrte K. längere Zeit bei Studien ausschließlich byzan-
tinischer Denkmäler. Er hat während seines 20jährigen Aufenthaltes in
Odessa ausschließlich als Byzantinist gearbeitet und galt als bester Kenner
des byzantinischen Altertums. Erst Ende der achtziger Jahre, in Peters-
burg, wandte er sich dem russischen Altertum zu. Ohne zum slavophilen
Lager zu gehören, haben er, Vasil’evskij und Veselovskij die Beantwortung
der Fragen nach der Stellung der Slaven in der Weltgeschichte, welche
einst Chomjakov gequält, auf rein wissenschaftlicher Basis, aber erfüllt von
patriotischen Gefühlen, angestrebt.
2. Verf. nennt dann zunächst chronologisch Kondakovs Arbeiten auf
byzantinistischem Gebiet. Hier hat K., ähnlich wie Vasil’evskij und Vese-
lovskij, einzelne wenig erforschte Denkmäler behandelt, keine allgemeinen
Probleme. Er galt deshalb lange als einseitiger Spezialist, und so über-
raschte später die Weite seines wissenschaftlichen Horizonts. In seinem
„Pute3estivie po Sirii i Palestině“ nahm K. Stellung zu der mittlerweile ein-
getretenen Spezialisierung der byzantinischen Kunstforschung, welche durch
die in Syrien, Georgien, in der Krim, in Agypten und Sizilien gemachien
Funde byzant. Provenienz aus dem 6.—9. Jahrhundert entstanden war und
rein lokalen Charakter angenommen hatte. Er stellte die Frage, ob sich
die Kunstwissenschaft allein formalen Interessen innerhalb lokalgeschichtlich
abgegrenzter Gebiete zuwenden und den Überblick über das Gesamtgebiel
des christlichen Altertums und die hier zu behandelnden Probleme aufgeben
wolle. Er sieht darin eine Gefahr für die Archäologie, die so zu einer dienen-
den Rolle verurteilt wird, indem sie nur innerhalb bestimmter Regionen in
der Kunst eine Art Illustration historischer Anekdoten sieht. Die Gedanken,
welche Kondakov leiteten, hatten indessen auf literarhisl. Gebiet Anwen-
dung gefunden; Veselovkij, Vsevsolod Miller und Zdanov hatten an Stelle
562
der früheren vergleichenden Methode die durch Tatsachen gestubte der
Entlehnungen in Angriff genommen, durch die der Kultureinfluß des kulturell
höher Stehenden auf den Primitiveren erwiesen wurde. Diese Prinzipien
leiteten auch K. bei der Untersuchung der Beziehungen innerhalb der ein-
zelnen Territorien des altchristlichen Altertums. In seiner „Ikonografija Bo-
gomateri® hat er eine Gliederung des Stoffes in Perioden, gemäß dem
jeweils vorherrschenden Kultureinfluß, vorgenommen. Er sieht die fahr
der Einzeluntersuchungen in der Vernachlässigung des Zusammenhanges
mit der kulturhistorischen Gesamtheit, der ihn bereits in seiner Doktor-
dissertation interessiert hat. Während der ersten 20 Jahre seiner Forscher-
tätigkeit hat die Kunstwissenschaft, welche ihren Ausgangspunkt von der
Renaissance herleitet, in erster Linie die formale Seite der Kunst ins Auge
gefaßt und sie zu einer Arena des Schönen gestempelt. K. verfolgt in der
Einleitung zu seiner ,,PuteSestvie v Siriju i Palestinu“ diese formale Rich-
tung in ihrer Entwicklung und stellte fest, daß sie noch immer lebendig ist,
wobei er sich scharf gegen den Formalismus in Riegls „Stilfragen. Grund-
legungen zu einer Geschichte der Ornamentik“ gewandt hat. Anickov
weist hier auf die in der russ. literar. und künstler. Kritik stets bewiesene, allem
Formalismus abgeneigte Gesinnung hin, die z.B. besonders stark in Cerny-
Sevskijs „Estetileskija otnoSenija iskusstva k déstvitel nosti“, ihrerseits auf
Feuerbach aufgebaut, gegen Vischers Formalismus zum Ausdruck kommt und
auf Dobroljubow und Stasov eingewirkt hat. Kondakov bestreitet übrigens
nicht die Wichtigkeit der Form, sondern nur das einseitige Interesse der
Kunstwisenschaft für sie: er will das Untersuchungsfeld weiter ausdehnen,
das gesamte archäologische Material auf dem Gebiet der Kleinkünste und
des Handwerks, der Kleidung, Waffen usw. miteinbezogen sehen als Abbild
des Lebens einer bestimmten Epoche. Nach und nach werden diese Zweige
das Lieblingsgebiet seines wissenschaftlichen Forschens. Hier auf diesem
Gebiet läßt sich der Schlüssel finden zur Geschichte der wirtschaftlichen
5 der Märkte und des Kunsthandwerks in Privat- und Grob-
etrieben.
3. Kondakov konnte auf seinem Arbeitsfeld die Geschichte der Ent-
lehnungen von Volk zu Volk ungleich erfolgreicher verfolgen, als es die
Literarhistoriker imstande gewesen waren. Für ihn ergab sich schließlich
der Übergang der Kulturgüter auf dem Wege des Handelsverkehrs der
Völker untereinander als das bedeutendste Ferment der Kunstentwicklung,
ja ihm schien ein Fortschritt unmöglich da, wo Entlehnungen unmöglich
waren. So erklärt sich der Zusammenhang der Einzelgebiete in der byzan-
tinischen Kunst von Palästina, Syrien usw. So ließ sich die Wanderung
der Kunstformen von Kleinasien über die Krim nach Norwegen verfolgen.
K. hat einen Überblick über die Entwicklung der byzantinischen Kunst in
seinem „Vizantijskie Emali“ gegeben. Er erklärt hier auch das Auftreten des
Tierstils zur Ikonoborzenzeit als besondere Kunstform, nachdem dieser Stil
früher nur asiatischen Kunsterzeugnissen der sog. barbarischen Völker eigen
gewesen war. Unter den „barbarischen Volksstammen des Nordens“ ist die
sog. „griechisch-slavische Well“ zu verstehen, welche tatsächlich zuerst
griechisch und noch nicht byzantinisch gewesen ist und spatcrhin slavisch
wurde. Kondakov hat den Prozeß dieser Slavisierung ehemals griechischen
Kulturgebiets nicht allseitig durchgeführt, aber jedenfalls war er der erste,
der auf wissenschaftlicher Grundlage diesen Tatsachen Beachtung schenkte.
In „O nauénych zadaéach istorii drevne russkago iskusstva“ und in „Russkija
drevnosti“ untersucht er die Zusammenhänge der hellenistischen Kunst in
der Krim mit der skythisch-sarmatischen Kultur, die ihrerseits wieder zu den
Funden aus der Völkerwanderung Beziehungen hat, und ihr folgen in zeit-
lich geringem Abstand die slavischen Altertümer. Es ist wichtig, daß in
diesem Zusammenhang die slav. Völker nicht als Zerstörer vorhandener
alter Kulturen auftreten, sondern sich auf kulturgesättigtem Boden nieder-
ließen. Diese Zusammenhänge der Slaven mit einer jahrhundertealten Kultur
festgestellt zu haben, ist eines der Hauptverdienste Kondakovs. Anickov
sekt sich hier mit der so lange verfochtenen Theorie der Beeinflussung der
565
Slaven durch die Germanen auseinander. Zwar war schon 1886 von Hempel
(Der Schab des Attila. Budapest 1886) auf die asiatische Herkunft dieser
Kunst hingewiesen worden, aber noch jetzt nn der germanische Einfluß
überschätzt und der des asiatischen verringert. K. hat, im Gegensab zu der
aus der Germanentheorie hervorgehenden Uberschabung Skandinaviens als
Kunstgebiet, die skandinavischen Länder als „öde Sackgassen Europas”
bezeichnet, in die die Kultur des Südens in vergröberter Form gekommen
sei. Er bestreitet ihren Einfluß auf das werdende R ono, vielmehr haben
sie nach seiner Meinung die Errungenschaften der südlichen Kulturen selbst
erst durch die Mittlerschaft der Slaven kennengelernt. Gerade die süd-
slavische Rus’, die ganz unter östlichem Kuliureinfluß stand, hat späterhin
unter den Südrußland bevölkernden Volksstämmen die Hauptrolle gespieli
und nicht die Germanen. In den folgenden Abschnitten sollen Kondakovs
Untersuchungen im einzelnen betrachtet werden.
Schlußartikel: Slavia 7, 2 (1928). S. 298—310.
4. Zu Anfang erinnert An. noch einmal an diejenigen Denkmäler der
altrussischen Kunst, für welche Kondakov ein besonderes Interesse gena
hat: die Steinskulpturen der Kirchen in Vladimir und Jur’ev Polskij und
einige in Cernigov und Kiev gemachten Funde der Juwelierkunst. Er zählt
hierbei die verschiedenen Deutungsversuche auf, welche die Reliefs aus
der Suzdal’ Vladimirschen Epoche mit ihren der westlichen romanischen Kunst
so ähnlichen Formen verursacht haben. Der Weg der Vergleichungen
zwischen der abendländischen und der nordostrussischen Kunst führte bis
nach Regensburg, Baden, bis zum Schloß Tyrol und nach Südfrankreich; so
groß die Ähnlichkeit der Formen hie und da war, konnte Kondakov dod
nirgends ein Denkmal finden, das als Vorlage für die Reliefs in Vladimir
anzusprechen gewesen wäre. Durch die allgemeine Übereinstimmung der
Formen war man aber zu dem Schluß berechtigt, daß es undenkbar sei,
fernerhin die Vorherrschaft der byzantinischen Kunst während des 10. bis
11. Jhs. im gesamten Europa zu bestreiten. Die lombardische Kunst hatte
die von Byzanz übernommenen Kunstformen durch Vermittlung der Cluny-
zenser nach Frankreich und Deutschland ausgestrahit. War aber zu dieser
Zeit eine Weitergabe der neuen Kunstrichtung nach dem fernen Osten an-
zunehmen? Kondakov verneint das. Der westliche romanische Stil bewahrte
gewisse römische Züge, wodurch er sich von dem byzantinischen Stil bei
aller sonstigen Ähnlichkeit unterscheidet. Die Reliefs von Vladimir tragen
alle Züge der nprdisch-barbarischen Kunst, und durch sie kann die ver-
worrene Frage des romanischen Stils im übrigen Europa geklärt werden.
Es handelt sich hier um die Abgrenzung zweier Unterabteilungen der byzan-
tinischen Kunstausstrahlungen, einer westeuropäischen und der alirussischen,
zwischen denen gerade die Baukunst von Vladimir ein Bindeglied darstellt.
Beide schöpften aus derselben Quelle.
Die Reliefs der Kirchen in Vladimir gehören zum sog. Tiershl Dieser
Stil stellt einen der am meisten charakteristischen Züge des byzantinischen
Stils innerhalb sämtlicher Unterabteilungen der beeinflußten Sphären dar.
Ein äußerst wichtiges literarisches Denkmal aus dem 5. Jh. gibt hier Auf-
schluß über die Beliebtheit dieser phantastischen Tierformen beim Kirchen-
schmuck. Nil prepodbnyj hat auf eine Anfrage eines gewissen Eparchen
Olympiadoros, ob nicht als Umrahmung einer Ikone Tier- und dszenen
angebracht wären, derartige Darstellungen abgelehnt. Hier handelt es sich
nun aber um die fast auf allen Kunsterzeugnissen, nicht nur dieser Epoche,
sondern weiterhin durch Jahrhunderte hindurch, ee Tierbilder,
die aus dem barbarischen Stil eingedrungen waren und ihren ry bis nach
Skandinavien und Süddeutschland gefunden hatten. Hierher s auch die
verschiedenen Wappentiere und die Paradieses- und Sirinvögel zu zählen,
ihrerseits weisen diese aber alle wieder zurück auf die Erzählungen voa
Alexander v. Mazedonien, auf den Physiologus usw. Diesen Stil nahm auch
die lombardische Schule auf, er ist mit der kulturellen Tätigkeit der Cluny-
zenser eng verbunden. Bernhard von Clairvaux hat gegen ihn geeiferl.
564
Die symbolische Bedeutung, welche diese Tiergestalten in theologischer
Hinsicht gewonnen, spricht sich gerade in den Reliefs von Vladimir in lebens-
volister Weise aus, sie sind um die Gestalt des Tvorec Emanuil gruppiert,
und auf einem zahmen Oreifen wird Alexander v. Mazedonien in die Höhe
gelragen, ein besonders charakteristischer Zug und aufschlußgebend dar-
iber, daß hier das seelische Bedürfnis Altruglands zum Ausdruck gebracht
worden ist. Dazu kommt, daß einige Steinbilder viel älter sein müssen als
die Kirche und bei ihrem Bau mit verwendet worden sind. Da drängte sich
der um zwei Jahrhunderte ältere Fund von Cernigov zum Vergleich auf.
Die dort gefundenen Geweihe sind reich mit solchen Tierfiguren bedeckt,
und ähnliches ist durch die Funde von Kiev, im Kuban u. a. O. bestätigt
worden. Diese Ubereinstimmungen führen aber wieder auf den Tierstil zur
skythischen Zeit zurück, also in eine Zeit, wo Südrußland noch nicht slavi-
siert war. Kam dorthin der Tierstil aus Byzanz? Nein, er deutet auf Wege
aus dem Osten, d. h. nach dem gänzlich hellenisierten Vorderasien, Grusien,
Syrien, Palästina und Agypten. Und hier zeigt sich wieder Kondakovs
Schema der Kultur- und Kunstvermifflung auf dem Handelsweg, für den
weder Veselovskij noch Zdanov Interesse gehabt haben. Kondakov hat in
diesen Beobachtungskreis auch die zoomorphen Formen der Initialen aus
dem 10.—11. jh. einbezogen und, nach Einbeziehung auch der sibirischen
Altertümer, den Keim der übereinstimmenden Formen im sassanidischen
Ornament gefunden und im frühen syrisch-arabischen des 7.—8. jhs. Kon-
dakov hat sich mit den Studien am Tierstil während mehrerer Jahre in Prag
beschäftigt, er zog in diesen Beobachtungskreis alles ein, was über Stoffe,
Kleidung usw. im byzantinischen Hofleben sich zum Vergleich bot, um die
Frage zu lösen, auf welche Weise der Tierstil nach Byzanz gelangt sein
kann, und kam zu dem Schluß, daß der hellenisierte und mittlerweile bar-
barish gewordene Osten schon in der den Ikonoborzen voraufgehenden
Epoche, am meisten aber um das 7. Ih, in jeder Hinsicht die Interessen von
Byzanz auf sich gezogen haben muß. Eine besondere Aufgabe fiel hierbei
den reich und prächtig ausgeriisteten Nomadenvölkern am Nordrand des
Schwarzen Meeres zu und den Alanen, durch die der vorderasiatische Osten
in direktef Verbindung mit Byzanz gekommen sein wird. Von hier aus
gingen dafn diese Kunstformen nach dem westlichen und damals auch bar-
barischen "Westeuropa weiter.
S. Anitkov zählt hier noch einmal alle die Tatsachen auf, welche dafür
sprechen, daß die Rus“ in kultureller Hinsicht sehr hoch gestanden haben
muß: die kostbaren Funde von Kiev, die auf eine prächtige Gestaltung des
Lebens am großfürstlichen Hof schließen lassen, der Buchschmuck des
Izbornik Svjatoslavs usw. Kondakov hat aus allen hier in Betracht zu
ziehenden Einzelheiten den Schluß gezogen, daß die Slavisierung der
Waräger schon lange vor Olga und Svjatoslav eingesebt haben wird, da die
Kultur der slavischen oder slavisierten Rus’ eher auf die _skandinavische
einwirken konnte als umgekehrt. Er behauptet, daß die Funde aus dem
ältesten Rußland keinerlei primitiven Charakter haben.
Emmy Haertel.
A. D. Grigor’ev: K izuéeniju russkich starozil’Zeskich govorov
Sibiri. 1. — Slavia 7, 2 (1928). S. 256—268.
Als ausführliche Einleitung in die dialektologische Studie ist hier ein
Überblick gegeben über die Besiedlungsart Sibiriens und die Folgen, welche
sich daraus in ethnographischer Hinsicht ergeben haben. Die einschlägige
Literatur ist leider nur andeutungsweise genannt. Für statistische Angaben
vor 1911 ist ,Aziatskaja Rossija“ und die ,Ekonomiceskaja geografija“ von
P. M. Golovatev benützt worden. Für den später folgenden Teil der Arbeit
ist es wichtig, auf den durchaus gemischten Charakter der staroZily und
novosely hinzuweisen, die ihrerseits Träger der verschiedensten russischen
Dialekte gewesen sind. Or. vertrilt hierbei die Ansicht, daß für den Prozeß
sprachlicher Assimilation nur Beobachtungen von Wert sein können, die an
565
Kolonisatoren angestellt worden sind, welche seit mindestens 50 Jahren m
Sibirien heimisch sind, was sich mit dem sonstigen und leicht irreführenden
Begriff des starozil’e nicht decki, da man mit ihm bereits nach einer Zet-
spanne unter 50 Jahren Aufenthalts in Sibirien operiert. Die Einwanderer
sind dabei so bunt durcheinandergewürfelt wie möglich, hinsichtlich der
territorialen Abstammung vom Mutterlande, meistens befinden sich selbst
innerhalb der einzelnen Ansiedlungen ehemalige Angehörige von 10—15 ver-
schiedenen Gouvernements des europäischen Rußlands. Die Auswanderer
eines jeden bestimmten russischen Gebiets haben dabei ganz beshmmie
kolonisatorische Qualitäten bewiesen, je nach ihren in der Heimat erworbe-
nen Fähigkeiten. Von einer Sprachgemeinschaft von vornherein kann also
bei dieser Art der Besiedlung keine Rede sein. Besondere e
wendet Gr. der kosakischen Erobererschicht zu, die auf Jermak folgte und
zum größten Teil aus den „guljaßlie ljudi“ bestand. Von ihnen sind die
zahlenmäßig bei weitem allen anderen Kolonien voranstehenden Siedlungen
ausgegangen, welche meistens lange sich entwickeln konnten, ohne daß die
russische Regierung von ihnen Notiz nahm. So ist nachgewiesen worden,
daß innerhalb von vier Kreisen des Gouvernements Enissej von 776 Sied-
lungen nur 102 auf Veranlassung der Regierung ins Leben gerufen worden
sind. Der stark asiatische Einschlag des Sibirers und seine durch die Ab-
trennung vom Mutterlande hervorgerufene Veränderung in Charakter- und
Gemutsanlagen werden auf Grund der neuesten einschlägigen Literatur be-
sprochen. Bei aller Verschiedenheit nach der Abstammun ung vom Mutter-
lande handeli es sich bei den sibirischen Einwanderern d hauptsächlich
um Oroßrussen, was sich selbstverständlich auch in ihrer Sprache beobachten
läßt. Emmy Haertel.
WEISSRUSSLAND
Slaneuski: Uber die historischen Namen der Weißrussen.
Studenskaja Dumka 1929. Heft 1, S. 8— 11.
Vor einiger Zeit erregte der bekannte weißrussische Historiker W.La-
stowski in weißrussischen Kreisen großes Aufsehen und Mißvergnügen, als
er statt der Bezeichnungen „Belarus“ (Weißrußland), ,,bélaruski“ (weiß-
russisch) die Ausdrücke „Kryvija“ und „Kryuski“ benutzte. Manche wollten
darın bei der bekannten prolitauischen Einstellung vo Lastowski sogar
einen „Verrat Weißrußlands an Litauen“ erblicken. 0 ist der
Streit aus den Gefilden der Politik in die ruhigeren Gefilde der Wissen-
schaft getreten. Verf. gibt eine wissenschaftlich- objektive Erklärung aller
drei historischen Bezeichnungen der Weißrussen. „Kryvici“ ist die ur-
spriingliche nationale Bezeichnung der Weißrussen: so bezeichneten sie sich
selbst, so wurden sie von den Fremden bezeichnet. Als „Litauer“ wurden
die Weißrussen später mit den Nationallitauern gemeinsam wegen ihrer ge-
meinsamen Staatsangehorigkeit bezeichnet. Als „Russen“ schließlich galten
die Weißrussen wegen ihrer Konfession, da unter dem „russischen“ Glauben
die griechisch-katholische Konfession verstanden wurde. Die eigentliche
Bezeichnung „Belarusy“ ist erst späterer Herkunft und wurde den „Kry-
viči“ von Moskau erst im 16. Jahrhundert beigelegt.
Die Bezeichnung „Kryvici“ in bezug auf das Land und Volk (Stamm?)
ist bereits in dem ersten Geschichtsdenkmal des osteuropäischen Slaven-
tums, der „Russkaja načalnaia létopis“, benutzt worden. Die Bezeichnung
„Kryvici“ war auch den deutschen und italienischen Historikern im 14. Jahr-
hundert bekannt.
Den Geschichtsquellen zufolge umfaßte das Gebiet der „Kryvidi” die
Oberlaufe des Njemans, der Westdüna, des Dnjepr und der Volga.
die Städte der „Kryvici” werden Smolensk, Polokk, Isborsk, Minsk und
Nowagrudek bezeichnet. Der Ausdruck „Rus“ — die Bezeichnung des
normannischen Erobererstammes, der die „Kryvidi” sich unterwarf, wurde
566
— — — — —
von den Eroberern auf das eroberte Gebiet übertragen. Diese Bezeich-
nung biirgerte sich namentlich mit dem Übergang zum Christentum ein:
indem die bis dahin heidnische Volksmasse der „Kryvidi“ den christlichen
(„russischen“) Glauben annahm, wurde sie gleichfalls „russisch“. Vom 13.
Jahrhundert an wurden die weißrussischen Territorien unter der Herrschaft
der litauischen Dynastie vereinigt. Daher die dritte historische Bezeichnung
der Weißrussen — „Litauer“. Der Weißrusse war damals seiner Nationali-
tät nach ,kryvic“, seinem Glauben nach „Russe“ und seiner Staatsange-
hörigkeit nach „Litauer“. So wurde der Ausdruck „Ruś“ von den litauischen
Großfürsten, sowie den zeitgenössischen Schriftstellern (Skoryna) ver-
standen. Der Ausdruck „russischer Glaube“ wurde als Antithese zu dem
römisch-katholischen Glauben benutzt. Der Ausdruck ,,Bélaja Ruś“ galt zu-
nächst für das von dem Tatarenjoch befreite Moskauer Rußland (Perwolf
im iv für slavische Philologie“, Prof. Anucin „Kurs belorussovedenija“
Minsk. 1920). Die Bezeichnung ,,Bélaja Rus“ wurde Weißrußland erst im
16. Jahrhundert von Moskau nach der neuen kirchlich-administrativen Ein-
teilung beigelegt, als Moskau die neue offiziöse Ideologie des „dritten
Roms“ nach der Heirat Ivans Ill. mit einer byzantinischen Prinzessin sich
zulegte. Dann wurde „Wseja Rus Pravoslavnaja” in drei Teilgebiete ein-
geteilt: Rus Velikaja (Moskowien), Ruś Malaja (die Ukraine) und Rus Bélaja
(die weißrussischen Territorien des OGroßfürstentums Litauen).
Zum ersten Male wird die Sprache der „kryviči“ als weißrussische
Sprache in dem Vorwort von Stepan Zizanija zur polnischen Ausgabe seiner
bekannten polemischen „Predigt des hi. Cyrillus“ (Wilna 1596) bezeichnet.
Die Verbindung von Zizanija und seiner Gruppe der Behüter des griechisch-
katholischen Glaubens im Großfürstentum Litauen mit dem Moskauer
Patriarchen bestätigt den kirchlich-administrativen Ursprung der neuen Be-
zeichnung. Nach dem Frieden von Andrusovo, besonders aber nach der
Teilung Polens setzt sich der Ausdruck „Bělaja Ruś“ durch als staatlich-
geographischer Terminus zur Bezeichnung eines Teilgebiets Rußlands. Da-
mit war freilich die merkwürdige Evolution der Bezeichnung eines Volkes,
das seinen Namen verloren hatte, keineswegs beendet.
Nach der Teilung Polens versuchte die polnische szlachta dem weiß-
russischen Bevölkerungsmassiv ein polnisches Antliz zu geben. Dafür
sorgte cine „weißrussische Literatur“ in polnischer Sprache resp. eine weiß-
russische Literatur in lateinischer Schrift. Die russische Regierung und die
russische Offentlichkeit kannten das Gebiet nicht. So wurde nach den
polnischen Aufständen von der eingeschüchterten Regierung das ,,staats-
gefährliche“ Wort ,,Bélaja Ruś“ abgeschafft und durch die Bezeichnung
Séwero-zapadnyj kraj ersetzt. Es begann zugleich die Erforschung des
Gebiets durch verschiedene Anstalten und Vereine. Die weißrussische
Sprache wurde in diesen Forschungen mitunter einfach als „Ortssprache“
bezeichnet, es taucht auch der Ausdruck ,,belarussko-kryvicski" auf, d.h.
die alte Bezeichnung wird in Verbindung mit der neuen gebraucht.
In der „Geschichte Weißrußlands“ von Turéinovié, sowie in den Pu-
blikationen des Generalstabs aus den 50er Jahren werden beide Ausdrücke
benubt. Ganz besonders interessant ist der Umstand, daß nach den offi-
ziellen Angaben des statistischen Komitees bei der Volkszählung von 1860
26 106 Personen in ar be pl ihre Nationalität mit „Kryvidi“ angaben;
das Volk besann sich trob seiner Unwissenheit noch auf seinen alten
Namen. Der zweite Aufstand (1863) räumte auch mit der Objektivität der
wissenschaftlichen Untersuchungen auf. Von nun ab wurde die gesamte
weißrussische Renaissance zu einer „polnischen Intrige“ gestempelt. In
dieser Frage ging die großrussische Öffentlichkeit Hand in Hand mit der
Regierung. Der Ausdruck „Kryviči“ wurde verboten, die Bezeichnung
„Weißrussen” galt als verpönt. Für die offizielle Ideologie gab es nur
„Russen“.
. Erst die neueste weißrussische Renaissance hat den alten Namen „Kry-
viči“ wieder zu neuem Leben erweckt. (,„Kryvidi“ stammt von „krou-kryvi“).
567
Von den bekannteren weißrussischen Schriftstellern benuzen Cecot, Marcin-
kevic, Kaganck, Kupala, K. Builo, Bjadulja, Lastowski u. a. diesen Ausdruck.
Es sei indessen bemerkt, daß die alte Bezeichnung der 4
„kryviči“ sich, wie die Bezeichnung mancher anderer Volker und Länder,
wie Gallien, Gallier, Teutonen nicht durchgesetzt hat. Seine große Re-
naissance, seinen Eintritt in den Kreis der Kulturvolker hat das Volk unter
dem Namen „Weißrussen“ vollbracht. Damit muß gerechnet werden, und
es liegt kein Grund vor, gewissen Sentiments zuliebe diese Frage gehässig
zuzuspißen. Vladimir o.
AL Sliubski: Das Verhältnis der russischen Regierung zu der
weißrussischen Sprache im 19. Jahrhundert. — Zapiski addselu
gumanitarnych nauk 1928, Band 2, S. 303—337.
Polnische und später auch weißrussische Historiker schufen eine bisher
unerschütterte Tradition, zu behaupten, daß in Rußland ein formelles Verbot
des weißrussischen Schrifttums bestanden hätte. Verf. untersucht an Hand
umfassenden Materials die Richtigkeit dieser Behauptung und gibt zugan
eine Gesamicharakteristik der russischen Politik in Weifrugland im Laufe
des 19. Jahrhunderts. Den Ursprung dieser falschen Behauptung findet
Verf. in dem 1874 erschienenen Artikel des bekannten polnischen Historikers
A. Kirkor „O literaturze pobratymczych narodów słowiańskich“. Aus diesem
Artikel wurde diese Behauptung auch in die „Wielk. Encykl. Powszechna
ilustr. Band VIII“ übernommen. Aus der polnischen Literatur wird diese
Behauptung von der weißrussischen Literatur unkritisch übernommen. Seit
einem halben Jahrhundert hat sich diese Behauptung aufrechterhalten und
wurde von den ernstesten weißrussischen Literaturhistorikern ohne jeg-
liche Nachprüfung wiederholt. Verf. weist an Hand von Urkunden nach,
daß dieses vermeintliche formelle Verbot eine Legende ist. Das erste
Vorgehen gegen das weißrussische Schrifttum fand, wie Verf. nachweist,
1859 statt aus Anlaß der Veröffentlichung einer weißrussischen Übersekung
von dem Poem „Pan Tadeusz" des Mickiewicz (die Übersekung besorgte
Dunin-Marcinkevic). Verf. weist nach, daß gleichzeitig die erste Repression
des ukrainischen Schrifttums, und zwar am 30. Mai 1859 stattfand, als es
verboten wurde, ukrainische Bücher in polnisch-lateinischer Schrift zu
drucken resp. solche Bücher aus dem Auslande einzuführen. Im Zusammen-
hang mit der Beschlagnahme der weißrussischen Übertragung von „Pan
Tadeusz“ wurde das Wilnaer Zensurkomitee von dem Unterrichtsministerium
angewiesen, auch fernerhin „das polnische Alphabet“ für weißrussische
Publikationen nicht zuzulassen. Bis 1859 fanden überhaupt keine Maß-
nahmen gegen die weißrussischen Bücher statt. Wie ersichtlich, richteten
sich die 1859 ergriffenen Maßnahmen keineswegs gegen das weißrussische
Schrifttum als solches, sondern lediglich gegen die Benubung der lateinisch-
Inischen Schrift, also gegen den polnischen Einfluß ım Lande. Die
egende von dem Verbot des weißrussischen Schrifttums führt Verf. darauf
zurück, daß die Weißrussen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch
keine umfangreiche .eigene Literatur besaßen, sich vielmehr unter polnischem
Einfluß befanden und in polnischer Schrift schrieben. Mithin konnte auch
das Verbot der weißrussischen Literatur in polnisch-lateinischer Schrift
de facto auf ein generelles Verbot des weißrussischen Schrifttums hinaus-
kaufen, obwohl es ursprünglich keineswegs darauf gerichtet war, sondern
eine Kampfmaßnahme gegen das Polentum und dessen Kulfureinflug§ dar-
stellte. Vladimir Samojio.
Pjatuchovic: Das Leben und die literarische Tätigkeit des Anton
Ljavicki. — Zapiski addselu gumanitarnych nauk 1928, Bd. 2, H. 1.
Für die Biographie Ljavickis benutzt Verf. in der Hauptsache die An-
gaben der Tochter des verstorbenen Dichters, Frau Wanda Lesik, der Gattin
des bekannten weißrussischen Pädagogen und Politikers, und der Frau
568
Bodunova. Die Memoiren von Frau Wanda Lesik, die Verf. vollsiändig
wiedergibt, geben ein klares Bild von dem Werdegang des Dichters. Der
Vater des Dichters war russischer Offizier, er reichte sein Abschiedsgesuch
ein, um nicht gezwungen zu sein, gegen die Aufständischen 1863 zu kämpfen.
Er war später als Gutsverwalter auf dem Gut Dubosna im Gouvernement
Mohilew tätig. Hier wurde 1869 Anton Ljavicki geboren. Diese Angabe ist
unseres Wissens vollständig neu: bisher nahm man allgemein an (selbst
Garekki in seiner sonst zuverlässigen „Geschichte der 5 Lite-
ratur“), daß Anton Lie vicki 1870 auf dem Gut Karpilovka bei Rados kovitti
(Gouvernement Wilna] geboren wurde. Wie aus der Darstellung der Tochter
des Dichters hervorgeht, ließ Anton Ljavicki sich in Karpilovka erst im Alter
von 28 Jahren nieder, also nach seiner Verheiratung, wobei das Gut Kar-
pilovka die Gattin des Dichters mit in die Ehe einbrachte. Ljavicki studierte
an der Moskauer Universitat, wurde wegen seiner Teilnahme an den Stu-
dentenunruhen verhaftet und in der Peter-Paul-Festung eingeschlossen.
Nach seiner Befreiung aus der Festungshaft widmete er sich der Phar-
makologie und diente später als Apothekergehilfe in der Apotheke von
Rado3kovici. Später war er in der Genossenschaftsbewegung tätig, und nach
seiner Verheiratung mit der Gutsherrin von Karpilovka widmete er sich der
Landwirtschaft. 1903 verlegte er seinen Wohnsitz nach Wilna, wo er in
russischen Zeitungen mitarbeitete. 1904 kehrte er wieder auf sein Gut
zurück, setzte aber seine Mitarbeit an russischen Zeitungen fort. Er war
ständiger Mitarbeiter der rechisstehenden russischen Zeitung ,,Bélorusski
Véstnik™ und der polnischen Zeitung „Zorza Wileńska“.
Erst die Revolution von 1905 ließ Ljavicki engere Fühlung mit der weiß-
russischen Bewegung nehmen. Die Periode 1905—1914 ist die Zeit der
maximalen literarischen Fruchtbarkeit von Ljavicki. Ljavicki arbeitet in dieser
Periode an verschiedenen weißrussischen periodischen Zeitschriften mit,
redigiert die landwirtschaftliche Monatsschrift „Sacha“, veröffentlicht eine
Reihe von Novellensammlungen („Dsed Savala“ 1910, „Bjaroska” 1912,
„Vasilki“ 1914). 1914 verlegt Ljavicki seinen Wohnsitz nach Minsk und gibt
dort die Jugendzeitschrift „Lu£inki“ heraus. In den schweren Kriegsjahren
1914—1917 gehen alle diese Gründungen unter.
. Liavicki widmet sich der Fürsorge für die Kriegsopfer und wird zum
Mittelpunkt der national-weißrussisch gesinnten Kreise. In der Revolution
widmet sich Ljavicki vollständig der politischen Tätigkeit. Diese ange-
sirengte Tätigkeit untergräbt die Kräfte des Dichters. Die Schwindsucht
macht rasche Fortschritte. Er schreibt noch die Novelle „Zoloto“ („Gold“),
arbeitet an seinen Studentenerinnerungen.
1920 verläßt er Minsk (gemeinsam mit den abziehenden polnischen
Truppen?). In Wilna — fern von seiner Familie — erliegt er schließlich der
Schwindsucht in den ersten Marztagen des Jahres 1922. Diese Memoiren
der Tochter des Dichters werden durch die Erinnerungen der Frau Bodunova
ergänzt, einer aktiven Funktionärin der Partei der Sozial-Revolutionäre.
Sie schildert Ljavicki als Enthusiasten der nationalen Freiheitsbewegung der
Weißrussen (daher seine Feindschaft zu dem russifizierenden Carismus), in
sozialer Hinsicht hingegen sei er ziemlich konservativ gewesen. Daher sein
Skeptizismus in bezug auf die revolutionäre Bewegung. In praktischen
Fragen wurde er von dem Enthusiasmus der jüngeren und temperament-
volleren Genossen mitgerissen, in theoretischen Fragen führte er mit ihnen
die hitzigsten Diskussionen.
Prof. Pjatuchovid bezeichnet den Dichter Ljavicki als „doppelgesichtigen
Janus”. Verf. teilt die Novellen von Ljavicki in zwei Gruppen ein: a) Hu-
moresken und b) Novellen ernsten Inhalts mit tiefen sozialen Schilderungen
und psychologischem Inhalt. Zu der ersten Gruppe gehören jene Novellen,
in denen die Naivität und eine gewisse Albernheit des Bauern aufs Korn
genommen wird. Der einfache Mann vom Lande wird das Opfer verschic-
dener städtischer Betrüger. In dieser Ironie spiegelt sich die traditionelle
Verspottung des einfachen Mannes und seiner Sprache durch den Adel
wieder. Diese Tradition war bereits durch Dunin-Marcinkevié in dem weiß-
569
russischen „parodistischen Klassizismus“ sowie bei BarSéevski verlreten.
Diesen Novellen kommt keine größere künstlerische Bedeutung zu. Sie
sind lediglich für die Ideologie des Dichters charakteristisch: der Bauer isi
lächerlich, aber der Städter ist moralisch abstoßend... Viel wertvoller sind
die Novellen, denen nicht Anekdoten, sondern Szenen aus dem Volksieben
zugrunde liegen. (So „Zyvy njaboščik“, „Va3naja figa“, „Sud“ u. a. m)
Wichtiger sind seine dem wirklichen Leben entnommenen Erzählungen
ernsten Inhalts. Verf. teilt sie in realistische und symbolisch-allegorische
ein. In den ersten herrschen soziale und psychologische Motive vor. Ab
beste Novelle dieser Gruppe sieht Verf. „Garotnaja“ an. Ebenso erschüt-
ternd wirkt trotz der außerordentlichen Einfachheit und Knappheit der Dar-
stellung die Erzählung „Zarabljaju&“. Beide Erzählungen sind von tiefen
Lyrismus des Mitgefühls mit den unglücklichen Opfern der Armut, der Un-
wissenheit und der Hilflosigkeit erfüllt (im Dorf in „Oarotinaja“ und in da
Stadt in ,Zarabljajué"). Verf. schäßt auch die psychologischen Erzählungen
Ljavickis sehr, in denen die psychologische Analyse immer auf dem kon-
kreten Boden des weißrussischen Lebens sicht. Daher ist in diesen Er-
zählungen das psychologische Motiv immer mit dem sozialen vereinidt.
Allen diesen Erzählungen ist die Schilderung des Lebens des weißrussischen
Dorfes gemeinsam, der Unwissenheit, der Armut, der physischen Degene-
ration; weniger oft ist in seinen Erzählungen das freudlose Leben und der
traurige Tod des städtischen Arbeiters und Handwerkers geschildert. in
psychologischer Hinsicht gibt Ljavicki die Poesie der Erinnerungen, den
Gegensab zwischen Traum und Wirklichkeit, die Erlebnisse der einsamer
Jugend, die Qualen des Gewissens, das Alpdriicken der von der Stadi
vergifteten bäuerlichen Seele.
Nicht minder mannigfaltig sind die symbolisch-allegorischen Erzählungen
des Dichters. Auch in seinen symbolisch-allegorischen Erzählungen herr-
schen soziale Motive vor. Besonders charakteristisch dafür ist die Er-
zählung „Pauk“, die anscheinend von der Broschüre von Liebknecht
„Spinnen und Fliegen“ beeinflußt worden ist. In der Erzählung „Viasefle”
benutzt Ljavicki die Gestalt eines Geiers, um den Stolz der „Herren“ und
deren Verachtung des gemeinen Volkes zu schildern. In anderen symbo-
lischen Erzählungen benutzt Liavicki als Symbole Pflanzen u. a. m, um
künstlerische Parallele zu dem Leben der Menschen zu ziehen. Aus dem
Leben der Pflanzen nimmt er die Symbole, um das Leben der kleiner
Völker unter dem „Schuß“ der großen Völker zu schildern, in seiner sym-
bolischen Erzählung ,,Gadunef“ gibt Ljavicki eine vollständige „Philosophie
der Geschichte des weißrussischen Volkes“.
In einer Reihe anderer Erzählungen geht Ljavicki auf Probleme der
Moral ein, indem er die verschiedenen Abirrungen des Menschen von seiner
wahren Bestimmung satirisch beleuchtet.
Ljavicki ist ein außerordentlich fruchtbarer Dichter, seine Novellen
zeichnen sich durch die Mannigfaltigkeit ihres Inhalts aus. Wie Verf. mi
Recht behauptet, ist Ljawcki bisher viel zu wenig gewürdigt worden. Wena
aber der Verf. als einzige Würdigung Ljavickis „2 Seiten in der »Geschichte
der weißrussischen Literature von Garebki” zu nennen weiß, so muß auf
die bereits 1927 erschienene ausgezeichnete Abhandlung von Anton Navina
hingewiesen werden, uber die ich bereits referiert habe (Jahrbücher fur
Kultur und Geschichte der Slaven, N. F. Band V, Heft 1, S. 141 ff.) und die
Prof. Pjatuchovié bei der Behandlung dieses Themas doch eigentlich
kennen sollte.
Die Abhandlung von Prof. Pjatuchovié bedeutet einen wichtigen Bei-
trag zu der gerechteren Beurteilung des ersten großen weißrussischen Er-
zählers, der einem Theodor Storm und einem Cechov ebenbürtig ist.
Viadimir Samojlo.
J. Bibila: Materialien zur Biographie von Tzetka (Aloisia PaSkevil-
Keirysava). — Zapiski adds. gumanit. nauk 1928. Bd. 1, S. 291
bis 302.
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Unter dem Pseudonym „Tzeika“ schrieb die talentvolle Dichterin und
namhafte Revolutionarin Aloisia PaSkevic. Verf. gibt eine Kompilation
aller bisher bekannten Materialien zur Biographie der Dichterin und er-
gänzt sie durch eigene Beiträge.
Aloisia Paškevič (geb. am 3. Juli 1876) stammte aus einer armen lönd-
lichen Familie. Ob diese Familie adliger oder bäuerlicher Herkunft war,
steht dahin. Jedenfalls ihrem Lebensniveau nach war sie eher bäuerlich
als adlig. Mit 3 Jahren kam Aloisia PaSkevié zu ihrem Großvater, der Vor-
werksbesiger war. Das Vorwerk lag mitten im Walde. Die Erinnerungen
an dieses Vorwerk spielen eine große Rolle in dem späteren literarischen
Schaffen der Dichterin. Vom Großvater wurde Aloisia PaSkevié im Geiste
der polnischen Kultur erzogen. Mit der weißrussischen Welt hatte sie ledig-
lich durch ihre Kinderwarterin Agasja Fühlung, die ihr weißrussische
Märchen erzählte. Aloisia PaSkevié wurde zunächst Volksschullehrerin und
kam so dem Volke näher. Später ging sie nach Petersburg, um sich weiter
fortzubilden, geriet hier unter den Einfluß der revolutionären Bewegung,
schloß sich der von den Brüdern Lubkevid, Kostrovi§ki, Burbis u. a.
gegründeten weißrussischen revolutionären sozialistischen Gramada an.
Gleichzeitig mit ihrer Bekehrung zum Sozialismus erfolgt ihre Bekehrung
zum weißrussischen nationalen Gedanken, der soziale und nationale Be-
freiungskampf der Weißrussen findet in ihr die flammende Revolutions-
rednerin, die begeisterte Sängerin. Eine besonders aktive Rolle spielte
Aloisia PaSkevié in der weißrussischen Frauenbewegung. Der revolutionäre
Pathos der Dichterin findet seinen künstlerischen Ausdruck in der Gedicht-
sammlung „Chrest na swabodu“. Aloisia Paškevič lenkt die Aufmerksam-
keit der Polizei auf sich und verläßt 1906 Rußland, um deren Verfolgungen
zu entgehen. Regen Anteil nimmt sie an der ersten weißrussischen Zeitung
„Nasa Dolja“, deren Inhalt fast ausschließlich von ihr und den Brüdern
Lubkevié besorgt wurde. 1906—07 lebt Aloisia PaSkevié (die unter dem
Pseudonym „Tzeika“ bekannt wurde) in Lemberg später in Krakau. Hier
nimmt sie mit den Ukrainern und Litauern Fühlung. Sie lernt auch ihren
zukünftigen Mann, den litauischen sozialdemokratischen Führer Kairys
kennen. Von Krakau aus setzt sie ihre Mitarbeit an der weißrussischen
Zeitschrift „Naša Niva“ fort. In Krakau erscheinen ihre Gedidıtbände
„Chrest na swobodu” und „Skrypka belaruskaje“. Sie studiert an der
historisch-philologischen Fakultät der Universität Krakau und erwirbt die
Mittel für ihre Existenz als Masseuse und Bühnenkünstlerin. Die Sehnsucht
nach der Heimat findet in ihrer Lyrik ihren Ausdruck. 1910 kehrt sie nach
Wilna zurück, heiratet Kairys. Ihre Wohnung wird zum Mittelpunkt des
Verkehrs und der Annaherungsbestrebungen zwischen Litauern und Weib-
russen. Aloisia Kairys widmet sich der nationalen Kulturarbeit nament-
lich auf dem Gebiet des weißrussischen Theaters. Inzwischen wirkt
sich die Überarbeitung in den Jahren des Krakauer Exils auf dem Gesund-
heitszustand der Dichterin aus. Die Schwindsucht untergrabt ihre Kräfte,
und dieses langsame Dahinsiechen findet in ihrer Lyrik einen ergreifenden
Ausdruck, die jetzt von rührender seelischer Abgeklartheit erfüllt ist. Diese
persönlichen Stimmungen töten indessen nicht den Glauben an eine bessere
Zukunft des Volkes. Mutig kämpft sie gegen die Gefühle der Resignation,
die von ihr Besitz ergreifen, und versucht das „verglimmende Feuer zu einer
leuchtenden Flamme zu entfachen“.
Nach der Besetzung Westweißrußlands durch die deutschen Truppen im
Weltkriege nimmt sie regen Anteil an der Organisation des weißrussischen
Schulnetzes. Das weißrussische Schulnes — eiwa 400 Volksschulen, die
unter der deutschen Okkupation entstanden und unter der polnischen Herr-
schaft beseitigt wurden — war zu einem großen Teil das Werk der
Dichterin.
Sie starb am 5. Februar 1916 als Opfer einer Typhusepidemie. Diese
Biographie der Dichterin und Politikerin Aloisia Kairys geb. PaSkevic wird
durch Erinnerungen von Personen ergänzt, die sie gut gekannt haben:
V.D.Alexandrova (die Tochter des bekannten russisch-ukrainischen Roman-
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dichters Mordovtzevl, Chlebfzevié, Lugkevié. Sie alle bezeichnen die Dich-
terin als besonders aufrichtige Frau, voll von seelischer Jugend, Offenheit,
Wahrhaftigkeit, Fröhlichkeit, seelischer Stärke und Edelsinn. Ein unbe-
siegbarer rebellischer Geist in einem schwachen Körper“, „eine aus Stahl
geschmiedete Seele“, „ein treuer, liebevoller Kamerad“ — das sind die
Ausdrücke, mit denen ihre Weggenossen sie charaklerisieren.
Verf. hat den Werdegang und die Tätigkeit der ersten weißrussischen
Revolutionärin mit Liebe und Sorgfalt geschildert. Vladimir Samojlo.
KLEINRUSSLAND
Dr. S. NariZnyj: Johann VyhovSkyj im Dienste Moskoviens. —
Mitteilungen d. Sevéenko-Ges. d. W. in Lemberg, Bd. 149, 1923,
S. 117—139.
Vorliegende Abh. Narižnyj’s ist nur e:n Teil seiner umfangreichen, bis-
her leider noch nicht publizierten Monographie über den berühmten Kosaken-
hetman. Obwohl Vyhovśkyj eine außergewöhnlich wechselvolle politische
Karriere durchmachte — namlich vom kleinen Gerichtsbeamten, als solcher
wurde er von Bohdan Chmelnyckyj aus tatarischer Gefangenschaft für eine
alte Stute losgekauft — brachte er es bald zum Kanzler, später zum Het-
man des ukrainischen Kosaken-Staates (1657—1659) und wurde schließlich
von den Polen, wiewohl er ein Senator und Vojevode des polnischen Staates
war, auf tragische Weise hingerichtet —, fand er bis nun keine gebührende
Würdigung in der Historiographie. Man warf ihm nämlich Unbeständigkeit
in seinen politischen Anschauungen, Verrat, Egoismus, Ambition, Protek-
tionismus usw. vor. Ferner beschuldigte man ihn, als hatte er in seiner
Würde als Kanzler Bohdan Chmelnyckyj’s eigenmachtige Verhandlungen mit
Moskau geführt und dadurch sowohl den Staat als auch seinen Patron ver-
raten. Dr. NariZnyj versucht nun, diesen g egen Vyhovskyj gerichteten Vor-
wurf als „Diener Moskaus“ dokumentarisch zu revidieren. Die in den
Bänden 3, 8, 10, 11 und 14 von der Petersburger Archäographischen Kommis-
sion herausgegebenen „Aktv. otnosiaScijasja k istoriji južnoj i zapadnoj
Rossiji“ veröffentlichte diplomatische Korrespondenz zwischen der russischen
und ukrainischen Regierung lieferte ihm ein umfangreiches Material, welches
nach dessen Bearbeitung ihn zu der Ansicht führte, daß hier von einem Ver-
rate seitens VyhovSkyj’s keine Rede sein kann. Die private, diplomatische
Tätigkeit Vyhovskyj’s war nur eine Ergänzung der offiziellen Politik des
Hetmans. VyhovSkyj erhielt zwar einige Male Geschenke von der Moskauer
Regierung, welche ein Charakteristikum dieser Zeit waren und auch unter
andere Würdenträgern des ukrainischen Kosaken-Staates verteilt wurden,
ohne jedoch den Charakter einer Belohnung für erwiesene Dienste zu haben.
Demzufolge sind die Beweise und die Argumente des Dr. NariZnyj sehr
beachtenswert und auch geeignet, diesen Kosakenhetman von den Vor-
würfen zu entheben bzw. zu befreien. D. Doroschenko.
Michele Jeremjeev: La questione ucraina all’ epoca del
risorgimento italiano. — L'Europa Orientale. 8, 9—10 (1928),
S. 313—325.
(Die Red. der Zeitschrift gibt in einer Anmerk. bekannt, daß sie mög-
licherweise auch AufsaBe von gegnerischer Seite und Aufklärungen
historischer Art aufnehmen wird, weiche zu den vom Verf. hier veröffent-
lichten Dokumenten und deren wissenschaftlichen und politischen Thesen
Stellung nehmen wollen.)
Verf. halt die ukrainische Frage für eine der wichtigsten der Gegen-
wart und zugleich für eine der eigenartigsten, weil es für den europäischen
Politiker schwer ist, den Verdunklungen zum Trob, die andauernd uber thr
572
gehalten werden, zur Wahrheit vorzudringen. Während die Bolscheviken
behaupten, daß die ukrainische Frage nach dem Willen des ukrainischen
Volkes gelöst sei, leugnen viele unter den sogenannten „weißen“ Politikern
Rußlands nicht nur die Existenz einer solchen Frage, sondern auch die des
ukrainischen Volkes überhaupt. Der Zweck dieses Aufsaßes besteht darin,
den Stand der ukrainischen Frage im westlichen Europa zur Zeit des ita-
lienischen Risorgimento zu charakterisieren. J. zitiert einige ukrainophobe
Stimmen aus der Zeit nach dem Welikriege, welche die ukrainische
Selbständigkeilsidee als österreichisch-deutsche Fabel darstellen, wie das
Fürst A. Volkonskij getan in „La verità storica e la propaganda ucraino-
va (Roma 1920), oder als cine intern-russishe Angelegenheit, wie das
V. Mjakotin in „La question ukrainienne“ in Le Monde Slave (Nov. 1925) tut.
Solchen und ähnlichen Meinungen gegenüber beruft sich J. auf Dokumente,
aus denen das lebhafteste politische Interesse französis er Gelehrter und
Politiker an dieser Frage in den sechziger Jahren zu erschen ist. Ihr Ver-
fasser ist der Senator Casimir Delamarre, Mitglied der Commission cen-
trale de la Société géographique de Paris gewesen, dessen Lebensdaten
(geb. 1797, + 1870), nebst kurzen Bemerkungen über seinen Lebenslauf hier
genannt sind. Die in Ubersebung, ungekurzt, wiedergegebenen Schrift-
stücke sind folgende: 1. ein Gesuch von Delamarre an die gesekgebende
Behörde Frankreichs betreffend Namensabänderung des Lehrstuhls der sla-
vischen Sprache und Literatur, 2. Vortrag Carnots vor der gesekgebenden
Behörde v. 18. Juni 1868 und 3. Eingabe Delamarres betr. den Geschichts-
unterricht in den französischen Schulen.
Das zuerst genannte Schrifistück betitelt sich „Ein Plural für einen
Singular, und der Panslavismus wird von der Wurzel ab ausgerottet sein.
Brief an die gesetzgebenden Minister und Kommissare der Regierung ...
und an die Herren Abgeordneten der gesetzgebenden Behörde.“ Delamarre
macht in diesem, vom 26. Mai 1868 datierten Schreiben auf die Tatsache
aufmerksam, daß der russische Panslavismus durch einen Irrtum in dem
vom Unterrichtsminister M. Cousin i. J. 1840 dem damaligen Kabinett über-
reichten Gesebentwurf, der späterhin rechtskräftig wurde, d. h. also von
Frankreich ausgegangen ist. Die ordentliche Bilanz des Kultusministcriums
für 1869 enthält einen Kredit in Höhe von 5000 Fr. für einen Lehrstuhl der
slavischen Sprache und Literatur. Der Titel dieses Lehrstuhls beruht auf
einem offenbaren Irrtum. Es gibt nicht nur eine einzige slavische Sprache
und Literatur, sondern deren mehrere. D. stellt dann die Sprachabzwei-
gungen innerhalb der arischen Völkerfamilie dar. Er zählt die Großrussen
oder Moskoviter, obgleich sie russisch sprechen, nicht dazu. Sie seien
tatarischer Abstammung, ihre Literatur sei von der der anderen slavischen
Völker ganz verschieden, sie ist dem Geiste nach turanisch, während die
anderen indoeuropaisch sind. D. zählt dann die einzelnen voneinander ver-
schiedenen slavischen Sprachzweige auf und tragt an, daß diesem Tat-
bestand entsprechend der Lehrstuhl künftighin heißen solle „für slavische
Sprachen und Literaturen“. Die gesetzliche Anerkennung einer einzigen
slavischen Sprache und Literatur ist von großer politischer Tragweite, sie
bedeutet die Legitimierung des russischen Panslavismus mit seiner fiktiven
slavischen Einheitsidee durch die französische Gesekgebung. Rußland hat
von dieser Tatsache Notiz genommen; im Juni 1840 kam ein likas heraus,
wo zum ersten Male das Petersburger Kabinett erklärte, es sei durch die
Geschichte und durch die öffentliche Meinung Europas erwiesen, daß die
Großrussen mit den Kleinrussen und den Weißrussen durch die Bande einer
gemeinsamen slavischen Abstammung verbunden seien. (In einer Anmerk.
set D. nochmals auseinander, daß die Großrussen oder Moskoviter turko-
finnischer Abstammung seien, die Weißrussen und Kleinrussen, ebenso wie
die Polen, seien dahingegen echte Slaven.) Von dieser Zeit ab hat die
Petersburger Regierung immer wieder ihre Mission als Beschugerin aller
Slaven betont. Der panslavische Kongreß in Moskau, die Feste in Prag
usw. seien Beweise für diese Propaganda. Es sei höchste Zeit, daß Frank-
reich sich nun von seinem Irrtum frei mache.
575
Auf Delamarres Antrag hin wurde von mehreren Mitgliedern der
Mehrheit, welche J. namentlich anfuhrt, eine Abänderung des betreffenden
Geschartikels nebst einer gewissenhaft gearbeiteten ethnographischen
Korte eingereicht; außerdem aber fertigten auch drei Mitglieder der Linken
(Jules Simon, Carnot und Pelletan) ihrerseits einen Abänderungsentwurf an,
der dem Inhalt nach gleich und nur in der Formulierung von dem anderen
verschieden war. Diese beiden Gesekesabanderungen wurden am 17. Juli
1868 beraten, wobei Carnot das Wort ergriff. J. bringt das ganze Protokoll
in italienischer Übersebung. Carnot weist zunächst auf die politische Be-
deutung der hier zu erörternden linguistischen Fragen hin. Nachdem die
Benennung des betreffenden Lehrstuhls als irrig erkannt worden ist, müsse
sie zur Vermeidung einer Verbreitung falscher Ideen abgeändert werden.
Wenn die gesebgebende Behörde darauf bestehen würde, die Abänderung
zu unterlassen, so würde sie stillschweigend eine Lüge für gut heißen und
eine Sprachenverwirrung sanktionieren, was um so mehr vermieden werden
müsse, als Rußland den Ehrgeiz habe, mit seiner großen panslavistischen
Etikette sämtliche Länder, die es von der Türkei, Österreich und Preußen
trennen, zu belegen. Wenn die abgeänderte Fassung durchdringt, wird
sich die Mehrzahl der slavischen Nationalitäten moralisch gestärkt fühlen
in ihrem Widerstand gegen das moskovitische Annexionssystem. Man hatte
allen Grund, stolz zu sein, wenn man sieht, welcher Wert der Abänderung
einiger Buchstaben beigemessen wird, bloß weil diese Abänderung von
den Vertretern Frankreichs vorgenommen wird... Die Frage nach der
arischen oder turanischen Abstammung der Moskoviter wolle er nicht be-
rühren. Unter denen, welche ihnen die Bezeichnung „slavisch“ absprechen,
fehlt es nicht an autoritativen Stimmen, so hat z. B. Katharina li. in einem
Memorial über die Schulbücher in ihrem Reiche sich folgendermaßen aus-
gesprochen: „Ungeachtet dessen, daß die Russen sich durch ihre Abstam-
mung von den Slaven unterscheiden, besteht zwischen ihnen keine Ab-
neigung (repulsione).“ Man mache jetzt in Rußland an die Spracheinhei
glauben, um die Rasseneinheit als Grundsab aufzustellen und durch die
Rasseneinheit zur Assimilierung der Territorien zu gelangen. Es handele
sich dabei in Rußland nicht um Erlangung eines moralischen Übergewichts
über die griechisch-slavische Welt, sondern bloß um materielle Eroberungen.
Die russische Propaganda dränge überall ein, überall müsse sie mit den
gleichen Waffen bekämpft werden. Wenn Rußland eines Tages zur Ver-
wirklichung seiner Pläne gelangte, würde es ein solches Ubergewichi
gegenüber Europa gewinnen, daß letzteres dadurch zerdrückt werden würde.
In Gestalt Rußlands würde die Zivilisation Asiens uber die europäische
Zivilisation triumphieren. „Dieser Gefahr, welche ganz Europa bedrohi,
muß Europa die Koalition seiner drei großen Machte: Slaven, Germanen
und Lateiner entgegenstellen.“ Carnot kommt auch auf Serbien zu
sprechen, welches Rußland mit Gewalt in seinen Kreis zu ziehen suchi.
Darauf wird erklärt, daß die Abänderungen zu berücksichtigen sind.
Delamarre hat, nach Frlangung dieses Erfolges, eine andere Petition
ausgearbeitet unter dem Titel: „Ein europäisches Volk von fünfzehn Mil-
lionen, welches von der Geschichte vergessen worden ist.“ Der Zweck
dieser Schrift war, den auf falschen Voraussekungen aufgebauten Unter-
richt der Geschichte der östlichen Slaven in den französischen Schulen ab-
zuschaffen. D. entwickelt hier seine bereits in dem ersten Schreiben an-
gedeuteten Rassentheorien ausführlicher. Für ihn sind die Großrussen
turanischer, nicht slavischer Abstammung. Er fordert, daß in das offizielle
Programm der französischen Schulen ein detaillierter Geschichtsunterricht
der einzelnen slavischen Volker eingeführt werde. Besonders sei auf die
getrennte Behandlung der polnischen und ruthenischen von der moskovili-
schen Geschichte zu achten. Das bisher übliche Schulprogramm habe von
Rußland erst gelegentlich der Kämpfe Peters des Großen mit Karl XH. ge-
sprochen, das genüge nicht, die Geschichte Moskoviens zu charakterisieren.
Die Unfahigkeit der Lehrer, die Einzelschicksale dieser slavischen Volker
im Unterricht darzustellen, hat dazu geführt, daß das in den Lehrplan v.].
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1863 aufgenommene Thema „Car Nikolaj und der Panslavismus“ wieder
aus dem Lehrplan gestrichen werden mußte, denn einige Lehrer hatten ihre
Aufgabe darin gesehen, den Panslavismus zu lehren, während sie ihn doch
hätten bekämpfen sollen. Die Lehrer hätten dazu aufgefordert werden
müssen, die Lügenhaftigkeit des Panslavismus zu beweisen. Bei der Neu-
ordnung des slavischen Geschichtsunterrichts seien dann in erster Linie die
Kleinrussen ins Auge zu fassen, denn sie sind der Keil im moskovitischen
Panslavismus.
Delamarre starb nicht lange nach Einreichung dieser Eingabe, und der
Deutsch-Franzosische Krieg von 1870 hinderte seine Freunde daran, die
Frage in der Kammer durchzubringen. Die nach dem Krieg eingetretene
Umgestaltung hat dann bewirkt, daß Delamarres Petition wichtigeren Fragen
weichen mußte. Erst durch den Weltkrieg sind die von ihm angeregten
Fragen wieder aktuell geworden. Emmy Haertel.
CECHOSLOVAKEI
Václav FlajShans: Husova Orthografie („Orthographie“ des
Johannes Hus’). — Cesky časopis historický, XXXIV (1928),
S. 357—369.
Den bekannten čechischen Historiker Josef Pekař, der den Ge-
burtsort des Johannes Hus’ in dem Husinec bei Klecany unweit von Prag
und nicht, wie alle übrigen Historiker, in dem südböhmischen Husinec sucht,
interessiert natürlich auch die Frage, ob man nicht in den čechischen Schrif-
ten Hussens philologische Belege pro oder contra seine Hypothese auf-
decken kann. Als also V. FlajShans in seinem Aufsabe „K Husově
orthografii“ (Zur Hussens Orthographie) bemerkte, daß sich auch in Hussens
lateinischem Traktate über die &echische Orthographie einige Spuren des
sudbohmischen lin der Gegend von Prachatice) Dialektes und daher der
südböhmischen Herkunft des Hus befanden, überprüfte Pekař (Ces. čas.
Hist. XXXIV, 1928, S. 199 f.) die Ausführungen von FlajShans und kam zu
dem Resultate, daß die Behauptung Flajshans’ nicht stichhaltig ist. Und
überdies begann er auch zu zweifeln, ob der Traktat selbst überhaupt von
Huß herrühre und das böhmische Alphabet nicht erst von ihm zusammen-
gestellt worden sei. Pekafs Zweifel untersucht FlajShans nun gründlich in
seinem oben angeführten Aufsatze, dem ersten Versuch nachzuweisen, daß
die „Orthographie“ tatsächlich ein Werk Hussens ist, um zu schließen, daß
der Philologe an der Authentizitat von Hussens Orthographie und Alphabet
keinen Augenblick zweifeln wird. Ein anderer Cechischer Philologe,
F.Trävnilek, findet (Naše věda IX, 1928, S. 165) die Beweisführung von
FlajShans überzeugend, nicht aber J. Pekař selbst, der in Cesky časopis
historicky XXXV, 1929, S. 200 ff., die Streitfrage noch einmal beruhrt und
betont, dak seine Zweifel noch starker geworden seien. Und von dem
Standpunkte eines Historikers hat er meines Erachtens recht.
Vaclav Hruby.
Karel Stloukal: Počátky nunciatury v Praze (Die Anfänge der
Nunziatur in Prag). — Cesky časopis historický, Jahrg. XXXIV
(1928), S. 1—24, 237—279.
l. In zweiter Hälfte des 16. Jahrhunderts wird die Religionsfrage noch
einmal zur böhmischen Lebensfrage. Rom, der Katholizismus, geht von der
Defensive zur Offensive über, der Protestantismus ergreift die Defensive.
Die neue Gegenreformationsbewegung wurde durch vier wichtige Aktionen
gründlich vorbereitet: 1556 werden nach Böhmen die Jesuiten eingeführt,
1561 wird das Erzbistum von Prag erneuert, 1583 wird die kaiserliche Resi-
575
denz von Wien nach Prag überiragen, und damit gelangt auch der Sif der
kaiserlichen Nunziatur nach Prag, wo dieselbe bald zum Mittelpunkt der
ganzen Bewegung wird. Das Studium der diplomatischen Korrespondenz
dieser Nunziatur wird zur Grundlage der Erforschung der Frage, wie 30
bald die Gegenreformation in Böhmen so schöne Erfolge erzielt hat. Die
Erforschung der Nunziaturkorrespondenz der päpstlichen Nunzien in Prag
hat sich das neu gegründete Cechoslovakische Institut in Rom zur Aufgabe
gemacht, das die Berichte der Prager und Wiener Nunzien vom J. 1592 bis
zum J. 1628 plant. Jedoch den Ausgangspunkt der Cechischen Forschung bildet
naturlicherweise das Jahr 1585. Der diplomatische Nachlaß des ersten Nunzius
von Prag, Giovanni Francesco Bonhomini, aus den Jahren 1581—84 wird zwar
von dem Preußischen historischen Institut in Rom zur Herausgabe vorbereitet,
jedoch ‘ur das Verständnis der ganzen folgenden Tätigkeit der Prager
Nunzien ist unbedingt notwendig, die Anfänge der Nunziatur in Prag zu
kennen. Daher hat sich der Autor entschlossen, aus den Bonhominischen
Akten die Bohemica schon im voraus zu bearbeiten.
Il. G. F. Bonhomini, ein älterer Freund des Karl Borromeo, bisher der
papstliche Nunzius in der Schweiz, wurde im J. 1581 in seinem 45. Lebens-
jahre zum Nunzius am kaiserlichen Hofe ernannt. Für seine neue Aufgabe
war er völlig ausgebildet und besonders für das böhmische Milieu vom
Standpunkte Roms wie geschaffen. Bald nach seiner Ankunft in Wien ließ
er sich über die Religionssachen im Königreich Böhmen durch den Rektor
des Prager Jesuitenkollegs, A.Vojt, informieren, dessen wichtige informa-
tionen zugleich zu Richtlinien für die bohm. Gegenreformatoren wurden,
zunächst für den Bonhomini selbst. Man beabsichtigte, sich in erster Linie
an den Kaiser anzulehnen, der für die Interessen Roms zu gewinnen sei,
dann an den hohen katholischen Adel. Mil Hilfe des Erzbischofs sollte die
katholische Geistlichkeit besonders auf den königlichen Gütern reformiert
und die keberische Geistlichkeit abgeschafft werden. Die Jesuiten sollten
als geistliche Ratgeber des hohen Adels und Erzieher einer neuen adeligen
Generation benützt werden. Im Juni 1582, auf seiner Reise zum Augsburger
Reichstage, begegnete B. in Prag dem Erzbischof Medek, mit dessen gegen-
reformatorischer Tätigkeit auf den königlichen Gütern in Böhmen er sehr
zufrieden war. Jedoch diese Tätigkeit war stark gehemmt dadurch, daß das
Prager Jesuitenseminarium nicht imstande war, den Bedarf an katholischen
Priestern zu decken, und daß die Beseitigung der ufraquistischen Priester
in den Städten auf starken Widerstand gestoßen hat, weil die Städte in dem
Zentrum der utraquistischen Kirche, dem unteren Konsistorium, die nötige
Unterstibung fanden. Deswegen plante B., mit Beistand des Papstes
selbst, in Prag ein Kollegium für die Heranbildung armer, aber begabter
und tüchtiger jünglinge aus dem Volke zu Priestern, und außerdem trachiete
er danach, das untere Konsistorium möglich schwach zu machen.
handelte sich in erster Linie um die Vereinigung der Hussiten mit Rom. Der
Hussitismus an sich bedrohte den Katholizismus in Böhmen auf keinen Fall,
jedoch er war die durch die Staatsgeseke erlaubte Kirche in Böhmen, und
alle übrigen nichtkatholischen, geseblich nicht erlaubten Kirchen in Böhmen,
welche eben der römischen Kirche recht gefährlich waren, schützten dieses
sein Privileg vor, indem sie ihre Mitglieder für Hussiten ausgaben. Es gali
also, die Hussiten in die römische Kirche zurückzuführen, um den anderen
nichtkatholischen Kirchen den Schuß des nur für die Hussiten gültigen Ge-
setzes zu entziehen. Die verzweifelte Lage der geistlichen hussitischen An-
führer, welche furchteten, daß ihre Kirche von den Lutheranern und böhmi-
schen Brüdern verschlungen würde, zwang sie schon früher oftmals zur
Geneigtheit, mit der römischen Kirche zu verhandeln. Auch während des
Aufenthaltes B.—s in Prag im Juni 1582 erschienen vor ihm der Administrator
samt zwei anderen Priestern des unteren Konsistoriums mit einer Bittschrift
des ganzen Konsistoriums. Sie baten ihn, er möge dem Erzbischof er-
lauben, ihre Schüler zu Priestern zu weihen, wofür sie versprachen, ihre
Glaubensgenossen zur katholischen Religion zu führen. B. antwortete i
korrekt: die gewünschte Weihe sei nicht denkbar ohne ihre bedingungslose
Unterordnung der römischen Kirche bis auf die von Pius IV. gewährte Kelch-
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kommunion. Damit ist die Unterredung erfolglos abgebrochen worden. Auf
seiner weiteren Reise nach Augsburg machte B. auch in Pilsen halt, wo er
mit den Stadivertretern die Errichtung eines Jesuitenkollegiums daselbst be-
sprach. In Augsburg selbst sprach er mit dem obersten böhmischen Kanzler
Vratislaus von Pernstein, dem er in seinen gegenreformatorischen Plänen
auf seinen mährischen Gütern die Unterstiigung versprochen hat und sofort
den Olmüber Bischof Pavlovský und den Rektor des Olmüber jesuiten-
kollegiums ersuchte, den Pernsteinschen Plänen Jesuiten zur Verfügung
zu stellen. In der zweiten Hälfte des Jahres 1582 und im J. 1583 hatte B.
wenig Gelegenheit, in die böhmischen Verhältnisse einzugreifen. Erst im
Oktober 1583 reiste er von Wien nach Mähren und Schlesien ab, und am
26. November 1583 ist er in Prag angelangt. Aber erst mit dem Jahre 1584
widmet sich B. völlig seiner gegenreformatorischen Tätigkeit in Böhmen,
der Einfluß der Nunzien auf die böhmischen Verhältnisse wächst, ihre Arbeit
wird kontinuierlich, es entsteht darin eine Tradition.
III. Bonhomini, in dessen instruktion für seine Nunziatur am kaiser-
lichen Hofe die böhmischen Religionssachen nicht besonders erwähnt
wurden, weil man natürlich in Rom nicht wußte, daß Prag einst zur kaiser-
lichen Residenz wird, mußte sich selbst für seine Pläne einer Rekatholisie-
rung Böhmens ein Programm zusammenstellen. Sein Programm heißt einer-
seits die katholische Reformation, andererseits die Gegenreformation. Auf
die Reformation beziehen sich folgende vier Punkte: 1. die Sorge um die
jesuitischen Schulen in Prag, Pilsen, in Mähren und Schlesien, 2. die Er-
richtung von drei katholischen Pfarreien in Prag, 3. allgemeine Visitation
der Pfarrer und der Mönche, 4. die Visitation der Geistlichkeit auf den
Rosenbergischen Gütern. Die Gegenreformation betreffen weitere acht
Punkte: 5. die Gegenreformation au den Pernsteinischen Gütern, 6. die Re-
form der hussitischen Universität, die Visitation der keberischen Buch-
druckereien und die Preßkontrolle, 4 die Abwehrung der von den böhmi-
schen Ständen verlangten Religions freiheiten, 9. die Erzwingung eines neuen
Mandats gegen die Keber und dessen konsequente Durchführung. Die Re-
formation und Gegenreformation zugleich betreffen die letzten drei Punkte:
10. die Vereinigung der Hussiten mit Rom, 11. die Sorge um die Einführung
des gregorianischen Kalenders in böhmischen Ländern, 12. die Besetzung
der Landesämter mit Katholiken. B.—s Aufenthalt in Böhmen war zu kurz,
daß dieses alles hätte durchgeführt werden können, jedoch sein Programm
ist zur Grundlage der ganzen folgenden Arbeit geworden. Besonders was
den Gedanken anbelangt, fur die Rekatholisierung Böhmens den böhmischen
Adel zu gewinnen, begründet B. eine Tradition. Der Katholizismus hat
später gerade durch die Mitarbeit der Nunzien mit dem böhmischen hohen
del sehr viele Erfolge erzielt.
Die erste Aufgabe B.—s in Böhmen betraf den Reformkalender. Nicht
ohne seine große Mühe ist in Böhmen seit 17. Jänner 1584 und in Mähren
seit 4. Oktober 1584 der neue Kalender eingeführt worden. Im Jänner 1584
versuchte B. die Prager Universität zu reformieren, das heißt aus den utra-
quistischen in die katholischen Hände zu überführen. Jedoch die finanzielle
Unterstujung seitens des Papstes, die dazu nötig gewesen ware, ist aus-
geblieben, und die Reform mußte ad calendas graecas aufgeschoben
werden. Im März 1584 ersuchte B. den Kaiser um die Errichtung von zwei
katholischen Pfarren in Prag, aber auch diese Aktion scheiterte an den
finanziellen Schwierigkeiten. Anfang Juni 1584 überreichte B. dem Kaiser
sein erstes Memorandum über die Religionssachen in Böhmen, in dem er
dringend forderte, der Kaiser möge anordnen, daß die Picarden, Kalvinisten
und Lutheraner aus dem Lande sofort verjagt, ihre Bethauser geschlossen
und die Ungehorsamen streng bestraft werden, und zum Schlusse schlug
er dem Kaiser vor: 1. in Prag zwei Pfarren zu errichten, 2. die Zahl der
„ zu vermehren, 3. allgemeine Visitation der ganzen Geist-
ichkeit in Böhmen durchzuführen. Dieses Memorandum, das B. nicht ohne
Mitarbeit des obersten Burggrafen von Prag, Wilhelm von Rosenberg, ver-
faßte, ist der erste Plan, die Ketzerei in Böhmen systematisch auszurotten.
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‚Durch sein Memorandum versuchte B. eine für den Katholizismus günstige
Entscheidung in der Kommission herbeizuführen, die bald danach die Frage
der Besetzung des utraquistischen Konsistoriums besprechen sollte. Und
das ist ihm gelungen. Die Kommission hat unter Leitung Wilhelms v. Rosen-
berg, der inzwischen zum guten Freunde B.—s geworden ist, beschlossen,
das Konsistorium den nichtkatholischen Standen nicht herauszugeben, bevor
dieselben nicht nur den Bohmischen Brudern, sondern auch der Bohmischen
Konfession entsagen wurden — was auch der Kaiser selbst dann bestatigt
hat. Demgegenuber wurde das neue kaiserliche Mandat gegen die Picarden
vom 27. Juli 1584, wie vorher, ganz allgemein gehalten und nicht direkt
gegen die Bohmischen Bruder und Lutheraner gerichtet, wie B. wünschte.
Und — was BB. am meisten ärgerte — man führte dasselbe sehr saumselig
durch, wie vorher. Im Sommer 1584 verhandelte man auf Anlaß Wilhelms
von Rosenberg und Georg Popel von Lobkowif noch einmal uber die Ver-
einigung der Hussiten mit Rom, jedoch auch diesmal erfolglos. Dafür ist
es B. gelungen, bei der auf seinen Anlaß von dem Kaiser angeordneten
Emendation der böhmischen Kalender durch den Erzbischof, als den hoch-
sten Zensor, die Namen des Johannes Hus und des Hieronymus von Prag
aus den Kalendern auszuschalten. Die weitere Tätigkeit B.—s in Böhmen
ist durch seine Ernennung zum Nunzius für Köln am Rhein abgebrochen.
B. ging nach Köln sehr ungern, er versuchte alles mögliche, um die Kurie
zu bewegen, ihn in Prag zu belassen. Vergeblich. Bei dem Abschiedsmahl
ın dem Rosenbergischen Hause auf dem Hradschin in Prag debattierten:
B., Wilhelm v. Rosenberg, Georg v. Lobkowib, Georg Bořita v. Martini,
Ulrich Felix v. Lobkowib, der Erzbischof v. Prag Medek und der Rektor
des Prager Jesuitenkollegs, Vojt, volle zwei Stunden über die Lage der
katholischen Religion in Böhmen, und B. selbst faßte die Debatte in ein
Memorandum zusammen. Aus demselben erkennen wir, daß man beraten
hat: 1. in Prag drei Pfarren nicht nur zu errichten, sondern auch finanziell
zu sichern, 2. das Jesuitenkollegium für die Armen finanziell zu sichern,
3. die Reform der Prager Universität (die alte hussitische Universität ab
zuschaffen und eine neue in dem Jesuitenkolleg einzurichten, die, was die
ideelle Seite angeht, dem Prager Erzbischof unterstellt werden sollte),
4. das Mandat gegen die Picarden strengstens durchzuführen, 5. katholische
Bücher fur das Volk zu verschaffen, 6. Visitation der Geistlichkeit und die
Inquisition der Keber. Auch dieses Memorandum, das in manchen Punkten
an das erste Memorandum B.—s erinnert, jedoch um viel präziser und
konkreter ist, wird zum Grundstein des kurialen Programms für die Re-
katholisierung Böhmens. Am 17. Dezember 1584 hat B. Prag verlassen —
und sein Nachfolger in Prag, der Nunzius Malaspina, hat alle Plane B.—s
für pia desideria erklärt, die recht schwer zu realisieren seien, ja er hat
Bonhomini desavouiert. Väclav Hruby.
Vladimír Klecanda: Přijímání do rytifského slavu v zemích
českých a rakouských na počátku novověku (Die Aufnahme in
den Ritterstand in bohmischen und osterreichischen Landern am
Anfange der Neuzeit). — Casopis archivní školy VI (1928), S. 1— 125.
Nach langjähriger heuristischer Vorarbeit in den böhmischen und oster-
reichischen Archiven gelangte Autor zur Bearbeitung der Geschichte des
böhmischen Inkolats vor der Verneuerten Landesordnung v. J. 1627. Die
Hauptarbeit selbst wird als Einleitungsband zum Kataloge der Landes-
reverse erscheinen, der unter den Publikationen des böhmischen Landes-
archivs in Prag geplant wird. Jedoch vorher ist manche kleinere Frage
zu beantworten, und einer solchen ist auch die vorliegende Abhandlung
gewidmet. Fast bis zum Ende des 15. Jahrhunderts gingen die Burger-
familien, die entweder selbst sich ein Wappen als ein Symbol der Adelig-
keit erwählt oder dasselbe von dem König erhalten haben, fast unmerklich.
automatisch ohne jede rechtsförmliche Aufnahme in den Ritterstand uber.
678
Erst seitdem die Städte mit dem Adel in politischen Streit geraten sind,
erhebt sich allmählich zwischen den Rittern und den aus den Bürgern neu
aufgekommenen Adeligen, den sogenannten erbovniken (= den Wappen
führenden) ein Wall, der im Laufe des 16. Jahrhunderts immer stärker wird,
bis am Ende desselben Jahrhunderts das Emporsteigen der erbovniken unter
die Ritter sehr erschwert wird. In den 3er Jahren des 16. Jahrh. erscheinen
die ersten Belege der rechtsförmlichen Aufnahme der erbovniken in den
Ritterstand, und zwar in Form einer Relation aus dem Landtage, daß der
Adelige von dem Ritterstande in den Stand aufgenommen ist, und eines
persönlichen Landtafelrevers des Adeligen samt der Bezeugung desselben
über seinen Adel und sein Wohlverhalten. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts
mußte schon der Adelige nicht nur seinen und seiner Eliern Adel und Wohl-
verhalten, sondern auch den Adel und Wohlverhalten seiner Großvater und
Urgroßvater bezeugen, was 1609 sogar zum Geseke geworden ist. In den
Ritterstand wurden aufgenommen niedere Landesbeamte, kaiserlihe Be-
amte und Diener, dann Schützlinge der mächtigen Mitglieder des Herren-
standes, öffentlich tätige Leute {besonders die Advokaten), aber auch tuch-
tige Handelsleute und hervorragende Mitglieder der Zünfte. Durch die
Aufnahme in den Ritterstand wird der Adelige landtafelfähig, er nimmt teil
an den ritterlichen Anfallen, er kann zum Vormunde der ritterlichen Guter
und Waisen bestellt werden, er darf nicht vor das Stadtgericht gerufen
werden usw. Auf dem Landiage kann der neuaufgenommene Ritter siben,
auch wenn er kein Landesgut hat, was der Autor gegen frühere Meinungen
mit Recht betont. jedoch zum Landesgerichtsrate und zu einem obersten
Landesbeamten, soweit diese Amter dem Ritterstand vorbehalten werden,
kann der neue Ritter nicht gleich werden. Der Autor bringt auch gegen
frühere Meinung den Nachweis, daß das Inkolat in Böhmen nicht nur den
Herren und Rittern, sondern auch den Bürgern erteilt werden konnte.
Wichtig ist zu erwähnen, daß von den 300 Familien, die im 16. Jahrhundert
und bis zu 1627 ın den böhmischen Ritterstand aufgenommen worden sind,
die volle Hälfte deutscher Herkunft war. Ähnlich, wie in Böhmen, hat sich auch
in Mähren das Aufnehmen in den Ritterstand entwickelt. In den folgenden
Absaben seiner Abhandlung schildert dann der Autor, wie man in öster-
reichischen Ländern in den Ritterstand aufgenommen wurde. In Osterreich
unter der Enns haben die Herren und die Ritter schon 1579 eine eingehende
Ordnung für die Aufnahme in den Ritterstand beschlossen, die 1616 durch
eine zweite Redaktion ersetzt wurde. Beide Redaktionen sind dann auch
von den Ständen der übrigen österreichischen Länder zum Vorbilde ge-
nommen worden. Zum Schlusse seiner Abhandlung weist der Autor ın
Übereinstimmung mit M. Hass (Die landständ. Verfassung u. Verwaltung in
der Kurmark Brandenburg) und G. Croon (Die landständ. Verfassung von
Schweidnig-Jauer) die These G. Belows ab, daß bloß durch den Besitz einer
Burg oder einer Burgbesikung ihr Besiker landtagsfahig geworden wäre,
und nimmt für jenes große, kompakte Territorium von Brandenburg,
Schlesien, Lausig, Böhmen, Mähren, Österreich ob u. unter der Enns, Steier-
mark, Kärnten und Krain an, daß dort die Standeszugehörigkeit und die
Landtagsfähigkeit bloß auf den Besitz der Landesguter gegründet wurde.
— Unter Beilagen werden abgedruckt: der älteste erhaltene Landtafel-
revers zu dem Ritterstande v. J. 1528, der erste ähnliche Revers nach der
Landtafelerneuerung, die älteste Landtagsrelation über die Aufnahme in
den Ritterstand v. J. 1541, ähnliche Relation v. J. 1593, die Ordnung des
Ritter- und Vladykenstandes v. J. 1609, dann besonders cin Verzeichnis der
in Böhmen vor 1627 in den Ritterstand aufgenommenen Adeligen und ein
Verzeichnis der in Bohmischem Ritterstande fur landsässige aufgenom-
menen Ausländer. Väclav Hruby.
Frant. Hrubý: Z vídeňských papírů Jindřicha Matyáše hr. z Thurnu
(Aus den Wiener Papieren des Heinrich Mathias Grafen v. Thurn).
— Český časopis historický. Jahrg. XXXIV (1928), S. 473—573.
579
Aus einem umfangreichen (304 Fol.) Faszikel (nr. 30) der Abteilung „Grobe
Correspondenz“ im Wiener Haus-, Hof- u. Staatsarchiv in Wien, das cine
Reihe von Originalen der Briefe, die an den obgenannten Grafen adressiert
sind, und von Konzepten der Briefe und Memoranda, die von ihm eigen-
handig geschrieben sind, enthält, gibt der Autor 41 Stücke vom Dezember
1620 bis Anfang 1632 in sorgfaltigem Abdruck mit nötigen Anmerkungen
heraus. Die Dokumente sind nicht unbekannt geblieben, jedoch das Stu-
dium der undatierten unter ihnen war sehr schwierig. Man findet in dem
Faszikel 26 eigenhändige Briefe des böhm. Königs Friedrich, 14 Briefe
seiner Gemahlin Elisabeth, 14 des dänischen Königs Christian IV., 4 der
dänischen Prinzen, 1 des englischen Prinzen Karl, Briefe des schwedischen
Königs Gustav Adolph, 1 Brief des Betlen Gabors, 6 Georg Friedrichs
Markgrafen v. Baden, 5 Ernst Casimirs Grafen v. Nassau, 2 der Grafen
von Solms, also lauter Persönlichkeiten, die in der ersten Hälfte des
jährigen Krieges wichtige Rollen spielten. Außerdem gibt es unter den
Papieren Briefe von böhmischen und österreichischen Emigranten, dann
auch Thurnsche Familienkorrespondenz und schließlich eigenhändige Kon-
zepte des Grafen v. Thurn selbst. In einer hübschen Einleitung (S. 473 — 520)
fügt der Autor die von ihm neu aufgeklärten Nachrichten mit voller Sach-
kenntnis in die bisherige Schilderung der Ereignisse ein. Daß dabei das
bisherige historische Porträt des Grafen Mathias Heinrich v. Thurn selbs!
{nicht minder aber auch jenes seines Sohnes Franz Bernhard) an Klarheit
sehr viel gewonnen hat, ist selbstverständlich; man darf ihn schon kunftig-
hin nicht mehr mit Gindely für einen politischen Abenteurer halten. Aber
nicht nur zur Thurnschen Familiengeschichte, sondern auch zur Geschichte
des 30jährigen Krieges, besonders des böhmischen Aufstandes bringt der
Autor aus den „Wiener Papieren“ eine Menge von wichtigen Details.
Väclav Hruby.
Comenius und die Londoner „Royal Society“. — Cesky časopis
historicky, XXXIV (1928) S. 382.
R. Fitzgibbon Young druckt hier den Brief des Comenius an den
Henry Oldenburg vom 17. Mai 1668 ab, der die vier Exemplare der Schrift
„Via Lucis“ begleitete, welche Comenius der kgl. Gesellschaft der Wissen-
schaften in London gewidmet hat. Väclav Hruby.
Rußland und der Streit um das böhmische Staatsrecht vom J. 1871.
— Cesky Casopis historicky XXXIV (1928), S. 383 ff.
J. Papoušek druckt einen Brief (vom 1./13. Marz 1871) des rus-
sischen Kanzlers Gorgéakov an den russischen Gesandten in Wien Novikov
ab, worin er beauftragt wird, den Cechen jede Hoffnung auf die russische
Unterstützung zu nehmen, und die Antwort Novikov’s vom 13./25. Marz 1871,
die vergebens versucht, die Schroffheit der Beauftragung zu mindern.
Väclav Hruby.
František Roubik: Registratura Národního Výboru z r. 1848
(Die Registratur des National-Ausschusses vom J. 1848). — Ca-
sopis archivní školy VI (1928), S. 126—153.
Am 11. März 1848 wurde im Prager St. Wenzelsbad von beiden Nationen
ein Bürgerausschuß erwählt, der eine Petition an den Kaiser vorbereiten
und außerdem auch die Fragen der öffentlichen Sicherheit behandeln sollte.
Von den Papieren dieses St. Wenzelausschusses ist sehr viel erhalten
worden unter den Gerichtsakten des Grafen Albert Deym, des Vorsitzenden
des Ausschusses (jebt im Archiv des Ministeriums des Innern in Prag).
Um die Tätigkeit des St. Wenzelausschusses, der natürlich dem Landes-
580
—— — — ——
präsidium nicht unterstellt war, zu kontrollieren und zu paralysieren, er-
nannie der Landespräsident, der Oraf Stadion, am 2. April 1848 eine außer-
ordentliche Kommission, die unier seinem Vorsibe die Vorbereitungen zum
Landtage und andere wichtige Öffentliche und politische Angelegenheiten
beraten sollie. Die Errichtung der Kommission kam natürlich dem St. Wen-
zelausschusse nicht erwünscht, und Graf Stadion wurde zur Kapitulation
genötigt. Am 13. April wurden auf seine Veranlassung die Mitglieder des
St. Wenzelausschusses zur gemeinsamen Sitzung mit den Mitgliedern seiner
außerordentlichen Kommission einberufen, und so entstand der neue Na-
fionalausschug. Der Autor beschreibt die Art und Weise, wie sich der
Ausschuß konstituierte und wie er seine Tätigkeit organisierte. Am 26. Juni
1848 wurde der Nationslausschuß von dem neuen Landespräsidenten, dem
Grafen Leo Thun, aufgelöst und seine Mitglieder aufgefordert, alle Akten
desselben, soweit sie diese bei sich hätten, dem Landespräsidium heraus-
zugeben. Auf diese Weise hat sich in der Prasidial-Gubernial-Registratur
auch die Registratur des Nationalausschusses v. J. 1848 erhalten. Diese
Registratur, die samt der Gubernial-Registratur im Archiv des Ministeriums
des Innern in Prag aufbewahrt wird, wurde von dem Autor geordnet,
inventarisiert und in vorliegendem Aufsake beschrieben und mittels eines
eingehenden Registers der Forschung zugänglich gemacht.
Väclav Hruby.
Vaclav Chaloupecky: Martinské deklarace a její politické
osudy (Die Deklaration von Turéansky Sv. Martin und ihr politi-
sches Schicksal). — Cesky časopis historicky, Jahrg. XXXIV (1928),
S. 322—342.
Nach kritischer Übersicht der nicht umfangreichen Literatur zur Ge-
schichte des Umsturzes v. J. 1918 in der Slovakei versucht Ch. ein Bild der
Ereignisse zu entwerfen und besonders das Material zu sammeln und zu-
sammenzustellen. Der Umsturz hat die Slovakei politisch durchaus unvor-
bereitet getroffen. Im Staate mit über 18 Millionen Einwohnern hatten die
3 Millionen Slovaken unter 453 Abgeordneten bloß drei Vertreter. Von
politischen Programmen und Parteien dieser Zeit kann ja unter diesen Um-
ständen keine Rede sein. Die ungarische Regierung hielt es für nötig, nur
446 slovakische Intelligente in Evidenz zu halten, und von diesen waren vom
slovakischen Standpunkte aus nur 101 politisch verläßlich. Es gab dort
daher nur eine Partei, die Nationalpartei mit zwei Flügeln: dem Martinschen
(dessen Zentrum Turéansky Sv. Martin war), der einem hoffnungslosen Ge-
danken hingegeben war, daß einmal Rußland die österreichischen Slaven
befreien wird, und dem der Hlasisten, d. h. slovakischer Realisten, die
durch die Bildung der breiteren Schichten und durch regere Berührungen
mit der Cechischen Kultur das slovakische Volk politisch zu wecken trach-
teten. Seit 1910 trat hinzu die slovakische Fraktion der ungarischen Sozial-
demokratie und seit 1912 die klerikale Volkspartei (strana ludovä). Bis auf
die Sozialdemokraten gab es aber keine Parteiorganisation. Von den 23
Zeitschriften, die vor dem Kriege in der Slovakei erschienen, gab fünf die
ungarische Regierung selbst heraus, 12 waren kirchlich und konfessionell. Nach
dem Kriegsausbruche hat sich die Nationalpartei absichtlich für die politische
Passivität erklärt, und so herrschten die Magyaren in der Slovakei ganz
nach ihrem Belieben, ohne jede Kritik, ohne jede Beschwerde von seiten der
Slovaken bis zum J. 1918. Erst im Frühling 1918 die Wilsonschen 14 Punkte,
die Äußerungen des jungen Kaisers, die vertraulichen Nachrichten aus Boh-
men und dem Auslande, die Deklaration der böhmischen Abgeordneten vom
30. Mai 1918, worin schon die Slovakei mit aufgenommen war, mahnten die
Slovaken zur politischen Wachsamkeit. Und als der Graf Tisza die Slo-
vaken zu einem Huldigungsakte der St. Stephan-Krone zu bewegen ver-
suchte, womit er die bohmische Mai-Deklaration zu beantworten wünschte,
blieben die Slovaken aus. „Das war die erste gewonnene Schlacht“,
581
schreibt Srobar. Ungeachtet der Slovaken im Auslande sprachen während
fast des ganzen Krieges die Cechen auch für die Slovaken. Erst am 1. Ma:
1918 ist in Liptovský sv. Mikuláš bei dem sozialdemokratischen Maifeste auf
Anlaß Dr. V. Srobär’s eine von ihm verfaßte Resolution angenommen, m
der die Slovaken zum erstenmal fur sich das Selbstbestimmungsrecht re-
klamieren, als „ungarischer Ast des &echoslovakischen Stammes“. An der
Jubilaumsfeier des Prager Nationaltheaters im Mai 1918 nahmen schon auch
die Slovaken teil, was ebenfalls ein Verdienst Srobär’s war. Am 24. Mai
1918 ist in Turč. Sv. Martin von den slov. Führern aus der Nationalparteı
auf Entscheidungswort A. Hlinka’s beraten worden, auch für die Slovaken
das Selbstbestimmungsrecht zu verlangen. Die Beratung ist immerhin noch
geheim gehalten worden, jedoch seitdem ist schon der Widerhall der aus-
landischen politischen Aktionen, besonders jener Wilson’s, in den slovakı-
schen Blättern immer lebhafter und nachdrücklicher, bis die Note Wilson’s
v. 18. Oktober 1918 die größte Unentschlossenheit überwunden hat. Am
24. Oktober ist von M. Dula im Namen des Präsidiums des Nationalrates
eine Beratung nach Tur£. Sv. Martin einberufen worden, die „die Statuierung
und Ergänzung des bisherigen Slov. Nationalrates und die Erwählung eınes
Ausschusses“ im Programm hatte. Es könnte scheinen, als ob die Ereignisse
v. 29.—31. Oktober 1918 in Turč. Sv. Martin ein Widerhall oder sogar Fort-
setzung des 28. Oktobers in Prag waren, das ware jedoch falsch. Die Slo-
vaken haben sich spontan für die &echoslovakische Einheit erklärt; was ın
Prag geschehen ist, davon wußten sie damals gar nichts. In der Beratung
selbst ist dann mit sturmischem Beifall die Resolution des S. Zoch’s an-
genommen, die feierlich erklärt, daß „das slovakische Volk ein Teil der
sprachlich und kulturhistorisch einheitlichen <echoslovakischen Nation sei”,
für welche sie „ein unumschränktes Selbsibestimmungsrecht auf dem Grund
der vollständigen Unabhängigkeit“ verlange. Man besprach dann auch dea
<echischen Entwurf der künftigen &echoslovakischen Verwaltung, der den
Slovaken zu liberal schien (in dem Entwurf ist zum erstenmal die Autono-
mie erwähnt!), denn die Mehrheit von ihnen hielt irgendeine Autonomie für
die Slovakei für ausgeschlossen, sollte man den Einfluß der Magyaren und
Magyaronen recht paralysieren, wenn auch schon damals sich einige Slo-
vaken (Juriga) vor der Cechisierung fürchteten. jedoch die Versammlung
selbst und ihre Deklaration hielt damals niemand fur einen konstitutiven
Akt. Auch Hodža, der am 30. Oktober aus Budapest kam, war mit der De-
klaration einverstanden, nur schlug er vor, in derselben den Sab uber eine
besondere Vertretung der Slovakei auf der Friedenskonferenz zu streichen
(„weil wir schon unsere eigene von dem Auslande anerkannte Regierung
haben“), was auch ohne jede Einwendung geschehen ist. Die Mehrheit der
Deklaranten verließ schon am 30. Oktober Turé. Sv. Martin, und die Minder-
heit hat dann 15:9 Stimmen ein Aufleben der Autonomie der Slovakei
nach höchstens 10 Jahren beschlossen. Dieser Beschluß aber ist nicht ein-
mal veröffentlicht worden. Die Deklaration v. 30. Oktober, in der die Slo-
vaken vor der ganzen Welt erklärten, sie seien Cechoslovaken, wäre bloße
Resolution geblieben, wäre es nicht am 28. Oktober in Prag zum Umsturze
gekommen. Erst dadurch ist die Deklaration von Turč. Sv. Martin zum
Revolutionsakte, jedoch ohne staatsrechtliche Bedeutung, geworden, was
auch die Slovaken selbst noch lange Zeit nach dem Umsturze bedingungslos
anerkannten. Erst die Dissidenten aus der Volkspartei und der National-
partei gaben dem Dr. Bela Tuka (einst Professor an der jur. magyar.
Fakultät in Bratislava, der dann als Nationalkonvertit in der Volkspartei
Hlinka’s eine sehr starke Position eingenommen hat) den Anlaß, in die De-
klaration etwas hineinlegen zu versuchen, was sie niemals enthielt, und
zwar um die Grundlagen der &echoslovakischen Volks- und Staatseinheil
zu untergraben. Zu dem Zwecke behauptete man von der Deklaration, dab
sie verfälscht, unverbindlich, nur für 10 Jahre gültig sei, und daß sie eine
geheime Klausel habe. Diese Phantasien unterstiigjte man durch staats-
rechtliche Erwägungen über die Souveränität des Cechischen und slovaki-
schen Volkes, welche sich nur probeweise in einem Staate vereinigt haben.
582
Auf diese Weise versuchte Tuka — und zwar mit Erfolg! — aus der slova-
kischen Frage eine staatsrechiliche Frage zu machen, und seine Gedanken
haben dann auch die slovakischen Politiker aus den autonomistischen und
oppositionellen Parteien für ihren angenommen. Chaloupecky schildert
weiter eingehend, wie von Tuka und seinen Verbündeten aus staatsrechtlich
bedeutungslosen Debatten einiger Martinscher Deklaranten über die Frage,
wie lange in der Slovakei Diktatur walten sollte, um gegen die Magyaren
und Magyaronen standhalten zu können, eine Doktrine von nur vorübergehen-
dem staatsrechtlichen Verhältnisse der Slovakei zu dem Fechoslovakischen
Staate und von der Möglichkeit, diese dann aus demselben nach 10 Jahren
auszubinden, konstruiert worden ist. Zum Schlusse glaubt Ch., daß die Ge-
schichte der Martinschen Deklaration noch nicht zu Ende sei.
Vaclav Hruby.
POLEN
Peter Wlast. — Zeitschrift d. Ver. f. Gesch. Schlesiens, 60. Bd.,
1926, S. 127—132 u. 61. Bd., 1927, S. 247—278.
Friedrich Reiche behandelt „Die Herkunft des Peter
Wilast“ im 60. Bd. der Ztschr.: Er geht aus von Mosbach (Ztschr. VI, 1,
1864 u. „Piotr syn Wlodimirza“, Ostrowo 1865), der in ,,Wlast den „Sohn
des Wlodimir“, also ein Patronymikon, erblickt, die dänische Herkunft Peters
aber leugnet. In einer Abhandlung über „Die Herkunft der Bres-
Jauer Bischöfe Thomas I. und Thomas ll.“ (l. c. Bd. 51, 1917)
halte v. Heydebrand und der Lasa darauf hingewiesen, daß Graf
Petrus Danus de Skrzyn, genannt Wlast, Sohn des Swentoslaus, aus dani-
schem Dienst in polnischen iibergetreten sei und zu dem Geschlecht Labedz
gehört habe, dem die Grafen Dunin und Skrzyn entstammten. Eine dänische
Abkunft lehnte aber auch Heydebrand ab. Reiche bezieht sich nun auf die
„Chronica Petri comitis ex Dacia“ (Bresil. Univ.- Bibl.), welche um 1520 ge-
schrieben, auf eine alte, etwa Mitte des 13. Jahrh. entstandene Bio-
graphie Peters zurückgeht. Diese nennt ihn auch ,Petrum Dacum comitem“,
wozu Boguphal II 36 stimmt. Unter Dacien ist, nach Reiche, nicht bloß die
römische Provinz, sondern auch das angrenzende Kleinrußland zu ver-
stehen. So wäre Peter Wlasts Herkunft aus a “lth nach R. sicher.
Damit stimmt das patronymische „Wlostides”, von Wolodimir abgeleitet
und auf ein skandinavisches Woldemar hinweisend. Das führt nun zu der
varägischen Abkunft seines Geschlechtes. „Natürlich ist das Ergebnis der
Untersuchung Hypothese, aber sicherlich hat sie viel Wahrscheinlichkeit für
sich: Peter stammt aus einem kleinrussischen, ursprünglich skandinavischen
Geschlecht der Gefolgsleute Ruriks und Askolds. Durch die Beziehungen
der Piasten zu den Ruriks mag sein Geschlecht nach Schlesien gekommen
sein, Beziehungen, die in seiner Verheiratung mit einer russischen Fursten-
tochter hervortraten“ (S. 132). Als Nachkomme eines Gefolgsmannes war
Peter Wlast, dessen Abkunft von westslavischen Stammeshauptlingen nach
R. also eine verfehlte Annahme ist, in Abhängigkeit vom Herzog, so könne
seine Stellung in Schlesien nur die eines herzoglichen Beamten gewesen
sein. Die Bezeichnung „comes Silesie“ (in einer auf d. J. 1209 zurück-
gehenden Urkunde v. J. 1399 für das Bresi. Sandstift) ist nur ein Ehrentitel.
Das „praedecessor" dieser Urkunde kann nur mit Beziehung auf die Stiftung
des Klosters, nicht aber hinsichtlich der schlesischen Herzöge gelten: es ist
ein Zusatz des Abschreibers v. J. 1399.
Fedor v. Heydebrand und der Lasa unterzieht (l. c. Bd. 61)
den obigen Aufsab R.'s einer genaueren Untersuchung. Seine Abhandlung:
„Peter Wiast und die nordgermanischen Beziehungen
der Slaven” stellt verschiedene Ungenauigkeiten Reiches richtig, billigt
aber, im ganzen genommen, dann doch einige von dessen Aufstellungen.
585
Vor allem wendet er sich aber gegen die Annahme, daß Peter VIiest nur
ein herzoglicher Beamier gewesen sei, vielmehr besagt. die Urkunde von
1195 (Schles. Reg. 59), daß er „ex parte avi et patris sui iure hereditario”
seine Zuwendungen an das Breslauer Sandstift gemacht habe. So ist das
Geschlecht Peter Wlasts mindestens in der dritten Generation bereits in
Schlesien seßhaft. „Nur unter diesem Vorbehalte könnte also die von
Bogufal berichtete Herkunft »ex Dacia« die von der Überlieferung Behaup-
fete Herkunft aus Dänemark und die von Reiche angenommene Herkunft
aus Kleinrußland Geltung beanspruchen“ (S. 251). Es bleibt noch zu unter-
suchen, ob unter „Dacia“ mit R. Kleinrußland für das 12. Jahrh. auch ver-
standen werden kann. Verf. weist darauf hin, „daß die kleinruss. Reiche
nordöstlich der Karpathen schon bei Gallus stets unter dem Namen »regna
Ruthenorum« erscheinen, in den russischen Quellen auch als »Tscherwonien«”.
Aus Bogufal selbst geht nun aber die Deutung hervor. Er spricht bei
der Schilderung der Erhebung des Maslaw in Mazowien (1038) davon, daß
dieser „Dacos, Gaetas seu Pruthenos, Ruthenos“ zu Hilfe gerufen habe.
Es werden also Daci und Rutheni auseinander gehalten. Auch Ungarn kann
nicht darunter verstanden werden, denn Bogufal, wie Kadlubek, nennt dann
die „Hungarici“ oder „Pannonii“. Dagegen findet sich z. B. in den Groß-
polnischen Annalen z. J. 1250 der Ausdruck „in Dacia“ in Beziehung auf
Dänemark. Der Vergleich der parallelen Schilderung aus den Exzerpten
des Dlugosz z. J. 1123 (M. P. H. IV, S. 11) mit Bogufals Darstellung beweist
die Oleichsetzung von „Dacia“ und „Dania“ auch für die poln. Quellen. So
verliert die Ansicht H. s von der kleinruss. Herkunft Peters ihre Stütze.
Immerhin steckt aber in dem „Wlostides“ des Kadlubek ein Hinweis auf
Rußland. „Allerdings bezeichnen solche »Patronymika« nicht immer den
Vater, oft weitere Vorfahren, auch solche von Mutterseite, manchmal sogar
den Schwiegervater“ (S. 253). Verf. sieht darum die Möglichkeit, diesen
Beinamen Peters „von dem von ihm verratenen Fürsten Wolodar von Halicz”
abzuleiten, „dessen ganzes Erbe nebst seiner Tochter Maria nach der
Chronika Petri dem Peter Wlast als Lohn des von ihm verübten Ver-
rats zufiel“. Dieser Name Wlodimir ist auch sonst in seinem Geschlecht
nachweisbar, wofür Verf. Belege gibt. In poln. und böhm. Urkunden des
12. Jahrh. kommt er aber sonst überhaupt nicht vor, dagegen bei den Ruriks
geradezu als Kenn-Name des Geschlechis, kann also nicht für einen Gefolgs-
mann dieses Geschlechtes dienen. Die alten Berichte bezeugen auch Peters
hohe Stellung (Kadlubek, Cronica Polonorum), bedeutsam ist auch, „daß auf
den Skulpturen des alten Vinzenzstifts im Kunstgewerbemuseum zu Breslau
über dem Relief der Kreuzabnahme vier Figuren abgebildet sind, unter
denen die Namen: Ladis II. (Wladislaw II.) Pet. DV. (Petrus Dux), Boles IL
(Boleslaw Ill.), Stanis (Stanislaw, in Bischofstracht, also der Bischof von
Krakau) stehen“. Dieser „Petrus Dux“ ist zweifellos der Gründer Peter,
womit die von R. als unmöglich erklärte Deutung eines „praedecessor“ der
schlesischen Herzöge in anderem Licht erscheint, überdies wird der Grund
und Boden Breslaus geradezu als „hereditas“ des Peter Wlast urkundlich
bezeichnet, also kann es nicht „Dienstland“ des jeweiligen Kastellans oder
eine Art „herzogliches Burglehn“ sein. „Da nun Peter Wlast im Jahre 1155
starb, muß sein Vater etwa bis 1125, sein Großvater bis etwa 1100 gelebt
haben. Im Jahre 1093 aber wird in der um 1100 verfaßten Chronik des
Gallus ein comes Magnus Wratislawiensis« erwähnt, der nach alledem
jener Großvater des Peter Wlast sein muß“ (S. 256). Diesem Magnus nun
wird bei Gallus dann, in Anknüpfung an die Sieciech-Episode, ausdrücklich
die Herzogswürde zuerkannt. Nach dieser Stelle des Gallus „gab es im
Verbande des Polenreiches tatsächlich Gebiete von so weitgehender Selb-
ständigkeit, daß die bloße Einsekung von herzoglichen Beamten durch den
Verweser der Zentralgewalt als derartige »Tyrannei« und »Beleidigung«
empfunden wurde, daß Auswanderung und Aufstand die Folge war” (S. 287).
Zu diesen Gebieten gehörte also der ducatus des Magnus von Breslau, der
mithin als Rechtsvorgänger der schles. Herzöge gelten konnte, wie gleicher-
weise sein Sohn und Enkel.
084
‚Auffällig ist hier noch der Name „Magnus“ im 11. u. 12. Jahrh., da er
typisch nordisch ist. Eine Tabelle S.259 gibt die Wanderung dieses Namens.
sind die nord. Beziehungen des Sohnes unseres Magnus wie auch des
Peter Wiast erwiesen. Doch ist die Episode von der Ermordung des Dänen-
königs unrichtig: es handelt sich wohl um die Ermordung des Teilkönigs
Knut Lawart von Hedeby durch seinen Vetter Heinrich Halti und Magnus
den Starken 1131. Knut Lawarts Gemahlin war Ingibjörg, Tochter Haralds
von Novgorod, des Sohnes des Vladimir und Bruders des Rostislav von
Halicz, dessen Sohn Wolodar Peter Wlast verriet. In dieser Verwandt-
schaftsgruppe weist Verf. das häufige Auftreten des Namens „Magnus“ nach.
„Von den verschiedenen für eine Verbindung des schlesischen Magnus mit
dieser Personengruppe sich ergebenden Möglichkeiten erscheint die am
wahrscheinlichsten, dab er ein Sohn des Magnus Haraldson mit einer Toch-
ter des schlesischen Hauptlingsgeschiechtes von Breslau (eines „Jarls im
Wendenlande“) war und daß er selbst eine Gemahlin aus dem Geschlecht
des Wladimir von Novgorod hatte“ (S. 260). Die Linie, der Magnus Harald-
son entstammte, führte um 1000 einen goldenen Löwen im roten Schilde.
Der schlesische Magnus wird nun nach der poln. Überlieferung dem Ge-
schlechte Prawda-Zaremba zugerechnet, dessen Wappen ebenfalls ein Löwe
(aus einer Zinnenmauer) war. Das Grabmal des Peter Wlast zeigt nun nach
der Chronika Petri IM. P. H. Ill, S. 784) vier gebundene Lowen, die vier
Großeltern-Wappen des Peter Wlast. Verf. geht auf diese Wappenzusam-
menhänge noch genauer ein, mit Hinweis auch auf die Löwenbilder des
Zobtens. Nebenher erwähnt er, daß der Name „Dag“, wobei er auf
Misiko |. hinweist, als auch der Name Hrorek in diesem nordischen Harald-
Geschlecht belegt ist. So ist also Peter Wlast im Mannesstamm nordischer
Abkunft, im Weibesstamm wahrscheinlich Nachkomme und Rechtsnachfolger
des zu Breslau sibenden Häupflingsgeschlechtes des Gaues Slenzane, ferner
durch seine Großmutter, Mutter und Gemahlin mit den russischen Vladimiriden
und Svantoslaviden und durch diese mit den Dänen verwandt.
Verf. betont nun, daß damit der altpoln. Herrenstand in einem ganz
anderen Lichte dasteht, als ihn die landiäufige deutsche Auffassung dar-
stellt, also nicht als Ministerialadel, eine Auffassung, die Reiche noch unter-
Strichen hat. Er stützt sich dabei auf die 3000 Gepanzerten Misikos I., einer
frustis regia der Merowingerzeit vergleichbar, lehnt aber den Einfluß
frankisch-deutschen Staatsrechtes ab und will das Vorbild Rußlands er-
kennen. Die Untersuchung der Gründung des poln. Staates zeigt nun, daß
in den nordischen Quellen bis ins 12. Jahrh. immer nur von Königen von
Gardarike, Rußland, und ihren Jarlen, sowie vom „Wendenkönig“ und „Jarl-
tümern im Wendenland“ die Rede ist. Das steht in Einklang damit, daß
Misiko niemals in den Quellen „rex“ genannt wird, wohl aber in der be-
kannten Kommendationsurkunde „iudex“, was dem Jarl entspricht, der, ohne
Konig zu sein, königliche Hoheitsrechte und gerade das richterliche Amt
ausübt. Der Begriff „dux“ — Herzog bedeutet zunächst nur im Frankenreich
den Inhaber landesherrlicher Hoheitsrechte, in den nordischen Reichen den
Befehlshaber des kgl. Heeres, wie auch in den ältesten poln. Urkunden so
vom „dux militiae“ gesprochen wird. Nun ist bekannt, daß Großpolen zum
Reiche der Wuliner Lutizen gehörte. Für Kujawien, die Wiege der Piasten,
gilt dasselbe. In der Regensburger Volkertafel erscheinen die Wuliner
Lutizen als ,,Wilci“, deren Ausdehnung nach Süden und Osten die Dadose-
sani, Slenzani, Welunzani (Wicluner) und Lunsici (Leczycer) bezeichnen, „so
daß zwischen der Ostgrenze der Wilzen von 800 und von 992 gerade das
Reich des Misika übrigbleibt“ (S. 268). Nordische Quellen erwähnen auch
für die Zeit vor 980 die Loslösung einzelner Teile des Wendenreiches vom
Wendenkönige. Damit könnte Misikas Reich gemeint sein.
Dazu kommt, daß Polanen zuerst als Bezeichnung eines slav. Volks-
stammes aus Kiev galt, als dessen Herrscher Rurik seinen Stiefsohn Askold
eingesebt hatte. Oleg, Ruriks Sohn, vertrieb um 880 die Polanenherrscher
und gliederte ihr Reich dem seinen an: zur Zeit der Abfassung der Regens-
burger Völkertafel gab es also kein Polanenland, als dessen Begründer
585
nach drei Generationen die Piasten in Kujawien auftreten. Als Ahnherr
wird Piast, Chodcziskos Sohn, genannt. „Chodczisko“ ist der „Gewanderte“.
der „Emigrant“. „Piast“ bedeutet der „Erzieher“, der „Ziehvater“, „eme
Stellung, welche auch in den nordischen Quellen eine so bedeutende Rolle
spielt“, wie ähnlich am fränkischen Hofe. Nach poln. Überlieferung hat sich
Piast, Sohn des Chodczisko, an die Stelle Leszeks Ill. gesekt, der vielleicht
mit Samo identisch ist; dann war Kruschwiß ein Teil des ,,Wendenreiches”.
Der Wendenkönig hat vielleicht den Sohn eines Emigranten aus dem Russen-
reiche, also einen Nachkommen Askolds, als Ziehvater (Vormur.d) eines
unmündigen Kleinkönigs von Kujawien eingesckt, der sich dann, vielleicht
im Einverständnis mit dem Wendenkonig, als „Jar!“ (iudex) selbst an dic
Stelle seBte; in dieser Stellung haben sich dann sein Sohn Ziemowit —
Landwalter und dessen Enkel Ziemomysl = Landsorger befunden. Hinter
diesen slav. Namen, deutlich an Amtsbezeichfiungen erinnernd, verbergen
sich ebenso nordische Namen wie hinter Misika der typisch norwegische
Name Dag, Kenname der Kleinkönige von Ringerike bis ins 8. Jahrh.: dieser
Misika ist mindestens schon in der 4. Generation in Kujawien beheimatet.
Man kann also schwerlich die erwähnten 3000 Gepanzerten als das Eroberer-
heer bei der Begründung der Piastenherrschaft in Kujawien betrachten, fur
eine Gefolgschaft ware die Zahl viel zu groß. Es ist darin vielmehr eine
ähnliche Einrichtung zu sehen, wie sie Knut der Mächtige in dem Thing-
mannsvolk schuf, ein ständiges besoldetes Aufgebot, welches, ohne das
allgemeine Landaufgebot in Anspruch zu nehmen, einen Teil der Kriegs-
dienstpflichtigen zur Verfügung hielt, wobei die Einberufung sich in dem
aus der römischen Militärkolonisation und dem fränkischen Militar- und
Siedlungssystem bekannten Dezimalsystem bewegte. Eine Nachprüfung
mit den bei Gallus für die Heeresmacht des Boleslaus Chrobry erwähnten
Burg-Aufgeboten kommt zu dem entsprechenden Ansak jener 3000 Ge-
panzerten. Aus ihnen wurde sich als das ständige Aufgebot der decimi
die Zahl von 300 Gepanzerten (wozu noch die Schildträger treten) als
dauernde Besakung der vier Landesburgen ergeben. Daneben ware noch
eine ständige Gefolgschaft des Herrschers anzusehen. Als diese Gefolg-
schaft will Verf. die Licikawici verstehen (seine Begründung ist allerdings
nicht stichhaltig). Im Folgenden gibt er auf Grund dieser seiner Unter-
suchung die Gliederung der Bevölkerung. Erdmann Hanisch.
Polnische Stadtegeschichie.
Lucja Charewiczowa: Stan badan nad dziejami miast pol-
skich (Der Stand der Forschungen zur polnischen Stadie-
geschichte). — Przeglad Historyczny Bd. 27 (1928), S. 139— 152.
Dieselbe: Przeglad nowszych monografij miast polskich. (Uber-
sicht über neuere Monographien polnischer Städte.) — Kwartalnik
Historyczny Bd. 42 (1928), S. 391— 403.
Dieselbe: Dziesieciolecie badań nad dziejami miasta Lwowa.
(Ein Jahrzehnt der Forschungen zur Lemberger Stadtgeschichte).
— ibid. Bd. 43 (1929), 2, 115— 136.
Frau Charewiczowa berichtet in zwei Sammelreferaten mit großer
Strenge und Gewissenhaftigkeit, mit nicht minder großer Sachkenntnis von
den seit 10 Jahren über Lemberg, seit etwa drei Jahren über die polnischen
Städte insgesamt erschienenen Schriften. Das Urteil fällt sehr reserviert
aus. Immerhin ist für Lemberg eine eifrige, wenn auch oft dilettantische
Tätigkeit der Lokalhistoriker zu konstatieren. Die Verfasserin raumt das
der polnischen Städteforschung überhaupt ein, beklagt aber das Fehlen
586
fachkundiger Werke und größerer Synihesen. Zu diesem Resultat führt,
nach den zwei kleineren Aufsäßen im Kwart. Hist, die eingehende Studie
im Przeglad Hist. In dieser Arbeit greift Verf. aufs 17. Jahrh. zurück. Wir
werden von ihr im Flug von Zimorowicz und den großpolnischen Chroniken,
die Karwowski und Warschauer ediert haben, rasch ins 19. Jahrh. geführt.
Was vor 1880 liegt, ist an sich ausnahmslos veraltet und nur mehr als
Malerialiensammlung zu benuben, so die Arbeiten von Weinert über War-
schau, Łukaszewicz (Posen), Baliński (Wilna). Seither hat sich die Zahl
und der wissenschaftliche Wert der Stadtegeschichten vermehrt. Be-
deutende Forscher wie Papée, Kuirzeba, Bujak, Frau Daszyńska-Golińska
haben Bücher über einzelne Städte veröffentlicht. Speziell über galizische
im allgemeinen haben von Czacki bis zu Dargun, Piekosinski und Bobrzyfiski
ausgezeichnete Gelehrte geschrieben. Die deutsche Wissenschaft hat mit
Warschauer und Kaindl hier ihren Plab. Von polnischer Seite stehen neuer-
dings die Namen von Arnold, Grodecki, Tymieniecki, Maleczyfiski (und wir
dürfen hinzufügen: von Frau Charewiczowa) im Vordergrund. Zur Kultur-
geschichte sind Pta$nik, Łoziński, Baruch, I. Baranowski, Smoleński zu nennen,
die beiden ersteren für Krakau und Lemberg, die drei letzteren für War-
schau. Über den Anteil am staatlichen Leben, den die städtischen Gemein-
wesen nahmen, gibt es nur Monographien kleineren Umfangs. An allge-
meinen synthetischen Darstellungen des Städtewesens im alten Polen liegt
5 vortreffliche, doch populär gehaltene von PtaSnik „Miasta w
olsce“ vor.
Die Arbeit PtaSniks gehört zu den erwünschten Einzeluntersuchungen,
die in der gegenwärtigen, offenbar noch zur Synihese nicht reifen Periode
polnischer Städtegeschichte die Forschung fördern. Wir verfolgen an einem
bezeichnenden Beispiel den Kampf des Patriziats und des städtischen
Mittelstendes um die Vorherrschaft. Seit dem 16. Jahrh. war „gemeine
Bürgerschaft“, wie wir etwa „pospölstwo” sinngemäß übersehen dürfen, in
Krakau durch die Vierzigmänner am Stadtregiment beteiligt. Zwischen
denen und dem Rat erhoben sich die aus der deutschen und westlichen
Stadtegeschichte bekannten Konflikte, die stets von Steuerfragen ihren Aus-
gang nahmen, sich als Streit um Schöffenbarkeit oder irgendwelche Ehren-
fragen manifestierten und in eine Machtprobe zwischen den beiden Klassen
endeten, die beide um die Protektion eines Höheren, in Krakau: des pol-
nischen Königs, sich bemühten. Zygmunt Wasa schwankte, wessen Partei
er nehmen sollte. In einem Monsterprozeß, der das J. Jahrzehnt des 17. Sä-
kulums hindurch andauerte, hatte er sich zuerst, durch die königlichen Kom-
missäre, dem „Pospölstwo“ zugeneigt, dann aber eher für die Ratsherren
entschieden. Um die Mitte des Jahrh.: ein neuer Prozeß. Diesmal sind die
Patrizier die Verlierenden. Das gegen sie erflossene Urteil belehrt uns
nebenbei, daß unter den 10 reichsten Männern Krakaus damals nur ein
Pole, dagegen 9 Italiener und Deutsche waren. Im J. 1747 trachtet eine neue
Städteordnung die Verhältnisse zu regulieren und einen gerechten Aus-
gleich der Stände zu schaffen. Wir erfahren dann einiges über den Nieder-
gang Krakaus unter den Sachsenkönigen, über das Budget jener Zeit und
endlich über die Lösung des uralten Konfliktes, der im 16. Jahrh. begonnen
hatte und nun mit einer Neugliederung der stadt. Kollegien 1774 beendet
wurde. Den Abschluß von PtaSniks Aufsatz bildet die Schilderung der
men, mit denen die Commissio Boni Ordinis 1778 die Verfassung
Krakaus den Strömungen der Poniatowski-Ara anzupassen frachiete. Dann
folgte die für ganz Polen geltende Umwälzung des Städtewesens durch
den Vierjährigen Reichstag. Doch das liegt schon außerhalb des Bereichs
dieser Studie. Otto Forst-Battaglia.
38 NF 5 587
Lokation. — Zeitschrift d. Ver. f. Gesch. Schlesiens. Bd. 63 (1929),
S. 1—32.
. Richard Koebner untersucht hier die mit so reichem Inhalt er-
füllten Worte der mittelalterlichen Siedlungsterminologie: locare, locator,
locatio. „locatio“ und „locare“ bedeuteten zunächst „Ort und Stelle geben,
hinsehen“, dann, juristisch, „verpachten, vermieten“. Der jurist. Nebensinn
kommt für die Lokations-Terminologie nicht in Frage, sondern nur die all-
gemeine Bedeutung als „Setzung“. Auch der Nebensinn der „Ansetzung“
der Kolonisten kann hier beiseite bleiben. In dieser Bedeutung wird
„collocare“ gerade auch in den ältesten Ansiedlungsprivilegien gebraucht.
Der spezifische Sinn von „Lokation“ und „Lokator“ ist dort aber zu suchen,
wo von „locare“ mit Bezug auf den Ort der Fremden-Niederlassung ge-
sprochen wird, z. B. in einer Schenkungsurkunde des Wladystaw Odonicz
für Leubus („civitatem locent in iam dicto deserto“) u. sonst. Es sind
„fundere“ und „locare“ aber nicht identisch. „Die in der — polnischen —
Volkssprache so oder so genannte villa oder civitas, das ist der ad locan-
dum hergegebene Ort“, die Verbindung mit einer Rechtsbeziehung ist dabei
noch typisch: der Ort wird mit deutschem usw. Recht »lociert«.“ Der Begriff
der Lokation bezieht sich ebenso unmittelbar auf die Rechtsausstattung der
Ansiedler und ihre Niederlassung. Das Privileg der Herzöge Heinrich Ill.
und Wladyslaw v. 16. 12. 1261 (Tzschoppe-Stenzel: Urkundenbuch S. 364;
Bresl. Urk.-Buch, herausgg. von Korn, Nr. 23) für Breslau zeigt am Worte
„locatio“ diesen Sinn als begrifflich entscheidendes Moment: es werden,
ohne irgendwelche lokalen Veränderungen, der Stadt neue Freiheiten ver-
liehen, wie später dann der Lokationsbegriff auf die Verleihung deutschen
Rechtes an poln. Dörfer sich überträgt. Pommersche Urkunden verwenden in
diesem Sinne „possidere“ und der Sachsenspiegel und das „Rechtsbuch
von der Gerichtsverfassung“ (nach E. Rosenstock: Das alte Weichbildredhi)
verwenden für diese Vorgänge den Ausdruck „besehen“, eine Bedeutung.
die „locare“ nach seinem ursprünglichen Sinn „hinsetzen“ nicht ohne äußere
Einwirkung gewinnen konnte. Es zeigt sich nun, daß dieser Sinn sich nicht
in der lat. Kanzleisprache entwickelt hat, sondern von der Sprache des
deutschen Volksrechtes auf „locare“ übertragen wurde. Das „beseken mit
Rechte" (des „Rechtsbuches v. d. Gerichtsverf.") erhielt in „locare“ (iure
Teutonico) sein lat. Aquivalent und entsprach gerade den Verhältnissen des
Kolonisationsvorganges. Es hat daher auch die lat. Formel ihren vom
deutschen Ausdruck „beseben“ herrührenden Ursprung im Osten und gerade
in Magdeburg (was nun eingehend begründet und belegt wird) in allen
drei Formen urkundlicher Bezeichnung genommen, nämlich 1. als Zitat aus
der deutschen Rechissprache (in der niederdeutschen Form „besittinge“.
„biseitinge“) mitten im lat. Text, 2. in der wortgetreuen Übersekung von
„besetzen“ durch „possidere“, 3. durch „locare“. Die weitere Untersuchung
zeigt, wie dieser im Kreise Wichmanns v. Magdeburg sich bildende formel-
hafte Sprachgebrauch durch die Lokatoren in der Urkundensprache der
Kolonisation heimisch geworden ist. Dabei wird das Unternehmertum der
Lokatoren noch eingehender gewürdigt. Erdmann Hanısch.
Verfassungs- und Verwaltungsgeschichie des Breslauer Bistums-
landes. — Zeitschr. d. Ver. f. Gesch. Schlesiens. Bd. 63, 1929,
S. 350—376.
H. F. Schmid - Graz widmet hier dem bekannten vortrefflichen Buche
des Prager Gelehrten J.Pfitzner eine eingehende Besprechung, die
neben der Hervorhebung der unzweifelhaften Bedeutung des Pfibnerschen
Werkes wertvolle Ergänzungen und gelegentliche Berichtigungen dazu bringt.
H. F. Schmid’s Besprechung ist auch dadurch sehr beachtlich, daß sie reiches
bibliographisches Material enthält. Erdmann Hanisch.
588
wind
Polnische Kunst der Gegenwart.
Tadeusz Boy-Zelefiski: André Gide et le Peintre Polonais Witold
Wojtkiewicz. — Pologne Littéraire 1929, Nr. 30.
Józef Kisielewski: W pracowni rzeźbiarza (In der Werkstatt eines
Bildhauers). — Tecza 1929, Nr. 29.
Z. St. Klingsland: Edward Wittig. — Pologne Littéraire 1928, Nr. 23/24.
Derselbe: La Peinture de Roman Kramsztyk. — ibid. Nr. 27.
Derselbe: L’Art graphique de Skoczylas. — ibid. 1929, Nr. 28.
Derselbe: Les Enluminures d’Artur Szyk. — ibid. Nr. 29.
Derselbe: La Peinture de L&opold Gottlieb. — ibid. Nr. 30.
Derselbe: Et toute la jeune Peinture polonaise? — ibid. Nr. 34.
Derselbe: Czermafski w Paryżu (Czermafiski in Paris). — Wiado-
mości Literackie 1929, Nr. 2.
Edward Kozikowski: Hanna Natkowska-Bickowa. — Tecza 1928, Nr. 39.
Derselbe: Zbigniew Pronaszko. — ibid. 1929, Nr. 9.
Edward Lepkowski: Leon Wyczölkowski. — ibid. Nr. 15.
Henryk Majkowski: O plaketach i medalach Jana Wysockiego (Über
die Plaketten und Medaillen von Jan Wysocki). — ibid. Nr. 5.
Jan Mrozifiski: Władysław Marcinkowski. — ibid. 1928, Nr. 45.
Derselbe: Leon Délzycki. — ibid. 1929, Nr. 11.
Derselbe: Marcin Rözek. — ibid. Nr. 19.
Derselbe: Henryk Jackowski. — ibid. Nr. 23.
Jan Parandowski: Z pracowni Kazimierza Sichulskiego (Aus der
Werkstatt von Kazimierz Sichulski). — ibid. Nr. 24.
Irena Piotrowska-Glebocka: Drzeworytnictwo w Polsce (Der Holz-
schnitt in Polen). — ibid. Nr. 2.
Mieczyslaw Sterling: Remarques sur la Gancature polonaise moderne.
— Pologne Littéraire 1929, Nr. 30.
Artur Marja Swinarski: Kilka uwag o grafice Janusza Marji Brzeskiego
(Einige Bemerkungen zu Janusz Marja Brzeskis Graphik). —
Tecza 1929, Nr. 5.
Derselbe: O drzeworytach Władysława Lama (Über die Holzschnitte
von Wiadyslaw Lam). — ibid. Nr. 12.
Stefan Szuman: O rzeZbach Szukalskiego (Über die Plastiken
Szukalskis). — ibid. Nr. 31.
Mieczystaw Wallis: Der neueste polnische Holzschnitt. Die Schule
des Skoczylas. — Pologne Littéraire 1928, Nr. 28.
Derselbe: Die Graphik von Waclaw Wasowicz. — ibid. 1929, Nr. 32.
Edward Woroniecki: Jan Peske. — Tecza 1929, Nr. 12.
Die polnischen Zeitschriften allgemeinen und literarischen Charakters
widmen gerne der zeitgenössischen Kunst breiten Raum. Sie verteilen im
allgemeinen die Rolle so, d die „Tecza“ der bodenständigen, die
„Pologne Littéraire“ der international orientierten Richtung den Hauptplak
einräumt. Indes findet man auch in der „Pologne Littéraire“ manche Artikel
über ihrem Wesen nach streng nationale Künstler. Begreiflicherweise lenkt
diese Zeitschrift ihre Aufmerksamkeit stark auf die in Paris wirkenden
589
Polen. Boys Aufsatz erinnert daran, wie der damals noch unbekannte
Wojtkiewicz mit einem Schlag berühmt wurde, als Gide gelegentlich eines
Aufenthaltes in Berlin dessen Werke sah und dem nie persönlich gesehenen
Maler sofort spontan seinen Beistand anbot. Wojtkiewicz wurde des Er-
folges nicht lange froh. 28 Jahre zählie er, als ihn Gide aus dem Dunkel
rief; mit 30 Jahren trug man den früh Vollendeten, 1909, zu re Er
hinterließ Werke, in denen sich liebenswürdige Schalkhaftigkeit mit der
Melancholie eines Pierrot lunaire vereint. Auch in der Karikatur hat er
seinen Plab. i i
Leopold Gottlieb war einer von Wojtkiewiczs Freunden. Er steht heute
auf der Höhe eines berechtigten internationalen Ruhms. Seine Porträts,
ein phantastischer Realismus, der nicht frei ist von Neigung zur ironie, wett-
eifern mit belebten Gruppenkompositionen von erstaunlicher Bewegtheil.
Krams ztyk, auch ein „Pariser“ und ein schr beliebter Maler der polnisch
(-jüdischen) Gesellschaft, ist ein richtiger Hofmaler der Geldfürsten und
ihrer Prinzessinnen. In diesen Bildnissen ist nur müde Degeneration, und
selbst bei jugendlichen Modellen vermag man statt an den Frühling cher
an Witkiewiczs „Abschied vom Frühling“ zu denken. Von den „ganz
jungen“ polnischen Pariser Malern, die Klingsland präsentiert, wird man
einstweilen nur konstatieren, daß sie, trob mancher revolutionärer Gebarde,
brav dem Impressionismus oder dem Realismus treu geblieben sind, und
daß einige, vor allem Sirzatecki, Jarcma, Czapski, Boraczok, sehr viel
Talent besitzen.
Eine besondere Erwähnung gebührt Artur Szyk, einem jüdischen Künst-
ler, der auf das glücklichste mit seiner religiösen und nationalen Tradition
die polnische und dazu die beste westliche Schule verbindet. Er hat ein
in unserer Zeit seltenes Genre mit höchster Vollendung gepflegt: die
zilluminierte Handschrift“. Die letzte Probe seiner erlesenen Kunst, der in
Paris enthusiastische Anerkennung wurde, ist eine Bilderhandschrift des
Statuts von Kalisz (das Boleslaw von Polen 1264 den Juden als Privileg
erteilt hat und die Grundlage der späteren Rechtsstellung der Juden war).
Szyk 8 bei seiner Arbeit vom edlen, heute verschwundenen Patriotismus
des gente Judaeus, natione Polonus beseelt. Er hat sich auch als Frei-
scharler im Krieg gegen Rußland 1920 hervorgetan.) Die Vollbringung ist
der Absicht ebenbürtig. Klingsland stellt das fest, und jeder entzückte Be-
schauer wird ihm beipflichten. Der historisch Empfindende zumal, der vor
einer so restlosen Wiederbelebung eines „toten“ Genres wie die
nure sich schier einem Wunder gegenüberfühlt. Szyks Handschrift wird in
einer beschränkten Anzahl im Druck erscheinen. Ich lenke die Aufmerk-
samkeit der deutschen Fachwelt und der Kunstverständigen auf diese
Publikation.
Kaum geringere Triumphe als die „ernste“ Malkunst hat in Paris die
polnische Karikatur gefeiert. Zdzistaw Czermafiski, einer ihrer Meister, hat
vor allem durch seine geisireichen Travestien berühmter Gemälde
Louvre und zeitgenössischer Pariser Koryphaen sich ausgezeichnet. Er hat,
wie jeder große Karikaturist, ein sicheres Gefühl für die Schwächen der
aufs Korn Genommenen; er weiß, wo das Erhabene durch eine kleine Re-
tusche zum Lächerlichen wird. Seine „à la manière“ erinnern in mehr als
einer und jedenfalls in der entscheidenden Beziehung an die unsterblichen
literarischen Parodien von Muller-Reboux. Was soll man vorziehen? Die
Wahl wird uns schwer zwischen dem enimajestatisierten Francois I. Clouets,
dem zum lustigen Lebe-König umgekrempelten Charles I. van Dycks,
den Foujitas, van Dongens, Kißlings. Fürwahr, diese Foujitas und van Don-
gens sind noch echter als echt. Und welch ein unvergleichlicher politischer
Karikaturist ist dieser Czermafiski. Dieses eine Bild, mit dem genialen
Einfall: Pitsudski mit seinen vestrautesten Beratern. Der Marschall sitzt
inmitten eines Vielecks einander zugekehrter Spiegel, die alle das eine
Bild des mit hochgezogenen Brauen und herabsinkendem Schnurrbart einen
Bericht lesenden Diktators reflektieren. Sterling tut Czermafiski unrecht,
wenn er ihn inmitten einiger sehr ungleicher Rivalen als einen der Re-
präsentanten der polnischen Karikatur hinstellt.
590
— — — — —
Diese Karikatur blüht. Weniger durch die Quantität als durch die
Qualität ihrer Mitarbeiter. Es ist eine Geschmacksverirrung, den polnischen
Schönpflug Kamil Mackiewicz mit seinen verhatschien Militärbildern, die
reichlich grobkörnigen Zaruba und andere Choristen aus dem „Barbier von
Warschau“ (so heißt der polnische, mitunter wirklich sehr simple Simplicis-
simus) mit Czermafiski und mit dem zweiten genialen Karikaturisten, Sichul-
ski, in eine Reihe zu rücken. Diese beiden sind die Meister und die origi-
nellen Schöpfer. Jotes, Glowacki, einander sehr ähnlich, leiten sich von
Gulbransson her. Grus, als Tier-Karikaturist, hat auch von dem großen
Norweger gelernt. Den Schüler der französischen Scherzbilder im Stile
des „Rire“, Swidwifski, hat Sterling nicht erwähnt.
Parandowskis feine Studie über Sichulski beschäftigt sich gar nicht mit
dem Karikaturisten. Sie zeigt vor allem die herrliche religiöse Malerei
dieses vielseitigen Künstlers und dessen großes Historiengemälde
„Boleslaw Chrobry vor der Goldenen Pforte zu Kiev“, das auf der Landes-
ausstellung zu Posen die allgemeine Bewunderung erregte. Der heute
Fünfzigjährige ist bereits zu der unbestrittenen Glorie gelangt, die ihn aus
der Sphäre der Kritik in die des Historischen emporhebt
Dort hat Leon Wyczółkowski längst Bürgerrecht. Schüler von Gerson,
Matejko, Brandt, hat der Künstler bald dem Geschichtsgemalde im Stile
seiner Lehrer abgeschworen. In der Ukraina reifte er, nur im Technischen
Erinnerung an seine Schülerzeit bewahrend, zu sich selbst. Seine Land-
schaften und seine Porträts sind von gleicher Vollendung. überall der
Sinn für eine höhere, verklärte Wirklichkeit. Impressionen, die der emp-
fangliche Blick des Malers zur objektiven Wahrheit wandelte. Ohne den
eigentlichen Vertretern des polnischen Impressionismus anzugehören, hat
Wyczölkowski doch denen die Wege gebahnt. Er ist bis ins hohe Alter
schaffensfroh und schaffenskraftig geblieben. Erst nach dem 60. Jahre
seines Lebens wandte er sich dem Hauptgebiet seiner Alterstatigkeit zu,
der Oraphik.
Meister des polnischen Holzschnitts ist Władysław Skoczylas. Seine
Kunst ist aus der Landschaft und aus dem ererbten Blut erwachsen. Von
den Bergbewohnern der Tatra entlehnte er nicht nur den in endlosen Varia-
tionen gestalteten Stoff für seine schönsten Schöpfungen, sondern auch die
auf keine fremde Tradition zurückgehende Form, die unmittelbar in polni-
scher und — so müssen wir zu Klingsland hinzufügen — in allgemein volks-
tüumlicher Überlieferung wurzelt. Skoczylas ist im Herzschnitt das Aqui-
valent zu Tetmajer, Orkan, Witkiewicz, zu Reymont in der Literatur: ein
Gefährte der urhaften Naturmenschen, deren primitive Leidenschaftlichkeit
und Romantik sich in diesen ebenso primitiv ... scheinenden und wahrhaft
romantischen Kunstwerken wiederfindet. Freilich, vor dem Religiösen ver-
sagt die schon angefaulte Naivitat. Die Räuberszenen, die Charakterköpfe,
die Dorf- und Haldenlandschaften, die Schnitterinnen gelingen Skoczylas
aufs vollkommenste: seine Heiligen haben nicht den ursprünglichen Zauber,
der den ganz kindlichen Figuren des Wowro (jenes unverfälschten, des
Lesens und Schreibens unkundigen Volksbildhauers, den Zegadiowicz ent-
deckte und bekannt machte) anhaftet.
Skoczylas hat auch als Lehrer bedeutende Verdienste. Unter seinen
Schülern sind Bogna Krasnodębska, Tadeusz Kulisiewicz auf dem Wege
zu Grobem. Kulisiewicz übertrifft den Lehrer zum Beispiel in der Erfas-
sung des Religiösen. Sein „Dorfschniber“, ein wahrer Wowro, und die
Krasnodebska besibt den skurrilen Humor, dessen Skoczylas völlig er-
mangelt, einen Humor, der freilich bei religiösen Themen peinlich wirkt,
wenn er auch da unfreiwillig auftreten mag.
Wie anders die raffinierte, mit allen erdenklichen Reminiszenzen, an
allen ersinnlichen Traditionen genährte Holzschnitikunst von Wiadysiaw Lam.
Wie dieser Pole den Don Quijote illustriert: eine prächtige, aber rein zere-
brale Ausniibung aller Möglichkeiten, die von der Naivitat der Skoczylas-
Manier himmelweit (oder auch diabolisch) entfernt ist. Ein beträchtliches
Talent, etwa ein Lam, der sich an Skoczylasschen Stoffen gerne versucht,
591
nur noch nicht seiner selbst gewiß und die Wege suchend, Janusz Marja
Brzeski, sündigt häufig durch Verquickung des Inkommensurablen: ein Kuh-
stall wird im Stil eines modernen Wohnpalastes dekoriert.
Jedenfalls, der polnische Holzscinitt ist auch in der Gegenwart auf der
Höhe seiner Traditionen, deren Erinnerung in dem von der retrospektiven
Ausstellung des Muzeum Wielkopolskie veranlaßten Artikel von Piotrowska-
Glebocka aufgefrischt wird.
Eine Studie über Henryk Jackowski gilt dem ausgezeichneten Künstler,
der neben Mehoffer den Ruhm der polnischen Glasmalerei nach dem Westen
trug — seine Vitragen in der Ste. Chapelle stehen hinter denen der Frei-
burger Kathedrale nicht zurück — und auch in der Heimat Wunderschönes
vollendet hat (Bromberg, Florianskapelle). Ist Jackowski von den fran-
zösischen Impressionisten und Puvis de Chavannes beeinflußt und gleicht
er darin dem ihm verwandten Peske, dem Frankreich zur dauernden Heimat
geworden ist; liegt die Begabung dieser beiden vorzüglich auf dem Gebiet
der Landschaft und der religiösen Malerei, so gehen Dolzycki und Pronaszko
von den vorimpressionistischen Meistern wie Cézanne und von den fran-
zösischen Kubisten um Vlaminck aus. Im Porträt und in der Dekoration
ist ihre Stärke. Pronaszko gehört zu den besten Theatermalern der Gegen-
war Seine Illustrationen zum „Faust“ sind viel umstritten und beachtet
worden.
Von den der Bildhauerei gewidmeten Aufsätzen ist der über Edward
Wittig am wichtigsten. Mit Zamoyski hat er in Paris der polnischen Skulptur
hohes Ansehen erworben, und diese zwei übertreffen an wahrhaft schopferi-
scher Begabung fast alle in Polen wirkenden Rivalen. Werke wie Withgs
„Eva“, „Kampf“ und der „Sterbende Krieger“ sind von bezwingender bru-
taler Kraft, voller Leben und Bewegung. Einen anderen Aspekt der pol-
nischen Seele finden wir in den durchgeistigten, weicheren Skulpturen von
Dunikowski (in dessen Werkstätte uns Kisielewski geleitet), an dem die
religiöse Kunst einen wahren Bahnbrecher moderner Auffassung, die sich
doch der Tradition bewußt bleibt, gewann. Seine Arbeiten in polnischen
Kirchen erwecken Bewunderung um so eher, je weniger uns die süßliche,
konventionelle, in photographischer Treue ihr Genügen und ihren Endzweck
erblickende Plastik von Marcinkowski befriedigt, dessen 50jähriges Jubilaum
und 70. Geburtstag noch nicht den überschäumenden Enthusiasmus eines
sonst so geschmacksicheren Kritikers wie Mroziński rechtfertigen, der ein
wenig dem bescheidenen Talent zugute bringt, was dem sicher vortrefflichen
Charakter Marcinkowskis eignet. Marcin Rézck, der beim Wetibewerb um
das Denkmal auf dem Posener Freiheitsplab Marcinkowski den Rang räumen
mußte, hat viel mehr originelle Einfälle. Seine Süße des Barocks ist nicht
mit der Süßlichkeit Marcinkowskis zu verwechseln. Und wenn Rözek ein-
fach realistisch kommt, wie mit seinem „Säer“, dann ist er der großen Kunst
ganz nahe. (Ich bezweifle freilich, daß er je ihren Bezirk betreten wird.)
Sehr hoch schake ich dagegen die Fähigkeiten der Natkowska-Bickowa, die
aus der Schule Wittigs und Dunikowskis hervorgegangen, über die Jahr-
hunderte hinweg auf sonst seltene Lehrmeister zurückgreift: die alten
Agypter und ihre hieratische Starre. Szukalski endlich ist die Verkörperung
urslavischer Kunst, darum dem Volkstumlichen geneigt. Technisch von
kühner Selbständigkeit und Vollendung im anatomischen Detail, dabei von
leidenschaftlicher und leidvoller nach Ausdruck ringender, ins Metaphysische
strebender Dynamik. Die miteinander nicht recht verschmolzenen Elemente
seiner Plastik vermögen nicht jenen Eindruck des Abgeschlossenen, in sich
Geschlossenen hervorzurufen, den wir, von vorübereilenden Modestromungen
frei, als Schönheit empfinden. Fesselnd und ergreifend sind diese Bildwerke
trokdem. Man versteht, im Angesicht etwa des Mickiewicz-Denkmals in
Wilna, sowohl den Streit als den Enthusiasmus, den sie auslösten.
Die Studie Majkowskis schildert den Werdegang 2 n Wy-
sockis, heute des bedeutendsten polnischen Medailleurs, eines du seinen
zehnjährigen Aufenthalt in München (1910/1919) auch in Deutschland wohl-
bekannten Künstlers. Otto Forst-Battaglia.
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NOTIZEN
Der 1. internationale Slavistenkongreß in Prag.
Der im Sommer des Jahres angekündigte erste Slavistenkongreß in Prag
wurde am Sonntag, den 6. Oktober 1929, im Smetanasaal des Prager Ge-
meindehauses durch Ansprachen der Prager Slavisten, der Behörden und
der auswärtigen Delegierten feierlich eröffnet und am Donnerstag, den 10. Ok-
tober, abends geschlossen. Da der Kongreß zweckmäßig vorbereitet war
und über die Einhaltung des Planes sorgfältig gewacht wurde, so konnte
das wissenschaftliche und das Festprogramm fast vollständig bewältigt
werden. Gelegenheit zu persönlicher Bekanntschaft und zum zwanglosen
Meinungsaustausch boten vor allem die mit außerordentlicher Gastfreund-
schaft gebotenen geselligen Veranstaltungen, der Begrüßungsabend, der
Empfang des „Slavischen Instituts“, die Mittagessen, zu denen der Herr
Minister für Volksbildung und die Stadt Prag einluden, der Empfang beim
Herrn Minister der auswärtigen Angelegenheiten, zuletzt das Festmahl des
Kongresses, für einen kleineren Kreis das Abendessen der „Slavischen Rund-
schau“, das Mittagessen der philosophischen Fakultät der deutschen Univer-
sität und die Empfänge, die einzelne Delegationen und Gesandtschaften
veranstaltet haben sollen. Auch die Ausflüge nach Brünn, Preßburg (und
Olmüb), die der Berichterstatter nicht mehr mitmachen konnte, dürften in
erster Linie diesem Zwecke gedient haben. Die wissenschaftliche Arbeit,
die am Montag, d. 7. Okt., morgens in dem neuen Gebäude der philosophi-
schen Fakultät der Cechischen Universität eröffnet wurde, gliederte sich in
drei Sektionen, eine linguistische, eine literarhistorische und eine pädago-
gische, diese nach Bedarf weiter in Untersektionen. Für die Gesamthaltung
des Kongresses war das Übergewicht methodologischer und organisatori-
scher Fragen bezeichnend. Schon die dem Kongreß vorgelegten, vor Be-
ginn der Tagung den Mitgliedern in gedruckter Form überreichten Thesen
ließen dies erkennen, die Diskussion verstärkte den Eindruck. Auf die
Einzelheiten des wissenschaftlichen Programms einzugehen, wird auch in
dieser Zeitschrift Gelegenheit sein, wenn der Kongreßbericht im Druck vor-
liegt. Grundsäßlich kann nicht bezweifelt werden, daß organisatorisch-
wissenschaftliche Fragen (z. B. die Frage einer umfassenden Bivliographie
oder eines slavischen Sprachatlasses) nur durch eine Übereinkunft vieler
zu lösen sind und daß ein Kongreß durchaus der geeignete Ort zu ihrer
Beratung ist. Auch die methodologischen Erörterungen werden Anregung und
manchem eine Klärung vermittelt haben, doch handelte es sich überwiegend
um Fragen, deren Bestehen den Eingeweihferen bekannt war, und deren
Lösung oder nachhaltige Förderung (gesetzt, daß sie überhaupt möglich sei)
von einem Kongreß kaum erwartet werden durfte. Um ein Beispiel zu
wählen: Das Recht der „synchronistischen“ Sprachbetrachtung wird grund-
sätzlich wohl nicht zu bezweifeln sein, für sie haben sich Stimmen schon
vor Jahrzehnten erhoben, als der Siegeslauf der genetischen Sprachbetrach-
tung endgültig zum Stehen gelangt war, ich verweise wieder nur auf ein
Beispiel (wahrscheinlich für viele), und zwar auf ein mir naheliegendes, auf
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meine eigenen im Jahre 1904/05 niedergeschriebenen Bemerkungen im Vor-
wort zu meinem Buch über althochdeutsche Wortstellung (s.8). Wenn diese
Betrachtungsweise auch heute noch um ihr Dasein zu kämpfen hat (selbst
auf dem Gebiete der Syntax, das ihrem Zugriff am offensten zu stehen
scheint), so liegt dies nicht an ihrem Mangel an Recht, sondern an ihrer
Ergebnisarmut, die abzustellen uns einzelnen kaum, einem Kongreß aber
gr wiß nicht gelingen wird. Man darf ges i sein, welche Lage unserer
issenschaft der nächste Slavistenkongreß vorfinden wird, der nach fünf-
jähriger Pause stattfinden soll.
Der Prager Kongreß war sehr gut besucht, auch von den Slavisten der
nichtslavischen Länder; von den deutschen Universitäten waren Breslau
durch vier, Graz durch zwei, Wien, Berlin, Hamburg, Münster und Kiel durch
je einen Dozenten vertreten. Besonders sichtbar war, wie billig, die Teil-
nahme der Prager deutschen Slavisten. P. Diels.
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